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German Pages 292 [294] Year 2023
Kai Erik Trost
Der Wert der Freundschaft in der mediatisierten Alltagswelt Eine narratologisch-semiotische Analyse der Freundschaftserzählungen Jugendlicher
Medienethik Digitale Ethik | Band 19 Franz Steiner Verlag
Herausgegeben von Petra Grimm und Oliver Zöllner Begründet von Rafael Capurro Band 19
Der Wert der Freundschaft in der mediatisierten Alltagswelt Eine narratologisch-semiotische Analyse der Freundschaftserzählungen Jugendlicher Kai Erik Trost
Franz Steiner Verlag
Veröffentlicht mit finanzieller Unterstützung der Universität Passau
Umschlagabbildung: © standret / freepik.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2023 www.steiner-verlag.de Zugleich Dissertation, Universität Passau, 2023 Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13546-7 (Print) ISBN 978-3-515-13550-4 (E-Book) https://doi.org/10.25162/9783515135504
Danksagung
Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Hans Krah. Ich bedanke mich für die Annahme als Doktorand sowie für die stets produktive, strukturgebende und pragmatische Betreuung der Arbeit. Durch ihn wurde mir der Zugang zur semiotischen Textanalyse eröffnet, den ich analytisch als in hohem Maße bereichernd empfand. Einen besonderen Dank möchte ich an meine Betreuerin, Zweitgutachterin und langjährige Mentorin, Frau Prof. Dr. Petra Grimm, richten. Sie hat mich zur Promotion ermutigt und mir durch ihre Kontakte eine Möglichkeit eröffnet, diesen Weg zu gehen. Seit vielen Jahren begleitet sie mich und meine Forschung, wobei sie trotz stets übervollem Terminkalender immer ein offenes Ohr hat. Am Erfolg dieses Projekts hat sie einen immensen Anteil! Danken möchte ich auch der Deutschen Forschungsgesellschaft und dem „DFGGraduiertenkolleg 1681 Privatheit und Digitalisierung“, unter deren Dach diese Arbeit entstand. In diesem Zusammenhang verdienen meine Freunde am Kolleg besondere Wertschätzung. Genannt seien insbesondere Miriam Frank, Dr. Steffen Burk, Dr. Tatiana Klepikova sowie Dr. Martin Hennig. Der fachliche Austausch mit Euch und das konstruktive Teilen der eigenen Erfahrungen, Probleme und Sorgen hat mir sehr geholfen. Ein großer persönlicher Dank gilt in dieser Hinsicht auch meiner Schwester, Maike Trost, die mich stets motivational begleitete. Ich habe unsere Dialoge immer als Stütze und Ermutigung empfunden. Bei den Herausgebern der Schriftenreihe Medienethik des Steiner-Verlags, Prof. Dr. Petra Grimm sowie Prof. Dr. Oliver Zöllner, möchte ich mich für die Möglichkeit bedanken, meine Arbeit in der Schriftenreihe publizieren zu dürfen. Das Graduiertenzentrum der Universität Passau fördert diese Publikation finanziell. Auch hierfür vielen Dank! Kai Erik Trost, im Juli 2023
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil: Forschungshintergrund und interdisziplinäre Einordnung 1
Freundschaft als erzählte Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.1 „All right, then, I’ll go to hell“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2 Untersuchungsbereiche und Zielsetzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.3 Aufbau der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Die Freundschaft im Kontext jugendlicher Alltags- und Lebenswelten. . . 26 2.1 Die Individualisierung der Freundschaft – gesellschaftliche und lebensbiografische Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1.1 Der Begriff und der Gegenstand der Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . 28 2.1.2 Die Bedeutung und die Folgen der Individualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.2 Die Mediatisierung der Freundschaft – kommunikationsund medienwissenschaftliche Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2.1 Der Begriff und der Gegenstand der Mediatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2.2 Die Bedeutung und die Folgen der Mediatisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2
Zweiter Teil: Methodologie 3
Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3.1 Die konstitutiven Schwächen der sozialwissenschaftlichen Freundschaftsforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.2 Zum sozialphänomenologischen Forschungszugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.3 Das begriffliche Verständnis von Freundschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.4 Das Konzept von Freundschaft als privater Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.5 Forschungsmodell und leitende Forschungsfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
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Inhaltsverzeichnis
3.6 Das Erzählinterview als Forschungsmethode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.6.1 Die Eignung des Erzählinterviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.6.2 Das Erzählinterview als Wirklichkeitserzählung – Anmerkungen zum Erkenntnisstatus und der narrativen Konstruktivität. . . . . . . . . . . . . 68 4
Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologischsemiotischen Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
4.1 Das einführende Textbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4.2 Das semiotische Textverständnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4.2.1 Zeichen und Textbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4.2.2 Erzählte Welt und Diegese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4.2.3 Textsorten und Erzählformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.3 Narrative Strukturen, Handlungsverlauf und Ereignishaftigkeit. . . . . . . . . . . 83 4.3.1 Die Bedeutung und Funktion der Grenze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4.3.2 Die Grenzüberschreitungstheorie nach Jurij M. Lotman . . . . . . . . . . . . . 86 4.3.3 Erweiterung der Grenzüberschreitungstheorie durch Karl N. Renner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.4 Narrative Identität und Positionierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.5 Perspektive und Point of View . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.6 Kulturelles Wissen und Denksystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Vorgehensweise und Ablauf der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.1 Der Forschungsstil der grounded theory. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.2 Das Konzept der Vorstudie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.2.1 Lebensgeschichtliches Erzählen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.2.2 Episodisches Erzählen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 5.2.3 Die Resultate der Vorstudie und die Konzeption der Hauptstudie. . . . . 113 5.3 Hauptstudie und Untersuchungsverlauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5.3.1 Vorgehensweise und Sampling-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5.3.2 Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5
Inhaltsverzeichnis
Dritter Teil: Empirische Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Subjektive Freundschaftssemantiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6.1 Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 6.1.1 Freundschaft als lokalräumliche Entgrenzung – das Fallbeispiel Selim 124 6.1.2 Freundschaft als Bestätigung gemeinschaftlicher Einbindung – das Fallbeispiel Moritz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 6.1.3 Zusammenführung – die Freundschaft im Spannungsfeld von Distinktion und Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 6.2 Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung. . . . . . . . . . . 158 6.2.1 Freundschaft als experimentelles Spiel – das Fallbeispiel Henriette. . . . 158 6.2.2 Freundschaft als positive Bekräftigung – das Fallbeispiel Alica. . . . . . . . 171 6.2.3 Zusammenführung – die Freundschaft als persönliche Akzeptanz und Anerkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 6.3 Die Deutung der Freundschaft als Selbstauseinandersetzung und Identitätsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.3.1 Freundschaft als lebensgeschichtliche Reflexion – das Fallbeispiel Adile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.3.2 Freundschaft als situative Befähigung – das Fallbeispiel Tomaž. . . . . . . 196 6.3.3 Zusammenführung – die Freundschaft als ko-konstruktive Arbeit am Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 6
Normative Freundschaftskonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 7.1 Freundschaftsvorstellungen – Freundschaft als Raum des authentischen Selbstentwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 7.1.1 Authentizität als Echtheit und Originalität – sich nicht verstellen müssen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 7.1.2 Authentizität als Ursprünglichkeit – wie in der Kindheit ‚echt‘ sein können. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7.1.3 Authentizität als Unmittelbarkeit – die erwünschte Oberflächlichkeit in der mediatisierten Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 7.1.4 Wechselseitig ermöglichte Vervollkommnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 7.2 Freundschaftserwartungen – Verlässlichkeit und die Idealisierung der Vertrauenswürdigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 7.2.1 Erzählte Vertrauensverstöße und Ereignisfolgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 7.2.2 Der Wunsch, vertrauensvolle Beziehungen zu führen . . . . . . . . . . . . . . . . 228 7.3 Freundschaftsästhetik – das Erleben einer intensiven Emotionskultur. . . . . 230 7
9
10
Inhaltsverzeichnis
7.4 Freundschaftsalltag – geschlechtertypische Praktiken und die verschiedenen Arten des Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 7.4.1 Die lebensweltliche Konstruktion kognitiver Unterstützung. . . . . . . . . . 234 7.4.2 Die lebensbiografische Konstruktion emotionaler Unterstützung. . . . . 237 7.5 Freundschaftsbegriff – nicht bloß diese Facebook-Freundschaften pflegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 7.6 Freundschaftsstruktur – offene Haltungen und vielfältige Beziehungen . . . 243 Heutige Freundschaftsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 8.1 Im Stile einer kurzen Rekapitulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 8.2 Charakteristika heutiger Freundschaftsbeziehungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 8
Narrative Freundschaftsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 9.1 Einordnung und Reflexion des methodischen Ansatzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 9.2 Perspektiven und Anknüpfungspunkte für weitere Forschung. . . . . . . . . . . . 266 9
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Anhang A: Transkriptionssystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Anhang B: Gesprächsleitfaden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12
Forschungsmodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die räumliche Struktur der erzählten Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Semantische Räume in Leonies erzählter Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menge und Komplementärmenge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narrative Identitätsarbeit im Erzählinterview. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raumstruktur und Raumsemantisierung in Selims erzählter Welt . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte der Entgrenzung in Selims erzählter Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rekonstruktion der histoire in Moritz’ erzählter Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freundschaft als Bestätigung sozialer Einbindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakteristische Differenzen bei den Freundschaftserzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . reundschaftsfunktionen und Freundschaftssemantiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64 80 87 89 92 98 131 139 144 150 234 249
Tabellenverzeichnis
Tab. 1 Tab. 2 Tab. 3 Tab. 4 Tab. 5 Tab. 6
Alltagswelt und Lebenswelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modus und Stimme des point of view. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interviewkonzepte der Vorstudie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Ablauf der Interviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feldphasen und Theoretical Sampling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht der Stichprobe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54 102 109 109 117 123
Übersicht der Textbeispiele
Textbeispiel 1 Textbeispiel 2 Textbeispiel 3 Textbeispiel 4 Textbeispiel 5 Textbeispiel 6 Textbeispiel 7 Textbeispiel 8 Textbeispiel 9 Textbeispiel 10 Textbeispiel 11 Textbeispiel 12 Textbeispiel 13 Textbeispiel 14 Textbeispiel 15 Textbeispiel 16
Leonie (19): Von Freundschaft erzählen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selim (19): Die Nachbarschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selim (19): Wie von einer anderen Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selim (19): Wir reden über alles. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selim (19): Abendroutine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moritz (20): Wir duzen uns alle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moritz (20): 17000 Sachen machen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moritz (20): Gefühlte Ewigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moritz (20): Als wir beim Fasnet waren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moritz (20): Ganz unterschiedliche Leute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henriette (18): Mädchengymnasium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henriette (18): Großer Respekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henriette (18): Adrenalinkick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alica (17): Ab dem Moment war ich glücklicher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alica (17): Was Freundschaft ausmacht für mich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alica (17): So süße Sachen über mich geschrieben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72 126 130 133 137 143 147 149 151 152 160 161 164 173 178 180
11
12
Inhaltsverzeichnis
Textbeispiel 17 Textbeispiel 18 Textbeispiel 19 Textbeispiel 20 Textbeispiel 21 Textbeispiel 22 Textbeispiel 23 Textbeispiel 24 Textbeispiel 25 Textbeispiel 26 Textbeispiel 27 Textbeispiel 28 Textbeispiel 29 Textbeispiel 30 Textbeispiel 31 Textbeispiel 32 Textbeispiel 33 Textbeispiel 34 Textbeispiel 35 Textbeispiel 36
Adile (17): Wir sitzen dann oft nur zusammen und malen. . . . . . . . . . . . . . . . Adile (17): So sein wie ich bin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adile (17): Dass man über alles reden kann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tomaž (20): Weil Freundschaft mir auch rausgeholfen hat. . . . . . . . . . . . . . . Tomaž (20): Richtige Freunde und Unterstützung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leonie (18): Du bist genauso in Ordnung wie du bist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Colin-Joel (18): Einfach nur zusammen sein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Colin-Joel (18): Es wird erwartet, dass man sich dran hält. . . . . . . . . . . . . . . . Tina (19): Der Moment des Ungezwungenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adile (17): Freundschaften verändern sich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Colin-Joel (18): Freundschaft früher und heute.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Per (17): Komische, unauthentische Leute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sophie-Magdalena (17): Ich würde vor mir weglaufen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sophie-Magdalena (17): Weil sie mir nie schaden würde. . . . . . . . . . . . . . . . . Tomaž (20): Feiern und lachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robin (17): Chillen, Unsinn machen, ganz normal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tomaž (20): Partyfreunde und Vertrauensfreunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin (20): Wir wissen, dass wir nicht enttäuscht werden. . . . . . . . . . . . . . Sophia-Magdalena (17): Nicht enttäuscht zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Per (17): Weil ich auch da was mitnehmen kann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186 189 192 198 200 209 212 213 216 218 219 222 224 228 231 234 242 245 245 247
Erster Teil Forschungshintergrund und interdisziplinäre Einordnung
1
Freundschaft als erzählte Geschichte
1.1
„All right, then, I’ll go to hell“
Huckleberry Finn und Jim sind die berühmten Protagonisten von Adventures of Huckleberry Finn. Der im Jahr 1884 von Mark Twain veröffentlichte Roman zählt zu den wichtigsten Werken der US-amerikanischen Jugendliteratur. Die Handlung bedarf keiner großen Erörterung: Der weiße, 13-jährige Herumtreiber Huckleberry Finn und der schwarze Sklave Jim reisen auf einem Floß gemeinsam den Mississippi hinunter, wobei sie viele Abenteuer erleben und zu besten Freunden werden. Dabei geht es um Freiheit, Gerechtigkeit und moralisches Handeln. Die häufigen Neuauflagen und -verfilmungen belegen, dass die vermittelte Freundschaftsgeschichte bis heute nichts an ihrer Popularität verloren hat. Zu den Gründen dürften – neben der auch in den zeitgenössischen Auflagen stets immanenten Kultur- und Gesellschaftskritik – vor allem die dort auf einfühlsame Weise vermittelten Freundschaftsnarrative zählen. Eine wichtige Stelle im Handlungsverlauf der Geschichte findet sich gegen Mitte des Romans: Der entflohene Jim wird auf einer Farm gefangen gehalten. Er soll der Besitzerin, Miss Watson, sobald sich diese meldet, gegen eine Belohnung übergeben werden. Huck weiß über den Standort von Jim Bescheid. Er hatte Jim geholfen, zu fliehen. Dabei hat er im Laufe der erzählten Geschichte mehrfach gegen geltendes Recht und gegen den Anstand verstoßen: Nicht nur hatte er seinen eigenen Tod vorgetäuscht, er hatte, um zu verhindern, dass sein Freund identifiziert und gefunden wird, auch mehrfach gelogen und sich für eine andere Person ausgegeben. Nun hadert er mit seinem Gewissen und befürchtet – da er nicht mehr beten kann – mit ewiger Verdammnis bestraft zu werden: So I was full of trouble, full as I could be; and didn’t know what to do. At last I had an idea; and I says, I’ll go and write the letter – and then see if I can pray. Why, it was astonishing, the way I felt as light as a feather right straight off, and my troubles all gone. So I got a piece of paper and a pencil, all glad and excited, and set down and wrote:
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Freundschaft als erzählte Geschichte
Also verfasst Jim einen Brief an Miss Watson, um ihr den Standort seines Freundes zu verraten. Im Roman1 geht es folgendermaßen weiter: Miss Watson, your runaway nigger Jim is down here two mile below Pikesville, and Mr. Phelps has got him and he will give him up for the reward if you send. HUCK FINN. I felt good and all washed clean of sin for the first time I had ever felt so in my life, and I knowed I could pray now. But I didn’t do it straight off, but laid the paper down and set there thinking – thinking how good it was all this happened so, and how near I come to being lost and going to hell. And went on thinking. And got to thinking over our trip down the river; and I see Jim before me all the time: in the day and in the night-time, sometimes moonlight, sometimes storms, and we a-floating along, talking and singing and laughing. But somehow I couldn’t seem to strike no places to harden me against him, but only the other kind. I’d see him standing my watch on top of his’n, ’stead of calling me, so I could go on sleeping; and see him how glad he was when I come back out of the fog; and when I come to him again in the swamp, up there where the feud was; and such-like times; and would always call me honey, and pet me, and do everything he could think of for me, and how good he always was; and at last I struck the time I saved him by telling the men we had smallpox aboard, and he was so grateful, and said I was the best friend old Jim ever had in the world, and the only one he’s got now; and then I happened to look around and see that paper. It was a close place. I took it up, and held it in my hand. I was a-trembling, because I’d got to decide, forever, betwixt two things, and I knowed it. I studied a minute, sort of holding my breath, and then says to myself: „All right, then, I’ll go to hell“ – and tore it up. It was awful thoughts and awful words, but they was said. And I let them stay said; and never thought no more about reforming. I shoved the whole thing out of my head, and said I would take up wickedness again, which was in my line, being brung up to it, and the other warn’t. And for a starter I would go to work and steal Jim out of slavery again; and if I could think up anything worse, I would do that, too; because as long as I was in, and in for good, I might as well go the whole hog.
Huck verwirft also den Gedanken, seinen Freund zu verraten. Mehr noch: Nachdem er sich die gemeinsamen Erlebnisse und gemachten Erfahrungen vergegenwärtigt hat, beschließt er, seinen Freund aus der Gefangenschaft zu befreien und die Strafe zu akzeptieren, die er – nach den traditionellen Vorstellungen des Christentums – zu erwarten hätte. Spätestens an dieser Stelle des Romans wird den Leserinnen und Lesern bewusst, dass der Beziehung ein besonderer Stellenwert zukommt. Die beiden juIch zitiere an dieser Stelle den von Google digitalisierten Originaldruck des Charles L. Webster-Verlags aus dem Jahr 1891 (vgl. Twain 1891, hier: S. 237 f.). Ich belasse den Text mit seinem rassistischen Sprachgebrauch in diesem wissenschaftlichen Kontext in seiner historischen Authentizität. Vgl. ausführlich zu diesem kultur- und literaturwissenschaftlichen Diskurs einführend Arndt und Ofuatey-Alazard 2011. 1
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gendlichen Protagonisten Huck und Jim verbindet mehr als eine aus der gemeinsamen Flucht resultierende Zweckbindung. Warum entscheidet sich Huck dafür, eine solch drakonische Strafe in Kauf zu nehmen? Welchen subjektiven Sinn schöpft er aus der Freundschaftsbeziehung und welchen Wert hat die Freundschaft für ihn? Bevor näher auf den Freundschaftsentwurf im Roman sowie auf die Ethik der Freundschaft eingegangen wird, sei zunächst etwas zur Auswahl des Textbeispiels gesagt: Auf den ersten Blick scheint es vielleicht ungewöhnlich, diese wissenschaftliche Arbeit anhand eines literarischen Werks der Jugendliteratur einzuleiten, das vor weit mehr als 130 Jahren verfasst wurde. Es stellt sich die Frage, welche Relevanz diesem Beispiel zukommt. Schließlich verfolgt die vorliegende Arbeit ja den Anspruch, Erkenntnisse über heutige Freundschaftssemantiken zu gewinnen, die, so indiziert es bereits der Titel, in der mediatisierten Alltagswelt gegeben sind. Auch will sie sich folglich auf tatsächliche, empirische Erlebnisse realweltlich existierender Personen stützen – und keinesfalls auf jene, die in einem konstruierten, fiktiven Text eines Romans von einer dritten Person, einem Autor, präsentiert werden – denn welchen epistemischen Beitrag könnte ein solcher Text für den hier interessierenden Gegenstandsbereich schon liefern? Hinzu kommt, dass einige Erzählthemen – der Rassismus und die Sklaverei im Speziellen – von den heutigen Lebenswelten und den Werten Jugendlicher weit entfernt erscheinen. Wäre es daher nicht passender, diese Arbeit mit einem aktuellen Beispiel einzuleiten, das in einen zeitgenössischen Handlungskontext eingebettet ist? Denkbar wäre etwa, die gegenwärtigen medien-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurse, welche die Auswirkungen der zunehmenden Digitalisierung der Alltagswelt auf das soziale und ethische Handeln der Subjekte thematisieren, herauszugreifen: So ist die Alltags- und Lebenswelt Jugendlicher von digitalen Medien durchdrungen und insbesondere im Bereich der interpersonellen Kommunikation umfassend mediatisiert:2 Jugendliche nutzen Smartphones und mobile Messenger für die Interaktion mit ihrer Clique, während Foto-Plattformen wie Instagram nicht nur das Selbst, sondern auch die Freundschaft visuell inszenieren. Jugendliche bauen parasoziale Bindungen auf und entwickeln freundschaftliche Beziehungen zu Medienakteuren, erstellen in digitalen Spielen mit Avataren imaginäre Repräsentationen der eigenen Identität (oder einer anderen, wünschenswerten Identität) und erfahren die Semantik von Freundschaft und Gemeinschaft durch das symbolische Handeln in Online-Rollenspielen. Die Lebenswelt Jugendlicher ist längst als umfassend mediatisiert anzusehen, sie bringt neue Formen medienvermittelter Gemeinschaftsbildung hervor3 oder manifestiert sich in veränderten Erscheinungsformen von Freundschaft: Bei Kindern und Jugendlichen kann im Zuge populärer Medienformate wie Instagram, Snapchat oder TikTok
Der Begriff der Mediatisierung wird im Sinne von Friedrich Krotz als sozialer Wandel verstanden (vgl. Krotz 2017, S. 14). Die Definition von Mediatisierung wird in Kapitel 2.1.1 gegeben. 3 Vgl. beispielsweise Hepp, Berg und Roitsch 2011. 2
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von einer Tendenz der visuellen Ästhetisierung gesprochen werden.4 Anführen ließen sich aus Sicht der Werteforschung auch aktuelle empirische Studien, die besagen, dass sich heutige Jugendliche besonders oft einsam und alleine fühlen – und dies trotz der Digitalisierung und einer immanenten medialen Vernetzung mit den Freunden.5 Interessant sind auch die veränderten gesellschaftlichen Anforderungen an Jugendliche, etwa hinsichtlich einer längeren (Aus-)Bildungsphase oder in Bezug auf eine flexible Lebensführung, welche eine Veränderung der Bedeutung heutiger Freundschaften nahelegen.6 Haben zum Beispiel enge und auf Vertrauen gegründete Freundschaftsbeziehungen keine Relevanz mehr in der heutigen (Medien-)Welt, in der, wie die IKWJugendstudie in ihrer Untersuchung zur Nutzung von Instagram konstatiert, „Likes, Reichweiten und Follower […] die neue Währung für das eigene Selbstwertgefühl [darstellen]“7? Nicht zuletzt böte sich natürlich auch die Covid-19-Pandemie als aktuelles gesellschaftliches Thema an, deren sozialpsychologische Folgen für Jugendliche gegenwärtig allgemein allenfalls in ersten Konturen zu erkennen sind.8 Wären jene Themen nicht geeigneter gewesen, um eine Arbeit zur zeitgenössischen Bedeutung von Freundschaft einzuleiten? Auf der anderen Seite: Je nachdem, was (also welcher Forschungsgegenstand) und wie (also mit welcher Herangehensweise) jene Semantiken der Freundschaft untersucht werden, haben das literarische Beispiel und die Gespräche, die in dieser Arbeit durchgeführt werden, mehr gemeinsam, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Um also zu entscheiden, ob das gewählte Beispiel geeignet ist oder nicht, ist die Frage relevant, welches Merkmal als vergleichendes Paradigma ausgewählt wird: Der Ansatz dieser Arbeit besteht darin, dass Jugendliche von ihrem Leben, von ihren Alltagspraktiken und von ihren Freundschaftsbeziehungen erzählen.9 So betrachtet besteht eine erste wichtige Gemeinsamkeit darin, dass es sich um Freundschaftserzählungen10 handelt.
Vgl. hierzu die Forschung von Ulla Autenrieth, exemplarisch ist Autenrieth 2014 bzw. Autenrieth 2017. Vgl. zum Beispiel Ballard 2019. Vgl. Hurrelmann & Quenzel 2016, S. 41 f. sowie S. 49. Vgl. IKW Jugendstudie 2019, S. 10. Mit Blick auf die Covid-19-Pandemie ist anzumerken, dass diese Arbeit, d. h. die Entwicklung der Forschungsfrage, die Konzeption der Methodik sowie die empirische Gesprächsführung, vor Beginn der pandemischen Situation durchgeführt wurde. Eine kurze Diskussion der Befunde dieser Arbeit vor der Folie der Covid-19-Pandemie findet sich in Kapitel 9.2. 9 An dieser einführenden Stelle sei, um begriffliche Missverständnisse zu vermeiden, noch eine kurze Begriffsbestimmung vorgenommen: Während der Begriff der Geschichte für den narrativen Inhalt steht (zur Begriffsdefinition siehe das Kapitel 3.6.1), ist mit dem Begriff der Erzählung die Aussage, der narrative Text bzw. der Diskurs Erzählung im eigentlichen Sinne gemeint. Damit folge ich der Terminologie von Gérard Genette (vgl. Genette 2010, S. 12 f.), weshalb der Begriff der Narration wiederum dem „produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten“ (S. 12) ist. 10 Mit dem Erzählbegriff wird zunächst einmal nicht differenziert, um welche Art von Erzählungen es sich handelt: Unterschieden werden muss zunächst einmal zwischen erzählenden (narrativen) Texten (wie sie zum Beispiel in einem Roman, im hier aufgeführten Beispiel, gegeben sind) und Texten, die allgemein über eine narrative Struktur verfügen (die auch einer alltäglichen Beschreibung oder einem (Sach-)Bericht inne4 5 6 7 8
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In meiner Arbeit werde ich zu zeigen versuchen, dass Erzählungen – bzw. genauer: die Erkenntnisform des autobiografischen Erzählens von Selbsterlebtem11 – einen besonders guten Zugang zur subjektiven Semantik von Freundschaft kreieren und im Vergleich zu nicht-narrativen Formen der Erkenntnisgewinnung sowohl methodisch wie inhaltlich eine Reihe von Vorteilen bieten. Der Grund hierfür besteht darin, dass das Erzählen unmittelbar an der subjektiven Erfahrungswelt der Subjekte anknüpft, das intuitive Setzen persönlicher Relevanzen ermöglicht und den Zugang zur (biografischen) Selbstdeutung eröffnet.12 Da ethische Werte und Normen intutiv im Akt des Erzählens präsupponiert werden, ist das Erzählen zudem untrennbar mit der ethischen Dimension verbunden.13 Relevante Werte und Handlungsgründe werden kontextgebunden geschildert und sind immanenter Bestandteil der Textsorte der Erzählung. Da die Freundschaft von Jim und Huck als eine erzählte Geschichte vorliegt, kann die Ethik der Beziehung daher in einem lebensbiografischen Kontext betrachtet werden: Um die Freundschaft der beiden zu verstehen, muss sie vor dem Hintergrund der gemeinsamen Erlebnisse gesehen werden: So sind beide auf sich allein gestellt und auf der Flucht – Huck vor seinem gewalttätigen Vater, der sich des Vermögens des Jungen bemächtigen will; Jim vor seiner Eigentümerin Miss Watson, die ihn, so vermutet er jedenfalls, verkaufen und von seiner Familie trennen möchte – was sie im Laufe der Geschichte zusammenschweißt und gemeinsame Abenteuer erleben lässt. Vor dieser Folie ergibt sich beim Lesen von Adventures of Huckleberry Finn ein dichtes, atmosphärisches Bild einer intensiv erlebten Freundschaftsbeziehung, die Themen der Lebensbewältigung, der persönlichen Unterstützung und Fragen des Erwachsenwerdens in den Vordergrund rückt. Über die Bedeutung und den Sinn der Freundschaft erfahren die Leserinnen und Leser vor allem deswegen etwas, weil die Freundschaftsbeziehung entlang des Alltagserlebens erzählt wird: Das Wissen um die gemeinsamen Erlebnisse der fiktiven Charaktere – wie sie zum Beispiel die Be-
wohnen kann). Vgl. hierzu Titzmann 2013b, S. 115–117; zu den Bedingungen vgl. Titzmann 2013b, S. 120–124. Ein wichtiges zweites Kriterium bezieht sich auf den vermittelten Wahrheitsanspruch, mit welchem zum Beispiel ganz allgemein zwischen Fiktionserzählungen und Wirklichkeitserzählungen unterschieden werden kann. Vgl. zu Wirklichkeitserzählungen Klein und Martínez 2009, S. 1 f.; ausf. siehe das Kapitel 3.6.2. 11 Damit sei an dieser Stelle auch der spezifische Erzählbegriff eingeführt, der diese Arbeit in methodologischer Hinsicht charakterisieren wird: Wenn ich im Kontext von Erzählinterviews von Erzählen sprechen, so meine ich das autobiografische Erzählen als narrative Form des faktualen, nicht-literarischen Erzählens von selbst erlebten Ereignissen und Personen, welches über die Alltagskommunikation hinausgeht, über die Erzählsituation hinaus sinnhafte Bedeutung hat, weil die erzählende Person etwas über sich und über ihre Wirklichkeit ausdrückt (vgl. Linde 1993, S. 20 f.; Martínez und Scheffel 2012, S. 11 f.). 12 Vgl. einführend zum Erzählen von Selbsterlebtem sowie zum Erzählen als Basisform der Verständigung Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 17–20. Zum (lebens-)biografischen Erzählen im Erzählinterview vgl. Schütze 1983, S. 285 f. 13 Vgl. hierzu ausf. den Ansatz der Narrativen Ethik, der die moralische Kategorie der Erfahrung mit rationalem Handeln und eigenem Erleben verbindet (vgl. Mieth 2002, S. 277–302).
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trüger Bill und Jake kennenlernen und den beiden bei ihren Betrügereien helfen; wie Bill und Jake aber später das Vertrauen von Huck und Jim ausnutzen und die Freunde hintergehen – trägt dazu bei, die spezifische Beziehung in einer Weise zu verstehen und nachzuvollziehen, wie dies eine Beschreibung oder Nennung einzelner Merkmale und Charakteristika der Freundschaftsbeziehung nicht leisten könnte. Denn direkte Fragen nach einem Gegenstandsbereich bringen meist Antworten hervor, die auf ein konventionalisiertes Freundschaftsverständnis hinauslaufen, jedoch wenig über die subjektive Bedeutung, die der Freundschaft kontextspezifisch zukommt, verraten.14 Relevante Werte, persönliche Überzeugungen und individuelle Einstellungen bringen die Erzählpersonen im (intuitiven) Erzählprozess hingegen unmittelbar und implizit mit ein, ohne hierüber bewusst nachdenken und reflektieren zu können. Verzerrungseffekte, wie zum Beispiel die soziale Erwünschtheit, kommen nicht in gleichem Maße zum Tragen. An diese methodologischen Überlegungen schließen inhaltliche Gründe an, die dafürsprechen, Freundschaft in der Form erzählter Geschichten zu untersuchen. Auf diese Gründe weist das literarische Beispiel ebenfalls hin: Ein zentrales Merkmal der sozialen Beziehung der Freundschaft besteht in ihrer Verschiedenheit: Sichtet man etwa die (sozial)wissenschaftliche Forschung, so wird man mit einer Vielzahl an Begriffsverständnissen, methodischen Zugängen und Definitionsstrategien konfrontiert.15 Einig sind sich die Autorinnen und Autoren in einem Punkt: Sie verweisen darauf, wie facettenreich die Freundschaft als „nichtinstitutionalisierte Sozialform“16 sei: Die Freundschaft zeichnet sich durch ihre temporale, kulturelle und soziale Vielfalt aus,17 wobei gerade die Beziehungen in modernen Gesellschaften als „extrem vielfältig und fluide“18 gelten. Zusätzlich obliegt das Verständnis den beteiligten Individuen19 – sei inhaltlich vielleicht auch nur aus der Individualität heraus verstehbar.20 Das wesentliche Merkmal der Freundschaft besteht in der „subjektiven Inhaltssetzung und Deutungsfreudigkeit“.21 Überraschenderweise hat dieser vielfältige und wenig eindeutige Status quo der Freundschaft in der Sozialwissenschaft nicht zu einer umfangreichen Forschung beigetragen:
14 Dieser Ansatz entspricht damit einer durchaus gängigen Herangehensweise in der Freundschaftsforschung, wie ich in Kapitel 3.1 herausarbeite. Vgl. hierzu auch Leuschner und Schobin 2016, S. 56–64. 15 Für einen Überblick und eine grundsätzliche Einführung in die Freundschaftssoziologie vgl. Schobin u. a. 2016; dort zum Begriff exemplarisch S. 14–16 bzw. zum Methodendiskurs S. 55–69. Die soziologische Forschung zur Freundschaft thematisiert ausf. das Kapitel 3.1. 16 Wagner und Alisch 2006, S. 12. 17 Vgl. Wagner und Alisch 2006, S. 12 f. 18 Schobin u. a. 2016, S. 12. 19 Vgl. Nötzoldt-Linden 1994, S. 23. 20 Vgl. Wolf 1996. 21 Nötzoldt-Linden 1994, S. 26.
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Das soziale Phänomen der Freundschaft [gilt] in der Soziologie bis heute als eine Art Liebhaberthema und von einer systematischen Forschungstradition kann nicht gesprochen werden – allenthalben gibt es eine Reihe von Fragmenten. Als eigenständiges Phänomen findet Freundschaft kaum Beachtung.22
Dabei besteht Einigkeit innerhalb der Freundschaftsforschung, dass schon die individualisierten23 (Lebens-)Bedingungen moderner Gesellschaften veränderte Freundschaftssemantiken nach sich ziehen können.24 Die „heutige Lebensführung […] [ist] nicht mehr im gleichen Maße auf die emotionalen und materiellen Ressourcen der Familie angewiesen und es steht den Menschen frei, ein Leben zu führen, in dem nicht die Familie, sondern Freundschaften die vorherrschenden Beziehungen darstellen.“25 In dieser Hinsicht haben gerade Jugendliche mit der psychischen und sozialen Ablösung von den Eltern einen hohen Bedarf an Freundschaft, um „sich in ihrem sozialen und emotionalen Erleben und Handeln der Unterstützungs- und Vertrauensbeziehungen zu vergewissern, die ihre Eltern nun nicht mehr oder nur noch eingeschränkt anbieten können“.26 Ein Vorzug des Ansatzes, Freundschaft in der Form erzählter Geschichten zu untersuchen, kann also darin gesehen werden, dass jene persönlichen (Gesprächs-)Erzeugnisse die subjektive Inhaltssetzung und die individuellen Relevanzen der Freundschaftsverständnisse würdigen. Erzählungen haben hier die Kraft, potenziell Bedeutungsaspekte und Werte aufzuzeigen, die dem eigenen Deutungs- und Interpretationsvermögen übergeordnet sind, also der eigenen Reflexion vielleicht gar nicht zugänglich sind, in den Geschichten aber in metanarrativer Form eingelagert sind. Im Roman entscheidet sich Huck dafür, die eigenen religiösen Ideale zugunsten derer des Freundes zu ignorieren. Er gewichtet den Wert des Freundes höher als seinen eigenen. Aufgrund der gemeinsamen Erlebnisse und Erfahrungen, die die Protagonisten teilen, sind Freunde jederzeit für den anderen da, setzen sich füreinander ein und sind bereit, jede nur erdenkliche Strafe hinzunehmen, um füreinander einzustehen und dem moralischen Imperativ reziproker Selbstverpflichtung nachzukommen. Zur Semantik von Freundschaft in Adventures of Huckleberry Finn gehört nicht nur, dass ihr moralischer Wert gegenüber Werten wie der Gesetzes- oder Sittentreue überwiegen kann.27 Auf einer Metaebene wird vermittelt, dass Freundschaft in der Lage ist, sich über soziale Schichten und lebensweltliche
Schobin u. a. 2016, S. 11 (Hervorh. i. Orig.). Individualisierung wird in dieser Arbeit soziologisch im Sinne von Ulrich Beck verstanden (vgl. Beck 2016, S. 206). Zur Definition siehe das Kapitel 2.1.1. 24 Vgl. Nötzoldt-Linden 1994, S. 9–14 oder Alleweldt 2013, S. 43–52. 25 Schobin u. a. 2016, S. 12. 26 Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 173. 27 Diesen Aspekt regelt das kulturelle Wissen, das zur Entschlüsselung dieser Textsemantik notwendig ist: Erst vor der Folie, dass erstens Sklaverei in der erzählten Welt sowohl rechtlich als auch moralisch legitim ist und dass zweitens die christliche Lehre des Alten Testaments eine hohe gesellschaftliche Norm 22 23
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Freundschaft als erzählte Geschichte
Milieus hinwegzusetzen und die Grenzen einer Kultur zu konterkarieren; ihr kann die Funktion zukommen, durch ihre Unterstützungsfunktion Ungleichheiten aufzuheben und stattdessen gemeinsame Werte, Einstellungen und Überzeugungen – und damit die Gleichheit der Subjekte – zu betonen. Aufrichtigkeit, Vertrauen und wechselseitig aufeinander bezogenes moralisches Handeln hat die Kraft, soziale Ungleichheit und Diskriminierung zu überwinden. Wirft man vor diesem Hintergrund einen Blick auf gegenwärtige Freundschaftsbeziehungen, so stellt sich die Frage nach der heutigen Bedeutung der Freundschaft. Welche Relevanz kommt der Freundschaft im Kontext heutiger Lebenswirklichkeiten Jugendlicher zu und welchen ethischen Wert hat die Freundschaft heute? Im Lichte dieser Lebenswirklichkeit scheinen viele Autorinnen und Autoren angesichts digitaler Kommunikationsmittel und medialer Erlebniswelten von einer Profanisierung der Freundschaft auszugehen.28 Von einer Freundschaft, in der man sich zwar trifft und miteinander schreibt, aber nicht eng miteinander verbunden ist? Von einer Freundschaft, die anders als in Adventures of Huckleberry Finn nicht auf sozialer Verpflichtung, sondern nur auf einer lockeren Form der Vernetzung basiert? Vielleicht ist es so, dass enge Freundschaften in den heutigen, schnelllebigen und komplexen Alltagswelten mit ihren gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen, mit denen sich Jugendliche konfrontiert sehen, schlicht nicht mehr gelebt werden können? Im Roman konstituiert sich Freundschaft schließlich dadurch, dass Huck und Jim intersubjektiv Erlebnisse teilen und einen gemeinsamen Lebensweg bestreiten, während es doch in unserer mediatisierten und sozial-differenzierten Gesellschaft vielmehr darum zu gehen scheint, selbst und aus der eigenen Subjektivität heraus einen individuellen Lebensweg zu entwickeln. 1.2
Untersuchungsbereiche und Zielsetzungen
Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist es daher, herauszufinden, wie heutige Jugendliche Freundschaft praktizieren, erleben und welche subjektiven Bedeutungen und Werte den Beziehungen zukommen. Methodisch wird dies mit Erzählinterviews untersucht. Für die Auswertung der Interviewtexte wird ein neuartiger, narratologischsemiotisch fundierter Analyseansatz entwickelt und empirisch erprobt. Ein solcher ist in der Sozialwissenschaft in dieser Form nicht etabliert, obgleich auf die Potenziale der Semiotik für die empirische Medien- und Sozialforschung bereits hingewiesen wurde.29 Diese Arbeit soll daher nicht nur als Beispielanalyse dienen, sondern auch zeigen, darstellt und moralisch handlungsleitend für die Menschen ist, erweist sich Hucks ‚Opfer‘ als besonders signifikant. Vgl. zum kulturellen Wissen ausf. das Kapitel 4.6. 28 Vgl. Heinzlmaier 2013. 29 So zum Beispiel von Müller und Grimm 2016, S. 7–10.
Untersuchungsbereiche und Zielsetzungen
worin die Vorzüge eines solchen Analyseansatzes bestehen. So wird zum Beispiel davon ausgegangen, dass der Art und Weise, wie von Freundschaft erzählt wird – bzw. konkret: wie Freundschaft im Text zeichenhaft realisiert ist –, eine Bedeutung an sich zukommt. Die vorliegende Arbeit verfolgt damit zwei Ziele: Methodologisch möchte sie den Mehrwert einer narratologischen Herangehensweise im Allgemeinen aufzeigen und die heuristischen Vorzüge einer semiotisch fundierten Analysemethode im Besonderen deutlich machen. Gearbeitet wird mit einem semiotischen Textverständnis, Begriffsinventar und Analyseinstrumentarium. Eine wichtige Rolle spielt die raumsemantische Vorgehensweise der strukturalen Narratologie. Mit diesem Forschungsansatz besteht ein übergeordnetes Ziel der Arbeit darin, einen Beitrag zum methodologischen Diskurs in der Sozialwissenschaft zu liefern: Indem die besagten Methoden für die empirische Analyse faktualer Texte, wie sie in (narrativen) Interviews entstehen, furchtbar gemacht werden, möchte die Arbeit das bestehende Methodeninventar der qualitativen Sozialforschung um neue Auswertungsideen und -ansätze ergänzen und den Wissensstand um die gewonnenen Erkenntnisse erweitern. Inhaltlich untersucht die Arbeit mit einem ersten Erkenntnisinteresse die subjektiven Freundschaftssemantiken von Jugendlichen im gegenwärtigen Alltag. Als charakteristisch für diesen gegenwärtigen Alltag werden die Metaprozesse der Digitalisierung bzw. Mediatisierung sowie der Individualisierung angenommen. Welche alltagsweltlichen Funktionen übernimmt die Freundschaft im Kontext der besagten Entwicklungen? Eine zentrale inhaltliche Prämisse dieser Arbeit besteht in der Vermutung, dass die veränderten (Lebens-)Bedingungen des gegenwärtigen Alltags zu einer veränderten Art und Weise führen, Freundschaft subjektiv zu erleben, sie sinnhaft zu interpretieren und subjektiv mit Bedeutungen zu füllen: Wie erzählen die Jugendlichen von Freundschaft und welches normative Freundschaftskonzept entwickeln sie? Welche Werte sind für sie in besonderem Maße relevant? Aufbauend auf diesen Ergebnissen wird in einem zweiten Erkenntnisinteresse der Frage nachgegangen, welche Funktionen die Freundschaft in der heutigen Gesellschaft übernimmt und welcher Stellenwert ihr zukommt. Damit soll abschließend eine Erkenntnis über mögliche Veränderungen der Freundschaft aus ganzheitlicher – d. h. nicht allein jugendsoziologischer – Sicht gewonnen werden: Welche Merkmale sind charakteristisch für heutige Freundschaftsbeziehungen und welche Veränderungen dieser Sozialform lassen sich gegebenenfalls identifizieren? Soziologisch betrachtet wird also aus einer Mikroperspektive zunächst das (Deuten und Interpretieren des) Individuum(s) in der Gesellschaft in den Blick genommen, um anschließend aus einer Makroperspektive auf das Individuum zu blicken und dessen Handeln zu interpretieren.
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Freundschaft als erzählte Geschichte
1.3
Aufbau der Arbeit
Um dies zu leisten, setzt sich die Arbeit aus drei Teilen zusammen: Im ersten Teil wird über die Skizzierung des Forschungshintergrunds ein Zugang zum Gegenstand eröffnet. Inhaltlich werden die (Lebens-)Bedingungen Jugendlicher in der heutigen Gesellschaft thematisiert: Hierfür werden in Kapitel 2 die theoretischen Befunde einer sich zum einen immer weiter vollziehenden Ausdifferenzierung und Individualisierung der Gesellschaft und der Mediatisierung bzw. Digitalisierung von Gesellschaft, Kultur und sozialen Beziehungen zum anderen behandelt. Diese werden mit ausgewählten empirischen Befunden zum Erleben der Freundschaft in den heutigen Alltags- und Lebenswelten Jugendlicher in Verbindung gebracht. Im zweiten Teil wird das Forschungsdesign entwickelt und die Methodologie der Arbeit vorgestellt. In Kapitel 3 wird ausgehend von den konstitutiven Schwächen der sozialwissenschaftlichen Freundschaftsforschung und den bestehenden Forschungsdesiderata der sozialphänomenologische Forschungszugang skizziert. Im Anschluss wird auf das Verständnis von Freundschaft und den verwendeten Freundschaftsbegriff eingegangen. Um die persönlichen Bedeutungsgehalte von Freundschaft analytisch fassen zu können, wird Freundschaft als ein privater Raum konzipiert. Als Resultat wird schließlich das empirische Forschungsmodell vorgestellt, welches strukturgebend für die nachfolgenden Analysen ist. Das Kapitel 4 widmet sich dem narratologisch-semiotischen Analyseansatz. Der Abschnitt ist im Stile einer kurzen Einführung konzipiert: Anhand eines einführenden Textbeispiels wird zunächst das grundlegende Textverständnis erörtert; im Anschluss werden das semiotische Analysekonzept und das Begriffsinventar – zum Beispiel: kulturelles Wissen und Denksystem, semantische Räume und Ereignishaftigkeit, point of view – eingeführt und erläutert. In Kapitel 5 werden die Vorgehensweise und der Ablauf der empirischen Untersuchung skizziert. Im dritten Teil der Arbeit werden die empirischen Ergebnisse präsentiert: Der Ergebnisteil ist so aufgebaut, dass er einer induktiven Logik folgt und inhaltlich sukzessive kursorischer wird. In Kapitel 6 werden die subjektiven Freundschaftssemantiken Jugendlicher aus ihren lebensweltlichen Perspektiven vorgestellt. Auf diese einzelfallorientierten Analysen folgt in Kapitel 7 die Darstellung der korpusübergreifenden Analysen zu den normativen Freundschaftskonzeptionen der Jugendlichen, welche die bisherigen Perspektiven aus Kapitel 6 ergänzen und erweitern. Das Kapitel 8 bietet eine kurze zusammenfassende Betrachtung und formuliert sieben resümierende Charakteristika, mittels welcher heutige Freundschaftsbeziehungen hinreichend charakterisiert werden können. Während das Kapitel 6 damit vor allem das oben skizzierte erste Erkenntnisinteresse abdeckt, fokussieren die Kapitel 7 bis 8 eher das hieraus abgeleitete, zweite Erkenntnisinteresse der Arbeit. Die Arbeit schließt in Kapitel 9 mit einer Einordnung und Beurteilung des methodischen Ansatzes und eröffnet Perspektiven und Anknüpfungspunkte für die weitere Forschung. Dabei wird auf die spezi-
Untersuchungsbereiche und Zielsetzungen
fischen Vorzüge der verwendeten Methode für Forschungsvorhaben der empirischen Sozial- und Medienwissenschaft eingegangen.
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Die Freundschaft im Kontext jugendlicher Alltags- und Lebenswelten
Die Frage nach der Freundschaftssemantik Jugendlicher in der gegenwärtigen Gesellschaft zu stellen, sich dafür zu interessieren, welche Funktionen sie dort übernimmt und welche Bedeutungen ihr zukommen, bedeutet zunächst einmal, die Frage nach den Bedingungen zu stellen, die diese Gesellschaft für Jugendliche bereithält. Unter diesen Bedingungen formieren und artikulieren sich die Beziehungen der Individuen schließlich auf eine bestimmte, charakteristische Weise. In der Sozialwissenschaft können hier mit Blick auf die vergangenen Jahre und Jahrzehnte zwei wesentliche Entwicklungslinien identifiziert werden: Dies ist zum einen die sich immer weiter ausdifferenzierende Gesellschaft1 mit der Individualisierung der Lebenslagen und des Bewusstseins und zum anderen die sich zur gleichen Zeit vollziehende Digitalisierung und Mediatisierung von Gesellschaft, Kultur und sozialen Beziehungen. Beide Entwicklungen können als übergreifender und lang anhaltender gesellschaftlicher Metaprozess2 des sozialen und kulturellen Wandels verstanden werden, welcher die heutige Zeit charakterisiert.3 Sie vollziehen sich auf der Ebene der 1 Gesellschaftliche Ausdifferenzierung verstehe ich in ihrer allgemeinen Bedeutung angelehnt an Georg Simmel und Niklas Luhmann, folge sonst jedoch, sowohl begrifflich als auch bei der Beschreibung von sozialem Wandel, den Arbeiten von Ulrich Beck. Vgl. Beck 2016. 2 Ich übernehme den Begriff des Metaprozesses von Friedrich Krotz, der diesen für die Mediatisierung formuliert (vgl. Krotz 2017, S. 17–30). In gleicher Weise sind meines Erachtens die Entwicklungen der Individualisierung und Digitalisierung bzw. Digitalität als gesellschaftlicher Prozess zu denken. Vgl. zur Individualisierung Beck 2016, S. 121–159 bzw. siehe das folgende Kapitel; zur Digitalität Stalder 2016, S. 22–57. Damit sei auch mein soziologisches Grundverständnis angedeutet, welches nicht von einer ‚stabilen Gesellschaft‘ o. ä. ausgeht, sondern eine immanente Transformation derselben annimmt. 3 Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass es neuere soziologische Gesellschaftsdiagnosen gibt, welche die heutige soziale Wirklichkeit u. a. auch aufgrund der vielfältigen, soziotechnisch zu verstehenden Digitalisierungsphänomene beschreiben. Exemplarisch seien die „Theorie der digitalen Gesellschaft“ von Armin Nassehi (vgl. Nassehi 2019), die „Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz (vgl. Reckwitz 2018) bzw. die Beschleunigung nebst Resonanz im Sinne Hartmut Rosas (vgl. Rosa 2012 sowie Rosa 2021) genannt. Teilweise nehmen jene Gesellschaftstheorien für sich in Anspruch, weiter als die Individualisierungsthese zu gehen. So konstatiert zum Beispiel Andreas Reckwitz einen Strukturwandel innerhalb der modernen, individualisierten Gesellschaft selbst und geht dabei von einer heutigen Gesellschaftsform
Die Individualisierung der Freundschaft – gesellschaftliche und lebensbiografische Aspekte
Alltagswelt, als auch spielen sie in den Bereich der Lebenswelt hinein, greifen dabei soziologisch ineinander und sind auch in ihren empirischen Folgen nicht voneinander zu trennen. Es bietet sich daher an, die Freundschaft heutiger Jugendlicher im Lichte dieser zentralen Entwicklungen zu betrachten und zu erarbeiten. Dabei wird davon ausgegangen, dass diese Formen des gesellschaftlichen Wandels den Ausgangspunkt für die heutigen Freundschaftssemantiken bilden. 2.1
Die Individualisierung der Freundschaft – gesellschaftliche und lebensbiografische Aspekte
Die größte und wohl auch bekannteste empirische Studie zur Jugend im deutschsprachigen Raum, die seit 1953 alle fünf Jahre erscheinende Shell-Jugendstudie, ist auch im Jahr 20154 mehrdeutig bei der Beschreibung der aktuellen Jugendgeneration. Einerseits seien die Jugendlichen bereit, aus einer „vorsichtig sondierenden und taktierenden Haltung auszubrechen, neue Horizonte zu erschließen und dabei auch ein Risiko einzugehen“.5 Sie hätten hohe Bildungsziele und Anforderungen an den späteren Beruf, wiesen eine hohe eigene Leistungsbereitschaft auf und seien durchaus bereit, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen.6 Auf der anderen Seite werden die gegenwärtigen Jugendlichen aber auch als eine vorsichtige Generation skizziert, bei der konservative Trends erkennbar sind: Mehrfach ist davon zu lesen, dass sich möglichst nichts verändern, sondern konstant bleiben soll, was die Autorinnen und Autoren als Suche nach Stabilität und Sicherheit interpretieren.7 Auch andere empirische Jugendstudien stellen diese Suche nach Normalität heraus und betonen die selbstaus, welche sich anhand singularischer Merkmale strukturiert. Als solche, so Reckwitz, gehe sie weiter als die Individualisierung, da sie sich nicht nur auf Subjekte und deren Lebensformen, sondern zum Beispiel auch auf Zeiten, Dinge oder Räume beziehe (vgl. Reckwitz 2020, unpg.; siehe auch Reckwitz 2018, S. 57–64). Meines Erachtens bildet der Individualisierungsansatz dennoch den wichtigsten übergreifenden Bezugsrahmen, um unsere heutige Zeit durchaus hinreichend zu charakterisieren. Mit ihrem spezifischen Fokus auf die Dimensionen der objektiven Lebenslage und des subjektiven Bewusstseins (siehe hierzu im Detail das folgende Kapitel) nimmt sie darüber hinaus genau jene Aspekte in den Blick, die ich in dieser Arbeit untersuchen werde. 4 Die aktuelle Shell-Jugendstudie ist jene des Jahres 2019; sie wurde während der Abschlussphase, d. h. im Rahmen des Verschriftlichungsprozesses dieser Arbeit herausgegeben. Ich habe bewusst darauf verzichtet, die aktuelle Studie einzuarbeiten, da die Erzählinterviews dieser Arbeit in den Jahren 2016 und 2017 durchgeführt wurden. Die Jugendstudie des Jahres 2015 dürfte damit besser geeignet sein, die Gesprächspersonen der Stichprobe in dieser Arbeit hinsichtlich ihrer Haltungen und Werteorientierungen einzuordnen. Anzumerken ist außerdem, dass sich in der Jugendstudie des Jahres 2019 in den hier primär interessierenden Kategorien, d. h. Alltag, Familie, Freizeit und soziale Beziehungen, keine wesentlichen Veränderungen ergaben. Verschiebungen zeigten sich angesichts der Flüchtlingsentwicklungen sowie der Klima-Bewegung vielmehr in der Kategorie Politik und Gesellschaft (vgl. Shell-Jugendstudie 2019). 5 Quenzel u. a. 2015, S. 376. 6 Vgl. Quenzel u. a. 2015, S. 384. 7 Vgl. Leven und Utzmann 2015, S. 310–317.
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Die Freundschaft im Kontext jugendlicher Alltags- und Lebenswelten
verständliche Akzeptanz etablierter Leistungsnormen.8 Bei der Werteorientierung ist den Jugendlichen Harmonie und Vertrauen gegenüber den Eltern besonders wichtig,9 auch legen sie auf traditionelle Sekundärtugenden verstärkt Wert.10 Die befragten Jugendlichen gehen zudem, so die Autorinnen und Autoren, von einer „relativ pessimistischen Haltung gegenüber der gesellschaftlichen Zukunft“11 aus. Sie wünschen sich die Vereinbarkeit von Arbeit, Freizeit und Familie und damit stabile und sichere Sozialwelten, die sich nicht als unsichere entgrenzte Welten, sondern vielmehr als sichere und stabile Möglichkeitsräume manifestieren.12 Auf den ersten Blick können die Ergebnisse dieser wichtigen Jugendstudien damit durchaus inkonsistent erscheinen. Wie ist diese Heterogenität und die vordergründige Ambivalenz an Einstellungen und Werten zu erklären? Charakteristisch für die Individualisierung ist, dass sie sich für Jugendliche als ein „zwiespältiges Moratorium“13 manifestiert. Dabei stehen sich gewünschte (Wahl-)Freiheit zum einen und kollektive Orientierung bzw. individuelle Sicherheit zum anderen gegenüber. 2.1.1
Der Begriff und der Gegenstand der Individualisierung
Individualisierung sei zunächst im Sinne von Ulrich Beck als „dreifache Individualisierung“ verstanden. Ulrich Beck präzisiert sie als Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (‚Freisetzungsdimension‘), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (‚Entzauberungsdimension‘) und – womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird – eine neue Art der sozialen Einbindung (‚Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension‘).14
Empirisch manifestiert sich Individualisierung entlang zweier Dimensionen: entlang der Dimension der objektiven Lebenslage und entlang der Dimension des subjektiven Bewusstseins und der Identität.15 Die erste Dimension umfasst neben sozialstrukturellen Aspekten vor allem Fragen der Veränderung von Lebensverläufen und Biografiemustern, während sich die zweite Dimension auf Fragen der Subjektwerdung, der
8 Vgl. exemplarisch Calmbach u. a. 2016, S. 475. 9 Vgl. Leven und Utzmann 2015, S. 279–281. 10 Vgl. Gensicke 2015, S. 242–244. 11 Quenzel u. a. 2015, S. 384. 12 Vgl. Albert u. a. 2015, S. 15–17. 13 Hitzler und Niederbacher 2010b, S. 12. 14 Beck 2016, S. 206 (Hervorh. i. Orig.). 15 Vgl. Beck 2016, S. 206 f.
Die Individualisierung der Freundschaft – gesellschaftliche und lebensbiografische Aspekte
Identitätsarbeit und der Sozialisationserfahrungen bezieht.16 Als Soziologe thematisiert Ulrich Beck vor allem die erste Dimension. Angesichts der Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaats und der Steigerung des sozialen, materiellen und kulturellen Lebensstandards postuliert er die sukzessive Auflösung bestehender Klasse- und Ständestrukturen17 und die Ausdifferenzierung von Lebensverläufen.18 Für die Forschungsfragestellungen dieser Arbeit sind die Entwicklungen und Folgen entlang beider Dimensionen relevant. Diese sollen daher nachfolgend kurz skizziert werden. Bezogen auf die objektive Lebenslage wird der biografische Verlauf zunehmend selbst gestaltet und die soziale Rolle durch den Einzelnen bestimmt. Jugendliche […] sollen ArchitektIn und BaumeisterIn des eigenen Lebensgehäuses werden, aber das ist keine Kür, sondern zunehmend Pflicht in einer grundlegend veränderten Gesellschaft. Es hat sich ein tief greifender Wandel von geschlossenen und verbindlichen zu offenen und zu gestaltenden sozialen Systemen vollzogen.19
Im Lebenslauf manifestiert sich dies in verlängerten Ausbildungsgängen und im Verbleib im institutionellen Bildungssystem; der Berufseintritt verlagert sich ebenso wie die finanzielle und familiäre Selbstständigkeit nach hinten.20 Brüchig wird das traditionelle Konzept des Jugendalters,21 das sich durch das sozialisationstheoretische Paradigma der Entwicklungsaufgaben speist: Zu den Entwicklungsaufgaben des Jugendalters in dieser Hinsicht zählt der Aufbau intellektueller und sozialer Kompetenzen (Qualifizieren), der Aufbau einer eigenen Geschlechterrolle und Partnerbindung (Binden), die Entwicklung der Fähigkeit zur Nutzung von Geld innerhalb der Warenmärkte (Konsumieren) sowie die Entwicklung einer Werteorientierung und politischer Teilhabe (Partizipation).22 Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel sprechen von der „Statusinkonsistenz“ heutiger Jugendlicher: Bezogen auf das Konsumieren und Partizipieren übernehmen sie früh Verantwortung, können dort die Rolle von Erwachsenen einnehmen, bei der Bindung und Qualifizierung hingegen erst spät.23 Vgl. Beck 2016, S. 207. Vgl. Beck 2016, S. 122. Vgl. Beck 2016, S. 40 f. Keupp 2005, S. 3. Vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 41–43. Der Begriff Jugend bzw. jugendlich wird sowohl in der sozialwissenschaftlichen als auch in der entwicklungspsychologischen ( Jugend-)Forschung vielfältig gebraucht – was nicht zuletzt auch mit den hier skizzierten Verschiebungen zusammenhängt. In meiner Arbeit orientiere ich mich an Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel und verstehe unter Jugendlichen Personen in der pubertären Lebensphase der 12- bis 17-Jährigen und in der nachpubertären Lebensphase der 18- bis 21-Jährigen. Die späte Jugendphase der 22bis maximal 30-Jährigen subsumiere ich hingegen nur noch bedingt unter dem Jugendbegriff. Ich stimme mit dem Autor und der Autorin überein, dass eine eindeutige Abgrenzung vor allem aus entwicklungspsychologischer, aber auch aus sozialwissenschaftlicher Sicht nicht immer vorgenommen werden kann. Vgl. hierzu insg. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 45 f. 22 Vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 40 23 Vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 42 f. 16 17 18 19 20 21
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Die Freundschaft im Kontext jugendlicher Alltags- und Lebenswelten
Ihre Situation heute ist durch „frühe konsumtive und partizipative bei später ökonomischer und familiärer Selbstständigkeit gekennzeichnet“.24 Das traditionelle Konzept der Entwicklungsaufgaben wird damit „ambivalenter, brüchiger, ungewisser“.25 Genealogisch kann von einer Ausdehnung der Lebensphase Jugend bzw. des Jugendalters gesprochen werden. Bezogen auf das subjektive Bewusstsein und die Identität resultiert Individualisierung in neuen Anforderungen, die den Status quo heutiger Subjekte prägen: In der Pluralität ausdifferenzierter Berufs-, Medien- und Freizeitwelten wird das Subjekt zum Gestalter seiner selbst; das Subjekt kann nicht nur aus einer Vielzahl an Identitätsentwürfen, Lebens- und Gemeinschaftsformen auswählen, es muss diese Wahl auch vornehmen: Der individualisierte Mensch ist nicht nur selber ständig in Wahl- und Entscheidungssituationen gestellt, sondern auch immer mit neuen Plänen, Entwürfen und Entscheidungen anderer Menschen konfrontiert, welche seine Biographie mehr oder weniger nachhaltig tangieren.26
Die Normalbiografie wandelt sich zu einer „Wahlbiographie“27, die mit einem Zugewinn an persönlicher Autonomie auf der Handlungsebene verbunden ist, was aber mit einem Mehr an Verantwortung auf der identitären Ebene erkauft wird. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die Individualisierung verstärkt Freiheiten und Anforderung zugleich: Da sie mit gleichzeitigen Institutionalisierungs- und Standardisierungsprozessen einhergeht, werden Prinzipien wie Autonomie oder Selbstverantwortung für die Lebensplanung und die Wahl der Lebensform gesellschaftlich festgeschrieben und damit nicht nur ermöglicht, sondern vom Subjekt gleichermaßen eingefordert.28 Dieses ist „in eine Vielzahl von disparaten Beziehungen, Orientierungen und Einstellungen verstrickt“, wird „mit ungemein heterogenen Situationen, Begegnungen, Gruppierungen, Milieus und Teilkulturen konfrontiert“ und muss „mit mannigfaltigen, nicht aufeinander abgestimmten Deutungsmustern und Handlungsschemata umgehen“.29 Aufgrund dieser Vervielfältigung von Identitätspraktiken wird Identität als „nie abzuschließendes Projekt stetig hergestellt und verändert“.30
24 25 26 27 28 29 30
Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 43 (Hervorh. i. Orig.). Vogelgesang 2014, S. 237. Hitzler und Honer 1994, S. 307. Beck 2016, S. 217. Vgl. Beck 2016, S. 210 f. Hitzler und Honer 1994, S. 308. Vogelgesang 2014, S. 138.
Die Individualisierung der Freundschaft – gesellschaftliche und lebensbiografische Aspekte
2.1.2
Die Bedeutung und die Folgen der Individualisierung
Für Jugendliche resultiert Individualisierung in steigenden Anforderungen an die berufliche Leistungsfähigkeit, persönliche Flexibilität und räumliche Mobilität bei gleichzeitiger Zunahme gefühlter Unsicherheit angesichts der eigenen Zukunft. Dass die Jugendlichen der Shell-Jugendstudie also Fleiß und Ehrgeiz schätzen, zugleich aber im sozialen Nahraum nach Orientierung und Sicherheit suchen,31 zeigt also an, inwieweit die Prägekräfte der objektiven Lebenslage und die subjektbezogenen Konsequenzen der Individualisierung zusammenspielen. Was bedeutet Individualisierung folglich für die Freundschaftsbeziehungen heutiger Jugendlicher und wie spielt die obige Gesellschaftsdiagnose in die Semantik von Freundschaft hinein? Welche Aufgabe kommt der Freundschaft heute zu? Der Umstand, dass „die soziale Geltung in sozialen Beziehungen performativ ermittelt wird“32, ist zunächst als wichtiges Charakteristikum der heutigen Zeit zu identifizieren. Betont sei daher zunächst die Wichtigkeit, die den engen, persönlichen Beziehungen des privaten Lebensbereichs generell zukommt: Solche Beziehungen werden als oberste Fixpunkte der Selbsterkundung und Selbstfindung angesehen und zu den wichtigsten Formen der Selbstverwirklichung gerechnet.33
Kein Zweifel besteht in der empirischen Freundschafts- und Jugendforschung folglich auch darin, dass Peerbeziehungen34 und Freundschaften gerade heute eine wichtige Quelle von Sozialkapital35 darstellen: Sozialisationstheoretisch ergänzen sie die Familie und die Schule als einen wichtigen Sozialisationskontext: Gegenüber der Familie schaffen sie einen Kontext, der nicht in gleicher Weise zugängliche Sozialerfahrungen ermöglicht. Freundschaften dienen so der Entwicklung eines Verständnisses von Wechselseitigkeit, Kooperation und Gleichrangigkeit.36 Auch dienen Freundschaften Vgl. Gensicke 2015, S. 240. Illouz 2019, S. 266. Taylor 2018, S. 54. Unter einem Peer verstehe ich im Sinne von Lothar Krappmann eine als Interaktionspartnerin oder -partner akzeptierte gleichaltrige Person (vgl. Krappmann 2010, S. 200). Verlangt wird, zur Abgrenzung einer oder eines Gleichaltrigen, eine gewisse Soziabilität; die Beziehung ist aber, zur Abgrenzung von einer Freundin oder einem Freund, nicht in gleichem Umfang auf die Person gerichtet und konstituiert sich nicht im selben Maße durch das Moment des Privaten: Gegenüber einer Peerbeziehung erfolgt in Freundschaftsbeziehungen ein Austausch informationeller Privatheit bzw. die Öffnung des privaten Raums. Siehe hierzu ausf. das Kapitel 3.4. 35 Ich greife in meiner Arbeit auf das Konzept der Kapitalsorten von Pierre Bourdieu zurück. Unter dem Sozialkapital wird verstanden „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“ (Bourdieu 1983, S. 190 f.). Soziales, ökonomisches und kulturelles Kapital legen gemeinsam die Position im sozialen Raum fest, die über die gesellschaftliche Stellung einer Person entscheidet. 36 Vgl. Krappmann 2010, S. 192 31 32 33 34
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Die Freundschaft im Kontext jugendlicher Alltags- und Lebenswelten
dazu, sich aus der familiären Einbindung zu lösen.37 Entwicklungspsychologisch können Freundschaften kurzfristig depressive Tendenzen und Effekte ausgleichen und wirken sich langfristig positiv auf das Selbstwertgefühl aus.38 Insbesondere gilt dies für Jugendliche mit ausdifferenzierten Freundschaftsnetzwerken: Sozio-kulturell vielfältige oder gemischtgeschlechtliche Freundschaften stärken beispielsweise die sozialen und emotionalen Kompetenzen der Jugendlichen.39 Die Freundschaft scheint daher, als sich durch Freiwilligkeit konstituierende Beziehung, ideal in eine Gesellschaft zu passen, die von Individualisierungsprozessen gekennzeichnet ist.40 Insofern traditionelle Bindungen sukzessive erodieren, müssen soziale Beziehungen aktiv hergestellt werden. In diesem Sinne wird Freundschaft gerne als Kompensation für den Verlust traditioneller Bindungen und damit als Resultat von Freisetzung interpretiert.41 Da sie variabel auf persönliche Bedürfnisse abgestimmt werden können, stehen sie im Verdacht, partnerschaftliche oder familiäre Beziehungen zu substituieren – bzw. zumindest das durch sie akkumulierte Sozialkapital aufzufangen.42 Der hohe Bedarf an Freundschaft „ergibt sich aus dem wachsenden Bedarf an intermediären Strukturen in funktional differenzierten und von Individualisierungen und Pluralisierungen geprägten Gesellschaften“.43 Vor dieser Folie überrascht die hohe Relevanz enger persönlicher Beziehungen in der Shell-Jugendstudie nicht: Die Freundschaft, aber auch Partnerschaft und Familie gehören bei den Jugendlichen zu den wichtigsten Werten und haben im Laufe der vergangenen Jahrzehnte auch insgesamt eine normative Aufwertung erfahren.44 Ergeben sich durch Individualisierung aufgrund des Freiheitsmoments also verstärkt emotional-vertrauensvolle (Freundschafts-)Beziehungen? Hierzu schreibt Axel Honneth: Je stärker die jeweiligen Bindungen von äußeren Zwängen und sozialen Aufgabenstellungen entlastet werden, je deutlicher sie sich also auf die Affektlagen ihrer Träger zu konzentrieren beginnen, je größer wird in ihnen der Spielraum für die individuelle Artikulation von subjektiv empfundenen Gefühlszuständen.45
Der Autor argumentiert, dass erst mit der zunehmenden Individualisierung die Möglichkeit gegeben sei, private, interessenslose – und damit vertrauensvolle und verbindliche – Freundschaften zu praktizieren.46
37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
Vgl. Alleweldt 2016, S. 113. Salisch u. a. 2002, S. 136 f. Vgl. Brendgen u. a. 2002, S. 129. Vgl. Nötzoldt-Linden 1994, S. 9 f. sowie Alleweldt 2016, S. 107 f. Vgl. Flick und Schobin 2016, S. 144–149 sowie Nötzoldt-Linden 1994, S. 9–14. Vgl. Flick und Schobin 2016, S. 144. Bude 2017, S. 7. Vgl. Gensicke 2015, S. 238–241. Honneth 2011, S. 236. Vgl. Honneth 2011, S. 245–247.
Die Individualisierung der Freundschaft – gesellschaftliche und lebensbiografische Aspekte
Gleichsam verbreitet ist in der Sozialwissenschaft die Annahme, dass sich Individualisierung ins Gegenteil verkehrt, zu einer Abnahme von Verbindlichkeit und wechselseitiger Bezugnahme innerhalb von Freundschaftsbeziehungen führt – worauf nicht zuletzt Axel Honneth selbst hinweist.47 Im Raum steht die Vermutung, dass sich mit zunehmender Individualisierung eher ‚locker‘ angelegte Freundschaft und Cliquenstrukturen herausbilden.48 So gehen Wilfried Ferchhoff und Kai-Uwe Hugger von einer sich ausweitenden, zugleich aber eher flexibel und unverbindlich orientierten Gemeinschaftsbildung heutiger Jugendlicher aus. Die Autoren sprechen von einer „fluiden kollektiven Existenz“.49 Die Entwicklung geht von einer lebensumspannenden, multifunktionalen und quasi totalen Bindungsbereitschaft zu einem eher lockeren Gefüge von flexiblen, teilweise ästhetisierenden Netzwerken, zu einer partiellen, partikularen, begrenzten, eher lebensstil- und erlebnisorientierten, eher labilen, nicht immer sach- und zweckgebundenen Bindung auf Zeit mit wenig formalisierten Verbindlichkeiten, Gewissheiten und Kontakten.50
Das kontinuierliche Verändern von persönlichen Motiven, individuellen Stimmungen und Habitusformen führt so zu ebenfalls wechselnden Gefühlen der Verbundenheit, Zugehörigkeit und der kollektiven Orientierung.51 Der Gedanke, dass sich Freundschaft mit gesellschaftlicher Ausdifferenzierung in die Richtung themenbezogener, aber auch weniger verbindlicher und dauerhafter Beziehungen verschiebt, findet sich bereits in der Soziologie von Georg Simmel. Bereits im Jahr 1908 legt er eine Ausarbeitung eines modernen Freundschaftskonzepts vor.52 Er überführt mit seinem Konzept differenzierter Freundschaftsbeziehungen das aristotelische Ideal von „vollkommener Freundschaft“,53 die auf der „ganzen Breite der Persönlichkeit“54 aufbaut und von ganzheitlicher Vertrautheit gekennzeichnet ist, in die moderne Gesellschaft: Es scheint, daß […] die moderne Gefühlsweise sich mehr zu differenzierten Freundschaften neigte, d. h. zu solchen, die ihr Gebiet nur an je einer Seite der Persönlichkeiten haben und in die die übrigen nicht hineinspielen.55
47 48 49 50 51 52 53 54 55
Vgl. Honneth 2011, S. 251. Vgl. zum Beispiel Wetzstein u. a. 2005, S. 186. Ferchhoff und Hugger 2014, S. 256. Ferchhoff und Hugger 2014, S. 255 (Hervorh. i. Orig.). Vgl. Hitzler und Honer 1994, S. 310 f. Vgl. Simmel 1999, S. 160–170. Aristoteles 1999, S. 33. Simmel 1999, S. 162. Vgl. zum aristotelischen Idealverständnis Aristoteles 1999 im selben Band. Simmel 1999, S. 163.
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Die Freundschaft im Kontext jugendlicher Alltags- und Lebenswelten
In diesem Sinne wäre Freundschaft zunehmend auf situative Kontexte und Themen angepasste, flexible und wandlungsfähige Beziehungen, die sich zugleich aber weniger verbindlich, eng oder dauerhaft vollzögen. Der Status quo der Freundschaft scheint in individualisierten Alltagswelten also wenig eindeutig. Die Annahmen bezüglich einer Veränderung von Freundschaftsbeziehungen können zudem ambivalent interpretiert werden: Zusammengefasst steht Individualisierung einerseits im Verdacht, die Relevanz von Freundschaftsbeziehungen gewissermaßen zu potenzieren, da die Sozialform perfekt zu heutigen Lebensformen und Wahlbiografien passt und sich sinnvoll in die gegenwärtigen Alltagswelten integrieren lässt. Auf der anderen Seite steht die Vermutung einer Ausdifferenzierung der Freundschaft, die parallel vor allem mit den immer weiter voranschreitenden Prozessen der Individuation vorangetrieben wird und zum Beispiel in weniger verbindlichen Beziehungen resultiert. 2.2
Die Mediatisierung der Freundschaft – kommunikationsund medienwissenschaftliche Aspekte
Mit der Mediatisierung von Kultur, Gesellschaft und sozialen Beziehungen ist eine zweite Entwicklung aufgerufen, die nicht nur die gesellschaftlichen Debatten unserer Zeit wesentlich strukturiert, sondern gleichermaßen die sozial- und medienwissenschaftliche Freundschafts- und Jugendforschung ebenso beschäftigt, wie die ethische Werteforschung. 2.2.1
Der Begriff und der Gegenstand der Mediatisierung
Mediatisierung wird im Sinne von Friedrich Krotz als sozialer und kultureller Wandel verstanden. Dieser kommt dadurch zustande, dass Kommunikationsmedien in Kultur und Gesellschaft, in Handeln und Kommunizieren der Menschen eingebettet [werden], die Kommunikationsumgebungen der Menschen immer ausdifferenzierter und komplexer [werden], und sich umgekehrt Handeln und Kommunizieren sowie die gesellschaftlichen Institutionen, Kultur und Gesellschaft in einem immer weiter reichenden Ausmaß auf Medien [beziehen].56
Das Grundaxiom des Mediatisierungsansatzes besteht also darin, dass sich mit dem Aufkommen und der Integration von Medien in das Alltagshandeln ein kommunikativer Wandel vollzieht: Da sich mit Kommunikation die anthropologische Konstante
56
Krotz 2007, S. 40.
Die Mediatisierung der Freundschaft – kommunikations- und medienwissenschaftliche Aspekte
und Konstituente sozialen Handelns und der Vergemeinschaftung der Menschen verändert, führt dies zu einer Veränderung von Alltagserfahrungen, des ästhetischen Erlebens, von kulturellen Praktiken und sozialen Beziehungen. Vom Begriff der Mediatisierung zu trennen sind die Begriffe der Digitalisierung sowie der Digitalität, die in dieser Arbeit ebenfalls Verwendung finden. Digitalisierung verstehe ich im ursprünglichen Sinne als das Aufkommen und die Verbreitung von (neuen) Formen der Datenherstellung, -verarbeitung und -speicherung. Der Begriff wird damit informationstechnisch gebraucht und hängt ursächlich mit Mediatisierung zusammen. Die sozialen und kulturellen Folgen dieser Prozesse der Digitalisierung werden demgegenüber mit dem Begriff der Digitalität erfasst. Digitalität manifestiert sich in Form komplexer Dispositive57 und verändert bestehende Kommunikationsformen, Alltagsroutinen, soziale Rollen und Identitätsmodelle. Analytisch betrachtet folgen Mediatisierung und Digitalität damit ähnlichen Axiomen und erfassen als Theoreme dieselben Sachverhalte. So ermöglichen sie grundsätzlich die Beschreibung ähnlicher Entwicklungen. Während der geistes- und kulturwissenschaftliche Begriff der Digitalität allerdings sprachlich einen Zustand beschreibt – und in der wissenschaftlichen Literatur auch häufig als neue (geschichtliche) Epoche betrachtet wird58 –, ist für den Mediatisierungsbegriff die Prozesssicht charakteristisch.59 Da das Konzept von Mediatisierung zudem sozialwissenschaftlichen Ursprungs ist, wird in dieser Arbeit vorrangig auf den Mediatisierungsbegriff zurückgegriffen. Wichtig ist, dass der Begriff der Digitalität hierdurch nicht obsolet wird. Mediatisierung ist enger gefasst als Digitalität, da er spezifisch den „Wandel von Alltag, Kultur und Gesellschaft im Kontext des Wandels der Medien“60 untersucht. Nicht alle durch Digitalisierung hervorgebrachten Entwicklungen, welche im Sinne dieser Arbeit freundschaftsrelevant sein können, beziehen sich zugleich auf Medien und die Kommunikation mittels digitaler Medienangebote. So gehört beispielsweise zu den Effekten der Digitalisierung eine technische Beschleunigung, welche wiederum eine soziale Beschleunigung nach sich zieht: Diese umfasst im Sinne von Hartmut Rosa die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Zunahme der Kontingen-
57 Dispositive werden im Sinne von Michel Foucault verstanden als „heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“ (Foucault 1978, S. 119 f.) Was das Aufkommen komplexer Dispositive im Kontext von Digitalität für das das Thema Freundschaft bedeutet, wird auf den folgenden Seiten deutlich gemacht. 58 Vgl. zum Beispiel Stalder 2016. 59 Siehe Krotz 2017. In der Mediatisierungsforschung wird dementsprechend auch von Mediatisierungsschüben gesprochen. Gemeint sind damit konkrete empirische Entwicklungen (wie zum Beispiel das Aufkommen des Smartphones), die den bestehenden Prozess weiter vorantreiben. 60 Krotz 2017, S. 14.
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Die Freundschaft im Kontext jugendlicher Alltags- und Lebenswelten
zen sowie die Beschleunigung des gefühlten Lebenstempos.61 Letztere manifestiert sich objektiv in einer Steigerung von Handlungsgeschwindigkeiten und subjektiv in einem veränderten Zeiterfahren, was zu einem anderen Gefühl des „In-der-WeltSeins“ führt.62 Die Triebkräfte von Beschleunigung sind für Hartmut Rosa ökonomischer, kultureller und sozialstruktureller Natur und jeweils von Digitalisierungs- und Globalisierungsprozessen determiniert.63 Die Folgen der Beschleunigung für soziale Beziehungen, zum Beispiel die Abnahme von Erwartungsstabilität oder normativen Verbindlichkeiten,64 werden dementsprechend mit dem Begriff der Digitalität (mit) abgedeckt. Mit dem Mediatisierungsbegriff allein ließen sie sich nicht sinnvoll erfassen. Angelehnt an Manuel Castells werden alle genannten Arbeitsbegriffe soziotechnisch verstanden.65 Überdies ist ein soziotechnisches Grundverständnis für die Arbeit strukturgebend: In Abgrenzung zum technischen als auch zum sozialen Determinismus entfalten technische Artefakte ihre Wirkung ganz allgemein im Zusammenwirken mit dem (sozialen) Handeln des menschlichen Subjekts.66 Veränderungen werden durch die Technik und das Soziale, also soziotechnisch, in Gang gebracht. Für digitale Medien wie das Smartphone oder Plattformen wie Facebook bedeutet dies, dass sie „weder als vom sozialen Wandel isolierte, aber treibende Kräfte verstanden, noch […] als marginalisierte Technologien, die nur als Nebenprodukt eines anderweitig determinierten sozialen und kulturellen Wandels in Erscheinung treten, aufgefasst werden.“67 Mit Blick auf die Alltags- und Lebenswelt Jugendlicher lässt sich dieser Wandel in zweierlei Hinsicht fassen und beschreiben. Der erste Aspekt spielt sich eher auf der Ebene des Subjekts und der Identität ab, während der zweite Aspekt eher den sozialen Bereich betrifft: Auf der Ebene der Identität eignen sich Jugendliche technische Endgeräte (wie das Smartphone) oder digitale (Kommunikations-)Medien wie Facebook oder Instagram an, integrieren diese in ihren Alltag und machen sie zum Gegenstand ihres sozialen Handelns im Freundeskreis. Als Dispositiv verbinden diese digitalen Kulturtechniken soziokulturelles Wissen und soziokulturelle Praktiken in einem Artefaktgebrauch miteinander, während sie der Aneignung der Welt dienen. Die Technologie entfaltet, als Akteur68 betrachtet, unmittelbaren Aufforderungscharakter und schreibt sich implizit in das Denken und Handeln der Subjekte und in die Formulierung persönlicher Zie-
Vgl. Rosa 2012, S. 176–240. Rosa 2012, S. 15. Vgl. Rosa 2012, S. 256–310. Vgl. Rosa 2012, S. 352 f. Vgl. Castells 2017, S. 80. Zum Gebrauch der Begriffe der Digitalisierung und Digitalität in dieser Weise siehe auch Stalder 2016, S. 95–202. 66 Vgl. Latour 2006, S. 485. 67 Piegsa und Trost 2018, S. 12. 68 Vgl. Latour 2006, S. 485. 61 62 63 64 65
Die Mediatisierung der Freundschaft – kommunikations- und medienwissenschaftliche Aspekte
le ein.69 So kann das Dispositiv Smartphone die Bedingungen von Kommunikation derart verändern, dass sich im Zuge von Habitualisierung und Internalisierung neue Freundschaftssemantiken herausbilden: Hierzu können die interpersonelle Erwartung ständiger Erreichbarkeit,70 der systemische Zwang von Konnektivität und Vernetzung71 oder die Notwendigkeit eines immanenten sozialen Vergleichens gehören.72 Digitale Medienangebote wie Facebook oder Instagram verändern also nicht nur die Freundschaftskommunikation und das Freundschaftshandeln: Mit ihren dispositiven Merkmalen – charakteristische Rezeptionsformen, immanente Logiken, transportierte Handlungsaufforderungen usw. – können sie in den selbstverständlichen Bereich hineinwirken und Jugendlichen unbewusst relevante Konstruktions- und Sinnangebote für medial geprägte Lebenswelt und Weltsicht vermitteln. So gesehen führt die Digitalität der Alltagswelt zu einem veränderten ‚Welterfahren‘, welches sich unbewusst und intuitiv vollzieht, von den Subjekten nur bedingt reflektiert und gesteuert werden kann.73 Auf der sozialen Ebene gilt es zu konstatieren, dass sich heutige Alltags- und Lebenswelten Jugendlicher ganz wesentlich mittels technischer Artefakte und digitaler Medien konstituieren. Sie sind als „mediatisierte Welten“74 zu verstehen, die ohne Einbezug dieser Angebote – in der Freizeit wie in der Schule oder im Beruf – nicht mehr denkbar sind. So bemerkte danah boyd bereits im Jahr 2010 mit Blick auf social media: For most teens, social media do not constitute an alternative or virtual world. They are simply another method to connect with their friends and peers in a way that feels seamless with their everyday lives. […] When teens are involved in friendship-driven practices, online and offline are not separate worlds – they are simply different settings in which to gather with friends and peers. Conversations may begin in one environment, but they move seamlessly across media so long as the people remain the same. Social media mirror, magnify and extend everyday social worlds.75
Mit dem bestehenden Komplementaritätsverhältnis werden dichotomische Begriffspaare wie virtuell vs. real oder online vs. offline analytisch obsolet. Nicht nur ist ihnen eine empirisch nicht mehr haltbare Semantik eines Entweder-oder inhärent; sie sind auch in anderer Weise problematisch: So suggeriert der Begriff des Virtuellen eine zweite, abstrahierte Wirklichkeit, die bezogen auf Freundschaft eine Beziehung ‚auf einer zweiten Ebene‘, eine virtuelle Freundschaft, ermöglicht und gegenüber der realen, also quasi der tatsächlichen Freundschaft abzugrenzen wäre. In diesem Sinne würden 69 70 71 72 73 74 75
Vgl. Stalder 2016, S. 167. Vgl. Trost 2013, S. 156–158. Vgl. Miller 2008. Vgl. Adelmann 2011, S. 136–142. Siehe exemplarisch Han 2013. Hepp und Krotz 2012, S. 7–9. boyd 2010, S. 84.
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Die Freundschaft im Kontext jugendlicher Alltags- und Lebenswelten
zwei Beziehungen von unterschiedlicher Qualität existieren, wobei eine als authentische, echte Beziehung und die andere als defizitäres Abbild derselben konnotiert. Hinter dieser Sichtweise steckt damit die anthropologische Idee, dass Anerkennung erst durch ein physisches Subjekt im nicht medial vermittelten Umgang erfahren werden könne.76 Für das intuitiv erfahrende und subjektiv deutende Individuum, d. h. für den Jugendlichen, der einen gewissen Nutzen durch Freundschaft erfährt, stellt sich diese ontologische Frage jedoch nicht – das Subjekt erfährt die Lebenswelt, phänomenologisch betrachtet, als ein zusammenhängendes Gebilde. Welcher Arbeitsbegriff bietet sich daher an, um die (Freundschafts-)Erfahrungen, die Jugendliche in heutigen Alltags- und Lebenswelten machen, begrifflich zu fassen? Auch Konzepte wie mediale Räume oder mediale Architekturen sind, obschon in der Sozialwissenschaft geläufig, ungeeignet, da sie nicht unmittelbar die Durchdringung der Alltags- und Lebenswelt mit Technik und Medien adressieren.77 Geleistet werden soll dies mit dem Konzept mediatisierter Sozialräume. Damit nimmt die Arbeit im Sinne von Fabian Kessl und Christian Reutlinger eine Sozialraumperspektive78 ein: […] Das Interesse einer Sozialraumperspektive [gilt] den von den Menschen konstituierten Räumen der Beziehungen, der Interaktionen und der sozialen Verhältnisse. Auf eben diese sozialen Zusammenhänge weist das Präfix ‚sozial‘ hin. Mit Sozialraum werden somit der gesellschaftliche Raum und der menschliche Handlungsraum bezeichnet, das heißt der von den handelnden Akteuren (Subjekten) konstituierte Raum und nicht nur der verdinglichte Ort (Objekte). Ein solches Raumverständnis schließt an jüngere sozialgeografische, soziologische und erziehungswissenschaftliche wie sozialpädagogische Diskussionen an.79
Die Kategorie Raum wird folglich aus einer sozialwissenschaftlichen Sicht als eine sozial und kulturell konstruierte Größe verstanden.80 Zugrunde gelegt wird ein relativistisches Raumverständnis,81 womit „Raum aus der Anordnung der Körper abgeleitet [wird]“82 und sich als „relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern“83 konkretisiert. Raum und Handeln werden damit nicht als voneinander losgelöste Grö-
Vgl. Hugger 2010, S. 83 f. Vgl. Unger 2010, S. 100 f. Vgl. Kessl und Reutlinger 2010, S. 21–30. Kessl und Reutlinger 2010, S. 25 (Hervorh. i. Orig.). Vgl. hierzu Löw 2015, 130–151, hier: S. 138; grundlegend siehe auch Lefèbvre 1991, insb. S. 69–168. Einen prägnanten, genealogisch orientierten Überblick über absolutistische und relativistische Raumvorstellungen in der Soziologie liefert Martina Löw. Vgl. Löw 2015, S. 24–35. Zur Kritik am absolutistischen Verständnis siehe Löw 2015, S. 63–68 oder Läpple 1991, S. 188–194, der diesbezüglich vom „Behälter-RaumKonzept“ (S. 190) spricht. 82 Löw 2015, S. 18. 83 Löw 2015, S. 154 (Hervorh. i. Orig.). 76 77 78 79 80 81
Die Mediatisierung der Freundschaft – kommunikations- und medienwissenschaftliche Aspekte
ßen verstanden. Der Raum konstituiert sich abhängig von den sozialen und materiellen Verhältnissen unter Mitwirkung und Beteiligung des Individuums.84 Die Perspektive dieser Arbeit besteht darin, dass die Konstitution des Raums soziales Handeln impliziert und zugleich das Produkt dieser Handlungsprozesse ist. Ex negativo wird damit zum Beispiel nicht davon ausgegangen, es gäbe einen konstituierenden physikalischen Raum, in dem sich Handeln abspielt und der abseits eines Raums der Semantik oder des Sozialen gedacht werden kann. Der physisch-territoriale Raum bzw. die Topografie stellt eine Dimension des Sozialraums dar.85 Die Verwendung des Raumbegriffs nimmt Bezug auf das Desiderat der empirischen Medien- und Sozialforschung, Medien nicht mehr nur mit ihren Inhalten, Geräten, Strukturen zu untersuchen, sondern vielmehr als Räume, in denen Interaktionen und soziales Handeln erfolgen, zu betrachten.86 Unter mediatisierten Sozialräumen werden im Sinne von Wolfgang Reißmann nun „Kopplungen von Medien(kommunikation) und Sozialraum“87 verstanden, die sich hinsichtlich medial repräsentierter Räume, medial simulierter Räume und translokaler Kommunikationsräume differenzieren lassen.88 In diesem Sinne artikuliert sich die Alltags- und Lebenswelt Jugendlicher auf verschiedene Art und Weise als ein mediatisierter Sozialraum. Zum Beispiel – greift das Artefakt Facebook als medial repräsentierter Raum die Strukturen, Rollen und Identitäten der physischen, genuin nicht-medialen Sozialräume Jugendlicher auf, bildet diese ab, repräsentiert sie mittels seiner spezifischen Medialität. – Medial simulierte Räume in digital games ermöglichen es Jugendlichen, sich in einem medial konstruierten, weitgehend abgeschlossenen Kosmos zu bewegen und (freundschaftlich) mit anderen zu handeln, indem zum Beispiel gemeinsame spielerische Ziele verfolgt werden. – Die Freundschaftskommunikation im Rahmen von Instant-Messaging-Diensten wie Skype wiederum schafft einen translokalen Kommunikationsraum, welchen die Jugendlichen in zwei unterschiedlichen, räumlichen und situativen Kontexten als dritten, medienvermittelten Raum herstellen.89 Zentral ist also das Verständnis, dass die so konstruierten Räume an existierende Sozialräume anschließen, diese ergänzen, erweitern oder integrieren: So reproduzieren
Vgl. Löw 2015, S. 130 f. Auf der konkreten Textebene können physisch-territoriale Räume weiterhin als eigenständige Textgrößen existieren (vgl. das Textverständnis dieser Arbeit in Kapitel 4.2). Wenn insofern an späterer Stelle von einem topografischen Raum in einem textanalytischen Sinne gesprochen wird, so bitte ich dies nicht im Sinne eines absolutistischen Raumverständnisses zu missverstehen. 86 Vgl. zu diesem Desiderat zum Beispiel Brüggen und Wagner 2017, S. 212 oder Ketter 2014, S. 209 f. 87 Reißmann 2013, S. 91. 88 Vgl. Reißmann 2013, S. 92. 89 Vgl. Reißmann 2013, S. 91 f. 84 85
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Die Freundschaft im Kontext jugendlicher Alltags- und Lebenswelten
Jugendliche die freundschaftliche Handlungspraxis auf social media oder führen auf Skype die Themen aus der Schule fort. In digital games schließen sie Freundschaften, die wiederum in das persönliche Nahfeld überführt werden können. Der Begriff mediatisierter Sozialräume macht also zentral auf die bestehende Komplementarität aufmerksam; er ist in der Lage, die Erfahrungen Jugendlicher innerhalb eines wechselseitigen Strukturverhältnisses zu beschreiben und damit auch aus einer soziotechnischen Grundhaltung heraus zu untersuchen.90 Soziale Netzwerke91 wie Facebook sind insofern nicht als eigene Sozialräume zu betrachten; sie konstituieren keinen „eigenständigen geschlossenen Sinnbereich“.92 Sie sind vielmehr Teil eines breiter angelegten mediatisierten Sozialraums und prägen dort die verfügbaren Handlungsmöglichkeiten der Jugendlichen. 2.2.2
Die Bedeutung und die Folgen der Mediatisierung
Nachdem die erforderlichen begrifflichen Bestimmungen und theoretischen Einordnungen vorgenommen wurden, soll nun der Frage nachgegangen werden, was die Mediatisierung von Sozialräumen für die Freundschaftsbeziehungen Jugendlicher bedeutet. Lassen sich analog zur Entwicklungslinie der Individualisierung bereits erste Vermutungen hinsichtlich der Semantik und den Werten heutiger Freundschaften ableiten? Schließlich ist man sich in der empirischen Medien- und Sozialforschung einig, dass die Aneignung und das Handeln innerhalb mediatisierter Sozialräume mit übergreifenden Funktions- und Strukturzusammenhängen einhergehen und einen „prägenden Einfluss auf die Sozialisationsbedingungen der Subjekte“ mit sich bringen.93 Weitgehender Konsens besteht darin, dass sich Mediatisierung positiv auf die Akkumulation von sozialem und symbolischem Kapital auswirkt. Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass die Ausdehnung der Kommunikation sowie die Zunahme der für die Interaktion mit dem sozialen Netzwerk investierten Zeit die Vernetzung und damit die Sozialität und die soziale Einbettung verbessert. Insbesondere mobile Endgeräte 90 Ich möchte kurz anmerken, dass in den Sozialwissenschaften durchaus eine Reihe weiterer Ansätze existieren, die einen ähnlichen Weg gehen: Verena Ketter schlägt zum Beispiel den Begriff des „viralen Sozialraums“ vor (vgl. Ketter 2014, S. 299–301), um die „Trennung zwischen virtuellem und realem Handeln aufzuheben“ (S. 301). Meines Erachtens ist diese Wortschöpfung nicht notwendig, da es genügt, heutige Sozialräume so zu verstehen, dass sie, wie oben skizziert, über mediatisierte Bezüge und Bestandteile verfügen. Überdies ist der Begriff ‚virtuell‘ – dies habe ich angedeutet – überstrapaziert und in vielen Fällen schlicht ungeeignet, um die – durchaus realen! – Praktiken der Subjekte in mediatisierten Sozialräumen zu beschreiben. 91 Mit dem feststehenden Begriff Soziales Netzwerk meine ich in dieser Arbeit Online-Plattformen wie Facebook oder YouTube, die dem Beziehungsaufbau und dem sozialen Austausch dienen. Beim soziologischen Begriff soziales Netzwerk ist hingegen das soziale Beziehungsgeflecht eines Menschen gemeint. 92 Unger 2010, S. 106. 93 Vgl. Brüggen und Wagner 2017, S. 225 f.
Die Mediatisierung der Freundschaft – kommunikations- und medienwissenschaftliche Aspekte
und Soziale Netzwerke stehen dabei im Fokus; sie ermöglichen es zum Beispiel, den Kontakt zu den Freunden in unterschiedlichen Kontexten örtlich und zeitlich flexibel zu pflegen. Bereits im Jahr 2007 konnten Nicole B. Ellison Charles Steinfield und Cliff Lampe zeigen, dass Soziale Netzwerke vor allem das ‚brückenschlagende‘ Sozialkapital94 stärken: Eine wichtige Gratifikation von Facebook besteht darin, eher schwächere und räumlich entfernte Freundschaftsbeziehungen aufrechterhalten zu können.95 Jugendlichen ermöglichen digitale Medien, „eigenständig und unabhängig von der Familie soziale Beziehungen aufzubauen und zu pflegen.“96 Wie Niels Brüggen und Ulrike Wagner zeigen, können die Angebote sowohl zur Eingrenzung, zur Ergänzung als auch zur Ausweitung des Kontakt- und Freundeskreises eingesetzt werden. Die jeweilige Strategie ist individuell verschieden: So nehmen einige Jugendliche Ergänzungen vor, zum Beispiel um ernste, belastende Themen in einem anonymisierten Kontext zu besprechen, während andere Eingrenzungen realisieren, zum Beispiel um bestehende thematische Interessen weiterzuentwickeln.97 Deutlich wird nicht nur die Vielfalt mediatisierter Handlungsspielräume, sondern vor allem, dass die Medienangebote von den Jugendlichen vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Identitätsthemen funktionalisiert werden. Als sozialkapitalrelevant ist auch die kontinuierliche medienvermittelte Kommunikation innerhalb der Freundeskreise Jugendlicher zu interpretieren. So entspricht zum Beispiel der tägliche Austausch von kurzen Nachrichten über Instant-MessengerDienste wie WhatsApp der Bestätigung von Verbundenheit. Martin Voigt spricht mit Blick auf seine empirische Untersuchung des Freundschaftshandelns von Mädchen im Social Web von einer „Überbetonung von Freundschaft“.98 Wie der Autor im Zuge seiner soziolinguistischen Analyse zeigt, sind diese Praktiken als ständige Versicherung von Freundschaft und Zugehörigkeit zu verstehen.99 Die Ursachen sind für den Autor allerdings nicht in der Medialität begründet: „Unter der medialen Übertriebenheit verbirgt sich jedoch ein reales Fundament emotionaler Prozesse, die in der Lebenswelt der Schulmädchen begründet liegen“.100 Soziale Netzwerke wirken als „Auslöser und Verstärker sozialer Aushandlungsprozesse“ und fungieren zudem als „Indikator für die Im Sinne von Robert D. Putnam lässt sich zwischen bindendem (bonding) und brückenschlagendem (bridging) Sozialkapital (social capital) unterscheiden. Beim bonding social capital entsteht ein emotionaler Wert durch die Privatheit und Vertrautheit enger Freundschaftsbeziehungen (strong ties); beim bridging social capital entsteht ein informationeller Wert durch die Heterogenität eher lockerer Freundschaftsbeziehungen (weak ties). Ausschließlich enge Beziehungen führen zu einer ‚sozialen Schließung‘ des sozialen Netzwerks; schwache Beziehungen bauen ‚Brücken‘ zu anderen Personengruppen auf. Vgl. einführend Putnam 2000, ausf. siehe Claridge 2018. 95 Vgl. Ellison u. a. 2007. 96 Brüggen und Wagner 2017, S. 221. 97 Vgl. Brüggen und Wagner 2017, S. 221 f. 98 Voigt 2015, S. 424. 99 Vgl. Voigt 2015, S. 424. 100 Voigt 2015, S. 424. 94
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Die Freundschaft im Kontext jugendlicher Alltags- und Lebenswelten
psychosoziale Konstitution der in ihnen gespiegelten Generation“.101 Praktiken wie die intime Gefühlskommunikation auf Facebook, inszenierte Verlustängste, gegenseitige Huldigungen oder das tägliche Bestätigen von Freundschaft im Social Web entsprächen aus diesem Blickwinkel einer Suche nach Verbindlichkeit, Rückhalt und sozialer Stabilität, wobei diese Bedarfe als Resultat jener Verunsicherungen, wie sie bereits im Lichte der Individualisierung herausgearbeitet wurden, zu verstehen seien. Im Sinne von Sherry Turkle potenzieren mediatisierte Sozialräume so gesehen die dem Subjekt inhärente Exklusionsangst: Dieses schützt sich durch den Aufbau eines engen Beziehungsgeflechts, durch die Emotionalität in der Kommunikation und die expressive Inszenierung des Selbst.102 Von kulturkritischer Seite werden diese medialen Praktiken Jugendlicher daher auch gerne mit einem qualitativen Bedeutungswandel der Freundschaft in Verbindung gebracht: So spricht etwa Vincent Miller von der „phatischen Kultur“ der informationell orientierten, oberflächlich-medialen Vernetzung.103 Diese zielt, da sie kurzlebig, inhaltlich trivial und wenig bedeutungsvoll ist, auf bloße Zusammengehörigkeit und die Einbettung in ein möglichst umfangreiches soziales Netzwerk an Kontakten ab.104 Dabei ist die Quantität der Verbindungen, nicht die Qualität der Beziehungen das entscheidende Kriterium. Enge und auf Vertrauen gegründete Freundschaftsbeziehungen weichen kurzlebigen und unverbindlichen Kontakten. Die empirische Forschung scheint einer solchen Entwicklung zumindest in Teilen zu widersprechen: So ist der Wunsch nach vielen Kontakten bei den Jugendlichen eher rückläufig; es überwiegt die Betonung enger sozialer Bindungen: So sank zum Beispiel in der Shell-Jugendstudie der Wunsch, „viele Kontakte zu anderen Menschen zu haben“, von 64 Prozent in 2010 auf 53 Prozent in 2015.105 Interessant ist, dass die Autorinnen und Autoren der Studie diese Entwicklung u. a. auf die Potenziale digitaler Medien zurückführen, soziale Beziehungen jederzeit und omnipräsent pflegen zu können. Die Ergebnisse seien auch „Ausdruck eines gewissen Überdrusses“.106 Die Jugendlichen nehmen zudem eine wichtige Trennung zwischen losen Bekanntschaften und engen Freundschaften vor, problematisieren den Freundschaftsbegriff auf Facebook und assoziieren die dortigen Kontakte nicht mit Freundschaft.107 Eine Entwertung der Freundschaft wird auch mit der soziotechnischen Strukturiertheit sozialer Medien in einen Zusammenhang gebracht: Identitätsdarstellung im Alltag ist stets mit einem Inszenierungsaspekt verbunden,108 welcher aber, so kann man es pointieren, auf Instagram, YouTube, TikTok usw. in einer neuen Intensität und Dra101 102 103 104 105 106 107 108
Voigt 2015, S. 424. Vgl. Turkle 2012. Vgl. Miller 2008, S. 393 f. Vgl. Miller 2008, S. 387 f. Vgl. Gensicke 2015, S. 240 f. Gensicke 2015, S. 241. Vgl. Leven und Utzmann 2015, S. 302–309. Vgl. Goffman 2011, insb. S. 19–34.
Die Mediatisierung der Freundschaft – kommunikations- und medienwissenschaftliche Aspekte
maturgie kulminiert: Jene Dispositive vermitteln in ihren Erlebensökonomien attraktive und positive Lebensgefühle dadurch, dass die Nutzer ihr Selbst mit dem Merkmal der Authentizität versehen, um dieses effektiv und aufmerksamkeitswirksam zu inszenieren. Immer das eigene Selbst im Blick, an dem beständig gearbeitet wird, versucht der postmoderne Ego-Performer adäquate, erfolgsversprechende Selbstkonzepte zu entwickeln und zur Darstellung zu bringen.109
Zu einer gern formulierten Annahme zählt daher, dass jene Selbstinszenierungsformen in Richtung enger persönlicher Beziehungen wie der Freundschaft rückwirken, welche zunehmend nicht mehr als enge Beziehungen auf der Grundlage von wechselseitiger Vertrautheit, sondern als weak ties auf der Grundlage nutzenorientierter Gründe geschlossen werden.110 Wilfried Ferchhoff und Kai-Uwe Hugger gehen mit Blick auf die Mediatisierung von Sozialräumen von zunehmenden interessens- und themenzentrierten Freundschaftsstrukturen Jugendlicher aus.111 Die Beziehungen werden dementsprechend auf der Grundlage gemeinsamer Freizeitthemen geknüpft und vollzogen. Die Freiwilligkeit des Zusammenfindens und -bleibens hat eine stärkere Offenheit, Netzwerkorientierung sowie eine geringere Stabilität zur Folge.112 Die Autoren sprechen außerdem von einer Delokalisierung von Freundschaft. Über die Ausdifferenzierung der kommunikativen Praktiken und die Verdichtung von Raum- und Zeitstrukturen in mediatisierten Sozialräumen würden überregionale, entterritorialisierte Freundschaftsstrukturen geschaffen.113 Relevant für die Freundschaftsbildung seien im Zuge von Mediatisierung weniger soziodemografische Attribute wie das Alter oder das Geschlecht, sondern vielmehr gemeinsam in der Alltags- und Lebenswelt als wichtig erachtete Identitätsthemen. Was gilt es nun abschließend für das Forschungskonzept und den empirischen Forschungszugang dieser Arbeit festzuhalten? Zu Beginn dieses Kapitels wurde die Frage gestellt, welche Bedingungen die gegenwärtige Gesellschaft für Jugendliche bereithält, wie diese Bedingungen soziale Beziehungen formen und was dies für die Freundschaftssemantiken bedeutet. Deutlich wurde, dass sowohl bei der Individualisierung als auch bei der Mediatisierung von differenzierten Wirkungen und Folgen auszugehen ist. Dabei stehen sich Annahmen der Erosion der Freundschaft und der tradierten Sinngehalte einerseits und der Zunahme der Relevanz für das Subjekt und dessen Identitätsarbeit andererseits gegenüber. Hingewiesen wurde auf die hohe Subjektivität der Beziehungen: Zunehmend relevant für die Konstitution von Sinn inner-
109 110 111 112 113
Heinzlmaier 2013, S. 60. Vgl. in diese Richtung zum Beispiel Heinzlmaier 2013, S. 64–68 oder Adelmann 2011, S. 130 f. Vgl. Ferchhoff und Hugger 2014, S. 255 f. Vgl. Ferchhoff und Hugger 2014, S. 255 f. Vgl. Ferchhoff und Hugger 2014, S. 257–259.
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Die Freundschaft im Kontext jugendlicher Alltags- und Lebenswelten
halb der Freundschaft scheinen individuelle Lebenslagen, persönliche Lebenssituationen und die sich situativ vollziehenden Identitätsthemen zu sein. Das Verstehen des Individuums wird zum entscheidenden Kriterium für das Verstehen der persönlichen Beziehung. Um die Freundschaftssemantiken sichtbar zu machen, um zu rekonstruieren, welche Funktionen die Beziehungen im Alltag der Jugendlichen übernehmen und welche Bedeutung ihnen zukommt, scheint es insbesondere angesichts der gegebenen Uneindeutigkeit der Auswirkungen des sozialen Wandels notwendig, einen Zugang zum deutenden und interpretierenden Subjekt herzustellen.
Zweiter Teil Methodologie
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Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
Mit den bisherigen Bestimmungen und offenen Fragen wird die Sinngebung aus der Sicht des Individuums in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses gerückt. Mit dieser subjektiven Perspektive ist ein Thema angesprochen, das weder in den klassischen soziologischen Arbeiten zur Freundschaft noch in den neueren empirischen Forschungsarbeiten fokussiert wird. Wie der folgende Abschnitt zeigt, ist diese Forschungsperspektive vielmehr als ein allgemeines bestehendes Desiderat der Freundschaftsforschung zu sehen. 3.1
Die konstitutiven Schwächen der sozialwissenschaftlichen Freundschaftsforschung
Das wesentliche Merkmal der soziologischen Freundschaftsforschung besteht darin, dass das subjektive Erfahren und Erleben von Freundschaft nicht in den Blick genommen wird. Es wird auch nicht gefragt, welche lebensweltlichen und biografischen Erlebnisse für das Freundschaftsverständnis konstitutiv sind, was diese bewirken, ob sie unterschiedliche Konzepte von Freundschaft konstituieren usw. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Freundschaften typischerweise im privaten Bereich verortet werden.1 Gemeint ist damit, dass Individuen ohne soziale Rolle und sozialen Habitus im Rahmen einer „nicht-institutionalisierten Sozialform“2 eine Beziehung eingehen, die nur aus der Individualität heraus verstanden werden könne. Man ging daher lange Zeit davon aus, dass Freundschaft einer soziologischen Analyse nicht zugänglich sei.3 Als nicht formalisierte, sondern rein ‚persönliche Beziehung‘ wurde unterstellt, Freundschaften seien für das soziale Kräftespiel in der Gesellschaft bedeutungslos.4 1 2 3 4
Vgl. Nötzoldt-Linden 1994, S. 23 oder Schinkel 2002, S. 3 Wagner und Alisch 2006, S. 12. Vgl. Wolf 1996, S. 11–15. Vgl. Schinkel 2002, S. 3–5.
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Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
Diese Sichtweise der Sozialwissenschaft kritisiert bereits Friedrich Tenbruck.5 Die klassischen soziologischen Arbeiten zur Freundschaft laufen demzufolge darauf hinaus, Freundschaft nicht sinnverstehend nachzuvollziehen, sondern sie mittels abstrakter Kategorien und Begrifflichkeiten zu beschreiben. Andreas Schinkel spricht diesbezüglich von einer Veräußerlichung der Freundschaft.6 Besonders deutlich sei diese Veräußerlichung in der Systemtheorie erkennbar, wo die Freundschaft als „Kommunikationsmedium zur Autokatalyse intimer Systeme“7 verstanden werde. Der Autor konstatiert, es gehe den sozialwissenschaftlichen Arbeiten vor allem „um die Reduktion der Freundschaft auf abstrakte und austauschbare Begriffe, die nicht aus den freundschaftlichen Erfahrungs- und Sinnzusammenhängen entwickelt werden“.8 Für die neuere empirische Sozialforschung zur Freundschaft kann mit Heinz Bude konstatiert werden, dass „sich die Soziologie der Freundschaft weitgehend auf ein relativ formales Modell zurückgezogen [hat]“.9 Ein gutes Beispiel hierfür ist das Freundschaftsverständnis aus netzwerktheoretischer Richtung: Die Netzwerktheorie beschreibt das relationale Netzwerk an sozialen Beziehungen mittels qualitativer und quantitativer Methoden.10 Dabei wird Freundschaft typischerweise als soziales Kapital verstanden und auf die akkumulierbare Menge an selbigem reduziert.11 Mit Marc Granovetter lässt sich Freundschaft zum Beispiel in starke Bindungen (strong ties) und schwache Bindungen (weak ties) unterteilen.12 Die Bindungsstärke, welche die Qualität der Beziehung repräsentiert, wird anhand der gemeinsam geteilten Zeit (amount of time), der emotionalen Intensität (emotional intensity) und der Intimität der Beziehung (intimacy mutual confiding) erfasst.13 In ähnlicher Weise verallgemeinernd und abstrakt verfahren auch die Ansätze der Personal Relationships.14 Freundschaft wird hier hauptsächlich aus einer primär sozialpsychologischen Richtung mittels quantitativer Methoden untersucht. Bei Rezeption der Forschungsarbeiten sind vor allem zwei wiederkehrende Muster zu erkennen: In inhaltlicher Hinsicht identifizieren die Arbeiten gemeinsame Merkmale der Beziehung und grenzen die Freundschaft im Sinne einer Residualkategorie von anderen sozialen Beziehungen ab. So untersuchen zum Beispiel Michael Argyle und Monika 5 Vgl. Tenbruck 1964, S. 434 f. 6 Vgl. Schinkel 2002, S. 11 f. 7 Schinkel 2002, S. 11. 8 Schinkel 2002, S. 117. 9 Bude 2017, S. 6. 10 Grundlegend Binczek und Stanitzek 2010 oder Stegbauer 2008. 11 Vgl. Avenarius 2010, S. 100 f. oder Stegbauer 2008, S. 106 f. 12 Vgl. Granovetter 1973, S. 1360 f. 13 Vgl. Granovetter 1973, S. 1361. 14 Vgl. grundlegend Duck 1997. Gemeint ist damit eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die in den
80er Jahren in den USA entstand. Die hauptsächlich empirisch orientierte Erforschung persönlicher Beziehungen bezieht sich allerdings nicht auf eine kohärente Erkenntnistheorie oder eine Forschungsrichtung. Vgl. zum wissenschaftlichen Selbstverständnis der Personal Relationships Schinkel 2002, S. 40–42.
Die konstitutiven Schwächen der sozialwissenschaftlichen Freundschaftsforschung
Henderson, welche Regeln die Individuen für eine freundschaftliche Beziehung einerseits und für eine eheliche Beziehung andererseits formulieren und worin sich deren soziale Ordnung unterscheidet.15 Diese Arbeiten konzentrieren sich auf die Erfassung möglichst überschneidungsfreier Charakteristika freundschaftlicher Beziehungen. Eine Bestimmung der Freundschaft in Anbetracht der Lebenswirklichkeit findet ebenso wenig statt wie eine Berücksichtigung individueller Faktoren. Es geht darum, „die allgemeinen Merkmale einer empirisch gegebenen Beziehung zu entdecken“.16 In methodologischer Hinsicht ist eine ‚ökonomische‘ Denk- und Arbeitsweise auffällig: Besonders deutlich wird dies im Rahmen der Austausch- und Investmenttheorien.17 Nach diesen ist zum Beispiel ein ausgewogenes ‚Kosten-Nutzen-Verhältnis‘ für die Beziehung maßgeblich, wobei die Qualität aus den eingebrachten Kosten (costs) und den erhaltenen Belohnungen (rewards) resultiert. Die methodischen Zugänge laufen darauf hinaus, die Beziehungen messbar und vergleichbar zu machen, womit sie den Blick auf die Semantik und Funktion der Beziehung verdecken: Sie liefern keinen Beitrag zur angesprochenen Ergründung der Freundschaft, sie stehen dieser mit ihrem abstrakten Zugang häufig sogar im Weg. Für die sozialwissenschaftlich relevante Freundschaftsforschung der Netzwerktheorie sowie der Personal Relationships gilt daher gleichermaßen, dass deren Modelle trotz präziser methodischer Operationalisierung abstrakt, artifiziell und oberflächlich bleiben, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass der sozialwissenschaftliche Zugang von außen erfolgt und nicht den subjektiven Sinn der Beziehung fokussiert. Dies konstatiert auch Heinz Bude, der darauf hinweist, dass diese Forschungszugänge eine „Relativierung von Freundschaft als eine Beziehung unter vielen Beziehungen“18 implizierten. Freundschaft verliere, so argumentiert Heinz Bunde, mit der formalen Typologie den persönlichen Zusammenhang: Der phänomenologische Gehalt der Sache ist der Handhabbarkeit eines methodologischen Zugriffs geopfert worden. Man erfährt viel über Netzwerke, aber nur wenig über Freundschaft.19
Der Autor schlägt daher vor, sich der Freundschaft „unter funktionalen Aspekten zu nähern, damit deutlich werden kann, wo und wie Freundschaft die Gegenwartsgesellschaft beschäftigt“.20 Dieses Desiderat, das in dieser Arbeit aufgegriffen werden wird, kann auch für die medien- und kommunikationswissenschaftliche Freundschaftsforschung festgehalten
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Vgl. Argyle und Henderson 1986. Schinkel 2002, S. 44. Vgl. exemplarisch Rusbult, Martz und Agnew 1998. Bude 2017, S. 6. Bude 2017, S. 7. Bude 2017, S. 7.
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Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
werden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind hier eine Reihe von Arbeiten entstanden, die sich den veränderten (digitalen) Möglichkeiten der Menschen widmen, Freundschaftsbeziehungen anzuknüpfen, zu pflegen und zu artikulieren.21 Diese Forschungsarbeiten thematisieren die Veränderung der Kommunikationswelt und berücksichtigen die mit Medienaneignung verbundene Erweiterung kommunikativer Praktiken. Die „Mediatisierung des kommunikativen Handelns“22 bildet hier ein eigenes Forschungsfeld.23 Die Arbeiten sind breit differenziert und rücken verschiedene kommunikative Phänomene ins Zentrum: Sie widmen sich zum Beispiel den Selbstdarstellungshandlungen Jugendlicher im Netz,24 den visuellen Freundschaftspraktiken,25 den digitalisierten Jugendkulturen26 oder der Skalierung von Beziehungsnetzen.27 Freundschaft wird hier allerdings nicht explizit, sondern häufig implizit oder nur am Rande thematisiert. Konkret unter dem Stichwort Freundschaft werden hingegen die Angebote des Social Web – insbesondere Soziale Netzwerke wie Facebook – untersucht, welche typischerweise aufgrund ihrer emergenten Struktur und ihrer potenziell disruptiven Wirkungen in den Blick geraten.28 Die Arbeiten implizieren nicht selten ein verändertes Freundschaftsverständnis aufgrund digitaler Medien und der Mediennutzungspraktiken der Jugendlichen. Ohne die Arbeiten nun inhaltlich diskutieren zu wollen – bzw. dies aus forschungsökonomischen Gründen überhaupt leisten zu können –, sei kurz auf deren methodische Schwächen und begriffliche Unschärfen hingewiesen. Auf diesen Punkt macht auch Janosch Schobin aufmerksam, der mit Blick auf die – hauptsächlich aus dem angelsächsischen Bereich stammende – Forschungsliteratur konstatiert: Zwei konstitutive Schwächen ziehen sich durch die Forschungslandschaft: Erstens wird kaum zwischen verschiedenen Typen der Freundschaft unterschieden, zweitens wird der Unterschied zwischen Freundschaftskonzept, Freundschaftsbezeichnungspraxis und Freundschaftsbeziehung in der Regel einfach ignoriert.29
Besonders deutlich werden die konzeptionellen sowie begrifflichen Schwachstellen in denjenigen Arbeiten, die anhand einfacher Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge davon ausgehen, dass sich aufgrund der medialen Praktiken Jugendlicher eine Ver-
Für einen Überblick vgl. Schobin 2016, S. 169–184. Krotz 2007, S. 14. Stellvertretend für diesen ausgesprochen breiten Forschungsbereich sei insgesamt auf die vielfältigen Arbeiten des DFG-Schwerpunktprogramms „1505 Mediatisierte Welten“ verwiesen. Einführend vgl. Krotz und Hepp 2012. Zur theoretischen Fundierung siehe Krotz 2007, vor allem S. 25–49. 24 Vgl. Bütow u. a. 2013. 25 Vgl. Autenrieth 2014. 26 Vgl. Hugger 2014. 27 Vgl. Brüggen und Wagner 2017. 28 Exemplarisch Adelmann 2011 oder Turkle 2012. 29 Schobin 2016, S. 184. 21 22 23
Die konstitutiven Schwächen der sozialwissenschaftlichen Freundschaftsforschung
flachung der Freundschaftsideale ergebe oder sich wegen der technischen Implementierung des Freundschaftsbegriffs auf sozialen Netzwerken eine Art emergenter Freundschaftstypus manifestiere, der das bisherige Freundschaftskonzept junger Menschen abzulösen drohe.30 Nicht nur wird ignoriert, dass die Form und Artikulation von Freundschaft in digitalen Umgebungen mit den technischen und rezeptiven Bedingungen des Mediums zusammenhängen, es findet auch keine Verknüpfung mit der Subjektperspektive statt. Daher artikuliert sich bei der Lektüre vieler Werke eine kultur- und technikdeterministisch kritische Perspektive, die dazu tendiert, angesichts der Medienpraktiken junger Menschen schon im vornherein von tendenziell disruptiven Wirkmechanismen auszugehen. Es verwundert daher nicht, wenn ein besonderer Forschungsbedarf für die Auswirkungen der Mediatisierung auf das normative Freundschaftskonzept der Jugendlichen konstatiert wird.31 Als Desiderat ist festzuhalten, dass Freundschaft insgesamt nicht sinnverstehend ergründet, sondern mittels abstrakter und ökonomischer Begriffe erfasst wird. Dabei wird Freundschaft weitgehend egalisiert und auf seine wesentlichen deskriptiven Charakteristika reduziert. Hier erweist sich die Vernachlässigung der Subjektperspektive als besonders schwerwiegend, da so nicht deutlich werden kann, welche Bedeutung der Freundschaft im heutigen Alltag Jugendlicher zukommt. Auf die Relevanz der Subjektperspektive ist im Kontext der Mediatisierung mehrfach hingewiesen worden. Niels Brüggen und Ulrike Wagner stellen etwa fest: Unverzichtbar ist […] der Bezug zum handelnden Subjekt, da nur über die Perspektive der alltagspraktisch handelnden Subjekte als Mitglieder der Gesellschaft die relevanten Ausschnitte gesellschaftlicher Realität zu rekonstruieren sind.32
In ähnlicher Weise steht als Desiderat im Raum, dass mit fortschreitender Mediatisierung und zunehmender kommunikativer Vernetzung sozialer Beziehungen die Fragen medienvermittelter Vergemeinschaftung insgesamt stärker auf die Alltags- und Lebenswelt bezogen werden sollten.33 Es bleibt unklar, wie einzelne Freundschaftspraktiken mit dem lebensweltlichen Umfeld und mit dem Alltag zusammenhängen, ob diese unterschiedliche Freundschaftssemantiken konstituieren. So stellt Erika Alleweldt für ihre Untersuchung von Frauenfreundschaften im Kontext gesellschaftlicher Anforderungsstrukturen fest,34 dass sich „der Einbezug der subjektiven Perspektiven in die Untersuchung von Freundschaft als zentral [erwies], weil eine Bestimmung der In diese Richtung argumentieren zum Beispiel Fono und Raynes-Goldie 2006, S. 12 f. Zur Kritik und Diskussion siehe diesbezüglich Schobin 2016, S. 179–184. Ich stimme mit dem Autor dahingehend überein, dass diese Arbeiten meist an der impliziten Annahme scheitern, es gebe ein einheitliches Freundschaftsverständnis, das auf allgemein geteilten Werten, Normen und Vorstellungen basiert (vgl. S. 183, FN 16). 31 Vgl. Schobin 2016, S. 184. 32 Brüggen und Wagner 2017, S. 225. 33 Vgl. Hepp, Berg und Roitsch 2011, S. 301. 34 Vgl. Alleweldt 2013. 30
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Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
Bedeutung von Freundschaft erst aus der Erlebens- und Handlungsperspektive möglich wurde“.35 Die angesprochenen Forschungsdesiderata nach der sinnverstehenden Ergründung von Freundschaft bei Einbezug der mediatisierten Alltags- und Lebenswelten werden in dieser Arbeit aufgegriffen. Dabei stellt sich angesichts der Vielfalt von Freundschaft die Frage, wie die Semantiken der Beziehung heuristisch erfasst werden können und welcher Forschungszugang geeignet ist. Andreas Hepp u. a. weisen darauf hin, dass die Forschung in der Sozial- und Medienwissenschaft häufig darauf hinausläuft, an spezifischen Formen der Vergemeinschaftung (zum Beispiel der Freundschaft in der Schule) anzusetzen, einzelne, relevant erscheinende Entwicklungsschübe (zum Beispiel das Smartphone) zu betrachten oder konkrete Einzelmedien (zum Beispiel die Freundschaftspraktiken auf Facebook) in den Blick zu nehmen.36 Dabei weisen die Autoren und die Autorin selbst darauf hin, dass diese Perspektiven meist zu kurz greifen, insbesondere wenn es darum geht, die dahinter sich formierenden Handlungsgründe nachzuvollziehen.37 Zur Bestimmung der subjektiven Semantiken von Freundschaft scheint es notwendig, auf einen ganzheitlichen Ansatz zurückzugreifen, der eine Vielzahl an möglichen Handlungsmotiven, Konstitutionsbedingungen und Zusammenhängen miteinbeziehen kann. Pointiert gesagt muss der Forschungszugang also berücksichtigen, dass „Freundschaften aus der Lebenssituation heraus geschlossen“38 werden. 3.2
Zum sozialphänomenologischen Forschungszugang
Um dies zu leisten, wird auf die Sozialphänomenologie von Alfred Schütz und Thomas Luckmann39 sowie auf den Sozialkonstruktivismus von Peter L. Berger und Thomas Luckmann40 zurückgegriffen. Alfred Schütz verbindet das Lebenswelt-Konzept der philosophischen Phänomenologie von Edmund Husserl41 mit dem Ansatz der verstehenden Soziologie von Max Weber42 und macht die Ansätze für die empirische Sozialwissenschaft fruchtbar. Gemeinsam mit Peter Berger führt Schütz’ Schüler Thomas Luckmann diesen phänomenologischen Ansatz in seiner wissenssoziologischen Arbeit zur „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ fort. Mit dieser Theorielinie bezieht sich die (philosophische) Erkenntnisgewinnung dieser Arbeit damit ganz allgemein auf das intuitive Erleben. Rationale und logische Zugänge bleiben 35 36 37 38 39 40 41 42
Alleweldt 2013, S. 227. Vgl. Hepp, Berg und Roitsch 2011, S. 297. Vgl. Hepp, Berg und Roitsch 2011, S. 300 f. Nötzoldt-Linden 1994, S. 214 f. Vgl. Schütz und Luckmann 2003. Vgl. Berger und Luckmann 2012. Siehe Husserl 1913. Siehe Weber 2009.
Zum sozialphänomenologischen Forschungszugang
ebenso wie historische und theoretische Perspektiven zunächst außen vor – die offene, ganzheitliche und wertfreie Beschäftigung mit Phänomenen steht im Zentrum: Freundschaft soll so erfasst werden, wie sie sich dem Bewusstsein der Jugendlichen zeigt, wie sie als Phänomen sinnhaft wahrgenommen wird, d. h. intuitiv, intentional und sinngebend. Der Alltag der Jugendlichen ist zunächst eine intersubjektive Welt, die mit anderen geteilt und nicht hinterfragt wird: Ich erfahre die Wirklichkeit der Alltagswelt als eine Wirklichkeitsordnung. Ihre Phänomene sind vor-arrangiert nach Mustern, die unabhängig davon zu sein scheinen, wie ich sie erfahre, und die sich gewissermaßen über meine Erfahrung von ihnen legen. Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits objektiviert, das heißt konstituiert durch eine Anordnung der Objekte, die schon zu Objekten deklariert worden waren, längst bevor ich auf der Bühne erschien. Die Sprache, die im alltäglichen Leben gebraucht wird, versorgt mich unaufhörlich mit den notwendigen Objektivationen und setzt mir die Ordnung, in welcher diese Objektivationen Sinn haben und in der die Alltagswelt mir sinnhaft erscheint.43
Der Alltag steckt als „selbstverständliche, zwingende Faktizität“44 einen gegebenen Handlungsrahmen ab. Das Bewusstsein der Personen ist intentional und pragmatisch und auf die alltäglichen Vorgänge gerichtet.45 Eine normale, „natürliche Einstellung“46 resultiert aus dem kulturellen Wissen,47 das in der Alltagswelt als wahr gilt. Die Gesellschaft ist als objektive Wirklichkeit nicht veränderbar: Sie weist institutionalisierte Ordnungen auf, die mit vorgegebenen Praktiken einhergehen und Jugendliche durch Wissen über Institutionen und Organisationen sozialisieren.48 Von dieser Alltagswelt analytisch getrennt werden kann die Lebenswelt der Individuen: Wie die Alltagswelt ist die Lebenswelt bei Alfred Schütz und Thomas Luckmann zunächst ein bestehender Wirklichkeitsbereich, der ontologisch gegeben erscheint. An ihr nimmt das Individuum in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teil.49 Sie ist aber auch „die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch Vermittlung seines Leibes wirkt“.50 Relevante Unterscheidungsmerkmale bestehen in der Nähe und Intensivität des Erlebens, in der Berger und Luckmann 2012, S. 24. Berger und Luckmann 2012, S. 26. Vgl. Berger und Luckmann 2012, S. 25. Berger und Luckmann 2012, S. 24. Der „allgemeine Wissensvorrat“ (Berger und Luckmann 2012, S. 43) bei Peter L. Berger und Thomas Luckmann, der in die Alltagswelt integriert und nach Relevanzen gegliedert ist, wird mit Michael Titzmann als kulturelles Wissen verstanden. Der Begriff des kulturellen Wissens wird in Kapitel 4.6 eingeführt. Dort weise ich auch auf die Parallelen der Wissensbegriffe von Michael Titzmann und Peter L. Berger hin und führe aus, weshalb in meiner Arbeit mit dem Konzept des kulturellen Wissens operiert werden kann. 48 Vgl. Berger und Luckmann 2012, S. 49–138. 49 Vgl. Schütz und Luckmann 2003, S. 29. 50 Schütz und Luckmann 2003, S. 29. 43 44 45 46 47
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54
Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
Unmittelbarkeit und in der Veränderlichkeit durch das handelnde Subjekt. In der Lebenswelt konstituiert sich eine „gemeinsame kommunikative Umwelt“,51 in der sich die Individuen als Personen wahrnehmen. Die folgende Tabelle 1 stellt diese Differenz beider Lebensbereiche heraus: Tab. 1 Alltagswelt und Lebenswelt52 Alltagswelt
Lebenswelt
Mittelbarer formaler Beziehungskontext
Unmittelbarer informeller Beziehungskontext
Fremdheit, Ferne, Anonymität, Normalität
Vertrautheit, Nähe, Intimität, Kreativität
Sprache, Sprachregeln, Kommunikation
Symbole, Bilder, Emotionen
Verhalten
Erleben, Erfahren
Vorgabe gesellschaftlicher Handlungsorientierungen
Gemeinsame Erfahrungskonstitution
Objektivität sozialer Beziehungen
Subjektivität personaler Beziehungen
Die Alltagswelt ist als Bereich formeller Beziehungskontexte zu verstehen, welcher die sozialen Beziehungen von Rollenträgern umfasst. Hier findet kein unmittelbares Erleben zwischen Individuen statt, vielmehr wird der Bezug zur gesellschaftlichen Umwelt, zum sozialen System, zum Beispiel zur Arbeitswelt betont. Auf der Ebene der Alltagswelt lässt sich der öffentliche Lebensbereich Jugendlicher verorten, der sich in Institutionen und Organisationen abspielt. Mit Blick auf die Individualisierung ist die Dimension der objektiven Lebenslage im Bereich der Alltagswelt zu verorten: Hier artikuliert sich die Veränderung von Lebensverläufen und Biografiemustern, die Beschleunigung des Lebenstempos oder auch die zunehmenden Leistungsanforderungen in Schule und Studium, wie sie als Effekte von Individualisierung in Kapitel 2.1 behandelt wurden. Die Lebenswelt ist hingegen der Bereich informeller Beziehungskontexte, in dem persönliche Beziehungen gelebt werden. Familien-, Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen sind im Bereich der Lebenswelt zu verorten.53 Jugendliche sind hier mit ihren Bezugspersonen, mit ihren Freundinnen und Freunden vertraut, bauen persönliche Beziehungen auf und tauschen sich im Privaten über Belange aus, die subjektiv bedeutsam sind. Der private Lebensbereich ist Teil der Lebenswelt der Jugendlichen. Mit Blick auf die Individualisierung ist die Dimension des subjektiven Bewusstseins und der Identität im Bereich der Lebenswelt zu verorten. Hier nehmen die Jugendlichen zum Beispiel die Pluralisierung von Lebensentwürfen oder die ange-
51 52 53
Schütz und Luckmann 2003, S. 29. Vgl. Dalhaus 2011, S. 121. Vgl. Dalhaus 2011, S. 120 f.
Das begriffliche Verständnis von Freundschaft
sprochene Vielfalt an Identitätsthemen und Freizeitangeboten wahr und machen diese zum Gegenstand ihrer Erfahrungskonstitution. Angemerkt werden muss, dass „Lebenswelt und Alltagswelt keine ausschließlich raum-zeitlich getrennten Welten [sind], sondern […] ein bipolarer Handlungsrahmen für soziale Beziehungen innerhalb eines Handlungskontextes, der spezifische Handlungen ermöglichen oder beschränken kann“.54 Die Trennung von Alltags- und Lebenswelt ist damit eine analytische, mit der aber nicht der Anspruch verbunden wird, das theoretische Ineinandergreifen aufzulösen. Sie sind vielmehr zwei Seiten einer Medaille, die dialektisch verschränkt sind und zusammen das Ganze ausmachen, aber in ihren Konkretisierungen gegensätzliche Ausprägungen aufweisen.55 Wenngleich sich Freundschaften im Bereich der Lebenswelt abspielen, so können sie keinesfalls losgelöst von ihren alltagsweltlichen Bezügen gedacht werden. Um zu untersuchen, wie Freundschaft in heutigen Gesellschaften erfahren wird, ist es wichtig, alle potenziell relevanten realweltlichen Bezüge der Jugendlichen abdecken und erfassen zu können. Dies soll mit dem sozialphänomenologischen Verständnis von Freundschaft und der analytischen Trennung der Alltags- und Lebenswelt Jugendlicher möglich werden. 3.3
Das begriffliche Verständnis von Freundschaft
Geklärt werden muss für dieses Vorhaben, wie Freundschaft in dieser Arbeit aufgefasst wird. Dies ist essenziell, um Freundschaft auf der Ebene eines konkreten Texts identifizieren, analysieren und schließlich interpretieren zu können. Dieser Punkt umfasst nun zwei Aspekte: zum einen das semantische Verstehen mitsamt der zugrunde gelegten synthetischen Begriffsdefinition im engeren Sinne. Dies wird in diesem Kapitel 3.3 behandelt. Zum anderen ist dies aber auch eine Frage des empirischen Verstehens von Freundschaft, also der zugrunde gelegten analytischen Definition. Dies wird im hierauf folgenden Kapitel 3.4 behandelt. Als problematisch für die begriffliche Definition erweist sich zunächst die gewohnheitsmäßige Verwendung: Die scheinbare Vertrautheit des Begriffes verführt zu der stillschweigenden Annahme darüber, daß jeder ihn mit derselben Plausibilität und ähnlichem Bedeutungshorizont verwendet.56
Zander 2015, S. 42. Vgl. hierzu auch Zander 2015, S. 41–43. Der Autor spricht auch von einem „wechselseitig sozial vermittelten Passungsverhältnis“ (S. 44). 56 Nötzoldt-Linden 1994, S. 23. 54 55
55
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Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
Petra Kolip merkt an, dass die implizite Annahme der Übereinstimmung nicht nur für den Alltagssprachgebrauch festgehalten werden kann, sondern auch für den wissenschaftlichen Umgang mit Freundschaft zu konstatieren ist.57 Graham Allan hat darauf hingewiesen, dass Freundschaft nicht nur eine soziale Beziehung bezeichnet, sondern diese auch hinsichtlich der Qualität beschreibt, also mit einer Bewertung der Beziehung einhergeht.58 Freundschaft hat also nicht nur eine formale, sondern zugleich eine inhaltliche Dimension (was zum Beispiel für die Begriffe von Verwandtschafts- oder Geschäftsbeziehungen nicht in gleichem Maße gilt). Da jedoch die Bezeichnung einer sozialen Beziehung als Freundschaft stets dem jeweiligen Individuum obliegt (und nur von diesem als ‚freundschaftlich‘ erlebt werden muss), bedeutet dies zugleich, dass Dritte – und damit auch Forschende – nur schwer Aussagen zum subjektiven Beziehungsstatus treffen können. Gerade in wissenschaftlicher Hinsicht resultiert dieser Umstand in der Schwierigkeit, Freundschaft trennscharf zu definieren bzw. anhand spezifischer Merkmale bestimmbar zu machen. Charakteristisch für die Definitionsund Operationalisierungsversuche59 ist die Erkenntnis der Autorinnen und Autoren, dass dies nicht möglich sei, ohne bestimmte Beziehungs- oder Bedeutungsaspekte außen vor zu lassen.60 Verdeutlicht werden kann diese Problematik anhand der – im sozialwissenschaftlichen Diskurs durchaus populären – Freundschaftsdefinition von Elisabeth Auhagen: Freundschaft ist eine dyadische, persönliche, informelle Sozialbeziehung. Die beiden daran beteiligten Menschen werden als Freundinnen/Freunde bezeichnet. Die Existenz der Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit; sie besitzt für jede(n) der Freundinnen/Freunde einen Wert, welcher unterschiedlich starkes Gewicht haben und aus verschiedenen inhaltlichen Elementen zusammengesetzt sein kann. Freundschaft wird zudem durch vier weitere Kriterien charakterisiert: 1. Freiwilligkeit bezüglich der Wahl, der Gestaltung, des Fortbestandes der Beziehung. 2. Zeitliche Ausdehnung: Freundschaft beinhaltet einen Vergangenheits- und einen Zukunftsaspekt. 3. Positiver Charakter: unabdingbarer Bestandteil von Freundschaft ist das subjektive Element des Positiven. 4. Keine offene Sexualität.61
Als problematisch erweist sich zunächst die wechselseitig als identisch unterstellte Bezeichnungspraxis: Ob sich subjektive Bewertungen gleichen, ist phänomenologisch
Vgl. Kolip 1993, S. 80 f. Vgl. Allan 1996, S. 84. Vgl. für eine Übersicht und Diskussion Nötzoldt-Linden 1994, S. 24–31 oder Leuschner und Schobin 2016, S. 56–69. Der empirische Umgang mit dem Begriff von Freundschaft läuft meist darauf hinaus, dass Freundschaft entweder sehr eng gefasst oder auf eine theoretische Positionierung und Verortung gänzlich verzichtet wird. Petra Kolip stellt zum Beispiel fest: „Selbst in Publikationen, die sich ausdrücklich mit Freundschaften befassen, finden sich nur selten Definitionen des Begriffs“ (Kolip 1993, S. 81). 60 Vgl. exemplarisch Kolip 1993, S. 80 f. oder Schobin u. a. 2016, S. 14 f. 61 Auhagen 1991, S. 17 57 58 59
Das begriffliche Verständnis von Freundschaft
gesehen unerheblich – zumal die Annahme empirisch ohnehin keine Entsprechung findet: Dies zeigt zum Beispiel die empirische Arbeit von Lillian B. Rubin. In ihrer quantitativen Befragungsstudie zum Freundschaftsverständnis von Erwachsenen kann die Autorin nicht nur zeigen, dass der Freundschaftsbegriff in hohem Maße idealisiert wird (und nur selten den im Alltag gelebten Beziehungen entspricht), sondern auch, dass die subjektive Bezeichnung und Bewertung einer Beziehung als Freundschaft (friendship) keine wechselseitige Praxis ist. 64 Prozent (n=134) der in der Kontrollgruppe interviewten Personen nannten die erstinterviewte Person, die sie als Freundin oder Freund bewertet hatte, selbst nicht.62 Schwierig ist auch das als notwendige Bedingung gesetzte Merkmal der Nicht-Sexualität. Dahinter versteckt sich die implizite Annahme, dass Freundschaften klar von anderen Sozialbeziehungen, d. h. den informellen (zum Beispiel in der Familie oder in der (Lebens-)Partnerschaft) oder den formellen (zum Beispiel im Beruf), abgrenzbar seien. Dies scheint jedoch weder theoretisch stichhaltig, noch trifft diese Annahme in empirischer Hinsicht auf Evidenz.63 In der empirischen Arbeit von Michael Argyle und Monika Henderson wird zum Beispiel als bester Freund bzw. als beste Freundin meist die Ehepartnerin/der Ehepartner genannt.64 Die meisten Definitionsversuche scheitern zudem an einem gewissen Idealisierungsmoment, mit welchem eher von Idealvorstellungen ausgegangen wird, als Freundschaften eingebettet in pragmatische Alltagssettings zu verstehen. Angelika Nötzoldt-Linden konstatiert: Die Heterogenität der Definitionen verweist auf den Facettenreichtum dieses Phänomens (= der Freundschaft, KET) aber auch auf die Willkür der Definitionsstrategien. Neben der Suche nach objektiven Kriterien und Zusammenhängen spielt die subjektive Inhaltssetzung und Deutungsfreudigkeit bis hin zu nicht mehr an der Realität nachvollziehbaren Idealisierung noch immer eine Rolle.65
Auch Heinz Bude weist in diesem Sinne darauf hin, dass viele Versuche, die Freundschaft pointiert zu definieren, in die Irre führen, da sie den Blick auf die zentralen Funktionen und Semantiken verdecken.66 Mit Blick auf Jugendliche ist aus entwicklungspsychologischer Seite zudem darauf hinzuweisen, dass funktionell nicht stets zwischen Peer-Beziehungen, informellen Cliquen67 und Freundschaftsbeziehungen
Vgl. Rubin 1985, S. 7. Vgl. Kolip 1993, S. 82. Vgl. Argyle und Henderson 1986. Nötzoldt-Linden 1994, S. 26. Vgl. Bude 2017, S. 5. Beim Begriff der Clique beziehe ich mich auf eine jugendsoziologische Perspektive und verstehe darunter eine Kleingruppe von Jugendlichen, die sich aufgrund von Freiwilligkeit konstituiert und dementsprechend von den informellen Gleichaltrigengruppen in der Schule oder im Studium zu unterscheiden ist (vgl. Scherr 2010, S. 73, FN 1; zu den (Abgrenzungs-)Merkmalen von Cliquen in diesem Sinne vgl. S. 75–78). 62 63 64 65 66 67
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Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
unterschieden werden kann. Dies rührt u. a. daher, dass sich die jeweiligen Gebilde personell gleichen: In general, friendship, the close friendship that an adolescent has, will be with some or some frew adolescents who are also members of his peer group. Differentiating between the functions of the peer group and friendship presents a false dichotomy.68
Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass Peer-Beziehungen und Cliquen eher der gemeinsamen Freizeitgestaltung dienen und soziale Lernerfahrungen bereithalten.69 Enge und vertrauensvolle Freundschaftsbeziehungen eröffnen demgegenüber die Möglichkeit des intimen Austauschs und des Besprechens von Problemen.70 Als Sozialisationskontexte sind Familie, Peers und Freunde in vielerlei Hinsicht aber auch äquivalent, da sie in Anbetracht der individuellen Lebenslage auch ähnliche (Unterstützungs-)Funktionen bereithalten (können).71 Es spricht also vieles dafür, Freundschaft weniger erratisch zu verstehen und sie gerade semantisch nicht allzu eng zu fassen. Dementsprechend soll auch ein dynamisches Begriffsverständnis zugrunde gelegt werden, das Freundschaft zum Beispiel nicht auf dyadische, in besonderem Maße vertrauensvolle und intim konnotierte Beziehungen beschränkt. Erkenntnistheoretisch kann es nicht im Sinne dieser Arbeit sein, Freundschaft derart eng zu fassen. Dies mag zwar für einen Großteil der empirischen Fälle zutreffen, widerspricht jedoch dem subjektorientierten Ansatz dieser Forschungsarbeit. Im Sinne des qualitativen Forschungsparadigmas wäre dies zudem ein weitreichender Eingriff ins empirische Feld, mit dem eine eigene Interpretation vorgenommen würde. Bei der Analyse der Texte hätte dies eine feste Grenzziehung zur Folge: Was Freundschaft ausmacht und worin damit Freundschaftssemantik bestehen kann, würde gewissermaßen von außen hineingebracht, statt aus dem Textmaterial selbst rekonstruiert – und damit aus einer subjektiven Sicht erhoben – zu werden. Durch den heuristischen Eingriff würde ein Teil der Semantiken ausgespart werden; es bestünde die Gefahr, dass nicht die Bandbreite an potenziellen Bedeutungen sichtbar gemacht werden kann, sondern sich nur ein spezifisches Bündel an semantischen Merkmalen zeigt. Um Freundschaft sozialphänomenologisch untersuchen und aus der Sicht des Einzelnen verstehen zu können, macht es also Sinn, sie auch definitorisch aus der Subjektperspektive aufzufassen. Dies leistet der Zugang von Igor S. Kon. Der Autor versteht Freundschaft als ein kontextabhängiges, relationales Phänomen und rückt die Frage der individuellen Bedeutungsverleihung in den Mittelpunkt:
68 69 70 71
Manaster 1977, S. 241; zit. n. Kolip 1993, S. 79. Vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 174–178. Vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 173 f. Vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 179–182.
Das begriffliche Verständnis von Freundschaft
Nicht nur, daß die Menschen dem Begriff der Freundschaft verschiedenen subjektiven Sinn verleihen, er ist vielmehr auch objektiv gesehen vieldeutig und bedeutet zugleich 1. eine soziale Institution, 2. ein Gefühl, eine Art emotionale Verbundenheit, 3. eine spezifische Form zwischenpersönlicher Beziehungen.72
Die Freundschaft als soziale Institution entspricht bei Igor S. Kon der Frage nach den alltags- und lebensweltlichen Bedingungen, denen die Freundschaft unterliegt, sowie den (institutionalisierten) Kontexten, in denen sie sich vollzieht – „es geht darum, welche Funktionen der Freundschaft in der Gesellschaft zukommen“.73 Die Freundschaft als zwischenpersönliche Beziehung „befaßt sich mit Freundschaft als spezifischer Form der zwischenmenschlichen Kommunikation und emotionalen Anziehung“.74 Als eher sozialpsychologisch ausgerichteter Interessensbereich ist dieser Aspekt für diese Forschungsarbeit nicht direkt relevant. Mit der Freundschaft als Gefühl emotionaler Verbundenheit wird nach den individuellen und persönlichen Aspekten gefragt – es ist „wichtig zu ergründen, was sich hinter dem menschlichen Bedürfnis nach Freundschaft verbirgt“.75 Mit dem letztgenannten Aspekt wird also eher der lebensweltliche Bereich des Individuums ins Zentrum gerückt, wobei insbesondere nach der persönlichen Bedeutung, nach dem Privaten innerhalb von Freundschaft gefragt wird. Die Merkmale, die Freundschaftsbeziehungen nach Igor S. Kon zukommen, bestehen in einem persönlichen Verhältnis, das Solidarität und Freiwilligkeit einschließt, in einem tiefen und intimen Gefühl, das über Offenheit und Vertrauen hergestellt wird, sowie in einer selektiv-individuellen Beziehung, die auf Sympathie basiert.76 Mit diesem eher weiten Verständnis sind damit formelle und informelle Beziehungskonstellationen (potenziell) gleichermaßen eingeschlossen. Es wird prinzipiell kein Unterschied bei der Frage gemacht, ob die Beziehung institutionalisiert (zum Beispiel berufliche Beziehung), intimisiert (zum Beispiel partnerschaftliche Beziehung) oder familisiert (zum Beispiel schwesterliche Beziehung) ist. Die Unterscheidung zwischen der sozialen Beziehung Freundschaft und dem emotionalen Gefühl der Freundschaft ermöglicht eine differenzierte Betrachtung: Ein Gefühl von Freundschaft kann aus der Sicht des Subjekts auch dort vorliegen, wo die formalen Bedingungen für eine soziale Freundschaftsbeziehung nicht erfüllt wären – und die Personen im Alltagssprachgebrauch zum Beispiel von ‚Bruder‘ oder ‚Schwester‘, nicht jedoch von ‚Freundschaft‘ sprechen würden. Hilfreich an der Definition von Igor S. Kon ist weiterhin, dass sehr spezifische Merkmale, zum Beispiel soziodemografische Aspekte wie Alter oder Ge-
72 73 74 75 76
Kon 1979, S. 9 (Hervorh. i. Orig.). Kon 1979, S. 9. Kon 1979, S. 9. Kon 1979, S. 9. Vgl. Kon 1979, S. 8 f.
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Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
schlecht, nicht als Kriterium oder Bedingung formuliert werden. Dies hilft dabei, Freundschaft nicht von außen festlegen zu müssen, sondern sie dort identifizieren zu können, wo sie durch das Subjekt inhaltlich-semantisch als solche erlebt wird. 3.4
Das Konzept von Freundschaft als privater Raum
Ein Merkmal, das für Freundschaftsbeziehungen charakteristisch ist, sie von zum Beispiel Bekanntschaften unterscheidet, besteht in ihrer Privatheit. Freundschaften sind auf die Person gerichtet und konstituieren sich dort ganz allgemein durch die Öffnung eines privaten Bereichs: Der oben angesprochene Wert, das emotionale Gefühl, entsteht durch die Privatheit und Vertrautheit der Beziehung.77 In dieser Arbeit wird Freundschaft daher als ein privater Raum verstanden.78 Mit privater Raum sind zwei Aspekte gemeint: Freundschaft als privater Raum meint zum einen denjenigen Raum, den die Freundschaftsakteure gemeinsam teilen, und zum anderen denjenigen Raum, der individuell auf die Person bezogen ist, wo Freundschaft gewissermaßen subjektiv sinnhaft wird, einen individuellen Sinn hat und einen Nutzen bietet. Der Begriff Privatheit wird analog zum Begriff Raum sozialwissenschaftlich aufgefasst und mit einem relativistischen Verständnis konkretisiert. Verstanden wird Privatheit als ein sozialer Bereich, der durch die Subjekte konstruiert wird und jeder sozialen Beziehung und Gruppe inhärent ist.79 Ausgegangen wird davon, dass jede soziale Beziehung einen Privatheitsbereich aufweist. Dieser ist als solcher schützenswert, da er mit der Entwicklung individueller Autonomie zusammenhängt bzw. weil Privatheit eine sozial notwendige Bedingung für die Entwicklung von Autonomie darstellt.80 Auf dieses schützenswerte Moment ist auch innerhalb der Soziologie mehrfach hingewiesen worden: Georg Simmel erachtet das Vorliegen von Privatheit als notwendig dafür, dass sich die Interaktionsformen und inhaltliche Grenzen der Beziehung herausbilden können.81 Ähnlich argumentiert Erving Goffman, der die Übernahme einer privatheitsbezogenen Rolle innerhalb der sozialen Beziehung betont82 und die Entwicklung von Sozialität herausstellt.83 Freundschaft und Privatheit sind „intricately linked“ – wie Beate Rössler schreibt.84 Freundschaftsbeziehungen erzeugen einen Raum, in dem Informationen über sich of-
Vgl. Bude 2017, S. 6 f. bzw. Honneth 2011, S. 237 f. Zum Verständnis von Privatheit als ein allgemein räumliches Phänomen vgl. Krah 2012, S. 132–134. Vgl. zu dieser Privatheitsauffassung Ochs und Löw 2012, S. 21 oder auch Steeves 2009, S. 207 f. Vgl. Rössler 2001, S. 132, 136–143. Zur Kritik, die Notwendigkeit von Privatheit einseitig mit Identitätsmanagement und Autonomie zu fassen, vgl. Matzner 2018, S. 80–87. 81 Vgl. Simmel 1992, S. 396 f. 82 Vgl. Goffman 1973, S. 77–105. 83 Vgl. Goffman 1973, S. 141. 84 Rössler 2013, S. 2. 77 78 79 80
Das Konzept von Freundschaft als privater Raum
fenbart, erlebte Ereignisse und gemachte Erfahrungen mit anderen Personen geteilt werden können. Auch ist die wechselseitige Aushandlung und Regulation der Normen der (informationellen) Privatheit ein integraler Bestandteil von Freundschaft: […] the role of being a friend demands (Hervorh. i. Orig.) that we present ourselves to friends in a special way, that we make ourselves vulnerable, share personal problems, share good or bad experiences. […] The role of being a friend thus demands a special form of commitment.85
Diese freundschaftliche Form der Vertrautheit, die eine besondere Form informationeller Privatheit hervorbringt, spielt auch innerhalb der soziologischen Literatur eine Rolle. Für Georg Simmel ist jede soziale Beziehung von solchen ‚Geheimnissen‘ bestimmt: Das Geheimnis „charakterisiert jedes Verhältnis zwischen zwei Menschen oder zwischen zwei Gruppen, ob und wieviel Geheimnis in ihm ist.“86 Der soziale Raum, den die Freundschaftsakteure gemeinsam teilen, ist exklusiv. Konstitutiv für den privaten Raum in diesem Sinne ist die Funktion der Grenze: Die von den Jugendlichen geteilten Inhalte installieren eine Grenze nach außen und markieren den Raum mittels Zeichensystemen als einen privaten.87 Intersubjektiv entsteht ein gemeinsamer privater Raum, der im Zuge sozialer Interaktion konstruiert wird. Privatheit manifestiert sich ihrerseits als konstruktives Phänomen, das durch die handelnden Jugendlichen selbst erzeugt wird. Ein zentrales Merkmal von Freundschaft besteht damit in der kontextuellen Integrität des freundschaftlichen Privatraums.88 Als Rahmung weist das Konzept der kontextuellen Integrität (contextual integrity) darauf hin, dass das strukturierte und rollenbezogene Umfeld maßgeblich für die geltenden Kommunikationsnormen und Verhaltensweisen ist, und definiert, wann gegen die geltende Privatheit verstoßen wird.89 Mit Beate Rössler kann Privatheit hierbei anhand von drei Dimensionen konkretisiert werden: Die dezisionale Privatheit umfasst die Fragen individueller Lebensgestaltung, also „dass es Dimensionen des Lebens gibt, bei denen man den symbolischen Zugang anderer – in der Form von Einsprüchen und Eingriffen unterschiedlichster Art – selbst kontrollieren kann.“90 So können die Jugendlichen zum Beispiel Autonomie bei der Wahl ihrer Freunde für sich beanspruchen und (insbesondere) von Eltern verlangen, ihnen in diese Entscheidung nicht hineinzureden. Bei der informationellen Privatheit geht es demgegenüber um die Frage,
85 86 87 88 89 90
Rössler 2013, S. 3. Simmel 1992, S. 406. Vgl. hierzu auch das Kapitel 4.2 zum semiotischen Verständnis dieser Arbeit. Vgl. Nissenbaum 2010, S. 84 f. Vgl. Nissenbaum 2010, S. 135–137. Rössler 2001, S. 144.
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Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
wer was über eine Person weiß, also um die Kontrolle über Informationen, die sie betreffen; und zwar Kontrolle mindestens in dem Sinn, dass sie in vielen Hinsichten in der Hand hat, in anderen Hinsichten zumindest abschätzen kann, was andere Personen jeweils über sie wissen […] und dass sie gemäß diesen Annahmen und Erwartungen dann auch über entsprechende Sanktions- oder jedenfalls Kritikmöglichkeiten verfügen kann.91
Hier können die Jugendlichen Gesprächsinhalte exklusiv mit ihren Freunden teilen und sie damit gegenüber Peers, Gleichaltrigen oder allgemein dritten Personen geheim halten. Mit der lokalen Privatheit ist schließlich die Privatheit konkret territorial-physischer Lebensbereiche gemeint, also „die Privatheit des Hauses, der Wohnung, des Zimmers und damit auch […] die Privatheit persönlicher Gegenstände, die jedenfalls auch die Privatheit der Räume mit konstituieren.“92 Die Jugendlichen können hier den Zugang zu bestimmten freundschaftsrelevanten Bereichen, Orten oder Plätzen beschränken. Dabei muss nicht notwendigerweise eine physische Zugangsbeschränkung vorliegen; es kann sich auch um symbolische Restriktionen oder semantische Grenzziehungen handeln, wie sie sich im sprachlichen Bereich zum Beispiel in bestimmten Jargons oder sozialen Sprachvarietäten Jugendlicher zeigen. Analytisch ist der private Raum so von nichtprivaten Räumen abgrenzbar. Entscheidend ist der Akt der jeweiligen Grenzziehung, also der Umstand, dass die Jugendlichen eine freundschaftsrelevante Grenze postulieren. Es kommt nicht auf die konkreten Privatheitsinhalte an; in dieser Arbeit geht es nicht darum, zu ergründen, welche Themen für die Jugendlichen privat – oder gar: intim – konnotiert sind und welche konkreten Inhalte sie mit ihren Freundinnen und Freunden teilen. Es geht nicht darum, in den privaten Bereich vorzudringen. Die Konzeption von Freundschaft als privater Raum hat den heuristischen Zweck, das Paradigma Freundschaft mittels jener privatheitsbezogenen Grenzziehungen auf der Textebene identifizieren und für die empirische Analyse und Interpretation zugänglich zu machen.93 Neben diesem gemeinsam konstruierten Privatraum, welcher im Sinne von Igor S. Kon als soziale Institution der Freundschaft94 zu verstehen ist, kann bei der Freundschaft auch von einem individuellen Privatraum gesprochen werden. Zu diesem gehört eine konkrete, individuelle Semantik der Beziehung, die auf subjektiven Sinnzuschreibungsvorgängen basiert, sich im Zusammenspiel mit der eigenen Lebenslage und Biografie, den erfahrenen Sozialisationsbedingungen usw. konstituiert und sich im Zuge eines generativen Habitus entfaltet. Privatheit liegt damit nicht auf einer interRössler 2001, S. 201. Rössler 2001, S. 255. An dieser Stelle sei nochmals auf das folgende Kapitel 4 verwiesen, in welchem der narratologisch-semiotische Ansatz dieser Arbeit erörtert wird. Das Kapitel 4.2 erörtert das semiotische Grundverständnis, das Kapitel 4.3.1 thematisiert die Bedeutung und die Funktion der Grenze auf der Ebene der jeweiligen Texte. 94 Vgl. Kon 1979, S. 9. 91 92 93
Forschungsmodell und leitende Forschungsfragen
subjektiven Ebene der Beziehung vor, sondern ist im subjektiven Bereich des Individuums gegeben. Dieser Privatheitsbereich bildet sich individuell – und potenziell verschieden – heraus, ist vielleicht auch latent oder unbewusst gegeben und liegt quer zu den Bedeutungen, die die Freundschaftsakteure gemeinsam teilen. Mit dieser Form der Privatheit hat die Freundschaft eine (konkrete) Funktion, einen Zweck oder einen Nutzen, den sie im Alltag oder in der Lebenswelt einer oder eines Jugendlichen übernimmt. Im Sinne von Igor S. Kon betrifft Privatheit das angesprochene Gefühl der Freundschaft, das aus der besonderen Art emotionaler Verbundenheit erwächst.95 Im Sinne von Graham Allan kann dieser Privatheitsraum als persönlicher (Möglichkeits-) Raum der Individuen verstanden werden.96 Auch hier rekurriert Freundschaft auf die Funktionen von Privatheit:97 So bieten die Beziehungen eine Rückzugsfunktion, die beispielsweise gesellschaftlichen Druck abzubauen vermag. Freundschaften ermöglichen es ebenfalls, Erfahrungen und Eindrücke des Alltags zu verarbeiten, zu reflektieren und einzuordnen. Als sich in Freiheit und durch Freiwilligkeit konstituierende Beziehung stiftet Freundschaft Identität und unterstützt das Individuum in der Entwicklung eines Bilds des Selbst. Dabei wird davon ausgegangen, dass der freundschaftliche Privatraum primär positive Funktionen für das Individuum übernimmt.98 Bei einer Freundschaft zwischen zwei Jugendlichen könnten diese für die eine Person darin bestehen, sich vom familiären Bereich der Eltern abzugrenzen, während die Freundschaft für die andere Person als eine Erweiterung des familiären Bereichs fungiert und zum Beispiel die Erziehungsfunktionen unterstützt, ergänzt oder gar substituiert. Es sind unterschiedliche, durchaus auch ambivalente Semantiken und Funktionen denkbar, die auf der Ebene derselben Beziehung existieren können. Der individuelle Privatraum, wie er hier verstanden wird, wird sozusagen auf der Grundlage gemeinsamer Bedeutungskonstitution errichtet, bedient sich wechselseitig geteilter Selbstverständnisse, Einstellungen und Handlungsweisen, ist aber in hohem Maße als persönlich anzusehen. 3.5
Forschungsmodell und leitende Forschungsfragen
Die bisherigen Überlegungen, theoretischen Vorarbeiten und Rahmungen sollen nun abschließend zusammengeführt und in einem empirischen Forschungsmodell integriert werden.
Vgl. Kon 1979, S. 9. Vgl. Allan 1989, S. 45–47; zit. n. Schinkel 2002, S. 61. Vgl. Westin 1967, S. 31 f. Vgl. zu diesen positiven Funktionen innerhalb der Privatheitsliteratur: Solove 2008, S. 25; Westin 1967, S. 33–37; Altman 1977, S. 79. 95 96 97 98
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Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
Dieses zeigt die folgende Abbildung 1:
Abb. 1 Forschungsmodell
Den Hintergrund bildet die Alltagswelt der Jugendlichen. Als offener Rahmen ist sie von den Prozessen der Individualisierung und Mediatisierung gekennzeichnet. Mit ihren vielschichtigen Bedingtheiten und Effekten scheinen diese Entwicklungen immer wieder durch, legen die objektive Lebenslage der Subjekte fest, bestimmen die Lebensverläufe sowie das Verhalten der Jugendlichen in vielerlei Hinsicht. Ein sozialer und kultureller Wandel vollzieht sich soziotechnisch. Empirisch ist er zum Beispiel in Form gewandelter schulisch-institutioneller Rahmungen oder in verändertem Alltagsverhalten greifbar. Eine schärfere Kontur bildet die Lebenswelt Jugendlicher, die hierauf aufbaut und sich ausgehend von einer soziokulturell vorkonstruierten und nicht weiter beeinflussbaren Alltagswelt konstituiert. In der Lebenswelt ist sozialer und kultureller Wandel in Form eines veränderten emotionalen Erfahrens und ästhetischen Erlebens der informellen Beziehungen greifbar. In der Lebenswelt sind die Freundschaftsbeziehungen Jugendlicher situiert, welche sich im Kontext mediatisierter Sozialräume vollziehen. In der Lebenswelt konstituiert sich nun Freundschaft als ein privater Raum in zweifacher Hinsicht: auf der intersubjektiven Ebene der Beziehung und im Subjektbereich
Forschungsmodell und leitende Forschungsfragen
des Individuums. Primär in letzterem Bereich sind die interessierenden Freundschaftssemantiken, die nicht notwendigerweise geteilt werden müssen und auch latent oder unbewusst sein können, situiert. Sie haben etwas mit der Person zu tun, hängen mit individualbiografischen Erlebnissen, mit subjektiven Erfahrungen zusammen. Hier wird Freundschaft im sozialphänomenologischen Sinne verstanden und sinnverstehend erforscht, d. h. intuitiv, intentional und sinngebend. Es ergibt sich eine Konkretisierung des bisherigen Erkenntnisinteresses: – Wie entwerfen die Jugendlichen ihren privaten Raum der Freundschaft im Lichte ihrer Lebensgeschichte und welche Semantik übernimmt die Freundschaft in den mediatisierten Sozialräumen ihrer Alltags- und Lebenswelt? Einher geht mit dieser Forschungsfrage das sinnhafte Verstehen durchaus unterschiedlicher Freundschaftsbeziehungen, welche die Jugendlichen pflegen: Von Interesse ist, was die (einzelnen) sozialen Beziehungen charakterisiert, was die Freundschaftsakteure zum gemeinsamen Gegenstand ihres Handelns machen und worüber sie eine Grenze nach außen installieren. Aufbauend auf diesen Ergebnissen wird der Frage nachgegangen, welche Funktionen die Freundschaft in der heutigen, mediatisierten Gesellschaft übernimmt und welcher Stellenwert ihr zukommt: – Welche normativen Konzepte sind charakteristisch für die heutigen Freundschaftsbeziehungen von Jugendlichen und welche gesellschaftlichen Veränderungen lassen sich gegebenenfalls schlussfolgern? Natürlich ist anzumerken, dass aus der Arbeit aufgrund des fehlenden Längsschnittdesigns sowohl in prospektiver wie in retrospektiver Hinsicht methodologisch keine empirisch belastbaren Aussagen über soziale und individuelle Veränderungen gewonnen werden können. Wohl aber kann die Arbeit als ein Indikator fungieren, der sozialen Wandel bezogen auf das Subjekt (zum Beispiel Erleben von Freundschaft, Werte, Bedeutungen) und bezogen auf die Beziehung (zum Beispiel soziale Praktiken, Umgangsformen, Aushandlungsprozesse) individualgeschichtlich nachzeichnet und Veränderungen damit seismografisch indiziert. Die beiden Forschungsfragen konkretisieren damit das inhaltliche Erkenntnisinteresse, wie es in Kapitel 1.2 einführend dargestellt wurde. Der methodische Zugang wird über die sinnhafte Deutung der Lebensgeschichte der Jugendlichen – bzw. konkreter: über die erzählerische Präsentation derselben – geleistet. Ein implizit bleibendes Axiom ist, dass die Lebensbiografie als Lebensgeschichte sinnhaft durch die Subjekte gedeutet wird, welche in einer lebensgeschichtlichen Erzählung wiederum näherungsweise dargeboten wird. Dieser Punkt, auf den bisher noch nicht im Detail eingegangen wurde, soll nun nachfolgend konkretisiert werden.
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Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
3.6
Das Erzählinterview als Forschungsmethode
Die subjektive Sinngebung, die Rekonstruktion tiefer liegender Strukturen sozialen Handelns und deren Sinngebung entspricht den Prinzipien und Anwendungsfeldern qualitativer Sozialforschung.99 In dieser Arbeit wird daher auf einen qualitativen Forschungszugang zurückgegriffen. 3.6.1
Die Eignung des Erzählinterviews
In den vorangegangenen Kapiteln wurden spezifische Anforderungen herausgearbeitet, die für die Wahl der konkreten Forschungsmethode bedeutsam sind: Die Methode muss in der Lage sein, den privaten Raum der Freundschaft wie dargestellt sinnverstehend aus der subjektiven Sicht des Einzelnen untersuchen zu können. Da in dieser Arbeit nach der Konstitution von Sinn gefragt wird, ist es notwendig, dass die Methode auf die temporale Dimension Bezug nimmt. Gefragt werden muss hier nach freundschaftsrelevanten Erlebnissen und ihren Erfahrungszusammenhängen, aufgrund derer subjektive Bedeutungen erwachsen. Dabei muss die Methode das selbstverständliche Verhalten und Handeln in der Alltagswelt als auch das emotionale Erleben in der Lebenswelt abbilden können. Neben diesen inhaltlichen Kriterien ist schließlich ein formales Kriterium zu ergänzen: Berücksichtigt werden muss, dass empirisch mit heranwachsenden Jugendlichen gearbeitet wird, für welche besondere Anforderungen gelten. Ingrid Paus-Hasebrink nennt hier die Prinzipien der Offenheit, Freiheit und Narrativität sowie der Fallbezogenheit.100 Um dies zu leisten, wird auf die Methode des Erzählinterviews101 zurückgegriffen. Verstanden wird dieses in Anlehnung an die Tradition der interpretativen Biografieforschung durch Fritz Schütze102 sowie Hans-Jürgen Glinka.103 In diesen mittlerweile als ‚klassisch‘ geltenden Texten wurde das Erzählinterview eingeführt, erstmals theoretisch beschrieben und für die empirische Sozialwissenschaft konkretisiert. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ist das Erzählinterview auf vielfältige Art detailliert, ergänzt und überarbeitet worden. Ein wichtiges Werk für die Perspektive dieser Arbeit stellt die Arbeit von Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann dar.104 Die Autorin und der Autor integrieren nicht nur neuere psychologische und linguistische Erkenntnisse zum Erzählen, sondern beziehen die Konstruktion von Identität im Er99 Vgl. Wegener und Mikos 2005, S. 176; ausf. siehe zum Beispiel Flick 2007. 100 Vgl. Paus-Hasebrink 2005, S. 223–229. 101 Die Begriffe Erzählinterview und Narratives Interview werden in der Methodenwissenschaft
scherweise synonym verwendet. Ich werde den Begriff Erzählinterview verwenden. 102 Siehe insb. Schütze 1983 sowie Schütze 1987. 103 Siehe Glinka 2003. 104 Lucius-Hoene und Deppermann 2004.
typi-
Das Erzählinterview als Forschungsmethode
zählprozess mit ein.105 Da sie zudem eine textanalytische Auffassung verfolgen,106 die mit dem Ansatz dieser Arbeit vereinbar ist, werde ich mich hauptsächlich auf deren Überarbeitung beziehen.107 Das Erzählinterview bietet sich insbesondere dann an, wenn es um die „Rekonstruktion komplexer Sachverhalte in der sozialen Wirklichkeit geht, die auch in der Form von Geschichten108 erzählt werden können.“109 Das Erzählinterview knüpft unmittelbar an der subjektiven Erfahrungswelt und an den Sichtweisen der Gesprächspersonen an und ist ein geeignetes Mittel zur Erfassung der Alltags- und Lebenswelt und ihrer Sinndeutung: Das Erzählen ermöglicht den Gesprächspersonen das Setzen persönlicher Relevanzen, eröffnet den Zugang zur (biografischen) Selbstdeutung und ermöglicht die Herausarbeitung wichtiger Erlebnisse im Lebensverlauf.110 In diesem Sinne entstehen im Erzählinterview Stegreiferzählungen, die von der Erzählperson unmittelbar, intuitiv und spontan hervorgebracht werden.111 Ebenso wie die sprachliche Darstellung von Veränderung in der Zeit konstitutiv zum Erzählen gehört,112 so verfügen narrative Strukturen über wichtige atmosphärische sowie ethische Bestandteile.113 Diese offenbaren Weltsichten, legen Emotionen, Bedürfnisse und moralische Handlungsmotive dar und bieten eine über die reine Ereignisdarbietung hinausgehende evaluative ethische Komponente.114 Diese aus der Art der Darstellung, aber auch aus den Assoziationen, aus den Implikationen und ableitbaren Propositionen zu rekonstruierenden (Sinn-)Gehalte gehen über den rein propositionalen Gehalt vieler deskriptiver oder argumentativer Textsorten hinaus. Narrative Texte liefern nicht nur die kognitive Sicht
Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 9 f. Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 11. Meiner Meinung nach sind viele Aspekte der ‚klassischen‘ Texte heute als überholt anzusehen. Erwähnt sei zum Beispiel Fritz Schützes Annahme des Erkenntnisstatus im Erzählinterview, das insbesondere den frühen Texten des Autors zugrunde liegt. Hierauf gehe ich in Kapitel 3.6.2 ein. 108 Wenn ich hier und im Folgendem den Begriff der Geschichte verwende, so ist damit immer die in einem konkret-empirischen, produzierenden narrativen Akt hervorgebrachte Geschichte, also die erzählte Geschichte, der Inhalt, gemeint, und zwar zunächst einmal unabhängig von ihrer realen oder fiktiven Bestimmtheit (diese Frage der narrativen Konstruktivität ist für die Wirklichkeitserzählungen dieser Arbeit natürlich bedeutsam; diesem Thema widmet sich das Kapitel 3.6.2). Dies bedeutet ex negativo, dass weder das vergangene Geschehen an sich noch die Erforschung und Präsentation derselben – wie sie zum Beispiel von der Geschichtswissenschaft vorgenommen wird – gemeint ist. Geschichte existiert im Sinne dieser Arbeit als etwas, das durch eine Erzählung vermittelt wird. Vgl. zur äquivoken Bedeutung des Begriffes der Geschichte in diesem Sinne Genette 2010, S. 12 f. 109 Glinka 2003, S. 25 (Hervorh. i. Orig). 110 Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 20 f. 111 Vgl. Schütze 1983, S. 285 f. 112 Vgl. Titzmann 2013b, S. 120 f. 113 Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 18 sowie zur Narrativen Ethik Mieth 2002. 114 Vgl. Linde 1993, S. 72; Titzmann 2013b, S. 116–119. 105 106 107
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Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
der Befragten, sondern zusätzlich die Einordnung in eine erzählte Welt115 und in die Interpretation eines Handlungs- bzw. Diskurszusammenhangs.116 Das Erzählen von Selbsterlebtem als selbstverständliche, alltäglich-vertraute und ständig praktizierte Handlung stellt die Gesprächspersonen vor geringe Schwierigkeiten der Vermittlung, wobei sich gerade für Jugendliche und junge Erwachsene eine besondere Eignung konstatieren lässt.117 Die Wahl des Erzählinterviews als Forschungsmethode beruht ebenfalls auf der Überlegung, dass die Gesprächspersonen nur bedingt geleitet und geführt werden. Die Jugendlichen verfügen über das monologische Rederecht, können intuitiv, spontan und frei ihre Lebensgeschichte darbieten. Sie können von ihren Freundschaften erzählen, dabei individuelle Schwerpunkte setzen und die Relevanzsetzungen selbst vornehmen. Zu den Vorteilen des Erzählinterviews wird daher gezählt, dass der Grad intersubjektiver Beeinflussung, zum Beispiel durch den Interviewer, geringer ausfällt als bei anderen Formen des qualitativen Interviews.118 3.6.2
Das Erzählinterview als Wirklichkeitserzählung – Anmerkungen zum Erkenntnisstatus und der narrativen Konstruktivität Über Lebensgeschichte zu sprechen setzt mindestens voraus, und das ist nicht nichts, daß das Leben eine Geschichte ist und daß […], ein Leben unauflöslich das Gesamt der Ereignisse einer individuellen Existenz ist, aufgefaßt als Geschichte und als die Erzählung dieser Geschichte.119
Es stellt sich die Frage, welche Erkenntnisse im Erzählinterview möglich sind: Wie müssen die Aussagen der jugendlichen Gesprächspersonen verstanden und interpretiert werden? Grundsätzlich wird im Sinne von Fritz Schütze davon ausgegangen, dass im Erzählen die „innere Form der Erlebnisaufschichtung“120 aktiviert wird. Im Erzählen besteht daher eine engere Verbindung zwischen aktueller Kommunikation und dem damaligen Erfahren und Handeln als bei anderen Formen der Kommunikation. Fritz Schütze nennt dies die Wiederherstellung „der Unmittelbarkeit der Darstellung des Erzählers zu seiner Erinnerung und Erlebnisaufschichtung.“121 Dies bedeutet, dass narrative Texte den erlebten Ereignisablauf besser reproduzieren können als andere Kommunikationsformen, die in größerer Distanz zu dieser Erfahrung stehen. Zu diesen gehören zum Beispiel das Beschreiben, das Argumentieren oder das (bewusste) 115 116 117 118 119 120 121
Der Begriff der erzählten Welt wird in Kapitel 4.2.2 definiert. Vgl. Müller und Grimm 2016, S. 118. Vgl. Paus-Hasebrink 2005, S. 229. Vgl. Helfferich 2011, S. 30 f. Bourdieu 1990, S. 75. Schütze 1987, S. 49. Schütze 1987, S. 237.
Das Erzählinterview als Forschungsmethode
Interpretieren. Das hinter diesen Überlegungen stehende Grundaxiom, dass eine Homologie von Erleben und Erzählen besteht, wurde von verschiedenen Seiten kritisiert als auch verteidigt.122 Es ist mindestens darauf hinzuweisen, dass die autobiographische Erzählung sich immer, mindestens teilweise, von dem Ziel anregen läßt, Sinn zu machen, zu begründen, eine gleichzeitig retrospektive und prospektive Logik zu entwickeln, Konsistenz und Konstanz darzustellen, indem sie einsehbare Beziehungen wie die der Folgewirkung von einem verursachenden oder letzten Grund zwischen aufeinanderfolgenden Zuständen herstellt, die so zu Etappen einer notwendigen Entwicklung gemacht werden.123
Fritz Schütze geht zwar nicht, wie von Pierre Bourdieu formuliert, von einer „rhetorischen Illusion“, einer „trivialen Vorstellung von der Existenz“124 aus, merkt aber doch an, dass zwischen dem Zeitpunkt von Erleben und Erfahren und dem des Erzählens kognitive Prozesse des Interpretierens und des Deutens, des Verdrängens oder des Vergessens liegen.125 Indem er aber annimmt, dass die interpretativen oder deutenden Teile im Zuge der Textsortenanalyse im Erzählkorpus stets sichtbar werden – und vom narrativen Text i. e. S. getrennt werden können –, geht er dennoch von einer Rekonstruktion des Damaligen aus.126 Angesichts dieses Diskurses scheint es angebracht, bezogen auf den Erkenntnisstatus des Textes eine kurze Positionierung vorzunehmen. Notwendig ist diese Positionierung insbesondere angesichts des von mir gewählten narratologisch-semiotischen Ansatzes.127 Erzählen wird zunächst als eine schöpferische Leistung verstanden: Das textuell manifeste Erzählprodukt, das in der Interviewsituation128 hervorgebracht wird, wird als ein durch die Konstruktivität von Erleben, Erinnern und Erzählen bedingtes subjektives und kreatives Erzeugnis verstanden. Dabei wird die von Doris Tophinke aus
Zur Kritik etwa Nassehi 1994, S. 57 oder Osterland 1983; zur Erwiderung von Seiten der Vertreterinnen und Vertreter der Biografieforschung vgl. Hermanns, 1985 S. 87 f. oder Rosenthal 1995, S. 17. Eine Diskussion der unterschiedlichen Perspektiven findet sich bei Küsters 2009, S. 34–38. 123 Bourdieu 1990, S. 76 (Hervorh. durch mich; KET). 124 Bourdieu 1990, S. 76. 125 Vgl. Schütze 1987, S. 25 f. 126 Vgl. Schütze 1987, S. 27. 127 Siehe hierzu das Kapitel 4. 128 Mit Interviewsituation ist nicht der Umstand gemeint, dass ein Interview geführt wird bzw. ein Gespräch stattfindet, sondern die (Vermittlungs-)Situation im Interview. Der Begriff adressiert also „die Ebene der Sprechsituation“, welche sich auf den „kommunikativen Kontext, in dem der konkrete Äußerungsakt sich ereignet“ (Krah 2015, S. 119) bezieht. Von diesem Begriff ist der Begriff der Erzählsituation abzugrenzen, welcher zusätzlich ambivalent belegt ist: Er meint in der Narratologie die Vermittlungsform des Erzählens (vgl. Martínez und Scheffel 2012, S. 210), „bezieht sich auf Erzähltexte, gleich welcher Art“ (Krah 2015, S. 118). In der empirischen Sozialforschung meint er aber mitunter genau jene Interviewsituation zum Zeitpunkt des Gesprächs, wird also in der übergeordneten, allgemeinen Bedeutung verwendet. Ich verwende den Begriff der Erzählsituation im narratologischen Sinne. Für die (Vermittlungs-)Situation im Feld werde ich wie gesagt den Begriff der Interviewsituation verwenden. 122
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Forschungskonzeption – zum empirischen Hintergrund und methodischen Ansatz der Arbeit
sprachbiografisch-linguistischer Richtung vorgeschlagene Dreiteilung von erlebter Geschichte, erinnerter Geschichte und erzählter Geschichte aufgegriffen:129 Faktuale Grundlage bildet die erlebte Geschichte, die als Gegenstand des Erinnerns kognitiv präsent ist und von sozialen Sinnschemata, Ordnungsstrukturen und gesellschaftlichen Relevanzsetzungen beeinflusst ist. Die erinnerte Geschichte ist das kognitive Produkt des individuell Erlebten, welche sich weitgehend der bewussten Kontrolle entzieht. Unter Rückgriff auf diese wird mit der erzählten Geschichte sprachlich eine kohärenz- und sinnstiftende Erzählung erschaffen. Das Erzählprodukt (a) ist von einer zeitlichen Perspektivierung des Geschehens und von der Verdopplung des Ichs130 gekennzeichnet, weswegen selektive Erfahrungen in die kognitiv aufbereitete Wirklichkeit mit einfließen: „Als erzählendes Ich gibt der Erzähler das damalige Geschehen als Ablauf aus der Erlebnisperspektive wieder, ist aber im Heute seinem damaligen Erkenntnisstand weit voraus und weiß, wie alles gekommen ist.“131 (b) Es entsteht im Kontext einer formalen Rahmung bezogen auf das empirische Setting. Das Setting wissenschaftliches Interview bringt bestimmte soziale Rollen, Verhaltensmuster und Regeln mit sich, die die Erzählproduktion beeinflussen.132 Genannt sei etwa die „Fremdheit der Interaktanten“133, die sich günstig, aber auch ungünstig auf die Erkenntnismöglichkeiten auswirken kann. (c) Es ist außerdem den sozial-kommunikativen (Erzähl-)Bedingungen (Personen, Umgebungen, Stimmungen usw.) angepasst und (d) es wird ausgehend von einer thematischen Rahmung durch vorgegebene Paradigmen (Freundschaft, Medien, Alltag usw.) hervorgebracht. Erzählen in diesem Sinne ist ein kommunikativer Akt, der sowohl von Seiten des Interviewers als auch von Seiten der Gesprächspersonen von bestimmten Annahmen, Wünschen und Erwartungen getragen ist. Inhaltlich weisen die erzählten Geschichten einen faktualen Wirklichkeitsbezug134 auf; sie kennzeichnen sich durch eine unmittel-
Vgl. Tophinke 2002, S. 2 Siehe zur doppelten Zeitperspektive das Kapitel 4.4. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 25. Der Begriff des erzählenden Ichs wird in Kapitel 4.4 erörtert. 132 Für einen Überblick vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 81–86. 133 Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 84, vgl. auch Kruse 2015, S. 298–303. 134 Vgl. Klein und Martínez 2009, S. 2. Christian Klein und Matías Martínez nehmen hier eine wichtige Unterscheidung zwischen den Kategorien fiktiv vs. real und fiktional vs. faktual vor, die ich aufgreifen möchte. Erstere Unterscheidung bezieht sich auf den „ontologischen Status der dargestellten Sachverhalte“ (Klein und Martínez 2009, S. 2), letztere hingegen „bezeichnet einen bestimmten Modus von erzählender Rede“ (Klein und Martínez 2009, S. 2). Vgl. hierzu im Folgenden auch Martínez und Scheffel 2012, S. 11–22. 129 130 131
Das Erzählinterview als Forschungsmethode
bare Referenz auf die konkrete außersprachliche Realität und sind mit dem Geltungsanspruch verbunden, dass sich das Erzählte dort so ereignet hat, wie es wiedergegeben wurde.135 Dies erfolgt dadurch, dass die Jugendlichen den Text als faktual markieren und als Autor, Erzählperson und Figur136 dem Leser zwar nicht die exakte, empirische Evidenz versichern, sich aber wohl um sachliche Richtigkeit, Klarheit und Nachvollziehbarkeit bemühen. Philippe Lejeune spricht diesbezüglich auch vom „Autobiographischen Pakt“ als charakterisierende Übereinkunft zwischen Autor und Rezipient.137 Der Erkenntnisstatus des Textes führt also nicht dazu, dass dieser seinen Anspruch verliert, auf selbst erlebte, faktische Gegebenheiten zu referenzieren. Er bezieht sich auf eine „intersubjektiv gegebene Wirklichkeit“138, wenngleich die Jugendlichen (bewusst oder unbewusst) fiktive Inhalte mittels faktualer Erzählweise einbinden können.139 Relevant ist der fremdreferenzielle Bezug des Textes, dass er also auf eine Wirklichkeit außerhalb der des konkreten Textes bezogen ist.
Vgl. Klein und Martínez 2009, S. 3. An dieser Stelle seien einige Anmerkungen zur grundsätzlichen Verwendung der Begriffe Subjekt, Individuum, Person und Figur gegeben, die alle im Rahmen dieser Arbeit Verwendung finden werden. Geht es um diejenige Entität, die sich – in Anlehnung an Michel Foucault – durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis konstituiert, so werde ich vom Subjekt (philosophische Perspektive) bzw. vom Individuum (sozialwissenschaftliche Perspektive) sprechen. Der Begriff der Figur wird in einem narratologischen Sinne gebraucht, nämlich wenn es im erzähltheoretischen Sinne um eine ontologisch unvollständige Entität innerhalb erzählter Welten geht, mit welcher ein Anspruch auf Generalisierung verbunden ist und die von einem Menschen unserer realen Lebenswelt zu unterscheiden ist (vgl. Martínez und Scheffel 2012, S. 210 f.). Auf den Begriff der Person greife ich zurück, sobald eine Existenz in der außermedialen, ontologischen Wirklichkeit beansprucht wird – auch wenn hier narratologisch betrachtet ebenso von einer Figur gesprochen werden könnte (da die Personen zugleich Handlungsträger innerhalb einer erzählten Welt und damit Figuren sind). Die Figuren, von welchen die Gesprächspartner im Interview erzählen, werden damit als Personen behandelt, um den Verweis auf einen tatsächlichen, empirisch existierenden Menschen in den Vordergrund zu rücken. 137 Vgl. Lejeune 1994. 138 Klein und Martínez 2009, S. 1. 139 Dies ist natürlich nicht der Idealfall, von dem ich forschungsethisch auch weder ausgehen will noch werde. Vermutlich wird der propositionale Gehalt des Textes fiktive Inhalte aufweisen, wie zum Beispiel Ulric Neisser gezeigt hat: Mit zum Beispiel Berichten von anderen über uns (ein Beispiel wären Geschichten der Eltern über das Verhalten in der Kindheit) enthalten autobiografische Erzählungen typischerweise vielfältige Bestandteile, die sowohl über das eigene Erinnerungsvermögen als auch über das Selbsterlebte hinausgehen (vgl. Neisser 1988, S. 386). 135 136
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
4.1
Das einführende Textbeispiel
Es wurde deutlich, dass spontanes und intuitives Erzählen von Selbsterlebtem eine Reihe an Vorzügen mit sich bringt, die gerade bei den Forschungsfragen dieser Arbeit zum Tragen kommen. Gezeigt wurde aber auch, dass die Jugendlichen beim Erzählen in der Interviewsituation subjektive und kreative Bestandteile miteinfließen lassen. Es stellt sich die Frage nach der Analyse der Texte, wie sie im Erzählinterview entstehen. Welche Aussagen sind möglich, wenn ein wesentliches Merkmal der Texte in ihrem Konstruktcharakter besteht? Welche Auskünfte geben sie und worüber wird etwas ausgesagt? Wie und womit können die inhaltlichen Propositionen adäquat analysiert und interpretiert werden? In dieser Arbeit wird eine narratologisch-semiotische Herangehensweise eingesetzt, die sich u. a. gerade aufgrund ihres spezifischen Verständnisses von Kommunikationssituation und Textprodukt anbietet. Der verwendete Analyseansatz wird in diesem Kapitel mit seinem Begriffsinventar, seinen Beschreibungs- und Analyseinstrumenten vorgestellt und eingeführt. Die Texte werden dabei generell als historisch, kulturell und sozial geprägt angenommen. Um den Zugang zu erleichtern und die Nachvollziehbarkeit zu vereinfachen, werden die gemachten Ausführungen direkt anhand eines Textbeispiels aus den Erzählinterviews exemplifiziert. Hierfür wird das folgende, etwas längere Textbeispiel gegeben: Textbeispiel 1 Leonie (19): Von Freundschaft erzählen 01 02 03 04 05 06 07 08
L: Okay, also worum geht’s jetzt gleich genau? (.) Was muss ich machen (lachen)? I: Ja, also. (.) Baue hier noch kurz das Equipment auf, dass auch alles funktioniert. L: Klar. I: Also, es wird um Freundschaft gehen. Und (ähm) dass du davon was erzählst, also (.), Geschichten, aus dem Alltag, von dir zum Beispiel ???[Rauschen] was du machst, mit Freunden, auch, mit Medien, auf soz/ sozialen Netzwerken zum Beispiel. Sonst, Lebensgeschichte, Kindheit, Jugend. (.) Aber sag
Das einführende Textbeispiel
09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61
ch gleich noch was zu. L: Ok, ja. (.) Also (lachen), Kindheit, was meinst du mit Kindheit, ich bin bin die Älteste von vier Geschwistern,
Mutter alleinerziehend
. Ne, Witz, egal, Freundschaft, kann ich was von erzählen, (.) also, da fällt mir auf jeden Fall was ein. Die Leute sagen, ich quatsch eh viel (hm, hm). I: (Hm, hm) Ja, gut. L: Und Freundschaft, ja, eher so allgemein oder so richtige Freundschaft? I: Generell, also (.), (mmh) wie du das (lachen), =definieren willst sozusagen. L: Ja (hmm).= Ok. I: So, hab’s. ??? [Hintergrundgeräusche] Jetzt kann’s-L: Sehe ich, ja. I: Es kann losgehen. L: Schön, ja (lachen). I: Okay, dann beginnen wir, wie gesagt. Ich würde dich bitten, dich zurückzuerinnern und mir die Geschichte deines Lebens, von Anfang an (ah), zu erzählen. In diesem ersten Teil des Gesprächs werde ich dich dann auch nicht unterbrechen, du kannst frei erzählen und so, wie eines zum anderen gekommen ist. L: =Ja, das (ÄHHH) mach ich. I: Dann, also//= Ich mach mir höchstens ein paar Notizen, falls ich etwas nicht verstanden habe oder so. Später gibt es einen zweiten Teil, da nutze ich das dann, um nachzufragen. L: Ja, hab alles verstanden (husten). I: Gut. L: Also, bin am Dienstag, 27. Februar 1998 auf die Welt gekommen und bin jetzt 19 Jahre alt. (.) Logisch (ÄHHHM). I: Ja. L: Also, ich bin auf die Welt gekommen hier in N-Stadt, und auch hier, also in Kindergarten gegangen und so. (..) Über die Zeit kann ich nichts, nicht viel sagen. Grundschule (.) war auf der Mörike/, Mörikegrundschule, die Zeit. […] Ist glaub nichts Wichtiges passiert, so (ÄHHHM) Kindheit halt Freundschaft war da nur so, Spielkinder-Ebene eben, ist ja klar. (..) I: Okay, ja. L: Freunde hab ich (4) (ähm) da Janina oder Paula zum Beispiel gehabt, weil (.), wohnten in der Nachbarstraße, also jetzt immer noch natürlich, da is man dann zusammen hin, gelaufen, also zu Fuß geht das, die Strecken. (.) Daher war man dann halt auch befreundet, naja (I: mhm). […] I: Ja. L: Dann, Gymnasium-Zeit, fing’s an, als Jugendliche, später, ich sag mal, als man bisschen mobiler war, nicht mehr nur einfach zusammen war (I: mhm), nicht nur spielen, so wie früher (lachen), sondern geredet hat (.), auch so, über das, was so (äh) wichtig ist. (..) I: Okay. L: Also zum Beispiel mit Max, der da mein Nebensitzer wurde, würde ich sagen, mein bester Freund, männlich (.), auch vielleicht insgesamt so. I: (Aha) Okay. L: Ja (äh) er war neu in der Schule, so ham wir uns kennengelernt. I: Er war neu in der Schule? L: Also: Neuer Schultag, so ich war fünfzehn oder so vielleicht, neues Schuljahr, er kam da und dann war so, Klassenlehrerin: „Du sitzt jetzt neben dem!, ich kuck so ??? [vermutlich Gestik]. =Okay I: Ja (lachen).= L: Okay,= sag zu ihr: „Kannst nicht!“, aber dann, ja gut, musst halt, musst ich das eben.
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
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I: Ja. L: Nur (ÄHHH) weil, ich mocht nicht, weil ich// Also bin in der Schule immer gut gewesen, und nun saß er neben mir. (3) Max ist ein guter, sehr guter Freund und er behält Sachen für sich, aber er macht auch Quatsch halt (.), damals, Jungs, wie es eben ist und ich hat bis dahin nur Mädchen neben mir sitzen (.) und (ähm) hat ich irgendwie Angst weil (I: mhm) er war also mein erstes Mal (.), also, also als Nebensitzer ist das gemeint (lachen). I: Ja (lachen). Klar. L: Ja (..). I: Wie ging’s dann weiter? L: […] Aber dann war’s schnell super, weil/ Also in der zweiten Woche oder so (ähm) waren wir gemeinsam auf einem Geburtstag und war’n da, Bowlingbahn. Dann waren dort so grüne Froschmützen, aus Stoff (.), gab’s da halt, für Kinder. Hat sich der dann aufgezogen (lachen), die Mütze, sah total lächerlich aus und er hat sich das aufgesetzt. Dacht ich, kopfschüttel, was eine Quatschbirne ey, =aber dann hat er// Ja, is so oder? I: (lautes Lachen) Ja.= L: Ja (lachen), aber dann hat er ein paar andere auf Geburtstag angemacht, weil sie da jemanden, in der Halle gemobbt oder fertiggemacht ham. Hat er sich für den eingesetzt, (.) also das fand ich super. I: Ja, verstehe ich. (.) (Mhm) L: (4) Okay. I: Okay? L: Jetzt hab ich den Faden wieder gefunden (lachen) (ähm) und von da waren wir befreundet, das war der Beginn (.) und mit ihm konnt ich reden über Zuhause, also meine Mutter hat sich früh von mein Vater getrennt, weil er, also er hat gespielt (I: mmh) und nach einer Zeit, ging das nicht mehr (ÄHHHM). I: (Oh) Nicht schön. L: Tja, er hat das versucht, abzustellen aber bei der ??? Klinikum (äh) gemacht, letzten Therapie so quasi hat er abends dann wieder,
Automaten
, kam nach, kam hier rein, ich war gerade im Bett. Schreit Abends alles zusammen: „Ja, WAAAS, ich weiß, das ist Scheiße aber was soll ich machen?“, er, und meine Mutter =ruhig: I: Ja= L: „Schluss!“, hat die Reißleine gezogen. (.) Daher musst ich später dann, so, auch immer viel machen, weil sie
viel arbeiten
musste, muss. Aber ok, klar is, dass sie’s machen musste, weil’s nicht mehr ging. Und über sowas konnte ich mit ihm dann zum Beispiel reden, ihm das anvertrauen.
Bevor nun die einzelnen Analyseinstrumente eingeführt und anhand von Textbeispiel 1 erläutert werden, seien für einen Überblick und zur besseren Einordnung zunächst einige Anmerkungen zu diesem Textsegment gegeben: Der Text wurde als Beispiel gewählt, da er inhaltlich recht vielschichtig ist: Alle Aspekte, die in diesem Kapitel behandelt werden, können anhand dieses zusammenhängenden Textteils gezeigt werden. Es muss also für die Einführung der Analyseinstrumente und für die Diskussion der relevanten Begriffe in diesem Kapitel nicht zwischen unterschiedlichen Textbeispielen gesprungen werden. Von Vorteil ist außerdem, dass die Erzählerin die Stationen in ihrem lebensgeschichtlichen Teil unmittelbar mit Freundschaft in Verbindung bringt. Explizit wurde zwar (noch) nicht nach Freundschaft gefragt; Leonie war aber im Vorfeld bekannt, dass es im Gespräch um dieses
Das einführende Textbeispiel
Thema gehen würde.1 Mindestens nennt sie eine relevante Freundschaftsbeziehung (Z51–52) und erzählt, wie (Z56–58) und warum (Z86–87) diese entstand. Der Gesamttext lässt sich auf seiner strukturellen Ebene in drei Textsegmente zerlegen: Das erste Textsegment ist metakommunikativ geprägt (Z01–21). Der Sprecher (der als Interviewer auftritt und zugleich Autor dieser Arbeit ist) und die Sprecherin (die in der Rolle der Interviewten bzw. als Erzählerin wirkt) stimmen sich über das bevorstehende Gespräch ab und handeln die Rollenverteilung aus. Auffällig ist, dass die Erzählerin die Ausführungen des Interviewers zum Anlass nimmt, spontan etwas über sich zu erzählen (Z10–13). Ein solches Verhalten ist im Erzählinterview gewissermaßen ein Glücksfall, denn häufiger besteht das Problem darin, Geschichten überhaupt zu generieren. Welche Vielfalt an Semantik sich bereits in diesen wenigen Zeilen artikuliert, wird noch gezeigt werden. Das zweite Textsegment umfasst die Erzählaufforderung des Interviews, welche in der vorbereiteten Formulierung wiedergegeben wird (Z22–29).2 Der Interviewer legt Wert darauf, zu vermitteln, dass die Erzählerin frei erzählen kann und ihr das monologische Rederecht zukommt. Auf die Notwendigkeit dieser Herangehensweise wurde hingewiesen. Das dritte Textsegment umfasst eine lebensgeschichtliche Erzählung (Z32–99). Diese wurde – aus Platzgründen, aber auch der Übersichtlichkeit wegen – an drei Stellen um einige Bestandteile gekürzt (Z37, Z44 und Z72). Die Lebensgeschichte wird zwar insgesamt nur grob wiedergegeben, dafür aber punktuell detailliert. Die Erzählerin gliedert diese anhand ihrer schulischen Laufbahn, wählt als strukturgebendes Paradigma also intuitiv das Merkmal (Aus-)Bildung bzw. Qualifizierung aus. Dies entspricht einem durchaus gängigen Muster Jugendlicher, ihre lebensgeschichtliche Erzählung zu strukturieren. Die Vorgehensweise deutet an, welcher Stellenwert dem Paradigma in unserer Kultur im Allgemeinen und im Jugendalter im Besonderen zukommt: Das strukturgebende Paradigma ist – in Deutschland insbesondere in seiner institutionalisierten Kapitalform! – eine relevante Kategorie für die narrative Identitätsarbeit3 der Subjekte und stellt in der Jugendphase eine zentrale Entwicklungsaufgabe dar.4 Im dritten Textsegment lassen sich drei kurze Binnenerzählungen ausmachen. Diese werden mit einem höheren erzählerischen Auflösungsgrad präsentiert und teils in wörtlicher bzw. dialogischer Rede wiedergegeben. Die Binnenerzählung Neuer Schultag thematisiert das Kennenlernen von Leonie und Max (Z51–67), wobei der Handlungsstrang in der Episode Bowlingbahn (Z72–81) fortgeführt wird. Die dritte
Siehe zur Probandenakquise und Kontaktaufnahme: Kapitel 5.2.1. Die Vorgehensweise im Interview und die Modulation der Erzählaufforderung ist Gegenstand von Kapitel 5.2.1. 3 Das Konzept der narrativen Identität, wie sie in autobiografischen Erzählungen vollzogen wird, wird in Kapitel 4.4 eingeführt. 4 Vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 111 f. 1 2
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
und letzte Binnenerzählung Trennung Eltern handelt von der innerfamiliären Situation der Erzählerin (Z85–99). Die Textsegmente des lebensgeschichtlichen Teils verfügen über verschiedene evaluative sowie reflektive Bestandteile, die in die narrativen Strukturen eingelagert sind (zum Beispiel bei Z81). 4.2
Das semiotische Textverständnis
4.2.1
Zeichen und Textbegriff
Sich einem Erzählinterview semiotisch zu nähern liegt in mehrerer Hinsicht nahe: Das persönliche Gespräch im Interview baut auf einer (natürlichen) Sprache auf, weswegen sich die dortige Kommunikation eines Zeichensystems bedient und sich mittels Zeichen vollzieht.5 Der Interviewtext ist also nicht nur ein materialisierter und empirisch greifbarer (geschriebener) Text, sondern ebenfalls ein Text im semiotischen Sinne,6 der aus Zeichen besteht und als Träger von Bedeutung fungiert. Dies geht auf die Stellvertreter-Funktion von Zeichen zurück: Zeichen sind materielle, sinnlich-wahrnehmbare Objekte der Welt, die nicht für sich stehen, sondern auf etwas anderes verweisen. Sie repräsentieren also etwas anderes, für das sie nur stehen und sie bedeuten etwas, was nicht sie selbst sind.7
Wichtig ist, dass Zeichen keine ontologisch feststehenden Größen darstellen, sondern durch Übereinkunft zustande kommen. Sie konstituieren sich durch Konvention. Diese Konventionen sind im Zeichensystem geregelt. Verstanden werden kann dieses als bewusst oder unbewusst gegebene, soziokulturell variable Gesamtheit von (Kommunikations-)Regeln, die jeder Verwendung von Zeichen zugrunde liegt. Das Zeichensystem bestimmt nicht nur, wie, wann und auf welche Art und Weise Zeichen verwendet werden, sondern regelt in Form von Kodes zugleich, was sie bedeuten.8 Die Bedeutungen, die hervorgerufen, die Vorstellungen, die evoziert werden, sind an das
Ich werde darauf verzichten, hier eine Einführung oder Besprechung der Semiotik – ihrer Grundbegriffe, Disziplinen, Prämissen oder Ansätze – vorzunehmen. Vielmehr werde ich nur auf jene Aspekte eingehen, die im Kontext meiner Arbeit relevant und zur Explikation meines Forschungsansatzes notwendig sind. Einführend sei auf einige Werke verwiesen, auf die ich mit meinem Ansatz insgesamt rekurriere. Für eine prägnante Einführung in die Kommunikation mittels Zeichen vgl. Krah 2013a; speziell zur Mediensemiotik vgl. Decker und Krah 2011, S. 63–91; zur Anwendung der Semiotik in der empirischen Medienforschung vgl. Müller und Grimm 2016, S. 55–116. Mit der Nennung dieser Quellen sei ebenfalls deutlich gemacht, an welcher der – zum Teil signifikant unterschiedlichen – Theorierichtungen der Semiotik ich mich orientiere. Vgl. für eine Übersicht und Diskussion ausf.: Nöth 2000, S. 59–130. 6 Für einen Überblick zum Textbegriff in der Semiotik vgl. allgemein Nöth 2000, S. 391 f. 7 Krah 2013b, S. 36 (Hervorh. i. Orig.). 8 Vgl. Krah 2013a, S. 19 f. 5
Das semiotische Textverständnis
zugrunde liegende Zeichensystem gebunden, welches wiederum historisch und kulturell variabel ist und sozial verhandelt wird.9 Operiert werden kann mit dem Konzept von Signifikant und Signifikat. Der empirisch manifeste Text mit seinen materiell gegebenen Bestandteilen entspricht der Ebene der Signifikanten, den Bedeutungsträgern, während die Signifikate die damit verknüpften Vorstellungen, die Bedeutungen, bezeichnen.10 Zu den Signifikanten gehören in dieser Arbeit natürlich zunächst die schriftsprachlichen Zeichen, d. h. die lesbaren Worte, die transkribiert werden, die Syntagmen, die die Jugendlichen bilden, die Sätze, die sie im Interview äußern. Diese lassen sich mit dem Kode des Zeichensystems der deutschen Sprache dekodieren. Zu den Signifikanten gehören aber auch die stimmlichen Zeichen der Jugendlichen, die mit ihren prosodischen und paraverbalen Bestandteilen gleichermaßen relevant sind. Dabei bildet die Prosodie ein eigenständiges Zeichensystem mit vielfältigen Funktionen.11 Es ist also nicht nur von Bedeutung, was gesagt wird, sondern auch wie dies hervorgebracht wird: ob laut oder leise, langsam oder schnell, flüssig oder stockend gesprochen wird usw. Zu den relevanten Signifikanten gehören schließlich noch die nonverbalen Zeichen, auch wenn jene in dieser Arbeit aufgrund der schriftlichen Transkription der Gesprächsinhalte weniger relevant sind als die erstgenannten Kategorien. Aspekte wie Gestik, Mimik, Blickkontakt oder Körperhaltung werden zwar nicht festgehalten, zu den nonverbalen Zeichen können aber auch Aspekte gezählt werden, die aus dem schriftlichen Text rekonstruierbar sind. Insbesondere ist hier die Nähe bzw. Distanz zum Erzählgegenstand, zu den erzählten Erlebnissen, Personen oder Orten zu nennen.12 Bei den Signifikaten, den transportierten Bedeutungen, muss nun zwischen denotativen und konnotativen Bestandteilen unterschieden werden: Ein Denotat ist die „Kernbedeutung, die einem Begriff kontextunabhängig qua Zeichensystem gegeben und somit im Prinzip lexikonfähig ist.“13 Konnotate sind hingegen „zusätzliche, kontextabhängige Bedeutungen, also Bedeutungen, die vom Sprachbenutzer, der Sprechsituation, vom sprachlichen und situationellen, textinternen und textexternen Kontext abhängen.“14 Diese wichtige Unterscheidung wurde bereits in der Einleitung dieser Arbeit angedeutet: Aufschlussreich sind häufig weniger die denotativen Bedeutungen, wie sie mittels direkter Frageformen gewonnen werden. Aufgrund befragungsseitiger Fehlerquellen15 laufen die Antworten auf direkte Fragen im Interview häufig auf einen
9 Vgl. Lotman 1993, S. 402–419. 10 Vgl. Krah 2013a, S. 17 f. 11 Vgl. hierzu ausf. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 241–245. 12 Auf diesen Aspekt der Perspektive bzw. point of view wird ausf. in Kapitel 4.5 eingegangen. 13 Krah 2015, S. 30. 14 Krah 2015, S. 30. 15 Zu diesen befragungsseitigen Fehlerquellen zählen: Meinungslosigkeit, soziale Erwünschtheit,
Zustimmungstendenz, welchen zum Beispiel durch das freie Erzählen in dieser Arbeit entgegengewirkt wird. Für lebensgeschichtliche Erzählungen gilt, dass diese nicht auf gewohnte Konversationsmuster rekurrieren
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
allgemeinen Konsens und damit auf das Denotat von Zeichen hinaus. Über die subjektive Sichtweise, über individuelle Bedeutungen und Konnotationen, erfährt der Fragende dementsprechend häufig eher wenig. Dies leisten hingegen Frageformen, die auf das intuitive Verständnis hinauslaufen, der Erzählperson gewissermaßen keine Zeit geben, nachzudenken und hörerbezogen zu antworten. Das Textbeispiel 1 enthält hierzu ein anschauliches Beispiel, anhand dessen sich ebenfalls die Funktion von Denotat und Konnotat sehr schön zeigen lässt: Im metakommunikativen Einstieg erkundigt sich die Erzählerin zunächst über Inhalte, Aufgaben und Erwartungen (Z01), welche der Interviewer kurz umreißt (Z05– 09). Die Gesprächsperson muss beim Begriff der „Kindheit“ spontan lachen (Z10), wobei sie den Begriff, als sie ihn sprachlich wiederholt, zusätzlich durch eine Erhöhung der Lautstärke markiert (Z10). Bringt man dies mit den nachfolgenden Ausführungen (Z10–11) in Verbindung, wird auf parasprachlicher Ebene Semantik transportiert: Die Interpretation legt nahe, dass die Erzählerin den vom Interviewer verwendeten Kindheitsbegriff, mit den denotativen und konnotativen Bestandteilen, die er transportiert, für sich selbst relativiert: Zur denotativen Bedeutung von Kindheit gehört typischerweise ein Zeitrahmen, der von der Geburt bis zum Eintritt in die Pubertät reicht. Da die Entwicklungsaufgaben noch nicht erfüllt sind und die Phase entwicklungsbiologisch und -psychologisch in besonderem Maße prägend ist, gilt Kindheit als schützenswert (was auf der sozialen Ebene zum Beispiel durch eine besondere rechtliche Stellung ausgedrückt wird). Kindheit konnotiert typischerweise als Schutzraum, ist mit Fürsorge, Behütung und Sicherheit konnotiert. Diejenige Kindheit, die die Erzählerin hingegen als ihre Erfahrung postuliert, ist eine andere: Ihre eigenen kindheitlichen Erfahrungen verbindet sie mit der Fürsorge für ihre jüngeren Geschwister, was kausal mit der Rolle der alleinerziehenden Mutter korreliert wird (Z11): Kindheit bedeutet(e) für sie die Übernahme von Verantwortung, Belastung und Arbeit (Z96–97). Kindheit ist für die Erzählerin ambivalent belegt: Die verantwortungsvolle Rolle steht im Gegensatz zu dem, was Kindheit in der Normalbedeutung ausmacht. Deutlich wird damit nicht nur, wie Kindheit für Leonie subjektiv konnotiert ist, sondern auch, wie sich die Erzählerin gegenüber der denotativen Bedeutung positioniert: Sie relativiert sie und weist sie zurück; sie begreift sich als eine Person, deren Identität durch die Erfahrungen der Kindheit (mit einem alleinerziehenden Elternteil) geprägt wurde. Eine semiotische Herangehensweise trägt mit ihrem Textverständnis also dazu bei, die Sinnzuschreibungen aus einer subjektiven Sicht rekonstruieren und verstehen zu können. Dies geschieht dadurch, dass über die Konnotationen der Signifikanten im
sollten: „Alles spricht dafür zu unterstellen, daß die Lebenserzählung umso mehr dazu neigt, sich dem offiziellen Modell der offiziellen Selbst-Präsentation […] anzunähern, je mehr man sich den offiziellen Fragen offizieller Befragungen […] nähert, wobei man sich gleichzeitig von den privaten Austauschformen zwischen Bekannten und der dementsprechenden Logik des Vertrauens, die auf diesen geschützten Märkten gilt, entfernt“ (Bourdieu 1990, S. 79).
Das semiotische Textverständnis
gegebenen Textprodukt individuelle Erfahrungen, Assoziationen und Emotionen aufgespürt werden, an welche die interessierenden subjektiven Interpretationen und Deutungen geknüpft sind. Mit der Semiotik wird berücksichtigt und reflektiert, dass Subjekte den Signifikanten nicht mit demselben Sinn verknüpfen und Begriffen die gleiche Bedeutung beimessen, wie es nicht nur quantitative Forschungsdesigns voraussetzen,16 sondern wie es auch in den standardisierten Verfahren der qualitativen Forschung methodologisch impliziert wird.17 4.2.2
Erzählte Welt und Diegese
Das Textbeispiel 1 zeigt also, wie ein semiotisches Textverständnis die Identifikation differenten Sinns ermöglicht und wesentlich unterstützt. Mit der Interaktion zwischen Interviewer und Erzählerin – in welcher sich das spezifische Verständnis von Kindheit überhaupt erst artikuliert – verdeutlicht es weiterhin, inwieweit der Text in einem spezifischen kommunikativen Rahmen entsteht, von den dortigen sozial-kommunikativen Bedingungen abhängt und der Entstehungszeit und -situation gegenüber angepasst ist. Eine semiotische Perspektive geht davon aus, dass der Text historisch als „Dokument seiner Zeit“18 zu sehen und als kulturell und sozial konstruiert zu betrachten ist. Ihm kommt ein eigenständiger Wert zu, da er auf bestimmte Zeichen und Kodes aus einem Zeichensystem rekurriert und hieraus etwas Neues konstruiert.19 Die Kommunikationsformen und -arten, mittels welcher ein Text erzeugt wird, sowie das Setting, in dem er entsteht, sind nicht nur form- und strukturgebend in einer formalen Hinsicht, sie sind auch maßgebend für die jeweiligen Inhalte, die der Text entwirft und eigenständig inszeniert. Der Text „erstellt sich sein eigenes System, seinen eigenen Kode, dieser artikuliert sich durch den Text“.20 Zentral für den semiotischen Text ist daher das Verständnis, dass er ein eigenes Modell (von Welt) entwirft.21 Die Texte der Transkripte22 aus den Erzählinterviews sind in diesem Sinne als modellbildend zu betrachten: Unter Auswahl konkreter Zeichen aus dem Arsenal der sprachlichen Zeichensysteme entwerfen die Jugendlichen ein Modell ihrer Alltags- und Lebenswelt, ihrer biografischen Erlebnisse und persönlichen Erfahrungen, ihrer Lebensgeschichte. Erfasst und beschrieben werden soll dieses Modell mit dem Begriff der erzählten Welt. Angelehnt am narratologischen Begriff der diegese
16 17 18 19 20 21 22
Vgl. Flick 2007, S. 39–55. Vgl. Helfferich 2011, S. 22. Krah 2013a, S. 31. Vgl. Krah 2013a, S. 30 f. Krah 2013a, S. 30. Vgl. Krah 2013a, S. 30 f. oder ähnlich: Decker und Krah 2011, S. 6. Aspekte der Interviewführung und der Transkription sind Gegenstand von Kapitel 5.3.
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
soll darunter das „raumzeitliche Universum der Erzählung“23 verstanden werden. Die Begriffswahl soll akzentuieren, dass der Text (grundsätzlich nicht anders als ein fiktionaler Text in der Literatur) eben eine eigene Welt mit eigenen Ordnungen, eigenen Bedeutungszusammenhängen, Normen und Werten erschafft. Die Welt, die sich im Text des Erzählinterviews artikuliert, ist als eine Wirklichkeitskonstruktion zu verstehen. Diese bringen die Jugendlichen hervor, indem sie von ihren Erlebnissen erzählen. Die Jugendlichen geben Auskunft über Personen und Handlungen, bewerten Situationen und beschreiben Gefühle, nehmen Einordnungen und Interpretationen vor und erklären und rechtfertigen sich gegenüber dem Interviewer.24 4.2.3
Textsorten und Erzählformen
Bei diesen Vorgängen wird die erzählte Welt in Form von Erzählungen, Beschreibungen und Argumentationen realisiert.25 Für die Textsorten, die im Erzählinterview auftreten, sowie für die Erzählformen, die die Gesprächspersonen realisieren, wird die folgende Taxonomie zugrunde gelegt:
Abb. 2 Erzählbegriff26
Genette 2010, S. 289. Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 141. Diese Dreiteilung entspricht dem allgemeinen Einvernehmen in der methodischen Literatur der Interviewforschung. Vgl. Glinka 2003, S. 52 bzw. siehe ausf. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 142–170. Aus forschungsökonomischen Gründen verzichte ich auf eine Diskussion (der Kriterien) der Bestimmung von Textsorten. Zu dieser „schwierigen Problematik“ der (Textsorten-)Linguistik siehe einführend LuciusHoene und Deppermann 2004, S. 142. 26 In Anlehnung an Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 145. Modifiziert durch mich; KET. 23 24 25
Das semiotische Textverständnis
Auf der Ebene des Textkorpus dieser Arbeit, der autobiografischen Gesamterzählung, liegt ein an das schriftsprachliche, stimmliche und nonverbale Zeichensystem gebundener Text vor, der narrative Strukturen aufweisen kann. Hier thematisieren die Jugendlichen ihre Erlebnisse der Vergangenheit, indem sie deren Hergang und Ablauf erzählen. Konstitutiv für das Erzählen ist die diachrone Darstellungsform, die „Temporalisierung der dargestellten Welt“.27 Mit Bezug auf Gerald Prince muss mindestens eine Minimalerzählung vorliegen, um von einer narrativen Struktur – sowie von einer Erzählung sprechen zu können.28 Konstitutiv für den hier verwendeten Erzählbegriff ist also die sprachliche Darstellung von Veränderung in der Zeit.29 Es findet eine Transformation von einem Ausgangszustand hin zu einem Endzustand statt, wobei sich die Zustände in mindestens einem ihrer Merkmale zu unterscheiden haben. In Textbeispiel 1 lassen sich die Minimalbedingungen anhand der ersten und zweiten Binnenerzählung zeigen, welche die soziale Beziehung zu Max behandeln (Z51–81). Die Beziehung transformiert sich im Lauf der Geschichte zu einer freundschaftlichen Beziehung. Es liegen, im Sinne von Gerald Prince, zwei miteinander kontrastierende Zustände vor (auf die genauen Modalitäten wird später noch eingegangen). Von der Textsorte Erzählung abzugrenzen sind Beschreibungen, die dann vorliegen, wenn einzelne Textgrößen mit Eigenschaften und Merkmalen versehen werden, wenn also beschrieben wird, wie die erzählte Welt funktioniert.30 Argumentationen als dritter Bestandteil nehmen Bewertungen oder Begründungen vor.31 Sie beziehen sich auf eine zu abstrahierende, ‚theoretische‘ Ebene und sind auf das kommunikative Setting, auf die Interviewsituation, zurückzuführen. Im Fall von Textbeispiel 1 kann man sagen, dass weite Teile der erzählten Welt in der Textsorte der Erzählung wiedergegeben werden. Allgemein neigt die Erzählerin nicht übermäßig dazu, dargestellte Sachverhalte, eigene Bewertungen und Schlussfolgerungen argumentativ zu plausibilisieren. In der Interaktion muss sie durch den Interviewer nur bedingt geleitet werden; direkte Adressierungen des Interviewers, Reaktionsaufforderungen und metakommunikative Rückversicherungsaktivitäten (wie zum Beispiel bei Z77) sind – insbesondere im Vergleich mit den Interviewtexten anderer Jugendlicher – eher selten. Vereinzelt finden sich Begründungen oder Rechtfertigungen (zum Beispiel bei Z97). Man kann die Erzählerin als eine erzählaffine Ge-
Titzmann 2013b, S. 120 (Hervorh. i. Orig.); ähnlich bei: Klein und Martínez 2009, S. 11. Vgl. zu den Bedingungen für narrative Strukturen in diesem Sinne Titzmann 2013b, S. 121 f., der sich auf Prince 1973 bezieht. Für einen Überblick sowie für eine Diskussion weiterer Ansätze zum Beispiel Grimm 1996, S. 155–179. 29 Vgl. Titzmann 2013b, S. 120–123. 30 Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 160–162. 31 Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 162–170. Mit Blick auf die struktural-semiotische Textanalyse entsprechen Beschreibungen typischerweise der sujetlosen Textschicht, auf deren Grundlage sich Handlung und Ereignishaftigkeit vollzieht (vgl. Lotman 1972, S. 336). Dieser Aspekt wird in Kapitel 4.3.2 behandelt. 27 28
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
sprächsperson einordnen, die im Interview frei und selbstsicher von sich erzählt. Dies ist durchaus nicht immer gegeben, da nicht alle Personen in gleichem Maße souverän mit der (künstlichen) Gesprächssituation eines Erzählinterviews umgehen können. Die dominante Textform stellt im Erzählinterview das Erzählen dar. Bei der sprachlichen Handlung kann nun zwischen den Erzählformen32 der chronikartigen, der berichtenden und der szenisch-episodischen Darstellung unterschieden werden.33 Relevante Kriterien sind u. a. die Nähe zum postulierten Geschehen,34 die Art und Weise der (Re-)Inszenierung oder das Auftreten von wörtlicher Rede und Dialogen:35 So werden bei der chronikartigen Erzählform längere Zeiträume aufzählend und ohne persönliche Involvierung wiedergegeben; eine expressive Darstellung und emotionale Beteiligung fehlt, es wird vielmehr nüchtern über chronologische Abläufe informiert. Im Textbeispiel 1 ist das chronikartige Erzählen ganz zu Beginn des zweiten Textsegments gegeben, als die Erzählerin die Phase beginnend mit ihrer Geburt bis hin zur Grundschulzeit thematisiert (Z32–37). Das Textbeispiel 1 kann hier durchaus als typisch für den Großteil der jugendlichen Erzählerinnen und Erzähler stehen, die gemeinhin dazu tendieren, das Kleinkindalter und die frühe Kindheit aufzählend und ohne narrative Binnenstrukturen mittels der chronikartigen Erzählform wiederzugeben. Auf diesen chronologischen Abschnitt im zweiten Textsegment folgt nun ein berichtender Abschnitt, in dem die Erzählerin zurückblickt und „zusammenfassende und kategorisierende Handlungs- oder Ablaufbeschreibungen“36 liefert (Z38–44). Die eigene Involvierung wird mitgeteilt und sachlich evaluiert, nicht jedoch unmittelbar skizziert, emotional motiviert oder als in einem Höhepunkt kulminierend re-inszeniert. Die Erzählerin berichtet nüchtern und distanziert, wie sich die damaligen Freundschaften aufgrund räumlich-pragmatischer Gegebenheiten konstituierten (Z41–42). Bezogen auf die Rhetorik und die Involviertheit stellt die szenisch-episodische Darstellung das Gegenstück zur berichtenden und chronikartigen Erzählform dar. Kurze Episoden werden detailliert aus der damaligen Handlungsperspektive wiedergegeben, 32 Ich möchte kurz darauf hinweisen, dass das kommunikative Verfahren Erzählen und der Erzählbegriff in diesem Sinne ambivalent belegt sind: Anders als in dieser Arbeit meint Erzählen in der Linguistik auch „eine ganz bestimmte sprachliche Handlung, nämlich die szenisch-episodische Darstellung“ (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 145; Hervorh. durch mich, KET). Analog zur Erzähltheorie von Franz K. Stanzel ist die Frage, ob es sich um einen narrativen Text handelt, also von der Mittelbarkeit des Inhalts abhängig (vgl. Stanzel 2008, S. 18–38). Da diese Arbeit der Perspektive der strukturalen Narratologie folgt, werden hier prinzipiell auch berichtende und chronikartige Darstellungen zu den Erzählungen gezählt. Entscheidend dafür, ob eine narrative Struktur vorliegt, ob eine Erzählung gegeben ist, ist nicht die Darstellungsweise. Es geht, wie oben ausgeführt, um das, was dargestellt wird, der erzählte Inhalt, die Handlung, ist von Belang. Bezogen auf den linguistischen Erzählbegriff wird daher von Erzählformen gesprochen werden. 33 Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 145. 34 Diese Aspekte des point of view und der Perspektive der Erzählung werden detailliert in Kapitel 4.5 behandelt. Generell kann gesagt werden, dass der point of view ausgehend von der chronikartigen über die berichtende bis hin zur szenisch-episodischen Erzählform sukzessive näher zum Geschehen wandert. 35 Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 156 f. 36 Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 156.
Narrative Strukturen, Handlungsverlauf und Ereignishaftigkeit
wofür im Regelfall dramatische und unmittelbar re-inszenierende Stilmittel wie die wörtliche Rede und Dialogisierung verwendet werden. In Textbeispiel 1 nutzt die Erzählerin die Möglichkeiten der szenisch-episodischen Darstellung, um die Trennung von Mutter und Vater darzustellen (Z85–98). Es zeigt sich, welch hohe Bedeutung szenisch-episodischen Elementen bei der Personencharakterisierung zukommt: Die Erzählerin wechselt von der berichtenden Erzählform (Z85–91) spontan in die dialogische Rede (Z92–96), um das anekdotisch erinnerte Erlebnis wiederzugeben. Nach einer kurzen Exposition der relevanten Vorgeschichte (Z88–90) und Nennung zeitlicher (Z91) und räumlicher (Z92) Umstände wird der elterliche Konflikt re-inszeniert (Z92–99). Subtil drückt die Erzählerin mittels raumzeitlicher Deixis – „kam hier rein“ (Z90) – Zugehörigkeiten und Grenzbereiche aus: Abstrahiert vom Einzelfall befinden sich Mutter und Selbst im topologisch Inneren; der Vater, gegenüber dem eine Grenze etabliert ist, hingegen im topologisch Äußeren. Die stimmliche Modulation mit dem Gebrauch emphatisch-expressiver Ausdrücke (Z93) verdeutlicht die emotionale Involviertheit in das szenische Geschehen. Hörerbezogen wird Empathie und Solidarität evoziert und – dies wird im abschließenden evaluativen Teil (Z97–99) nochmals explizit gesagt – Verständnis für die von der Mutter gezogenen Konsequenzen postuliert. Die Vorgehensweise der Erzählerin weist außerdem auf die allgemeine Funktion hin, die Erzählepisoden in der (Alltags-)Kommunikation typischerweise zukommt: Narrative Strukturen werden gerne argumentativ funktionalisiert; sie dienen dazu, etwas exemplarisch zu zeigen, einen Beleg für eine Handlung, Einstellung oder Meinung zu liefern. Erkennen kann man auch, inwieweit Erzählung, Beschreibung und Argumentation einander über- oder untergeordnet sind. Die Textsorten stehen zueinander typischerweise in funktionaler Beziehung und sind im Erzählinterview typischerweise erst in ihrer Synthese bedeutungstragend.37 Wenngleich also das Erzählen die dominante Vermittlungsform darstellt, ergibt sich die erzählte Handlung im Zusammenspiel der genannten Textsorten. Dabei kann, abhängig von Gesprächsperson und Erzählthema, die eine oder die andere Textsorte dominieren. 4.3
Narrative Strukturen, Handlungsverlauf und Ereignishaftigkeit
4.3.1
Die Bedeutung und Funktion der Grenze
Nachdem die notwendigen Grundlagen eines semiotischen Textverständnisses dargelegt wurden, stellt sich die Frage, wie die erzählte Handlung analysiert und modelliert werden kann. Bevor in diesem Kapitel dieser Frage nachgegangen wird, müssen mit
37
Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 172 f.
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
dem Begriffspaar discours und histoire zwei zentrale Begriffe der Narratologie eingeführt werden. Die Art und Weise, wie Erzählungen dargestellt und vermittelt werden, lässt sich mit dem von Gérard Genette stammenden Begriff discours erfassen. Verstanden wird dieser in dieser Arbeit als die Gesamtmenge der semiotischen Mittel, durch die eine Welt bzw. eine Geschichte vermittelt wird: also die Wahl des (sprachlichen oder nicht-sprachlichen) Zeichensystems, des Mediums, der Gattung, der Sprech-/Erzählsituation, der Perspektive, der rhetorischen Mittel, der argumentativen Strategien, usw. […].38
Der discours entspricht in dieser Hinsicht den in Kapitel 4.2.3 beschriebenen Erzählformen; er sagt etwas über die Darstellungsweise der Geschichte aus, nicht jedoch über das Dargestellte, über die Inhalte der präsentierten Geschichten. Dieser Aspekt wird in der französischen Narratologie mit dem Begriff der histoire erfasst.39 Die histoire bezeichnet die „logisch und ggf. chronologisch geordnete Gesamtmenge der Daten, die vom discours transportiert werden“.40 Der discours einer Erzählung, die Darstellungsweise, kann sich unterscheiden, ohne dass sich die histoire, das Dargestellte, unterscheiden muss. Auf der Ebene der histoire vollzieht sich die Handlung der Erzählung, die für die Ergründung der Semantik von Freundschaft primär relevant ist. Es stellt sich die Frage, wie Freundschaft dort identifiziert und einer empirischen Analyse zugänglich gemacht werden kann. In der erzählten Welt handeln die Jugendlichen mit ihrem erzählten Ich in einem räumlich und zeitlich situierten Umfeld, das sie selbst entwerfen: Ihre erzählte Welt ist von bestimmten räumlichen, physischen, sozialen und semantischen Qualitäten gekennzeichnet, welche als Grundordnung die erzählte Welt konstituieren.41 Diese ‚Ordnung‘ der erzählten Welt ist von besonderer Bedeutung, da die jugendlichen Erzählpersonen auf dieser Grundlage das Konzept und die Semantik der Freundschaft entwerfen. Aus semiotischer Sicht muss Freundschaft hier, um als zentrale Größe kommuniziert werden zu können, zunächst ein Zeichen sein. In den empirischen Interviewtexten ist Freundschaft so gesehen ein sekundärer Texteffekt, der sich dadurch ergibt, dass bestimmte Inhalte – Kommunikation, soziale Praktiken, Handlungen, Figuren – mittels Zeichensystemen als freundschaftlich markiert werden.42 Dies bedeu-
Titzmann 2013b, S. 118 f. Für eine Einführung vgl. Krah 2015, S. 80 f. oder Martínez und Scheffel 2012, S. 22–28. Neben der hier skizzierten Bedeutung kann mit histoire auch die Beschreibung der temporalen Struktur einer Erzählung gemeint sein. Vgl. Krah 2015, S. 183. 40 Titzmann 2013b, S. 119 41 Vgl. Krah 2015, S. 186 f. 42 Vgl. zu dieser semiotischen Perspektive Decker und Krah 2011 S. 5 f. oder auch Krah 2015, S. 49 f. 38 39
Narrative Strukturen, Handlungsverlauf und Ereignishaftigkeit
tet wiederum, dass es ebenfalls solche Inhalte geben muss, die nicht freundschaftlich sind, sondern etwas anderes, etwas Abweichendes darstellen. Freundschaft muss sich semantisch von etwas abgrenzen und wird erst durch diese Abgrenzungsleistung als Freundschaft sinnhaft erkennbar. Wäre dies nicht der Fall, wäre Freundschaft inhaltlich-semantisch leer und empirisch nicht greifbar. Ohne die Betrachtung einer (oder mehrerer) Grenze(n) verbliebe Freundschaft in ihrer spezifischen Bedeutung stets abstrakt, da nicht klar wäre, wodurch sich Freundschaft subjektiv als solche konstituiert. Das Textbeispiel 1 liefert eine Reihe solcher subjektiven Grenzziehungen. Direkt ins Auge sticht sicherlich die Beziehung zu Max, anhand welcher die Erzählerin die Grenze, die Freundschaft aus ihrer Sicht konstituiert, explizit macht: In der Episode Bowlingbahn ändert sich die Einstellung des erzählten Ichs gegenüber Max, als sich dieser einer dritten Person gegenüber empathisch zeigt, solidarisch handelt und Hilfe leistet (Z79–81). Mit der vorliegenden Sympathie und Zuneigung ist eine für die Erzählerin als notwendig gesetzte Bedingung für die Anknüpfung einer Freundschaft erfüllt – wenngleich (noch) keine entsteht. Die Kriterien für und Merkmale von Freundschaft, mittels welcher im Text eine solche Grenze aufgebaut wird, sind vielfältig und aus dem Text, aus der Ordnung der erzählten Welt, selbst zu rekonstruieren. Im Text entsteht, hierauf wurde bereits hingewiesen, ein eigenes System, ein eigener Kode, mit welchem er zu entschlüsseln ist.43 Die Grenzen selbst sind dynamisch, sind historisch, kulturell und sozial variabel. Potenziell können damit demografische, kulturelle und soziale Merkmale ebenso freundschaftsrelevant sein wie allgemeine Verhaltensweisen, soziale Rollen oder der Raum des Lebensstils.44 Ob die Merkmale, die im konkreten Text inhaltlich als Grenze funktionalisiert sind, gemäß allgemeinen sozialen oder kulturellen Konventionen etwas mit Freundschaft zu tun haben, mit Freundschaft assoziiert werden, ist dafür nicht von Bedeutung. Entscheidend für die Identifikation von Freundschaft ist, dass eine Grenzziehung erfolgt und als solche im Text sinnhaft erkenn- und rekonstruierbar ist. Die Grenzziehung ist eine subjektive Leistung des Erzählenden, der diesen Text hervorbringt. Eine Stärke des narratologisch-semiotischen Ansatzes besteht damit darin, dass er mittels einer textimmanenten Analyse und Interpretation die subjektive Sinngebung würdigt und die für Freundschaftsbeziehungen charakteristische individuelle Inhalts- und Relevanzsetzung45 ernst nimmt.
43 44 45
Vgl. Krah 2013, S. 30. Vgl. zum „Raum der Lebensstile“ Bourdieu 2014, S. 277. Vgl. Nötzoldt-Linden 1994, S. 26.
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
4.3.2
Die Grenzüberschreitungstheorie nach Jurij M. Lotman
In konkret empirisch-heuristischer Hinsicht muss nun die Frage geklärt werden, mit welchem Begriffs- und Beschreibungsinventar die Ordnung der erzählten Welt erfasst und die Handlung modelliert werden kann. Wie lassen sich freundschaftsrelevante Grenzziehungen identifizieren und die Handlungsverläufe auf der Ebene der histoire beschreiben? In dieser Arbeit wird auf die Raumsemantik von Jurij M. Lotman sowie auf Karl N. Renners weiterführende Überlegungen zu Lotmans Ereigniskonzept zurückgegriffen. Beide Ansätze werden nachfolgend vorgestellt und eingeführt. Für die Beschreibung von Texten nutzt Jurij M. Lotman in seinem Beschreibungsverfahren eine räumliche Metasprache.46 Nach Jurij M. Lotmans kulturanthropologischer Sicht neigen die Menschen einer Kultur dazu, abstrakte Entitäten anhand von räumlichen Merkmalen zu beschreiben. Für sie erweist sich die sprachliche Verwendung räumlicher Begrifflichkeiten als Mittel zur „Deutung der Wirklichkeit“.47 Die räumlichen Begriffe werden um spezifische Konnotate erweitert und geben diese Wirklichkeit sprachlich wieder. Alltägliche Beispiele hierfür sind politische Linksrechts-Schemata oder sozioökonomische Oben-unten-Metaphern, welche die relative Stellung der Individuen in der Gesellschaft topologisch repräsentieren. Ein Text ist so in der Lage, mittels räumlicher Begrifflichkeiten abstrakte Sachverhalte darzustellen.48 Wie bereits skizziert, findet ein sekundärer Bedeutungsaufbau49 statt, indem die primären Zeichen für neue Bedeutungen funktionalisiert werden. Mittels primärer Zeichen wird ein sekundäres System konstituiert. Dieses bildet eine spezifische Weltsicht ab, artikuliert sekundäre Bedeutungen. Es entsteht eine Raumstruktur, die modellhaft die Struktur der Welt abbildet: […] die Struktur des Raumes eines Textes [wird] zum Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt, und die interne Syntagmatik der Elemente innerhalb des Textes – zur Sprache der räumlichen Modellierung.50
Grafisch kann dies in Form eines universellen Raums dargestellt werden, der die erzählte Welt in ihrer Gesamtheit beinhaltet.
Vgl. Lotman 1974, S. 357. Lotman 1993, S. 313. Vgl. Lotman 1993, S. 312. Zum Konzept der sekundären Semiotisierung vgl. Lotman 1993, S. 22–27. Natürlich unterscheidet sich der Text eines Interviews hier von den professionell konstruierten Weltentwürfen innerhalb ‚künstlerischer Texte‘, auf die sich Jurij M. Lotman in erster Linie bezieht. Neben offenkundigen Merkmalen wie der fehlenden poetischen oder ästhetischen Funktion sei insbesondere auf die in Kapitel 3.6.2 skizzierten Aspekte der Wirklichkeitserzählung im Erzählinterview verwiesen. 50 Lotman 1993, S. 312. 46 47 48 49
Narrative Strukturen, Handlungsverlauf und Ereignishaftigkeit
Abb. 3 Die räumliche Struktur der erzählten Welt51
Dieser universelle Raum ist durch eine Grenze in einen Außenraum (AU) und in einen Innenraum (IN) geteilt (siehe linker Teil von Abbildung 3). Durch eine weitere Grenze kann der universelle Raum weiter modifiziert sein und so die bestehenden Grenzen hierarchisieren (siehe rechter Teil von Abbildung 3).52 Das Verhältnis der Elemente kann anhand der Merkmalspaare begrenzt und unbegrenzt sowie offen und geschlossen beschrieben werden: Gegeben ist ein zweidimensionaler Raum. Er ist durch eine Grenze in zwei Teile geteilt, wobei sich in einem Teil eine begrenzte, im anderen Teil eine unbegrenzte Anzahl von Punkten befindet, derart, daß beide zusammen eine universale Menge bilden.53
Im sprachlichen Entwurf der erzählten Welt werden die einzelnen Entitäten nun mit Merkmalen versehen, die die Zugehörigkeit zu bestimmten Räumen festlegen. Diese paradigmatische Strukturierung der erzählten Welt bezeichnet Jurij M. Lotman als semantisches Feld, das sich – im einfachsten Fall – aus zwei komplementären Teilfeldern, den semantischen Räumen, zusammensetzt. Gemeint ist mit einem semantischen Raum die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u. dgl.).54
51 52 53 54
In Anlehnung an Renner 2004, S. 6. Vgl. Lotman 1974, S. 349–353. Lotman 1974, S. 349. Lotman 1993, S. 312.
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
Die für den semantischen Raum gültigen Ordnungsrelationen werden durch eine Grenze voneinander getrennt. Die Grenze markiert damit zwei oppositionelle semantische Räume und stellt das zentrale Strukturmerkmal dar. Die Grenze als wichtigstes Merkmal eines Raums teilt den Raum in zwei disjunkte Teilräume. Ihre wichtigste Eigenschaft ist ihre Unüberschreitbarkeit. Die Art, wie ein Text durch eine solche Grenze aufgeteilt wird, ist eines seiner wesentlichsten Charakteristika. Ob es sich dabei um eine Aufteilung in Freunde und Feinde, Lebende und Tote, Arme und Reiche oder andere handelt, ist an sich gleich. Wichtig ist etwas anderes: die Grenze, die den Raum teilt, muß unüberwindlich sein und die innere Struktur der beiden Teile verschieden.55
In Textbeispiel 1 stechen mit Blick auf den lebensbiografischen Erzählteil zwei für den weiteren Verlauf der Handlung relevante (Teil-)Räume ins Auge: In Z35 beginnt Leonie, von ihrer Kindergarten- und Grundschulzeit zu erzählen, um diese Phase in Z38-Z39 selbst als unbedeutend für Freundschaft zu betonen. Begründet wird dies in einer Reformulierung damit, dass es sich um „Kindheit“ (Z38) handle. Die verwendete Modalpartikel „halt“ weist dabei auf eine implizite Argumentation hin: Es handelt sich um einen generellen Fall, um eine Regel, die verallgemeinert werden kann: Bezogen auf soziale Beziehungen und Freundschaften kommt der Kindheit eine bestimmte Semantik zu, die mit Freundschaft (noch) nichts zu tun hat. Bezogen auf die Modellierung der erzählten Welt von Leonie lassen sich somit die semantischen Räume Kindheit (= sR1) und Jugend (= sR2) unterscheiden (s. Abb. 4). Die Räume sind durch eine Grenze voneinander getrennt, die sich in diesem Fall raumzeitlich konstituiert. Sie ist für die Kinder (die noch älter werden müssen und den Schulübertritt zu leisten haben) und für die älteren Jugendlichen (die biologisch ebenfalls nicht mehr ‚zurück‘ können) zunächst unüberschreitbar. Semantisch-inhaltlich differenzieren sich die Räume anhand räumlich-topografischer und sozialer Merkmale unterschiedlich aus: Der Raum der Kindheit, der sich von den späteren Lebensjahren abgrenzt, wird im Text synekdochisch durch die Grundschule repräsentiert, wo Freundschaft bloßes Zusammensein und Spielen bedeutet. Demgegenüber repräsentiert das Gymnasium den Raum von (älteren) Jugendlichen, den Raum der Jugend, in dem nicht mehr „gespielt“ (Z39), sondern „geredet“ (Z48) wird und Freundschaft für Leonie ihre eigentliche Bedeutung erlangt. Während der sR1 als spielerischer Raum des ungezwungenen Zusammenseins in der Kindheit zu verstehen ist, kann der sR2 als kommunikativer Raum des ernsthaften Umgangs miteinander verstanden werden. Im sR1 konstituieren sich die sozialen Beziehungen aufgrund pragmatischer Konstellationen, aufgrund der gegebenen räumlichen Nähe der Personen (Z41–43), im sR2 aufgrund von Freiwilligkeit und 55
Lotman 1993, S. 327.
Narrative Strukturen, Handlungsverlauf und Ereignishaftigkeit
Abb. 4 Semantische Räume in Leonies erzählter Welt
kommunikativ hergestellter Nähe (Z47–49). Freundschaft, im Sinne von Igor S. Kon als Gefühl emotionaler Verbundenheit verstanden,56 ist damit an den sR2 gebunden. Narrativ ist ein Text nach Jurij M. Lotman dann, wenn dieser ereignishaft ist. Ein Ereignis,57 verstanden als „kleinste unzerlegbare Einheit des Sujetaufbaus“,58 liegt dann vor, wenn eine bestehende semantische Grenze überschritten wird: Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Felds.59
Ein Ereignis besteht für Jurij M. Lotman typischerweise in einer Regelverletzung, mindestens jedoch im Verstoß gegen eine bestehende Norm bzw. in einer gewissen Ungewöhnlichkeit des Ereignisses.60 Ob es sich um eine Abweichung von der Norm im Sinne Jurij M. Lotmans handelt, hängt von der immanenten Ordnung ab, die der
Vgl. Kon 1979, S. 9. Bis zu diesem Punkt der Arbeit habe ich den Ereignisbegriff alltagssprachlich verwendet und nicht näher differenziert. Wenn ich im Folgenden von einem Ereignis spreche, ist damit immer das Ereignis als Grenzüberschreitung im Sinne von Jurij M. Lotman bzw. das Ereignis als Ordnungsverletzung im Sinne von Karl N. Renner (siehe das Kapitel 4.3.3) gemeint. Für Ereignisse, die nicht in diesem struktural-semiotischen, sondern in einem allgemeinsprachlichen Sinne verstanden werden sollen, werde ich fortan den Begriff des Erlebnisses verwenden. 58 Lotman 1993, S. 330. 59 Lotman 1993, S. 332. 60 Vgl. Lotman 1993, S. 333–336. 56 57
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
Text als gültig postuliert. Durch den Eintritt eines Ereignisses wird ein Text zu einem sujethaften Text. Unter sujetlosen Texten sind demgegenüber Texte ohne Ereignisse zu verstehen. Sujetlose Texte bilden durch Hierarchie- und Strukturbeschreibungen sowie durch vorhandene Ordnungssätze und Regeln die Weltordnung des Textes ab. Sujetlose Texte bestimmen also, wie die erzählte Welt der Jugendlichen normalerweise ‚funktioniert‘, während in sujethaften Texten etwas Neues, etwas Ungewöhnliches oder Besonderes geschieht. Karl N. Renner weist darauf hin, dass sujethafte bzw. sujetlose Texte nicht „mit der für die Narrativik zentralen Dichotomie histoire vs. discours gleichgesetzt werden [dürfen]“.61 Ein sujethafter Text als Erzählung konstituiert sich durch die Synthese beider Elemente und ergibt sich damit aus der Genese von sowohl diskreten Erzähleinheiten (histoire) als auch aus der Art und Weise der Darstellung (discours). Mit dem Eintritt eines Ereignisses wird der Text sujethaft: Der sujethaltige Text wird auf der Basis der sujetlosen errichtet als dessen Negation. Die Welt ist in Lebende und Tote eingeteilt und eine unüberschreitbare Linie trennt die beiden Teile. Der sujethaltige Text behält dieses Verbot für alle Figuren bei, führt aber eine Figur (oder eine Gruppe) ein, die ihm nicht unterliegt.62
Besteht im Text also eine im Prinzip unüberschreitbare Grenze, die plötzlich überschritten und durch das entstehende Spannungsverhältnis in Frage gestellt wird, ist der Text im Sinne von Jurij M. Lotman ereignishaft. Es lässt sich erst jetzt davon sprechen, dass überhaupt eine Geschichte vermittelt wird, dass der Text im semiotischen Sinne narrativ ist.63 Im Beispiel scheint es so, als erfolge die Grenzüberschreitung automatisch, wäre gewissermaßen durch den biologischen Verlauf und das Erwachsenwerden gegeben. Diskutiert werden kann nun natürlich, ob diese Veränderung tatsächlich als ereignishaft im Sinne Juri M. Lotmans zu werten ist. Immerhin stellt der Übertritt von der Kindheit in die Jugendphase den biologischen Normalfall der außersprachlichen Wirklichkeit dar, was sich, anders als in einem fiktiven Text der Literatur oder Kunst, im Erzählinterview nur schwer anders entwerfen lässt. Wenn Personen also älter werden, wie kann dieser Vorgang im Text ereignishaft sein? Zunächst ist zu sagen, dass es im Text, wie in der Wirklichkeit, Jugendliche – und vielleicht sogar Erwachsene – geben mag, die sich nicht dem biologischen Reifegrad gemäß verhalten. Im konkreten Weltentwurf des Textes können sie nicht dem sR2, sondern trotz ihres Alters dem sR1 zugeordnet sein (und am versuchten Grenzübertritt scheitern). Weiterhin ist nicht gesagt, dass der Grenzübertritt für jede Person obligatorisch ist, da sich die Kategorie
61 62 63
Renner 2004, S. 10. Lotman 1993, S. 338. Vgl. Krah 2015, S. 206.
Narrative Strukturen, Handlungsverlauf und Ereignishaftigkeit
Jugend im Text selbst wiederum durch ihre semantischen Merkmale definiert. Entscheidend ist also nicht jenes Weltbild, welches die außersprachliche Wirklichkeit bereithält, sondern jenes, welches sich durch die semantische Ordnung des Textes artikuliert. Hier wird die Stärke des Ansatzes von Jurij M. Lotman deutlich, da er der subjektiven Sicht des Individuums besondere Bedeutung beimisst: Ein alltäglicher Umstand, ein im Prinzip nicht weiter erwähnenswerter Vorgang (wie die Ontologie des Lebensalters) kann in der Welt des konkreten Texts ereignishaft sein und zur zentralen Variable werden. 4.3.3
Erweiterung der Grenzüberschreitungstheorie durch Karl N. Renner
Freundschaft bezeichnet nicht nur eine soziale Beziehung, sondern, dies wurde gezeigt, meint auch ein Gefühl, eine Form emotionaler Verbundenheit. Die Merkmalszuweisungen sind also nicht notwendigerweise an eine physisch-topografische Größe gebunden. Vielmehr kann Freundschaft – und so natürlich auch viele andere ideologische Kategorien in der erzählten Welt – auch über ihr spezifisch-semantisches, nichträumliches Merkmalsbündel gegeben sein. Freundschaft kann etwas sein, das lediglich ‚gedacht‘ wird, als normatives Konzept existiert, sich durch die gegebenen ideell-unkörperlichen Merkmale konstituiert und definiert. Da die semantischen Räume nach Jurij M. Lotman primär auf physisch-topografische Räume bezogen und an diese gebunden sind und mit dem Ereigniskonzept zudem ein Anspruch auf Narrativität verbunden ist, ergibt sich eine Schwierigkeit: Fände sich im Rahmen einer erzählten Freundschaftswelt kein Aspekt, der zumindest in einer bestimmten Weise als topografische Grenze interpretiert werden könnte, ließe sich kein Ereignis und damit kein Sujetaufbau identifizieren. Der Text wäre nicht ereignishaft und damit nicht-narrativ im struktural-semiotischen Sinne. Um dieser Problematik zu begegnen und der metaphorischen Verwendung der Begriffe Raum und Grenze entgegenzuwirken,64 greift Karl N. Renner in seiner Erweiterung der Grenzüberschreitungstheorie auf den mathematischen Mengenbegriff zurück, der den Raumbegriff ersetzen kann.65 Dadurch wird es möglich, Mengen auf der Grundlage der im Text als semantischer Raum funktionalisierten Größe zu bilden, also auf Grund vielfältiger, nicht zwangsläufig physisch-topografischer Größen. Die Funktion der Grenze übernimmt bei Karl N. Renner die Relation von Menge und Komplementärmenge, welche den Raum – im Lotman’schen Sinne – in zwei erschöpfende Bereiche gliedert.
64 65
Vgl. Renner 2004, S. 5. Vgl. Renner 1983, S. 23.
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
Die folgende Abbildung verdeutlicht dies:
Abb. 5 Menge und Komplementärmenge66
Als Beispiele dafür, dass Merkmalszuweisungen nicht notwendigerweise an eine physisch-topografische Größe gebunden sein müssen, nennt Karl N. Renner selbst soziale Beziehungen sowie nationale und religiöse Identitäten.67 In Textbeispiel 1 operiert die Erzählerin zwar mit räumlichen Kategorien wie „Grundschule“ und „Gymnasium“ (vgl. Abbildung 4), weist diesen jedoch semantische Qualitäten zu, die prinzipiell auch ohne ihr topografisches Substrat existieren können. Abstrahiert man also das Paradigma Freundschaft und löst dieses von seinem topografischen Träger, der schulischen Institution bzw. ihren Räumen, so ergibt sich ein abstrakt-semantischer Raum der Nicht-Freundschaft (= sR1) und der Freundschaft (= sR2). Zur Nicht-Freundschaft gehört zum Beispiel ein infantil-spielerischer Aspekt, zur Freundschaft hingegen die bedeutungsvolle Kommunikation. Dass es sich anbietet, mit einer abstrakt-semantischen anstelle einer räumlich-topografischen Herangehensweise zu arbeiten, verdeutlicht die Episode Bowlingbahn (Z72–81). Mit Karl N. Renners Ansatz wird es möglich, die narrative Struktur der Handlung zu erfassen, welche sich in jeweils einem einzigen Raum abspielt – und ein zweiter noch nicht einmal impliziert wird (Z73). So ergibt sich in der Episode eine inhaltlich bedeutungsvolle Einstellungsänderung von Leonie (Z81), welche aber nicht mit einem Wechsel des Raums, zum Beispiel des Gebäudes des Bowlingcenters, einhergeht. Treffender als mit der Zugehörigkeit zu einem gegebenen Raum lässt sich die Handlung mit der Zuge-
66 67
Renner 2004, S. 6. Vgl. Renner 2004, S. 5.
Narrative Strukturen, Handlungsverlauf und Ereignishaftigkeit
hörigkeit zu einer Menge geteilter (Verhaltens-)Merkmale (zum Beispiel Rücksichtnahme, Integrität, Hilfsbereitschaft; siehe Z80–81) modellieren. Die Unüberschreitbarkeit der Grenze von Jurij M. Lotman interpretiert Karl N. Renner als Raumbindung, welche die Figuren am Überschreiten der Grenze hindert.68 Die Raumbindung basiert bei Karl N. Renner auf einer Grundordnung aus korrelationsstiftenden Allsätzen (auch Ordnungssätze genannt), die die Raumbindung der Figuren festlegen. Für den abstrakt-semantischen Raum der Freundschaft (sR2), wie er übergreifend in Textbeispiel 1 entworfen wird, ließen sich folgende Ordnungssätze rekonstruieren: Ordnungssatz 1: Zur Freundschaft gehört eine solidarische, empathische Grundhaltung (Z81). Ordnungssatz 2: Innerhalb der Beziehung findet ein ernsthafter Austausch, eine vertrauensvolle Kommunikation statt (Z48). Ordnungssatz 3: Vertrauensvolle Informationen werden in Freundschaftsbeziehungen für sich behalten (Z65). Ordnungssatz 4: usw. Wenn die Figuren im Text diese Ordnungssätze erfüllen, sind sie an den betreffenden Raum gebunden. Es liegt eine Raumbindung der Akteure vor. Auf der Handlungsebene ist dies als konsistenter Zustand zu verstehen, da die Ordnungssätze mit den jeweiligen Situationsbeschreibungen im Text übereinstimmen. Situationsbeschreibungen sind jene zeit-indizierten Sätze, welche die Mengenzugehörigkeit der einzelnen Figuren wiedergeben. Ihnen stehen die Ordnungssätze gegenüber, das sind die Allsätze, die als Korrelat der Grenze die Struktur der dargestellten Welt festlegen. Diese beiden Satztypen haben einen unterschiedlichen Wahrheitsanspruch. Ordnungssätze halten Sachverhalte fest, die immer – oder zumindest in klar definierten Zeitabschnitten – als wahr gelten sollen. Der Wahrheitsanspruch einer Situationsbeschreibung beschränkt sich dagegen auf den jeweiligen Zeitpunkt, an dem die Mengenzugehörigkeit einer Figur erfaßt wurde.69
Die Überschreitbarkeit der Grenze rekonstruiert Karl N. Renner als Verstoß gegen eine postulierte Ordnung: Bestehende Ordnungssätze werden in Frage gestellt bzw. verlieren ihre Gültigkeit, wenn Situationsbeschreibungen nicht (mehr) mit den Ordnungssätzen übereinstimmen: Ein Ereignis liegt immer dann vor, wenn zwischen einer Situationsbeschreibung und einem Ordnungssatz ein Widerspruch entsteht.70
68 69 70
Vgl. Renner 1983, S. 29. Renner 2004, S. 7. Renner 1983, S. 36.
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
Eine Grenzüberschreitung kann damit auf vielfältige Art und Weise erfolgen, etwa als Abweichung von der Norm oder als Regelverletzung. Es ist nicht notwendig, dass hierfür ein bestimmter Raum betreten oder verlassen wird. Auch muss sich die Definition und Gliederung der Mengen nicht an einer bestimmten topografischen Ordnung orientieren; die Zugehörigkeit zu einer Menge kann durch ein Gleichheits- oder Ähnlichkeitsverhältnis bezogen auf ein konstituierendes Paradigma indiziert sein,71 was am oben skizzierten Beispiel Bowlingbahn sehr schön zu erkennen ist. Karl N. Renner unterscheidet drei Varianten der Ereignishaftigkeit, also wie Ordnungsverletzungen zustande kommen können:72 (1) die Grenzüberschreitung, (2) die Berufung in einen anderen Raum und (3) die Änderung der Raumordnung. Bei der Grenzüberschreitung verlässt die Figur den sR A und bewegt sich willentlich oder unwillentlich in einen sRB. Es erfolgt ein Verstoß gegen die Raumbindung der Figuren. Bei der Berufung in einen anderen Raum bewegt sich die Figur zwar nicht in den sRB, entwickelt jedoch Eigenschaften, die gegen die für den sRA gültigen Ordnungssätze verstoßen. Die Disjunktheit des semantischen Raums wird also verletzt, da jene nun streng genommen nicht mehr elementfremd sind. Bei der dritten Variante, bei der Änderung der Raumordnung, findet eine Ordnungsänderung des sRA statt, sodass eine Figur, die sich in diesem Raum befindet, bereits durch ihre Anwesenheit in sRB gegen den (neuen) Ordnungssatz verstößt. Allgemein kann die Figur bei der Veränderung der Raumzugehörigkeit entweder in ihrer Integrität und in ihren Merkmalen unverändert sein (zum Beispiel bei der Grenzüberschreitung); sie kann jedoch auch neue Eigenschaften erhalten und darüber hinaus oppositionelle Merkmale annehmen (zum Beispiel im Falle der Berufung in einen anderen Raum).73 Mit Blick auf den Raum können die zu einem Zeitpunkt gültigen Ordnungssätze bestätigt oder aufgehoben werden. Ereignishaft wäre das Textbeispiel 1 also dann, wenn ein im Text geschildertes Ereignis den postulierten Ordnungssätzen widerspräche. Der Nachvollziehbarkeit wegen sei dies einmal durchgespielt: Indem sich Max im Laufe der in Textbeispiel 1 präsentierten Geschichte als eine Person erweist, mit der man „reden“ kann (Z86), wird er zunächst in den Raum der Freundschaft berufen (siehe die zweite Variante der Ereignishaftigkeit). Max könnte sich nun als eine nicht (mehr) vertrauenswürdige Person erweisen, indem er eine ihm im Vertrauen mitgeteilte Information einer dritten Person gegenüber zugänglich macht und damit die kontextuelle Privatheit der Beziehung verletzt (siehe Ordnungssatz 1). Es läge eine Ordnungsverletzung in Form einer 71 72 73
Vgl. Renner 2004, S. 9 f. Vgl. Renner 2004, S. 11. Vgl. Renner 1983, S. 40 f.
Narrative Strukturen, Handlungsverlauf und Ereignishaftigkeit
Grenzüberschreitung vor, welche die Freundschaftsbeziehung in einen inkonsistenten Zustand überführt. Der mit der ungerechtfertigten Weitergabe der Informationen vorliegende Privatheitsverstoß könnte dazu führen, dass die Freundschaft nun zur Disposition steht: Was mag das für die Freundschaftsbeziehung in der Folge bedeuten? Ausgehend vom Konsistenzprinzip74 zur Organisation von narrativen Strukturen unterscheidet Karl N. Renner nun drei Modalitäten, wie Ordnungsverletzungen behoben werden können.75 In allen Fällen wird die begangene Ordnungsverletzung behoben und ein Gleichgewicht hergestellt, was selbst aber keinem Ereignis im hier konkretisierten Sinne entspricht. Als Ereignisfolgen existieren: (1) die Rückkehr in den Ausgangsraum, (2) das Aufgehen im Gegenraum sowie (3) die Änderung der Raumordnung. Bei der Rückkehr in den Ausgangsraum kann die Figur nach Eindringen in einen fremden Raum (sRB) in den Ausgangsraum (sRA) zurückkehren. Sie ist durch den bestehenden Ordnungssatz nach wie vor an den Ausgangsraum gebunden. Die vorangegangene Verletzung des Ordnungssatzes wird damit behoben. Beim Aufgehen im Gegenraum verbleibt die Figur im fremden Raum sRB, wobei sie die Merkmale dieses Raums annimmt und diejenigen Merkmale verliert, die sie an sR A banden. Der Aufenthalt in sRB verstößt damit nicht mehr gegen die Ordnungssätze von sRA. Bei der Änderung der Raumordnung wird die bestehende Ordnung transformiert: Die Figur verbleibt ebenfalls im fremden Raum sRB, behält jedoch ihre Eigenschaften bei. Die Grundordnung der semantischen Räume verändert sich so, dass die Anwesenheit der Figur nicht mehr mit den Ordnungssätzen in Widerspruch steht. Karl N. Renner spricht diesbezüglich auch von einer „Ordnungstransformation“.76 Entwickelt man den hier konstruierten, hypothetischen Fall aus Textbeispiel 1 weiter, so sind eine Reihe von Handlungsverläufen denkbar: Eine ehrlich gemeinte Entschuldigung von Max könnte dazu führen, dass die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt wird (= Rückkehr in den Ausgangsraum). Möglich wäre aber auch, dass die Freundschaft – vielleicht im Falle eines schwerwiegenden Verstoßes; es dürfte leichtfallen, sich hier etwas vorzustellen – an diesem Ereignis zerbricht (= Aufgehen im Gegenraum). Verständigen sich Leonie und Max über den Status der Freundschaft, wäre es auch möglich, dass sie ihre Beziehung fortan neu definieren und sie auf eine Karl N. Renner bezieht sich hier auf die Gleichgewichtstheorie von Tzvetan Todorov, welche er mit der Grenzüberschreitungstheorie verknüpft. Vgl. hierzu Renner 1983, S. 42: Eine Fabel konstituiert sich dadurch, dass sie durch die Abfolge von Gleichgewicht, Störung der sozialen Ordnung und Wiederherstellung eines (gegebenenfalls neuen) Gleichgewichts eine narrative Struktur organisiert. Diese ist generell in Richtung einer konsistenten Endsituation hin organisiert: Im Laufe der Geschichte werden Inkonsistenzen im Sinne von Widersprüchen zwischen Figuren und semantischen Feldern getilgt. 75 Vgl. Renner 2004, S. 11 f. 76 Renner 2004, S. 14. 74
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
andere Art und Weise praktizieren. Damit wäre es möglich, dass die Kategorie Freundschaft nun etwas anderes bedeutet, ihr im Text andere Ordnungssätze zukommen (= Änderung der Raumordnung). Neben dem Konsistenzprinzip erweitert Karl N. Renner mit der Extrempunktregel die klassische Grenzüberschreitungstheorie um Figurenbewegungen innerhalb eines abgegrenzten semantischen Raums.77 Während mit dem Konsistenzprinzip also die Figurenbewegungen bezogen auf die Grenze zwischen semantischen Räumen erfasst werden, ermöglicht es die Extrempunktregel, Orientierungen und Richtungen der Bewegung innerhalb eines semantischen Raums zu erfassen. Nach Karl N. Renner weisen diese im Regelfall eine innere Ordnung auf: Diese abgegrenzten Räume sind nämlich fast immer ‚binnenstrukturiert‘. Das heißt, in ihnen werden Zusammenhänge entwickelt, die auf irgendwelche ranghöchste Elemente, auf die ‚Extrempunkte‘ hin, ausgerichtet sind. Sei es, daß diese Räume hierarchische Strukturen aufbauen oder daß sie einzelne Elemente als ranghöchste Elemente auszeichnen.78
Ein wesentliches Merkmal der Extrempunkte besteht darin, dass sie als „Brennpunkte des Geschehens“79 fungieren, da in ihnen die erzählte Handlung kulminiert. Die Figuren bewegen sich in Richtung oder entgegen der Richtung eines Extrempunkts, mindestens steht die Bewegungsrichtung aber mit den Extrempunkten im Zusammenhang. Die Bewegungsrichtung der Figur kann sich am Extrempunkt ändern oder aber zum Erliegen kommen, womit der Extrempunkt dem Ende des Handlungsstrangs entspräche. Verfügen Extrempunkte über eine räumliche Struktur, kann auch von Extremräumen gesprochen werden.80 Die Funktion des Extrempunktes kann sowohl ein topologisch hoher als auch ein tiefer oder ein mittlerer Punkt innerhalb der Hierarchie eines semantischen Raums übernehmen.81 Anhand von Textbeispiel 1 kann das Prinzip von Extremraum bzw. Extrempunkt nur bedingt sichtbar gemacht werden, da die im Text gegebenen Informationen für eine notwendige Ausdifferenzierung des sR2 nicht ausreichen. Denkbar wäre aber, dass im Text mehrere Figuren existieren, die sich qualitativ in ihrer Raumbindung unterscheiden. Die Figur mit der stärksten Ausprägung – also der engste Freund, die beste Freundin usw. – könnte dann als Extrempunkt fungieren und den Extrempunkt von sR2, den Kern von Freundschaft, dessen zentrale Bedeutung, im Text synekdochisch repräsentieren. In ähnlicher Weise kann bei der zeitlichen Entwicklung einer Freundschaftsbeziehung mit dem Konzept von Extremraum bzw. Extrempunkt gearbeitet werden.
77 78 79 80 81
Vgl. Renner 2004, S. 12–14. Renner 2004, S. 13 (Hervorh. i. Orig.). Krah 2015, S. 224 (Hervorh. i. Orig.). Vgl. Krah 2015, S. 197 f. Vgl. Renner 2004, S. 13 f.
Narrative Identität und Positionierung
Abschließend sei nun noch auf die Frage eingegangen, mittels welcher Kriterien die Relevanz eines Ereignisses bestimmt und bestehende Ereignisse hierarchisiert werden können. Zur Unterscheidung des Ereignisrangs nennt Michael Titzmann mit den Merkmalen der Wahrscheinlichkeit, der (Un-)Möglichkeit, der (Ir-)Reversibilität, der Ranghöhe sowie der Unterscheidung zwischen normalem Ereignis und Meta-Ereignis82 fünf Kriterien für die Hierarchisierung von Ereignissen.83 Hans Krah weist darauf hin, dass sich der Rang eines Ereignisses aus der Relation zu anderen Ereignissen ergibt und – wie die jeweiligen Bewertungskategorien für den Ereignisrang selbst – aus dem Text zu rekonstruieren und damit relativ ist.84 Die Herangehensweise entspricht damit dem innerhalb der qualitativen Forschung mit Erzählinterviews gängigen Ansatz, bei der Festlegung der Relevanz von Erlebnissen auf Kriterien zurückzugreifen, die die subjektive Bedeutsamkeit für die Erzählperson markieren.85 4.4
Narrative Identität und Positionierung
Mit der Einführung des narratologisch-semiotischen Begriffs- und Beschreibungsinventars und der Vorstellung der Raumsemantik wurden die wesentlichen Grundlagen für die Beschreibung der erzählten Welt und die Analyse der Handlungen der Erzählungen gegeben. Nicht in die Entwicklung des Analysekonzepts dieser Arbeit miteinbezogen wurde bisher, dass die jugendlichen Gesprächspersonen in einem spezifischen kommunikativen Setting handeln. Auf diese Besonderheit wurde, zum Beispiel hinsichtlich der Konstruktivität des Textes, bereits hingewiesen. Zum kommunikativen Setting gehört, dass die Jugendlichen gebeten werden, von sich, von ihrer Vergangenheit und von ihren Erlebnissen zu erzählen. Im Erzählinterview liegt eine Ich-Erzählsituation86 bzw. ein extradiegetisch-homodiegetischer Erzähltypus87 vor. Das Erzählinterview resultiert daher in einem Selbstbezug, den die Erzählerinnen und Erzähler vornehmen (müssen). Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann
82 Als Meta-Ereignisse seien in Anlehnung an Jurij M. Lotman jene Ereignisse verstanden, mit welchen sich die semantisch-ideologische Ordnung der erzählten Welt neu konstituiert (also nicht nur eine Grenze zwischen zwei semantischen Räumen überschritten wird). Nach Michael Titzmann kann es bei einem Meta-Ereignis zu einer „Grenzverschiebung“, zu einer „Grenztilgung“ sowie zu einer „Substitution des Systems der semantischen Räume durch ein anderes mit neuen Grenzziehungen“ (Titzmann 2013b, S. 133; Hervorh. i. Orig.) kommen. 83 Vgl. Titzmann 2013b, S. 134. 84 Vgl. Krah 2015, S. 219 f. 85 Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 127 f. Die Parallelen zwischen dem struktural-semiotischen und den in der Sozialwissenschaft etablieren Analyseansätzen des Erzählinterviews sind hier evident: Zum Beispiel ist der Aspekt des Unerwarteten und Außergewöhnlichen ebenfalls ein zentrales heuristisches Kriterium für die subjektive Bedeutsamkeit eines erzählten Sachverhalts. 86 Vgl. Stanzel 2008, S. 271–285. 87 Vgl. Genette 2010, S. 161 f.
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Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
sprechen von narrativer Identitätsarbeit: In einer sozialen Interaktionssituation wird eine autobiografisch determinierte „lokale und pragmatisch situierte Identität“ entworfen.88 Die Erzählpersonen bringen nicht lediglich Identität zum Ausdruck; sie entwickeln, durch die sprach- und situationsgebundene Leistung des Erzählens, im Erzählprozess auch selbst Identität. Diese besondere Form der (Teil-)Identität einer Person ist an das empirische Setting, an das Interview gebunden und den situativen Besonderheiten gegenüber angepasst. Sie hängt zum Beispiel vom personellen Verhältnis zum Interviewer oder von der Stimmung zum Zeitpunkt des Gesprächs ab. Wie kann diese Form der Identitätsarbeit erfasst, beschrieben und sinnvoll in das Analysekonzept dieser Arbeit integriert werden? Geleistet werden soll dies mit dem Konzept narrativer Positionierung. Im Zuge des Erzählens vollzieht sich narrative Identitätsarbeit mittels expliziter und impliziter Positionierungsaktivitäten.89 Diese zeigen die folgende Abbildung 6:
Abb. 6 Narrative Identitätsarbeit im Erzählinterview90
Bei der narrativen Konstruktion von Identität bewegen sich die Jugendlichen in zwei raumzeitlichen Gefügen, in zwei Orientierungszentren ihres Selbst. Als wesentliche Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 55. Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 196. Abbildung in Anlehnung an Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 196–212 sowie Genette 2010, S. 161 f.; ergänzt und erweitert durch mich, KET. 88 89 90
Narrative Identität und Positionierung
Leitdifferenz sei mit Gérard Genette zunächst zwischen der Autorin bzw. dem Autor (als ontologische Person außerhalb des Textes) und der Erzählerin bzw. dem Erzähler (als abstrakte Personen, die die Geschichte ‚produzieren‘) differenziert. Der Begriff Erzählerin bzw. Erzähler wird hier also auch dann verwendet, wenn genau genommen nicht erzählt, sondern textsortenspezifisch beschrieben oder argumentiert wird. Mit Gérard Genette lässt sich weiterhin zwischen der extradiegetischen und der intradiegetischen Ebene unterscheiden.91 Der extradiegetischen und der intradiegetischen Ebene lassen sich wiederum die Begriffe des erzählenden und des erzählten Ichs zuordnen.92 Die extradiegetische Ebene ist die erste Instanz der Erzählung, die außerhalb der erzählten Welt liegt. Es ist die narrative Ebene, in der die Jugendlichen ihre Geschichte präsentieren, die Welt im Hier und Jetzt der Interviewsituation. Im Erzählinterview ist die extradiegetische Ebene derart als textimmanent zu betrachten, dass sie Teil des Transkripts, des Texts ist, welcher vom Interviewer ausgewertet und analytisch aufbereitet wird. Die Erzählerin und der Interviewer sind gleichermaßen die textexmanenten Autoren des realen Interviews als auch die textimmanenten Figuren des empirischen Interviewtranskripts.93 Auf der extradiegetischen Ebene tritt die Erzählperson als erzählendes Ich in Erscheinung, das mit dem Interviewer interagiert, auf diesen reagiert, sich vielleicht rechtfertigt, Sachverhalte erklärt oder (moralisch) argumentiert. Deutlich wird auf dieser Ebene, dass das Erzählinterview einen Interaktionsrahmen darstellt, der von den Grundprinzipien qualitativer Forschung – v. a. vom Prinzip der Fremdheit oder der Aushandlung sozialer Rollen – gekennzeichnet ist.94 Die Positionierungshandlungen der ersten Ebene sind dementsprechend auf diesen Interaktionskontext bezogen: Indem sich Erzählperson und Interviewer auf die jeweils andere Person beziehen, dieser Merkmale, Eigenschaften, Einstellungen oder Verhaltensweisen zuschreiben, nehmen sie eine Fremdpositionierung (FP1) der anderen Person vor. Indem die Erzählperson einen Selbstbezug herstellt, sich auf ihr gegenwärtiges, erzählendes Ich bezieht, nimmt sie eine selbstreferenzielle Positionierung (SrP1) vor. In Textbeispiel 1 sind beide Aspekte zu Beginn des Gesprächs zu erkennen: Indem sich die Erzählerin in Z01 offen nach ihren Aufgaben erkundigt, dabei lacht, keine Unsicherheit oder Nervosität signalisiert, positioniert sie ihr erzählendes Ich implizit als eine neugierige, interessierte und aufgeschlossene Person (SrP1). Dem Interviewer überträgt sie zugleich die Führungsrolle; sie signalisiert ihm, auch durch ihre Antwort
Vgl. Genette 2010, S. 147 f. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die doppelte Zeitperspektive einen konstitutiven Bestandteil des Erzählens darstellt. Diese bedeutet nicht nur eine ‚Verdopplung‘ der Zeit, sondern zugleich eine ‚Verdopplung‘ des Ichs. Vgl. zur doppelten Zeitperspektive ausf. Martínez und Scheffel 2012, S. 123–126. 93 Vgl. dazu den Aspekt der Person bei Genette 2010, S. 158–164. 94 Vgl. exemplarisch Helfferich 2011, S. 130–133. 91 92
99
100
Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
in Z10-Z12, dass ihm die Entscheidung über die Inhalte und den Verlauf des Gesprächs obliegt (FP1). Sie ist bereit, sich nach dem Interviewer zu richten und sich an dessen Forschungsinteresse zu orientieren. In der Folge nimmt sie auf eine abstrakte Entität – „die Leute sagen“ (Z13) – Bezug, um ihr erzählendes Ich als eine offene und kommunikative Person zu positionieren (SrP1). Vielleicht geht es ihr darum, Kompetenz und Fähigkeit zur Kommunikation zu signalisieren und eine positive Grundhaltung gegenüber dem Ereignis Interview anzudeuten. Möglich ist aber auch, dass sie aufgeschlossen und sympathisch wirken möchte – wofür das Lachen spräche! –, um auf diese Art eine positive Einstellung des Interviewers zu bewirken. Als meta-narrative Positionierungen finden diese Handlungen außerhalb der erzählten Welt statt. Da der semiotische Text aber, wie ausgeführt, als ein an die Entstehungssituation gebundenes Artefakt zu verstehen ist, können sie für die Erschließung und für das Verstehen der erzählten Welt ebenso zentral sein wie jene Positionierungen, die innerhalb der erzählten Welt liegen. Die intradiegetische Ebene der Erzählung entspricht jener Welt, die erzählt wird, die in der Interviewsituation konstruiert wird. Die Jugendlichen treten hier als erzähltes Ich der erzählten Welt, als Figur in den Geschichten, als Handlungsträger, in Erscheinung. Die Positionierungshandlungen sind dementsprechend auf die erzählte Welt bezogen. Die Jugendlichen versehen ihr erzähltes Ich mit Eigenschaften und Merkmalen, beschreiben dessen Motive und Gefühle. Sie nehmen narrative Selbstpositionierungen (SP2) des erzählten Ichs von Seiten des erzählenden Ichs vor. In gleicher Weise verfahren sie mit den Figuren der erzählten Welt, welchen sie ebenfalls Identität verleihen, indem sie diese mit Eigenschaften und Merkmalen ausstatten, sie beschreiben, motivieren und semantisieren. Sie nehmen narrative Fremdpositionierungen (FP2) aus der Perspektive des erzählenden Ichs vor. In gleicher Weise kann das erzählte Ich in der erzählten Welt verfahren, indem es den dortigen Figuren bestimmte Eigenschaften und Merkmale zuweist, sie innerhalb der Geschichte semantisiert und sie damit auf eine bestimmte Weise positioniert (FP3). Nimmt das erzählte Ich auf sich selbst Bezug, nimmt es eine selbstreferenzielle Positionierung (SrP3) vor. Ebenso können die Figuren der erzählten Welt sich selbst (FrP3) oder den anderen Figuren Merkmale und Eigenschaften zuweisen und diese semantisieren (FP3). Häufig geschieht dies, wenn sie in Form wörtlicher Rede inszeniert werden. In Textbeispiel 1 ist dies zum Beispiel in Z92–96 zu erkennen. Von dieser intradiegetischen Ebene aus kann eine weitere erzählte Welt konstruiert werden, wenn eine dort situierte, intradiegetische Figur eine Geschichte erzählt. Es handelt sich dann um die metadiegetische Ebene, bei welcher sich die Positionierungshandlungen analog zur intradiegetischen Ebene vollziehen.95 Dieser Aspekt ist in Abbildung 6 – hauptsächlich um die Übersicht zu wahren – ausgespart. Vgl. Genette 2010, S. 147 f. Dieser Sachverhalt gilt theoretisch für alle weiteren narrativen Ebenen der erzählten Welt: „Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächst höheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist“ (S. 148). 95
Perspektive und Point of View
Neben dem methodischen Mehrwert der systematischen Darstellung und analytischen Präzisierung der vielfältigen Zuschreibungs- und Semantisierungsaktivitäten im Interview bestehen die inhaltlichen Vorzüge des Positionierungskonzepts in der Verknüpfung der Orientierungszentren der Jugendlichen: Das Positionierungskonzept ermöglicht es, zeitpunktbezogene narrative Identitäten der Person herauszuarbeiten. Es geht darum, einen einheitlichen und kongruent wirkenden Identitätsentwurf einer Erzählperson in heterogene Identitätsfacetten zerlegen zu können, um Veränderungen im Verlaufe der Zeit sichtbar zu machen, um so den subjektiven Sinn (von Freundschaft) als konstitutiven Bestandteil von Identität textanalytisch aufspüren, nachzeichnen und rekonstruieren zu können. 4.5
Perspektive und Point of View
Im Erzählinterview stehen den Jugendlichen unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung, ihre Geschichten zu präsentieren. Sie können die Sachverhalte aus verschiedenen Perspektiven darstellen und damit auf der Ebene des discours, in der Art und Weise der Darstellung, variieren. So können sie etwa die wörtliche Rede nutzen, um die Figuren der erzählten Welt zu inszenieren, sie dabei stimmlich imitieren und in Dialogen mit ihren Emotionen und Gefühlen stilisieren. Die Jugendlichen können auf solche rhetorischen Mittel aber auch (komplett) verzichten und die Geschichte vielmehr nüchtern und neutral präsentieren, indem sie das Geschehene aus heutiger Sicht wiedergeben. Die beteiligten Affekte und Gefühle können sie – wenn überhaupt – nur erwähnen, statt diese in Form wörtlicher Dialoge dramatisch zu inszenieren. All diese Aspekte der Darstellung werden mit dem Konzept der Perspektive bzw. des point of view erfasst. In der Forschung zu Erzählinterviews besteht Einigkeit darüber, dass der point of view einen wichtigen Analyseaspekt darstellt, um die subjektive Bedeutsamkeit einzelner Themen innerhalb biografischer Episoden zu ergründen.96 Die Konzepte und Taxonomien zum point of view unterscheiden sich in den narratologischen Theorien mitunter erheblich und weichen insbesondere in Bezug auf das verwendete begriffliche Instrumentarium voneinander ab.97 Mit Gérard Genette muss eine Unterscheidung bei der Frage nach der Stimme und dem Modus gemacht werden: Der Aspekt der Stimme wirft die Frage auf, welche Figur den Blickwinkel für die narrative Perspektive liefert, während der Modus die Frage nach der Mittelbarkeit der Darstellung und der Perspektivierung des Erzählten stellt.98 Dabei wird der Modus in Form der Fokalisierung und der Distanz konkretisiert. Die Fokalisierung beschreibt, über welches Wissen die Erzählperson im Vergleich zu den Figuren der Handlung ver96 97 98
Vgl. exemplarisch Grimm und Müller 2016, S. 91–96. Für eine Einführung vgl. Grimm 1996, S. 46–62. Vgl. Genette 2010, S. 119.
101
102
Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
fügt;99 die Distanz hingegen erfasst den Grad der Mittelbarkeit, wie er sich zum Beispiel durch die direkte oder indirekte Rede artikuliert.100 Dies hat u. a. etwas damit zu tun, dass die Erzählpersonen in unterschiedlichem Maße persönlich und emotional in die Darstellung involviert sind.101 Die intuitive Wahl der Perspektive sagt etwas über die Beziehung der Erzählperson zur erzählten Welt aus: Die Jugendlichen drücken hierüber ihre evaluative Haltung zur erzählten Welt, zu den dort situierten Räumen, Figuren und Objekten aus. Auf der Grundlage der gemachten Differenzierung ergibt sich eine viergliedrige Typologie: Tab. 2 Modus und Stimme des point of view102 Modus Stimme
Von innen analysierte Ereignisse
Von außen beobachtete Ereignisse
Der Erzähler kommt in der Handlung als Figur vor
(1) Der Held erzählt die Geschichte
(2) Ein Zeuge erzählt die Geschichte
Der Erzähler kommt in der Handlung nicht als Figur vor
(3) Der allwissende Autor erzählt die Geschichte
(4) Ein außenstehender Autor erzählt die Geschichte
Sofern es sich bei der betreffenden Episode um eine Erzählung von Selbsterlebtem handelt, ist die Erzählperson im Erzählinterview konstitutiv in die Geschichte eingebunden und eine dort handelnde Figur. Den Normalfall im Erzählinterview stellen daher die Fälle (1) und (2) dar.103 Mit Gérard Genette kann hier unterschieden werden, ob die Erlebnisse von einem inneren oder einem äußeren point of view fokussiert sind.104 In beiden Fällen kommt die Erzählperson in der Handlung vor, allerdings wird die Geschichte auf eine unterschiedliche Art und Weise präsentiert: Im Falle von von innen analysierten Ereignissen (innerer point of view; Fall 1) liegt eine involvierende und emotive Perspektive vor, mit welcher die Erzählperson Nähe zum Erlebten aufbaut. Dies geschieht aus dem subjektiven Blickwinkel des erzählten Ichs und dessen innerer Wahrnehmung, indem zum Beispiel Emotionen oder Affekte vermittelt werden.
99 Vgl. Genette 2010, S. 121–124. 100 Vgl. Genette 2010, S. 199–201. 101 Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 38–40. 102 Quelle der Tabelle: Genette 2010, S. 119; leicht modifiziert durch mich, KET. 103 Im pragmatischen Setting des Erzählinterviews nicht möglich ist der Fall (4), da dieser eine Erzähl-
person voraussetzt, die nicht Teil der erzählten Welt ist 104 Bezogen auf den point of view sind hier natürlich auch andere Unterscheidungen in Gebrauch. Lucius-Hoene und Deppermann rekurrieren in ihrem Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews etwa auf die Erzähltheorie von Franz K. Stanzel und unterscheiden dementsprechend zwischen der Außensicht und der Innensicht (vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 136 f.). Da mir Franz K. Stanzels Typologie allerdings aufgrund der fehlenden Unterscheidung von Stimme und Modus analytisch weniger differenziert erscheint, folge ich hier weiterhin Genette.
Kulturelles Wissen und Denksystem
Es kann von einer Erlebensperspektive gesprochen werden.105 Im Falle von von außen beobachteten Ereignissen (äußerer point of view; Fall 2) liegt eine reflektierte und neutrale Perspektive vor, bei welcher die Erzählperson Distanz zum Erlebten aufbaut. Dies geschieht aus einem Blickwinkel, der nicht dem subjektiven Blickwinkel des erzählten Ichs entspricht, sondern einer dritten, vermeintlich objektiven Sicht. Es kann von einer Erfahrungsperspektive gesprochen werden.106 Es gibt Erzählerinnen und Erzähler, die in eine der beiden Richtungen tendieren. Bei den meisten Texten, wie sie im Erzählinterview entstehen, mischen sich Erlebensund Erfahrungsperspektive jedoch miteinander. Auch im Falle von Textbeispiel 1 kann das Verhältnis als ausgewogen bezeichnet werden. Über weite Teile wird von Leonie jedoch auf Wissensbestände der Erzählzeit rekurriert und ein eher neutraler point of view eingenommen. Ihren Entwurf der Freundschaft in der Kindheit leistet die Erzählerin zum Beispiel dadurch, dass sie ihr gegenwärtiges, reflektiertes Verständnis von Kindheit zugrunde legt (Z38–39), nicht aber von Erfahrungen aus ihrer Kindheit erzählt. Die Beziehung zu Janina oder Paula (Z41) wird nicht als eigenständige Erlebensperspektive thematisiert, sondern retrospektiv nur kurz reflektiert. Durch die intuitive Wahl einer mittelbaren Perspektive macht das erzählende Ich deutlich, dass die Beziehung vorwiegend nüchtern interpretiert und tendenziell von geringer emotionaler Bedeutung ist. Das Gegenstück hierzu bildet die narrative Episode Trennung Eltern (Z90–96), welche die Erzählerin aus der Sicht der Erlebensperspektive thematisiert. Durch die Verwendung konkreter raum-zeitlicher Bestimmungen (Z91) und deiktischer Ausdrücke (Z92) wird Unmittelbarkeit suggeriert und auf der Seite des Hörers ein szenisches Geschehen imaginiert. Im dramatischen Modus wird der Konflikt nun stimmlich moduliert (Z91–93), wobei der Gebrauch expressiver Ausdrücke die emotionale Involviertheit der Erzählerin in das Geschehen verdeutlicht (Z93). Hier indiziert die Wahl einer unmittelbaren Perspektive, dass das Geschehen der Erzählerin auch heute noch nahegeht – und für sie von persönlicher Relevanz ist. 4.6
Kulturelles Wissen und Denksystem
Die bisherigen Kapitel haben sich dem Text von Seiten der Darstellung, des discours, oder von Seiten der Handlung, der histoire, gewidmet. Als letzter Punkt soll nun der Aspekt behandelt werden, dass die Texte als Produkte ihrer Zeit zu sehen sind und in einem spezifischen sozialen, kulturellen und historischen Kontext entstehen. Die Texte sind, dies stellen auch Michael Müller und Petra Grimm heraus, an ein sie kontextualisierendes Denksystem gebunden:
105 106
Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 136 f. Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 136 f.
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104
Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
Die kommunikative Situation einer Erzählung findet vor dem Hintergrund eines kontextuellen Systems statt, welches eine Erzählung in größerem oder geringerem Ausmaß als bekannt voraussetzt.107
Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht nur die innerhalb der erzählten Welt gegebenen Strukturen und Qualitäten (oder die Art und Weise, wie diese entworfen werden) für die Analyse und Interpretation der Interviewtexte eine wichtige Rolle spielen. Ebenso sind jene Aspekte miteinzubeziehen, die textextern vorliegen und gewissermaßen als „virtuell gegebene Informationen“108 existieren. Sie sind maßgeblich für das Entstehen und damit auch für das Verstehen des Textes. Um die Bedeutungen der transportierten Informationen verstehen zu können, sind diese Kenntnisse ebenso notwendig wie Kenntnisse der jeweiligen Zeichensysteme und Kodes (worauf eingangs in Kapitel 4.2 eingegangen wurde). Die Signifikanten müssen ebenso mit dem Wissen dieses kontextualisierenden Denksystems entschlüsselt, dekodiert und interpretiert werden. Die relevanten Wissensmengen des Denksystems werden in dieser Arbeit mit Michael Titzmann als kulturelles Wissen verstanden. Unter kulturellem Wissen versteht er die Gesamtmenge aller von den Mitgliedern einer Kultur, das heißt in einer bestimmten Zeitphase Ti (z. B. etwa einer Epoche) in einem bestimmten Raum R j (z. B. deutsches Sprachgebiet und/oder Europa), für wahr gehaltenen Propositionen.109
Der besondere Vorzug des kulturellen Wissens bei Michael Titzmann besteht darin, dass er den Wissensbegriff der Wissenssoziologie mit der Textanalyse nach dem struktural-semiotischen Ansatz verbindet. Mit dem sozialphänomenologischen Zugang dieser Arbeit ist ein wissenssoziologisches Verständnis verbunden; Wissen ist demnach allgemein sozial konstruiert und wie das Denken in der Kultur verhaftet.110 Auch Michael Titzmann versteht das kulturelle Wissen in diesem wissenssoziologischen Sinne. Er rekurriert auf dieselbe epistemische Rechtfertigung wie der allgemeine Wissensvorrat bei Peter L. Berger und Thomas Luckmann.111 Beide Wissensbegriffe verstehen sich als ein integriertes Ganzes verschiedener (allgemeiner, spezialisierter, umstrittener) Wissensmengen, deren Propositionen dann wahr sind, wenn sie kulturell als wahr gelten und innerhalb des Kulturraums keine hinreichenden Zweifel aufkommen, dieses in Frage zu stellen. Bei Peter L. Berger und Thomas Luckmann heißt es hierzu: Müller und Grimm 2016, S. 83 (Hervorh. durch mich, KET). Krah 2015, S. 285. Titzmann 2013a, S. 94 (Hervorh. i. Orig.). Vgl. Berger und Luckmann 2012, S. 43–48. Beide Autoren berufen sich auf die wissenssoziologische Tradition, die mit Max Scheler ihren Ausgangspunkt nahm und von Karl Mannheim fortgeführt und elaboriert wurde. Vgl. Berger und Luckmann 2012, S. 1–20, insb. S. 9 f., sowie Titzmann 2013a, S. 94. 107 108 109 110 111
Kulturelles Wissen und Denksystem
Die Gültigkeit meines Wissens in der und über die Alltagswelt garantiere ich selbst, und garantieren andere sich und mir nur bis auf weiteres, das heißt bis zu dem Augenblick, in dem ein Problem auftaucht, welches nicht im ‚gültigen‘ Sinne gelöst werden kann. Solange mein Wissen befriedigend funktioniert, bin ich im allgemeinen bereit, Zweifel an ihm nicht aufkommen zu lassen.112
Michael Titzmann formuliert die Bedingungen für das Vorliegen von Wissen wie folgt: Wissenselement einer Kultur bzw. einer Gruppe ist eine Proposition p, wenn sie für wahr gehalten wird, unabhängig davon, ob sie wahr ist […]. Ebenso ist es für die Zugehörigkeit einer Aussage p zum kW irrelevant, ob diese Kultur sie sprachlich unter ‚Wissen‘ (‚wir wissen, dass p‘) oder unter ‚Glauben‘ (‚wir glauben, dass p‘) subsumiert.113
Kulturelles Wissen ist damit als propositionales Kollektivwissen zu verstehen, das zum einen von Individualwissen und zum anderen von prozeduralem Wissen – und damit von Können bzw. Fähigkeiten – abzugrenzen ist.114 Epistemisch ist in beiden Fällen entscheidend, was die Jugendlichen für wahr halten bzw. was innerhalb ihrer Alltagswelt kulturell als wahr gilt. Der Wissensvorrat bei Peter L. Berger und Thomas Luckmann ist nach Relevanzen gegliedert und stellt sich nach „Zonen der Vertrautheit und Fremdheit“115 differenziert dar. Die Autoren nennen hier das Rezeptwissen, das sich auf Routinevorrichtungen bezieht, das spezialisierte Wissen, das zum Beispiel das Wissen über den Beruf und die Berufswelt umfasst, sowie das Sonderwissen, das individuell situiert ist.116 Michael Titzmann differenziert demgegenüber wie folgt: Zu unterscheiden ist das allgemeine kW, das von (fast) allen Mitgliedern der Kultur in Ri zu Tj geteilt wird, und das gruppenspezifische KW, das nur Teilmengen der Kulturmitglieder für wahr halten. Teilmengen des KW einer Kultur können etwa alters-, geschlechts-, schicht-, berufs-, religions-, und ideologiespezifisch sein […].117
Mit dem allgemeinen kulturellen Wissen ist das kulturelle Wissen primär auf der Ebene der Alltagswelt zu verorten. Es umfasst in Anlehnung an Peter L. Berger und Thomas Luckmann das für die Teilnahme an der Gesellschaft notwendige Rezeptwissen, das auf Routinevorrichtungen und praktische Zwecke bezogen ist.118 Michael Titzmann spricht diesbezüglich vom „Alltagswissen, das so ziemlich jede(r) zum Überleben in
112 113 114 115 116 117 118
Berger und Luckmann 2012, S. 45. Titzmann 2013a, S. 94 (Hervorh. i. Orig.). Vgl. Titzmann 2013a, S. 99 f. Berger und Luckmann 2012, S. 46. Vgl. Berger und Luckmann 2012, S. 43–45. Titzmann 2013a, S. 94 (Hervorh. i. Orig.). Vgl. Berger und Luckmann 2012, S. 44.
105
106
Die Analyse von Erzählinterviews nach einem narratologisch-semiotischen Ansatz
seiner/ihrer Gesellschaft und in unserer Welt braucht.“119 Auch liegen dort als besonders relevante Teilmenge des kulturellen Wissens die gesellschaftlichen Wert- und Normsetzungen, die Handlungsorientierungen vorgeben und formale Beziehungskontexte formen. Das gruppenspezifische kulturelle Wissen kann demgegenüber im Bereich der Lebenswelt verortet werden. Mit ihren spezialisierten Wissensmengen ist es konstitutiv für zum Beispiel Jugendkulturen oder Jugendszenen, die sich hierüber von der Gesamtgesellschaft abzugrenzen versuchen. Zum gruppenspezifischen kulturellen Wissen kann aber auch jenes zeitgenössische Wissen gezählt werden, das die Jugendlichen in ihrem Freundeskreis teilen. Es macht die dortige Privatheit aus und legt fest, welches Zeichensystem sie teilen, wie sie miteinander interagieren oder sich zu verhalten haben. Die Bedeutung des kulturellen Wissens für die Rekonstruktion von Textsemantik lässt sich an Textbeispiel 1 sehr gut zeigen. In der Episode Neuer Schultag erzählt Leonie, wie sie Max, ihren damaligen Banknachbarn, kennenlernte (Z51–68). Die Erzählerin erwähnt, dass dies ihr „erstes Mal“ gewesen sei (Z67). Als sie daraufhin lachen muss (Z68), ergänzt sie, dass sie den ersten männlichen Nebensitzer meine, was der Interviewer bejaht und nun seinerseits mit einem Lachen quittiert (Z69). Semantik entsteht in diesem Textausschnitt aufgrund einer Reihe von Wissenspropositionen des kulturellen Wissens, auf die sowohl die Interviewerin als auch der Interviewer implizit rekurrieren. Denn im Prinzip ist die gemachte Klarstellung obsolet, da sich die von der Erzählerin intendierte Bedeutung aus dem vorangelagerten Erzählteil ergibt. In Z66–67 erwähnt sie, dass sie bisher nur Nebensitzerinnen hatte. Das ‚erste Mal‘ meint aber nicht nur eine beliebige erste Sache, sondern steht als Topos in unserer Kultur zugleich für den ersten Geschlechtsverkehr einer Person. Wenn jemand also von seinem ‚ersten Mal‘ spricht, so braucht dies häufig keine Explikation, was gemeint ist. Der Topos kann für sich stehen und hat im kulturellen Wissen diese Bedeutung, ungeachtet dessen, was gemeint war. Nun gilt Sexualität weiterhin als ein sehr persönliches, intimes Thema, das typischerweise dem privaten Bereich obliegt und häufig mit einem Gefühl der Scham korreliert. Es wäre daher eher ungewöhnlich, einem fremden Menschen hiervon (unaufgefordert) zu erzählen. Bezieht man diese Aspekte des allgemeinen kulturellen Wissens mit ein, ergibt die Interaktion also Sinn. Als „Kontext-Wissen einer Geschichte“120 sind beide Aspekte Voraussetzung der abgeleiteten Propositionen: Die erste Wissensproposition erklärt hinreichend die Klarstellung der Erzählerin; die letztere verdeutlicht, weshalb beide lachen (müssen). Deutlich wird, dass das kulturelle Wissen nicht nur von Seiten der interviewten Person, bei der Produktion von Bedeutung, wirksam wird, sondern ebenfalls auf der Seite der qualitativ forschenden Person, nämlich bei der Rekonstruktion von Bedeutung, miteinbezogen wird.
119 120
Titzmann 2013a, S. 96. Müller und Grimm 2016, S. 83.
5
Vorgehensweise und Ablauf der Untersuchung
5.1
Der Forschungsstil der grounded theory
Der vorgestellte narratologisch-semiotische Analyseansatz wird methodologisch durch die iterativ-systematische Vorgehensweise der grounded theory nach Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss ergänzt.1 Deren Ansatz besteht in einer empirisch gesättigten Theoriebildung.2 Im Sinne von Jörg Strübing wird die grounded theory nicht als eine konkrete (Auswertungs-)Methode verstanden, sondern als ein „Forschungsstil zur Erarbeitung von in empirischen Daten gegründeten Theorien“.3 In diesem Sinne ist die grounded theory vorrangig ein Vorgehensmodell, das den heuristischen Rahmen für den Forschungsprozess liefert.4 In diesem Sinne werden die Schritte der Datenerhebung, Datenanalyse und Theoriegewinnung nicht als statische und lineare Abfolge verstanden, sondern als ein zyklischer Prozess, bei welchem der empirische Feldzugang mit der Analyse und Interpretation der Daten alterniert.5 Die Vorgehensweise
Vgl. hierzu insgesamt Glaser und Strauss 2006; zum Ablauf insb. S. 45–77. Die Grounded-Theory-Methodologie wurde von Barney Glaser, Anselm Strauss und anderen Vertretern der Biografieanalyse nach der Chicagoer Schule über die Jahre vielfach weiterentwickelt – und Ende der 1990er gar in Richtung eines standardisierten, quantitativ-inhaltsanalytischen Verfahrens modifiziert. Für einen Überblick vgl. einführend Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 190–195; im Detail siehe Strübing 2008, zur Kritik vgl. insb. S. 79–94. Da ich in meiner Arbeit zwar auf die Vorgehensweise der grounded theory rekurriere, nicht jedoch deren Auswertungsverfahren verwende, folge ich den Autoren nur in Bezug auf den Ablauf, die Stichprobenauswahl und die Sättigung. Dies gilt auch für die von mir zitierten Autoren des deutschsprachigen Raums, denen ich inhaltlich folge, da sie einige wichtige Anpassungen und Detaillierungen vorgenommen haben (erwähnt sei die m. E. wichtige Überarbeitung durch Jörg Strübing). 2 Vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 196. 3 Strübing 2008, S. 13 f. (Hervorh. durch mich, KET). 4 Vgl. Strübing 2008, S. 14 f. Vgl. in ähnlicher Weise: Breuer 2010, S. 40 f.; für eine ausführliche Diskussion vgl. Mey und Mruck 2011, S. 11–44. Der Autor und die Autorin plädieren dafür, die grounded theory als eine Art „Forschungsstrategie“ (S. 12) zu verstehen und von einer „Grounded-Theory-Methodologie“ (S. 11–13) zu sprechen. 5 Vgl. Strübing 2008, S. 14. 1
108
Vorgehensweise und Ablauf der Untersuchung
ist bei der grounded theory also in den analysierten Daten und im Forschungsprozess selbst verankert; die Prozessschritte werden nicht als abgeschlossen verstanden.6 Nach dem Forschungsstil der grounded theory beginnt das Forschungsprojekt mit einer „recht allgemein gehaltenen alltagsweltbezogenen empirischen Fragestellung“.7 Diese wird aufgrund erster im wissenschaftlichen Feld gewonnener Daten, bzw. aufgrund deren Analyse und Interpretation, sowohl inhaltlich als auch methodisch konkretisiert. Im Forschungsprozess ist so eine Ausdifferenzierung, eine Spezifizierung oder eine Konkretisierung des Forschungsinteresses möglich.8 Im Falle dieser Arbeit lag die geforderte alltagsweltbezogene Fragestellung mit dem Erkenntnisinteresse hinsichtlich der Freundschaft von Jugendlichen im individualisierten und mediatisierten Alltag vor. Aus einer ersten Aufarbeitung der bisherigen Forschungsliteratur ging in inhaltlicher Hinsicht hervor, dass insbesondere die subjektiven Bedeutungsaspekte von Freundschaft als ein Desiderat aufgefasst werden müssen. Dies wurde in Kapitel 2.1 und 2.2 gezeigt. In methodischer Hinsicht ergab sich, dass der sozialwissenschaftliche Zugang von außen erfolgt und primär mit quantitativ-empirischen Verfahren gearbeitet wird, welche die Subjektivität von Freundschaft nicht in den Blick nehmen (können). Dies wurde in Kapitel 3.1 erörtert. Auf dieser Grundlage wurde ein Feldzugang entwickelt, der das subjektive Erfahren und Erleben in einer digitalen Umwelt fokussiert und versucht, über Erzählinterviews einen Zugang zur Bedeutungskonstitution herzustellen. Das Konzept für das Erzählinterview wurde im Rahmen einer Vorstudie entwickelt. Das Ziel der Vorstudie bestand darin, neben Fragen der Gesprächsmodulation zwei verschiedene Interviewansätze zur Generierung eines geeigneten Textkorpus mit narrativer Struktur zu erproben. In qualitativer Hinsicht standen die Potenziale des Ansatzes im Vordergrund, relevante Bedeutungsaspekte von Freundschaft zu evozieren. In quantitativer Hinsicht sollten die Ansätze daraufhin geprüft werden, inwieweit sie dazu geeignet waren, möglichst viele Textpassagen mit narrativer Struktur hervorzubringen. Dabei lag die Überlegung zugrunde, dass es grundsätzlich erstrebenswert ist, ein breit angelegtes Korpus in der Textsorte der Erzählung hervorzubringen. Die Annahme bestand darin, dass gerade die Methoden und Techniken des narratologischsemiotischen Ansatzes sich für die Analyse von narrativen Strukturen als besonders ergiebig erweisen – wenngleich sie natürlich nicht auf diese Textsorte beschränkt sind.9
Vgl. Strübing 2008, S. 14 f. Breuer 2010, S. 51. Vgl. Breuer 2010, S. 54–56. Vgl. bezogen auf die narratologisch-semiotische Analysemethoden Müller und Grimm 2016, S. 153–162; mit Blick auf Narrationsanalysen generell vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 141–170. 6 7 8 9
Das Konzept der Vorstudie
5.2
Das Konzept der Vorstudie
In der Vorstudie wurden ein ganzheitlicher, lebensgeschichtlicher Erzählansatz sowie ein episodischer Erzählansatz im Sinne eines freien Storytellings erprobt. Diese zeigen die folgende Tabelle 3: Tab. 3 Interviewkonzepte der Vorstudie Lebensgeschichtliches Erzählen
Episodisches Erzählen
Herkunft
Angelehnt an die Tradition der biografischen Forschung
Angelehnt an die ethnografische (Gesprächs-)Forschung
Genuine Perspektive
Lebensereignisse und die ‚Rekonstruktion‘ der Biografie
Identitätsdarstellung im Rahmen ‚gelebter Alltagsgeschichten‘
Interaktion im Interview
Primär monologisch; Dyadic scheme of teller-listener
Teilweise dialogisch; Storytelling in-inter-action
Wissenschaftliche Fundierungen
Schütze 1976 und 1983; Glinka 2003; Linde 1993
Quasthoff 2001; Bamberg und Georgakopoulou 2008; Flick 2007
Da der Forschungsstil der grounded theory eine Dokumentation des Forschungsprozesses vorsieht,10 werden die Ansätze nachfolgend kurz vorgestellt (Kapitel 5.2.1 und Kapitel 5.2.2). Im Anschluss werden die Ergebnisse im Hinblick auf die Hauptstudie diskutiert (Kapitel 5.2.3). 5.2.1
Lebensgeschichtliches Erzählen
Der Ansatz des lebensgeschichtlichen Erzählens knüpft am autobiografisch-narrativen Interview in der Tradition der Biografieforschung von Fritz Schütze11 und Jürgen Glinka12 an. Das Interview verläuft in drei Phasen, welche in der Tabelle 4 (linke Spalte) dargestellt sind: Tab. 4 Aufbau und Ablauf der Interviews Lebensgeschichtliches Erzählen
Episodisches Erzählen
Phase 1
Freie Erzählung der Lebensgeschichte
Entwurf freier Netzwerkkarten
Phase 2
Immanente Nachfragephase
Freundschaftsgeschichtliches Erzählen
Phase 3
Exmanente Nachfragephase
Nachfragephase
10 11 12
Vgl. Strübing 2008, S. 13–18 sowie S. 34–36; ausf. vgl. Breuer u. a. 2011, S. 427–436. Siehe Schütze 1976 sowie Schütze 1983. Siehe Glinka 2003.
109
110
Vorgehensweise und Ablauf der Untersuchung
Die Erzählperson wird in einem ersten Schritt gebeten, ihr Leben in Form einer zusammenhängenden, ganzheitlichen und ausführlichen Geschichte wiederzugeben. Die hierfür verwendete Erzählaufforderung wurde in Anlehnung an Fritz Schütze als Stegreiferzählung konzipiert.13 In diesem Sinne wurde sie thematisch nicht weiter eingeschränkt. Das Thema Freundschaft wurde bewusst nicht in die Erzählaufforderung integriert, sondern erst im weiteren Verlauf des Gesprächs eingebracht. Soweit möglich wurde versucht, sicherzustellen, dass sich die Jugendlichen nicht systematisch auf das Thema vorbereiten und sich eingeübte Geschichten zurechtlegen konnten.14 Bei der sprachlichen Formulierung fanden die Empfehlungen von Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann15 sowie von Cornelia Helfferich16 Berücksichtigung. Die Erzählaufforderung lautete: Ich möchte Dich bitten, dich zurückzuerinnern und mir die Geschichte Deines Lebens, so von Anfang an, zu erzählen. In diesem ersten Teil des Gesprächs werde Dich nicht unterbrechen, du kannst frei erzählen, wie nach und nach eines zum anderen gekommen ist. Ich mache mir höchstens für den zweiten Teil ein paar Notizen, falls ich etwas nicht verstanden habe oder noch etwas nachfragen möchte.
Nach Abschluss des lebensbiografischen Erzählteils sollte im Rahmen der immanenten Nachfragephase das „tangentielle Erzählpotential“17 ausgeschöpft werden, indem weitere Erzählungen generiert werden. Das Nachfragen erfolgte in dieser Phase also meist narrativ; die Nachfrageaktivitäten bezogen sich auf die bisherigen Inhalte des Interviews, bauten auf der präsentierten Lebensgeschichte der Jugendlichen auf. Offene Fragen sowie Unklarheiten sollten, soweit möglich, erzählerisch aufgelöst und interessierende Aspekte in Form weiterer Erzählungen detailliert werden. In Anlehnung an Andreas Witzel wurde allgemein zwischen einer erzählgenerierenden und einer verständnisgenerierenden (Frage-)Strategie unterschieden.18 Die Entscheidung, ob die eine oder die andere Strategie im Vordergrund stand, wurde in Anlehnung an die Empfehlungen der methodologischen Literatur19 situativ getroffen. Themen wie
Vgl. Schütze 1984, S. 78–83. Bei der Probanden-Akquise und Kontaktaufnahme wurden der Gegenstand und die Inhalte des Gesprächs – auch aus forschungsethischen Gründen – kurz genannt. Die Jugendlichen erhielten die Information, es ginge „um Dein Leben, um Deinen Alltag und Deine Freunde“. Mit einer groben Skizzierung des Themas folge ich den Empfehlungen der Literatur; vgl. zum Beispiel Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 297–299. Dies erwies sich nicht als problematisch, sondern sogar als förderlich, da die Jugendlichen so in der lebensgeschichtlichen Erzählung häufig bereits von selbst auf das Thema Freundschaft kamen. Sehr schön war dies in Textbeispiel 1 in Kapitel 4.1 zu erkennen. 15 Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 265–270. 16 Vgl. Helfferich 2011, S. 100–114. 17 Schütze 1983, S. 285. 18 Vgl. Witzel 1982, S. 92 f. 19 Vgl. bezogen auf die Strategien der Fragemodulation sowie die Zulässigkeit einzelner Frageformen Helfferich 2011, S. 102–114. 13 14
Das Konzept der Vorstudie
Freundschaft oder Mediennutzung wurden sukzessive eingebracht, falls sie nicht bereits in der ersten Phase durch die Jugendlichen angesprochen wurden. In der letzten Phase, der exmanenten Nachfragephase, wurden durch den Interviewer selbst Themen eingebracht sowie nicht-narrative Fragen gestellt. Inhaltlich waren die Fragen auf die Lebenswelt und den mediatisierten Alltag (zum Beispiel Freundschaftserlebnisse, Freundeskreise, Freundschaftspraktiken und -routinen), auf die Mediennutzug und das Medienhandeln (zum Beispiel Online-Nutzung, Medienpraktiken im Freundeskreis, genutzte Endgeräte) sowie auf normative Fragen (zum Beispiel wichtige Werte oder Eigenschaften von Freunden) bezogen.20 Für das lebensgeschichtliche Interviewkonzept spricht, dass die Erzählpersonen ein monologisches Rederecht besitzen und ihre Lebensgeschichte als zusammenhängende Geschichte hervorbringen. Sie können frei und offen erzählen und die Schwerpunkte selbst wählen.21 Allerdings ist es notwendig, dass sich die Jugendlichen in die Rolle einer Erzählperson begeben: Das Gelingen eines autobiographisch-narrativen Interviews setzt voraus, daß der Informant akzeptiert, sich dem narrativen Strom des Nacherlebens seiner Erfahrungen zu überlassen […].22
Der Erprobung des zweiten Interviewkonzepts, des episodischen Erzählens, lag die Überlegung zugrunde, dass es den Jugendlichen einfacher fallen könnte, von ihrem Alltag und von ihren alltäglichen (Freundschafts-)Erlebnissen zu erzählen, als eine ganzheitliche, lebensgeschichtliche Erzählung hervorzubringen. In der methodischen Literatur wird öfter darauf hingewiesen, dass Kinder und Jugendliche zwar grundsätzlich gerne erzählen,23 die (auto-)biografische Erzählproduktion sie aber auch überfordern kann.24 Abhängig von Thema und Kontext ist bei der Arbeit mit jüngeren Personen der Bedarf nach Strukturierung und Dialogisierung erhöht.25 5.2.2
Episodisches Erzählen
Das zweite Interviewkonzept entsprach daher dem Charakter eines freien Storytellings. Es sollten kleine und nicht notwendigerweise aufeinander bezogene Geschichten zu ausgewählten Freundschaftsbeziehungen, Freundschaftsthemen und alltägliVgl. hierzu im Detail der Gesprächsleitfaden zum Interview in Anhang B, der allerdings im Rahmen der unterschiedlichen Feldzugänge – gemäß dem Forschungsstil der grounded theory – mehrfach überarbeitet und angepasst wurde. 21 Vgl. Glinka 2003, S. 136 f.; Schütze 1983, S. 285. 22 Schütze 1984, S. 78. 23 Siehe Tilemann 2005, S. 294 f. oder Paus-Hasebrink 2005, S. 223 f. 24 Vgl. Krüger 2006, S. 94. 25 Vgl. Helfferich 2011, S. 46; Paus-Hasebrink 2005, S. 224. 20
111
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Vorgehensweise und Ablauf der Untersuchung
chen Erlebnissen erzählt werden. Einen theoretischen Bezugspunkt hierfür bieten die Ansätze des episodischen Erzählens.26 Angelehnt an die ethnografische (Gesprächs-) Forschung steht die Identitätsdarstellung im Rahmen ‚gelebter Alltagsgeschichten‘ im Vordergrund.27 In einem eher interaktiven Gespräch wird versucht, kleinteilig-fragmentarische Storys und alltagsnahe Geschichten hervorzubringen. So soll die „extrem einseitige und künstliche Situation des narrativen Interviews von einem offeneren Dialog abgelöst“28 werden. Das episodische Erzählen bietet verschiedene Möglichkeiten, interaktive Elemente zu integrieren und erzählgenerierende Techniken einzusetzen. In dieser Arbeit wurde das Instrument der freien Netzwerkkarten29 erprobt (vgl. Tabelle 4, rechte Spalte). Dabei erhielten die Jugendlichen zu Beginn des Interviews ein DIN-A4-Blatt, in dessen Mitte ein Kreis mit dem Wort Ich eingezeichnet war. Die Gesprächspersonen wurden geben, ihr persönliches soziales Netzwerk und ihre Freunde aus einer subjektiven Sicht zu visualisieren. Der Stimulus bei Aushändigung des Blattes lautete: Ich möchte Dich bitten, einmal Deine wichtigsten Personen und Freundschaften in Form einer Landkarte aufzuzeichnen. Du kannst Dir so lange Zeit lassen, wie Du möchtest. Die Art und Weise der Darstellung ist Dir überlassen.
Bei den Netzwerkkarten wurde auf standardisierte Elemente (zum Beispiel bestimmte Symbole) oder vorgegebene Strukturen (zum Beispiel konzentrische Kreise, bestimmte Sektoren auf dem Blatt als Orientierung) verzichtet. Das Ziel der offenen Vorgehensweise war es, nicht handlungsleitend einzugreifen, sodass sich die Subjektivität möglichst frei entfalten konnte. Die Netzwerkkarten sollten dezidiert die Funktion eines Erzählstimulus übernehmen: Um ihre Beziehungen zu visualisieren, mussten die Jugendlichen das Paradigma Freundschaft und ihr soziales Netzwerk reflektieren. Dies kann in einem zweiten Schritt, so die Überlegung, dazu genutzt werVgl. für den deutschen Sprachraum das „episodische Interview“ von Uwe Flick: vgl. Flick 2007, S. 238– 246; für den angelsächsischen Sprachraum – in welchem diese Form besonders populär ist – vgl. Bamberg und Georgakopoulou 2008. 27 Insbesondere die angelsächsischen Autorinnen und Autoren rücken die ethnografische Analyse des Erzählens als soziale Praxis in den Mittelpunkt und betonen die Potenziale der Identitätskonstruktion in kleinen narrativen Einheiten von interaktiven Gesprächsstrukturen (vgl. Bamberg und Georgakopoulou 2008, S. 381 f.). Das episodische Interview bei Uwe Flick ist hingegen eher methodologisch motiviert: Es ist eine Synthese aus dem narrativem und problemzentriertem Leitfadeninterview und kombiniert die offene Vorgehensweise des Erzählinterviews mit den standardisierten Elementen von Leitfadeninterviews (vgl. Flick 2007, S. 238 f.). So sollen die Vorzüge beider Interviewformen aufgenommen werden; es entsteht ein Verfahren, „das narrativ-episodisches Wissen über Erzählungen erhebt und analysiert, semantisches Wissen dagegen in konkret-zielgerichteten Fragen zugänglich macht“ (Flick 2007, S. 239). 28 Flick 2007, S. 244 f. 29 Vgl. Straus 2010, S. 529. Ähnlich sind auch die unstrukturierten Netzwerkkarten nach Betina Hollstein und Jürgen Pfeffer konzipiert: vgl. Hollstein und Pfeffer 2010, S. 2 f. Ein sehr prägnantes Anwendungsbeispiel für den Einsatz in der sozialwissenschaftlichen Interviewforschung findet sich in der Untersuchung von Hepp u. a. 2011, S. 306–328 oder bei Scheibelhofer 2006, S. 323–325. 26
Das Konzept der Vorstudie
den, in einer freundschaftsgeschichtlichen Erzählphase ein narratives Textkorpus zu generieren.30 Die materiell gegebenen Netzwerkkarten fungieren dabei als kognitive Stütze, die bei der Erzählperson den Reflexionsprozess anregt und der interviewenden Person die Steuerung des Gesprächsverlaufs erleichtert. Sie sind damit als strukturgebendes Hilfsmittel gedacht, mit ihren visuellen Ergebnissen ausdrücklich aber nicht Ziel der Erhebung.31 Inhaltlich steht die Ergründung subjektiver Bedeutungen im Vordergrund, nicht die Rekonstruktion relationaler Strukturen sozialer Netzwerke oder die Erforschung generischer Netzwerke o. ä. Da die Karten in ihrem Aufbau nicht konsistent sind, entziehen sie sich ohnehin einer vergleichenden Analyse, wie sie zum Beispiel für die formale Netzwerkanalyse charakteristisch wäre. Im Anschluss an die Erstellung wurden die Jugendlichen also gebeten, ihre Freundschaftsbeziehungen in Form einer Geschichte zu erzählen. Die Erzählaufforderung war an die Erzählaufforderung des ersten Interviewansatzes angelehnt, war jedoch nicht auf die gesamte Lebensgeschichte gerichtet. Sie lautete wie folgt: Ich möchte Dich nun bitten, dich zurückzuerinnern mir die Geschichte dieser Freundschaften zu erzählen, also wie nach und nach eins zum anderen gekommen ist, wie ihr euch kennengelernt habt und so weiter. Du kannst dabei die Geschichten der von Dir aufgezeichneten Beziehungen einzeln erzählen oder zusammen, wie Du möchtest. Ich werde Dich dabei nicht unterbrechen, sondern mir nur einige Notizen machen.
Hierauf folgte eine Nachfragephase, die analog zu den Nachfragephasen im ersten Interviewkonzept konzipiert war. Auch hier wurde das Nachfragen situativ flexibel gehandhabt und entweder in Richtung einer Erzählgenerierung oder in Richtung der Verständnisgenerierung moderiert. 5.2.3
Die Resultate der Vorstudie und die Konzeption der Hauptstudie
In der Vorstudie wurden drei Interviews nach dem lebensgeschichtlichen Erzählansatz und zwei Interviews nach dem episodischen Erzählansatz durchgeführt. Es zeigte sich, dass das lebensgeschichtliche Erzählen dem episodischen Erzählen in mehrerlei Hinsicht überlegen war: – Zunächst fiel den jugendlichen Erzählpersonen das Hervorbringen einer ganzheitlichen Lebensgeschichte leichter, als zunächst angenommen wurde. Die Lebensgeschichte fiel zwar meist recht kurz aus, was angesichts des Lebensalters jedoch nicht überraschen durfte. Es war stets möglich, in der imma30 Zu diesem Ansatz siehe insbesondere Seibelhofer 2006, die in ähnlicher Weise für die Erforschung der Lebenssituation und -perspektiven von in die USA eingewanderten Nachwuchswissenschaftlern verfahren ist. 31 Vgl. in diesem Sinne auch die Empfehlungen von Hollstein und Pfeffer 2010, S. 3.
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Vorgehensweise und Ablauf der Untersuchung
–
–
–
32
nenten Phase weitere Erzählungen anzustoßen – wobei sich die Anknüpfung an den lebensbiografischen Stationen, wie sie die Jugendlichen in der ersten Phase entworfen hatten, für sie als gute Orientierungshilfe erwies. Es entstanden damit auch dann Texte mit narrativen Strukturen, wenn die Erzählung der Lebensgeschichte vordergründig scheiterte. Während das Erzählen der Lebensgeschichte die Jugendlichen intuitiv darin zu befähigen schien, sich in die Rolle der Erzählperson zu begeben, führte das Erstellen der Netzwerkkarten teilweise dazu, dass sich das Handlungsschema ‚Erzählen‘ nicht entfalten wollte. Dies resultierte in deskriptiveren Textsorten, da die Gesprächspersonen häufiger in das Beschreiben, Erläutern oder Erklären der zuvor erstellten Netzwerkkarten abglitten und Sachverhalte insgesamt verstärkt analysierten oder bewerteten. Während die Lebensgeschichte in der Regel aus einer Sicht dargeboten wurde, brachten die Jugendlichen die Freundschaftsgeschichten im episodischen Erzählen vielmehr aus einer vergleichenden Perspektive hervor. Es wurde kurz erwogen, die Netzwerkkarten zur Mitte oder gegen Ende des Interviews zu integrieren, was allerdings nur dann sinnvoll gewesen wäre, wenn ein konkretes inhaltsanalytisches Interesse an den egozentrierten Netzwerken der Jugendlichen bestanden hätte. Die Methode egozentrierter Netzwerkkarten resultierte in einer Reihe impliziter Setzungen, die sich in Bezug auf die evozierten Paradigmen von Freundschaft als problematisch erwiesen: So wurde durch die methodisch manifeste Visualisierungsform ein bestimmtes Modell von Freundschaft impliziert; nämlich eines, das sich durch ein graduelles Nähe-Distanz-Paradigma konstituiert. Nach diesem steht das eigene Ich im Zentrum, andere Subjekte sind im Umkreis und bis hin zur Peripherie verortet. Da die Nähe bzw. Entfernung implizit mit der Qualität der Freundschaft korreliert wurde, begannen die Jugendlichen zu begründen, weshalb eine Beziehung ‚besser‘ oder ‚schlechter‘ als eine andere sei. Das Dispositiv Netzwerkkarte beeinflusste ungewollt stark die Struktur der Ergebnisse. Die lebensgeschichtlichen Erzählungen brachten aufgrund ihrer emergenten und sequenziellen Gesamtstruktur ein umfangreicheres Weltmodell hervor. Die Rekonstruktion der erzählten Welt war bei den Texten des episodischen Erzählens erschwert. Die fragmentarischen Strukturen des freundschaftsgeschichtlichen Erzählens führten zu einer Reihe narrativer wie temporaler Nullpositionen,32 die aufgrund des fehlenden lebensbiografischen Gesamtzusammenhangs informatorisch nicht aufgefüllt werden konnten. Es entstanden gewissermaßen ‚Episoden im luftleeren Raum‘, da mit der Lebensgeschichte eine Rahmenerzählung fehlte, die für die Deutung und Interpretation einzel-
Zur Nullposition in diesem Sinne vgl. Titzmann 2013a, S. 87 f.
Das Konzept der Vorstudie
ner Aspekte hilfreich gewesen wäre. Diese ‚Referenzlosigkeit‘ der Episoden erschwerte die Rekonstruktion subjektiven Sinns. Bestätigt werden konnte an dieser Stelle der von den Vertreterinnen und Vertretern der Biografieforschung postulierte Ansatz, stets die komplette Lebensgeschichte zu erfragen, um das Textkorpus nicht künstlich um potenziell (kontext-)relevante Bedeutungsgehalte zu reduzieren.33 Natürlich waren auch Aspekte gegeben, in denen der episodische dem lebensgeschichtlichen Erzählansatz überlegen war: Zum Beispiel gaben die Texte des freundschaftsgeschichtlichen Erzählens einen differenzierten Einblick in den Prozess der Anknüpfung von Freundschaft. Forschungsprojekte, die sich für die Konstitution der Freundschaftsbeziehungen interessieren oder dezidiert nach den Voraussetzungen für das Zustandekommen von Freundschaft fragen, finden hier Anschluss. Für die Rekonstruktion von Semantik aus einer subjektiven Sicht erwiesen sich aber die Textkorpora, wie sie im lebensgeschichtlichen Erzählen entstanden, als tauglicher. Diese brachten eher generische Weltmodelle hervor, ermöglichten die Einordnung in einen lebensbiografischen Gesamtzusammenhang und boten die angesprochenen Potenziale für das Auffüllen informatorischer Nullpositionen. Für die Hauptstudie wurde dementsprechend auf den lebensgeschichtlichen Erzählansatz zurückgegriffen. Aufgrund der in der Vorstudie gemachten Erfahrungen wurde die Gesprächsmodulation reflektiert sowie der Leitfaden und die Erzählaufforderung überarbeitet und optimiert.34 Beispielsweise wurde in der Hauptstudie nicht mehr nach „zentralen Ereignissen“ oder nach „wichtigen Freundschaften“ gefragt. Die sprachliche Orientierung am ‚Wichtigen‘ enthielt die Präsupposition einer Vorrangigkeit, mit welcher impliziert wurde, es gäbe wichtigere und weniger wichtige Freundschaftsbeziehungen. Die Frage forderte die Jugendlichen zu einer Evaluierung und Priorisierung auf. Die Frage nach zentralen Ereignissen suggerierte den Gesprächspersonen indes, dass von ihnen etwas Besonderes, etwas Wichtiges oder etwas Außergewöhnliches erwartet wurde, was partiell Unsicherheit oder Gehemmtheit evozierte. Für die Hauptstudie wurde der Leitfaden daher nochmals auf solche Präsuppositionen überprüft. Bei den nicht vorbereiteten Fragestellungen wurde versucht, soweit möglich auf Implikationen zu verzichten.35 Insgesamt wurde der Leitfaden bewusst nur wenig strukturiert, um den Gesprächspersonen nicht implizit die Erwartungen und Vorstellungen des Forschenden in Form vorbereiteter Fragen zu präsupponieren.36 Weiterhin wurden Strategien für den Umgang mit einer geringen Erzählwilligkeit entwickelt. Die Vorstudie hat zum Beispiel gezeigt, dass viele Jugendliche glauben, 33 34 35 36
Vgl. in diesem Sinne zum Beispiel Rosenthal 1995, S. 187–190 oder Schütze 1983, S. 283 f. Siehe Anhang B. Zur Problematik von Präsuppositionen vgl. Helfferich 2011, S. 102 f. Vgl. diesbezüglich zur generellen Kritik an strukturierten Interviews auch Girtler 2001, S. 155 f.
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116
Vorgehensweise und Ablauf der Untersuchung
es gäbe über ihre Freundschaften nichts Besonderes zu berichten oder das Alltägliche sei allgemein nicht erzählwürdig oder erwähnenswert. Einige der potenziellen Fragen wurden daher um den Aspekt der Alltagsrelevanz erweitert.37 Obschon in der Hauptstudie auf den lebensgeschichtlichen Erzählansatz zurückgegriffen wurde, wurde der freundschaftsgeschichtliche Erzählstimulus (siehe Kapitel 5.2.2) des episodischen Erzählansatzes nicht verworfen. Vielmehr wurde dieser, da er durchaus zu interessanten Geschichten führte, in die immanente Nachfragephase des lebensgeschichtlichen Erzählansatzes integriert. Ob eine Gesprächsperson gebeten wurde, jene Freundschaftsgeschichte(n) zu erzählen, wurde vom Interviewer situativ flexibel entschieden. Für die Erzählgenerierung konkreter Freundschaftserlebnisse bewährte es sich beim episodischen Erzählen außerdem, den Gesprächspersonen einige Minuten Zeit zu geben, um sich zu erinnern zu können. Hierfür verließ der Interviewer mitunter den Raum und gab den Jugendlichen einen Zettel, um sich Notizen und Stichpunkte notieren zu können. Dieses methodologische Instrument wurde für die Hauptstudie übernommen und in den lebensgeschichtlichen Ansatz integriert. 5.3
Hauptstudie und Untersuchungsverlauf
5.3.1
Vorgehensweise und Sampling-Prozess
Der Forschungsstil der grounded theory sieht vor, dass die Stichprobe nicht im Vorherein fest definiert, sondern erst im Zuge von Analyse und Modellbildung konkretisiert und begleitend zum Forschungsprozess spezifiziert wird.38 Zu Beginn wird die Stichprobe lediglich grob in Bezug auf das allgemeine Erkenntnisinteresse hin definiert. Hierfür wurden in dieser Arbeit die folgenden Strukturmerkmale angestrebt: – Jugendliche im Alter zwischen 17 und 21 Jahren – Männliche und weibliche Jugendliche möglichst gleich verteilt – Heterogenität bezogen auf die soziale Lebenswelt Mit dem Fokus auf die spät- bzw. nachpubertäre Jugendphase sollte vor allem sichergestellt werden, dass die Jugendlichen bereits gewisse (jugendtypische) Erfahrungen sammeln konnten, die als relevant für Freundschaftsbeziehungen und deren Semantik angenommen wurden. Gemeint sind zum Beispiel die Entwicklungen der Bildungskarriere (Schulaustritt, Berufseintritt, Aufnahme des Studiums), die mit sozialräum37 Siehe im Gesprächsleitfaden (vgl. Anhang B) zum Beispiel die Frage: „Vielleicht möchtest Du mir einmal erzählen, wie so eine typische Woche mit Deinem Freundeskreis aussieht? Mir geht es um das ganz normale in Eurem Alltag.“ 38 Vgl. Breuer 2010, S. 58.
Hauptstudie und Untersuchungsverlauf
lichen Veränderungen (Verlassen des Elternhauses, Wechsel des Wohnortes) korrespondieren. Auch auf juristischer (zum Beispiel Volljährigkeit), sozioökonomischer (zum Beispiel finanzielle Selbstständigkeit) oder lebensweltlicher (zum Beispiel Wechsel des Freundeskreises, partnerschaftliche Beziehungen, Konflikte in Freundschaften) Ebene lassen sich eine Reihe potenziell relevanter Aspekte identifizieren, die durch die gewählte Altersstruktur erfasst werden können. Verschiebungen bei der Semantik von Freundschaft können so im Lebensverlauf sichtbar gemacht werden. Um die Bandbreite potenzieller Semantiken von Freundschaft erfassen und das empirische Feld zumindest näherungsweise in seiner Gesamtheit abbilden zu können, wurde auf eine Gleichverteilung beim Merkmal Geschlecht sowie auf eine Vielfalt bei der sozialen Lebenswelt der Jugendlichen geachtet. Letzterer Aspekt wurde, wie weiter unten noch gezeigt werden wird, über die formelle Bildung bzw. den angestrebten Bildungsabschluss geleistet. Die drei bereits durchgeführten Interviews der Vorstudie nach dem lebensgeschichtlichen Ansatz wurden als erster Teil der Stichprobe behandelt und regulär ausgewertet (= erste Feldphase, vgl. Tabelle 5). Die drei Gespräche nach dem Ansatz des episodischen Erzählens wurden, um ein kongruentes Textkorpus sowie einen identischen methodischen Ansatz sicherzustellen, nicht in die Stichprobe inkludiert. Nach der grounded theory basiert die Auswahl der jeweils nächsten Samplingeinheiten auf den bisherigen Fällen und orientiert sich an dem bis zu diesem Zeitpunkt erarbeiteten Wissen. Neben bekannten Fällen und Zusammenhängen sollten so in den ersten Feldphasen ebenfalls fremde oder rätselhafte Fälle sowie unbekannte Zusammenhänge aufgedeckt werden, die in analytischer Hinsicht interessant sind.39 In der zweiten Feldphase wurden Jugendliche im ersten und zweiten Studiensemester einer baden-württembergischen Hochschule sowie Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe ausgewählt. Die Stichproben in dieser Arbeit zeigt die folgende Tabelle 5: Tab. 5 Feldphasen und Theoretical Sampling Feldphase
Stichprobe
Samplingeinheit
Sättigung
1 (Vorstudie)
3 bzw. 6 Personen
Studierende, Auszubildende
Nicht angestrebt
2
7 Personen
Studierende, Auszubildende, Schüler
Einzelne Freundschaftssemantiken
3
3 Personen
Auszubildende, Schüler
Einzelne Freundschaftssemantiken
4
2 Personen
Studierende, Schüler
Erreicht für die Freundschaftssemantiken
39
Vgl. Strübing 2008, S. 30 f.
117
118
Vorgehensweise und Ablauf der Untersuchung
Nach der grounded theory sind die einzelnen Fälle bzw. Interviewtexte im Laufe der Forschungsprozesses kontinuierlich zueinander in Bezug zu setzen; über das Prinzip des ständigen Vergleichens erfolgt eine Gegenüberstellung der neuen Fälle mit dem bisherigen Sample.40 Für die Auswahl der nächsten Fälle ist jeweils zu entscheiden, ob die bisherigen Fälle validiert, detailliert und spezifiziert werden sollen – ob also nach Abweichungen oder neuen Aspekten gesucht werden soll.41 Dementsprechend sind entweder möglichst homogene Fälle (= Methode des minimalen Vergleichs) oder möglichst heterogene Fälle (= Methode des maximalen Vergleichs) anzustreben.42 Das Ende dieser Sampling-Strategie wird durch das Kriterium der theoretischen Sättigung angezeigt: Mit Sättigung ist der Punkt im Verlauf der Analyse gemeint, an dem zusätzliche Daten und eine weitere Auswertung keine neuen Eigenschaften der Kategorie mehr erbringt und auch zu keiner Verfeinerung des Wissens um diese Kategorie mehr beiträgt.43
Ab einem gewissen Zeitpunkt – der bezogen auf die zentralen Aspekte häufig bereits vergleichsweise früh erreicht wird – ergeben sich damit keine wesentlichen Erkenntnisse mehr. Sowohl Jörg Strübing44 als auch Franz Breuer45 weisen darauf hin, dass es sich bei dem Sättigungsgrad um ein Kriterium handelt, das von forschungspraktischen Bedingungen getragen ist und pragmatischen Kriterien unterliegt: Es handelt sich um eine subjektive Entscheidung des Forschenden, die näherungsweise getroffen werden muss und nicht objektiv aus den Daten bzw. Texten ableitbar ist. Im Falle dieser Arbeit konnten in der zweiten Feldphase bereits einzelne Freundschaftssemantiken und alltagsweltliche Funktionen als qualitativ gesättigt betrachtet werden. Bezogen auf die Art und Weise, wie von Freundschaft erzählt wird, aber auch im Hinblick auf die erzählten Freundschaftspraktiken und relevanten Freundschaftsfunktionen ergaben sich charakteristische Differenzen bei den Erzählungen der weiblichen und männlichen Jugendlichen. Im weiteren Gang der Arbeit konnten diese Differenzen mit der Methode des minimalen Vergleichs validiert werden.46 Da vermutet wurde, dass sich Semantiken und Funktionen von Freundschaft angesichts des Bildungsgrads sowie der Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu verschieden ausdifferenzieren, wurde in der dritten Feldphase auf die Methode des maximalen Vergleichs zurückgegriffen: Es wurden gezielt Auszubildende sowie Personen eines
Vgl. Strübing 2008, S. 18 f. Vgl. Strübing 2008, S. 31 f. Vgl. Strübing 2008, S. 32. Strübing 2008, S. 33. Vgl. Strübing 2008, S. 33 f. Vgl. Breuer 2010, S. 110 f. Diese Validierung erfolgte heuristisch im Sinne der grounded theory, d. h. nach den Regeln des (axialen und selektiven) Kodierens sowie durch das Anstellen von kontrastiven Vergleichen (vgl. Breuer 2010, S. 77–109). Es wurde also auf ein formales Kodierverfahren zurückgegriffen, allerdings lediglich zum Zwecke der Gültigkeitsprüfung. 40 41 42 43 44 45 46
Hauptstudie und Untersuchungsverlauf
Berufskollegs akquiriert. Wenngleich dieser Zugang einige interessante Aspekte hervorbrachte und dabei half, bestehende Unklarheiten aufzulösen und die Semantiken weiter zu detaillieren, so erwies sich dieses Merkmal gleichwohl als nicht signifikant. Andererseits konnte ein signifikanter Einfluss der lokalräumlichen Umgebung identifiziert werden: Es ergab sich, dass sich die Semantik von Freundschaft angesichts der Deutung und Interpretation des urbanen bzw. ländlichen Nahraums unterschiedlich ausdifferenziert.47 In der vierten Feldphase erfolgte eine abschließende Validierung der bisherigen Ergebnisse. Im Sinne der grounded theory wurde nicht mehr nach neuen Aspekten gesucht. Daher wurden diese Interviews auditiv evaluiert, jedoch nicht mehr textuell transkribiert. 5.3.2 Gesprächsführung
Die Gespräche wurden in den Räumlichkeiten eines gymnasialen Schulgebäudes, an einer Hochschule sowie in einem Jugendhaus in der Region durchgeführt. Um die Gesprächspersonen nicht zu hemmen, wurden Intervieworte angestrebt, welche den Jugendlichen nicht gänzlich fremd waren. In drei Fällen fand das Gespräch auf Wunsch der Erzählpersonen in der eigenen Wohnung bzw. im Jugendzimmer des elterlichen Wohnhauses statt. Es wurde allgemein darauf geachtet, ein neutrales Gesprächsumfeld zu schaffen, welches nicht von dritten Personen gestört wird.48 Die Vorgehensweise und die Gespräche richteten sich allgemein nach den Prinzipien des Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und des Berufsverbandes Deutscher Soziologinnen und Soziologen (BDS).49 Zu diesem gehören zum Beispiel die Gewährleistung angemessener Informationen, die Vertraulichkeit des Gesprächs oder die Wahrung der Anonymität bei der Publikation. Nach Anbahnung des Kontakts wurde den Gesprächspersonen ein Informationsblatt zugesandt bzw. ausgehändigt. Damit sollten die Erzählpersonen nicht nur über ihre Rechte nach dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) aufgeklärt werden, es wurde auch das Ziel verfolgt, den Jugendlichen etwaige Ängste zu nehmen, um so ein offenes Gespräch zu ermöglichen. Gemäß den Richtlinien des BDSG mussten die Gesprächspersonen eine Einwilligungserklärung zum Datenschutz ausfüllen.
47 Diesen Aspekt behandeln insbesondere die Semantiken der lokalräumlichen Entgrenzung in Kapitel 6.1.1 sowie die Semantik der Bestätigung gemeinschaftlicher Einbindung in Kapitel 6.1.2. 48 Vgl. Ausgestaltung der Interviewsituation und zur Reflexion des Interviewortes als „Erkenntnismittel“ die Empfehlungen von Cornelia Helfferich – an welchen ich mich insgesamt orientiert habe. Vgl. Helfferich 2011, S. 177 f. 49 Vgl. DGS (2017).
119
120
Vorgehensweise und Ablauf der Untersuchung
Die Gespräche wurden mittels Audiorecorder aufgezeichnet und schriftlich transkribiert. Das Aufnahmegerät wurde mit Beginn des offiziellen, inhaltlichen Teils des Gesprächs, also mit der lebensgeschichtlichen Erzählaufforderung gestartet. Die einführenden sowie die abschließenden Bestandteile der Metaebene der Interviews – die Begrüßung, das Ausfüllen der Einwilligungserklärung usw. – wurden nicht aufgezeichnet. Die Transkription der Aufnahme erfolgte wörtlich, also nicht lautsprachlich oder zusammenfassend. Als Transkriptionssystem wurde eine Mischform aus vereinfachtem (Basis-)Transkript50 und detailliertem (Fein-)Transkript51 gewählt. Dies geschah, da sich die Auswertung in diesem Forschungsprojekt primär auf die erzählten Inhalte der Gespräche, weniger auf sprachwissenschaftlich-linguistische Fragen des Erzählens bezieht. Andererseits waren, dies wurde anhand von Textbeispiel 1 in Kapitel 4 gezeigt, für die Rekonstruktion von Textsemantik nicht nur die schriftsprachlichen, sondern zum Beispiel auch stimmliche oder nonverbale Signifikante miteinzubeziehen. Das Ziel war es, eine gute Lesbarkeit zu gewährleisten, gleichzeitig jedoch wichtige prosodische Merkmale und nonverbale Aspekte, soweit hinsichtlich der Semantik relevant, zu berücksichtigen. Um dies zu leisten, folgt das Transkript den orthografischen Regeln der deutschen Schriftsprache. Groß- und Kleinschreibung, Worttrennung, das Setzen von Satz- oder Wortzeichen entspricht weitgehend den grammatischen Regeln und hat – anders als bei Feintranskripten üblich – keine transkriptionsspezifische Bedeutung. Bei den gesprochenen Wortbeiträgen fand eine leichte sprachliche Glättung statt. Das verwendete Regelsystem orientiert sich an den Empfehlungen von Thorsten Dresing und Thorsten Pehl,52 integriert aber – zum Beispiel bei Lautstärke- und Sprechgeschwindigkeitsveränderungen – auch Parameter des GAT.53 Die konkreten Regeln des Transkriptionssystems sowie das Layout und die Syntax sind ausführlich im Anhang dieser Arbeit nachzulesen.54
Vgl. Dresing und Pehl 2015, S. 20–25. Dem linguistischen Standard im Erzählinterview entspricht das Gesprächs-analytische Transkriptionssystem (GAT). Vgl. Dittmar 2009, S. 129–144. 52 Vgl. Dresing und Pehl 2015, S. 21–25. 53 Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 310–312 sowie S. 355 f. 54 Siehe Anhang A. 50 51
Dritter Teil Empirische Ergebnisse
6
Subjektive Freundschaftssemantiken
Bevor in diesem Kapitel die subjektiven Freundschaftssemantiken der Jugendlichen in der Form von Einzelfallanalysen1 erarbeitet und dargestellt werden, sei zunächst im Stile eines kurzen Überblicks die Stichprobe vorgestellt. Der Aufbau und die Zusammensetzung der Stichprobe gehen aus Tabelle 6 hervor: Tab. 6 Übersicht der Stichprobe Name
Alter Geschlecht Tätigkeit 1
Moritz
20
männlich
Studierender Landwirtschaftsarchitektur
Tätigkeit 2
Peripherer Raum
Robin
17
männlich
Auszub.
Peripherer Raum
IT-Systemkaufmann
Wohnort/Region
Kerstin
20
weiblich
Studierende
Online-Medien
Städtisch/urban
Benedikt
17
männlich
Schüler
Berufskolleg
Ländlich
Adile
17
weiblich
Auszub.
Einzelhandelskauffrau
Städtisch/urban
Alica
17
weiblich
Schülerin
Gymnasium
Peripherer Raum
Henriette
18
weiblich
Studierende
Wirtschaft und Medien
Städtisch/urban
Leonie
18
weiblich
Studierende
Architektur
Peripherer Raum
Per
17
männlich
Schüler
Gymnasium
Städtisch/urban
Tina
19
weiblich
Studierende
Wirtschaft und Medien
Ländlich
Sophie-Magdalena
17
weiblich
Studierende
Wirtschaft und Medien
Peripherer Raum
Colin-Joel
18
männlich
Auszub.
Industriemechatroniker
Ländlich
Selim
19
männlich
Auszub.
Industriekaufmann
Ländlich
Tomaž
20
männlich
Schüler
Berufskolleg
Städtisch/urban
Li Kaiwen
16
weiblich
Schülerin
Gymnasium
Städtisch/urban
An dieser Stelle seien kurz einige Anmerkungen zu den Kriterien der Fallauswahl gegeben (vgl. für eine Übersicht verschiedener Auswahlstrategien Hering 2018, S. 923–926). Die Fallauswahl wurde derart vorgenommen, dass sie die empirische Vielfalt der Bandbreite der entworfenen Freundschaftssemantiken luzide und stichhaltig beschreibt. Dabei glaube ich, dass die Semantiken und Funktionen der Freundschaft im gegebenen Abstraktionslevel zugleich erschöpfend für die empirische Datenbasis und das analysierte 1
124
Subjektive Freundschaftssemantiken
Die Vornamen und Nachnamen der Jugendlichen wurden ebenso wie jene im Interview in Bezug auf die Alltags- und Lebenswelt gemachten Angaben derart verfremdet (oder ausgespart), dass keine Rückschlüsse auf die Identität der Personen möglich sind, gleichzeitig jedoch textuell relevante Abhängigkeiten, Sinnzusammenhänge und argumentative Strukturen erhalten bleiben. Um ein Beispiel zu geben, könnte etwa eine Berufsausbildung zum Industriemechaniker durch die Ausbildung zum Industriemechatroniker ersetzt worden sein, während sich der Name eines Kindergartens verfremden oder umbenennen ließe. 6.1
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
6.1.1
Freundschaft als lokalräumliche Entgrenzung – das Fallbeispiel Selim
Der 19-jährige Selim wohnt mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder im ländlich geprägten Großraum von Stuttgart. Er absolviert eine kaufmännische Berufsausbildung in einem Industrieunternehmen. Seine Freizeit ist vor allem davon gekennzeichnet, dass er Rap gemeinsam mit seinen Freunden als (sub-)kulturelle Lebens- und Ausdrucksform diskursiviert. Er versteht sich als aktiver Rapper und konnte bereits verschiedene kleinere Auftritte in der nahen Umgebung absolvieren. Ebenfalls ist das Online-Gaming eine für ihn wichtige Freizeitbeschäftigung. Fast täglich, zumindest aber mehrfach die Woche verabredet er sich zum gemeinsamen Spielen. In den Sozialräumen Hip-Hop/Rap und Online-Gaming sind seine wichtigsten Freundeskreise situiert. Er erzählt durchaus ausführlich von den Freundschaftspraktiken mit diesen Personenkreisen. Charakteristisch für das Erzählinterview mit Selim war, dass die erzählte Welt gegenwartsbezogen mit dem Fokus auf dessen heutige Lebenswelt hervorgebracht wurde. So fiel der lebensgeschichtliche Erzählteil im Interview vergleichsweise kurz aus; die lebensbiografischen Stationen wurden, wenn sie vom Erzähler überhaupt erwähnt und thematisiert wurden, zeitlich gerafft in der chronikartigen Erzählform wiedergegeben. Im immanenten und exmanenten Teil wurde vor allem zum Alltag und zu den freizeitlichen Praktiken mit seinen Freunden gefragt, was aufgrund der gegenwartsbezogenen Schwerpunktsetzung von Selim geboten schien. Hier ergaben sich durchaus thematisch vielschichtige Episoden mit narrativer Struktur, welche die subjektive
Textkorpus dargestellt sind. Die gewählte Auswahlstrategie bedeutet ex negativo, dass es mir nicht darum geht, ausschließlich jene neuartigen, besonderen oder theoretisch noch nicht erfassten Fälle darzustellen (zum Beispiel weil etablierte Werte hinterfragt werden o. ä., vgl. Hering 2018, S. 923). Auch geht es mir nicht darum, primär jene Fälle zu zeigen, von denen sich vermuten ließe, dass sie als typisch oder charakteristisch für die heutige Lebenswirklichkeit Jugendlicher anzusehen wären.
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
Semantik der Freundschaft ausdifferenzierten. Es ist zu vermuten, dass Selim durchaus gerne erzählte, er allerdings mit der Handlungsaufgabe des Erzählinterviews, d. h. mit Blick auf seine ganzheitliche Lebensgeschichte (relevante) Themen selbst auszuwählen, Schwierigkeiten hatte. Auf extradiegetischer Ebene war daher ein erhöhter Bedarf nach Interaktionssteuerung, Führung und thematischer Strukturierung durch den Interviewer vonnöten. Mit seinen vielfältigen dialogischen Elementen weist das Textkorpus damit eher die Charakteristika eines episodischen bzw. eines Tiefeninterviews als die eines Erzählinterviews auf.2 Bei den narrativen Strukturen überwiegen allgemein die evaluativ-berichtenden Erzählformen, wenngleich sich gegen Ende des Interviews Bestandteile, die eine größere Nähe zum erzählten Geschehen aufweisen, mehren. 6.1.1.1
Inmitten von ländlichem Lebensraum und türkischer Identität
Die semantische Ordnung der erzählten Welt von Selim konstituiert sich anhand räumlich-territorialer Begriffe und entsprechend oppositionell angeordneter Orte, Plätze und Figuren. Grundsätzlich kann mit Blick auf den Lebensraum3 von einer Opposition von Stadt und Land gesprochen werden. Von zentraler Bedeutung in der erzählten Welt ist das lokalräumliche Nahfeld,4 in welchem sich das erzählte Ich bewegt. Hier lassen sich zwei semantische Räume identifizieren, welche die semantische Ordnung des Textes ausmachen und die sujetlose Textschicht bilden. Relevant sind zunächst die von Selim bewohnte lokale Region und der dortige Heimatort, welchen der Erzähler gleich zu Beginn mit „das Dorf halt“ (= sR1) einführt. Sprachlich-kommunikativ spiegeln das neutrale Demonstrativpronomen sowie die indifferente Modalpartikel bereits die Distanz, die der Erzähler gegenüber diesem Raum beansprucht – immerhin könnte er, wie zum Beispiel der 20-jährige Moritz dies tut, Für einen Vergleich der Interviewarten vgl. Helfferich 2011, S. 35–46. Mir ist klar, dass der Begriff Lebensraum aufgrund seiner Instrumentalisierung zur Zeit des Nationalsozialismus problembehaftet ist. Den Lebensraum des Individuums verstehe ich sozialökologisch im Sinne von Helga Zeiher als den „von einer Person dauerhaft und immer wieder genutzte und ihr dadurch vertraute Teil der räumlichen Welt“ (Zeiher 1994, S. 362). Es ist ein ‚umgebender Sozialraum‘, in dem ein Individuum lebt, sich bewegt und sich gesellschaftlich entfaltet. Der Begriff ist stets wertfrei zu verstehen. Ich greife trotz seiner konnotativen Bedeutung auf ihn zurück, um den Begriff der Lebenswelt – der sozialwissenschaftlich ebenfalls in diesem Sinne gebraucht werden könnte, bei mir aber für die Lebenswelt im wissenssoziologisch-sozialkonstruktivistischen Sinne reserviert ist – nicht doppelt zu belegen. Weiterhin soll ein stärkerer geographischer bzw. territorialer Bezug deutlich gemacht werden. 4 Mit dem Begriff des Nahfelds meine ich jenen sozialräumlichen Bereich, der von einer Person als in unmittelbarer Nähe befindlich begriffen wird. Auf diesen Begriff greife ich vor allem aus zwei Gründen zurück: Zum einen wird durch ihn der ohnehin schon ambig belegte Raumbegriff nicht noch weiter strapaziert; zum anderen wird die subjektiv gefühlte Distanz zum Ausdruck gebracht: Ein topografischer Punkt ist demnach nicht absolut ‚nah‘ oder ‚fern‘, sondern ‚nah‘ oder ‚fern‘ relativ zu den Erfahrungen und den Möglichkeiten der Person, die jeweilige Distanz zu überwinden. 2 3
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auch von „unserem“ bzw. von „meinem Dorf “ sprechen. Vom Erzähler wird der sR1 als ländlich eingeführt. Die physisch-territorialen Grenzen des sR1 sind durch die fehlende räumliche Mobilität von Selim determiniert. Diese erschweren es dem erzählten Ich, den Raum zu verlassen. So ist es für Selim nur in Ausnahmefällen möglich, in die Großstädte R-Stadt und S-Stadt zu gelangen, was gerade in der Freizeit eine große Einschränkung darstellt – „Clubs, Plätze, auch für Gigs und so – kann ich bei uns halt ohne Auto nicht hinkommen, und den Führerschein mach ich erst jetzt“. Zum sR1 gehören im Text eine Reihe öffentlicher Plätze wie auch private Räume, zum Beispiel das örtliche Schulgebäude, der regelmäßig stattfindende Wochenmarkt, das Wohnhaus der Eltern oder der Vorgarten der Nachbarin (siehe hierzu auch das Textbeispiel 2). Raumsemantisch handelt es bei dem sR1 um einen semantisierten topografischen Raum, da er über ein topografisches Substrat verfügt und an dieses gebunden ist.5 Vom Erzähler wird der sR1 mit einem geringen Ereigniswert semantisiert. Problematisch ist das soziale Umfeld, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass „einfach nichts los ist bei uns […] und es passiert auch nichts“. Hinsichtlich der Möglichkeiten der Freizeitgestaltung sowie bezüglich der Potenziale der Selbstentfaltung wird der sR1 dementsprechend als defizitär semantisiert. Die semantischen Merkmale, die dem sR1 zukommen, können exemplarisch anhand von Textbeispiel 2 gezeigt werden: Textbeispiel 2 Selim (19): Die Nachbarschaft 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
S: Gehst du hier auf die Straße, sieht es der Nachbar, ha, sieht er’s nicht, egal, sagt man’s ihm, der nebenan, hat’s dann gesehen (.). Ha, so ist das hier, kannst nichts machen, ohne dass man’s weiß. Mal was weg// (..) Mal was verstecken, =geht nicht, nee, ne (.) I: Ja (hmm), verstehe, ja= was meinst Du mit verstecken? (.) Also// S: (Ahm) Ja, nichts Besonderes (…)[längere Phase des Überlegens]. Also zum Beispiel, wir haben bei einem Freund eine Party gefeiert. (..) I: Ja. S: Dann// (..) Eigentlich kein Problem, ne, weil, war außerhalb von L-Dorf, Gärten, so, freistehender Garten, niemand dort, außerhalb, ne? I: Ja. S: Hätte niemanden interessieren gebraucht. Müssen// (.) AAAABER gut [warnender Ton, KET], war der Nachbar noch unterwegs, war eh klar. Hund rausbringen, nachts um zwei, ja, WAAAS. Is klar, okay, was war, wie ging’s aus? Eine halbe Stunde danach, kam die Polizei, ja (I: mhm), warum, kein Grund, nichts, also es
gab
=nichts (..) I: Ja, (.) weiß [sic] wie Du das meinst, ja= S: Egal, trotzdem, hat der die auf jeden Fall einfach so gerufen. Party war dann Schluss, wei/ Egal. Haben uns dann an dem Abend nur noch aufgeregt, ne Freundin nur so: „Sabotage“, weil, dafür gab’s halt kein Grund. I: Okay. […] S: Am nächsten Morgen wussten es alle hier, ne? Eigentlich kann’s denen ja egal sein, aber nee, nee, so wie’s hieß von den Leut: „Jo, habd ihr wiedr gfeierd“,
5
Vgl. Titzmann 2013b, S. 127.
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
24 ich sag’s nur so: wir sind ja rücksichtsvoll und gehen extra raus aber lasst 25 uns dann wenigstens sein, ne? (I: mhm) Oder? (..) 26 I: Ja. 27 S: (Mhm) (.) Gut, jetzt nicht wirklich schlimm oder so, aber gut. Alte Leut halt, 28 oder (lachen)?
Im Textbeispiel erfüllt die intuitiv vom Erzähler hervorgebrachte Party-Episode eine exemplarisch-argumentative Funktion. Sie soll die zuvor gemachte Aussage, dass vor den Nachbarn im Ort nichts verborgen bzw. versteckt werden kann, belegen. Sie ist jedoch auch geeignet, die semantische Ordnung des sR1 im Allgemeinen zu verdeutlichen, da sie die relevanten Merkmale vermittelt, die den sR1 im Text des Interviews charakterisieren: Aus struktureller Sicht ist die Episode von einem berichtenden, aus der extradiegetischen Gesprächssituation heraus evaluierenden Erzählstil dominiert. Interaktive Passagen (zum Beispiel bei Z16–18 bzw. Z25–30) als auch re-inszenierende Elemente (zum Beispiel bei Z23) sind in die Episode eingelagert. Inhaltlich wird die Handlung in der einführenden Rahmung durch den Erzähler zunächst räumlich verortet (Z09– 10): Das zentrale Merkmal der Örtlichkeit, an dem die abendliche Party stattfand, besteht in ihrer isolierten Lage. Zur implizierten ableitbaren Proposition dieser Aussage gehört, dass sie sich dadurch für eine Party eignet – zum Beispiel, weil die Musik von dritten Personen nicht (als störend) wahrgenommen werden kann. Die anstehende Feier wird also prinzipiell als unproblematisch entworfen; die feiernden Jugendlichen werden – zunächst implizit, später explizit – als rücksichtsvoll und konfliktvermeidend eingeführt. Mit der Reaktionsaufforderung „ne?“ (Z10) versichert sich das erzählende Ich schließlich, dass dieser Sachverhalt verstanden wurde. Vor diesem Hintergrund wird die Party im Handlungsverlauf nun (grundlos) durch die Nachbarn vereitelt: Diese verständigen ohne legitimen Anlass (Ruhestörung etc.) die Polizei. Für die Jugendlichen endet die Party damit nicht nur unfreiwillig, sondern auch ohne eigenes Verschulden. Darstellungsseitig lassen die emphatisch-expressiven Sprechformen – „WAAAS“ (Z14) – und der inszenierte Spannungsaufbau – „Okay, was war, wie ging’s aus?“ (Z14–15) – eine gewisse Involvierung und ein Nacherleben der erzählten Handlung erkennen. Evaluative Kommentierungen – „war eh klar“ (Z13) – abstrahieren vom konkreten Einzelfall und rahmen den Verlauf der Geschichte als üblich und erwartbar: Es entspricht dem Normalfall, dass es zwischen Nachbarn und Jugendlichen zu Konflikten kommt. Darauf, dass nicht Erwachsene im Allgemeinen, sondern eben eine spezifische Klientel erwachsener Personen im lokalen bzw. regionalen Raum gemeint ist, weist die despektierlich zu verstehende Imitation des schwäbischen Dialekts (Z23) hin: Metonymisch repräsentiert diese im Text nicht nur die konkreten Nachbarn, sondern zugleich die im lokalen Raum situierten Personen, im weitesten Sinne die vermutlich dörflich bzw. ländlich zu verstehende Bevölkerungsschicht. Handlung und sprachliche Mittel semantisieren den sR1 damit in sozialer Hinsicht als einen Ort,
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der gegenüber Jugendlichen tendenziell feindlich eingestellt und ihren Bedürfnissen und Wünschen gegenüber nicht aufgeschlossen ist. Der sR1 ist zudem der Normalität und Gewohnheit unterworfen, ist geordnet und diszipliniert, wird überwacht und kontrolliert – im Beispiel durch den Nachbarn. Er verfügt über eine physisch-territoriale Grenze, welche die Jugendlichen nicht überwinden können. Für die Jugendlichen geht der sR1 weiterhin mit fehlender Privatheit und geringen Potenzialen der Selbstentfaltung einher. Dies evaluiert der Erzähler in der Coda noch einmal explizit und fordert einen Raum, in welchem sich die Jugendlichen räumlich distanzieren und semantisch loslösen können – „wir […] gehen extra raus aber lasst uns dann da wenigstens sein, ne?“ (Z24–25). Im Sinne der dezisionalen Privatheit6 wollen sich die Jugendlichen frei von Einsprüchen und Eingriffen (der Erwachsenen) entfalten. Interessant ist auch die abschließende Interaktion zwischen Interviewer und Erzähler, auf welche kurz hingewiesen sei: Nach Abschluss der Coda wird der Interviewer direkt adressiert, was zunächst intuitiv in Form des Rückversicherungspartikels „ne?“ (Z25) erfolgt. Im Anschluss fragt der Erzähler nochmals nach (Z25). Das Selbstverständnis und die eigene Evaluierung soll mit der Position des Interviewers abgeglichen, bestätigt und legitimiert werden. Nachdem eine kurze Zeitspanne vergangen ist und die eher neutrale Antwort des Interviewers – der sich formell korrekt an seiner Rolle als wissenschaftlicher Interviewer orientiert und versucht, eigene Deutungen zurückzustellen (Z26)7 – dieser Erwartung nicht Genüge tut, folgt eine relativierende Einordnung – „Gut, jetzt nicht wirklich schlimm oder so“ (Z27). Um das Geschehene zu normalisieren, spielt er auf das auch dem Interviewer bekannte kulturelle Stereotyp ‚älterer Personen‘ – die sich eben gerne beschweren – an. Auch intradiegetisch ist die Interaktion daher interessant, da sie das Merkmal ‚Lebensalter‘ semantisch auflädt und Konfliktpotenziale für jüngere Menschen postuliert. Es kann daher weiter abstrahiert werden: Im Text liegt nicht nur ein Konflikt zwischen Erwachsenen und Jugendlichen vor, eine semantische Opposition besteht ebenfalls zwischen ‚Alt‘ und ‚Jung‘. Extradiegetisch wird durch die Rückfrage des Erzählers eine Gemeinsamkeit zwischen dem sich im jüngeren Erwachsenenalter befindlichen Interviewer und dem erzählenden Ich hergestellt. Der Erzähler möchte den Interviewer von seiner Sichtweise überzeugen, ihn gewissermaßen für sich und seine Weltsicht gewinnen. In dieser Richtung ist im Interview allgemein ein hohes Maß an Hörerorientierung zu konstatieren, wobei Selim viel Wert auf Zustimmung und Bestätigung zu legen scheint.8
Vgl. Rössler 2001, S. 144. Zum Prinzip der Fremdheit und der Relativierung des eigenen Normalitätshorizonts in diesem Sinne vgl. Helfferich 2011, S. 130–132, zur ‚Impulskontrolle‘ im Interview S. 93 f. 8 Vgl. zur Hörerorientierung in diesem Sinne Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 257–261. 6 7
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
Neben dem sR1 ist die erzählte Welt von Selim mit dem sR2 Herkunft von einem zweiten semantischen Raum geprägt, welcher nachfolgend analog zum sR1 dargestellt wird. Als komplementär zu verstehende semantisch-ideologische Teilsysteme im Sinne von Jurij M. Lotman machen sie das lokalräumliche Nahfeld von Selim aus. Das erzählte Ich von Selim ist also gleichermaßen innerhalb beider semantischer Räume situiert. Anders als der sR1 ist der sR2 nicht an ein topografisches Substrat gebunden und daher als ein abstrakt-semantischer Raum zu verstehen. In sozialer Hinsicht gehören zum sR2 die Personen, die aufgrund ihrer türkischen Nationalität bzw. Herkunft dem gleichen Kulturkreis angehören. Im Text werden diese Personen durch Selims Familie sowie durch seine Freunde innerhalb der „türkischen Community“ repräsentiert: Zur Familie gehören neben seinen Eltern und seinem älteren Bruder, der in R-Stadt, der nächstgelegenen Großstadt, lebt, die Familie seiner Mutter, die im gleichen Ort wie er wohnt. Allgemein ist kulturelle Zugehörigkeit, die sich im Text immer wieder äußert, ein immanentes Paradigma in der durch den Erzähler artikulierten Welt: Das erzählte Ich ist Teil einer türkischen Gemeinschaft, die als kulturelle Minderheit marginalisiert ist, wenngleich dieses Thema, wie noch gezeigt werden wird, im Text nicht explizit verhandelt, sondern lediglich implizit wird. Vorweggenommen sei in diesem Zusammenhang, dass Selim mit der von ihm entworfenen Welt auf vielfältige soziokulturelle Vereinfachungen und Stereotypisierungen rekurriert. Zum sR2 gehören eine bestimmte Lebensweise sowie eine Reihe von Werten und Normen, die die Zugehörigkeit der Personen zum sR2 festlegen: Im semantisch-ideologischen Sinne gehen mit ihm Verhaltensweisen einher, mit denen sich der Erzähler nicht identifizieren möchte – „also, ich kann mit vielem da nichts anfangen, zum Beispiel wenn wir in der Türkei sind im Sommer bei der Familie, viele Leute, dort, sitzen den ganzen Tag nur rum, machen nichts, das ist nicht meins, so insgesamt“. Neben diesen Merkmalen gehören feste Regeln und eine gegebene Hierarchie, die (zumindest formal) eingehalten werden muss, zum sR2 – „also mein Vater zum Beispiel, Türke halt, man widerspricht ihm nicht direkt, als Autoritätsperson, ja, macht einfach was anderes, okay, offiziell, keinen Widerspruch“. Von seinen gleichaltrigen Freunden, die er in der türkischen Community pflegt, zugleich aber als „engstirnig“ beschreibt, distanziert er sich. Zu ihren Merkmalen gehören eine fehlende Offenheit für Neues sowie die nicht vorhandene Bereitschaft, andere Meinungen und Standpunkte zu akzeptieren. Das familiäre Miteinander wird als ein reglementierter Bereich entworfen, der von einem eher formalen Umgang geprägt ist, in dem Affekte eher zurückgehalten werden. So kommt es zum Beispiel den Eltern von Selim vor allem auf Leistung, Pflichterfüllung oder Pünktlichkeit an, allerdings honorieren sie erbrachte Leistungen nicht mit Lob und Anerkennung. Die fehlende Empathie und das Ausbleiben positiver Affekte innerhalb der (inner-)familiären Strukturen muss aber als konstitutiv für die semantische Ordnung des sR2 herausgestellt werden. Sehr pointiert gezeigt werden kann dies
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anhand der kurzen Episode in Textbeispiel 3, in welcher der Erzähler das soziale Verhalten der Freunde in der Schule mit dem der eigenen Eltern kontrastiert: Textbeispiel 3 Selim (19): Wie von einer anderen Welt 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15
S: Also, da, kam ich nach Hause, Zeugnis, Abschlussnote: Mathe zwei, Deutsch drei sowie, also (.), das war bei beiden Fächern, die bessere Note, bei allen eigentlich (.), hab ich in der Prüfung also geschafft [sic]. Mit Kumpels in der Schule schon so ??? (vermutlich Gestik, KET), ja: „Geil Junge (.), Glückwunsch (.), super, wie das gemacht hast“ und dann, dort hin, heim gekommen, heißt’s: „Ziel erfüllt, gut! (..) (hääh) „Mach weiter“ [der Erzähler imitiert eine tiefe Stimme, KET] (I: hmm), JAAAA, ey, war so (AHHH), kann nicht mehr (.). I: Ja. S: Ha, wie von einer anderen Welt (hmhm) [belustigt]. I: Ja, ja. (.) S: Ich mein also, okay (.), ist nicht Kleinigkeit, aber, mein Vater wollt sich vielleicht auch so, anders (hmm) (.) ausdrücken, konnt nicht (.), machen (.), naja. (hmmm) Is Kultur (lachen). I: (Hmm) Ok. S: Kann ich sagen.
Wie zu sehen ist, inszeniert der Erzähler die Reaktion der Schulfreunde und die seiner Eltern als oppositionell. Diese sind paradigmatisch im Hinblick auf das Merkmal der Emotionalität aufeinander bezogen. Während die Schulfreunde das erzählte Ich angesichts der guten Abschlussnoten beglückwünschen, wird das Resultat im familiären Kontext mit Gleichmut zur Kenntnis genommen. Die Reaktion des Vaters suggeriert, dass lediglich eine gegebene Erwartung erfüllt wurde. Darstellungsseitig wird die Opposition durch die stimmliche Intonation sowie durch die expressive (im Falle der Freunde, Z04–05) bzw. neutrale (im Falle des Vaters, Z06) wörtliche Rede unterstützt. Die abschließende Evaluation – „wie von einer anderen Welt“ (Z09) – stellt den Kontrast nochmals metaphorisch heraus. Interessant ist auch die folgende Reformulierung,9 mit welcher der Erzähler eine entlastende Entindividualisierung vornimmt: Mit einer litotischen Formulierung (Z11) macht er zunächst deutlich, dass die fehlende Empathie für ihn subjektiv durchaus bedeutsam ist. Allerdings sieht er von persönlichen Vorwürfen ab, da es sich nicht um ein individuelles Verschulden handelt. Vielmehr ergibt sich das Verhalten aufgrund der gegebenen Raumbindung, die hier im Sinne einer Paradigmenvermittlung der „Kultur“ (Z13) erfolgt und durch diese legitimiert ist. Im abschließenden interaktiven Teil unterstreicht der Erzähler nochmals die Gewissheit dieser Aussage – „Kann ich sagen“ (Z15). Hierfür tritt das erzählende Ich gegenüber dem Interviewer in seiner Rolle als Kind türkischer Eltern auf, um sich auf der extradiegetischen Ebene gewis-
Zum Konzept der Reformulierung als sukzessive Sinnspezifikation in mündlichen Darstellungen vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 218–220. 9
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
sermaßen als ‚kultureller Experte‘ zu positionieren. Als solcher muss er sich nicht auf Subjektivierungen beschränken, sondern ist berechtigt, gegenüber dem Interviewer verallgemeinernde Aussagen (über die türkische Herkunft und Kultur) zu machen. 6.1.1.2 Marginalität und Selbstentfaltung im lokalräumlichen Nahfeld Bezogen auf die Raumstruktur der erzählten Welt ergibt sich damit folgendes Bild:
Abb. 7 Raumstruktur und Raumsemantisierung in Selims erzählter Welt
Mit dem sR1 Dorf und dem sR2 Herkunft ergibt sich damit eine Semantisierung des lokalräumlichen Nahfelds (zur Wahl der Begrifflichkeit siehe das folgende Kapitel). Im lokalräumlichen Nahfeld, das als übergeordneter, ideologisch-abstrakter Rahmen zu verstehen ist und sich aufgrund der Semantiken des sR1 und sR2 ergibt, ist Selim in mehrerlei Hinsicht marginalisiert: Er ist dies zum einen aufgrund seiner Eigenschaft als quasi ‚türkischstämmige Person‘, welche ihn im Text als Mitglied einer ethnischen Gruppe ausweist. Diese ist im sR1 im Hinblick auf ihre soziokulturelle Zugehörigkeit hin marginalisiert. Dass er die durch die postulierte Kultur vermittelte Ideologie für sich selbst ablehnt, marginalisiert ihn als Individuum innerhalb der sozialen Gruppe zusätzlich. Grundsätzlich ist er schließlich als Jugendlicher marginalisiert, da beide semantischen Räume nicht auf Jugendliche ausgerichtet sind und den Wünschen und Bedürfnissen junger Menschen ambivalent gegenüberstehen. Es ergibt sich eine semantische Aufladung des lokalräumlichen Nahfelds, bei welchem vor allem die fehlenden Potenziale der Selbstentfaltung und der Individualität durchscheinen. Charakte-
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ristisch ist zudem, dass die physisch-territorialen (im Falle des sR1) bzw. ideologischen (im Falle des sR2) Grenzen als fest und nicht überwindbar erlebt werden. Diese Unüberwindbarkeit wiederum manifestiert sich in einem latent bedrückenden Gefühl, das Selim auch direkt artikuliert, indem er die kulturelle Zugehörigkeit im Gespräch indifferent – „ja, das ist halt so, ne? […] Muss man so nehmen“ – und die ländliche Herkunft ironisch – „Rapper vom Land, das is das Ding“ – kommentiert. Dass Selim eine Distanz zu seinem lokalräumlichen Nahfeld aufbaut, sich von diesem abgrenzt und die bestehende Ordnung zu überwinden versucht, kann aus dem Text also auf vielfache Art und Weise geschlussfolgert werden. Auf der narrativen Textschicht ist dies in Form kleinerer Versuche, eine Ordnungsveränderung herbeizuführen, gegeben. Wie exemplarisch in Textbeispiel 2 gezeigt wurde, scheitert dies. Vor diesem Hintergrund ist, wie gezeigt werden wird, der individuelle Privatraum der Freundschaft als eine pragmatische Strategie zu verstehen, eine lokalräumliche Entgrenzung zu bewirken. So entwirft der Erzähler mit Blick auf die Freundschaft zwei semantische Räume, die in ihrer privaten Bedeutung auf das lokalräumliche Nahfeld bezogen sind: Diese sind zum einen der sR3 Gaming und zum anderen der sR4 Hip-Hop/Rap. Als Räume, die an kein topografisches Substrat gebunden sind, sind beide als abstrakt-semantische Räume zu verstehen. Als sich komplementär zu einander verhaltende und in ihrer Semantik und alltagsweltlichen Funktion ergänzende Räume machen sie die Freundschaft im Text des Erzählers aus. Weiterhin bauen sie, wie die folgende Analyse zeigen wird, eine Opposition zum lokalräumlichen Nahfeld des Erzählers auf. Die Gemeinsamkeit dieser Freundschaftsräume besteht zunächst darin, dass sie keine territorialräumliche Fixierung aufweisen. Die Freundschaft entwirft Selim als ein Konzept, das nicht notwendigerweise territorial und im konkreten Fall nicht im lokalräumlichen Umfeld situiert ist. Nach seinen Freunden gefragt, gibt er zwar an, auch in der näheren Umgebung (also im sR1) oder im Rahmen der türkischen Gemeinschaft (also im sR2) mit einzelnen Personen befreundet zu sein, allerdings zieht er eine bewusste Grenze, mit welcher er diese Personen als eher lockere Kontakte bzw. weak ties10 markiert: So werden die Jugendlichen aus der Schule, der Nachbarschaft oder dem Ort als weitgehend uninteressant eingeführt. So spricht der Erzähler auf der sprachlich-begrifflichen Ebene vergleichsweise formal von „Mitschülern“ oder „anderen Türken“. Der Kontakt zu ihnen wird abgelehnt; ihre semantischen Merkmale im Text sind zum Beispiel: „engstirnig“, „konservativ“ oder „dumm“. Auf der narrativen Textschicht wird die Anbahnung einer Freundschaftsbeziehung zu den Personen aus diesen Bezugskreisen vulgarisiert – „aus’m Dorf […], das sind auch viele Lappen hier“. Zu einem relevanten Merkmal von Freundschaft gehört weiterhin, dass es sich um eine nicht-familiäre Beziehung handelt.
10
Vgl. Granovetter 1973, S. 1361.
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
6.1.1.3 Das Online-Gaming als anonymisierter Freundschaftsraum Der sR3 Gaming bildet den ersten Freundschaftsraum. Das gemeinsame, online-basierte Computerspiel stellt Selim als einen festen und wichtigen Teil seiner Freizeitaktivitäten heraus. Als ein in hohem Maße mediatisierter, vom lokalräumlichen Nahfeld strikt abgegrenzter Bereich kann das Online-Gaming flexibel betreten und verlassen werden: So geht Selim abends regelmäßig online, um mit seinen dortigen Freunden, die er nur teilweise persönlich kennt, zu festgelegten Terminen online zu spielen. Selim schätzt, dass er mit den Personen „locker quatschen“, „einfach abschalten“ und „raus kann, aus dem Alltag“. Zur Semantik des sR3 gehören soziale Gratifikationen wie Zerstreuung und Ablenkung als auch hedonistische Gratifikationen wie Abwechslung, Genuss und Spaß. Als weniger zentral werden spielerische Ziele wie der objektive Spielerfolg erzählt; auch die Kompetitivität zwischen den Mitspielern wird eher hedonistisch ausgelegt. Rezeptions- und nutzungsseitig sind die Motivationsfaktoren auf die sozialen Aspekte im Spiel anstelle des (Spiel-)Fortschritts und des Wettstreits gerichtet.11 Das Gaming entwirft er dabei nicht nur als bloße Freizeitbeschäftigung, sondern als eine lebensgeschichtliche Konstante – „ich bin Gamer, Zocker, schon immer, ha ja“ –, welcher eine über die reine Freizeitbeschäftigung hinausgehende identitäre Bedeutung zukommt. Weiterhin wird der sR3 von Selim als ein Raum entworfen, der aufgrund seiner kommunikativen Potenziale geschätzt wird: In informationeller Hinsicht ist der Raum als ein privat semantisierter Raum zu verstehen. So wissen etwa die Familienmitglieder weder über die Spielehandlungen noch über die dortigen Kommunikationspraktiken Bescheid – und Selim legt Wert darauf, jene Aspekte auch inhaltlich als privat zu markieren – „also, wenn sie, also, fragen, was wir machen oder reden, einmal hat meine Mutter gefragt, wir waren Skype, sag’ ich nur: Zocken, fertig!“. Die Gesprächsinhalte sind exklusiv für die jeweiligen Freunde bestimmt; der Zugang zu und das Wissen über den Raum des Gaming wird als Verletzung der informationellen Privatheit12 interpretiert und von Selim entsprechend kontrolliert. Wie das folgende Textbeispiel 4 zeigt, gehört zur Privatheit des sR3 auch, dass persönliche Details im Sinne intim konnotierter Informationen geteilt werden: Textbeispiel 4 Selim (19): Wir reden über alles 01 I: Kannst Du vielleicht mal erzählen, (.) oder willst du, ja, worüber ihr euch 02 unterhaltet dort? Worüber also// Über was redet ihr so im Normalfall 03 (.) Hast Du ein Beispiel vielleicht? Also (.) wie-04 S: Ja (mhm) (.) Da fällt mir was ein (..) (mhm) Nee (lachen), nicht irgendwie. 05 I: Gibt es bestimmte Themen, worüber ihr redet oder so?
11 12
Vgl. zu den Gratifikationen im Gaming diesbezüglich Schmidt u. a. 2008, S. 55. Vgl. Rössler 2001, 201 f.
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S: Also, beim Call of Duty, eigentlich, ja, (.) reden, reden über alles (.), alles (.) geht’s (.). I: Ok, (..) ja. S: Also, alles eigentlich, wenn’s Stress gibt, (.) Eltern, mit denen (.), (ÄHMMM) tatsächlich, alles ja, auch, persönliches Sach (.), so was ist in der Familie, auch, (.) eigene Erfahrungen (lachen) (.), und so, sprechen, (.) alles da. I: Ja. S: Ist einfach (..), kein Ding. (.) Und von wegen, was du vorhin meintest, ne? (.) Wegen Medien, nein, ist kein Problem, weil (.), ist
im Prinzip sogar
einfacher, mit denen zu reden, weil’s so ist, dass die hier nicht sind, nicht persönlich sehen brauch und die kennen auch meine Familie nicht persönlich, weißt? I: Ja. S: Online-Chat, Skype, Zocken, is einfach, weil, das ist anonymer. I: Was ist anonymer? S: Daher, also Inhalte, ja, alles.
Strukturell betrachtet liegt mit Textbeispiel 4 primär ein Text in der Textsorte der Argumentation vor, die von interaktiven Bestandteilen gekennzeichnet ist und vom Erzähler mit beschreibenden und erklärenden Passagen angereichert wird. Auffällig auf der Seite des Erzählers sind Phasen der Reflexion (zum Beispiel bei Z15–16) und des Nachdenkens (zum Beispiel bei Z06–07) sowie ein allgemein stockender Redefluss (zum Beispiel bei Z09–11). Bei der Aushandlung des Redegegenstandes versucht der Interviewer zunächst, einen Text in der Textsorte der Erzählung zu generieren. Nachdem dies nicht gelungen ist – vermutlich, weil der Interviewer die Frage mehrfach reformuliert (Z01–02), sie schließlich beispielhaft stellt (Z03), den Erzähler bittet, einen konkreten Fall zu erzählen, den dieser allerdings nicht darbieten kann –, folgt schließlich die Nennung konkreter Kommunikationsinhalte (Z09–11). Die Erwähnung, dass dort auch „eigene Erfahrungen“ (Z11) thematisiert werden, rahmt den sR3 als privaten Kommunikationsbereich. Dass es sich hierbei (vermutlich) um sexualisierte Erfahrungen handelt, wird nicht gesagt, wohl aber impliziert, was kontextbezogen vor allem durch das Lachen, aber auch durch die wiederholt bewusst gesetzte Nullposition – „und so“ (Z11) – geleistet wird. Als intim konventionalisiertes und kulturell meist in besonderem Maße tabuisiertes (Gesprächs-)Thema markiert der Erzähler mit der Sexualität, dass dort privatheitsseitig potenziell alle Inhalte des persönlichen Lebensbereichs verhandelt werden (können). Korreliert werden diese Raumpotenziale damit, dass die betreffenden Personen nicht im lokalräumlichen Umfeld situiert sind: Die mit der spezifischen Medialität des Online-Gaming einhergehende territorial-räumliche Distanz und fehlende physische Ko-Präsenz der Akteure wird als relevant für den persönlichen Austausch informationeller Privatheit angedeutet (Z13–17). In der anschließenden sprachlichen Reformulierung (Z19), die zugleich als evaluative Zusammenfassung dient, wird dies durch den Erzähler expliziert, indem er die „Anonymität“ als Bedingung formuliert. Bezogen auf die soziale Konstruktion freundschaftlicher Privatheit geht aus dem kontextualisierenden, medial simulierten Raum des Gaming also ein an eine spezifische Teilöffentlichkeit aus Peers und Freunden gerichteter, privatisierter Kommu-
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
nikationsraum hervor. Für Selim ist in dem von einer gewissen Fremdheit13 gekennzeichneten Online-Kontext des Gaming der persönliche Austausch vereinfacht, da er vom lokalräumlichen Nahbereich abgegrenzt und nicht Gegenstand der Kommunikation der Jugendlichen ist. Als freundschaftsrelevante Merkmale manifestieren sich hier Fremdheit, Unbekanntheit sowie die fehlende körperliche Nähe der Personen. Relevant ist gerade der Umstand, dass man sich nicht so gut kennt und keine gemeinsamen, sozialräumlichen Erfahrungen im gemeinsamen Lebensraum teilt. Die kontextuelle Integrität des Raums, die als ein wichtiges Merkmal der Kommunikation innerhalb von Freundschaft gesehen werden kann,14 wird durch die Medialisierung des Raums nicht konterkariert, sondern durch jene erst initiiert und konstituiert. Mit der medialen Simulierung des Raums stellt Selim sinngemäß sicher, dass die dortigen Akteure nicht Teil des sR1 oder des sR2 sind. Bezogen auf den gemeinsam geteilten Privatraum teilen die jugendlichen Freundschaftsakteure den Genuss und Spaß am habituellen Spielen, das spielerische Wetteifern und die Entlastung gegenüber dem Alltag. Für den individuellen Privatraum von Selim hat das Gaming eine darüber hinausgehende subjektive Bedeutung, die er im Text als semantische Opposition gegenüber dem als einschränkend empfundenen lokalräumlichen Umfeld konstruiert: Die Freundschaft im Online-Gaming ermöglicht es, die Grenzen des lokalräumlichen Nahfelds auf mediatisiertem Wege symbolisch zu überwinden. Die als einschränkend empfundenen Semantiken dieser Räume, gegeben in Form eines geringen Ereigniswerts, fehlender Selbstentfaltung und Empathie, werden individuell bewältigt. Um dies leisten zu können, werden soziale Überschneidungen zwischen den lokalräumlichen und medialisierten Bereichen abgelehnt und vermieden (Z15–17). Eine „Überlappung“ oder „Verwebung“ des sozialraumbezogenen Medienhandelns15 findet nicht statt. Die sozialräumlichen Bezüge werden bewusst getrennt, da mit ihr auch eine inhaltlich-semantische Grenzziehung verbunden ist. 6.1.1.4 Der Rap-Lebensstil als performanter Freundschaftsraum In gleichem Maße semantisch auf das lokalräumliche Umfeld bezogen ist der sR4 HipHop/Rap, der als ein zweiter Freundschaftsraum entworfen wird. Selim ist Teil einer fünfköpfigen Gruppe männlicher Jugendlicher, die sich meist mehrfach unter der Woche und an den Wochenenden treffen. Die gleichaltrigen Jugendlichen hören mit Der Begriff der Fremdheit scheint hier pointierter das zu beschreiben, was der Erzähler m. E. ausdrücken möchte, als der Begriff der Anonymität. Es geht in diesem Kontext ja nicht um die fehlende Identifizierbarkeit oder die Feststellung personenbezogener Daten. Vgl. zum Begriff der Anonymität im Internet sowie zu den verschiedenen Formen der Anonymität in diesem Sinne: Pfitzmann und Hansen 2006, insb. S. 6 f. 14 Vgl. Nissenbaum 2010, S. 145 f. 15 Vgl. Brüggen und Wagner 2018, S. 220. 13
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„deutscher Rap“ dieselbe Musikrichtung, verstehen sich selbst als „enge Freunde“ sowie als zur Rap-Szene16 zugehörig. Die wechselseitig geteilte Semantik des Freundeskreises besteht in dem auf Rap17 bezogenen gemeinsam geteilten Status informierter Experten sowie in der kollektiven Inszenierung als Experten. Mit ihrem Wissen bezüglich Rapmusik, aber auch durch die Diskursivierung der durch Rapmusik (vor allem medial) transportierten Bedeutungen grenzen sich sie von anderen Jugendlichen, aber auch von erwachsenen Personen ab. In ihrem lokalräumlichen Umfeld von Schule und Freizeit nehmen sie sich selbst als marginalisierte Gruppe wahr – „ha, ja, also wir sind damit schon Außenseiter, nicht der Normalfall sicher“. Freundschaftsrelevant sind neben Fragen des Lebensstils18 vor allem die auf Rap bezogenen Gesprächsthemen, mit denen sie den Freundschaftsraum als exklusiv markieren – „die anderen, auch Jugendliche, können damit auch nichts anfangen, verstehen’s net, wenn wir darüber im Detail sprechen“.19 Persönlich trifft sich die die fünfköpfige Freundesgruppe einmal die Woche in einem Jugendhaus in R-Stadt, um gemeinsam Musik zu hören, selbst zu rappen und das mediale Thema Rap allgemein zu diskursivieren – „wir besprechen, was in der Szene los is, […] wer was gutes released hat und so weiter“. Der hierfür notwendige Überwindung des lokalräumlichen Nahfelds kommt Selim gerne nach, wenngleich sie mit einem hohen zeitlichen Aufwand einhergeht – „ich sage nur: ich fahr da fast eine Stunde hin mit dem Bus, ja, ja“. Das gemeinsame Zusammensein, Rappen und Besprechen von Rapmusik mit den Freunden bietet als distinktive Praktik einen Rahmen, die Alltagserfahrungen im sR1 und sR2 zu diskursivieren und emotional zu verarbeiten. Von besonderer Relevanz ist etwa die Möglichkeit, eigene Affekte und Emotionen durch die gemeinsame Rapmusik auszuleben und zu artikulieren. Als eine Art kompensatori-
Zur Beschreibung bietet es sich an, mit dem jugendsoziologischen Begriff der (juvenilen) Szene zu operieren. Der aus dem Subkulturansatz abgeleitete Begriff ist spezifischer und akzentuiert insbesondere, dass es sich um eine Vergemeinschaftungsform einer (größeren) Subkultur handelt, die sich auf der Grundlage einer spezifischen Lebensstilformation konstituiert – bei der sich die Akteure (= Szenengänger) selbst als zugehörig zu dieser Szene begreifen (vgl. Hitzler und Niederbacher 2010a, S. 93). Die Szene ist auf thematische Vorlieben fokussiert, aber nicht prinzipiell selektiv und exkludierend; sie weist einen vergleichsweise geringen Verbindlichkeitsgrad (S. 93) und schwächere Sanktionspotenziale (S. 94) auf, fußt vielmehr auf „materiale[n] und mentale[n] Formen der kollektiven Selbst-Stilisierung“ (S. 95) der Jugendlichen. 17 Vgl. zur Jugendkultur des Rap und Hip-Hop einführend Ferchhoff 2011, S. 233–239; für einen Forschungsüberblick siehe Bock u. a. 2007, S. 11–15. Gemeint ist im Falle dieser Jugendlichen vor allem die Populärkultur des deutschen Rap, wie sie in den 2000er Jahren entstand und sich vor allem durch selbstironische Texte einerseits, aber auch durch die Inszenierung soziokultureller Stereotype und antibürgerlicher Ressentiments hervortat (vgl. Ferchhoff 2011, S. 236 f.). 18 Der Begriff des Lebensstils wird hier soziologisch verstanden als „raum-zeitlich strukturierte Muster der Lebensführung“ (Burzan 2014, S. 268; Hervorh. i. Orig.). Mit dem Lebensstil der Rap-Szene artikuliert sich – obschon es sich heute um eine „populäre Inszenierung“ (Herschelmann 2013, S. 59) handelt – das symbolische Auseinandersetzen zwischen sozialen Milieus. Vgl. Bourdieu 2014, 277–286. 19 Zu den (medialen) Ausdrucksformen und distinktiven Praktiken, mit welchen Jugendliche mittels Rap symbolisches Kapital akkumulieren, vgl. Herschelmann 2013 oder in Kürze s. Ferchhoff 2011, S. 238 f. 16
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
scher Gegenraum bildet der sR4 hier den notwendigen Kontrast zu einem sR2, in welchem Affekte tendenziell zurückgehalten und versteckt werden. Mit der Möglichkeit, „in der Musik auch sein eigenen Weg so zu finden“, steht Freundschaft in diesem Kontext für jene Authentizität und Individualität, wie sie im lokalräumlichen Umfeld nicht ausgelebt werden kann: Zur Semantik des sR4 gehört im Text die Selbstentfaltung, aber auch das Experimentieren, Ausprobieren und Testen, das der Disziplin und Ordnung des sR1 sowie den vorgegebenen Regeln und Verhaltensweisen des sR2 entgegensteht. Wie der sR3 ist auch der sR4 als ein in hohem Maße mediatisierter Raum realisiert: So ist Selim auf verschiedenen Social-Media-Plattformen und in Web-Foren unterwegs, um sich dort mit Gleichgesinnten über die musikalischen Aspekte der Rapmusik auszutauschen. In diesem medienvermittelten (Kommunikations-)Raum schließen sich Jugendliche aus unterschiedlichen räumlichen und situativen Kontexten zusammen, um ein für sie relevantes Thema der Lebenswelt symbolisch zu verhandeln.20 Die Mediatisierung manifestiert sich, anders als im sR3, nicht als „medial simulierter“, sondern als ein „translokaler Kommunikationsraum“.21 Gleichwohl dienen auch hier die mediatisierten Kontakte und Bezüge dazu, die lokalräumlichen Grenzen symbolisch zu überwinden. Deutlich wird dies im Text zum Beispiel anhand der habitualisierten und in den Alltag integrierten Medienpraktiken, die in Selims Alltagsroutinen eine strukturgebende Funktion übernehmen und für das erzählte Ich mit wertvollen Entgrenzungserfahrungen einhergehen. Exemplarisch verdeutlicht dies das folgende Textbeispiel 5. Es wurde einem längeren deskriptiven Abschnitt entnommen, in welchem der Erzähler darum gebeten wurde, von seinem typischen Tagesablauf zu erzählen: Textbeispiel 5 Selim (19): Abendroutine 01 S: Bevor ich abends pennen geh, immer nochmal schnell in’s MZEE, schauen was geht, 02 paar Beiträge schreiben, und was dazu hör’n. (..) So sitz ich dann da ??? [ver03 mutlich Gestik, KET] (I: ha, lachen) Sitz ich da, am Fenster, raus schaue 04 raus (kichern), sehe, Vorgarten, von der Nachbarin, hier, Gartenzwerge und 05 Flieder ne (lachen) (I: lachen)? Am Rechner, Rap, denke ich mir mein Teil 06 (lachen).
Selim erzählt, wie er abends routinemäßig ein thematisches Web-Forum zum Thema Rap besucht (Z01) und dabei aus dem Fenster schaut (Z03–04). Semiotisch kann man den Vorgarten als Extrempunkt betrachten, in welchem das ländliche, kleinbürgerliche Leben im Ort kulminiert: Synekdochisch repräsentiert er im Text das lokalräumliche Nahfeld des erzählten Ichs: Er steht für die Ruhe und Ordnung, auch aber für die Enge, Beschaulichkeit und fehlende Abwechslung, die für den Heimatort und das lokalräumliche Umfeld charakteristisch sind.
20 21
Vgl. Reißmann 2013, S. 92. Reißmann 2013, S. 91 f.
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Spannend ist, wie der Erzähler dies sprachlich realisiert und dabei versucht, gegenüber dem Interviewer einen gemeinsamen szenischen Vorstellungsraum zu etablieren: Mit der Imaginierung „Gartenzwerge und Flieder“ (Z04-Z05) nutzt er im kulturellen Wissen verankerte Bedeutungen und Assoziationen, welche in Form stereotypischer Vorstellungen kleinbürgerlicher Heim- und Familiengärten evoziert werden: Der Vorgarten will, als sichtbarer Teil des häuslichen Privatbereichs, akkurat gestaltet und regelmäßig gepflegt werden – da er schließlich die Ordentlichkeit, Sorgsamkeit und Integrität der Besitzer repräsentiert. Diese Assoziationen vor Augen, können die dort situierten Personen einem soziokulturellen Milieu zugeordnet werden; ebenfalls lässt sich eine Aussage in Bezug auf deren demografische Merkmale machen. Impliziert wird, dass es sich um ein älteres, traditionell geprägtes und konservativ-etabliertes Milieu handelt, von welchem sich Selim abzugrenzen versucht. Gegenüber dem Interviewer soll durch den gemeinsamen Vorstellungsraum Nachvollziehbarkeit geschaffen und Verständnis evoziert werden. Abschließend zeigen sich Erzähler und Interviewer angesichts des Kontrasts der imaginierten Szenerien amüsiert (Z05–06): auf der einen Seite die Welt des Rap und Hip-Hop, die sich medial auf dem PC des erzählten Ichs vollzieht, dort als translokaler Sozialraum gegeben ist, auf der anderen Seite die kleinbürgerliche Welt, die sich im nicht-medialen Nahbereich vollzieht und dort als lokaler Sozialraum gegeben ist. Rap und Hip-Hop haben für Selim damit auch eine wichtige Bedeutung in medienpsychologischer Hinsicht: Das ritualisierte Medienhandeln bringt ein bewusstes Eintauchen in eine medial gegebene Wirklichkeit mit sich. Es muss als alltäglicher medialer Eskapismus verstanden werden, mit welchem nicht nur positive Emotionen evoziert werden, sondern zugleich die soziale Rolle des Alltags in ihrer Marginalisierung kompensiert wird.22 Das Schreiben von Weblog- und Forenbeiträgen – von Selim als wichtiger Bestandteil der alltäglichen Medienroutine erzählt – befriedigt kognitive Bedürfnisse der Wissenserweiterung und ermöglicht es, sich als Person in einer differenten Rolle zu inszenieren. Weiterhin nimmt er – im Sinne der Mood-Management-Theorie der Mediennutzung23 – aktiv Einfluss auf die aktuelle emotionale Situation: Wie das Textbeispiel 5 zeigt, wird die als unangenehm erlebte Situation vermieden, um einen positiven Gefühlszustand hervorzurufen.
Zum Eskapismus-Konzept bezogen auf die Medienwahl vgl. einführend Batinic 2008, S. 115 f. Vgl. Batinic 2008, S. 117 f. Ganz grundlegend geht die Mood-Management-Theorie davon aus, „dass die Wahl von medialen Unterhaltungsangeboten von Stimmungen und Emotionen der auswählenden Person bestimmt wird“ (Batinic 2008, S. 117). 22 23
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
6.1.1.5 Distinkte und dezisionale Grenzziehungen Charakteristisch dafür, wie Selim das Medienhandeln entwirft, ist also ebenfalls der Umstand, dass die dortigen Praktiken sinnhaft mit dem lokalräumlichen Nahfeld in Verbindung gebracht werden können – und analog zur Freundschaft oppositionell auf dieses bezogen sind: Mit den Themen Rap und Gaming konstituiert sich Freundschaft auf der Ebene der intersubjektiven Beziehung entlang lebensweltlich-distinkter Interessensbereiche, welche die Freunde gemeinsam teilen. Die subjektiven Semantiken des individuellen Privatraums der Freundschaft hingegen hängen mit dem Erleben des lokalräumlichen Nahfelds zusammen: Paradigmatisch besteht die Semantik der Freundschaft darin, eine Opposition zum lokalräumlichen Nahfeld aufzubauen und mittels Freundschaft die Grenzen des lokalräumlichen Nahfelds zu überwinden und aufzulösen. Lokalräumlich meint dabei den umgebenden sozialräumlichen Bereich, mit welchem die physisch-materiellen Objekte, d. h. konkrete Orte, Plätze, Gebäude, Stadtteile usw., ebenso eingeschlossen sind wie die durch die Subjekte konstruierten Bestandteile, d. h. soziale Verhältnisse, Beziehungen, Bedeutungen usw.24 Für das Fallbeispiel von Selim sind jene Aspekte in Abbildung 8 dargestellt:
Abb. 8 Aspekte der Entgrenzung in Selims erzählter Welt
Der Begriff des Lokalen soll in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, dass es sich um einen topografisch begrenzten Bereich mit vergleichsweise eng ge-
Vgl. Kessl und Reutlinger 2010, S. 25. Siehe ebenfalls den in dieser Arbeit verwendeten Raumbegriff in Kapitel 3.4. 24
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stecktem Radius handelt. Als geografische Mikroregion wäre sie damit zwischen einem regionalen und einem rein örtlichen Gebiet situiert. Entscheidend ist jedoch nicht die geografische Größe, sondern vielmehr, dass dieses Nahfeld als sozial und semantisch zusammenhängender Bereich wahrgenommen wird. Die Grenzziehung ist damit als subjektiv und relativ zu verstehen. Vor dieser Folie artikuliert sich Freundschaft als soziale Teilhabe durch die Abkoppelung von den bestehenden Lokalräumen. Semantisch-inhaltlich geht hiermit auch eine Abwendung von den dort als gültig gesetzten Normen und Werten sowie vom kulturellen Normalfall einher. Mit seinen Freunden teilt er die gemeinsame Erlebnisorientierung, die sich als wichtiges Anknüpfungs- und Freundschaftsmotiv erweist. Auf der Wertebene sind neben klassischen Selbstentfaltungswerten wie Freiheit, Selbstverwirklichung oder Kreativität vor allem expeditive Werte wie Neuartigkeit, Offenheit oder Vielfalt zu nennen. Wichtig ist es den Jugendlichen, gemeinsame Erfahrungen zu machen, unter sich zu sein und dabei „Lebensbereiche, die ohne den Einspruch anderer und ohne Rechtfertigung ihnen gegenüber gelebt werden können“25, für sich zu beanspruchen und zu nutzen. Im Vordergrund stehen die distinktiven, aber auch die dezisionalen Funktionen, die Freundschaft durch die Konstitution eines gemeinsamen Bedeutungs- und Privatbereichs bereithält. Die Freundschaftsbeziehungen manifestieren sich überspitzt formuliert als „Überlebensbündnisse, in denen Jugendliche Erfahrungen von Benachteiligung, Ausgrenzung und Zukunftsunsicherheit bearbeiten. […] Der soziale Sinn von Verhaltensweisen, die in einer Außenperspektive als ärgerlich, unangepasst oder provokativ erscheinen, wird hier als Bemühen verständlich, mit den eigenen Problemlagen wahr- und ernst genommen zu werden.“26 6.1.2
Freundschaft als Bestätigung gemeinschaftlicher Einbindung – das Fallbeispiel Moritz
Moritz wohnt mit seinen Eltern, seiner jüngeren Schwester und seinem zwei Jahre älteren Bruder im peripheren ländlichen Raum von Baden-Württemberg. Er ist 20 Jahre alt und studiert seit einem Semester Landschaftsarchitektur an einer Hochschule der angewandten Wissenschaft in einer nahegelegenen Kleinstadt. Über ein Jahr, so sagt er, habe er benötigt, um sich seiner beruflichen Orientierungswünsche und seiner fachlichen Interessen bewusst zu werden, ein Studienfach und einen Studienort auszuwählen. Die Wahl fiel auf ein Studium der Landschaftsarchitektur, da diese Richtung seinen künstlerisch-gestalterischen Interessen entspreche. Da Moritz’ Vater als selbstständiger Landschaftsarchitekt ein kleines Architekturbüro führt, kenne er
25 26
Rössler 2001, S. 150. Scherr 2000, S. 84.
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
das Berufsbild zudem aus einer familiären Perspektive heraus. Er könne sich sehr gut vorstellen, diesen Beruf „ein Leben lang“ auszuüben. Aufgrund des Studienortes in der Nähe seines elterlichen Wohnortes müsse er zudem nicht umziehen, was nicht nur „enorm praktisch“ sei, sondern zudem auch seinem Wunsch, „bei den Freunden und der Familie [zu] bleiben“, entspreche. Gegenüber dem Gespräch mit Selim unterscheidet sich der Text des Gesprächs mit Moritz sowohl auf der strukturellen wie auf der semantisch-inhaltlichen Ebene: Auf der strukturellen Ebene ist der durchaus umfangreiche lebensgeschichtliche Erzählteil zu nennen, welcher mit Fokus auf die biografische Vergangenheit hervorgebracht wurde. Er steht im Gegensatz zum gegenwartsbezogenen und eher interaktiven Gespräch mit Selim, das letztlich ohne lebensgeschichtliche (Gesamt-)Erzählung auskommt.27 In semantisch-inhaltlicher Hinsicht unterscheiden sich die Texte in der Bedeutung, die dem lokalräumlichen Nahfeld zukommt: Auch bei Moritz ist dieser persönliche Umgebungsbereich des Lebensraums signifikant für den semantischen Entwurf der Freundschaft, weshalb sich die Texte paradigmatisch in Bezug auf die sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung des erzählten Ichs vergleichen lassen. Das lokalräumliche Nahfeld differenziert sich aber nicht nur unterschiedlich aus, sondern wird darüber hinaus auch oppositionell semantisiert. 6.1.2.1 Die schöne Kindheit – Determinanten sozialer Geborgenheit Wird die lebensgeschichtliche Erzählung von Moritz in Bezug auf die zeitliche Organisation der histoire hin analysiert, so lassen sich drei zentrale Erzählsegmente, welche als „erzählerisch geschlossener Lebensabschnitt“28 zu verstehen sind, identifizieren: – Das erste Erzählsegment beginnt mit der Geburt und reicht bis zum Abschluss des Gymnasiums im Alter von 18 Jahren (= Zeitabschnitt eins; Za1). Es handelt von Moritz’ Kindheit, thematisiert kurz die familiären Gegebenheiten und die Freizeitaktivitäten, die sich v. a. um den Motocross-Sport drehen. Insgesamt werden die Ereignisse der Kindheit und frühen Jugend in sequenzieller Abfolge aufgezählt. Den Beginn mit dem Motocross-Sport im Alter von acht Jahren behandelt der Erzähler vergleichsweise ausführlich, ohne dass diese Lebensstation später aber relevant wird. Hinsichtlich der strukturellen Ich möchte dieser Präferenz des Erzählers – wie im qualitativen Forschungsparadigma vorgesehen – in dieser Fallanalyse auch einen entsprechenden Raum geben, weshalb ich vergleichsweise ausführlich auf die erzählte Lebensgeschichte eingehe und die histoire ausführlich rekonstruiere. Dies ist in der Stichprobe typischerweise nicht in diesem Detailgrad möglich. 28 Vgl. zur sequenziellen Gliederung des Erzähltextes durch die Erzählperson in einzelne Erzählsegmente: Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 109–114. In ähnlicher Weise s. das Konzept der „Erfahrungsund Ereigniskette“ (S. 88) sowie die „Darstellung von Teilphasen lebensgeschichtlicher Prozeßabläufe“ (S. 89) bei Fritz Schütze: vgl. Schütze 1984, S. 88–90. 27
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Dimension wird der Za1 überwiegend aufzählend und gerafft29 wiedergegeben; hinsichtlich der semantisch-inhaltlichen Dimension liegt keine narrative Binnenstruktur vor.30 Der Erzähler evaluiert den Za1 mit der Bemerkung, eine „sehr schöne Zeit“ erlebt zu haben, und leitet die Präsentation des Za2 mit der Formulierung „Tja und dann kam das große Thema Studiumssuche bei mir“ sprachlich ein.31 Das zweite Erzählsegment umfasst ebendiese circa eineinhalbjährige Phase der Berufswahl und Studiengangssuche, die mit der Erlangung des Abiturs beginnt und mit dem postalischen Eingang des Zulassungsbescheids endet (= Zeitabschnitt zwei; Za2). In der lebensgeschichtlichen Erzählung wird diese biografische Etappe von Moritz ausführlich behandelt.32 Der Za2 wird weiterhin als zusammenhängender Erfahrungskomplex behandelt. Mit dem höheren narrativen Auflösungsgrad nehmen Selbst- und Fremdpositionierungsaktivitäten zu; weiterhin ergeben sich relevante Handlungsverläufe: Das erzählte Ich ist in Za2 erstmals an der Geschichte ‚beteiligt‘: Moritz tauscht sich zum Beispiel mit seinen Freunden aus und versucht „herauszufinden, wo die Reise hingehen soll“. Die narrative Binnenstruktur nebst Transformation des Ausgangszustandes ist konstitutiv für diese Phase. Das dritte Erzählsegment beginnt mit dem vor Kurzem aufgenommenen Studium und reicht bis zum heutigen Zeitpunkt (= Zeitabschnitt drei; Za3). Bezogen auf die erzählte Zeit charakterisiert es den gegenwärtigen Status quo und ist auf der subjektiven, lebensgeschichtlichen Zeitdimension33 als Gegenwart
29 In Anbetracht der umfangreichen lebensgeschichtlichen Erzählung ist der Erzähler auch im korpusübergreifenden Vergleich ausführlich: Statt nur zu sagen, dass er in den Kindergarten ging, benennt er diesen zum Beispiel mit Namen und nennt die Straße. 30 Dies gilt für die narrative (Makro-)Struktur dieses Erzählsegments; es lassen sich durchaus narrative Mikrostrukturen getreu dem Muster der Minimalbedingungen von Narrativität (vgl. einführend Grimm 1996, S. 161 f.) finden (zum Beispiel die Suche nach einem geeigneten Kindergarten, die zunächst aufgrund einer Erkrankung von Moritz fehlschlägt). 31 Es drängt sich meines Erachtens der Eindruck auf, dass der Erzähler bewusst auf diese Lebensphase ‚zusteuert‘, gewissermaßen unbedingt von ihr erzählen möchte, weswegen er die früheren Lebensstationen vielmehr ‚pflichtgemäß‘ behandelt, sie jedoch nicht in einen narrativen Gesamtzusammenhang bringt. Natürlich mag es auch eine Rolle spielen, dass diese Erfahrungen noch nicht so sehr in der Vergangenheit liegen, kognitiv präsent waren und in der Interviewsituation gut erinnert werden konnten. Aus seinem aktuellen Orientierungszentrum heraus markiert er den Za2 aber unabhängig davon als subjektiv bedeutsam. 32 Die Aspekte, die ich nachfolgend zum Za1 schildere und analytisch darlege (siehe Abbildung 9), stammen dennoch nicht gänzlich aus dem lebensgeschichtlichen Erzählteil, sondern ebenfalls aus den Nachfragephasen des Gesprächs. In diesen habe ich Moritz öfters nach zum Beispiel (Freundschafts-)Erlebnissen aus dem Za1 gefragt. Der Aufbau meiner Analyse der präsentierten Lebensgeschichte des erzählten Ichs – ich beginne mit Za1, fahre mit Za2 fort und ende mit Za3; gehe also sequenziell in Bezug auf die erzählte Zeit vor – entspricht nicht immer ihrer zeitlichen Präsentation im Gespräch durch den Erzähler. 33 Ich greife hier – und auch im Folgenden – auf eine Differenzierung der analytischen Zeitphilosophie zurück, die das subjektive Moment des ‚Zeiterfahrens‘ in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt und kurz eingeführt sei. Mit Peter Bieri kann zwischen einer chronologischen (B-Reihe) und einer (lebens-)ge-
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zu verstehen. Bezogen auf die Erzählzeit ist diese Phase der Gegenwart quantitativ äquivalent zur zweiten Phase des lebensgeschichtlichen Erzählteils.34 Die Abbildung 9 gibt hierzu einen Überblick. Qualitativ signifikant für den Za1 ist das Gefühl gemeinschaftlicher Einbindung, das sich mit Blick auf das lokalräumliche Nahfeld auf verschiedene Art und Weise artikuliert. Das folgende Textbeispiel 6 detailliert die Frage nach der „schönen Kindheit“, mit welcher der Erzähler den Za1 evaluiert hatte. Der Interviewer fragt diesbezüglich nach (Z01–03) und bittet den Erzähler, die gemachte Aussage zu begründen (Z05): Textbeispiel 6 Moritz (20): Wir duzen uns alle 01 I: Du hast eingangs, also ganz am Anfang mein ich (.), gesagt (M: mhm), dass 02 du eine (.), wie hast du gesagt also (.), dass du eine schöne Kindheit 03 hattest und also auch gerne daraufhin zurückblickst? 04 M: Absolut stimmt. Ja. 05 I: Ok. (.) Warum? […] 06 M: (UHMMM) Ja. (4) 07 I: Fällt dir etwas ein? (.) Wa/ Also wie würdest du das sagen? 08 M: Also ich mags einfach in E-Stadt. Es ist einfach schön oder war immer, früher, 09 schön, des// (..) Also zum Beispiel bei uns, in der Kindheit, da haben wir immer 10 im Freundeskreis den einen Tag bei eigenem und den nächsten Tag beim nächsten 11 Freund zu Mittag gegessen. (Mhm) Also so nach der Schule, ja? (I: mhm) Und das so 12 reihum eben, immer bei einem, immer beim andern. Und man// Meine Freunde duzen 13 meine Eltern, ich deren. 14 I: Ja. 15 M: (Uh) Au Lehrer teils oder Guido, im Ort, Kiosk an der Bahnsteige, ja. 16 I: (He) Verstehe. Und das hat (ähm) eine Bedeutung? 17 M: Ja, ja. Das isch so: Jeder kennt den, im Ort, schon seit der Kindheit lauf ich an 18 seim Platz vorbei, heute noch, Kiosk steht da unverändert (.) (I: mhm), das hat 19 scho was Solidarisches bei uns wenn dann sagt [sic], so: „Hey Moritz“. (.) Wenn 20 ich mir vorstelle, Berlin, jetz, sonst was, müsst ich mir alles neu, ja, aufbauen 21 (I: mhm), Locations, Freunde. (MHMM) (..) Weiß au net.
schichtlichen (A-Reihe) Form der Zeitbestimmung unterschieden werden (vgl. Bieri 1972, S. 177–188): Die chronologische B-Reihe meint Erlebnisse, die anhand der Relationen ‚früher als‘, ‚gleichzeitig‘ und ‚später als‘ geordnet sind. Ihr zentrales Merkmal ist die Unveränderlichkeit. Die geschichtliche A-Reihe meint hingegen Erlebnisse, die anhand der Relationen ‚vergangen‘, ‚gegenwärtig‘ und ‚zukünftig‘ geordnet sind. Ihr zentrales Merkmal ist die Relativität. Während die B-Reihe unabhängig vom Subjekt gedacht werden kann, ist im Fall der A-Reihe erstens der Zeitpunkt und zweitens die subjektive Sinn-Perspektive konstitutiv. Zentral für das Verständnis ist also der unmittelbare Subjektbezug, der eine von einer chronologischen Relation losgelöste semantische Konzeptualisierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ermöglicht. 34 In den Nachfragephasen des Gesprächs tendiert Moritz dazu, vor allem von dieser gegenwärtigen (Lebens-)Phase zu erzählen, und kommt auch dann, wenn er nach ‚früher‘ gefragt wird, dazu, wieder auf die ‚Gegenwart‘ zurückzukommen – zum Beispiel um diese mit dem ‚früheren‘ zu kontrastieren. Natürlich kann es für diese Erzähltypik vielfältige Erklärungen geben. Dass sich das „aktuelle Orientierungszentrum“ (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 25) auf diese Zeit bezieht, hängt m. E. aber hauptsächlich damit zusammen, dass sich der Erzähler mit dem erzählten Ich der Gegenwart besonders identifizieren kann (siehe hierzu auch den folgenden Abschnitt).
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Abb. 9 Rekonstruktion der histoire in Moritz’ erzählter Welt
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Die schöne Kindheit, die der Erzähler vor Augen hat, kann er zu Beginn nur schwer explizit machen: Nach einer längeren Pause (Z06) scheitert zunächst der Versuch, eine Begründung zu formulieren (Z08–09). Daraufhin lässt er sich von seinen Erinnerungen leiten und exemplifiziert sein Erleben anhand einer Erfahrung, welche er wiedergibt (Z08–13). Die kurze narrative Anekdote macht das soziale Miteinander innerhalb des lokal gegebenen Sozialraums deutlich; sie zeigt, wie die dort situierten Personen miteinander umgehen: Signifikant ist im Text das wechselseitige Duzen der Personen; dieses steht, wie sich mithilfe des kulturellen Wissens schlussfolgern lässt, synekdochisch für die Vertrautheit und interpersonelle Nähe, die im lokalräumlichen Nahfeld vorherrscht. Soziale Nähe existiert nicht nur dort, wo sie qua Konvention erwartet wird, etwa innerhalb familiärer Strukturen oder in den informellen Beziehungen zu gleichaltrigen Freunden, sondern bezieht sich zugleich auf formelle Beziehungen zu Erwachsenen (Z13). Die hierarchisierten Beziehungen gegenüber Lehrkräften (Z15), in welchen ebenfalls geduzt wird, bilden aufgrund der Unerwartbarkeit dieses Umstandes einen Extrempunkt der sozialen Nähe. Der Zuhörer kommt um eine Symptominterjektion – er lacht ganz kurz (Z16) – nicht umhin und macht damit unwissentlich deutlich, dass er das Gemeinte, die Gemeinschaftlichkeit, korrekt abstrahieren kann. Im Anschluss führt der Erzähler noch ein weiteres Beispiel an, das die Gemeinschaftlichkeit und soziale Nähe belegen soll.35 Diesbezüglich ist – gemessen an den Freundschaftserzählungen dieser Stichprobe – das breite Inventar an Figuren auffällig, von denen Moritz im Erzählinterview erzählt bzw. die er im Gespräch zumindest erwähnt. Im lokalräumlichen Nahfeld situiert sind neben seinen Freunden aus der Kindheit, den Großeltern und dem Kioskbesitzer Guido (siehe Z15) die Mitglieder der Kernfamilie. Dies sind Vater Nils, Mutter Verena, seine jüngere Schwester sowie der zwei Jahre ältere Bruder Philipp. Auf der extradiegetischen Kommunikationsebene legt Moritz Wert darauf, gegenüber dem Interviewer zu betonen, welch gutes Verhältnis er zu ihnen pflegt. Dieser müsse sich die Beziehung „schon so als sehr locker und im Grunde eher freundschaftlich“ vorstellen. In einer weiteren, direkten Adressierung des Interviewers betont er später, dass dies „wirklich“ so sei. Seinen Bruder bezeichnet er als „engster Vertrauter“, mit dem er sich „blind“ verstehe und „über alles reden“ könne (siehe hierzu auch das folgende Kapitel 6.1.2.2). Gegenüber dem Elternhaus wohnen schließlich die Großeltern und Moritz ist dankbar, dass diese „für ihr Alter noch sehr fit“ seien. Im Text laden sie regelmäßig zu Feierlichkeiten ein, bei welchen sich die „ganze Familie“ treffe. Er entwirft so ein verbindliches und harmonisches Familienbild, das nicht von Konflikten oder Spannungen getragen ist. Vertrautheit, Gemeinschaftlichkeit und Ehrlichkeit sind wesentliche Merkmale des gegenseitigen Umgangs. 35 Der Begriff der Solidarität, den der Erzähler selbst nennt (siehe Z19), ist vermutlich nicht ganz passend. Mir scheint es im Text vor allem um soziale Nähe und Eingebundenheit zu gehen, was m. E. auch die Ausführungen nach der Nennung des Solidaritätsbegriffs belegen.
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Durch den Erzähler wird der Weltentwurf in Za1 überdies mit der Semantik der Geborgenheit und Sicherheit versehen. Eine wichtige Rolle hierfür spielen die stattfindenden (Alltags-)Routinen, welche die Ordnung der erzählten Welt determinieren und im Text eine „Vereinfachung vor allem der Alltagstypik“ bewirken.36 Dies ist bereits in Textbeispiel 6 (Z09; Z17–18) sehr schön zu erkennen: Personen wie Kioskbesitzer Guido, Vereinstrainer Ron oder die Großeltern werden anhand der Merkmale der Gewohnheit und Regelmäßigkeit semantisiert, was sich in der Kontinuität sozialer Prozesse, institutioneller Gebilde und materieller Objekte des Weltmodells manifestiert: So besteht die zentrale Eigenschaft des Kiosks in der Unveränderlichkeit (Z18), die markante Eigenschaft des Schulgebäudes darin, dass dieses „sicher nie gestrichen [werden] wird“. Sozialräumlich gesehen werden „in der gewohnheitsmäßigen Wiederholung alltäglichen Handelns […] die gesellschaftlichen Strukturen rekursiv reproduziert“,37 während die Routinen für das Subjekt „Sicherheiten und ‚Seinsgewißheit‘“38 vermitteln. Im Text erfüllen die Figuren und Objekte die Funktion, die gegebene Sozialität über konstitutive Alltagsroutinen kontinuierlich zu reproduzieren. Insgesamt ist diese Sozialität das wesentliche Merkmal des lokalräumlichen Nahfelds. Aus ihr ergibt sich die gemeinschaftliche Einbindung des erzählten Ichs in Za1. Konstitutiv ist ein differenziertes Netz an sozialen Beziehungen, das von lockeren Bekanntschaften über enge Freundschaftsbeziehungen bis hin zu einer generationenübergreifenden, integrativen Familienstruktur reicht. Sozialkapitalrelevant sind sowohl schwache wie starke Bindungen.39 Mit der sozialen Einbindung ist im Text ein spezifischer Entwurf der narrativen Identität aus Za1 verbunden: Charakteristisch für Moritz’ erzähltes Ich ist die gute Laune – „ich bin eigentlich immer gut drauf“ – sowie eine offene und lebensfrohe Einstellung. Insgesamt zeichnet er das Bild eines unkomplizierten und umgänglichen Jugendlichen, der empathisch, rücksichtsvoll und ehrlich ist. Er ist gegenüber der Umgebung nicht deviant, sondern kooperativ eingestellt und fühlt sich in dieser wohl. Vor dieser Folie stellt das Ende der Schulzeit mit dem Abschluss des Abiturs (t1) ein hochrangiges Ereignis dar. Jugendsoziologisch betrachtet kann die Phase als individuelle Orientierungssuche und Eintritt in das Erwachsenenalter40 verstanden werden, was vom Erzähler auch so reflektiert wird (siehe das folgende Textbeispiel 7). Semiotisch-narrativ bringt es die Ordnungssätze, welche die erzählte Welt strukturieren, durcheinander: Semantisch wird der Za2 als Phase der Veränderung entworfen und mit Unbehagen und Unsicherheit korreliert. Im Text wird das erzählte Ich mit der Frage konfrontiert, ob er in der elterlichen Wohnung bleiben oder vielmehr aus-
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Schütz und Luckmann 2003, S. 483. Löw 2015, S. 163. Löw 2015, S. 163 (Hervorh. i. Orig). Vgl. Granovetter 1973. Vgl. hierzu einführend Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 33–39.
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
ziehen solle – „wie man’s ja eigentlich schon tun sollte heutzutage“. Hieran schließt sich die Frage nach dem Verbleib im lokalräumlichen Nahfeld an, da er für das „Wunschstudium“ eigentlich in eine andere Region ziehen müsse. Konfrontiert mit den von gesellschaftlicher Seite an ihn herangetragenen Normalitätserwartungen nimmt er wahr, wie Individualisierung „im weitesten Sinne eben (auch) nichtintendierte und zu großen Teilen dysfunktionale Konsequenzen sowohl für Individuen als auch für Kollektive“41 mit sich bringt. Da er beruflich keine ‚falsche‘ Entscheidung treffen möchte, lässt er sich mit der Entscheidung besonders lange Zeit, was das unbehagliche Gefühl intensiviert. Insbesondere mit Blick auf die narrative Identität ist das Ende der Schulzeit dementsprechend als ereignishaft zu werten: Es hat einen inkonsistenten (Selbst-)Zustand zur Folge, der sich dadurch ergibt, dass die bisherige Ordnung der diegese aus Za1 in Frage gestellt wird. Im nachfolgenden Textbeispiel 7 macht Moritz diesen Selbstentwurf deutlich: Textbeispiel 7 Moritz (20): 17000 Sachen machen 01 M: 02 03 04 I: 05 M: 06 07
(Hm) Also man muss ja schließlich was machen, Pflicht (.) und (uhm) (I: mhm), und ich? Tja (.), lunger zuhause rum, ja. Eineinhalb Jahre. Ok hab (.) gejobbt und so, klar. Aber halt so ins Freie rein (I: mhm) (..). Was meinst du damit? Sowas ist nichts für mich, 17000 Sachen machen, nichts konkretes (.), war oft au schlecht gelaunt (ts) bekamen au mal meine Freunde und die Familie ab, also grad die an mir perSÖNLICH interessiert sind und so bin ich nich (lachen).
Der Erzähler nutzt zunächst das neutrale Personalpronomen „man“ sowie den verbindlich konnotierten Pflicht-Begriff (jeweils Z1), um eine allgemeingültige Anforderung an die Ausgestaltung des eigenen Lebens zu formulieren: Es ist die Verantwortung eines jeden, einer (geregelten) Arbeits- oder Ausbildungstätigkeit nachzugehen. Ohne sinnvolle Beschäftigung zu sein lehnt er ab, was deutlich durch die despektierliche Sprache – „lunger zuhause rum“ (Z02) – und die hyperbolische Formulierung – „17000 Sachen machen“ (Z05) – vermittelt wird. Sich selbst positioniert er damit als eine pflichtbewusste und verantwortungsvolle Person, die es anstrebt, den gesellschaftlichen Anforderungen nachzukommen. Der gegenwärtige Lebenszustand widerspricht dem eigenen Selbstverständnis und Selbstentwurf. Aufgrund der Dissonanz verschlechtert sich die emotionale Stimmung des erzählten Ichs (Z05–06), womit das Selbst zugleich als aufrichtig und moralisch integer charakterisiert wird – ein Selbstentwurf, den Moritz im Gespräch wiederholt vornimmt. Der abschließende kurze selbstreferenzielle Teil (Z07) nebst parasprachlicher Coda – der Erzähler lacht
41
Hitzler und Niederbacher 2010b, S. 12.
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(ebenfalls Z07) – verdeutlicht, wie sich der Erzähler von einem erzählten Ich distanziert (hat) und für sein ‚eigentliches‘ Selbst andere Identitätsfacetten beansprucht. Er ist ein positiver Mensch und eben keine Person, die „schlecht gelaunt“ (Z06) und gegenüber dem engen Bezugskreis destruktiv eingestellt ist. Insofern stehen sich in Za1 und Za2 eine ‚authentische‘ sowie eine ‚nicht-authentische‘ Person gegenüber (siehe auch Abbildung 9). Authentisch sei dabei so verstanden, dass die Erzählperson im retrospektiven Blick, auf ihr Selbstbild bezogen, keine Dissonanz in ihrem Verhalten, Handeln und Fühlen wahrnimmt.42 Diesen ‚authentischen‘ Identitätsentwurf schreibt der Erzähler dem Ich in Za1, nicht aber in Za2 zu. Dieses ist vielmehr von einem Zustand der Entfremdung gekennzeichnet, welcher sowohl ein beeinträchtigtes Verhältnis gegenüber der sozialen Umwelt als auch gegenüber dem Selbst umfasst.43 In Anlehnung an Rahel Jaeggi ließe sich von Selbstentfremdung im Sinne einer „inneren Entzweiung“44 sprechen: Gemeint sind u. a. Fälle, in denen eigene Verhaltensweisen dazu führen, dass man sich selbst wie ein Fremder vorkommt. Es geht um Situationen, in denen man sagen möchte: ‚Das kann doch nicht ich sein‘, und sich dennoch als merkwürdig unfähig erweist, das Verhalten, von dem man sich derart befremdet fühlt, bzw. die Wünsche, von denen man sich auf diese Weise distanziert, abzuweisen.45
Den Extrempunkt dieser Phase bildet im Text ein lautstark ausgetragener Streit mit dem Bruder Philipp, der wichtigsten freundschaftlichen Bezugsperson, mit welcher ein besonders harmonisches Verhältnis postuliert wird (siehe hierzu ausführlich das folgende Kapitel 6.1.2.2). In diesem Konflikt kulminierten die Entfremdung und Unzufriedenheit des Selbst. Im lebensgeschichtlichen Verlauf bewirkt er, dass das erzählte Ich spontan mit dem Bewerbungsschreiben beginnt. Moritz gibt dem ersten Impuls nach und bewirbt sich u. a. um einen Studienplatz der Landwirtschaftsarchitektur in der nächstgelegenen Kleinstadt. Mit dem Verfassen der Bewerbung wird die Lebensgeschichte weiter vorangebracht:
In Anlehnung an Charles Larmore spricht Michael Hofer bei dieser Art der Selbstpraktik von „praktischer Reflexion“ (Hofer 2016, S. 153): „Die Reflexion gestattet in dieser Gestalt, eine an den Tag gelegte Verhaltensweise oder eine gefasste Maxime oder die voluntative Selbstbestimmung im Ganzen ausdrücklich hervorzuheben und zu bekräftigen oder auch eine Neuausrichtung vorzunehmen. […] Durch sie wird eine Neuausrichtung oder erneute Abstimmung mit dem, wer wir sein wollen, vorgenommen“ (S. 152 f.). 43 Vgl. zu dieser sozialphilosophischen bzw. -psychologischen Auslegung des Entfremdungsbegriffs als subjektiv wahrgenommene Selbstentfremdung vom eigenen Selbstverständnis grundsätzlich Jaeggi 2016, S. 71–79. Die Problematik der Wesensbestimmung und die daraus resultierende Entfremdungskritik wird von der Autorin zu Recht ausführlich behandelt. 44 Jaeggi 2019, S. 144. 45 Jaeggi 2019, S. 144 (Hervorh. i. Orig.). 42
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
Textbeispiel 8 Moritz (20): Gefühlte Ewigkeit 01 M: 02 03 04 I: 05 M: 06 07 I: 08 M: 09 10
Und (uh) tja, bereits beim Schreiben hab ich eigentlich so gemerkt, dass das voll das Richtige für mich isch. (.) Ja, inhaltlich aber au weil wir schon überlegt hatten, also mein Bruder und ich-Ja. Ihr ja. überlegt hatten, und noch ein Dritter, im Haus von den Großeltern ne WG zu machen (.) und (.) das dann alles super passen würde, da die zu mein Eltern ziehen. Oh ja, gut. Und was ist passiert oder wie ging es weiter? So kam’s dann auch, also die Großeltern sind zu meinen Eltern gezogen und wir drei ham die WG gemacht und (..) alles, viel selber umgebaut […]. Aber ja, kann nur sagen, die Wartezeit bis ich zugelassen wurd, war schlimm, gefühlte Ewigkeit.
Wie zu sehen ist, bezieht sich der Erzähler auf ein emotionales, nicht vom Verstand geleitetes (Bauch-)Gefühl, um diesen Schritt als richtig einzuordnen (Z01–02). Etwaige Vernunftgründe, wie das inhaltliche Interesse am Studienfach, sind diesem untergeordnet. Erzählerisch wird dies vor allem durch die Folgeepisode zum Ausdruck gebracht, der Bildung einer Wohngemeinschaft mit den Freunden (Z02–06). Als signifikant erweist sich also eine alltagspraktische Überlegung, hinter welcher das Motiv sozialer Einbindung steht: Für das erzählte Ich gilt es, die Gegenwärtigkeit gemeinschaftlicher Einbindung zu bewahren und in die Zukunft zu verlängern. Der Eingang des Zulassungsbescheids zum Studium stellt vor dieser Folie ein hochrangiges Ereignis dar. Mit ihm wird eine vormals gegebene Situation, die soziale Tatsache der gemeinschaftlichen Einbindung zum einen und ein individueller Selbst-Zustand der Authentizität zum anderen, wiederhergestellt. Auf der narrativen Makrostruktur der Lebensgeschichte wird der inkonsistente Zustand aus Za2 aufgelöst und in einen konsistenten Zustand für die Za3 überführt. Die hohe subjektive Relevanz, die dieser Transformation zukommt, wird auf der A-Reihe u. a. durch das Zeiterfahren als „gefühlte Ewigkeit“ (Z10) betont. 6.1.2.2 Die Dialektik der Kontinuität und Veränderlichkeit Diese anhand der Makrostruktur der Lebensgeschichte erarbeitete Semantik ist ebenfalls maßgeblich dafür, wie Moritz die Freundschaft erzählerisch entwickelt: Dem privaten Freundschaftsraum kommt die zentrale Aufgabe zu, die Gegenwärtigkeit gemeinschaftlicher Einbindung zu bewahren. Wird das empirische Material im Hinblick auf die Konstitution der Freundschaftssemantik hin analysiert, so können hierfür zwei semantische Teilräume unterschieden werden. Gemeinsam machen diese die Bestätigung gemeinschaftlicher Einbindung aus. Die semantischen Teilräume gehen aus Abbildung 10 hervor. Zunächst sei vorangestellt, dass die in Abbildung 10 aufgeführten persönlichen Beziehungen von Moritz entweder sprachlich-strukturell mit dem Freundschaftsbegriff belegt oder inhaltlich als freundschaftlich semantisiert werden. Der erste semantische
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Abb. 10 Freundschaft als Bestätigung sozialer Einbindung
Teilraum (tR1) setzt sich aus der Beziehung zu seinem Bruder Philipp, aus der „Clique aus Kindertagen“ sowie aus den „Freunde[n] in der Schule“ zusammen. Der zweite Teilraum (tR2) ist mit Blick auf den Text mit den „Freunde[n] aus aller Welt“ sowie im Hinblick auf den „Sportkader“ fassbar. Korrespondierend machen der tR1 und der tR2 mit den genannten Personen(kreisen) und Freundschaften die Bestätigung gemeinschaftlicher Einbindung aus. Als ersten Freundeskreis thematisiert Moritz dessen Freunde aus der Kindheit. Die erste Gemeinsamkeit, von welcher bei der Nennung bzw. Einführung dieser Personen erzählt wird, besteht in der gemeinsamen lokalen Privatheit der Freunde: Alle kämen „hier aus der Gegend“ bzw. „aus der Nachbarschaft“. Soziale Einbindung ergibt sich damit aufgrund der topografischen Nähe der Personen und muss als solche nicht ‚erkämpft‘ werden. Sie ist weiterhin unabhängig von persönlichen Eigenschaften und individuell verschiedenen Interessen gegeben. Der Erzähler betont in diesem Zusammenhang, dass sie alle verschieden seien, was allerdings „voll in Ordnung“ gehe und von allen akzeptiert werde. Die Fähigkeit zur Toleranz wird als Resultat der gemeinsamen räumlichen Situierung erzählt. Als zweite und dritte Gemeinsamkeit wird die lange Dauer der Bekanntheit sowie die personelle Unveränderlichkeit dieses festen Personenkreises hervorgehoben. Charakteristisch für die Freundesgruppe ist der Umstand, dass sie sich seit der Kindheit aus dem gleichen Personenkreis zusammensetzt. Wie die folgende (kurze) Episode aus Textbeispiel 9 zeigt, wird die Unveränderlichkeit und Bekanntheit wiederum mit einem besonderen Maß an Vertrautheit sowie mit Diskretion korreliert:
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
Textbeispiel 9 Moritz (20): Als wir beim Fasnet waren 01 I: 02 M: 03 04 05 06 07 08 09
Fällt dir da vielleicht ein Beispiel ein? (.) Also// (Ahm) (4) Als wir beim Fasnet waren. […] Wir kamen dann nach Hause, deutlich spät natürlich, ham im Haus Lärm gmacht, da wir so etwas betrunken warn (ha) und (.) Rickards Eltern ham das sicher gehört, aber auf jeden Fall hab ich dann im Haus was runtergeworfen, so dass des kaputt gangen isch (.) (I: mhm), […] Rickard hat’s seinen Eltern nicht verraten (.), ok wär eh nicht schlimm gewesen, wär egal gewesen aber trotzdem. […] Da wir seit der Kindheit die gleichen Leute in der Gruppe sind, kennen wir uns sehr gut. Da behält man solche Sachen für sich. Man hält zusammen.
Die Merkmale eines diskreten und vertrauensvollen Umgangs, die die „Clique aus Kindertagen“ ausmachen, sind auch bei der Beziehung zu Moritz’ Bruder Philipp als wichtig anzusehen. In Kapitel 6.1.2.1 wurde bereits angedeutet, dass diese verwandtschaftliche Beziehung als Freundschaft zu verstehen ist.46 Indem der Erzähler seinen Bruder als seinen „engsten Vertrauten“ betitelt und postuliert, sich mit diesem „blind“ zu verstehen und „über alles“ reden zu können, hebt er ihn in freundschaftlicher Hinsicht als Extrempunkt hervor. Hierzu passt, dass die genannten Merkmale aufgrund des verwandtschaftlichen Status in der Person von Philipp gewissermaßen kulminieren: In Bezug auf die lokale Privatheit teilt er mit Philipp dieselbe Wohnung bzw. Wohngemeinschaft, während die Dauerhaftigkeit sowie Unveränderlichkeit der personellen Beziehung aufgrund der biologischen Verbindung absolut sind. Die „Freunde in der Schule“ – gemeint ist mit der Schule sehr wahrscheinlich die Gemeinschaftsschule in der angesprochenen Kleinstadt, die der Erzähler besuchte; dies ist aber nicht eindeutig rekonstruierbar – bilden den letzten Personenkreis im tR1. In Bezug auf die charakteristischen Merkmale weisen sie zwar die schwächste Ausprägung auf, allerdings sind sie auch hier signifikant für die freundschaftliche Verbindung, die Moritz artikuliert. In Bezug auf die lokale Privatheit werden die gemeinsame institutionelle Einbettung sowie die geteilten Routinen im Schulalltag als relevant gesetzt. Die Freundschaftspraktiken mit dieser Gruppe werden als normal und unauffällig beschrieben: Ihr wesentliches Merkmal besteht darin, dass es eigentlich „nichts groß [zu] erzählen“47 gebe und es sich um „normale Freundschaften“ handle. Es liegt nahe, dass sich gemeinschaftliche Einbindung hier weniger aufgrund des subjektiven Austauschs von Vertrauen und der Preisgabe persönlicher Gefühle konstituiert, wie es etwa bei Zur Diskussion, ob (formelle) Verwandtschaftsbeziehungen auch als (informelle) Freundschaftsbeziehungen gelten können, siehe in Kürze Eberhard und Krosta 2004, S. 27 f. bzw. ausführlicher NötzoldtLinden 1994, S. 139–146. Mit Blick auf die hier zugrunde gelegte Freundschaftsdefinition als Gefühl emotionaler Verbundenheit (siehe Kapitel 3.3) sowie auf das textimmanente Verständnis (siehe Kapitel 4.2) ist diese theoretische Frage zweitrangig. Mich interessiert, was und weshalb Freundschaft im Text zeichenhaft realisiert wird. 47 Ironischerweise stimmte dies auch in extradiegetischer Hinsicht, denn Moritz fiel im Gespräch keine Geschichte ein, die er zu den Schulfreunden erzählen konnte. 46
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der „Clique aus Kindertagen“ oder bezüglich der Beziehung zum Bruder postuliert wird, sondern vielmehr auf der objektiven Grundlage einer gemeinsamen institutionellen Einbettung fußt. Trotz der postulierten Ereignislosigkeit ist es Moritz ein Anliegen, die Wichtigkeit der Schulfreunde herauszustellen und zu betonen, dass sich alle sehr gut verstünden. Von seinem Ich zeichnet er wiederholt das Bild eines umgänglichen und toleranten Jugendlichen, der dauerhafte Beziehungen anstrebt und dem die Harmonie besonders wichtig ist. Die drei Freundschaftsgruppen bzw. -komplexe sind nicht voneinander abgegrenzt, sondern bilden mit dem tR1 ein semantisches Ganzes: Die Personen sind im gleichen lokalräumlichen Gebiet situiert und kennen sich meist persönlich. Auf der Handlungsebene finden im Text etwa gemeinsame Urlaube statt, an welchen die Freunde der unterschiedlichen Gruppen wie auch die Familienmitglieder teilnehmen. Verdeutlicht wird die Vertrautheit und soziale Gemeinschaft, welche sich aus der Kontinuität ergibt und den tR1 konstituiert. Noch zwei weitere Personenkreise sind für Moritz freundschaftsrelevant. Diese sind im Text dem tR2 zugeordnet, der vom tR1 allerdings hinsichtlich der Merkmale Nähe, Offenheit und Veränderlichkeit abgegrenzt ist: Ein wichtiges lebensgeschichtliches Erzählthema im Gespräch stellt der Motocross-Sport dar, welchen Moritz seit früher Kindheit ausübt. Auf die Frage nach seinen Freunden nennt der Erzähler diesbezüglich die „Freunde im Sport“, womit diejenigen Personen gemeint sind, die er durch seine Motocross-Aktivität kennt. Weiterhin spricht er von „Freunde(n) aus aller Welt“, welche er u. a. bei seinem Südamerikaaufenthalt sowie bei Motocross-Turnieren im In- und Ausland kennengelernt habe. Konkrete Personennamen werden nicht genannt, auch werden bezüglich dieser Freundesgruppen keine Geschichten präsentiert – ihm fällt im Gespräch nichts ein. Vielmehr beschreibt er die „Freunde im Sport“ unmittelbar selbst und nimmt eine Einordnung in Bezug auf ihre sinnhafte Bedeutung vor: Textbeispiel 10 Moritz (20): Ganz unterschiedliche Leute 01 I: 02 M: 03 04 05
Wenn dir nichts einfällt// Also (.), kannst du etwas zu den Freunden sagen? (..) Ja, des sind (.) ganz unterschiedliche Leut (..) (hm), ich komm mit allen sehr gut zurecht (..), ja (.), sind bin jetz nich mit jedem einer Meinung (.) aber (4)// Es isch eher so: Ich kann Spaß haben, Sport machen, mal, ja, einfach Spaß haben mit ihnen.
Wie zu sehen ist, hat der Erzähler einige Mühen, auf die offene Frage des Interviewers zu antworten, was u. a. durch häufige (Mikro-)Pausen indiziert ist (Z01-Z04). Als charakteristisch formuliert er schließlich das Merkmal sozialer Diversität, welche aus einer personellen Vielfalt (Z02) sowie aus einem gegebenen Meinungspluralismus (Z04) resultiert. Nachdem der erste Versuch einer Evaluation gescheitert ist (Z04), formuliert er nach einer längeren Nachdenkphase ein hedonistisches Freundschaftsmotiv (Z04-Z05). Allerdings kommt er auch hier nicht umhin, den Zustand der Sozia-
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
lität und Einbindung deutlich zu machen. Er betont, mit allen gut zurechtzukommen (Z02-Z03) und Spaß zu haben (Z04-Z05). Die Äußerungen des Erzählers verweisen darauf, dass diese Freunde für ihn im Sinne des brückenschlagenden Sozialkapitals48 zu verstehen sind: Der tR1 weist sich durch einen festen Personenkreis sowie durch zeitliche Konstanz aus, der tR2 hingegen durch eher lockere Verbindungen zu einer raumzeitlich dispersen Gruppe von Personen. Während sich die Personen im tR1 in Bezug auf ihre Ähnlichkeit und Vertrautheit gleichen, stellt im tR2 die Abwechslung und der Spaß neben der gemeinsamen institutionellen Einbindung das konstituierende Merkmal dar. In diesem Sinne stehen sich ein vertrauensvoller und identitätsvertiefender bzw. ein offener und perspektivenerweiternder Freundeskreis gegenüber:49 Beide Freundschaftsräume sind in unterschiedlicher Weise sozialkapitalrelevant: Während die Freundschaft auf der Grundlage familiärer und lebensbiografischer Einbettung in tR1 den privaten Rückzugsraum für den vertrauensvollen Austausch ausmacht, stellt die offene, veränderliche und räumlich verteilte Einbindung tR2 eine Hinwendung zur Öffentlichkeit dar: Einmal sollen gewohnte Erfahrungen bestätigt, einmal neue Erfahrungen erlangt werden. 6.1.2.3 Entgegen dem Individualismus-Trend? Während die Räume in dieser Hinsicht voneinander abgegrenzt sind, bilden sie in Bezug auf die übergeordnete Semantik der Freundschaft ein Ganzes: Gemeinsam machen sie die gemeinschaftliche Einbindung des erzählten Ichs aus, die der Erzähler für die Beziehungen beider Sozialräume gleichermaßen formuliert und im Erzähltext übergreifend als wichtigstes Identitätsthema markiert. Qualitativ in besonderem Maße signifikant ist dies innerhalb der Lebensgeschichte, in welcher das Motiv der gemeinschaftlichen Einbindung die Wiederherstellung des konsistenten Endzustands, der erzählten Gegenwart, bewirkt. Mit Blick auf die Freundschaft findet die Einbindung auf der Grundlage eines gemeinsamen Erfahrungsraums in der Kindheit und Jugend, aufgrund von familiärer Zusammengehörigkeit, sowie schließlich aufgrund einer gemeinsamen institutionellen Einbettung statt. Zu dieser Interpretation der Freundschaft als Bestätigung gemeinschaftlicher Einbindung passen die Werte, welche Moritz für seine engen Freunde als relevant herausstellt: Er erwartet Vertrautheit sowie Toleranz und Ehrlichkeit, also Werte, die auf Soziabilität und ein soziales Miteinander bezogen sind. Wichtig ist es für ihn aber auch, Spaß zu haben und „zu lachen“. Mit Blick auf die narrative Tiefenstruktur kommt lebensstilbezogenen Fragen sonst aber keine zentrale Bedeutung zu. Während
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Siehe Kapitel 2.2.2. Vgl. Putnam 2000.
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Selim Freundschaft auf der Grundlage gemeinsamer Interessen, geteilter geschmacklicher und ästhetischer Präferenzen – letztlich im Sinne einer „ästhetischen Distanzierung“50 – entwirft, spielen diese Aspekte bei Moritz keine Rolle. Statt individuellen und lebensstilbezogenen Aspekten erweisen sich gemeinschaftliche und strukturelle Aspekte als signifikant. Die Freundschaftspraktiken und -erfahrungen von Moritz stellen dementsprechend keinen Kontrast zur Alltagswelt dar und dienen auch nicht der Distinktion gegenüber dem sozialen Nahfeld, indem kein eigener Lebensstil entwickelt werden soll. Die Freundschaft dient nicht der kulturellen Loslösung vom Elternhaus,51 ist nicht als Mechanismus der Entgrenzung, sondern als Mechanismus der bewussten Integration und Grenzziehung zu verstehen. Mit Blick auf die gegenwärtigen Jugendstudien artikuliert sich die gesellschaftliche Tendenz vieler Jugendlicher, den soziokulturellen Normalfall positiv zu sehen und bestehende Werte zu übernehmen, zum Gegenstand des Selbstverständnisses zu machen und der Erwachsenenwelt heute eben keine eigene Subkultur, andere Werte oder Normen entgegenzusetzen.52 Wichtig ist es vielmehr, im Hier und Jetzt sozial eingebunden zu sein, wobei ein integratives Netz aus sozialen Beziehungen als Voraussetzung für ein gelungenes Leben gedeutet wird. Im Text resultiert hieraus „eine besondere Art des In-Beziehung-Tretens zwischen Subjekt und Welt“53; im Sinne Hartmut Rosas wird es dem erzählten Ich ermöglicht, Resonanzerfahrungen zu machen.54 Hinsichtlich der Analyse der Lebenswelt zeigen sich die Merkmale bürgerlicher Normalbiografien55 sowie ein adaptiv-pragmatischer Lebensstil,56 welche einen klaren sozialen Erwartungsrahmen aufspannen: Alltäglichkeit, Normalität und Gewohnheit sind positiv semantisiert und werden im Text mit der Möglichkeit korreliert, harmonische und dauerhafte (Freundschafts-)Beziehungen führen zu können. Im Sinne von Hans Ulrich Müller, der eine der wichtigsten empirischen Studien zur Raumaneignung Jugendlicher durchgeführt hat, ließe sich in diesem Falle von einem ‚UmlandTyp‘ sprechen. Für diesen Typus ist der umgebende lokalräumliche Bereich ein bedeutsamer Lebensraum, der einerseits Kontinuität vermittelt, in den er andererseits Bourdieu 2014, S. 68 f. Vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 154 f. Vgl. Calmbach u. a. 2016, S. 475 f. bzw. – in ähnlicher Weise – Quenzel u. a. 2015, S. 376–379. Calmbach u. a. sprechen diesbezüglich von einem „Neo-Konventionalismus“ (S. 475) der Jugend. 53 Rosa 2021, S. 331. 54 Harmut Rosas Begriff der Resonanz adressiert hier m. E. recht präzise jenen Erfahrungsbereich, welchen Moritz anspricht. Im Text hat der Erzähler einmal davon gesprochen, dass sein Umfeld eine „besondere Atmosphäre“ ausmache bzw. bewirke. ‚Resonanzerfahrungen‘ können in diesem Sinne als identitätskonstituierende Erfahrungen des Berührt- bzw. Ergriffenseins verstanden werden, die emotionale, evaluative und kognitive Kategorien gleichsam umfassen und sich in der Familie und Freundschaft (vgl. Rosa 2021, S. 341–362) in besonderem Maße artikulieren. 55 Vgl. Hurrelmann 2003, S. 117 f. 56 Vgl. Calmbach u. a. 2016, S. 59. 50 51 52
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
aber auch handelnd und deutend eingreifen und diese ggf. verändern kann.57 Anders als Selim entwickelt Moritz’ erzähltes Ich im Text keine Bestrebungen, diesen zu verlassen. Die Freundschaftssemantik der Bestätigung gemeinschaftlicher Einbindung ist damit auch vor dem Hintergrund der mediatisierten58 und ausdifferenzierten Gegenwartsgesellschaft zu lesen: Diese geht mit einer starken Tendenz zur Individualisierung einher und ist von der besonderen Herausforderung gekennzeichnet, die eigene Persönlichkeit angesichts einer Vielzahl von Identitätsangeboten herauszubilden. Die Shell-Jugendstudie konstatiert, dass ein Teil der Jugendlichen auf die Umstände mit einer starken Fokussierung auf das Hier und Jetzt reagiert, welches gerade im Bereich mikrosozialer Beziehungen als semantischer Schutzraum interpretiert wird: „Die Zukunft stellt man sich so vor wie die Gegenwart – es soll kleine Entwicklungen geben, aber möglichst keine größeren Veränderungen“.59 Dem Individualismus-Trend und der expeditiven Sinnsuche wird daher eine Bestätigung des Normalfalls und der kulturellen Gemeinschaft entgegengesetzt: Anders als bei Selim baut sich der Freundschaftsraum nicht als egozentrisches Netzwerk auf, in dessen Mittelpunkt das eigene Individuum steht. Die Perspektive ist vielmehr aus der relationalen Sicht auf das Gesamtnetzwerk bezogen, wobei alle Personen in gleichem Maße teilnehmen und auch Moritz als gleichberechtigter Akteur fungiert.60 Diese ‚kollektive Orientierung‘ von Moritz wird auch in der Erzählweise deutlich, in welcher das gemeinschaftliche Erleben stets zugunsten des individuellen Erlebens betont wird. 6.1.3
Zusammenführung – die Freundschaft im Spannungsfeld von Distinktion und Integration
Die gemeinschaftliche Einbindung bildet damit einen interessanten Kontrapunkt zur Semantik der lokalräumlichen Entgrenzung, wie sie für den 19-jährigen Selim gezeigt wurde. Beide Freundschaftssemantiken können zunächst in Bezug auf ein gemeinsames, konstituierendes Paradigma verdichtet werden: In beiden Fällen besteht die Funktion der Freundschaft darin, sich mittels ihrer subjektiven Bedeutung in sozialräumlicher Hinsicht zu verorten und gesellschaftlich zu positionieren. Sozialräumlich
Vgl. Müller 1983, S. 162 f. An dieser Stelle seien kurz einige Anmerkungen zur Frage der (digitalen) Mediennutzung gegeben: Dass dieser Aspekt hier außen vor bleibt, entspricht der Relevanzsetzung und subjektiven Sinngebung des Erzählers: Wir kamen erst kurz gegen Ende des Gesprächs – im Rahmen der letzten Interviewphase – auf dieses Thema zu sprechen, wobei ihm aber keine zentrale Relevanz beigemessen wurde. Natürlich bedeutet dies nicht, dass Moritz nicht auch verschiedene digitale Medien sowie Soziale Netzwerke nutzt, sie werden nur semantisch nicht mit Freundschaft in Verbindung gebracht. 59 Quenzel u. a. 2015, S. 377. 60 Vgl. zu dieser Perspektive der relationalen Netzwerkanalyse Jansen 2003. 57 58
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meint dabei die Verortung in den Bezug auf den von ihnen bewohnten Lebensraum und die Partizipation an den diesbezüglichen örtlichen, städtischen und regionalen Sozialräumen. Der Aspekt der gesellschaftlichen Positionierung zielt demgegenüber auf die subjektive Frage nach dem Erleben, nach den Einstellungen, sozialen Praktiken und relevanten Werten ab. Es ist also sowohl eine territorial-räumliche wie eine lebensweltlich-ideelle Grenzziehung und damit einhergehende Verortung gemeint. Zentral für die Deutung der Freundschaft ist bei beiden Jugendlichen die Wahrnehmung des sie umgebenden Lebensraums, welcher einmal eher als defizitär und beschränkend, einmal eher als affirmativ und befähigend interpretiert wird. Spannend ist natürlich, wie sich der individuelle Privatraum der Freundschaft nun ambig – und partiell auch ambivalent – ausdifferenziert und eine Heterogenität relevant gesetzter sozialer Praktiken und Werte hervorbringt: So können die Freunde einmal die Individualität und einmal die Gemeinschaftlichkeit unterstützen, wobei wahlweise expeditive Werte der Selbstentfaltung, Kreativität, Neuartigkeit und Freiheit bzw. eher konservative Werte der Solidarität, Kontinuität, Gewohnheit und Sicherheit freundschaftsrelevant gesetzt sind. Die dargestellten Semantiken zeigen letztlich zwei Seiten einer Medaille, die für die Entwicklungsaufgabe steht, als Jugendlicher den richtigen ‚Platz‘ in der Gesellschaft zu finden. Wahlweise kann diese sowohl für die erfolgte Distinktion und Loslösung als auch für die erwünschte Identifikation und Integration verliehen werden. Auffällig ist, dass Selim und Moritz zur Gruppe derjenigen Jugendlichen gehören, deren Lebensraum in sozialökologischer Hinsicht als ländlich beschrieben werden kann. Wirft man einen Blick auf die Freundschaftsentwürfe dieser Jugendlichen der Stichprobe, so ist zu sagen, dass die dortigen Sozialräume hinsichtlich der Ausstattung mit Freizeit-, Bildungs- und Entwicklungsangeboten mitunter als restriktiv erzählt werden, was in fehlenden Selbstentfaltungsspielräumen und Möglichkeiten des Ausdrucks von Individualität zu münden scheint.61 Auffällig ist auch die starke Cliquen- und Gruppenorientierung der Jugendlichen der ländlichen bzw. peripheren ländlichen Gebiete. Die Semantik der lokalräumlichen Entgrenzung macht insofern auch auf eine besondere Herausforderung heutiger Jugendlicher in ländlichen Sozialräumen aufmerksam: Sie müssen ein Bild ihrer selbst konstruieren, das zum Zeitgeist passt und gesellschaftlich als relevant gesetzte Werte wie Mobilität, Offenheit oder Modernität ebenso zu integrieren vermag wie ein regionales Identitätsgefühl oder die für den urbanen Raum postulierte Orientierung an Besitz und Konsum. Die Jugendlichen, die im länd-
Die empirische Arbeit „Jugend im Blick – Regionale Bewältigung demografischer Entwicklungen“ des Deutschen Jugendinstituts weist in diesem Zusammenhang aber darauf hin, dass das Gefühl der Benachteiligung, der fehlenden Selbstentfaltung und auch die Zufriedenheit mit dem Aufwachsen auf dem Land dem ‚ländlichen Raum‘ nicht per se anhaftet, sondern vielmehr mit dem subjektiven Gefühl sozialer Einbettung und mit Identifikation mit der jeweiligen Region zusammenhängt (vgl. Beierle u. a. 2016, S. 37 f.). 61
Die Deutung der Freundschaft als sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung
lichen Bereich aufwachsen, erfahren ihren Lebensraum als fragmentierten Sozialraum, der tagsüber (d. h. in schulischer und freizeitlicher Hinsicht) über städtische Bezüge verfügt, morgens und abends (d. h. in primär familiärer Hinsicht) hingegen von ländlichen Bezügen determiniert ist.62 Im Sinne von Helga Zeiher kann bei der räumlichen Sozialisation der Jugendlichen vom verinselten Lebensraum gesprochen werden: „Der verinselte individuelle Lebensraum besteht aus einzelnen separaten Stücken, die wie Inseln in einem größer gewordenen Gesamtraum verstreut sind, der als ganzer bedeutungslos und weitgehend unbekannt bleibt.“63 Ihren Lebensraum erfahren Kinder und Jugendliche demnach heute als heterogenes Ensemble einzelner funktionsgebundener Inseln bzw. Stücke, nicht aber als einheitliche und konsistente Umgebung.64 Die sozialisatorische Herausforderung besteht darin, diese ‚Raumstücke‘ durch aktive Beteiligung zu einem sinnhaften Gebilde zu synthetisieren und dabei die heterogenen Bezüge zu integrieren, wofür natürlich die einzelnen Inseln des Lebensraums entgrenzt und verlassen werden müssen. Im Sinne von Ulrich Deinet stehen die Jugendlichen dabei auch vor der Aufgabe, das ambivalente Verhältnis von „Regionaler Identität“ und der „Individualisierung von Lebenslagen“ zu lösen.65 Jugendliche „orientieren sich am direkten Wohnumfeld einer Region ebenso wie an weltweit über die Medien propagierte Konsumbilder und müssen diese Widersprüchlichkeit verarbeiten“.66 Die Jugendlichen dieser Stichprobe scheinen in einigen Fällen durchaus zu jenen Jugendlichen des ländlichen Raums zu gehören, bei welchen Schul-, Wohn- und Freizeitorte als solch fragmentierte Inseln wahrgenommen werden. Dies resultiert in den oben skizzierten Interpretationen des lokalräumlichen Bereichs und schlägt sich in der unterschiedlichen Identifikation mit der lokalen Umgebung und der Region nieder.67 Die Mittel der territorialräumlichen Mobilität und der medialen Kommunikation können dabei helfen, urbane und ländliche Bezüge miteinander zu verbinden, indem sie den Austausch heterogener Erfahrungen und Sinngehalte ermöglichen. Sie sind als Bedingung für die Möglichkeit der Aneignung von Rauminseln zu sehen. Gerade Kommunikationsmedien spielen hier eine zentrale Rolle, da sie aufgrund ihrer konstitutiven Merkmale wie örtlicher Ungebundenheit eine Entgrenzung von Sozialräumen vorantreiben: Durch die Konstitution spezifisch medialer Kommunikationsräume, wie sie im Falle von Selim etwa im Kontext von Rap gegeben sind, können
Vgl. hierzu auch Deinet 2004, S. 42 f. Zeiher 1994, S. 362 f. Vgl. Zeiher 1994, S. 361 f. Vgl. Deinet 2004, S. 40. Deinet 2004, S. 43. Diesen möglichen Zusammenhang deutet auch die bereits angesprochene empirische Studie des Deutschen Jugendinstituts im Rahmen ihrer Typenbildung mehrfach an (vgl. Beierle u. a. 2016, S. 39–43). Die Autoren sprechen in diesem Kontext von „räumlich voneinander getrennten Lebenswelten“ (S. 39) und verweisen darauf, dass diese Jugendlichen die Lebensqualität eher geringschätzen und sich „schon ‚in Fluchtstellung‘“ (S. 40; Hervorh. i. Orig.) befänden. 62 63 64 65 66 67
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entfernte Sozialräume mitsamt ihren Bedeutungsgehalten gewissermaßen ‚integriert‘ werden. Martina Löw macht darauf aufmerksam, dass dies die räumliche Sozialisation verändert: „Diese neue Sozialisationserfahrung bestätigt nicht mehr die Vorstellung, im Raum zu leben. Raum wird nun auch als diskontinuierlich, konstituierbar und bewegt erfahren. An einem Ort können sich verschiedene Räume herausbilden.“68 Mit Martina Löw etabliert sich „eine Vorstellung von Raum, die [sic] einem fließenden Netzwerk vergleichbar ist“.69 Dass sich der individuelle Privatraum der Freundschaft, die subjektive Semantik, in diesem Maße (auch) auf die territorialräumlichen Rahmenbedingungen bezieht, gilt es auch mit Blick auf den Stand der Freundschaftsforschung zu betonen. In der sozialwissenschaftlichen Freundschaftsforschung scheint dies bisher keine Rolle zu spielen.70 Natürlich kann hier nicht von einer einfachen Dichotomie von ‚Stadt‘ und ‚Land‘ ausgegangen werden, zumal die Sozialraumforschung längst gezeigt hat, dass sich „ländliche und städtische Phänomene immer schwerer differenzieren“ und sich „zahlreiche Phänomene […] kaum auf städtische oder ländliche Rahmenbedingungen zurückführen“71 lassen. Es soll hier auch nicht darum gehen, Freundschaft als ein in hohem Maße lokalräumlich determiniertes Phänomen darzustellen. Gezeigt haben beide Fallanalysen dennoch, dass die sozialräumlichen Bedingungen, mit denen sich die Jugendlichen in ihrem Alltag und in ihrer Lebenswelt konfrontiert sehen, als ein wichtiger Einflussfaktor dafür zu sehen sind, wie Freundschaft subjektiv sinnhaft konstruiert und interpretiert werden kann. 6.2
Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung
6.2.1
Freundschaft als experimentelles Spiel – das Fallbeispiel Henriette
Henriette ist 18 Jahre alt und wohnt im städtisch geprägten Großraum von Stuttgart. Vor Kurzem ist sie von zuhause ausgezogen und in eine Wohngemeinschaft gezogen. Nach dem Abschluss des Gymnasiums im laufenden Jahr begann sie ein Medienstudium in ihrer Heimatstadt, da es technische und betriebswirtschaftliche Inhalte inkludiere und – so vermutet sie – eine „gute Grundlage für nen einen [sic] späteren Job im Online-Bereich“ sei. In ihrer Freizeit fährt sie seit einigen Jahren BMX, wozu sie über ihren festen Freund Aron gekommen sei. In der Mountainbike-Szene hat sie einen fast Löw 2015, S. 266. Löw 2015, S. 266. In diesem Sinne sind digitale Medien zugleich Treiber als auch ‚Heilsbringer‘ des heterogenen Raumerlebens, welches Kinder und Jugendliche bereits aufgrund verinselter Strukturen im territorial-räumlichen Umfeld vorfinden. 70 Vgl. hierzu exemplarisch den 2016 erschienenen Sammelband zum Stand der Freundschaftsforschung aus der sozialwissenschaftlich-empirischen Sicht: Schobin u. a. 2016. 71 Deinet 2004, S. 39. 68 69
Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung
ausschließlich männlichen Freundeskreis, der sie akzeptiere und in dem sie sich sehr aufgehoben fühle. Darüber hinaus verbringt sie viel Zeit mit ihrer „besten Freundin“ Rebecca, mit der sie gemeinsam das Gymnasium in Stuttgart besucht hatte. Eine vergleichsweise detaillierte lebensgeschichtliche Modellierung, wie sie bei Moritz vorgenommen wurde, lässt sich mit Blick auf das Gespräch mit Henriette nicht leisten – im Übrigen bei den meisten der befragten Jugendlichen nicht. Dies liegt zum einen darin, dass sie sich im Gespräch primär im Hier und Jetzt ihrer gegenwärtigen Lebenswelt bewegte. Die lebensgeschichtliche Vergangenheit wurde weder ausführlich thematisiert, noch wurde sie, wie bei Moritz, semantisch mit Freundschaft in Verbindung gebracht. Ein weiterer Grund besteht darin, dass Henriette auf der extradiegetischen Ebene in hohem Maße überlegt und reflektiert agierte – wobei sie sich mit ihrem erzählenden Ich aber nicht unsicher, sondern durchaus selbstbewusst gab. Zum Ausdruck kommt, dass ein Großteil der Erlebnisse, die sie präsentiert, durch sie bereits sinnverstehend gedeutet wurden. Überraschenderweise bedeutet dies nicht, dass der Text weniger narrativ wäre: Henriette erzählt durchaus von ihren Erlebnissen und Freundschaftspraktiken, ergänzt diese aber häufig durch Evaluationen, Rahmungen und Bewertungen.72 6.2.1.1 Die erzählte Welt zwischen Konvention und Abweichung Bei der Präsentation ihrer Lebensgeschichte fasst Henriette zunächst die Zeit bis zum Beginn der Sekundarstufe I als einen „erzählerisch geschlossenen Lebensabschnitt“73 ihrer „Kindheit“ kursorisch zusammen. Strukturell besteht dieser Abschnitt aus einem durchgängigen linearen Erzählstrang, der ohne Nebenerzählungen und Binnenstrukturen auskommt und chronikartig angelegt ist. Mit Blick auf die Erzählzeit wird dieser Zeitabschnitt stark verdichtet wiedergegeben. Auf der Ebene des discours ist dementsprechend ein distanzierter point of view vorzufinden, mit welchem Henriette ihr erzähltes Ich ohne unmittelbare Erlebnisbeteiligung aus dem Hier und Jetzt der Erzählsituation entwirft. Inhaltlich kann er so zusammengefasst werden, dass Henriette in Stuttgart geboren wurde, dort aufwuchs, den Kindergarten, die Grundschule und schließlich das Gymnasium besuchte. Die genannten Lebensstationen werden von der Erzählerin aneinandergereiht und nicht ereignishaft im semiotisch-narrativen Sinne präsentiert. Inhaltlich zeigt die Darstellungsweise der Erzählerin an, dass der thematisch relevante Einstieg noch bevorsteht. Hierfür spricht im Übrigen auch, dass auf Freundschaft an dieser Stelle noch gar nicht eingegangen wird, obschon die Erzähl72 Dafür, dass sich Henriette über die Maßen an situativen Gegebenheiten oder am Interviewer orientieren würde bzw. eine Antworttendenz im Sinne sozialer Erwünschtheit vorläge, gibt es keine Anhaltspunkte. M. E. kommt vor allem eine hohe selbstreflexive Fähigkeit der Person zum Ausdruck. 73 Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 109–114.
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person durch die im Vorfeld des Interviews erfolgte E-Mail-Kommunikation davon wusste, dass Freundschaft ein Thema des Gesprächs sein würde. Freundschaft entwirft sie also gewissermaßen bewusst erst mit Beginn der Jugendphase, woraus zu schließen wäre, dass dieses Thema auf der subjektiven Ebene konzeptionell eher innerhalb der Jugend und außerhalb der Kindheit situiert ist. Der thematisch relevante Einstieg ist schließlich mit dem Wechsel auf das städtische Mädchengymnasium gegeben, welcher als ereignishaft erzählt wird: Textbeispiel 11 Henriette (18): Mädchengymnasium 01 H: Okay, das war eigentlich so meine Kindheit. (..) 02 I: (Mhm) Gut. 03 H: Dann bin ich auf die S-Stadt-Gesamtschule gekommen, wo ich aber Mobbing 04 ausgesetzt war, es war keine sehr schöne Zeit, ich bin nicht gern in die Schule 05 gegangen und hab auch keine Freunde gefunden (I: oh). (HMMM) Meine Eltern haben 06 mich dann auf das Mädchengymnasium geschickt, also das lag sicher auch an mir 07 damals, anfangs wollte ich nicht, aber okay (HMMM), ich denk der Widerstand 08 hat sich dann auch in Grenzen gehalten. […] Da wurde es dann besser, ich hab 09 Rebecca, meine (.) beste Freundin (.), Nebensitzerin kennengelernt […]. 10 Mit der Zeit wurd ich dann auch offener.
Zuerst schließt die Erzählerin den oben skizzierten Lebensabschnitt ihrer Kindheit mit einer meta-narrativen Schlussformulierung – „Okay, das war eigentlich so meine Kindheit“ (Z01) – ab. Im Anschluss kommt sie auf ihre Mobbingerfahrung zu sprechen, welche sie auch mit Freundschaft korreliert (Z03–05). Auffällig ist eine gleichmäßige Erzählgeschwindigkeit sowie die Abstinenz von Pausen oder Phasen des Nachdenkens. Diese Art und Weise des Erzählens legt nahe, dass die Erfahrungen in der Erinnerung verfestigt sind, aber auch reflektiert und gedeutet sowie überwunden wurden. Relevant ist diesbezüglich auch die selbstbezügliche Positionierung gegenüber dem erzählten Ich der Vergangenheit (Z06–07): Indem sie mit dem Selbstverschuldungsprinzip argumentiert und ihr erzähltes Ich moralisch bewertet, zeigt sie an, dass sie sich von diesem Ich distanziert und in Bezug auf ihre heutige Identität andere Persönlichkeitsfacetten beansprucht. Diese heutige Identität wird schließlich im abschließenden Teil (Z10) benannt. Mit Blick auf die extradiegetische Kommunikation positioniert sie sich explizit als eine offene und implizit als eine zugleich reflektierte Person. Im Fortgang der lebensgeschichtlichen Erzählung wird die Zeit im Mädchengymnasium nun etwas ausführlicher thematisiert (und ihr kommt auch in den späteren Interviewphasen eine größere Aufmerksamkeit zu). Es ist nicht ganz klar, weshalb gerade dieser Aspekt detaillierter erzählt wird. Vielleicht hielt die Erzählerin den Besuch eins gleichgeschlechtlichen Gymnasiums intuitiv für erörterungsbedürftig, da er vom sozialen Normalfall abweicht. Lebensgeschichtlich finden zu dieser Zeit zwei freundschaftsrelevante Erlebnisse statt: Zum einen wird eine vertrauensvolle Freundschaftsbeziehung zu Rebecca auf-
Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung
gebaut, welche Henriette als „besonders eng“ reflektiert, zum anderen lernt sie mit Aron ihren ersten festen Freund kennen. Mit dem Beginn dieser partnerschaftlichen Beziehung findet Henriette Anschluss an dessen bestehenden Freundeskreis. Die Freundschaftsbeziehung zu Rebecca sowie der Freundschaftsraum ‚BMX‘ werden im Text als zentral markiert – „das sind meine beiden wichtigsten Freundschaften […] würde ich sagen“ –, weshalb sie durch den Interviewer in den folgenden Gesprächsphasen auch fokussiert wurden. An den männlichen Jugendlichen aus Arons Freundeskreis schätzt Henriette, dass sie ehrliche Personen seien, sie „so sind wie sie eben sind“ seien und sich „nicht verstellen“ würden, was dazu führe, dass sie mit ihnen „über alles“ reden könne. Weiterhin wird die gemeinsame Freizeitaktivität als relevant gesetzt: Die Jugendlichen treffen sich regelmäßig an ausgewählten Plätzen in der Stadt – Bike-Parks, speziell angelegte Strecken für den BMX-Sport, so zum Beispiel ein ‚Dirthügel‘ im Stadtgebiet –, um dort in ihrer Freizeit gemeinsam den BMX-Sport auszuüben. Im Gespräch erzählt Henriette auf Rückfrage, wie Aron sie mit seinen Freunden bekannt macht. Dabei erfordert der erste Kontakt mit der lebensweltlichen Szene eine gewisse Überwindung. Im folgenden Textbeispiel 12 schildert Henriette, wie sie mit ihrer Freundin Rebecca den angesprochenen Dirthügel zum ersten Mal besuchten: Textbeispiel 12 Henriette (18): Großer Respekt 01 I: Okay, also (ähm) (..) wir hatten es ja vorhin vom Fahren und da hab ich mir 02 aufgeschrieben oder wollte dich noch fragen, ob du mir erzählen könntest noch 03 wie ihr euch kennen gelernt habt? 04 H: Ja, also alle oder? Das habe ich dann nicht gemacht, habe ich vergessen. 05 I: Genau. 06 H: […] Rebecca hat sich eben breitschlagen lassen und ist mitgekommen und wir sind 07 zusammen (.), zusammen gegangen zu dem Dirthügel, ist am S-Ort (..). Und 08 ja sie ist mitgekommen und als wir da standen (.), alles schlammig (.) der 09 (ha) Matsch (.) (SSS) auf unsern Sneakern (AHHH) die (eh) komplett 10 verschlammt (.) eben (lachen) (I: haha), das war schon ein Schock. 11 I: Ja, glaube ich. (..) Seid ihr gefahren? (.) Als ihr da wart? Also// 12 H: Da nicht, ich später dann schon. (4) Mich hatte es von Anfang an gereizt (.) 13 (I: mhm), Rebecca jetzt nicht. […] Ich weiß aber noch, wie dann Tom, so mit 14 Klapphelm […] und in Schlamm eingehüllt vor uns stand (hn) so grinste und so: 15 „Na, wollt ihr auch mal fahrn?“ (.) Und wir als Mädchen so total falsch 16 angezogen mit weißen Leder-Sneakern und so des war//(.) 17 I: Verstehe. Was hast du da empfunden? 18 H: Ich wusste nicht// Und natürlich (.) die Sprünge, die die Jungs da halt gemacht 19 haben (ähm) (.) ham uns natürlich auch großen Respekt eingeflößt.
Im Vergleich mit Textbeispiel 11 fällt in Textbeispiel 12 zunächst die veränderte Erzählweise von Henriette auf: Während sie in Textbeispiel 11 mit distanziertem point of view auf neutrale Art ihre Erfahrungen darlegt, dabei ruhig spricht und diese reflektiert, ist die Erzählerin in Textbeispiel 12 geradezu in die damalige Szene involviert: Sprachliche Deixis – „als wir da standen“ (Z08) – und detaillierte Beschreibungen – „alles
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schlammig, der Masch auf unseren Sneakern“ (Z08–09) – dienen dazu, gegenüber dem Interviewer einen gemeinsamen szenischen Vorstellungsraum zu etablieren. Mehrere kurze Pausen (Z07–08) verdeutlichen, wie sie sich zu erinnern versucht, um das Erinnerte schließlich mittels auffälliger Interjektionen (Z09), parasprachliche Kommunikation (Z10) und wörtlicher Rede (Z15) narrativ zu reinszenieren. In inhaltlich-semantischer Hinsicht werden in Textbeispiel 11 einige wichtige Bedeutungsaspekte des Sozialraums BMX angedeutet, welche im Gespräch wiederholt auftauchen und für die Semantik der betreffenden Freundschaftsbeziehungen relevant sind: In der Geschichte sticht zunächst der Kontrast ins Auge, der sich ergibt, als Henriette und Rebecca auf dem Dirthügel erscheinen: Henriette und Rebecca tragen weiße Leder-Sneaker (Z16), also zwar modische und aparte – und für Jugendliche vielleicht auch vergleichsweise teure – Schuhbekleidung, welche aber aufgrund ihrer Anfälligkeit und fehlenden Robustheit für einen Dirthügel ungeeignet sein dürften. Demgegenüber sind die männlichen Jugendlichen, die die Sportart ausüben und im Sozialraum situiert sind, angemessen gekleidet. In der Geschichte werden sie als schmutzig, mutig und sportlich-aktiv entworfen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die Erzählerin explizit von „Mädchen“ (Z15) bzw. von „Jungs“ (Z18) spricht. Dies wäre im Grunde genommen nicht nötig gewesen, da das biologische Geschlecht der Personen für die Geschichte des Kennenlernens, nach der gefragt wurde, vordergründig nicht relevant ist. Das Geschlecht der Personen wird aber dennoch genannt, dabei implizit semantisiert und mit dem Handeln der Personen korreliert: Die Aussage „wir als Mädchen“ (Z15) hat im gegebenen Kontext einen induktiven Schluss zum Gegenstand, nämlich, dass ihr Verhalten mit der Geschlechterzugehörigkeit erklärt werden kann. In der sozialen Praxis des sich – schick und adrett – Kleidens ist das Merkmal Geschlecht kodiert. Auf einer höheren Abstraktionsebene repräsentieren die weißen Leder-Sneaker damit zugleich jene Weiblichkeit, welche im Text mit Schicklichkeit und Kultiviertheit, aber eben auch mit Unsportlichkeit und Vorsicht einhergeht.74 Als semantische Opposition fungiert die soziale Praxis des BMX-Fahrens, welche nicht nur körperlich anstrengend und schmutzig ist, sondern auch Sportlichkeit, Mut und Geschicklichkeit erfordert. In diesem Sinne semantisiert die Erzählerin auch die männlichen Protagonisten, wie in Z18–19 zu sehen ist: Dort sind es explizit „Jungs“, welche jene respekteinflößenden und gefährlichen Sprünge ausüben.75 Der SozialVgl. zu diesen weiblich konnotierten Merkmalen Mühlen Achs 2003, S. 123–139. Empirisch ist ein Blick in die Arbeit von Sobiech 2013 aufschlussreich. 75 Allgemein lässt sich wohl in empirischer Hinsicht zeigen, dass Sportarten sowie Spiele mit einem körperlich-physischen Kontakt und ‚kämpferischen Auseinandersetzungen‘ primär von männlichen Jugendlichen ausgeübt werden (vgl. Sobiech 2013, S. 219). Interessant zur Bedeutung des körperlichen und gesundheitlichen Risikohandelns bei sportlichen Praktiken ist die Arbeit von Michael Meuser (2006). Meuser versteht diese physischen Praktiken als Bedingung der Möglichkeit für die spezifische Aneignung von Männlichkeit, insbesondere wenn es ritualisiert bzw. in institutionelle Strukturen eingebunden ist (S. 168– 74
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raum BMX wird mittels konventionell männlich konnotierter Merkmale aufgeladen;76 im Zuge der „ernsten Spiele des Wettbewerbs“77 wird der männliche Habitus geformt. Narrativ wird dieser männliche Habitus vor allem von Tom repräsentiert, welcher die Sportart schon am längsten ausübt. Als semantischer Extrempunkt kulminieren in seiner Figur jene männlichen Merkmale, welche für das BMX charakteristisch sind: „In Schlamm eingehüllt“ (Z14) trotzt er gewissermaßen nicht nur Schmutz und Gefahr, sondern bringt mit einem Grinsen (Z14) nebst lockerem Spruch (Z15) auch die eigene Kühnheit zum Ausdruck, welche in der diegese auf eine zugleich abschätzige wie ironische Art vermittelt wird. Semiotisch-narrativ betrachtet erhält das Erscheinen von Rebecca und Henriette vor dem Hintergrund dieser spezifisch männlichen Semantik einen ereignishaften Charakter, welchen die Erzählerin später auch selbst kommentiert – „also es kommt eigentlich nicht vor, dass Mädchen da sind“. Das Erscheinen der Mädchen stellt bezogen auf die gültigen Ordnungssätze folglich einen Widerspruch dar, welcher in einem inkonsistenten Zustand resultiert. 6.2.1.2 Expressiver Hedonismus – das Aufgehen im männlich konnotierten Raum? Auch der nun folgende Handlungsverlauf, der sich für die Lebensgeschichte rekonstruieren lässt,78 kann gut mit Karl N. Renners Beschreibungsinventar erfasst werden. In der Geschichte beginnt Henriette zunächst, das Mountainbiking zu erlernen, worin sie vor allem Freund Aron, aber auch die anderen männlichen Jugendlichen unterstützen: Die Erzählerin bemerkt, dass ihr alle „total geholfen“ hätten und sie auch sonst sehr offen aufgenommen worden sei – „die finden das alle cool, wenn Mädchen das auch machen“. Dabei habe das Erlernen der fahrerischen Fähigkeiten wie die „teils echt heftige[n] Sprünge“ durchaus große Überwindung erfordert. Im Sinne der narrativen Semiotik von Algirdas J. Greimas übernehmen die Jugendlichen daher die Aktantenrolle helfender Adjuvanten,79 um ein Aufgehen im Gegenraum zu ermöglichen. Als Op-
171). U. a. heißt es dort: „Verletzungsanfällige Körperkontakte kennzeichnen typische Männersportarten, während bei typischen Frauensportarten der spielerische Ausdruck im Vordergrund steht“ (S. 166). Die Körperstrategie der männlichen Jugendlichen besteht in einem „Riskieren des Körpers“, die der weiblichen Jugendlichen in einer „Sorge um den Körper“ (Meuser 2012, S. 281). 76 Vgl. zum physisch-körpersprachlichen Ausdruck des (männlichen) Geschlechts in diesem Sinne Mühlen Achs 2003, S. 123–139. Empirisch vgl. zum Beispiel Schär 2013, insb. S. 102. 77 Bourdieu 1997, S. 203; zit. n. Meuser 2006, S. 164. 78 Ich möchte der Verdeutlichung wegen noch einmal darauf hinweisen: Die Erzählerin präsentiert dies nicht zusammenhängend im Zuge der ersten Interviewphase; relevante Erlebnisse wurden ebenfalls in der zweiten und dritten Interviewphase vermittelt. 79 Vgl. Greimas 1971, S. 163 f.
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ponenten erweisen sich jene Merkmale, welche den Zielraum in Form notwendiger Sportlichkeit, Mut und Körperlichkeit strukturieren. Während Henriette nun im Laufe der Geschichte sukzessive im Zielraum aufgeht, kehrt Freundin Rebecca (nach kurzem Aufenthalt im fremden Raum, siehe Textbeispiel 11) in den Ausgangsraum zurück. Gegenüber ihrer besten Freundin artikuliert sie Respekt und Anerkennung – „sie fand es gut, dass ich damit begonnen hab“ –, kann sich jedoch selbst nicht für den Sport begeistern – „das war natürlich nichts für sie, passt auch nicht zu ihr“. Henriette beginnt, eine Freundschaftsbeziehung zu den Jugendlichen aufzubauen, den Sport zu erlernen und sukzessive Gefallen an der juvenilen Szene zu finden, was semiotisch-narrativ einem Durchwandern des fremden Raums entspricht.80 Die Gründe für das distinktive Aneignen und sukzessive Aufgehen im Raum werden im Text von Henriette unter dem Topos „Lifestyle“ subsumiert. Sehr deutlich und sprachlich luzide bringt dies das folgende Textbeispiel 13 zum Ausdruck, in welchem sie vom Interviewer nach ihren Gründen gefragt wurde: Textbeispiel 13 Henriette (18): Adrenalinkick 01 I: 02 H: 03 I: 04 H: 05 06 07 08
Kannst du sagen (.) (ähm) was dich daran begeistert hat? Ich mochte vor allem den Lifestyle, wie man so schön auf Neudeutsch sagt. (He) Genau (lachen). (3) Es hat so eine Bedeutung von Freiheit und Lockerheit, die drin steckt. (Ah) (.) dazu (..) auch allgemein ein sehr kumpelhafter, ehrlicher Umgang jetzt mi/ untereinander. (..) Also Einstellung und Verhaltensweisen, so. Und natürlich muss ich auch sagen, also der Adrenalinkick is wirklich auch (.) nicht schlecht, puscht einen schon ganz gut (lachen).
Wie prosodisch – die Erzählerin muss nicht nachdenken, sie antwortet zügig und mit erhöhter Sprechgeschwindigkeit (Z02) – zu erkennen ist, wird in Bezug auf die Frage nach ihren Gründen sofort der Begriff „Lifestyle“ (Z02) genannt und als relevant formuliert. Auf eine kurze Unterbrechung – der Interviewer muss angesichts der Formulierung „Neudeutsch“ lachen (Z03) – folgt eine Definitions- und Plausibilisierungsphase, zu welcher kleinere Sprechpausen bzw. Momente des Überlegens gehören (Z04–08). Deutlich wird, dass die Formulierung mit Bedacht und Wissen gewählt wurde, da das Explizierte das zuvor Genannte sehr gut trifft – mit Einstellungen und Verhaltensweisen (Z06) werden sogar die beiden relevanten Aspekte des soziologischen Lebensstil-Begriffs erfasst.81 Eine wesentliche Attraktivität ergibt sich aufgrund des hedonistisch-expressiven Lebensstiltypus,82 welchen die Szene auszumachen scheint: Als zentral erzählt werden hedonistische Werte wie Spaß, Mut, Kompetitivi80 81 82
Vgl. Renner 2014, S. 14 f. Vgl. einführend Burzan 2014, S. 268 f. Vgl. Georg 1998, S. 220 f.
Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung
tät und Fairness, welche die Jugendlichen spielerisch erfahren. Hinzu kommen die Gefühle von Freiheit, Abenteuer und Herausforderung, welche mit den expressiven sportlichen Praktiken verbunden sind. In Textbeispiel 13 wird dies von der Erzählerin unmittelbar thematisiert (Z04–08). Von der Erzählerin wird aber insbesondere die Anknüpfung und Partizipation an einem männlich dominierten Sozialraum als reizvoll erzählt sowie positiv konnotiert: Da Henriette als weibliche Person dem sozialen Normalfall der Szene widerspricht und auch in der Geschichte die einzige weibliche BMX-Fahrerin ist, kommt ihr im Text eine exponierte Stellung zu, welche aber positiv aufgeladen wird: So wird etwa ihre Eigenschaft, sich beim Training als besonders fleißig und diszipliniert zu erweisen, „sehr respektiert“. Von der Erzählerin selbst wird dies vor der Folie der eigenen Geschlechterzugehörigkeit erzählt und in diesem Zusammenhang wiederholt als unüblich und besonders inszeniert: In einer Geschichte wird sie etwa „besonders energisch“ von den männlichen Jugendlichen angefeuert, als sie eine fahrerisch schwierige Stelle zu meistern hat. Als dies gelingt, applaudieren die Jugendlichen begeistert. Dem erzählten Ich kommt im Text die Funktion zu, im Sinne eines ‚Zur-Schau-Stellens‘ spezifisch männliche Körperinszenierungen vorzuführen,83 um so die symbolische Geschlechterhierarchie der männlichen Jugendlichen spielerisch in Frage zu stellen. Die gemeinsamen Freundschaftspraktiken bringen somit nicht nur Zugehörigkeit und Abgrenzung (zum Beispiel zu anderen Lebensstilgruppen) mit sich, ihnen kommt durch die geteilte expressive soziale Praxis zugleich eine identitätsstiftende Funktion zu.84 Ein vollständiges Aufgehen im männlich konnotierten Gegenraum gelingt dem erzählten Ich dennoch nicht: So konstatiert die Erzählerin, dass „irgendwo […] einfach Schluss“ sei, denn „körperlich da können die Jungs halt leider mehr“. Obschon die Erzählerin insofern die typischen Geschlechter-Bilder durchaus als stereotypische Konstruktionen von Geschlecht kritisiert und für sich selbst zurückweist, entsprechen ihre im Grundsatz vorgenommenen Entwürfe auf der narrativen Textschicht dennoch weitgehend gesellschaftlich-konventionalisierten Normalitätsvorstellungen. Dies wird insbesondere mit Blick auf das Bild kompetitiver Jungs und konfliktvermeidender Mädchen deutlich, welches im Text immer wieder zum Ausdruck kommt. Als hinderlich erweist sich insbesondere die Geschlechterdifferenz bei der physischen Leistungsfähigkeit, welche eine Etablierung der bestehenden Geschlechterhierarchie bewirkt. Für die männlichen Jugendlichen ließe sich die Öffnung des Sozialraums für weibliche Personen insofern so interpretieren, dass die heteronormative Stellung des männlichen Geschlechts über die sportliche Leistungsfähigkeit hinweg symbolisch verteidigt wird.85 Im Sinne einer doppelten Distinktionslogik des männlichen GeschlechtshabiVgl. Meuser 2006, S. 168 f. Vgl. Burzan 2014, S. 268. Vgl. dazu in ähnlicher Weise die empirische Studie von Birgit Bütow, die mit Blick auf die SkaterSzene eine ähnliche Art und Weise der Aushandlung und Aufrechterhaltung hegemonialer Männlichkeit 83 84 85
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tus erfolgt also eine Abgrenzung gegenüber dem anderen Geschlecht und zugleich ein geschlechtshomogener Wettbewerb durch die Herstellung von Dominanz.86 Mit Blick auf das semiotisch-narrative Beschreibungsinventar ergibt sich bei den Ordnungssätzen eine Synthese: Während bestimmte Ordnungssätze verworfen werden (zum Beispiel dass weibliche Jugendliche ‚schick‘ und nicht mutig und sportlich sind), werden andere in ihrer Gültigkeit bestätigt (zum Beispiel dass männliche Jugendliche leistungsfähiger sind). 6.2.1.3 Eher schick und schüchtern – das Spiel mit ambivalenten Selbstentwürfen Nicht nur die exponierte Stellung im Sozialraum wird von Henriette positiv konnotiert. Positiv konnotiert ist auch der Umstand, dass der BMX-Sport im Kontrast zu ihrer Alltagswelt steht. Von ihren Eltern wird die Sportart etwa mit Verweis auf deren Gefährlichkeit abgelehnt, während sie von ihren Freundinnen in der Schule hierfür Respekt und Achtung erfährt. Im Medienstudium wiederum, von welchem die 18-Jährige später erzählt, ergibt sich ein Widerspruch in Bezug auf ihre als „schüchtern“ bezeichnete Persönlichkeit und ihren Kleiderstil, den sie als „eher schick“ beschreibt. Mit Blick auf ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen bemerkt sie daher, dass ihr Hobby „nicht zu den Erwartungen der Leute“ passe, was sie jedoch „lustig“ finde. Stereotypisierte Kleidungs- und Verhaltenskonventionen zurückzuweisen und dabei mit den Erwartungen Dritter zu spielen, macht den besonderen Reiz jener ambivalent konnotierten Selbstpraktiken aus, welche durch die Partizipation im szenebasierten Freundeskreis ermöglicht werden. Der Freundschaftsraum ist insofern nicht nur als Opponieren gegenüber den Eltern, sondern zugleich als spezifische Körperstrategie zu begreifen: In Bezug auf den privaten Freundschaftsraum emanzipiert sie sich als eine juvenile Frau, die selbstsicher und frei den Gestaltungsspielraum der Jugend nutzt, um sich den Lebensstil einer sportlichen Szene anzueignen, sich in einem männlichen dominierten Spiel-Raum zu positionieren und zu behaupten. Stereotypische Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit dienen in diesem zunächst einmal als Folie für das eigene Handeln, um dann aber der symbolischen Geschlechterordnung durch die körperbetonte Inszenierung zu widersprechen: Indem keine spezifisch weibliche Körperstrategie gewählt wird, die bei der sportlichen Praxis etwa von der Sorge um den eigenen Körper getragen wäre und auf die Herstellung und den Erhalt der ästhetischen Form bzw. ein „Wahrgenommen-Sein“87 abzielen würde, weist Henriette Erwartungen eines vergekonstatiert. Vgl. Bütow 2013, insb. S. 32–38. Ebenfalls aufschlussreich ist die empirische Studie von Gabriele Sobiech zu den Positionierungsaktivitäten von Fußballspielerinnen. Vgl. Sobiech 2013, S. 227–232. 86 Vgl. zur doppelten Distinktionslogik Meuser 2006, S. 167 f. 87 Bourdieu 1997, S. 229; zit. n. Meuser 2012, S. 280.
Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung
schlechtlichten Habitus zurück. Die Ambivalenz des Verhaltens ist ebenso wie die Reaktionen Dritter ein bewusst eingesetztes Werkzeug der eigenen Identitätsarbeit. Freundschaft wird damit funktionalisiert, um durch die Synthese von bewusstem Entsprechen und gezieltem Enttäuschen von Konventionen und Erwartungen ein uneindeutiges Bild des Selbst zu zeichnen. Die Individualität des Subjekts wird durch eine spielerisch-instrumentelle Inszenierung des Selbst herausgestellt. Das aus der Freundschaft resultierende soziale Kapital ermöglicht es Henriette, durch die Überführung in symbolisches Kapital am Selbstbild zu arbeiten und Gewissheit hinsichtlich der eigenen Selbstwirksamkeit zu erhalten. Dies ist schließlich die private Semantik der Freundschaft, die ausschließlich für Henriette existiert, die sie nicht mit ihren (männlichen) Freunden der Clique teilt. Hier spielen ein hedonistisch-erlebnisorientiertes Anknüpfungsmotiv auf der Ebene der Gruppe mit einem identitär-emanzipatorischen Motiv auf der Ebene des Subjekts zusammen, um Freundschaft dialektisch als einen experimentellen Freiheitsraum der Jugend zu konstituieren. Bezogen auf die Gesellschaft wird ein ‚jugendlicher Habitus‘ deutlich, der gegenüber der Erwachsenenwelt betont und herausgearbeitet wird: Adoleszenz und Jugend wird als (zeitlich begrenztes) Privileg – „ich meine, später, wenn ich erwachsen bin, kann ich so’n Scheiß nemmer machen, einfach vollkommen in Schlamm eingehüllt nach Hause kommen“ – interpretiert, welches mit einer positiv besetzten Handlungsfreiheit einhergeht: Mit den „Formen geregelter und spielerischer Entfesselung (Sport, Rock, usw.)“88 begibt sich Henriette in einen Zustand ‚jugendlicher Unmündigkeit‘. Es ist (noch) erlaubt, anzuecken und zu provozieren, im Kleinen Dummheiten und Fehler zu begehen, ohne hierfür wesentliche Nachteile oder Sanktionen für den eigenen Lebensweg fürchten zu müssen. Experimentell werden im Zuge des gewählten Lebensstils neue Verhaltensweisen erprobt sowie Werte und Normen mit Blick auf die Loslösung vom zum Beispiel Elternhaus89 verhandelt. 6.2.1.4 Moratorien jenseits von Zeitvertreib und simpler Spielgemeinschaft Die Freundschaft zeigt sich damit semantisch als ein experimentelles Spiel. Der Begriff des Spiels meint zunächst, dass das gemeinsame Zusammensein im Mittelpunkt der Beziehung steht und sich Freundschaft weitgehend ohne Zwang oder moralischen Ernst vollzieht: Der Umgang ist bestimmt vom Anspruch, innerhalb von Freundschaft neue Erfahrungen zu machen, die die Grenzen des bisher Erlebten überschreiten – und vielleicht häufig auch sollen. Die Freundschaft wird aus einer lebensweltlichen Perspektive ge-
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Bourdieu 2014, S. 745. Vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 33 f.
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deutet: Mit Blick auf den gemeinsam geteilten Freundschaftsraum steht eine Clique aus gleichgesinnten und gleichaltrigen Jugendlichen im Zentrum. Es liegt nahe, dass die Freundschaftsakteure ein gutes Verhältnis zueinander haben, die Freundschaft intuitiv aber vielleicht weniger eng auslegen, die moralische Verpflichtung zueinander tendenziell in den Hintergrund rückt. Bedeutsam für das Freundschaftsverständnis ist vielmehr das lockere Verbunden- und Zusammensein, das unverbindlicher anmutet und nicht im idealistischen Sinne als enge und in hohem Maße verpflichtende Freundschaft zu verstehen sein dürfte. Wichtig sind gemeinsame Aktivitäten in der Freizeit, die den gemeinsamen Privatraum der Freundschaft konstituieren: Dieser wird nicht als Raum der ernsthaften, verbindlichen und vertrauensvollen Privatkommunikation erzählt,90 sondern als einer, der eine strikte Erlebnisorientierung aufweist und von kompetitiven, expressiven und hedonistischen Dynamiken gekennzeichnet ist. Mit Blick auf die gegenwärtige Jugendgeneration könnte das Fallbeispiel von Henriette auch so gelesen werden, dass diese zunehmend wieder danach strebt, sich eigene Horizonte zu erschließen, und sich ein „experimentierfreudiger Pragmatismus“91 herausbildet. Hier setzt der von mir gewählte Begriff des Experimentellen an, der darauf aufmerksam machen soll, dass die Jugendlichen Freundschaft performativ gestalten, wobei sie Freiheit und Kreativität beanspruchen, Neues auszuprobieren und Abweichendes zu testen. Freundschaft wird mit Blick auf die zeitlich begrenzte Lebensphase der ‚Jugend‘ als subjektiv sinnhaft interpretiert, wobei es darum gehen dürfte, diese Phase bewusst zu leben und als Jugendliche „von der ihnen in vielen Gesellschaften zugewiesenen provisorischen Freiheit [zu] profitieren“.92 Die Jugendlichen berufen sich auf die der Jugend zugeschriebenen Eigenschaften und Verhaltensweisen (Begeisterung, Dynamik, Devianz, Ausprobieren, Ungestüm und Spaß haben) und versuchen, diese durch das eigene Verhalten zu kondensieren. Wesentlich hierfür ist die Losgelöstheit und der Verzicht auf Verantwortung und Verantwortlichkeit als die konstitutiven Eigenschaften der Erwachsenen, die von den Jugendlichen indirekt dadurch zurückgewiesen werden, indem sie im Rahmen ihrer Freundschaften spezifisch jugendliche Handlungsrepertoires „spielerischer Entfesselung“93 verwenden. Gezeigt werden kann man dies nicht nur am Beispiel von Henriette, sondern ebenfalls am Beispiel des 19-jährigen Selim, welcher ebenfalls jenen Handlungsspielraum für sich beansprucht. Eine gemeinsam geteilte, dezisionale und lokale Privatheit artikuliert sich in Form der Nichtinstitutionalisiertheit und Sanktionsfreiheit der Freundschaft: „In einem nicht-leistungsbezogenen, freiwillig gewählten und von der Erwachsenengesellschaft in der Regel kaum
90 Diesbezüglich sei vor allem auf die noch folgenden Freundschaftsentwürfe verwiesen, insbesondere auf jene, welche in den Kapiteln 6.3.1 und 6.3.2 dargestellt werden. 91 Quenzel u. a. 2015, S. 376. 92 Bourdieu 2014, S. 745. 93 Bourdieu 2014, S. 745.
Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung
kontrollierten Raum können Jugendliche Verhaltensweisen und Lebensstile einüben, ohne dabei Gefahr zu laufen, sanktioniert zu werden“.94 Ein weiterer Aspekt, der mit dem Begriff des Spiels umrissen werden soll, ist der, dass das gemeinsame Handeln Regeln installiert und diese wiederum diskursiviert: Freundschaft als experimentelles Spiel bedeutet auch, gegen die Erwachsenenwelt zu opponieren, mit Gleichaltrigen anzuecken und zu streiten, um von den Freunden Grenzen aufgezeigt zu bekommen, vielleicht Sanktionen zu erfahren, das Verhalten verändern zu müssen usw. Die Freunde haben dabei eine wichtige Funktion, da sie in der spielerischen Beziehung potenziell alle Rollen des Spielens einnehmen können: Sie sind gleichgesinnte Mitspieler und Spielepartner, wenn es darum geht, sich vom Elternhaus loszulösen. Gleichzeitig sind sie Wettbewerber im Kampf um soziales wie symbolisches Kapital und die wechselseitige Anerkennung der Peers. Ebenfalls treten sie als Schiedsrichter auf, wenn sie ko-konstruktiv Grenzen aufzeigen, Überschreitungen sanktionieren oder deviantes Verhalten strafen. In Anlehnung an David Riesman besteht ihre Funktion darin, „jeden aufs Normalmaß zurückzustutzen“95 und aus normativen Extremen des Verhaltens und Handelns die für das Subjekt jeweils passenden auszuwählen. Im Falle von Henriette vollzieht sich dies gut sichtbar v. a. anhand des sozialen Geschlechtermerkmals, ist jedoch unabhängig davon zugleich als Orientierungsmuster sowie als differenter, gesellschaftlicher Lebensentwurf zu lesen, welcher dem jugendlichen Subjekt durch die Freunde spielerisch vor Augen geführt wird, um die von Riesman angesprochene „Anpassung“96 des jugendlichen Subjekts zu vollziehen. Freundschaft entfaltet sich insofern im dialektischen Verhältnis von (individueller) Freiheit und (gegenseitiger) Verpflichtung und Regelgeleitetheit, wobei es sich bei den Grenzen beider Pole um Setzungen handelt, die die Jugendlichen selbst vornehmen und diskursivieren. Experimentelles Spiel soll also keinesfalls als eine Art reine ‚Spielgemeinschaft‘ interpretiert werden, bei welcher es den Jugendlichen ausschließlich um den gemeinsamen Zeitvertreib, die Abwechslung oder die Vermeidung von Langeweile ginge. Vielmehr beinhalten die Freundschaftsbeziehungen durch die bereitgestellten Lernprozesse unmittelbar funktionale Elemente für die Vermittlung wichtiger sozialer und psychischer Kompetenzen und die Arbeit an der eigenen Identität.97 Jene Herausforderungen der Identitätsarbeit in der gegenwärtigen, individualisierten Multioptionsgesellschaft zeigen sich insofern im Freundschaftsparadigma des experimentellen Spiels besonders deutlich: In den freundschaftlichen Handlungssituationen muss das Subjekt Teile der eigenen Identität in zeitlicher und räumlicher
Harring u. a. 2010, S. 10. Riesman 1958, S. 85. Riesman 1958, S. 84. Vgl. hierzu zum Konzept des sozialen Lernens Harring 2010, S. 10–13 bzw. ausf. Krappmann 2010 im selben Band. 94 95 96 97
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Subjektive Freundschaftssemantiken
Hinsicht priorisieren, abhängig davon, wie sich die Anforderungen von außen an das Selbst konstituieren: Die Identitätsarbeit gleicht so auch einer ambivalenten Arbeit am Selbst: „Identität wird […] zu einem permanenten Prozess der Selbstentfaltung durch spielerische und experimentelle Selbstinszenierung“.98 Im Sinne von Erik H. Erikson übernimmt die Gruppe der gleichaltrigen Freunde dabei die Funktion eines psychosozialen Moratoriums99, in welchem der „junge Erwachsene durch freies Experimentieren mit Rollen einen passenden Platz in irgendeinem Ausschnitt seiner Gesellschaft finden sollte, einen passenden Platz, der fest umrissen ist und doch ausschließlich für ihn gemacht zu sein scheint.“100 Die Vereinbarkeit von Einstellungen und Lebensweisen, die Synthetisierung sozialer Rollen und Rollenerwartungen, die Konsolidierung und Abstimmung von Werten und Verhalten sind dabei die Funktionen, die der durch Freundschaft konstituierte spielerische Raum des Aushandelns in sozialisatorischer Hinsicht vollbringt: Um im Sinne von Erikson entwicklungspsychologisch Zeit zu gewinnen, wird ein vorübergehender Schon- bzw. Übergangsraum konstituiert. Offen und flexibel angelegte Szenen wie Rap/Hip-Hop, Online-Gaming und BMX stellen die notwendigen Gebilde dar, die die Jugendlichen als kulturelle Moratorien institutionalisieren. Solche juvenilen Szenen, die ohne „herkömmliche Verbindlichkeiten“101 auskommen und als posttraditionale Gemeinschaft die Mitgliedschaft nicht erzwingt, sondern lediglich „zur Mitgliedschaft verführt“,102 erweist sich als besonders tragfähig für die freundschaftliche Vergemeinschaftung: In einer von der Individualisierung von Lebenslagen und der Pluralisierung der Biografiemuster der Subjekte gekennzeichneten Umwelt103 möchten sich die Jugendlichen in mehrerlei Hinsicht noch nicht festlegen. Die Freunde unterstützen beim individuellen Orientierungsproblem, „sich typischerweise zwischen konkurrierenden Sinnsystemen entscheiden – ohne sich damit zwangsläufig längerfristig zu binden“.104 Eine themenzentrierte Freundschaft, die auf der Ebene des Lebensstils geschlossen wird, sich über ein erlebnisorientiertes Anknüpfungsmotiv konstituiert und statt die Subjekte auf feste Moralitäten zu verpflichten, über eine
Vogelgesang 2014, S. 138 f. Unter dem psychosozialen Moratorium versteht Erik H. Erikson „einen Aufschub erwachsener Verpflichtungen oder Bindungen“ in einer Periode, „die durch selektives Gewährenlassen seitens der Gesellschaft und durch provokative Verspieltheit seitens der Jugend gekennzeichnet ist“ (Erikson 1968, S. 161). 100 Erikson 1968, S. 160. 101 Hitzler und Niederbacher 2010a, S. 92. 102 Hitzler und Niederbacher 2010a, S. 92 (Hervorh. i. Orig). Anders sind hier zum Beispiel die institutionell geformten Strukturen von (Sport-)Vereinen zu deuten, in denen sich die Jugendlichen mehr oder weniger starken Normsystemen (Vereinsordnungen, expliziten Wettkampfregeln etc.) zu unterziehen haben, die nicht nur die von Erwachsenen als relevant erachteten Werte inkorporieren (Kontrolle, Disziplin, Verbindlichkeit, Regulierung usw.), sondern auch von diesen in Form von Trainern und Verantwortlichen normativ vermittelt und gegebenenfalls sanktioniert werden. 103 Vgl. Beck 2016, S. 205–219. 104 Hitzler und Honer 1994, S. 307 98 99
Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung
charismatische Szene vielmehr die zeitlich begrenzte Gleichartigkeit von Interessen betont,105 vermag das gesellschaftliche Versprechen von Wahlfreiheit und Individualität in besonderem Maße zu bedienen. 6.2.2
Freundschaft als positive Bekräftigung – das Fallbeispiel Alica
Alica ist 17 Jahre alt und lebt mit ihren Eltern und ihren beiden Brüdern in einer Mittelstadt in Rheinland-Pfalz, wo sie gegenwärtig die zwölfte Klasse des Gymnasiums besucht. Vor drei Monaten ist sie von einem einjährigen Auslandsjahr aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt, was eine „supertolle Zeit“ gewesen sei. Ausgehend von dieser Lebensphase, welche im Interview das aktuelle Zentrum ihres Erinnerungsstroms auszumachen scheint, konkretisiert sich ihr Text auf der strukturellen Ebene als der mit Abstand narrativste innerhalb des Korpus. 6.2.2.1 Freies Erzählen und das Wechselspiel der Gefühle Bereits im Vorfeld des Interviews bezeichnet sich Alica als eine Person, die gerne und ausführlich erzählt, was sie dem Interviewer genauso mitteilt. Dieser vermittelt ihr (u. a. per E-Mail), dass dies eine perfekte Voraussetzung für das Gespräch sei. Dieser „Erzählplan“106 der Erzählerin sowie die Selbstpositionierung als eine erzählaffine Person schlägt sich im Interview durchaus nieder: Die Lebensgeschichte wird zwar zunächst nicht sehr detailliert abgearbeitet, dafür aber strukturiert und als zusammenhängender Erfahrungskomplex präsentiert. In der Interviewsituation gewöhnt sie sich schnell an die Rolle der monologischen Rednerin und scheint an dieser Gefallen zu finden: Insbesondere zur Mitte des Interviews beginnt sie, frei und weitgehend ohne Interaktionssteuerung durch den Interviewer zu erzählen, wobei durchaus eine gewisse Freude am Erzählen vermittelt wird: So lässt sie sich von situativen Erinnerungen leiten und vertieft spontan kleinere Binnenerzählungen (zum Beispiel das Wiedersehen mit ihrer Familie bei der Ankunft am Flughafen in Deutschland). Dabei wechselt sie spontan den point of view, um ein einzelnes Ereignis (zum Beispiel wie sie in den USA einen Jungen kennenlernte und sich mit diesem verabredete) detailliert in szenischer Präsenz und mittels wörtlicher Rede zu präsentieren und es narrativ in Bezug auf einen Höhepunkt hin zu inszenieren. Sie ist durchaus bereit, Persönliches von sich
Vgl. Hitzler und Niederbacher 2010a, S. 96. Vgl. Helfferich 2011, S. 72. Als Erzählplan wird die „mehr oder weniger feste Vorstellung von dem, was und wie ausführlich die Erzählperson erzählen will“ und „in den komplexen kommunikativen Prozess des Interviews eintritt“ (S. 72), bezeichnet. 105 106
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Subjektive Freundschaftssemantiken
zu erzählen und privat konnotierte Inhalte (zum Beispiel im Hinblick auf die eigenen Gefühle) preiszugeben. Strukturell entsteht in diesem Sinne ein gleichwohl umfangreicher wie ausdifferenzierter Text, der sehr narrativ ist, alle Darstellungsformen (d. h. sowohl szenisch-episodische, berichtende wie chronikartige Formen) aufweist und einige Binnenerzählungen beinhaltet. Inhaltlich ist der Text in Bezug auf die behandelten Themen sehr vielschichtig, damit gleichzeitig aber nicht immer auf die Freundschaft fokussiert: Der Großteil des Gesprächs handelt von Alicas Auslandsjahr, von welchem sie über weite Strecken des Interviews erzählt. Auch später, als es um andere Fragen und Themenbereiche (zum Beispiel um die Mediennutzung) geht, rekurriert sie intuitiv immer wieder auf diese Lebensphase – zum Beispiel um die Mediennutzung in den USA mit der in Deutschland zu vergleichen, auch wenn hiernach nicht gefragt war. Von Freundschaft erzählt sie auch, allerdings stellt die Freundschaft nicht den Haupterzählstrang dar, an welchem sich Alica intuitiv orientiert. Bei Alica wird mehr als bei anderen deutlich, inwieweit das Gesprächsthema, die erzählten Inhalte und der Interviewverlauf das Resultat eines dynamischen Settings darstellten, in dem sich das Erzählte im situativen Kontext konstituiert und durchaus auch das Produkt von spontanen Entscheidungen sein kann.107 Eine Modellierung der abstrakt-semantischen Freundschaftsräume in Bezug auf relevante Oppositionsbildungen (wie im Fallbeispiel von Selim) kann ebenso wie eine Darstellung unterschiedlicher Freundeskreise (wie im Fallbeispiel von Moritz) bei Alica nicht geleistet werden, da die hierfür im Text gegebenen Informationen nicht ausreichen oder unvollständig sind. Hier zeigt sich ein Nachteil des Gesprächs mit erzählaffinen Personen: Es besteht das Risiko, dass sich der Text gerade aufgrund der Tendenz, ausführlich zu erzählen, als „karg“108 erweist und in Bezug auf das Interessensgebiet zum Beispiel viele informatorische Nullstellen aufweist, weil die Erzählperson zwar sehr umfänglich, aber nicht immer sehr fokussiert erzählt. Für den Interviewer ist es gleichzeitig nicht so einfach, dies zu vermeiden, da er zugleich der Anforderung der subjektiven Erzähl- und Relevanzsetzung109 genügen muss und auch nicht durch Unterbrechungen oder zu starke Steuerungsaktivitäten riskieren sollte, die Erzählerin von ihrem Erzählplan abzubringen. Da Alica circa drei Monate vor dem Gespräch von ihrem einjährigen Auslandsjahr zurückkam, stellt vermutlich gerade dieses Erlebnis ihr gegenwärtig wichtigstes Lebens- und Identitätsthema dar. In Bezug auf das Auslandsjahr ist zu vermuten, dass dieses einen Self-Reference-Effekt bewirkt:110 Das Auslandsjahr wird, da es kognitiv
Vgl. Helfferich 2011, S. 72. Helfferich 2011, S. 153. Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 20 f. Zu diesen Funktionen des Selbst vgl. Aronson u. a. 2008, S. 128 f. Unter dem Selbst-Reference-Effekt wird „die Neigung des Menschen [verstanden], Informationen, die er mit sich selbst in Verbindung bringen kann, besser zu behalten als andere Informationen“ (S. 128). 107 108 109 110
Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung
präsent ist und gut erinnert wird, eventuell intuitiv für die narrative Präsentation ausgewählt und vertieft. So nimmt der narrative Auflösungsgrad ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung zum Ende hin immer weiter zu, um schließlich in einem Abschlusserlebnis zu kulminieren: Der Rückflug, das Ankommen am Flughafen in München und das Wiedersehen mit der Familie, womit der lebensgeschichtliche Teil endet, wird als positives und sehr emotionales Erlebnis – „und ich hab mich so gefreut, ich hab geheult, ich war einfach so emotional“ – sehr detailliert mittels deiktischer Erlebnisperspektive geschildert. Eine längere Coda schließt die lebensgeschichtliche Erzählung ab. Sie umfasst verschiedene Evaluationen bezüglich der retrospektiven Betrachtung der gemachten Erfahrung: Positiv bewertet wird vor allem, dass sich, anders als von ihr erwartet, kein Gefühl der Fremdheit einstellte. Sowohl das Verhältnis zu ihren deutschen Freunden als auch die Beziehung zu den Eltern und den Brüdern wird unverändert als eng und vertrauensvoll erlebt. Dieses Erleben wird im folgenden Textbeispiel 14 von der Erzählerin thematisiert. Das Textbeispiel wird, da es mehrere relevante Aspekte für die Analyse der Freundschaft bei Alica beinhaltet, ungekürzt und zusammenhängend dargestellt: Textbeispiel 14 Alica (17): Ab dem Moment war ich glücklicher 01 I: Vielleicht kannst du mir einmal von eurer Freundschaft erzählen, du (ähm) (.) 02 hattest ja gesagt vorhin, sinngemäß, dass du ANGST hattest, dass es nicht mehr so 03 sein könnte wie früher. 04 A: Genau. 05 I: Wie ist also eure Freundschaft vielleicht? (..) Was ist (.)// Verändert? 06 A: Ja also (.), wie ich schon gesagt hab hatte ich ja so Angst am Anfang, ob wir 07 dann immer noch beste Freudinnen sind wenn ich zurück bin und ja, wir sind immer 08 noch beste Freundinnen (.) (I: mhm). Wir sind halt wie Schwestern, verbringen 09 jeden Tag miteinander und unsere Familien sind halt (.), so unsere gegenseitigen 10 Familien auch (I: ah) und sie kommt jetzt auch mit, bald mit in Urlaub (.) 11 I: Wenn du wieder (.) (räuspern) in die USA fliegst? 12 A: Genau, da kommt sie mit und (ähm) (.) ja, anfangs war’s// Ist das halt voll 13 komisch weil du nicht wirklich mitreden kannst wenn die reden, weil die über 14 Sachen reden, die in der Schule passiert sind (.) aber ja (.) (I: mhm), sie wurde 15 viel, viel offener (.) (ff), viel (.), arg, voll reifer auch, geworden und 16 hat (.) neue Freunde gefunden, wo ich mich auch voll für sie freue, bin sehr, 17 sehr stolz auf sie, dass sie diese Veränderung gemacht hat. 18 I: Schön. (..) Daher// 19 A: Ja, und deshalb war’s dann auch so, sie hat dann über ihre neuen Freunde 20 geredet und ich dacht mir so: (…)
Wer ist das?
[flüstern, KET] (.) 21 I: Ja. Also warst Du verunsichert? 22 A: Ja, die ganze Woche, die ganze erste Woche: (..) (AHH) (..) (I: mhm) Ich 23 kam gar nicht klar! (..) (Uff) Hab mich sehr alleine gefühlt und ich hatte das 24 Gefühl (.), dass ich (.), nicht komplett glücklich sein kann (.), keine Ahnung 25 (.), konnt’s mir nicht erklärn. 26 I: (Mhm) Verstehe. 27 A: AH, das klingt so DUMMM, =bestimmt (hah) 28 I: Gar nicht.=
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29 A: Egal, aber ist jetzt auch eh vorbei. 30 I: Ja? Warum ist es vorbei? 31 A: Was dann halt passiert// Also (.), was die dann gemacht haben// Also es war so, 32 am ersten Samstag nachdem ich wieder da war, war ich dann mit Nora, also meiner 33 besten Freundin und einer meiner besten Freundinnen unterwegs und dann (.) waren 34 wir gerade auf dem Weg (.) in die Stadt und ich wusste nich was wir machen, 35 ich dachte wir würden, so (.), (ff) shoppen gehen oder so, ich wusste auch nicht, 36 dass die andere Freundin noch dabei sein würde und dann sind wir (.) in ein 37 Restaurant gegangen und ich hab schon auf dem Handy von ner Freundin von mir 38 gesehen, d/ dass die// also von, von den zweien (.) (I: MHM), dass die ne 39 Gruppe hatten und da stand halt: Alica, aber ich wusste nich warum (.) 40 I: Ja. 41 A: Und// Ich weiß nich warum, ich hätte es ahnen können, aber ich dachte 42 persönlich einfach, dass die ne Gruppe zusammen ham auf WhatsApp, einfach weil 43 die beiden das (.) zusammen mit mir geplant hatten, AAABER im Restaurant saßen 44 dann so alle meine engen Freunde, und m/ (.) meine altes (hm) [sic], alte 45 Freundesgruppe und ja (.), ham mich sehr glücklich gemacht (I: mhm) und ich glaub 46 in dem Moment war’s einfach so: (schnalzt) (.) [bewusst gesetztes 47 Schnalzen], ab dem Moment war ich glücklicher (..) (I: aha, mhm), von dem Tag an 48 sozusagen (.) also (..) s/ (hm), ja und Abends hab ich dann au noch was mit 49 anderen Freunden gemacht, ja (.).
In seiner Gesamtheit zeigt das Textbeispiel zunächst sehr eindrücklich, wie sich die Erzählerin ihrem Erinnerungsstrom hingibt, das Geschehen motiviert und frei und ohne auffällige Interaktionssteuerung kommuniziert; kurze Interjektionen des Interviewers genügen, um den Erzählfluss aufrechtzuerhalten. Inhaltlich ist die Episode vor allem interessant, weil sie die narrative Identität der Erzählerin konkretisiert und dabei relevante Freundschaftssemantik vermittelt: Nach der Frageformulierung, welche durch den Interviewer mehrfach reformuliert wird (Z01–05), folgt eine längere Exposition der Erzählerin (Z06–20). Aufgrund der Aufladungen in der Exposition ergibt sich eine Semantisierung der Ereignispotenziale in Bezug auf das eigene Selbst: Die Erzählerin thematisiert zunächst ihre anfängliche Unsicherheit angesichts der Frage, ob sie mit ihrer besten Freundin immer noch eng befreundet sei, was narrativ aber unmittelbar aufgelöst wird (Z07–08). Mit Blick auf die Beziehung zu ihrer besten Freundin Nora wird weiterhin das Gefühl, nicht mehr informiert zu sein und nicht in die Gemeinschaft eingebunden zu sein, vermittelt, was stimmlich in der Form eines hörerbezogenen Flüsterns (Z20) moduliert wird. In Z22–24 wird diesbezüglich das Thema Glück, verstanden als Gefühl des Glücklich-Seins, zum ersten Mal artikuliert und als relevant gesetzt. Kausal wird es mit dem Allein-Sein – bzw. sozialpsychologisch genauer: mit ebenjenem subjektiven Empfinden fehlender sozialer Integration (im Textbeispiel wurde dies anfänglich auch kurz in Z12–13 konkretisiert) – in Verbindung gebracht. Nachdem der Interviewer sein Verständnis äußert (Z26), folgt ein kurzer interaktiver Teil (Z27–30), in welchem sie ihre Gefühle reflektiert, aus heutiger Sicht einordnet und sich gleichzeitig intersubjektiv hinsichtlich der Legitimität dieser Gefühle rückversichert.
Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung
Ab der Z31 wird schließlich das Erlebnis in der berichtenden Erzählform wiedergegeben: In der Geschichte wird Alica im Restaurant von ihren „engen Freunde[n]“ überrascht. Diese haben sich über soziale Medien abgestimmt, um ihr eine Freude zu machen und sie willkommen zu heißen (dies wird so zwar nicht gesagt, kann aber aus der Geschichte abstrahiert werden). Auffällig in semantisch-inhaltlicher Sicht ist das Thema Glück bzw. Zufriedenheit, welches von der Erzählerin unmittelbar benannt und mit dieser Freundschaftsgeste in einen kausalen Zusammenhang gebracht wird (Z45–48). Der inkonsistente Zustand wird aufgelöst und in einen konsistenten Zustand überführt: Im Text bewirkt die Überraschung eine Transformation in einen Endzustand, welcher nun als glücklich beschrieben wird (Z47). Interessant ist, dass die Gründe für dieses Gefühl implizit bleiben und aus der vorangegangenen Exposition abstrahiert werden müssen: Wie im Fallbeispiel von Moritz wird auch hier das Gefühl gemeinschaftlicher Einbindung als zentral gesetzt, welches sich bei Alica mit der (Re-)Integration in ihre Freundesgruppe bzw. in die Familie (siehe vorangegangener Abschnitt) ergibt. Interessant an Textbeispiel 14 sind auch die bezüglich der Freundschaftserwartungen zu abstrahierenden Semantiken: Als abstrakt-semantische Ordnungssätze wird vermittelt, dass gute Freunde aneinander denken, der anderen Person eine Freude machen sowie dass gute Freundschaften auch dann Bestand haben, wenn die Personen raumzeitlich für eine längere Zeit voneinander getrennt sind. Vor allem die ersten beiden Ordnungssätze machen auf den Aspekt der emotionalen Unterstützung aufmerksam. Für Alica ist es wichtig, dass sie im Rahmen von Freundschaft wertgeschätzt, geachtet und umsorgt wird.111 In diesem Zuge wird im Textbeispiel v. a. das fremdreferenzielle Handeln der Freundin(en) als relevant gesetzt, welches Einfühlungsvermögen und Empathie zum Gegenstand hat: Dem Freundschaftsraum kommt im Text wiederholt die Funktion einer Selbstwertbekräftigung zu, welche das erzählte Ich durch freundschaftliche Gesten (Lob, Zusprache, Geschenke, Aufmerksamkeit) erfährt. Sprachlich wird dies von Alica wiederholt in Form der Beschreibung ihrer Gefühle bzw. entsprechender Gefühlsveränderungen (zum Beispiel bei Z45–48) realisiert. Die Tendenz, ausführlich von den eigenen Gefühlen zu erzählen, ist charakteristisch für das Gespräch mit Alica und stellt in Umfang und Ausführlichkeit eine
Mit Blick auf die unterschiedlichen Unterstützungskonzepte im Rahmen von Freundschaft (vgl. für eine Übersicht Kolip 1993, S. 60–65) möchte ich in Anlehnung an Cecilia H. Solano zwischen emotionaler Unterstützung, kognitiver Unterstützung und instrumenteller Unterstützung unterscheiden. Die emotionale Unterstützung bezieht sich auf das gegenseitige Geben und Erhalten von Zuneigung auf der Grundlage von Empathie, während die kognitive Unterstützung einen Beitrag „zur Bildung eines kognitiven Rahmens zur Interpretation und Kontruktion [sic] von Realität“ bietet (Solano 1986, S. 233; zit. n. Nötzoldt-Linden 1994, S. 115). Unter die instrumentelle Unterstützung fallen schließlich konkrete gegenseitige sowie materielle Hilfeleistungen. 111
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Besonderheit in der Stichprobe dar. Das wichtigste Gefühl im Gespräch mit Alica ist das des Glücklich-Seins, welches im Text immer wieder auftaucht und dort qualitativ signifikant verhandelt wird. 6.2.2.2 Der emotiv-idealisierte Sprachgebrauch Bevor dieser Punkt aber weiter detailliert und ausgeführt wird, sei mit Blick auf das Textbeispiel 14 noch auf eine Auffälligkeit in Bezug auf den discours hingewiesen. Diese Auffälligkeit ist nicht nur sprachanalytisch auffällig, sondern ebenfalls in freundschaftssemantischer Hinsicht erkenntnishaltig. Auffällig bei der Auswahl der sprachlich-begrifflichen Mittel sind expressive Formulierungen sowie der Gebrauch von Superlativen und hyperbolischen Formulierungen. Im Textbeispiel fällt etwa in Z15 sowie in Z16–17 die Wiederholung starker Adjektive auf; in Z15 hinterlässt die mit den ganzheitlich konnotierten Begriffen formulierte Accumulatio eine starke, expressive Wirkung: Die Wertschätzung über die persönlichen Veränderungen der besten Freundin Nora werden auf eine ausdrucksstarke und übertrieben wirkende affektive Weise zum Ausdruck gebracht, während die Erzählerin auf der extradiegetischen Ebene ihre eigene Person gleichzeitig als eine reflektierte, empathisch und altruistische Person, die sich in ihre Freunde hineinversetzen kann und um deren Wohlergehen bemüht ist, positioniert. Rekurrent werden im Textkorpus in diesem Sinne unterschiedliche phonetische (siehe zum Beispiel die Betonung und Prosodie der Erzählerin) wie syntaktische Mittel (siehe zum Beispiel die Ausrufe der Erzählerin) gebraucht, die auf eine rhetorische Steigerung der Wirkung in der Rede abzielen und Emphasis äußern. Die Freundschaftsgeschichten werden von ihr mit einem nacherlebenden point of view erzählt und mit dem Fokus auf das emotionale Erleben hin moduliert. Die Bereitschaft, dabei auch privat konnotierte Dinge preiszugeben, ist gegeben: Affekte und innere psychische Vorgänge, Gefühle sowie persönliche Betroffenheiten werden rekurrent erzählt und beschrieben.112 Sie laden die erzählte Welt von Alica mit Emotionalität auf und evozieren eine Wirklichkeit, die gewissermaßen zwischen Extrempunkten oszilliert. Positive wie negative Gefühle werden durch entsprechende Adjektive bekräftigt und sprachlich überzeichnet: So ist das erzählte Ich im Text wahlweise „total unglücklich“ oder – da es eine „totale Erleichterung“ erlebt – „komplett glücklich“. Die Gastfamilie in den Vereinigten Staaten wird als eine „ganz tolle Familie“ und Julia als „super liebe Gastschwester“
112 Dieser Punkt kommt auf der extradiegetischen Ebene auch einmal zur Sprache, als der Interviewer die Bereitschaft zu erzählen lobt und die Offenheit der Erzählerin positiv herausstellt. Es ist anzunehmen, dass dies die Erzählerin in ihrem Erzählplan, frei und ausführlich zu erzählen, ihrem Erinnerungsstrom gewissermaßen freien Lauf zu lassen, tendenziell bekräftigte.
Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung
bezeichnet, während die Erlebnisse mit den Freunden als „mega schön“ umschrieben werden und sich der Vater nach der Rückkehr „voll lieb“ verhält. Zu konstatieren ist ein emotiv-idealisierter Sprachgebrauch, welcher morphologisch vor allem in Form jugendcharakteristischer Füllwörter (zum Beispiel „voll“), Intensivpräfixe und Gradpartikeln (zum Beispiel „total“, „mega“) sowie Derivationen (zum Beispiel „gefühlsmäßig“) realisiert113 und semantisch mittels positiv konnotierter Signifikate emotional aufgeladen wird. Zum Ausdruck dürfte hier zunächst die LebensalterVarietät Jugendlicher kommen: Neben Entlehnungen und der Mehrsprachigkeit sind ebensolche Intensivierungen nebst expressiven und emotionalen Formulierungen durchaus charakteristisch für den Soziolekt heutiger Jugendlicher.114 Die Emotionalisierung und Überzeichnung der erzählten Welt sowie die offene Gefühlskommunikation könnte aber auch als charakteristisch für die Interpretation der Freundschaft von jüngeren, weiblichen Jugendlichen gesehen werden: Auf der Grundlage einer soziolinguistischen Analyse des „symbolischen Freundschaftshandels“ von Mädchen spricht zum Beispiel Martin Voigt von idealisierten und hoch-emotionalisierten Beziehungen.115 Zu den charakteristischen Merkmalen gehören zum Beispiel „Liebesbekundungen, die zwischen moderner Höflichkeit und hochemotionalen Beschönungs- bzw. Beschwichtigungsformeln tendieren“, „inszenierte Verlustängste und nahezu tägliches Bestätigen von Verbundenheit“ sowie das „gegenseitige Huldigungen und [die] Evaluation der Freundinnen im öffentlichen Bezug“.116 Diese von Martin Voigt thematisierten Freundschaftsmerkmale (jüngerer) weiblicher Jugendlicher scheinen auch im Text von Alica immer wieder durch: Regelmäßig wird im Erzählen das eigene (Er-)Leben und Fühlen reflektiert und wenn möglich im Hinblick auf positive Aspekte hin thematisiert. Auch bezüglich der sozialen Beziehungen wird regelmäßig betont, welch „tolle“ Familie und „liebe“ Freundinnen sie habe und wie wichtig Freundschaft für sie sei: Charakteristisch ist die intersubjektive Bestätigung des Vorhandenseins, der Verbindlichkeit und des positiven Charakters von Freundschaft. Sozialpsychologisch betrachtet drängt sich der Eindruck auf, ein stabiles Selbstbild durch die sprachliche Vergegenwärtigung und Benennung der eigenen Gefühle und Beziehungen konstruieren zu wollen. Die sprachlichen Beschönigungen
Vgl. diesbezüglich zu den formalen Merkmalen gesprochener Jugendsprache Bahlo u. a. 2019, S. 59–63. Vgl. einführend zur deutschen Gegenwartssprache von Jugendlichen Bahlo u. a. 2019, S. 55–72 sowie Neuland 2018, hier ausf.: S. 178–201. Bezüglich der Relevanz soziolinguistischer Merkmale sei darauf hingewiesen, dass sich in Alicas Sprachgebrauch sicherlich deren soziale Herkunft (aus einer eher akademischbildungsbürgerlichen Schicht) verbunden mit einer erhöhten Sprachsensibilität weiblicher Jugendlicher und deren Verzicht auf negative Konnotate im Sprachgebrauch (vgl. Neuland 2018, S. 187) spiegelt. Eine Rolle könnte auch spielen, dass das Gespräch in ihrem elterlichen Wohnort stattfand, weshalb sie ihren Sprachgebrauch nicht in gleichem Maße wie andere Jugendliche dem situativen Kontext des Interviews anpasste. 115 Vgl. Voigt 2015, S. 424. 116 Voigt 2015, S. 424. 113 114
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und Verniedlichungen dienen im Sinne „selbstwertdienlicher Attributionen“117 also dem Zweck, ein besseres Selbstwertgefühl zu schaffen und zu vermitteln. 6.2.2.3 Das Bewirken positiver Glücksmomente In Bezug auf den sozialen Entwurf der erzählten Welt zeigt sich wie im Fallbeispiel von Moritz die Tendenz, ein wohlwollendes, harmonisches Miteinander zu entwerfen. Dies zeigt auch das Textbeispiel 14, in welchem eine auffällige Parallele in Bezug auf die konstitutive Vernetzung von Familie und Freundeskreis artikuliert wird (Z09–10). Während für Moritz jedoch die Gemeinschaftlichkeit im Mittelpunkt steht, rückt Alica das eigene Selbst mit seiner psychosozialen Konstitution ins Zentrum des Freundschaftsentwurfs: In diesem Sinne kommt der Freundschaft die Semantik zu, dass das eigene Selbst nicht primär soziale Einbindung, sondern eben individuelle Wertschätzung und Anerkennung durch die anderen erfährt. Besonders signifikant kommt diese Semantik auf narrativem Wege zum Ausdruck, als im Mittelteil des Gesprächs das freundschaftsgeschichtliche Erzählen angestoßen wird. Hier präsentiert Alica eine Geschichte aus ihrem Auslandsjahr, welche die Beziehungsanbahnung zu einem „amerikanischen Jungen“ thematisiert. Bezogen auf die Beziehung zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit wird die Geschichte ausgesprochen detailliert – im Interviewtranskript umfasst dieser Teil annähernd sechs Seiten! – abgearbeitet und mit einem hohen narrativen Auflösungsgrad realisiert. Korpusübergreifend handelt es sich um die umfangreichste Episode der Stichprobe. In ihr finden sich sowohl re-inszenierende und dramatische Darstellungsformen, die nah am Geschehen sind, als auch evaluative Aktivitäten, die retrospektiv-kategorisierend jeweils lokal eingebunden sind. Beschreibungen der eigenen Gefühle nebst Bewertungen aus der heutigen Sicht sind auch hier konstitutiv. Die Geschichte leitet die Erzählerin folgendermaßen ein: Textbeispiel 15 Alica (17): Was Freundschaft ausmacht für mich 01 I: 02 03 04 A: 05 06 07 08
117
Sehr gut, dann (.), wie gesagt, machen wir weiter. Also wenn du eine Freundschaftsgeschichte// eine Geschichte zu Freundschaft hast, dann immer her damit. (.) Auch gerne ausführlich. (Hm) Ich kann mal erzählen, wie ich mich in jemanden (.) verknallt habe, ich würd nicht sagen verliebt. Aber eben verknallt und (ähm), da war das, dass also meine beste FREUndin da in den USA, also das is von meim Auslandsjahr (I: mhm), mich da im Nachhinein// Also ich das mit ihr eben erlebt hab und sie im Nachhinein au etwas voll Süßes für mich getan hat und ich würd da sagen (.), so
Aronson u. a. 2008, S. 116–118.
Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung
09 das ist 10 also so 11 I: Ja (.). 12 A: Ja, ist 13 I: Ja.
das (.), was so Freundschaft aus/ ausmacht für mich (.) (I: mhm). Das, die Geschichte verdeutlicht das ziemlich gut (NNN) (..). Sehr gerne, wenn du das erzählen möchtest, die Geschichte. ja auch noch nicht so lang her (.). Also bin, bin ja erst zurück jetzt.
Nachdem der Interviewer um die Erzählung einer „Geschichte zu Freundschaft“ bittet (Z01–03) und diese Bitte um die Information ergänzt, dass die Geschichte auch gerne ausführlich präsentiert werden darf (was in diesem Fall auch erfolgt!), folgt im zweiten Teil dieses Textbeispiels ein metakommunikativer Abschnitt (Z04–16). In diesem stimmen sich Interviewer und Erzählerin über die (Inhalte und den Umfang der) Geschichte ab: Die Erzählerin kündigt in einem einführenden Abstract den Erzählkern an (Z05), nimmt das Resultat vorweg (Z07–09) und rückversichert sich beim Interviewer bezüglich der Erwünschtheit und Legitimität (Z04). Im Abstract finden sich insofern bereits Evaluationen, die „aus der retrospektiven Betrachtung der Erfahrung stammen, und in die Ereigniskette verwoben die Rekonstruktion der damaligen Bewertungen“118 ausmachen: Bezüglich Freundschaft wird es um eine bedeutsame Freundschaftsgestik gehen, weshalb diese Episode von ihr ausgewählt wurde und erzählt werden soll. Recht interessant ist, wie die Erzählerin einen Spannungsaufbau im Hinblick auf den Handlungsverlauf, das Resultat und die Moral der Geschichte inszeniert: Das Erlebnis wird als abgeschlossener, reflektierter und gedeuteter Sachverhalt evaluiert – „das ist das, was so Freundschaft […] ausmacht für mich“ (Z09) –, in Bezug auf das relevante Freundschaftsmerkmal aber nicht konkretisiert. Was Freundschaft für die Erzählerin letztlich wertvoll macht, könnte allenfalls mithilfe des kulturellen Wissens geschlussfolgert werden – zum Beispiel anhand der Information, dass ihre Freundin etwas „voll Süßes“ (Z08) für sie getan hatte. Indem bezogen auf das Resultat also eine informatorische Nullposition gesetzt wird, werden hörerseitig Erwartungen an eine aufschlussreiche Geschichte evoziert. Vielleicht soll instinktiv zudem eine erhöhte Aufmerksamkeit und ein aktives Zuhören bewirkt werden. Alica beginnt nun mit der Geschichte, wobei diese in der gegebenen Ausführlichkeit hier nicht wiedergegeben werden muss (zumal sie erst gegen Ende freundschaftsrelevant wird), sondern folgendermaßen zusammengefasst sei: Alica wird von einer Klassenkameradin mit einem „amerikanischen Jungen“ bekannt gemacht. Die beiden Jugendlichen kommunizieren über Snapchat und Instagram miteinander, treffen sich mehrere Male und gehen schließlich miteinander aus. Die ‚Beziehung‘ wird schließlich durch den Jungen beendet, der ihr die Gründe aber nicht verrät. Alica ist deswegen niedergeschlagen; sie bemerkt, dass dies das einzige Mal in den USA gewesen sei, dass sie geweint habe.
118
Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 152.
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Vor dieser Folie wird nun die Geste ihrer Freundin Conny als besonders bedeutsam herausgestellt. Diese Freundschaftsgeste wird im folgenden Textbeispiel 16, welches sich im Gespräch unmittelbar an die Beziehungsepisode anschließt, erzählt: Textbeispiel 16 Alica (17): So süße Sachen über mich geschrieben 01 A: Ich weiß noch am nächsten Morgen, weiß noch, wie ich so total voll schlimm 02 ausgesehen hab, weil ich so die ganze Nacht geweint hab. […] Das tolle 03 Freundschaftsding war dann, ja, weil ich ja niedergeschlagen war und TRAUrig 04 zu der Zeit und was dann, meine Freundin Conny, Cornelia, also die beste Freundin 05 die ich eigentlich in USA hatte// […] Auf jeden Fall hat sie das halt auch 06 gemerkt und mich dann auch getröstet (..), in der Schule und dann, wo (s) mir 07 halt nicht so gut ging (.), hat sie auf Instagram dann voll die süßen Sachen über 08 mich geschrieben (.) und da // Also sie hat dann eben ein Post und auch ein Foto 09 von mir (.), MIT mir gepostet und auch (.), das hab ich dann später erfahren, 10 dass sie auch anderen gesagt hat, so: „Hey, schreibt da was Süßes auch drunter 11 oder schreibt (.) sie direkt an (ah) weil’s ihr nicht so gut geht gerade. 12 I: Schön. 13 A: Dann hat sie mir ihr Instagram-Passwort gegeben, wo ich dann nach nachschauen 14 sollte (I: mhm) (.), sie nur so: „Hey Mädchen (.), da steht das alles, was er so, 15 in persönlichen Nachrichten liebes über dich (.) (I: MHHH) geschrieben hat an 16 mich!“, so (.), „schau’s dir an“, so (.), den Chat hab ich immer noch weil ich 17 ihr Passwort noch hab (I: mhm) und daher// (.) 18 I: Ja. 19 A: Und dann hat sie, sie, weil sie mich halt kennt, wusst sie halt dass ich (.), 20 weil ich vorher, vor drei Monate [sic] schon von einem enttäuscht wurde, ein Typ, 21 der Einzige, so (.), wo ich voll auf ihn stand, auf den ersten und einzige Typen 22 generell (PFFF) (lachen) (I: mhm) (..), der halt mir eben auch die ganze Zeit 23 so gesagt, dass er mich liebt und dann hab ich so erfahren, dass er ne 24 Freundin von mir sehr pervers angeschrieben hat und eben au ÜBER mich 25 geschrieben hat, ich enttäuscht wurde [an dieser Stelle auffällig stark 26 gerafftes Erzähltempo] (.), wusste sie, das wusste sie natürlich und IHR 27 war klar, dass mir das hilft wenn ich SEH, dass er nicht so ist, sondern mich 28 wirklich au richtig mochte, ja. […] Und ja, keine Ahnung, das war halt auch voll 29 schön zu lesen dann, wie er so geschrieben hat: JAAAA (.) sie is das tollste 30 Mädchen wo ich je kennengelernt hab und das schönste Mädchen (.) und ich (.) 31 hab mich verLIEBT [An dieser Stelle: Auffällige Inszenierung durch die Modulation 32 des Satztempos und bewusst gesetzte Pausen] (..) (I: mhm). Und ja, keine Ahnung 33 was (.) ich möchte jede Sekunde mit ihr verbringen und sie ist so toll und, und 34 so weiter. Und ja, ich war so glücklich gefühlsmäßig in dem Moment, weil meine 35 Freundin und alle dann halt auch so süße Sachen über mich geschrieben haben.
Auffällig sind die Parallelen, die sich zwischen Textbeispiel 14 und Textbeispiel 16 ergeben: In Bezug auf den discours macht dieses Beispiel, welches nicht im Detail analysiert sei, nochmals den idealisierenden und verniedlichenden Erzählstil mit einem überproportional häufigen stimmlichen und parasprachlichen Zeichengebrauch deutlich, mit welchem die Erzählerin persönliche Gefühle und Affekte vermittelt. Diesbezüglich steht in Bezug auf den vermittelten Inhalt erneut ein emotionaler Spannungszustand bzw. eine persönliche Stimmung im Mittelpunkt, welcher als „niedergeschlagen“ und „traurig“ (Z03) bestimmt werden kann. Wie in Textbeispiel 14
Die Deutung der Freundschaft als psychosoziale Stabilisierung
wird auch hier von einer sozialen Handlung erzählt, die dem erzählten Ich von Alica zuteilwird und auf die emotionale Unterstützung bezogen ist: Dass Conny ihr den Nachrichten- bzw. Chatverlauf mit seinen wertschätzenden, lobenden und bekräftigenden Inhalten zeigt, spendet Alica Trost und vermittelt ihr ein positives Selbstbild. Durch die sprachliche Dehnung des Personalpronomens (Z26) wird dabei gerade die besondere Funktion der „besten Freundin“ hervorgehoben: Da Conny sie als enge Freundin und Bezugsperson besonders gut kennt, kann sie sich in Alica hineinversetzen und sich in besonderem Maße empathisch zeigen: In der Folge bewirkt die Freundschaftsgeste damit auch hier eine Transformation von einem Ausgangs- in einen Endzustand, welcher als glücklicher Moment (Z34) evaluiert wird. Wieder wird also der Aspekt des Glücklich-Seins thematisiert, auch wenn hier, anders als in Textbeispiel 14, kein anhaltender Zustand, sondern vielmehr eine spontane Gemütslage gemeint ist. Das Thema Glück kommt schließlich noch ein drittes Mal im Zusammenhang mit Freundschaft zur Sprache, womit es zum zentralen Erzählthema bei Alica avanciert: Gegen Ende des Gesprächs vergleicht Alica die Freundschaftspraktiken von amerikanischen und deutschen Jugendlichen miteinander. Charakteristisch für die Freundschaften in den USA sei die Unverbindlichkeit, die sich zum Beispiel in fehlender Pünktlichkeit bei persönlichen Treffen äußert. Hervorgehoben wird aber auch der grundsätzlich positive Charakter der Freundschaft in den USA: Üblich seien ein hohes Maß an symbolischer Wertschätzung, ein aufmerksames Verhalten sowie empathisch Gesten, die sich zum Beispiel in (reichlich) Geburtstagsgeschenken äußern. Alica bemerkt, dies habe sie in der Zeit ihres Auslandsaufenthalts „voll glücklich“ gemacht. Damit wird der Kern des individuellen Privatraums der Freundschaft in den gegebenen Geschichten übergreifend deutlich, welche mit Blick auf den Handlungsverlauf und die Ereignistilgung ähnlich verlaufen: Bei Problemen, in schwierigen Situationen bzw. im Zustand persönlicher Betroffenheit und emotionaler Niedergeschlagenheit kommt den Freunden eine wichtige Funktion zu, persönliche Anerkennung zu signalisieren und emotionale Unterstützung zu bieten. Gefühle wie Glück, Freude, Spaß und Erleichterung sowie emotionales Ausdrucksverhalten wie Lachen sind die zentralen Themen, die Alica im Text narrativ mit Freundschaft in Verbindung bringt. Der Kern dessen, was in Bezug auf den privaten Raum der Freundschaft artikuliert wird, besteht in der Semantik einer positiven Bekräftigung, welche dem Selbst zufließt. Die Freundschaft ist für sie ein konsequenter Raum des Positiven, in dem, wie gezeigt wurde, das Erfahren selbstwerterhöhender (Glücks-)Momente im Mittelpunkt steht. Zygmunt Bauman hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Streben nach und die Hoffnung auf Glück grundlegende Motivatoren für die Teilnahme an heutigen Gemeinschaftsformen darstellen.119 Dass sich jene Motivatoren von der bloßen Möglich-
119
Vgl. Bauman 2017, S. 101.
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keit in Pflichten von einem „hohen ethischen Grundsatz“120 verwandeln, kann man am Fallbeispiel von Alica sehr schön ablesen. So kommt man nicht umhin, ihre Episoden meta-narrativ mit der Suche nach dem eigenen Lebensglück zu beschreiben, welche von Alica fortwährend verhandelt wird. Die in besonderem Maße sichtbare Funktion der heutigen Jugendsprache, welche in einer „Spiegelung positiv bewerteter Lebensstile“121 besteht, unterstützt jene Suche gewissermaßen in sprachpragmatischer Hinsicht. Jenes Lebensglück scheint unentwegt zwischen negativen Gefühlen des Unwohlseins und positiven Gefühlen sozialer Aufgehobenheit und positiver Bekräftigung zu changieren. 6.2.3
Zusammenführung – die Freundschaft als persönliche Akzeptanz und Anerkennung
Auf den ersten Blick mögen die Semantiken des experimentellen Spiels und der positiven Bekräftigung durchaus heterogen anmuten, doch lassen sie sich mit Blick auf ihre gesellschaftliche Funktion logisch paradigmatisieren. Denn auf eine semantisch differente Art werden in beiden Fällen die entwicklungsseitig relevanten Funktionen einer psychosozialen Stabilisierung in den Mittelpunkt gerückt. Psychosozial verstehe ich dabei so, dass die Semantiken einen konkreten introversiven Ausgleich bieten, also auf das Wohlbefinden und die psychische Konstitution gerichtet sind. Gleichzeitig stabilisieren sie das jugendliche Subjekt in sozialer Hinsicht und bieten zum Beispiel Orientierung in der Lebenswelt, ermöglichen den Umgang mit den sozialen Rollen und regulieren nicht zuletzt emotionale Spannungen und situative Stimmungen. Grundlage dieses Stabilisations- bzw. Regulationsprozesses bildet die Akzeptanz und Anerkennung, die sowohl Henriette wie auch Alica durch ihre Freunde erfahren. Der Umstand, dass Henriette im Erzählen die Lebenswelt und Alica die Gefühlswelt fokussierte, ist nicht nur an der (Analyse) der jeweiligen Freundschaftssemantik, sondern auch an deren theoretischer Kontextualisierung in den entsprechenden Kapiteln dieser Arbeit abzulesen: Während die Semantik des experimentellen Spiels eine differenzierte gesellschaftliche Inbezugsetzung nahelegt, bleibt der Argumentation bei der positiven Bekräftigung gewissermaßen nur die Möglichkeit, auf die Notwendigkeit einer sozioindividuellen Regulation des Gefühlserlebens hinzuweisen. Für Alicas Tendenz, sowohl sprachlich wie inhaltlich ebendieses Gefühlserleben zu fokussieren, mag es unterschiedliche Gründe geben. Ob wie angedeutet der Stand im lebensalterlichen Reifeprozess oder die Relevanz des kürzlich Erlebten und das als ‚aufregend‘ empfundene Auslandsjahr maßgeblich waren, kann hier abschließend
120 121
Bauman 2017, S. 101. Bahlo u. a. 2019, S. 69.
Die Deutung der Freundschaft als Selbstauseinandersetzung und Identitätsmanagement
nicht geklärt werden. Deutlich wird bei Alica in jedem Fall, dass „das Jugendalter als eine besonders emotionale Lebensphase“, in welcher „vor allem auch negative Emotionen verstärkt in den Fokus rücken“, zu sehen ist.122 Es ist in diesem Zusammenhang also bedeutsam, darauf hinzuweisen, dass auch die Entwicklung eines positiven, stabilen Selbstbilds zu den relevanten Entwicklungsaufgaben zählt,123 an welchen die in beiden Fällen auf Anerkennung hinauslaufenden Freundschaftsräume einen wichtigen Anteil haben. In beiden Fällen wird, einmal durch den gegebenen Positivismus, einmal durch den experimentellen Hedonismus, ein freundschaftlicher Schutzraum konzipiert. Wichtig ist es daher, die Semantik der positiven Bekräftigung nicht als irgendwie geartetes, niederes Freundschaftsmotiv abzutun, das ‚Tiefe‘ vermissen ließe und im Sinne eines einseitigen Egozentrismus nur auf die eigene Person bezogen wäre. Dennoch stehen die selbstbezogenen Funktionen im Mittelpunkt des privaten Bedeutungsbereichs: Von den Freunden wird erwartet, dass sie aufmerksam, einfühlsam und empathisch sind, um angemessen auf die eigene Person eingehen können. Interessant ist die Frage, ob die hier skizzierten weiblichen Fallanalysen geschlechtertypische Charakteristika repräsentieren. Die sozialpsychologische Forschung zur Emotionalität und Emotionsregulation spricht von „deutlichen Geschlechtsunterschiede[n]“124 und konstatiert u. a., dass sich weibliche Jugendliche intensiver verletzt fühlen und negative Gefühle intensiver erleben.125 Dies kann jedoch, vor allem in Anbetracht der nicht auf den Aspekt der Emotionsregulation hin bezogenen Forschungsfrage dieser Arbeit, nicht abschließend beantwortet werden. Gesagt werden kann aber, dass die emotionalen Unterstützungsfunktionen, welche die Freundschaft bieten, überwiegend von den weiblichen Erzählerinnen der Stichprobe thematisiert werden.126 6.3
Die Deutung der Freundschaft als Selbstauseinandersetzung und Identitätsmanagement
6.3.1
Freundschaft als lebensgeschichtliche Reflexion – das Fallbeispiel Adile
Adile ist 17 Jahre alt und lebt mit ihren Eltern und ihren drei älteren Geschwistern in einer baden-württembergischen Großstadt. Vor einigen Monaten hat sie eine Berufsausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation bei einem großen Industrieunternehmen begonnen. Zu ihren Hobbys gehören das Malen sowie das Lesen von Büchern.
122 123 124 125 126
Zimmermann u. a. 2018, S. 76. Vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 174 f. Zimmermann u. a. 2018, S. 78. Vgl. Zimmermann u. a. 2018, 77 f. Siehe das Kapitel 7.4.
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Außerdem gibt sie an, in ihrer Freizeit sehr viel Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, die „super wichtig“ für sie sei. 6.3.1.1 Die Lebensgeschichte als gemeinschaftliches Narrativ Mit Blick auf das Textkorpus dieser Stichprobe kann gesagt werden, dass sich die Präsentation der Lebensgeschichte üblicherweise anhand des formalen Bildungsverlaufs strukturiert; was angesichts der objektiven Bedeutung, die dieser Frage im Lebensalter der hier befragten Jugendlichen zukommt, durchaus naheliegend ist. Inhaltlich stellt der Text von Adile hierzu in mehrerlei Weise eine Ausnahme dar: Themen wie die eigene (Aus-)Bildung und der Schulverlauf blieben in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung komplett außen vor; die oben genannte Information zu ihrer aktuellen Tätigkeit als Auszubildende musste etwa im Nachgang des Gesprächs erfragt werden, da sie im Interview selbst nicht thematisiert wurde. Dies überrascht, zumal Adile erst vor einigen Monaten das Gymnasium beendete und mit ihrer Berufsausbildung begann. Auffällig am lebensgeschichtlichen Teil des Gesprächs ist jedoch nicht nur das Fehlen dieses typischerweise als wichtig indizierten Identitätsthemas. Interessant ist, welchen Einstieg die Erzählerin für die Präsentation der Lebensgeschichte wählt: Adile beginnt ihre lebensgeschichtliche Erzählung mit der Information, dass ihre Eltern „ursprünglich aus der Türkei“ kämen. Im Anschluss beginnt sie, dies zu explizieren: Erzählt wird, dass ihr Vater nach dem Militärputsch in der Türkei in den 1980er Jahren nach Deutschland flüchtete, ihre Mutter kennenlernte und schließlich in den 1990er Jahren eine Anstellung in der Fertigungsvorbereitung eines Industrieunternehmens erhielt. Danach kamen ihre älteren Geschwister zur Welt. Erst im Anschluss erzählt sie von sich selbst, wobei sie ihre Geburt mit ihrer familiären Rolle als jüngstes Kind konturiert und damit als ein soziales Thema rahmt. Deutlich wird, dass diese vor der eigenen unmittelbaren Erfahrung liegenden Ereignisse in die subjektive Konstruktion der eigenen narrativen Identität hineinspielen: Indem jene vergangenen Ereignisse narrativ miteinander verbunden werden und über kausale Verknüpfungen Kohärenz hergestellt wird,127 kommt ihnen die Funktion ursächlicher Bedingtheiten zu: Es ergibt sich eine identitätsrelevante Anbindung dieser selbst nicht erlebten Gegebenheiten an die Gegenwart. In Bezug auf die „temporale Dimension der narrativen Identität“128 beginnt die Lebensgeschichte nicht erst mit der Geburt der eigenen Person, sondern nimmt bereits mit der Fluchtgeschichte des Vaters ihren Ausgangspunkt: Die Geschichte des eigenen Lebens ist also nicht von der ‚Familiengeschichte‘ zu trennen; sie ist kein individuelles Thema, sondern ein sozial Vgl. hierzu – sehr lesenswert – die Prinzipien der Kausalität und Kontinuität im Rahmen lebensgeschichtlicher Erzählungen bei Charlotte Linde: vgl. Linde 1993, S. 127–162. 128 Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 56. 127
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und kulturell determiniertes Konstrukt. Die Lebensgeschichte manifestiert sich, wie noch zu zeigen sein wird, empirisch als ein gemeinschaftliches Narrativ. Über ihre Kindheit geht Adile im Anschluss schnell hinweg, wobei sie dieser die Erzählrelevanz abspricht – „über meine Kindheit kann ich nich so viel sagen, es gibt da nichts Spannendes und so“. Ihr fällt lediglich ein, dass sie einmal umgezogen seien, als sie zehn Jahre alt war. Stattdessen kommt sie zügig auf ihre Freundschaftsbeziehungen zu sprechen, bindet das Thema Freundschaft also unmittelbar in die Lebensgeschichte ein. Strukturell hat dies zur Folge, dass der Haupterzählstrang des lebensgeschichtlichen Verlaufs unterbrochen und später auch nicht mehr aufgenommen wird. Auf der extradiegetischen Ebene ergibt sich damit zugleich ein Wechsel hin zu einer dialogischen Kommunikationsform, wobei die Erzählerin ausgehend von den Erzählstimuli und Detaillierungsfragen des Interviewers verschiedene freundschaftsgeschichtliche Erzählungen beginnt und diese mit einem vergleichsweise hohen narrativen Auflösungsgrad präsentiert. Im Stile einer systematischen Übersicht zählt sie jedoch zunächst ihre besten Freundinnen auf, wobei sie kurz den Verlauf und aktuellen Status der Freundschaft skizziert, die Beziehungen lebensgeschichtlich kontextualisiert und sozialräumlich situiert: – Zur Zeit der Kindheit und frühen Jugend war Louisa ihre beste Freundin. Im Verlauf der letzten Jahre hätten sie sich aber „auseinandergelebt“. Gegenwärtig bestehe „in beidseitigem Einvernehmen nicht mehr so [ein] enges Band“. Louisa habe sich zu einem „In-Girl“ entwickelt, womit Adile nichts anfangen könne. Dass die Freundschaft heute nicht mehr besteht, sei für sie in Ordnung. – Ihre zweite, beste Freundin sei Marie gewesen, die sie seit dem Kindergarten kenne. Auch diese Freundschaft besteht heute nicht mehr. Die Umstände bezeichnet sie als „nich so ne schöne Geschichte“. Adile verspricht dem Interviewer, dies später ausführlich zu erzählen, was sie auch tat (siehe Kapitel 6.3.1.3). – Ihre gegenwärtig beste Freundin ist Mira, die sie aus ihrer Klasse kenne und die in der Schule auch neben ihr sitze. Wie Adile habe auch Mira „türkische Eltern“. Adile vermutet, dass dies „vielleicht schon so eine Rolle gespielt hat“. Zusammen mit Mira sei Adile in der Schule in eine fünfköpfige Freundesgruppe eingebunden, welche im Gespräch allerdings weder konkretisiert noch narrativ in sonstiger Weise wichtig wird. Implizit macht Adile deutlich, dass eine enge Freundschaft nur zu Mira bestehe. – Neben Mira bezeichnet Adile auch ihre zwei Jahre ältere Schwester Elif als „Vertraute“ und beste Freundin. Adile versichert sich beim Interviewer, ob diese familiäre Beziehung ebenfalls genannt werden könne, was dieser – im Sinne des in dieser Arbeit zugrunde gelegten Freundschaftsverständnisses – bejaht.
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Subjektive Freundschaftssemantiken
6.3.1.2 Privatheitspraktiken – die systematische Konstruktion von Vertrautheit Nach diesem Überblick wird der Gesprächsverlauf durch den Interviewer auf das freundschaftsgeschichtliche Erzählen gelenkt. Ausführlich erzählt Adile daraufhin von der Freundschaftsbeziehung zu Mira: Als erstes Freundschaftserlebnis wird der gemeinsame Urlaub in Ägypten im aktuellen Jahr präsentiert, welcher aber trotz der gegebenen Ausführlichkeit und eines hohen narrativen Auflösungsgrades noch nicht viel über die subjektive Semantik der Freundschaft offenbart. Anders verhält es sich mit Blick auf das zweite Freundschaftserlebnis. Hier erzählt Adile, wie die Freundinnen gemeinsam Aquarell malen: Textbeispiel 17 Adile (17): Wir sitzen dann oft nur zusammen und malen 01 I: Ich würde dich jetzt gerne mal fragen, was dir an deiner Freundin Mira am besten 02 gefällt, also was sie charakterlich ausmacht so? 03 A: Ja. 04 I: Also warum ist// Was ist an eurer Freundschaft so besonders? 05 A: Also (ah) ich weiß nich ob sie (s) besonders ist oder so aber von wegen was 06 ich sehr mag oder mir gefällt (I: mhm), was sie ja auch gefragt oder was du 07 auch gefragt hast ist (4)// Also es ist// Ich würde sagen wir ham viele Themen, 08 wo wir drüber reden können als Freundinnen, als beste Freundinnen und die wir (.) 09 (I: mhm) gemeinsam teilen. (..) Also zum Beispiel mögen wir beide sehr gerne 10 Aquarell machen [sic] (.), also wir malen. (..) 11 I: (Oh) Interessant, ja. Gemeinsam dann, zuhause oder? 12 A: Genau (äh) (.) und dann ja wir hocken dann, sitzen wir dann zusammen, Nachmittag 13 bis Abend, bis Nacht, nachts und malen (.), oft net immer oder so. 14 Und sind dann auch mal ruhig also wir sitzen dann oft nur zusammen und malen 15 so (I: mhm), reden gar net so viel. Anderer Mal [sic], sonst, quatschen wir 16 natürlich au die ganze Zeit über dies und das, so, ja, das is au Freundschaft für 17 mich und das kann man auch mega gut mit ihr, einfach zusammensitzen, quatschen, 18 malen, so, das eben (.), diese Kommunikationssituation. 19 I: Ja. (3) Und (ähm) also ich will jetz nicht in deine Privatsphäre eindringen 20 aber (ähm) (.) worüber redet ihr also (.) über= 21 A: Ja, ja.= 22 I: euch oder? 23 A: Viel was (.) passiert is. 24 I: (Mhm) Also? (.) Was ihr erlebt habt oder (.) Schule, Familie, Urlaub (.) oder? 25 A: (4) Ja, also (.), ich denk viel is bei uns weil wir halt auch Türkinnen 26 sind, könnt ich mir vorstellen, dass wir viel ähnlich erlebt haben (.), und 27 dass (3), wir das (.), besprechen und thematisieren. 28 I: Ja, in eurer Vergangenheit (.) sag ich mal (..), als TÜRKinnen? 29 A: Ja. Aber nicht nur (he, he) (.), also das sind jetzt nicht nur SUPER erste 30 Gespräche, in denen wir uns unterhalten, sondern wir ham auch einfach nur Spaß 31 zusammen. 32 I: Verstehe, klar. (.) Wie// 33 A: Aber so gemeinsames Nachdenken, das ist schon wichtig für uns, auf jeden Fall.
Bei der Analyse von Textbeispiel 17 fällt zu Beginn zunächst die (etwas ungeschickte) Frageaktivität des Interviewers auf: Zunächst fragt er, was der Erzählerin an ihrer
Die Deutung der Freundschaft als Selbstauseinandersetzung und Identitätsmanagement
Freundin „am besten gefällt“ (Z01–02), um diese Fragestellung jedoch unmittelbar zu reformulieren (Z02). Vermutlich realisiert er bereits im Moment des Sprechens, dass der Begriff des Gefallens kontextspezifisch unpräzise und missverständlich ist. Die Frage danach, was die Freundschaft „ausmacht“ (Z02), ist deutlich besser gewählt, wird jedoch durch eine weitere, etwas unglückliche Selbstkorrektur konterkariert: In einer dritten Reformulierung stellt der Interviewer die Frage, was „so Besonders“ (Z04) an der Beziehung sei. Dieser Formulierung ist die methodologisch unzulässige Präsupposition immanent, dass nur das Besondere nennenswert sei. In ihrer dispräferierten Antwort bezieht sich die Erzählerin nun unmittelbar auf den Begriff des Besonderen und nimmt in Bezug auf ihre Freundschaft zu Mira eine Relativierung vor (Z05–06): Sie macht deutlich, dass sie nicht für sich beanspruchen möchte, dass die Freundschaft ‚besonders‘ sei. Im Anschluss wird von den gemeinsamen Abenden der Freundinnen erzählt (Z12– 18): Dabei wird neben dem selbstverständlichen und ungezwungenen Zusammensein vor allem die diskursive Praxis des gemeinsamen Gesprächs als relevant gesetzt: Sprachlich erfasst die Erzählerin dieses mit dem Begriff des Quatschens (Z15), das sich „bis [in die] Nacht“ (Z13) hinein vollziehen kann, also von herausragender Dauer und damit von besonderer Relevanz ist. Wie der daran anknüpfende Abschnitt ab der Z15 verdeutlicht, geht es aber nicht nur darum, vertrauensvolle Gespräche zu führen: Wichtig ist auch, dass die Freundinnen gemeinsam Zeit miteinander verbringen, einander nahe sind und dem gemeinsamen Hobby nachgehen können. Eine besondere Rolle kommt dem Merkmal der Zwanglosigkeit zu, welches im Text zum Beispiel durch das Adjektiv „einfach“ (Z17) vermittelt wird. Auch die Modalpartikel „nur“ (Z14) erfüllt diese wichtige, argumentative Funktion: Sie macht deutlich, dass diese Abende nicht zwangsläufig etwas ‚Besonderes‘ (wonach der Interviewer ursprünglich fragte), aber subjektiv dennoch sehr bedeutsam sind. Dass die soziale Praxis als solche von hoher Relevanz ist – und nicht notwendigerweise ihre jeweiligen Kommunikationsinhalte –, wird im abschließenden evaluativen Teil (Z16–18) herausgestellt: Die Erzählerin zählt die wichtigsten Tätigkeiten nochmals zusammenfassend auf (Z17– 18), um diese im Anschluss als konstitutiv in eine soziale „Kommunikationssituation“ (Z18) eingebunden zu rahmen. Indem sie einen abstrakten und zugleich fachsprachlich konnotierten Begriff verwendet, auf eine evaluative und alltagsferne Reflexionsebene wechselt, macht sie deutlich, dass sie bereits über die Beziehung nachgedacht und diese in Bezug auf ihren subjektiven Sinn reflektiert hat. Vermutlich ist es dieser Formulierung geschuldet, die den Interviewer dazu veranlasst, nach den entsprechenden Gesprächsinhalten zu fragen (Z19–20). Die Erzählerin antwortet auf diese persönliche Frage prompt, bleibt aber inhaltlich abstrakt. Ihre Antwort – „viel was passiert is“ (Z23) – verweist auf den Vergangenheitsaspekt, auf die Diskursivierung von abgeschlossenen Erlebnissen, welche die beiden Freundinnen primär teilen. Für sich betrachtet konnotiert die Formulierung zunächst negativ in dem Sinne, dass es um problematische Erfahrungen, also um eine Art psychologi-
187
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scher Vergangenheitsbewältigung geht: Die Formulierung evoziert potenzielle Assoziationen in Bezug auf Verlusterfahrungen, Benachteiligungen, psychische Traumata oder Ähnliches. Über den lokalen Kontext der Äußerung hinaus betrachtet und im Zusammenhang mit der lebensgeschichtlichen Erzählung wird aber deutlich, dass solche Aspekte nicht unbedingt gemeint sein dürften. Mittels lokaler Kohärenz ist also zu erklären, weshalb der Interviewer in seiner Rückfrage, in welcher er um eine Detaillierung bittet (Z24), auch nicht von solchen Erlebnissen ausgeht.129 Der Interviewer fragt offen nach und nennt exemplarisch einige Themen, die er aufgrund der bisherigen Gesprächsinhalte vermutet (so zum Beispiel die Themen Urlaub und Familie; von diesen hatte Adile erzählt). Nach einer kurzen Phase des Nachdenkens130 arbeitet die Erzählerin die gemeinsame Nationalität als verbindendes Freundschaftsmerkmal heraus, wobei sie dieses gleich spezifiziert: Wie der von ihr verwendete Begriff des Erlebens (Z26) deutlich macht, geht es nicht um die Nationalität an sich, sondern um das intersubjektive Erfahren der gemeinsamen kulturellen Identität (als Türkinnen) in Deutschland. Dieses ist nicht nur ein verbindendes Freundschaftsmerkmal, sondern auch ein inhaltlich wichtiges Gesprächsthema für die beiden Freundinnen. Im letzten Abschnitt von Textbeispiel 17, der mit Z28 beginnt, bittet der Interviewer nun nochmals um Detaillierung – wobei er dieses Mal durchaus geschickt vorgeht: Er fragt nicht direkt nach, über welche Inhalte gesprochen wird, sondern wiederholt und spiegelt der Erzählerin das von ihr Gesagte. Der Fragehorizont dient nicht nur der Rückversicherung, er lässt ihr auch Raum, zu entscheiden, ob sie das Gesagte präzisieren, detaillieren oder ergänzen möchte. Sie nutzt diesen Raum für eine kontextuelle Rahmung und semantische Einordnung: Sinngemäß macht sie deutlich, dass es sich um keine ‚therapeutischen Sitzungen‘ handelt, sondern um ein lockeres Zusammensein, bei dem die Freundinnen gemeinsam Spaß haben. Im Fortgang erzählt Adile, wie sich die Freundinnen regelmäßig treffen, dabei gemeinsam Netflix schauen, sich gegenseitig schminken, um davon Bilder zu machen und diese bei Instagram zu teilen. Sie würden „viel lachen“ und die Zeit miteinander genießen. Bedeutsam sei, dass Adile sich wohl fühlt, sich „zurücklehnen, zurückfallen“ lassen und ihrer Freundin „alles erzählen“ kann. Die kommunikative Praxis des vertrauensvollen Gesprächs stellt in diesem Sinne über das gesamte Gespräch hinweg das wichtigste Freundschaftsnarrativ dar, das von Adile thematisiert wird. Das Verständnis von Privatheit und Vertrautheit der Bezie-
129 Ergänzend mag es ebenfalls sein, dass körpersprachliche oder andere nonverbale parasprachliche Zeichen hier bedeutungstragend sind. Dies kann auf der Grundlage des Textes aber nicht abschließend geklärt, sondern nur vermutet werden. 130 Sprachpragmatisch sind hier durchaus die konversationsanalytischen Merkmale dispräferierter Antworten (vgl. Levinson 1990; zit. n. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 266 f.) zu erkennen: Die in Z25–27 zu erkennenden auffälligen Pausen, Diskurspartikeln und Verzögerungslaute indizieren, dass die Erzählerin die Frage nicht unmittelbar beantworten kann.
Die Deutung der Freundschaft als Selbstauseinandersetzung und Identitätsmanagement
hung,131 welches ein hohes Maß an Intimität und Selbstoffenbarung ermöglicht, bildet den Mittelpunkt ihres Freundschaftsentwurfs: Die Freundschaft ist ein informationeller Privatraum, in dem Informationen über sich offenbart und persönliche Erfahrungen mit der Freundin geteilt werden können.132 Dieses hohe Maß freundschaftlicher Vertrautheit, welches durch die Öffnung des privaten Bereichs entsteht, kulminiert im Text in einer besonderen Freundschaftspraxis, welche die beiden Freundinnen ausüben: Der Interviewer fragt an einer späteren Stelle im Gespräch, ob es „noch ein Erlebnis, noch eine Geschichte von euch“ gibt, die die Erzählerin erzählen möchte. Hierauf ergibt sich die folgende, in Textbeispiel 18 dargestellte Episode. Adile erzählt, wie sich die Freundinnen regelmäßig treffen und sich aus ihren Tagebüchern vorlesen: Textbeispiel 18 Adile (17): So sein wie ich bin 01 A: Was au noch so ne Routine is wir [sic](.), wir lesen uns ausm Tagebuch vor (..) 02 (I: ah). Ich weiß jetz nich ob das des is was Sie meinten? 03 I: Ist ja interessant. Ja, also// […] 04 A: Aber genau wir sitzen dann au mal da und lesen uns ausm Tagebuch vor (.), 05 nacheinander (.), teilen das, genau. (..) 06 I: Ok. (.) Ist nicht das Tagebuch eigentlich etwas Privates also etwas, das nur 07 nur einen betrifft? 08 A: Ich würd’s jetz nich meinen Eltern vorlesen oder irgendjemand sonst wo nich// Mit 09 dem man nicht sehr eng befreundet is. (..) 10 I: Ja. 11 A: Auch nich dem Freund oder so also mein Freund, ihm les ich des auch nich vor, 12 würd ich nich machen (I: mhm) aber unter besten Freundinnen (.), es is au so ein 13 Vertrauensbeweis sag ich mal (.), gegenseitig und man erfährt da, weil’s ja das 14 Tagebuch is eben wie es der Person geht und das is das NE was ich vorhin 15 meinte mit seiner// so sein wie ich bin. (.)
Interessant ist zunächst, wie die Erzählerin das gemeinsame Vorlesen als „Routine“ (Z01) bezeichnet, sie gewissermaßen nebenbei erwähnt und damit als selbstverständliche Freundschaftshandlung rahmt. Der wechselseitige Austausch von informationeller Privatheit – im Sinne von (potenziell) intim konnotierten Inhalten – wird eben nicht als etwas Besonderes, sondern als etwas ganz Gewöhnliches entworfen. Für Adile und Mira ist er nicht nur habitualisiert, vielmehr stellt er unter den „besten Freundinnen“ (Z12) eben auch eine normalisierte soziale Praxis dar. Dies wird auch im zweiten Teil des Textbeispiels deutlich: Aus der Rückfrage des Interviewers geht zunächst Überraschung und Skepsis hervor, welche er der Erzählerin u. a. mittels wechselnder Sprechgeschwindigkeiten vermittelt: Er fragt, ob die Inhalte des Tagebuchs nicht für eine, d. h. für die eigene Person bestimmt seien (Z06–07). Dies scheint zunächst nachvollziehbar; das „Führen eines privaten Tagebuchs ist als
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Vgl. Bude 2017, S. 6 f. bzw. Honneth 2011, S. 237 f. Vgl. Rössler 2013, S. 3
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persönliche Form biographischer Selbstreflexion faßbar […]. Sie gehört der Privatsphäre an.“133 Interessant an Adiles Replik ist nun, dass sie zwar eine soziale Grenze zieht und eine Einordnung vornimmt (Z08–12), das Gesagte aber nicht relativiert, sondern insistiert: Es handelt sich um einen besonderen „Vertrauensbeweis“ (Z13), der sich eben genau durch jene inhaltliche Privatkonnotation als solcher konstituiert: Im Tagebuch wird das wahre Fühlen (Z14) vermittelt, die Person tritt so auf, wie sie ‚wirklich‘ ist (Z15). Im Tagebuch ist, so der Gedanke, die authentische Selbstthematisierung in der Form objektiver Selbst- und Fremderkenntnis zeichenhaft kodiert.134 Eine wichtige Bedeutung kommt also nicht nur dem vermittelten Inhalt zu, sondern auch der formalen Geste des Austausches von Privatheit, der soziokulturellen Praxis als solche. Dabei stellt das Vorlesen der erlebten Gefühle, wie sie im Tagebuch niedergeschrieben sind, gegenüber der frei gesprochenen, unmittelbar-spontanen Gefühlskommunikation eine nicht nur intensivierte sondern zugleich intimisierte freundschaftliche Privatheitspraxis dar. Aus Sicht der Privatheitsforschung müsste natürlich die Frage gestellt werden, inwieweit es sich um private Inhalte handeln kann, wenn das Tagebuch bereits mit jenem Wissen der Veröffentlichung gegenüber einer anderen Person verfasst wird – es also kommunikativ nach außen gerichtet ist und für eine spezifische (Teil-)Öffentlichkeit produziert wird.135 Gleichwohl zeigt der Umstand, dass Adile eine bewusste Grenze zieht, dieselben Informationen eben nicht mit einer zweiten, ebenfalls engen Bezugsperson – dem männlichen Freund bzw. Partner – teilt, dass jene Inhalte für sie privat konnotiert und von intimisierter Form sind. Freundschaft und Partnerschaft stellen voneinander abgegrenzte, kontextuell integre Privaträume dar, in denen jeweils spezifische Kommunikate als informationell exklusiv gesetzt sind. Wie zu sehen ist, erweist sich die Freundschaft in Bezug auf den Austausch von Selbstthematisierung und Gefühlen aber als exklusiver Raum, der hinsichtlich der gegebenen Vertrautheit gegenüber dem Raum der Partnerschaft sublim ist.
Lejeune 2014, S. VIII. Vgl. Fröhlich 2018, S. 267. Bezüglich der Frage nach der Authentizität und der „scheinbaren Natürlichkeit der mediengestützten Selbstthematisierung“, mit welcher man zu „gelingender Arbeit an sich selbst kommen könne“, spricht der Autor von einem „blinde[n] Fleck der Mediennutzung“ (S. 267). Unabhängig von dieser Frage sei aber angemerkt, dass das Medium auf verschiedene Weise (zum Beispiel durch den Modus der Rede oder die Unmittelbarkeit) subjektive Wahrheit einfordert (vgl. vertiefend hierzu Lejeune 2014, S. XVI–XIX). Dies ist der an dieser Stelle relevante Punkt. 135 Vgl. zu diesem wissenschaftlichen Diskurs vertiefend Ruchatz 2013, S. 106–110. Der zeitgeschichtliche Überblick, den der Autor zur Mediengeschichte des Tagebuchs liefert, ist sehr interessant. U. a. zeigt er, dass sich die Vorstellung des Tagebuchs als privates Medium erst im 18. Jahrhundert mit der Einführung des modernen Konzepts der Individualität herausbildete. 133 134
Die Deutung der Freundschaft als Selbstauseinandersetzung und Identitätsmanagement
6.3.1.3 Freundinnenschaft und die Bedeutung des intimen Gesprächs Bezüglich der Frage, wie oder wodurch sich diese Vertrautheit konstituiert, ist ein weiterer Aspekt erwähnenswert, der beim Lesen von Textbeispiel 17 und Textbeispiel 18 vielleicht zunächst nicht unmittelbar ins Auge sticht. Gemeint ist, welche Gemeinsamkeit sprachlich-intuitiv als relevant impliziert wird: Auffällig ist, dass Adile explizit von Freundinnen spricht, also das Merkmal des (gemeinsamen) weiblichen Geschlechts als relevant markiert. Dafür, dass dem Suffix im Text von Adile eine semantisch-inhaltliche Bedeutung zukommt, dass explizit beste Freundinnen und eben nicht beste Freunde oder Freundschaftsbeziehungen im Allgemeinen gemeint sind, gibt es im Text mehrere Indizien: – Mit Blick auf die histoire ist anzuführen, dass sie von keinen Freundschaftsbeziehungen zu männlichen Jugendlichen erzählt. Auch wird ihr männlicher Freund nicht mit Freundschaft in Verbindung gebracht oder im Text als äquivalente Vertrauensbeziehung konstruiert. Dies ist im korpusübergreifenden Kontext ungewöhnlich, denn typischerweise werden feste Freunde und Freundinnen durchaus der Freundschaft zugerechnet. Auch die soziologische Freundschaftsforschung betont, dass Lebenspartner, feste Freunde bzw. partnerschaftlichen Beziehungen meist ebenfalls als Freundschaft empfunden und empirisch als solche benannt werden.136 – Mit Blick auf den discours ist interessant, in welchem lokalen Kontext die Begriffe Freund bzw. Freundin im Text auftauchen: Immer dann, wenn enge und vertrauensvolle Beziehungen gemeint sind, spricht sie von „Freundinnen“, identifiziert also sprachlich einen spezifisch weiblichen Adressatenkreis. Der Begriff Freund bzw. Freunde kommt demgegenüber dann auf, wenn ein disperser, weniger enger Personenkreis gemeint ist: Zu diesem gehören zum Beispiel die Freunde aus der Schule und jene Personen, die sie im ÄgyptenUrlaub kennenlernte. Dieser Aspekt der Begriffsverwendung ist innerhalb der Stichprobe nicht konsistent: Analysiert man etwa den Text von Alica oder Henriette, so lässt sich nicht zeigen, dass die Textkonstrukte ‚Freundinnenschaft‘ und ‚Freundschaft‘ über asymmetrische Bedeutungsmengen verfügen. ‚Freunden‘ und ‚Freundinnen‘ kommt im Text also eine unterschiedliche Semantik zu: Der vertrauensvollen Konnotation der Freundinnenschaft steht eine unverbindlichere Konnotation der Freundschaft gegenüber. Der informationelle Austausch von Intimität ist an das gleichgeschlechtliche Merkmal der Beziehung gekoppelt. Konstitutiv für Freundinnenschaften sind zudem persönliche, intime Gespräche, in welchen sich relevante Selbstthematisierung vollziehen kann. In der Freundschaftsliteratur wird die
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Vgl. Argyle und Henderson 1986.
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Bedeutung dieses Austauschs insbesondere mit Blick auf die Beziehungen von weiblichen Jugendlichen betont.137 Interessant ist vor diesem Hintergrund die Geschichte von Adiles ehemaliger besten Freundin Marie, welche eingangs bereits angedeutet wurde. Adile präsentiert diese Geschichte im Gespräch sehr ausführlich; hier sei sie in aller Kürze wiedergegeben: Adile und Marie sind seit dem Kindergarten beste Freundinnen, bis Marie ihr eines Tages über Facebook eine Mitteilung sendet. In dieser schreibt sie, dass sie nicht mehr mit Adile befreundet sein möchte. Der Grund sei, dass Adile „gemein zu ihr wäre und sie runtermache“. Adile kann die Beendigung der Freundschaft nicht nachvollziehen; zwar habe es öfters „Zicken-Krieg“ gegeben, was aber „nichts Großartiges“ gewesen sei. Marie blockiert Adile auf sozialen Medien und ist auch nicht bereit, mit ihr zu reden. In der Geschichte wird nicht das Ende der Freundschaft, sondern der Umstand, dass eben kein klärendes Gespräch erfolgt und Marie sich einer klärenden Aussprache entzieht, als der verletzende Moment der Geschichte erzählt. Dies zeigt das folgende Textbeispiel 19, welches sich zum Ende des Gesprächs ergibt. Nachdem es zwischenzeitlich v. a. um die Mediennutzung ging, stellt der Interviewer in der exmanenten Phase des Interviews eine schließende Einstellungs- und Bewertungsfrage (Z01–03). Textbeispiel 19 Adile (17): Dass man über alles reden kann 01 I: 02 03 04 05 A: 06 07 08 09 10
Ok, dann vielleicht (.) noch einmal eine daran anknüpfende Frage zur Freundschaft. Was ist denn dann für dich (ähm), sozusagen besonders wichtig an Freundschaft also worauf kommt es besonders an? Das wollte ich noch einmal fragen. Also ich bin immer der Meinung, so, dass man über alles reden kann und jetz zum Beispiel so auch das Beispiel vorhin, mit dem Beispiel mit Marie. Dass die Freundschaft auseinandergegangen is ok, is halt in dem Alter so. Aber wenn man redet kann man alles klären und hätte man auch das klären können, vor allem weil es ja nich sowas Schlimmes is (I: mhm), also es is ja nichts wo man ne Freundschaft WEGschmeißen würde. (4) Also ich versteh’s einfach nicht.
Die Erzählerin antwortet zügig und unmittelbar auf die Frage des Interviewers. Sie formuliert ein klares Freundschaftskriterium, nämlich, „dass man über alles reden kann“ (Z05). Um dieses argumentativ zu bekräftigen, wird die Beziehung zu Marie von Adile erneut aufgegriffen und in Bezug auf eine abschließende Moral hin evaluiert: Interessant ist, wie die Auflösung der Freundschaft in Bezug auf die narrative Identität des heutigen Ichs evaluiert wird: Während das formelle Ende mit Blick auf die Lebensphase der Jugend sachlich und objektiv reflektiert wird – „is halt in dem Alter so“ (Z07) –, wirkt das kommunikative Ende subjektiv bis in die Gegenwart hinein – „ich versteh’s einfach nicht“ (Z10). Sehr schön wird dies durch die unterschiedlichen Tempusformen angezeigt: Während ersterer Teil im Perfekt steht und damit abgeschlossen ist, macht
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Vgl. Kolip 1993, S. 84 f.
Die Deutung der Freundschaft als Selbstauseinandersetzung und Identitätsmanagement
das Präsens im zweiten Teil deutlich, dass die Erfahrung für das heutige Ich der Erzählerin noch nicht beendet und verarbeitet ist. Die im Konsequenztopos formulierte Argumentation – eine offene interpersonelle Kommunikation ist die konstitutive Voraussetzung für die Selbstthematisierung und das Problemlösen (Z07–08) – verbindet sie mit dem semantischen Kern einer Freundinnenschaft, in welcher es um eben um jenen Aspekt der Kommunikation, der gemeinsamen Selbstthematisierung und Identitätsarbeit geht. 6.3.1.4 Mediale Artefakte und geteilte Geschichten Für die Dechiffrierung, wie sich die gemeinsame Selbstthematisierung und -auseinandersetzung im Text von Adile konkretisiert, kann die soziale Praxis des Vorlesens aus dem Tagebuch betrachtet und korrespondierend mit Adiles textübergreifendem Freundschaftsentwurf analysiert werden. Allgemein besteht die Funktion des Tagebuchs darin, verschiedene Aspekte des Selbst, der eigenen Gefühle, des eigenen Körpers und des eigenen Verhaltens zu benennen und zu thematisieren: Gemachte Erfahrungen werden medial dokumentiert, wobei im introspektiven Schreiben und Verarbeiten Identitätsarbeit vollzogen wird: Es geht „um die Erlebnisse und die Bewußtseinsoperationen eines Subjekts“.138 Im Sinne medienbasierter Selbsttechnologien greifen die Tagebücher der Jugendlichen in die „Herstellung des Selbstverständnisses und damit in den Prozess der Subjektivierung ein, evozieren Identität, Individualität“.139 Aufgrund der temporalen Strukturiertheit des Schreibens wird in diesem Prozess eine persönliche Geschichte des eigenen Lebens geschaffen.140 In der „publikumsorientierten Privatheit“141 des freundschaftlichen Raums wird dieses Artefakt, diese Geschichte, nun kommunikativ geteilt und zugleich gemeinsam reflektiert. Dass gerade dieser Aspekt des Reflektierens für Adile subjektiv bedeutsam ist, geht etwa aus Textbeispiel 17 hervor. Dort evaluiert sie: „gemeinsames Nachdenken, das ist schon wichtig für uns“ (Z33). Analog zum Freundschaftsverständnis der Personal Relationships bildet hier also „reziproke Selbstenthüllung […] den zentralen Mechanismus der Freundschaft.“142 Im
Lejeune 2014, S. XVI. Fröhlich 2018, S. 267. Gerrit Fröhlich spricht in diesem Zusammenhang von „Biografiegeneratoren“ (Fröhlich 2018, S. 266). Ich halte den Begriff der Geschichte für passender, da es weniger um eine objektive Abfolge von (soziologischen) Lebensereignissen, sondern vielmehr um subjektive Ereignisfolgen, d. h. um Gefühle, Selbstverständnisse, Werte geht. Zum Begriff der Biografie in der Soziologie einführend vgl. Rosenthal 2014, S. 68–70. 141 Ruchatz 2013, S. 108. 142 Schinkel 2002, S. 65. 138 139 140
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Zuge wechselseitiger Selbstoffenbarungspraktiken143 wird ein eigener, privater Realitätsentwurf geschaffen. Die sinnhafte Bedeutung des Vorlesens geht über den Austausch von Geheimnissen hinaus, es bedeutet mehr als der Umstand, dass die beste Freundin mehr über Adile weiß als der partnerschaftliche Freund oder die Eltern. Vielmehr wird jene persönliche Lebensgeschichte zu einer gemeinsamen Lebensgeschichte, die im Zuge wechselseitiger Selbstthematisierung entsteht. Geteilt werden nicht einfach nur Inhalte, sondern eine spezifische, lebensgeschichtliche Reflexion, verstanden als ein selbtreferenzielles, immaterielles, privates Artefakt, das nur die Freundinnen kennen, das für sie exklusiv ist, da es durch sie wechselseitig konstruiert wurde. Mit Erika Alleweldt u. a. ließe sich bei diesem privaten Artefakt von einem symbolischen Lebenspfand moderner Freundschaften sprechen.144 Nach den Autorinnen und den Autoren werden Freundschaften durch symbolische Tausch- und Teilungshandlungen besiegelt, welche nicht nur mit der eigenen Verwundbarkeit, sondern auch mit der sozialen Existenz des Subjekts verbunden sind.145 Den elementaren (Lebens-) Risiken und körperlichen Verwundbarkeiten der Freundschaften in traditionellen Gesellschaften stehen in modernen, individualisierten Gesellschaften soziopsychische Verwundbarkeiten entgegen: „Die Vulnerabilitäten wandern vom Physischen ins Psychische.“146 Die Autorinnen und die Autoren argumentieren, dass das Tauschen symbolischer Lebenspfänder nicht an die Spezifika traditioneller Gesellschaften gebunden sei.147 In einem freundschaftlichen Teilungsritual werden heute statt der Verpflichtung zum Schutz des körperlichen Lebens vielmehr moderne, symbolische Lebenspfänder ausgetauscht. Diese konkretisieren sich nach den Autorinnen und Autoren in intimen Geheimnissen, die Anschluss an die Verwundbarkeiten heutiger sozialer Existenzen bieten:148 Verwundbar ist das moderne Subjekt in eben jenen Lebens- und Sinnfragen, die ihm in der mediatisierten und individualisierten Gesellschaft gespiegelt werden: „Informationen zu offenbaren, die das innerste Seelenleben berühren, fordert geradezu die metonymische Formulierung, man teile sich selbst mit“.149 Das private Artefakt Für eine Aufstellung der empirischen Befunde zum Reziprozitätseffekt der wechselseitigen SelbstOffenbarung in der Freundschaft vgl. Wagner und Alisch 2006, S. 40 f. 144 Vgl. Alleweldt u. a. 2016, S. 198–202. 145 Vgl. Alleweldt u. a. 2016, S. 198 f. Die Autorinnen und Autoren führen als Beispiel für ein solches Teilungsritual folgendes Beispiel an: „Ein altes, bis in die Antike verbürgtes Ritual, durch das Freundschaft geschlossen wurde, ist das Vermischen (und oft auch Trinken) von Blut. Blut ist ein klassisches symbolisches Lebenspfand. Bis die [sic] Antike hinein gilt es als Sitz der Seele. Es steht folglich symbolisch für das eigene Leben. […] Die Verpflichtung, die durch das Tauschen und Teilen des Blutes entsteht, bestand darin, das eigene Leben im Zweifel für die Freunde, für ihr Leben zu opfern, um ihr Leben zu schützen. […] Durch den Tausch des Blutes entsteht ein Bund, der nur auf Kosten des sozialen Todes gebrochen werden kann: Die Kriegsgenossen (meistens Männer) werden so wechselseitig zu Hütern ihrer Leben und ihrer Ehre“ (S. 199). 146 Alleweldt u. a. 2016, S. 201. 147 Vgl. Alleweldt u. a. 2016, S. 200 f. 148 Vgl. Alleweldt u. a. 2016, S. 201. 149 Alleweldt u. a. 2016, S. 201. 143
Die Deutung der Freundschaft als Selbstauseinandersetzung und Identitätsmanagement
gemeinsamer lebensgeschichtlicher Reflexion ist daher umso stärker ein bedeutsames Lebenspfand, umso mehr für Subjekte die „Bindung des Erlebten an die eigene Person sowie die Herstellung von Identität, Konsistenz und Einheitlichkeit“150 bedeutsam ist. Das ‚Lebenspfand‘ im Sinne gemeinsamer lebensgeschichtlicher Reflexion ist nicht nur in Form der freundschaftlichen Praxis des Tagebuch-Schreibens mit Mira gegeben: In diesem Sinne kann auch die Beziehung, die Adile zu ihrer zwei Jahre älteren Schwester Elif entwirft, verstanden werden. Die Beziehung wird von Adile gegen Ende des Gesprächs aufgegriffen und beschrieben.151 Dieser beschreibenden Textsorte ist es geschuldet, dass Adile bei der (Freundschafts-)Beziehung zu ihrer Schwester eher abstrakt bleibt und die genannten Merkmale weder narrativ vermittelt noch diese im Text näher konkretisiert. Elif wird als „selbstbewusste und ehrliche Person“, die „etwas für sich behalten“ kann, beschrieben. Ein Merkmal der Beziehung besteht darin, dass die Schwestern „sehr gleich sind“ und Elif sie „versteht“. Auch wenn explizit nicht gesagt wurde, worauf sich etwa das Merkmal der Gleichheit bezieht, so kann deren Semantik in Anbetracht der Kohärenz und der bisher im Text vermittelten Informationen entschlüsselt werden: Es ist davon auszugehen, dass auch hier dasselbe Geschlecht sowie die geteilte kulturelle Identität sehr bedeutsam sind. Dies macht zum Beispiel der gewählte Begriff des Verstehens deutlich, der auch bei der Freundschaftsbeziehung zu Mira thematisiert wird. Wie in Textbeispiel 17 gezeigt wurde, bezieht sich Verstehen darauf, dass die (türkischen) Freudinnen „viel ähnlich erlebt haben“ (Z26), was sie gemeinsam „besprechen und thematisieren“ (Z27). Die subjektiv relevanten Bedingungen für die Freundschaft lassen sich mit Blick auf die Episode aus Textbeispiel 17 übertragen und verallgemeinern: Besonders eng und vertrauensvoll sind Freundschaftsbeziehungen im Text dann, wenn die Personen nicht nur dasselbe Geschlecht, sondern auch dieselbe kulturelle Identität teilen, da hieraus ein gemeinsamer lebensgeschichtlicher Horizont an Erfahrungen hervorgeht. Die intraethische Ähnlichkeit152 schafft
Fröhlich 2018, S. 266. Nachdem das Gespräch zu Beginn und im Mittelteil durchaus narrativ und monologisch angelegt war, dominieren zum Ende hin beschreibende Textpassagen und dialogische Formen der Interaktion. Ich vermute, dass dies daran lag, dass das „tangentielle Erzählpotential“ (Schütze 1983, S. 285) zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschöpft war und die Erzählerin das Gespräch vielleicht auch intuitiv zu einem Ende bringen wollte. 152 Welche Aspekte hier relevant sind, kann natürlich nur vermutet werden. Die Freundschaftsforschung weist allgemein auf die besondere Attraktivität innerhalb intraethnischer Freundschaften hin (zum Beispiel Reinders 2010, S. 127 f.; Jürgen Wagner und Lutz-Michael Alisch führen eine Reihe von Studien aus dem angelsächsischen Raum an: vgl. Wagner und Alisch 2006, S. 28 f.). Dies ist angesichts von Aspekten wie einer gemeinsamen Sprache, einem ähnlichen Sozialisationsrahmen bzw. erlernten Sozialnormen naheliegend. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass solche Fragen der ‚Ähnlichkeit‘ innerhalb von Freundschaften stets problematisch sind, vor allem methodisch, da zugleich alle Merkmale selektionsrelevant sind (zur Kritik an der Ähnlichkeitsforschung in der Freundschaft vgl. Wagner und Alisch 2006, S. 30–33). Wie bisher verzichte ich daher auch im Folgenden darauf, Vermutungen in Bezug auf die interpersonale Attraktion in der Freundschaft zu formulieren, da mir dies spekulativ erscheint. 150 151
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Vertrautheit und erlaubt es den Freundinnen, ein hohes Maß persönlicher Selbstoffenbarung zu praktizieren. Von Adile wird Freundschaft in diesem Lichte als dyadische, in besonderem Maße vertrauensvolle und intim konnotierte (enge) Beziehung verstanden. Konträr zu Henriette, Moritz oder Selim werden weder lebensstilbezogene noch territorialräumliche Aspekte relevant gesetzt, auch Freundesgruppen oder Cliquen bleiben im Text außen vor. Vielmehr bildet das persönliche, intime Gespräch, welches sich auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen und Zugehörigkeitsgefühle vollzieht, die Grundlage für den subjektiven Sinn, welcher der Freundschaft inhärent ist. Der individuelle Privatraum ist als diskursive Arena lebensgeschichtlicher Reflexion zu sehen: In diesen wird viel „gelacht“ und „geredet“, aber eben auch explizit „nachgedacht“. Die Semantik der Freundschaft lässt sich anhand der Synekdoche des Vorlesens aus dem Tagebuch gut verdeutlichen: Im Sinne von Philippe Lejeune kommt dem Freund die Rolle eines „Untersuchungsrichter[s]“153 zu: Dem Freund wird die Lebensgeschichte präsentiert und mit den gemachten Erfahrungen offenbart; die Person öffnet sich, liefert sich bewusst zum Zwecke produktiver Selbstthematisierung aus. Der private Freundschaftsraum erfüllt so eine identitäre Funktion: Relevante Fragen der eigenen Person, danach, wer man als Jugendliche(r) ist oder sein will, werden wechselseitig verhandelt. Wie bei Alica steht die emotionale Unterstützungsfunktion154 im Zentrum, welche jedoch weniger in Bezug auf die affektive Regulation des Erfahrenen bezogen ist. Statt der akuten Situation des fühlenden Selbst wird im Rahmen der Freundschaft die retrospektive Situation des reflektierenden Selbst adressiert. 6.3.2
Freundschaft als situative Befähigung – das Fallbeispiel Tomaž
Tomaž ist 20 Jahre alt und lebt in einer baden-württembergischen Großstadt. Zusammen mit seinen Eltern und seinen drei jüngeren Geschwistern wohnt er dort im elterlichen Haushalt. Gegenwärtig besucht er das kaufmännische Berufskolleg, nach dem er eine kaufmännische Ausbildung beginnen möchte. Er freut sich darauf, von zuhause auszuziehen, zumal es mit seinem Vater regelmäßig „Stress“ gebe. In der Vergangenheit sei er häufiger mit dem Gesetz in Konflikt geraten. In seiner Freizeit ist er vor allem sportlich aktiv und spielt zum Beispiel Fußball als Vereinssport. Am Wochenende steht neben dem Sport vor allem das Feiern mit den Freunden im Zentrum – „Wochenendprogramm isch Partyprogramm bei mir“. Sein bester Freund ist der gleichaltrige Rickard, den er aus seiner Realschulzeit kennt.
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Lejeune 2014, S. XX. Vgl. Nötzoldt-Linden 1994, S. 115.
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6.3.2.1 Adoleszentes Problemverhalten Seine Lebensgeschichte präsentiert Tomaž sehr komprimiert; sie umfasst die wesentlichen persönlichen und lebensbiografischen Fakten zur Person (siehe oben) und gleicht eher einer persönlichen Vorstellung als denn einer Geschichte mit zeitlicher Verlaufsstruktur. Mit der beschreibenden Textsorte und dem Fokus auf die gegenwärtige, heutige Zeit ist die lebensgeschichtliche Phase des Gesprächs nicht ereignishaft im narratologisch-semiotischen Sinne. Narrative Mikrostrukturen zeigen sich demgegenüber in der immanenten und in der exmanenten Nachfragephase, welche vom Interviewer mit dem Fokus auf die Erzählgenerierung moduliert werden. Tomaž erzählt von seinen freizeitlichen Aktivitäten mit den Freunden im Fußballverein sowie von seinem besten Freund Rickard. Weiterhin beginnt das erzählende Ich, kleine exemplarische Geschichten zu präsentieren, denen meist die argumentative Funktion zukommt, Einstellungen zu begründen und gemachte Meinungsäußerungen zu unterstützen. Wenngleich der Text damit insgesamt eher deskriptiv angelegt ist, ergeben sich vereinzelte, aufschlussreiche Freundschaftsepisoden, die mit ihren narrativen Mikrostrukturen nicht nur Tomaž’ subjektives Verständnis von Freundschaft ausdifferenzieren, sondern sich auch in den lebensgeschichtlichen Verlauf einbetten lassen: Qualitativ signifikant ist, wie die Freundschaft auf der histoire mit unterschiedlichen erzählten Ichs bzw. zeitlich verortbaren Selbsten korreliert wird. Die Lebensgeschichte erhält dadurch im Nachhinein eine ereignishafte Makrostruktur, die spannenderweise unmittelbar mit Freundschaft in Verbindung gebracht werden kann. Hinsichtlich der freien, lebensgeschichtlichen Erzählung ist das Gespräch mit Tomaž daher ein gutes Beispiel dafür, dass eine umfangreiche, einleitende Lebensgeschichte zwar wünschenswert, aber zugleich nicht unbedingt notwendig ist, um in einem Erzählinterview eine Lebensgeschichte mit ereignishafter Struktur zu generieren. Im Gespräch berichtet Tomaž zunächst aber von seinen beruflichen Plänen sowie von seinem schulischen Ausbildungsgang: Um bei der Daimler AG eine Ausbildung als Kaufmann für Digitalisierungsmanagement oder als Automobilkaufmann beginnen zu können, besucht er seit eineinhalb Jahren das kaufmännische Berufskolleg. Vorher hatte er die Mittlere Reife abgeschlossen, doch sei für seinen Ausbildungswunsch neben guten Noten ein höherer Schulabschluss notwendig. Er versuche daher, sich „weiter zu bilden und weiter zur Schule zu gehen“, um sich für den „begehrten Ausbildungsplatz [zu] qualifizieren“. Insgesamt positioniert er sein heutiges Ich als eine zielstrebige und fleißige Person. Diese Charakterisierung geht nicht nur aus bewusst vorgenommenen Positionierungshandlungen hervor, sondern wird auch durch den erzählten Inhalt indiziert: Nebenbei berichtet Tomaž etwa davon, dass er samstags einen freiwilligen Programmierkurs besuche, um sich weiterzubilden. An einer anderen Stelle erwähnt er, dass sich seine Noten stark verbessert hätten, worauf er stolz sei. Dieses Ich steht im Kontrast zu seinem früheren Ich, welches er für die Phase „als Jugendlicher, oder jüngerer Jugendlicher“ entwirft. Bereits unmittelbar zu Beginn des
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Gesprächs kommt er dabei auf sein jugendliches Problemverhalten zu sprechen. Er spricht davon, dass er „sehr viel Stress gehabt“ habe, weswegen sich u. a. auch sein Schulabschluss verzögert hatte. Tomaž bleibt zunächst recht vage und abstrakt; was mit „Stress“ (Z04) genau gemeint ist, verbleibt im Text als informatorische Nullstelle – und wird erst später, auf Rückfrage des Interviewers, konkretisiert. Indem das eigene Problemverhalten155 und die Devianz aber unmittelbar zu Beginn der lebensgeschichtlichen Erzählung erwähnt und als potenziell ereignishaft impliziert wird, wird es zugleich als zentrales Identitätsthema von Tomaž eingeführt: Es handelt sich um eine biografische Hürde, die es – u. a. da sie den (beruflichen) Zielen des Jugendlichen entgegensteht – in entwicklungspsychologischer Hinsicht zu überwinden galt. Sprachlich wird das Problemverhalten im Text vor allem in der Form der wiederkehrenden Tropen „Stress haben“ und „Scheiß bauen“ ausgedrückt. Im späteren Verlauf des Gesprächs bittet der Interviewer den Erzähler, diese Formulierungen zu detaillieren. Hierauf folgt ein längerer Erzählstrang, der in Bezug auf die erzählte Zeit in der frühen Jugend beginnt und bis zur heutigen Gegenwart reicht. Der Textabschnitt sei hier auszugsweise und gekürzt wiedergegeben: Textbeispiel 20 Tomaž (20): Weil Freundschaft mir auch rausgeholfen hat 01 T: Ja, also ich habe eben so mit 12, 13 Jahren sag ich mal, müsste das glaub ich 02 gewesen sein wo’s angefangen hat, da hatte ich einen Freund, Marek (.). Und mit 03 ihm habe ich öfters Sachen geklaut damals, angefangen hat das, dass wir 04 nach der Schule im Supermacht Sachen ham m/ mitgehen lassen (I: mhm). Später dann 05 au mal bei Bekleidungsgeschäften und so. 06 I: (MHM) Ok. 07 T: Ja, war nie viel und jetzt auch nicht jeden Tag oder jede Woche oder so (.) ABER 08 naja, war eben so. Und im Nike-Store sind wir dann auch erwischt worden, das 09 erste Mal, NEIN das erste Mal war schon vorher im Real, ja (.), egal. Dann 10 gab’s natürlich Stress, die Kaufhausdetektive// (4) Polizei hat mich nach Hause 11 gebracht, mein Vater isch ausgerastet. 12 I: Ja, gab’s ein (he, he) Donnerwetter (.) =sozusagen. 13 T: Genau.= (3) Und das war aber nur der Anfang kann man sagen, wir haben dann, 14 daraufhin und später halt immer mehr Scheiß gemacht. […] 15 I: Ja. Wenn du sagst// Also du hast gesagt, dass du (.) mehr Scheiß, 16 also das waren deine Worte =gemacht hast, also 17 T: Ja, ja (mhm).= 18 I: was muss ich mir darunter vorstellen oder was meist du damit? 19 T: Bei mir ging das eben so weit, dass es eben auch zu körperlichen Auseinander20 setzungen kann und ich da (.) sehr leicht reizbar war und es in der Schule 21 scho zu der ein oder anderen Schlägerei kam, ja. (..) Und mit Alk und so hat sich 22 das auch intensiviert an den Wochenenden, ja (..). 23 I: Verstehe, ja.
155 Von adoleszentem Problemverhalten wird vor allem deswegen gesprochen, da das artikulierte Verhalten mit einer problematischen Entwicklung der Persönlichkeit bzw. der sozialen Interaktion zusammenhängt. Vgl. zur Definition in diesem Sinne sowie als einführende Lektüre: Weichold und Blumenthal 2018, S. 170 f.
Die Deutung der Freundschaft als Selbstauseinandersetzung und Identitätsmanagement
24 T: Ja, bin auch zweimal vorm Jugendrichter gelandet, also (.) (I: Oha), ja, wegen 25 leichter Körperverletzung, mit 18 (.), also WAR da 18, 18 Jahre alt. 26 I: Ja. 27 T: Und, ja, habe dann Jugendstunden (.), also Arbeitsauflagen gekriegt, da war ich 28 bei der Tafel (I: mhm), auch zu Recht (4). 29 I: Ja? Warum? 30 T: Ja, und ich sag mal so, ich denk ich bin dadurch auch eben erwachsen geworden und 31 (he) habe gelernt Verantwortung zu übernehmen, übernehmen zu MÜSSen. (4) […] 32 I: Also was mich jetzt natürlich interessieren würde, was hat das oder hatte 33 das auch was mit Freundschaft zu tun für dich? 34 T: Also, das hat auf jeden Fall was mit Freundschaft zu tun für mich, zum 35 einen halt weil ich mit Marek auch in einem Freundeskreis war (.), oder in den 36 integriert worden bin (4) (I: MHHH), mit dem es IMMER Ärger gab. 37 I: Verstehe, ja. Und// 38 T: Und andererseits (.) (SSS) (..) w// Andererseits hat’s auch was mit Freundschaft 39 zu tun, weil Freundschaft mir dann ebend auch rausgeholfen hat sag ich mal. 40 I:
OKAAAY
. 41 T: Oder was heißt rausgeholfen isch vielleicht zu viel gegriffen, zu viel gesagt 42 (..), aber ich sage einmal ich bin heute nicht mehr so leicht reizbar, mach nicht 43 mehr so Stress und so (I: mh), was eben auch dadurch erklärt werden könnte (.), 44 oder man muss das so ERKLÄREN, dass ich heute auch andere Freunde hab, in 45 anderen Freundeskreisen bin, die wo eben anders auch drauf sind.
Wie in struktureller Hinsicht zu sehen ist, wird das Erlebte hauptsächlich in der berichtenden Darstellungsvariante aus einer heutigen, evaluativen Erfahrungsperspektive wiedergegeben. Dialogische Bestandteile sind ebenso wie Rückfragen des Interviewers in die Erzählung eingelassen. Inhaltlich fällt auf, dass sich der Erzähler von einem erzählten Ich, welches reizbar ist und ein problematisches und deviantes Verhalten zeigt (Z19–21), distanziert und für seine heutige Person andere Identitätsfacetten beansprucht. Indem er etwa die durch den Staat auferlegte Sanktionsmaßnahme als notwendig und sinnvoll bewertet (Z28), nimmt er einen positiven Erziehungseffekt, eine „kompetente psychosoziale Anpassung“156 für sich in Anspruch. Beim heutigen Ich handelt es sich um eine gereifte (Z30), selbstregulative (Z42) und verantwortungsbewusste (Z31) Person, die diese Entwicklung reflektiert und (weitgehend) hinter sich gelassen lasst. Wie aus Z30 hervorgeht – „ich bin dadurch auch eben erwachsen geworden“ –, argumentiert er implizit, dass jugendtypische Problemverhaltensweisen ein Mittel sein können, um die Lösung der Entwicklungsaufgaben zu unterstützen.157 Von argumentativer Seite ist natürlich interessant, inwiefern beide Selbstentwürfe mit der Freundschaft in Verbindung gebracht werden: Das problematische, deviante – und in diesem Fall auch delinquente – Verhalten wird ebenso wie die postulierte Überwindung und subjektive Bewältigung desselben sozial eingebettet und begründungslogisch entindividualisiert: In diesem Sinne formuliert der Erzähler ein explikatives Modell, wie
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Weichold und Blumenthal 2018, S. 171. Vgl. hierzu Weicholdt und Blumenthal 2018, S. 171.
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die erhöhte Vulnerabilität, das Risikoverhalten und die Probleme in der Emotions- und Verhaltensregulation zu erklären sind: Die Freundschaftsbeziehung zu Marek158 wird als Ursache für das eigene Problemverhalten angedeutet (zum Beispiel Z01–02; Z35-Z36), während die Zugehörigkeit zur heutigen Freundesgruppe zugleich als Grund für die erfolgte Überwindung dargestellt wird (Z41; Z43–45). Konstitutiv für den Zustand des Selbst ist die Zugehörigkeit zu einer relevanten Freundesgruppe. Indem Verantwortung und Schuld kollektiviert wird, wird die eigene Person im Zuge einer „selbstwertdienlichen Attribution“159 individuell entlastet: Zumindest zu einem Teil handelt es nicht um das Verschulden der eigenen Person, vielmehr sind die sozialen Umstände der Gruppenzugehörigkeit relevant. Auf der sprachlich-kommunikativen Ebene wird diese Argumentation mittels expressiver Begrifflichkeiten unterstützt: Formulierungen wie „auf jeden Fall“ (Z34) oder die zum Ausdruck kommende Rhetorik des Müssens (Z44) machen die Gewissheit des Erzählers angesichts dieser ursächlichen Zusammenhänge deutlich. 6.3.2.2 Hochhelfen und Rausziehen – Metaphorisierungen freundschaftlichen Sinns Auf der inhaltlichen Ebene sticht in Textbeispiel 20 indes die Metapher des Raushelfens (Z39) ins Auge, mit welcher die heutigen Freundschaftsbeziehungen semantisiert werden. Charakteristisch ist die Andersartigkeit (Z45) dieser Personen, wobei der Erzähler im Text zunächst darauf verzichtet, diese Bewertung zu konkretisieren. Aufgrund dessen fragt der Interviewer im Verlauf des Interviews nach, worauf sich der folgende Gesprächsverlauf ergibt: Textbeispiel 21 Tomaž (20): Richtige Freunde und Unterstützung 01 I: Ok, dann (.), du hast gesagt: anders drauf sind, also deine (.), HEUTigen oder 02 NEUE Freunde sind anders drauf. Kannst du das vielleicht einmal anhand von einem 03 Beispiel erzählen? (.) Fällt dir da etwas ein (..) (T: HMMM) (.)? Eine Geschichte 04 vielleicht? 05 T: Also ich kann natürlich viel erzählen und so (..). 06 I: Ja. 07 T: (.) Aber was jetzt genau, also eine ganz bestimmte GESCHichte (5). 08 I: Wenn dir jetzt nichts einfällt, dann (ähm), du kannst auch gerne beschreiben, was 09 der Unterschied ist. Wenn dir das lieber ist. 10 T: (Schlucken) (Ah) Also wenn ich jetzt zum Beispiel meinen engsten Freund hernehm, 11 den ich auch aus der Schule, Realschule her kenn (.) (I: mhm), dann würde ich 12 sagen, mit ihm--
Später nennt Tomaž noch Tizian und Lisa. Die drei Personen werden vom Erzähler als relevante Freundesgruppe genannt, allerdings führt er dies nicht näher aus. Weitere Informationen über die erzählten Personen werden im Gespräch nicht gegeben; es ist lediglich zu erfahren, dass es sich um jene Gruppe handelt, „mit denen ich sag mal Scheiß gemacht hab“ sowie „mit dem es immer Ärger gab“. 159 Aronson u. a. 2008, S. 116–118. 158
Die Deutung der Freundschaft als Selbstauseinandersetzung und Identitätsmanagement
13 I: Wie heißt er denn? Also// 14 T: (Ah) Rickard. Rickard ist sein Name. 15 I: OKAY, sorry. 16 T: Kein Problem und mit ihm ist es so, dass er mich nicht runterzieht, sondern mehr 17 so hochzieht (..). 18 I: (Mhm) Dich aufbaut? 19 T: Ja, nicht DAS sondern mehr (.), dass er, UND das ist es was echte Freunde 20 eben auch ausmacht, auf dich eingeht und dich unterstützt (I: mhm, mhm), (.) 21 einen unterstützt und hilft. 22 I: Verstehe. (..) Worin wirst du konkret unterstützt? Also jetzt zum Beispiel Rick-23 T: Dazu unterstützt sich auch weiterzuentwickeln als Person zum Beispiel (I: mhm) 24 (.), zum Beispiel, jetzt gerade bin ich in der Bewerbungsphase? 25 I: Ja. 26 T: Also schreibe gerade für unser Praktikum verschiedene Bewerbungen und zum 27 Beispiel war ich am Zweifeln, ob ich jetzt eine Bewerbung hier zu Bosch schreiben 28 sollte oder NICHT (.) (I: mhm), weil ich dachte: Ok, das krieg ich eh 29 nicht mit meinen Noten. 30 I: Verstehe, ja. 31 T: Obwohl die jetzt besser sind, aber ja. Und dann wegen Bewerben meint ich 32 dann so, sag ich zu ihm: „Ja, meinst das lohnt sich da jetzt ZEUG loszuschi33 cken?“, und er eben dann// Also das ist jetzt nur ein Beispiel, eine kleine 34 Sache. 35 I: Ok. 36 T: Aber er dann eben so (.): „Na ja, probieren is nie (n) Fehler!“, meint er 37 so zu mir (.): „Einfach probieren“ (I: mhm, mhm), und (.) ja (NNN): „Wenn’s 38 nicht klappt, klappt’s halt nicht, was soll’s, egal dann machst halt was 39 anderes!“, so meinte er. Von daher. Und ich brauch eben manchmal so diese Locker40 heit, diese Entspanntheit, sag ich mal (..), weil ich eben eher ernst bin und mir 41 viele Gedanken mache. (.) Manchmal zu viele Gedanken. Und das ist das, was ich 42 meinte vorhin mit hochziehen und weiterentwickeln: Richtige Freunde unterstützen 43 einen bei DEM, was einem selbst fehlt. Das bieten sie sozusagen an (.) (I: mhm). 44 So sehe ich das.
Wie aus Textbeispiel 21 hervorgeht, bittet der Interviewer um eine Konkretisierung des Gesagten (Z02–03), wobei er insbesondere versucht, einen Text mit narrativer Struktur zu evozieren (Z04). Nachdem dies nicht gelingt – dem Erzähler fällt auch nach einer längeren Phase des Nachdenkens nichts ein (Z07) –, macht der Interviewer deutlich, dass eine deskriptiv-zusammenfassende Antwort ebenfalls in Ordnung wäre (Z08-Z09). Sehr spannend ist nun, wie sich der Dialog dynamisch entwickelt und in einer freundschaftssemantisch aufschlussreichen Nebenerzählung kulminiert: Zunächst benennt er mit Rickard seinen „engsten Freund“ (Z10) der heutigen Zeit, welchen er mit seiner früheren Freundesgruppe kontrastiert (Z16–17). Charakteristisch für diese Beziehung ist auch in diesem Textbeispiel die situative Befähigung, die von der Freundschaft ausgeht: Vom Erzähler wird die subjektive Gratifikation abstrakt als „hochziehen“ (Z17) metaphorisiert. Im Anschluss folgt eine kurze Pause des Erzählers (Z17), die der Interviewer, so ist zu vermuten, als parasprachliche Abschlussmarkierung interpretiert. Er fasst das Gesagte daher mit dem Begriff des Aufbauens zusammen und intoniert dies als Rückfrage (Z18); allerdings wird der Begriff vom
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Erzähler abgelehnt und durch die Begriffe der Hilfe und Unterstützung ersetzt (Z20– 21). Im Anschluss erfährt man, dass es vor allem um die persönliche Weiterentwicklung geht (Z23). Was er damit genau meint, wird anschließend auf narrativem Wege konkretisiert. Der Erzähler beginnt unaufgefordert und intuitiv, eine Geschichte zu erzählen, welche exemplarisch jene Hilfe und Unterstützung zur Weiterentwicklung verdeutlichen soll. In der folgenden narrativen Episode Bewerbung schreiben (Z23–44) zeigt sich, welche Kraft einer beispielhaften Erzählung innewohnt, wenn es darum geht, ein allgemeines Prinzip auf eine eingängige Art und Weise zu verdeutlichen und zu verargumentieren.160 In der Episode wird deutlich, wie Hilfe und Unterstützung des Freundes zur persönlichen Weiterentwicklung beiträgt: Das erzählte Ich wird ermutigt, erhält praktische Ratschläge und persönlichen Zuspruch (Z36–39); im Handlungsverlauf wird es befähigt, sich zu bewerben und positiv zu denken. Interessant ist dann, wie der Erzähler dieses Potenzial der Freundschaft in Textbeispiel 21 selbst abstrahiert und als einen relevanten Ordnungssatz von Freundschaftsbeziehungen formuliert (Z42–43). „Richtige Freunde“ erkennen die persönlichen Schwächen bzw. individuellen Defizite der anderen Person und wirken aktiv an deren Überwindung und Behebung mit. Indem Rickard Tomaž „hochzieht“ (Z17) sowie Ausgeglichenheit (Z40–41) und Selbstregulation (siehe Textbeispiel 20) bewirkt, ermöglicht er, dass der Freund das artikulierte antisoziale Verhalten hinter sich lässt. Analog zum Gespräch mit Moritz lässt sich die Semantik der Freundschaft damit anhand der narrativen Struktur der Lebensgeschichte rekonstruieren: Ihr kommt das transformative Potenzial zu, das Selbst in entwicklungspsychologischer Hinsicht zu befähigen. Der individuelle Privatraum der Freundschaft wird mit dem Gewinn der subjektiven Fähigkeit, Unsicherheiten und Schwächen zu überwinden, Techniken der Selbstregulation zu erlernen, Selbstsicherheit zu gewinnen und sich als selbstwirksam wahrzunehmen, semantisiert. Analytisch kann die Freundschaftssemantik von Tomaž damit als situative Befähigung konkretisiert werden. Das Adjektiv situativ soll, wie bereits angedeutet, die Relativität der Hilfeleistung, die vom freundschaftlichen Privatraum ausgeht, herausstellen. Im Vergleich zum Fallbeispiel von Alica ist zu betonen, dass es weniger um eine primär emotionale, positive Bekräftigung geht, mit welcher die psychosoziale Stimmung gehoben werden soll. Vielmehr steht, wie bei Adile, das lebensgeschichtliche Selbst mit seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Zentrum. Die Semantik persönlicher Ermächtigung rekurriert in besonderem Maße auf die Sozialisations- und Bildungspotenziale, die aus den Freundschaftsbeziehungen erwachsen: Einen wichtigen Begriff stellt der Begriff des informellen Lernens dar, das ge-
Vgl. hierzu auch Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 168 f. Die Autorin und der Autor sprechen diesbezüglich von „Hintergrunderzählungen“ (S. 168). 160
Die Deutung der Freundschaft als Selbstauseinandersetzung und Identitätsmanagement
meinsam mit den Freunden vollzogen wird. Dabei wurde insbesondere bei der situativen Befähigung dieses Fallbeispiels deutlich, wie Freunde und Peers die Familie und Eltern im Jugendalter als (primäre) Sozialisationsinstanz sukzessive ablösen: Die Jugendlichen sind bereit, „den Wahrnehmungen, Deutungen und Bewertungen Gleichaltriger, die sich in einer ähnlichen biografischen und generativen Situation befinden, eine höhere Bedeutung zuzumessen, als den Perspektiven, die Erwachsenen aus ihrer biografisch und generativ differenten Position heraus nahe legen“.161 Die Freunde werden „als Ausdrucksformen jugendlicher Emanzipationsbestrebungen thematisch, als Form einer Selbstvergesellschaftung, die die Einübung in nicht-hierarchische Formen der Kooperation und Kommunikation und die kritische Auseinandersetzung mit den Werten und Normen der ‚Erwachsenenwelt‘ ermöglichen.“162 Wie gezeigt und von Tomaž selbst evaluiert, kommt den Freunden die Aufgabe zu, das informelle Lernen, zum Beispiel den Erwerb von sozialen Kompetenzen und kognitiven Fähigkeiten, voranzutreiben und zu fördern.163 6.3.3
Zusammenführung – die Freundschaft als ko-konstruktive Arbeit am Selbst
Bei der lebensgeschichtlichen Reflexion wird wie bei der situativen Befähigung damit insbesondere die Rolle der Freundschaft als peer-bezogenes Hilfesystem deutlich: Der Austausch über gleiche, ähnliche Erfahrungen – welcher in beiden Fallbeispielen zum Ausdruck kommt – gleicht einer therapeutischen Arbeit am Selbst, die von den Freunden ko-konstruktiv mit Blick auf das eigene Leben vollzogen wird. Im Sinne von Georg Herbert Mead ermöglicht Freundschaft, sich mit den Augen des anderen betrachten zu können: Selbstaufmerksamkeit ergibt sich dadurch, dass sich die Jugendlichen in die andere Person hineinversetzen, sich potenzielle Reaktionen vorstellen und vergegenwärtigen und dadurch erwartbares Verhalten antizipieren. Das eigene Handeln der Jugendlichen, aber auch deren Weltsicht und Deutung der Vergangenheit, des in der Vergangenheit Erlebten, setzt an dieser Rollenüberannahme an und wird auf ihrer Grundlage diskutiert. Freundschaft bedeutet damit auch, sich mit der Perspektive des anderen beobachten zu können und in Reaktion auf diese Sichtweise zu handeln. Diese kommunikative Praxis, im Sinne von Mead als „Grundprinzip der gesellschaftlichen Organisation des Menschen“164 verstanden, tritt bei diesen Semantiken in besonderem Maße in den Vordergrund: Durch kommunikative Praktiken innerhalb von Freundschaft nehmen die Jugendlichen die Rolle „der anderen Person [an], die sie auf diese Weise anregt und beeinflusst. Indem sie diese Rolle der anderen 161 162 163 164
Scherr 2010, S. 81. Scherr 2010, S. 74 (Hervorh. i. Orig.). Vgl. Harring u. a. 2010, S. 9. Mead 1973, S. 299.
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Subjektive Freundschaftssemantiken
übernimmt, kann sie sich auf sich selbst besinnen und so ihren eigenen Kommunikationsprozess lenken“.165 Gegenstand der Rollenübernahme in Freundschaften ist die eigene Identität: Die Jugendlichen erfahren und lernen etwas über die Meinungen, Einschätzungen und Bewertungen des anderen und lernen dessen Standpunkte kennen. Sie können sich die Frage stellen, wie sie an ihrer oder seiner statt handeln würden, und die eigenen Reaktionen und das eigene Empfinden darüber prüfen.166 Die Folge des Prozesses, sich mit den Augen anderer zu betrachten und sich selbst Objekt zu sein, ist in beiden Fällen der Gewinn von Selbstbewusstsein, verstanden als Bild oder Vorstellung des Selbst. Die Funktion der Freundschaft besteht bei diesen Jugendlichen darin, eine Selbstauseinandersetzung zu ermöglichen und die Jugendlichen zur (aktiven) Arbeit an der eigenen Identität zu befähigen. Es ließe sich argumentieren, dass sich die lebensgeschichtliche Reflexion vor allem retrospektiv, die situative Befähigung hingegen prospektiv definiert – die Freundschaftssemantik also einmal die Frage ‚Wer bin ich?‘ und einmal die Frage ‚Wer kann ich sein?‘ beantwortet. Dies mag sich daran orientieren, wie die Jugendlichen Vergangenheit und Gegenwart wahrnehmen und welches Gefühl des „in-der-Zeit-Seins“167 von Seiten der Jugendlichen vorliegt. Was sich hier konkret zeigt, scheint in Anbetracht der Lebensumstände stark zu variieren – und sicherlich sind auch Alter, Geschlecht und Entwicklungsstand wichtige Variablen in entwicklungspsychologischer Hinsicht. In beiden Fällen machen die Jugendlichen wichtige Selbstwirksamkeitserfahrungen, gewinnen Sicherheit und Handlungskompetenz in Fragen alltäglicher Probleme und werden in der Entwicklung eines eigenen Wertesystems und einer normativen Orientierung unterstützt. Damit sind jene Bedeutungsaspekte insbesondere auf die mit der heutigen Gesellschaft verbundene Optionenvielfalt bezogen: Hier muss der sich oftmals als belastend herausstellende Entscheidungsspielraum betont werden.168 Dass die Freunde bei Berufswahlentscheidungen Unterstützung bieten, dass sie helfen, die eigene kulturelle Identität zu ergründen und sozial inadäquate Eigenschaften abzulegen, scheint nur logisch, wenn der Biografieentwurf und die Wahl der Lebensform nicht gesellschaftlich festgeschrieben, sondern eben vom Subjekt eingefordert wird.169 Wie bei der Semantik des experimentellen Spiels helfen die Freunde auch hier,
Mead 1973, S. 300 Vgl. Mead 1973, S. 300 f. Ich übernehme den Begriff des ‚In-der-Zeit-Seins‘ von Hartmut Rosa (vgl. Rosa 2012, S. 31 f.; FN 28) und meine damit den Umgang mit der ‚Zeit‘ in der Alltagspraxis der Lebenswelt, also so etwas wie die Zeitmuster der Jugendlichen in der gegenwärtigen, digitalisierten Gesellschaft: Rhythmus, Geschwindigkeit, Dauer und Sequenz von sozialen Aktivitäten und individuellen Praktiken; individuelle Zeitperspektiven und Muster; das Gefühl der Dauer von Ereignissen; die Zeitpraxis bei Entscheidungen oder Lebensplanungen. Vgl. Rosa 2012, S. 31–34. 168 Vgl. Keupp 2005, S. 3 f. 169 Vgl. Beck 2016, S. 210 f. 165 166 167
Die Deutung der Freundschaft als Selbstauseinandersetzung und Identitätsmanagement
das jugendliche Selbst bei der heutigen „Politik der Sinnbastler“170 zu unterstützen und aus heterogenen symbolischen Äußerungsformen Existenz und Identität zu formen. Es sei an Axel Honneth angeknüpft, der postuliert, dass eben erst mit der durch Individualisierungsprozesse hervorgebrachten Zwanghaftigkeit und Notwendigkeit zur Verantwortungsübernahme verbindliche Privatfreundschaften praktiziert werden können.171 Angemerkt sei, dass das aristotelische Ideal der verbindlichen, intim konnotierten Vertrauensbeziehung, die auf der „ganzen Breite der Persönlichkeit“172 aufbaut, empirisch vor allem in diesen beiden Fallanalysen zum Ausdruck kommt. Denn zu den wichtigen Erwartungshaltungen und zentralen Werten dieser Freundschaftsbeziehungen gehören vor allem jene Werte, welche eine hohe Vertrautheit und Intimität der Beziehung ermöglichen: Die Fähigkeit zur Empathie und Reflexion, Einfühlungsvermögen sowie Verständnis werden von Adile wie Tomaž stärker als von den anderen Jugendlichen als wichtig betont. Das persönliche, vertrauensvolle Gespräch ist das zentrale Instrument der Freundschaftspraxis dieser Jugendlichen. Es fungiert in Anlehnung an George Herbert Mead als ein innerer Kommunikationsprozess, ist als „reflexive Form des individualisierten Lebensvollzugs“173 zu verstehen, mit welchem „jede einzelne Identität ihre eigene spezifische Individualität, ihre einzigartigen Merkmale“ hervorbringt.174
170 171 172 173 174
Hitzler und Honer 1994, S. 312. Vgl. Honneth 2011, S. 245–247. Simmel 1999, S. 162. Hitzler und Honer 1994, S. 311 (Hervorh. i. Orig.). Mead 1973, S. 245.
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Normative Freundschaftskonzeptionen
Nachdem nun erste Ergebnisse vorliegen, welche Freundschaftssemantiken zu unterscheiden sind und wie sich der private Raum der Freundschaft in Anbetracht von Lebensgeschichte, Lebens- und Alltagswelt subjektiv ausdifferenziert, soll der analytische Blick nun wesentlich auf das Korpus der Stichprobe ausgeweitet werden, um sich dem zweiten Erkenntnisinteresse dieser Arbeit zu nähern. Die Frage, wie Freundschaft übergreifend erlebt wird, welche Werte, Wünsche und Erwartungen charakteristisch für heutige Freundschaftsbeziehungen sind und welche semantischen Verschiebungen sich gegebenenfalls schlussfolgern lassen, wird in diesem sowie in den nachfolgenden Kapiteln konkretisiert. In diesem Kapitel wird zunächst das normative Freundschaftskonzept der Jugendlichen thematisiert: Wie stellen sich die Jugendlichen Freundschaft vor und wie erzählen sie von ihr? Welche Wünsche und Erwartungen haben sie? 7.1
Freundschaftsvorstellungen – Freundschaft als Raum des authentischen Selbstentwurfs
Dass die Idee von Authentizität eine zentrale Rolle in den lebensweltlichen Erzählungen der Jugendlichen einnimmt, sie mit dem freundschaftlichen Privatraum der Jugendlichen korreliert wird und hier qualitativ wie quantitativ signifikant ist, wurde mehrfach angedeutet: So kam, um nur zwei Beispiele zu nennen, mit Blick auf die transformative Struktur der Lebensgeschichte von Moritz oder in Bezug auf die performativen Freundschaftspraktiken von Henriette der besondere Wunsch zum Ausdruck, innerhalb von Freundschaft als ‚authentische Person‘ wahrgenommen zu werden und handeln zu können. Dieses meta-narrativ zu verstehende Textphänomen soll nachfolgend empirisch konkretisiert, analytisch aufgearbeitet und schließlich im Lichte der eingangs vorgenommenen Gesellschaftsdiagnose interpretiert werden. Bevor die durchaus differenzierten Authentizitätsphänomene aber anhand der Texte gezeigt werden, ist es notwendig, kurz auf den Begriff der Authentizität einzugehen und das vorliegende Authentizitätsverständnis zu explizieren. Um sinnvoll mit dem
Freundschaftsvorstellungen – Freundschaft als Raum des authentischen Selbstentwurfs
Begriff arbeiten zu können, sei zunächst auf die Bedeutungsvielfalt sowie auf die unterschiedlichen Formen1 von Authentizität hingewiesen: „In unterschiedlichen Zusammenhängen kann einem dieser geradezu zum Schlagwort gewordene Ausdruck begegnen. Es ist daher kein Zufall, dass die Vagheit dieses Begriffs nicht nur wahrgenommen, sondern auch immer wieder beklagt wird.“2
In dieser Arbeit wird auf den Authentizitätsbegriff aber nicht trotz, sondern wegen seiner differenzierten Signifikate zurückgegriffen. Er ermöglicht es, einerseits auf der Mikroebene nah am Text der Jugendlichen zu arbeiten (der Begriff wird von den Jugendlichen häufig auch selbst verwendet), als auch können die erzählten Sachverhalte dieser Studie auf einer meta-narrativen Makroebene paradigmatisch mit dem Bedeutungsspektrum erfasst und beschrieben werden. Authentizität wird dabei grundsätzlich analytisch gebraucht und als eine Zuschreibungseigenschaft verstanden: „Authentizität wird jemandem oder etwas zugeschrieben, oder aber es wird bei Personen mit bestimmten Äußerungen des Selbst assoziiert.“3 Konstitutiv ist also zunächst, dass Authentizität aus einer subjektiven Sicht heraus von den Erzählpersonen geäußert wird und im Sinne dieser Arbeit zunächst ein empirisch gegebenes, sekundäres Textphänomen darstellt. Dies bedeutet zugleich, dass es nicht um eine – wie auch immer geartete – essentialistische Bestimmung oder Einordnung geht, sondern schlicht darum, wie Menschen wahrnehmen, deuten und interpretieren. In Anlehnung an die zeitgeschichtliche und medienwissenschaftliche Begriffsverwendung ließe sich insofern auch von „Authentizitätsfiktionen“ sprechen, welche von den Jugendlichen im situativen Akt des Erzählinterviews konstruiert werden, die aber auch hier „über ihre Darstellung versuchen, ihr Gemachtsein zu verschleiern“.4 Achim Saupe schlägt daher vor, „Authentizität vor allem im Hinblick auf Kommunikationsstrukturen zu untersuchen, d. h. danach zu fragen, wem und was wann, wie und weshalb Authentizität zugesprochen wird.“5 Diese Perspektive wird auch in dieser Arbeit eingenommen. In dieser Arbeit wird Authentizität im Sinne von Michael Hofer als personale Authentizität verstanden: In Abgrenzung zur historischen sowie zur hermeneutischen Authentizität versteht Michael Hofer hierunter allgemein eine Deckung bzw. Entsprechung zwischen einem ‚Selbst‘ und einer Erscheinungsweise, wie es also in seinem Verhalten und seiner Leibhaftigkeit zum Ausdruck kommt.6 Vgl. für einen Überblick zu diesen Formen der Authentizität Saupe 2014 S. 19–22; für eine zeitgeschichtliche Übersicht sei Saupe 2012 sehr zur Lektüre empfohlen. 2 Hofer 2016, S. 135. 3 Saupe 2012, unpg. 4 Saupe 2012, unpg. 5 Saupe 2012, unpg. 6 Hofer 2016, S. 136 (Hervorh. i. Orig.). In Abgrenzung zu dieser personellen Authentizität meint die historische Authentizität, welche „die jeweilige Erscheinungsweise einer Institution oder anderer Gegebenheiten (eines Textes als Quelle bzw. Urkunde, eines Bildes) an dem Deckungsgrad mit dem jeweiligen 1
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Normative Freundschaftskonzeptionen
Bei jenem Deckungsgrad personeller Authentizität lassen sich verschiedene Dimensionen unterscheiden, zu welchen typischerweise graduelle Oppositionen wie unmittelbar vs. mittelbar, ursprünglich vs. kultiviert, singulär vs. universell, selbst- vs. fremdbestimmt und ehrlich vs. unehrlich gehören können.7 Als ästhetische Kategorie verstanden, lassen sich also unterschiedliche Arten der Selbstwahrnehmung, der Wahrnehmung der Relation von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, erfassen, wobei sich Authentizität sowohl auf abstrakte Evaluationen (zum Beispiel einer Person) als auch auf konkrete Eigenschaften (zum Beispiel von Verhalten) beziehen kann. 7.1.1
Authentizität als Echtheit und Originalität – sich nicht verstellen müssen
7.1.1.1
Anerkennung erfahren: die Erscheinung des eigenen Körpers
Das erste freundschaftsrelevante Authentizitätsphänomen, welches in den Texten der Jugendlichen auftaucht, soll nachfolgend anhand des Weltentwurfs der 18-jährigen Studentin Leonie eingeführt werden. Ein erster Auszug aus dem Interview mit Leonie wurde bereits im methodischen Einführungskapitel gezeigt. Leonie ist achtzehn Jahre und hat drei jüngere Geschwister. Sie lebt gemeinsam mit ihnen und ihrer alleinerziehenden Mutter in einer baden-württembergischen Mittelstadt. Sie studiert im ersten Semester Architektur in Stuttgart. Ihre lebensgeschichtliche Erzählung fällt vergleichsweise umfangreich aus. Charakteristisch ist, dass die Kindheit und Jugend in Bezug auf das eigene familiäre Privatleben problematisiert wird: Inhaltlich wird das pathologische Spielen ihres Vaters sowie die Trennung der Eltern als ereignishaft erzählt (siehe Textbeispiel 1); der formale Bildungsgang spielt, anders als bei den meisten Jugendlichen, keine Rolle. Nach Abschluss des lebensgeschichtlichen Teils bittet der Interviewer die Erzählerin, sich an ein (oder mehrere) „Erlebnis(se) zur Freundschaft“ zurückzuerinnern, um diese als Geschichte zu präsentieren. Der Interviewer verließ hierfür für einige Minu-
historischen Ursprung bemisst“ (S. 135), während die hermeneutische Authentizität „sich auf die Deckung einer Interpretation mit dem Text bezieht“ (S. 136). Eine ganz ähnliche und ebenfalls sehr einleuchtende Systematisierung schlägt Achim Saupe vor, der eine „personale und kollektive Authentizität“ (S. 19), eine „empirische Authentizität“ (S. 20) sowie eine „materiale Authentizität“ (S. 21) unterscheidet. Vgl. Saupe 2014. 7 Vgl. vertiefend hierzu eben Hofer, S. 136–141, Rössler 2001, S. 109–116 sowie Jaeggi, S. 80 f., an welche ich mich zusammenfassend anlehne. Spannend ist natürlich, wie diese Dimensionen differenzierte bis hin zu disparaten Authentizitätszuschreibungen ermöglichen: So kann gewissermaßen der ‚naive Mensch‘ authentisch sein, da er den eigenen Emotionen, Neigungen und Gefühlen entsprechend sich verhält und artikuliert; gleichzeitig kann auch dem reflektierten Menschen Authentizität zugeschrieben werden, da Reflexion Selbsterkenntnis und damit Selbstverwirklichung im Sinne eines modernen Identitätsverständnisses ermöglicht usw.
Freundschaftsvorstellungen – Freundschaft als Raum des authentischen Selbstentwurfs
ten den Raum8. Im Anschluss erzählt sie unter anderem die folgende Episode, welche hier, da sie recht ausführlich ist, in gekürzter Form wiedergegeben wird: Textbeispiel 22 Leonie (18): Du bist genauso in Ordnung wie du bist 01 L: Ja (.), (äh) und zwar was also was bei mir eben ein großes Thema war, oder 02 eigentlich das Thema war (.), genauer gesagt, so als ich ne (.) ja (.) 03 Jugendliche war oder ein (he, he) ein Mädchen war (ähm), das war (.) so das 04 Thema (.) Aussehen. […], wegen meiner Größe. (..) Also ich bin ja 05 jetzt einszweiundachtzig groß und (ÄHMMM) jetzt ist das ok (.) (I: mhm) aber das 06 Problem ist eben, die einszweiundachzig hatte ich schon mit vierzehn (4) (I: mhm) 07 und mit vierzehn war’s nicht ok. =(.) Da 08 I: Ja.= 09 L: war’s nicht ok, da hatte ich, hat ich (ähm) ein großes Problem damit, weil, also 10 jetzt is das kein Problem mehr, jetzt ist das fast Modellmaß sozusagen (ha) (.) 11 aber damals war das nicht ok, da war ich damit in der Schule die Größte und 12 ich war immer die Größte, immer schon, in der Schule und (.) es hieß so: „(Ah) 13 Da kommt die Große!“, und so weiter und: „JAAA (.) sie ein großes Mädchen“, und 14 solche Sachen und das ist (..), ich mein ich bin nie wirklich GEMOBBT worden oder 15 so (.), =aber (ähm) (.) 16 I: Schon mal gut.= 17 L: des muss auch nicht sein, ja, gut natürlich aber für dich selbst so genügen 18 auch schon die ganzen kleinen Kommentare, als Mädchen, so, um dich unsicher 19 zu fühlen und ich hab mich unsicher gefühlt und ich hab mich nicht wohl 20 gefühlt und ich hatte Probleme damit. (.) (I: Mhm) […] Wir sind, (.) (ähm) 21 meine Eltern also beim Arzt gewesen mehrfach weil ich eben so früh schon groß war 22 und ich hab dann (oh) so WachstumsHEMMER gekriegt, weiß nicht mehr wie die 23 hießen, aber des waren schon ordentliche Hammerteile wo mir dann übel geworden 24 ist und ich Verdauungsprobleme gekriegt hab immer wieder und dann ham wir sie 25 abgesetzt irgendwann (..) (I: mhm), weil’s nicht mehr ging. Also […] damals hat 26 das übel auf mein Selbstbewusstsein gedrückt (..). 27 I: Ja, ja. Es wurde dann besser (.) (L: HMMM) (.) und warum? 28 L: Bis ich aus der Pubertät raus wahr, so und da kann ich sagen, dass mir meine 29 Freundinnen übel geholfen haben eben in dieser Zeit, weil sie mir immer das 30 Verständnis gegeben haben, das so gegeben haben (.), so: „HEY Du bist 31 genauso in Ordnung wie du bist.“, und: „Du bist schön und (.) musst dich nicht 32 verändern.“, oder sonst was. Und (ähm) das hat mich ungeheuer aufgebaut so, weil 33 ich gesehen hab HEY ich kann hier, so (..) authentisch sein, ich selbst 34 sein und muss mich nicht anpassen und so und des hat mir Selbstbewusstsein 35 gegeben. […] 36 I: Ja, kannst du irgendwie noch sagen vielleicht, was sich dadurch verändert 37 hat? Also durch die Freundschaft oder durch den Zuspruch? 38 L: Ja (ÄHMMM) (..) Ich hab mich halt immer nach Außen orientiert vorher, in 39 der Schule, hab bestimmte Schuhe nicht getragen, die dich dann// Wo man 40 dann größer aussah, hab (.) so komische Oversized-Sachen getragen obwohl’s mir 41 nicht gefallen hat aber (ähm) ich hätte lieber körperbetonte Sachen getragen
8 Dieses methodische Verfahren wurde vor allem in den späteren Befragungen vermehrt eingesetzt. Der Interviewer verließ für einige Minuten den Raum bzw. gab den Gesprächspersonen einige Minuten Zeit, um bewusst nachzudenken und sich an relevante Freundschaftserlebnisse zu erinnern, um diese anschließend erzählerisch wiedergeben zu können.
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weil ich ja auch ne gute Figur hatte aber dann sah man meine GRÖßE und ich hab mich geschämt (.) (I: mhm), also hab ich’s nicht getragen aber mich dann deswegen wieder unwohl gefühlt und so weiter. (..) Und mit meinen Freunden wusste ich eben, dass ich so akzeptiert werd wie ich bin WAS ICH (..), vielleicht eh geworden bin auch in der Schule aber ich das halt nur nicht von mir heraus so wahrgenommen hab (FFFF) (.) weil ich mich halt selber so nicht akzeptieren konnte.
Die narrative Episode leitet die Erzählerin mit einem meta-narrativen Teil (Z01–06) ein: In der Präambel wird die Evaluation des folgenden Erzählgegenstands vorweggenommen und als „großes Thema“ (Z01) gerahmt, um schließlich im darauf folgenden Abstract als ‚Aussehen/Körpergröße‘ eingeführt (Z04) und zeitlich situiert (Z06) zu werden. In der anschließenden Durchführung wird die Komplikation recht ausführlich abgebildet; einzelne persönliche Aspekte des konkreten Erlebens werden in der Präsenzform durch die Wiedergabe wörtlicher Rede moduliert (zum Beispiel bei Z12–13). Der aus der eigenen Körpererscheinung resultierende Gefühlszustand des erzählten Ichs wird in der Folge als unsicher (Z18) und unwohl (Z19–20) beschrieben und bezogen auf die gegebene Sozialität mit interpersoneller Herabsetzung und Stigmatisierung korreliert (Z17–18), was eine subjektive Belastung impliziert. In der Binnenerzählung Wachstumshemmer (Z20–25) kulminiert narrativ schließlich jene Belastung, welche das Thema Körpergröße für das Gefühl personeller Inauthentizität des erzählten Ichs bewirkt. Pointiert wird das fehlende Selbstwertgefühl schließlich mit dem umgangssprachlichen – wenngleich wissenschaftlich unzutreffenden – Begriff des Selbstbewusstseins in einer kurzen Evaluation hervorgehoben (Z25–26). Im Auflösungsteil der Geschichte bringt die Erzählerin schließlich zur Mitte der Episode (Z29) das Thema Freundschaft ein, wobei die Freunde in der Geschichte eine Auflösung des beschriebenen inkonsistenten Gefühls- bzw. Selbstzustands bewirken. Die narrative Struktur der Geschichte kann daher wie folgt pointiert werden: Zu Beginn der Geschichte befindet sich Leonie im Raum der Inauthentizität, welcher von der oben skizzierten Anpassung, der fehlenden Anerkennung und Verunsicherung gekennzeichnet ist. Synekdochisch wird dies durch die soziale Praxis des Sich-Kleidens repräsentiert: Leonie trägt ausgewählte Kleidung, um Ablehnung zu vermeiden, auch wenn diese ihr nicht gefällt (Z39–41). Leonies Freunde treten in der Form helfender Adjutanten in Erscheinung, welche das erzählte Ich der Geschichte befähigen, sich in ihrer Individualität zu akzeptieren (Z30–31) und „selbst sein“ (Z33–34) zu können. Der Zuspruch und die Unterstützung der Freunde stabilisiert das Selbstwertgefühl des erzählten Ichs (Z34–35). Damit befindet sie sich zum Ende der Geschichte im Raum personeller Authentizität; der Raum der Inauthentizität wurde vollständig verlassen, was das Plusquamperfekt im letzten Teil der Episode indiziert (Z47–48). In der Episode kommen damit zwei miteinander korrespondierende Bedürfnisse zum Ausdruck, die von den Jugendlichen der Stichprobe übergreifend an den freundschaftlichen Privatraum geknüpft werden: Dies ist zum einen der Wunsch, „sich selbst
Freundschaftsvorstellungen – Freundschaft als Raum des authentischen Selbstentwurfs
treu zu sein“9 und sich auf diese Art personell authentisch geben und verhalten zu können. Den Ausgangspunkt bildet die Thematisierung der Individualität der eigenen Person. Qualitativ signifikant ist das Narrativ, dass die Freundschaft Raum für einen autonomen personellen Selbstausdruck bieten müsse, dass innerhalb von ihr die Unvergleichbarkeit, die Einzigartigkeit und Originalität der Person10 zum Ausdruck kommen müsse. Daran anknüpfend wird repetitiv das Bedürfnis akzentuiert, als Person mit der spezifischen Originalität und Individualität akzeptiert und anerkannt zu werden. Mit den Entwürfen eines autonomen, originären Selbstausdrucks geht stets personelle Anerkennung und Wertschätzung einher, die mit Blick auf das gesamte Textkorpus als zentrale Freundschaftsmotive zu werten sind. Es wichtig darauf hinzuweisen, dass beide Punkte dialektisch miteinander verschränkt sind, sich also Authentizitätswahrnehmungen stets dialogisch konstituieren und als Merkmale eben konstitutiv an solch wechselseitige Anerkennungspraktiken gebunden sind. Die Bestimmung der eigenen Identität „definieren wir stets im Dialog und manchmal in streitbarer Auseinandersetzung mit den Identitäten, die die signifikanten anderen in uns erkennen wollen.“11 7.1.1.2 Ablenkung erfahren: die Performanz der sozialen Rolle Das personelle Authentizitätsideal der Echtheit und Originalität zieht sich übergreifend durch die Stichprobe dieser Arbeit; qualitativ kann nicht zwischen einzelnen Merkmalen wie Geschlecht, (Schul-)Bildung, Alter bzw. hinsichtlich der räumlichen Situierung differenziert werden. Mit der erzählten Welt des 18-jährigen Colin-Joel wird im Folgenden ein Beispiel angeführt, das auf einen ergänzend relevanten Aspekt aufmerksam macht. Colin-Joel hat vor Kurzem eine Berufsausbildung zum Industrie-Mechatroniker begonnen, weswegen er kürzlich mit zwei anderen Auszubildenden in eine Wohngemeinschaft zusammenzog. Die Wohngemeinschaft befindet sich in jenem eher ländlichen Ort, in dem er auch aufwuchs. In seiner Freizeit dreht sich viel um den Sport: Er betreibt Handball als Vereinssport, fährt regelmäßig mit seinen Freunden Mountainbike-Touren, schaut aber auch gerne Sport im TV. Das Gespräch mit Colin-Joel ist nicht nur eines der kürzesten der Stichprobe, sondern zugleich in Bezug auf die gebotene Narrativität auch stark limitiert. Die deskriptive Textsorte überwiegt bei Weitem gegenüber narrativen wie argumentativen Strukturen: Trotz verschiedener Versuche des Interviewers ergaben sich nur sehr wenige Abschnitte mit narrativer Struktur und keine Geschichten dergestalt, dass „der Erzähler sein Wissen um den Fortgang der Geschichte, über welches er aus heutiger Sicht verfügt, suspendiert und die damalige 9 Hofer 2016, S. 139. 10 Vgl. Saupe 2012, unpg. 11 Taylor 2018, S. 42.
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Wissens- und Erwartungsperspektive reaktualisiert“12 hätte. Charakteristisch für den Gesamttext ist damit auch der stets entfernte, neutral-evaluative point of view des Erzählers. In den primär deskriptiven Abschnitten werden neben Colin-Joels Alltags- und Medienpraktiken auch seine Freundeskreise beschrieben, für die er unterschiedliche Freundschaftsmotive formuliert. Als besonders bedeutsam akzentuiert er das Motiv der „Ablenkung“, welches er durch Freundschaft erfahren habe. Als Beispiel rekurriert er auf eine partnerschaftliche Trennungserfahrung, die er aber nur erwähnt und narrativ nicht einbindet. Als der Interviewer ihn daraufhin um Detaillierung bittet, kommt es zu folgendem Dialog: Textbeispiel 23 Colin-Joel (18): Einfach nur zusammen sein 01 I: 02 03 C: 04 I: 05 06 07 C: 08 09 10 11 12 I: 13 14 C: 15 16 17 18 19 20 21 I: 22 C: 23
Würdest du denn sagen, oder vielleicht mal so gefragt, wenn du sagst Ablenkung, ist das dann auch wichtig für Freundschaft? Ja, sehr wichtig. (.) Des isch auf jeden Fall sehr wichtig. Okay, kannst du dazu vielleicht noch etwas mehr sagen (..), fällt dir vielleicht ein Beispiel ein zu einer solchen Ablenkung, eine Geschichte, wo dich deine Freunde abgelenkt haben. (.) Das kannst du gerne erzählen. (.) Also neben jetzt die Trennung, wo ich des vorher gesagt hab, da also (..), da zum Beispiel auch die Wochenenden (4), des isch net groß die besondere Ablenkung oder die tolle Gschicht, sondern was ganz normales für uns Jugendliche aber (.) für mich sehr wichtig (.), da sich zu treffen und was miteinander zu macha. Verstehe ich, ja (.). Was ist DAAAA (.) das Wichtige oder warum sind solche Wochenenden bedeutsam für dich? Also ich denk einfach weil die Woche über, arbeitesch du und bisch der Firma und so (.), oder Schule, Studium isch gleich denke ich und da brauch man am Wochenende Leut (.), die einen einfach so mit sein (3) Schwächen nehmet, aus der Ehrlichkeit heraus (I: mhm). (4) Im Alltag sonst verrenkt mer sich ja immer a bissle um wer zu sein und in Freundschaft nicht. (.) Und von demher isch das eine Ablenkung und daher sind mir auch Wochenenden so wichtig und besonders obwohl sie eigentlich net jetzt was Besonderes sen. Verstehe. Und ihr da dann, in Clubs geht zum Beispiel? Joar (.) oder einfach nur zusammen sein, was wir machet isch net so wichtig eigentlich.
Wie zu sehen ist, versucht der Interviewer eine Detaillierung der postulierten Ablenkung auf eine narrative Art und Weise zu bewirken (Z04–06), was jedoch nur bedingt gelingt: Der Erzähler nimmt erneut Bezug auf die besagte Trennung, deren Umstände inhaltlich aber weiter als Nullstelle verbleiben. Stattdessen werden die wochenendlichen Treffen mit den Freunden (Z08) angesprochen, welche Ablenkung gerade durch ihr konstitutives Merkmal der Habitualität bewirken (Z19–20): Bedeutsam ist ex negativo, dass es sich gerade nicht um etwas Besonderes, um etwas Singuläres handelt,
12
Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 229.
Freundschaftsvorstellungen – Freundschaft als Raum des authentischen Selbstentwurfs
sondern dass die Freunde in einem alltäglich-normalisierten Setting zusammenkommen. Wie von allen Jugendlichen der Stichprobe wird als wichtig erzählt, dass mit den Freunden zunächst einmal gemeinsam Zeit verbracht wird. Nach der Rückfrage des Interviewers (Z12–13) kommt es zu einer selbstreferenziell aufschlussreichen Inbezugsetzung (Z15-Z20): In diesem Teil sticht ins Auge, dass der vom Erzähler gewählte Begriff der „Ablenkung“ das narrativ explizierte Erleben nur bedingt treffend beschreibt. Neben der gebotenen Zerstreuung wird ein besonderes Gefühl bezogen auf die Form der sozialen Interaktion thematisiert: Im Textbeispiel – das in Bezug auf das gegebene Modell von Welt exemplarisch für den Gesamttext des Erzählers stehen kann, da es noch weitere Beispiele dieser Art gibt – stehen sich die berufliche Arbeit und die freizeitliche Praxis mit den Freunden in der Form oppositionell angeordneter, semantischer Räume gegenüber. Der Raum der Freundschaft ist dabei jener Raum, in dem die Personen mit ihren „Schwächen“ (Z16), mit ihrem authentischen personellen Selbst, akzeptiert werden; der Raum der beruflichen Arbeit im Arbeitsbetrieb hingegen ist jener Raum, in dem sich die Personen „um wer zu sein“ (Z18) auf eine bestimmte Weise selbst verfremden (müssen). Der erzählte Alltag von Colin-Joel changiert zwischen Gefühlen des Selbst- bzw. Fremd-Seins, womit der wöchentliche Arbeitsrhythmus (raumsemantisch) als kontinuierliche und repetitive Grenzüberschreitung der Authentizität und Inauthentizität verstanden werden kann. Interessant ist, dass Erzähler und Interviewer gegen Ende des Gesprächs auf den Begriff des Verrenkens zurückkommen. Der Erzähler sucht nach einem Beispiel hierfür, worauf sich die folgenden Ausführungen in Textbeispiel 24 ergeben: Textbeispiel 24 Colin-Joel (18): Es wird erwartet, dass man sich dran hält 01 C: 02 03 04 05 I: 06 C: 07 08 09 10
Joar des isch// (4) Also mir fällt jetzt net so ein richtiges gutes Beispiel ein aber (3), in der Firma, wird erwartet dass wir des genau so machet wie’s uns gezeigt wird (.), an der Fräsmaschine zum Beispiel, des machsch du so und so heißt’s und es wird erwartet (.), dass man sich dran hält und des genau so macht. Ja. Sehr restriktiv? Au wenn’s anders au ging. (.) Oder man andere Ideen hät oder so. Und dann machsch du des eben so weil’s dazu gehört wenn du in der Ausbildung bisch. (..) Dass man sagt (.): „Jawoll“ (I: mhm, mhm) (.) und ja, des meinte ich als Beispiel jetzt mit Verrenken also. […] Also ich mein, ich arbeit da gern (.), aber des, genau meint ich mit Verrenken.
Die Ausführungen ermöglichen eine Ausdifferenzierung der bisherigen Analyse: Der Raum der beruflichen Arbeit kann hier in Bezug auf die postulierte Inauthentizität konkretisiert werden: Den Ausgangspunkt bilden die gegebenen Erwartungen, die an die Jugendlichen in ihrer sozialen Rolle als Auszubildende (Z07) gerichtet sind: Erwartet wird vor allem Folgsamkeit und Exaktheit, wobei eigene Ideen und die Kreativität unterdrückt werden (Z06). Auffällig ist, dass der Erzähler – das einzige Mal im gesamten Interview übrigens! – die wörtliche Rede gebraucht, um die im Raum der beruf-
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Normative Freundschaftskonzeptionen
lichen Arbeit gebotene Kommunikation rhetorisch mit einem militärischen Sprachgebrauch als einseitig-autoritär zu rahmen (Z08). Mit der Freundschaft in Opposition gebracht wird, dass die Menschen in den gesellschaftlichen Interaktionen der Alltagswelt im Sinne prädisponierter Skripte handeln und ihr Verhalten bewusst steuern (müssen). In Anlehnung an Rahel Jaeggi ließe sich von einem Authentizitätsverlust aufgrund eines zu einer sozialen Rolle13 gehörenden Rollenverhaltens sprechen: „Rollenverhalten, ein schematisiertes Verhalten, das dem Einzelnen durch soziale Rollen aufgeprägt wird, gilt in vielerlei Hinsicht als paradigmatischer Ausdruck von Selbstentfremdung.“14 Die Autorin diskutiert dieses Gefühl15 der Selbstentfremdung und des Authentizitätsverlusts „durch die fehlende (Möglichkeit zur) Aneignung von Rollen“.16 Ein Dissens besteht vor allem in Bezug auf das geforderte Verhalten, also jene „Teile der persönlichen Fassade […], die dazu dienen, uns die Rolle anzuzeigen, die der Darsteller in der Interaktion zu spielen beabsichtigt.“17 Das Thema eines inauthentischen Rollenverhaltens im Alltag, für welchen die Freundschaft einen symbolischen Ort der ‚Echtheit‘ bietet, ist ein häufiger Gegenstand der Erzählungen der Jugendlichen. Wahlweise bildet die berufliche Arbeit, die Schule oder auch das Elternhaus das Gegenstück zur Freundschaft, welches in Bezug auf die Verhaltensweisen und das Gefühlsempfinden der Jugendlichen jeweils in der oben skizzierten Weise als inauthentisch semantisiert wird. Mit Blick auf die bereits dargestellten Fallbeispiele kann auf die erzählten Welten von Selim und Henriette verwiesen werden, deren lebensweltliche Freundschaftsentwürfe ganz wesentlich auf der
13 Für den Umfang, in dem der Begriff der Rolle in dieser Arbeit notwendig ist, genügt es, die Rolle in Anlehnung an Erving Goffman ganz allgemein wie folgt zu verstehen: „Das vorherbestimmte Handlungsmuster, das sich während einer Darstellung entfaltet und auch bei anderer Gelegenheit vorgeführt oder durchgespielt werden kann, können wir ‚Rolle‘ (part) nennen“ (Goffman 2011, S. 18; Hervorh. i. Orig.). 14 Jaeggi 2016, S. 103. 15 Mit der Betonung des Gefühlsempfindens der Jugendlichen möchte ich auch klarstellen, dass nicht der Eindruck erweckt sei, ich wollte Kategorien wie Identität und Rolle hier als dichotome Entitäten diskutieren, also dergestalt, dass im Zuge der Präsentation etwas anderes als Identität vorgeführt würde. Ich schließe mich hier Erving Goffman an, der betont, dass das Rollenverhalten eben ein substanzieller Teil des identitären Selbst darstellt und die Präsentation eben Identität ist. Auch Rahel Jaeggi geht von keiner Dichotomie aus: „Die Differenz zwischen dem Ich und seinen Rollen, von der viele Rollenkritiker ausgehen, kann, meiner Rekonstruktion zufolge, nicht mehr aufgefasst werden als Differenz zwischen zwei Entitäten (Maske und wahres Ich), sondern nur als Differenz zwischen zwei Tätigkeitsformen: gelingender und nichtgelingender Aneignung“ ( Jaeggi 2016, S. 140). Ihre These ist also im Kern, dass Identitätsarbeit durch subjektives Entfremdungsempfinden unterbunden wird, was hier aber nicht weiter diskutiert werden soll. Das hier primär interessierende Modell ist auch nicht jenes der Rollentheorie, sondern jenes im Text von den Jugendlichen zeichenhaft konstruierte. Für dieses gilt: „Rollen sind künstlich, sie sind nicht identitisch mit dem, der sie spielt“ ( Jaeggi 2016, S. 109). 16 Jaeggi 2016, S. 104. 17 Goffman 2011, S. 25. Erving Goffman grenzt das Verhalten in Bezug auf die Erscheinung ab: „Der Begriff ‚Erscheinung‘ bezieht sich dabei auf die Teile der persönlichen Fassade, die uns über den sozialen Status des Darstellers informieren“ (ebd.).
Freundschaftsvorstellungen – Freundschaft als Raum des authentischen Selbstentwurfs
performativen Artikulation von authentischem Verhalten beruhen. Zum Ausdruck kommen „Konflikte zwischen dem Einzelnen als ‚allgemeiner Mensch‘ in seiner Rolle als Teil von Gesellschaften, Gemeinschaften, Organisationen und Gruppen und dem Einzelnen als unvergleichliches, singuläres Individuum“,18 das im Raum der Freundschaft ihren Ausdruck finden kann. 7.1.2
Authentizität als Ursprünglichkeit – wie in der Kindheit ‚echt‘ sein können
Ein zweites freundschaftsrelevantes Authentizitätsphänomen, das in den Texten der Jugendlichen auftaucht, soll nachfolgend anhand des Weltentwurfs der 19-jährigen Studentin Tina gezeigt werden. Obschon in Bezug auf die qualitative Signifikanz nicht in gleichem Maße gegeben wie das Authentizitätsphänomen der Echtheit und Originalität, stellt es mit der positiven Semantisierung der eigenen Vergangenheit und Kindheit gleichwohl ein virulentes Narrativ der jugendlichen Erzählerinnen und Erzähler dar. Für ihr medienwirtschaftliches Studium ist Tina in eine Wohngemeinschaft in eine baden-württembergische Großstadt gezogen. Ursprünglich komme sie aus einem kleinen Dorf auf der Schwäbischen Alb, welches man aber „nicht kennen“ müsse, da es „sehr ländlich“ sei. Die erzählte Welt des ländlichen Raums changiert im Text zwischen soziokultureller Normalität und postulierter Ereignislosigkeit: Ihre Freundschaften seien „nicht was groß Spezielles“ gewesen, sondern „ganz normale Freundschaften, wie sie Kinder und Jugendliche haben“. „Besäufnisse“ und andere exzessive Formen des Aufbegehrens, wie sie für das Jugendalter typisch seien, habe es zumindest bei den weiblichen Jugendlichen nicht gegeben. Sie konstatiert: „Bei uns ist das alles eher so ziemlich langweilig auch gewesen“ Ihr erzähltes Ich entwirft sie kohärent zu ihrem erzählenden Ich als eine bescheidene, empathisch und sozial kompetente Person: „Ich versuche, immer auch Rücksicht auf andere zu nehmen.“ Als Tina circa zur Mitte des Gesprächs vom Interviewer gebeten wird, ein freundschaftsrelevantes Erlebnis zu präsentieren, erzählt sie von den „Übernachtungswochenenden“ mit ihrer Cousine Carolin im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren. Tina erzählt, wie sie und Carolin beieinander übernachten, zusammen backen (und die Küche verunstalten) und ins Schwimmbad gehen. Eine besondere Rolle kommt dem Kinderzimmer von Tina zu, welches von den Freundinnen abgeschlossen wird. In der Erzählung manifestiert sich das Zimmer als von der Erwachsenenwelt nicht nur lokal abgegrenzter, sondern auch dezisional in Bezug auf die Privatheit exklusiver Freundschaftsraum, in dem die jugendlichen Kinder frei miteinander interagieren (können): Explizit dort wird „viel gelacht und gequatscht“ sowie gemeinsam „Quatsch gemacht“. Als
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Saupe 2012, unpg. (Hervorh. i. Orig.).
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der Interviewer hieraufhin bemerkt, dass sich die Kinder ihren „Privatraum gesucht“ hätten, nimmt die Erzählerin dies zum Anlass, über die damalige Zeit nachzudenken und jenen Erinnerungsstrom dann auch sprachlich-kommunikativ zu reflektieren: Textbeispiel 25 Tina (19): Der Moment des Ungezwungenen 01 I: Ihr habt euren Privatraum gesucht. 02 T: Wir haben einen Raum für uns gesucht und darin gespielt ja. (3) Wir waren einfach 03 so, einfach (.) so zusammen da drin, uns keine Gedanken gemacht, so (.), so waren 04 (.), losgelöst (.), ungezwungen als Kinder eben auch, (4). Wie wir sind. 05 I: Ja (.), war das typisch? 06 T: Denke ich schon. Das denke ich mir [sic], da denke ich mir manchmal das vermisst 07 man heute oder das vermisse ich heute, das hast du nur als Kind so, diese 08 Art von Leben, diese (.) ja (..), zwanglose Art, die wir da so hatten (3), sich 09 über nichts Gedanken zu machen, lachen, schreien (.), so Sachen eben. 10 I: Und heute ist das nicht mehr so? 11 T: Ich denke Freundschaft sollte sowas ermöglichen und eine gute Freundschaft tut 12 das auch (.), das hab ich, hab ich vorhin ja auch gesagt. 13 I: Ja. 14 T: Aber natürlich, Carolin und ich, wir sind heute auch keine Kinder mehr, sondern 15 eben ja,
Erwachsene
vielleicht noch nicht, nur juristisch (he)-16 I: Das// 17 T: =Volljährig (he). 18 I: Stimmt= ja. 19 T: aber Jugendliche und damit eben auf dem Weg so zum Erwachsenen und ich finde, um 20 jetzt etwas ernster zu werden, das ist auch so, dass eben die Freundschaften auch 21 nicht mehr diesen Moment des Ungezwungenen haben (.), sondern ja (..), klingt 22 jetzt blöd aber eben auch gezwungener werden (.), weil’s eben auch soziale 23 Konventionen gibt, an die man sich hält, halten muss anders als im Kinderzimmer.
Auffällig im ersten Teil der Antwort (Z02–04) sind zunächst die verschieden langen Pausen dieses evaluativ geprägten Abschnitts. Sie machen deutlich, wie sich die Erzählerin erinnert, sich autobiografisch rückbezieht, dabei innerlich monologisiert und die damalige Zeit im Kinderzimmer nachzuerleben scheint. Im Zuge der Präsentation ihres innerlichen Erinnerungsstroms arbeitet sie auch heraus, dass sich die Freundschaft damals und heute unterscheidet: Deutlich wird, dass sie jene Zeit in guter Erinnerung hat, da jene mit einer besonderen Art der Selbstwahrnehmung verknüpft ist. Diese wird zunächst als „ungezwungen“ (Z04) definiert, mit einem Authentizitätspostulat versehen (Z04) und an den Raum der Kindheit gebunden: Freundschaften der Kindheit gehen mit einer spezifischen Ursprünglichkeit einher, welche sich im Text synekdochisch im abgeschlossenen Zimmer der jugendlichen Kinder artikuliert. Die diesbezüglich erzählte Welt lässt sich modellhaft in Form eines Innen- und Außenraumschemas modellieren: Im Kinderzimmer, im freundschaftlichen Innenraum der Freundinnen, artikuliert sich die Welt der Kinder als eine unmittelbare Welt, welche sich empirisch im habituellen Spiel der Kinder manifestiert. Diese ist davon gekennzeichnet, dass sich die Personen eben „keine Gedanken“ (Z03) machen, sondern mit ihren Gefühlen und Instinkten (Z09), mit ihrer spezifischen Echtheit (Z20–21), wie
Freundschaftsvorstellungen – Freundschaft als Raum des authentischen Selbstentwurfs
sie Kinder qua Natur inkorporieren (Z04), miteinander interagieren. Draußen, außerhalb des Kinderzimmers, artikuliert sich die Welt der Erwachsenen als eine Welt, die von Regeln und sozialen Konventionen (Z22–23) sowie von Zwängen (Z21) determiniert ist: Soziale Rollen, wie sie Erwachsene inkorporieren (Z22–23), legen fest, wie sich die Personen zu verhalten haben. Der Welt der unechten, formellen und rationalen Beziehungen steht damit auch die Welt der echten, informellen und emotionalen Beziehungen gegenüber. Das Authentizitätsverständnis besteht im Sinne einer Ursprünglichkeit, da Kinder unreflektiert sind, unbedacht handeln und emotional sind: „Kinder gelten aufs Erste – und in vielerlei Hinsicht bzw. Zusammenhängen sicherlich zurecht [sic] – als unmittelbar und befangen, insofern als authentisch“.19 Dass die eigenen Freundschaften in der Kindheit auf diese Weise semantisiert sind, dass jene Unmittelbarkeit und Emotionalität positiv konnotiert wird und die Jugendlichen sich positiv und an jene ‚Zwanglosigkeit‘ erinnern, ist ein gängiges Narrativ der Jugendlichen. Natürlich werden jene Freundschaften der Kindheit nicht im Sinne vertrauensvoller Beziehungen der intimen Kommunikation, sondern vielmehr im Sinne affektiver Spielgemeinschaften erzählt. Auch werden sie aus heutiger Sicht nicht stets als ‚richtige Freundschaft‘ deklariert. Gemeinsam haben sie hingegen, dass die Jugendlichen – wie Tina – personelle Authentizität an das infantile Kindverhalten knüpfen. Signifikant ist der Wunsch, Emotionen frei und ohne Zwang veräußerlichen zu können, weshalb sich die Jugendlichen ausnahmslos positiv an diese Zeit zu erinnern scheinen. So beginnt zum Beispiel auch der 18-jährige Colin-Joel, als er zu Beginn des Gesprächs in einem offenen Erzählstimulus nach für ihn relevanten Freundschaftserlebnissen gefragt wurde, seine Kindheitserlebnisse zu thematisieren: Unter dem Topos „Wald-Zeit“ subsumiert er Kindheitserinnerungen, in denen er mit seinen Freunden in einem „kleinen Waldstück“ Piraten spielte. Insbesondere die sprachliche Rhetorik bestehend aus expressiv-positiven Formulierungen, auffälligen Symptominterjektionen und parasprachlichen Elementen wie einem häufigeren Lachen, das für das Gespräch mit ihm eher untypisch ist, hebt die erinnerte Zeit als positiv hervor. Semantisch steht sie mit der heutigen Zeit in Opposition, welche er später aufgrund der unmittelbaren, medialen (Kommunikations-)Praktiken der Menschen als unecht und inauthentisch rahmt (siehe hierzu auch das nächste Kapitel 7.1.3). Personelle Authentizität ist damit auch in seinem Text ein für einen bestimmten Zeitraum gegebenes, zeitlich begrenztes Privileg, das sich narrativ dann im Jugendalter auflöst: Ab diesem Moment erhalten „soziale Konventionen“ (Z22–23), wie es Tina fachbegrifflich präzise formuliert, Einzug, die die Freundschaft sukzessive transformieren. Auch kommen digitale Endgeräte, Kommunikationsmedien und social media hinzu, die die interpersonelle Kommunikation und den Umgang verändern. Die
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Hofer 2016, S. 136.
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‚authentische Freundschaft‘ der Kindheit, in der sich die Freunde „wie wir sind“ (Z04) gegenübertreten, grenzt sich nicht nur gegenüber den formalen Beziehungen der Erwachsenen ab; vielmehr wird ein systematischer Trend der Entfremdung über den Lebensverlauf postuliert: Jugendfreundschaften weisen die funktionalen Qualitäten von Erwachsenenfreundschaften auf, verlieren aber den Aspekt der Ursprünglichkeit, welcher der Infantilität inhärent ist. Freundschaften unter Kindern sind demgegenüber zwar sozial dysfunktional, sind nicht von interpersoneller Hilfe gekennzeichnet, dafür aber authentisch. Von der 17-jährigen Adile, die den Aspekt des ‚Selbst-Seins‘ ebenfalls umfänglich thematisiert, stammt die folgende Formulierung: Textbeispiel 26 Adile (17): Freundschaften verändern sich 01 A: 02 03 04
7.1.3
Freundschaften, sie verändern sich ja (.) (UUUH), tolle, sehr intelligente (he, he) Erkenntnis Adi (UAH) (I: ha, ha) und später, im Erwachsenenalter sind sie mehr auf das Leben bezogen und so aber (.) auch etwas Gezwungener sag ich mal.
Authentizität als Unmittelbarkeit – die erwünschte Oberflächlichkeit in der mediatisierten Welt
Ebenfalls unter dem Begriff der Authentizität zu diskutieren ist das Phänomen der inauthentischen Medienwelt und der problematischen, interpersonellen Kommunikation mittels digitaler Medien. Hierauf wurde im Zuge der vorangegangenen Kapitel bereits hingewiesen. Betont sei eingangs, dass es weniger darum gehen wird, wie die Jugendlichen Medien und digitale Endgeräte nutzen, wie sie mit ihnen im Rahmen der Freundschaft interagieren usw. Auch kann nur akzentuiert werden, welche Rolle, subjektive Bedeutung bzw. Wichtigkeit medialen Praktiken bzw. einzelnen kommunikativen Formen zukommt; denn hiervon wird im Zusammenhang mit der Freundschaft nur im Einzelfall erzählt (zum Beispiel von Selim oder Per) und nicht immer sind digitale Medien im Text als etwas Ereignishaftes gesetzt. In diesem Kapitel geht es vielmehr um einen spezifischen Entwurf der digitalisierten Medienwelt, um ein bestimmtes Weltmodell, das sich in den Texten der Jugendlichen im Zusammenhang mit der mediatisierten Kommunikation nun aber übergreifend artikuliert und insbesondere mit Blick auf social media signifikant ist. Es bietet sich an, hierfür bei der erzählten Welt von Colin-Joel zu verbleiben. Nicht nur können die von ihm in den vorangegangenen Abschnitten entworfenen Semantiken fortgeführt und detailliert werden; es lohnt sich auch, dieses Beispiel aufgrund seiner gesprächsanalytischen Besonderheiten sowie wegen der unterschiedlichen Orientierungszentren und Erzählebenen herzunehmen. Den Ausgangspunkt bildet die Bitte des Interviewers, ob Colin-Joel eine „Geschichte von Freundschaft“ erzählen könne, worauf diesem nach einer kurzen Phase des Nachdenkens aber keine eigene
Freundschaftsvorstellungen – Freundschaft als Raum des authentischen Selbstentwurfs
Geschichte einfällt. Stattdessen kommt ihm ein Freundschaftserlebnis seiner Mutter in den Sinn, wobei die Geschichte vom mütterlichen Freund Karl selbst erst kürzlich erzählt wurde, als dieser – vermutlich bei den eigenen Eltern; der Erzähler führt die Umstände nicht weiter aus – zu Besuch war. Daraufhin ergibt sich die in Textbeispiel 27 dargestellte, dialogisch strukturierte Geschichte, die natürlich auch dadurch interessant wird, dass mit Karl ein metadiegetischer Erzähler20 innerhalb der intradiegetischen Ebene auftaucht, was für den autobiografisch sich konstituierenden Text des Erzählinterviews eher untypisch ist. Textbeispiel 27 Colin-Joel (18): Freundschaft früher und heute. 01 C: (Ah) Ja, ich überlege mal (4). Also mir isch jetzt was eingefalla aber nicht von 02 mir, sondern von (.) meiner Mum, und das isch aber ne gute Geschichte zu 03 Freundschaft und so aber isch jetzt nicht von mir (.) (I: mhm), kann ich die auch 04 oder soll ich =die auch 05 I: Ja, ja. 06 C: erzählen (.), wenn des gut isch, ok. D/ (3) Also sie hat mir das auch 07 erzählt als kürzlich ein alter Freund von ihr da war bei uns zu Besuch (.), der 08 Karl. […] Und er hat dann erzählt, wie er// Also meine Mum hat ne Zeit lang in 09 Malaga gwohnt in Spanien (.) (I: aha), und sie isch dort mit ihrem damaligen 10 Freund, hat sie zusammen gwohnt. Und dann kam’s aber zum Streit zwischen denen 11 und da so elle Konten auf den glaufen sind, hatte sie kein Geld (.) (I: oh), ja 12 und er hat sie vor die Tür gesetzt mit ihrem ganza Sach, vom einen Tag auf’n 13 andern (.). Hat sie also rausgeschmissen =und net 14 I: (Oha) Verstehe, ja.= 15 C: auf die nette Art (3). Die Möbel und elles auch vor die Tür (.), mit allem Sach 16 wohl. Und sie hat dann bei ner Nachbarin dort, hat die gebeten telefonieren zu 17 können und hat dann (..)-18 I: War noch vor Smartphones. 19 C: (Ha, ha) Ja, allerdings (lachen) (..). Sie hat dann eben Karl angerufa, hier in 20 Deutschland ihren besten Freund. So (.), was sie macha soll weil sie hat halt koi 21 Geld gehabt und ihre Eltern wollt sie au net fraga (.) (I: mhm). 22 I: Wie gings weiter? (.) Hat dann// 23 C: Er hat sie dann abgeholt. (.) (I: aha) Also er hat dann halt erzählt, wie er sich 24 en Umzugswagen gemietet hat und isch no am selben Tag los um sie zu hola. (.) 25 Und er saß dann zwanzig Stunden im Auto, hat er erzählt (.)-26 I: Nicht schlecht. 27 C: Nach zwanzig Stunden war er da und hat sie eingepackt und die Möbel von ihr und 28 dann sind sie zurück. 29 I: (Mhm) (..) Nochmal zwanzig Stunden. 30 C: Ja (.), immerhin zu zweit. (.) Abwechselnd. 31 I: Stimmt. 32 C: Joar, so hat er sie (..), hat er sie nach Hause gebracht. 33 I: (..) Nicht schlecht. 34 C: Jo. 35 I: Würdest du dir das auch wünschen? (.) Also, dass deine Freunde das für dich
Vgl. Genette 2010, S. 163. Über eine metadiegetische Ebene verfügt eine Erzählung dann, wenn innerhalb der erzählten Welt eine weitere Erzählebene von einer Erzählinstanz aufgespannt wird; innerhalb der diegese also erzählt wird.
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Normative Freundschaftskonzeptionen
36 tun? 37 C: Jo. Auf jeden Fall, unbedingt. Aber (4). 38 I: Okay. Aber? 39 C: Ja, ich weiß net ob des heute noch so isch. 40 I: Ok, interessant, was meinst du damit, ob sich so ein Fall heute noch zutragen 41 würde oder (.) was (C: mhm) meinst du? 42 C: Joar, also mehr heute geht’s den Leuten mehr um sich und net um andere, so (..) 43 (I: mhm). Also man sieht des ja auch jeden Tag finde ich, wenn mer so in’s 44 Internet guckt, sag ich mal ganz einfaches Beispiel, Donald Trump, der wo jetzt 45 ja kürzlich gewählt worden isch. Sagt heute so und morgen so oder lügt 46 einfach im Wahlkampf rum, einfach die Unwahrheit sagen (.), und kommt damit 47 durch. Hier (.) Instagram, ??? [Geräusch, vermutlich wird mit dem Smartphone auf 48 den Tisch geklopft] (.) des isch eine heile Welt was da auf Sozialen Netzwerken 49 gepostet wird aber des entspricht net dem Wirklichen (.) (I: hm, hm, hm), 50 aber die Leute wollet’s. Die wollen des sehen, so. Viele Likes oder Freunde 51 auf Facebook, das wollet se. 52 I: Und? 53 C: Ja, und ich sag halt, das es halt daher net mehr die Freundschafta gibt wie bei 54 meiner Mum, wo Freunde so was macha. (.)
Semantisch sei zunächst auf die präsentierte Geschichte eingegangen, in der sich Freundschaft vor allem als instrumentelle Unterstützung artikuliert: Dass Freunde soziale Unterstützung leisten und Hilfe vor allem in heiklen, nicht-trivialen Problemsituationen bieten, dass sie auch bereit sein müssen, eigene Risiken und Gefahren auf sich zu nehmen, ist eine Sichtweise, die vor allem für die männlichen Jugendlichen charakteristisch ist. In diesem Sinne ist die Perspektive des Freundes in Textbeispiel 27 auf die andere Person gerichtet; die semantisch ableitbaren Merkmale der dort entworfenen Freundschaft sind Selbstlosigkeit, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit und Entschlossenheit. Nach Beendigung der Geschichte wird es interessant, da der Erzähler das raumzeitliche Orientierungszentrum wechselt und intuitiv eine semantische Opposition konstruiert, welche vom Interviewer weder intendiert noch erwartet wurde: Der Interviewer fragt, ob sich Colin-Joel eine solche Unterstützung von seinen Freunden ebenfalls wünschen würde (Z35–36), was dieser bestätigt und im Zuge zweier Reformulierungen mit einer Klimax rhetorisch steigert, um durch die sprachliche Überhöhung die Freundschaftsgeste semantisch zu verstärken und zu idealisieren (Z37). Sofort, d. h. signifikanterweise vor einer viersekündigen Pause, die er macht, folgt ein kontrastierendes „Aber“ (Z37), mit welchem eine Relativierung in Bezug auf die heutige Zeit zunächst vermutet (Z39), später unter Rekurs auf eigene Beobachtungen auch postuliert (Z53–54) wird: Heutige Freundschaftsbeziehungen unterscheiden sich von damaligen Freundschaften hinsichtlich der sozialen Verpflichtung zueinander: Die Perspektive der Freunde heute ist auf die eigene Person gerichtet; die semantischen Merkmale der Personen sind Selbstbezogenheit, Unaufrichtigkeit sowie fehlende Authentizität. Es handelt sich um Beziehungen, die qualitativ nachrangig sind. Letztlich dem pragmatischen Charakter der interpersonalen Gesprächssituation und der Rückfrage des Interviewers ist es geschuldet, dass der Erzähler auch gleich
Freundschaftsvorstellungen – Freundschaft als Raum des authentischen Selbstentwurfs
eine argumentative Struktur nebst Begründung für jene Merkmale heutiger Freundschaften formuliert: Jener Zustand lässt sich, so kann man dem Text entnehmen, hinreichend durch die heutigen mediatisierten Umgebungen erklären: Es folgen mit (der medialen Inszenierung von) Donald Trump (Z44), den überästhetisch stilisierten Instagram-Inszenierungen Jugendlicher (Z47–49) und quantifizierten Facebook-Kontakten (Z50–51) drei zeitgenössische Beispiele, welche sich in Bezug auf das Merkmal fehlender Authentizität paradigmatisieren lassen: Die Mittelbarkeit der Mediatisierung der heutigen Welt evoziert jene unechten und unwirklichen Erscheinungen, die die Inauthentizität zugleich normalisierten: Zu den Eigenschaften der Menschen auf social media zählt, dass Inauthentizität aktiv eingefordert (Z50–51) und – zum Beispiel in Form von mimetischen Likes – metonymisch honoriert wird (Z50). Während daher die Welt der Eltern als ein authentischer Raum zu sehen ist, der von Unmittelbarkeit, Echtheit und persönlicher Face-to-Face-Interaktion gekennzeichnet ist, manifestiert sich die gegenwärtige Welt als ein inauthentischer Raum, der von Mittelbarkeit, Künstlichkeit und der Oberflächlichkeit mediatisierter Interaktion geprägt ist. Im Text ist dieser Raum vor allem aufgrund der digitalen Medien Instagram und Facebook gegeben, wobei er von einer anonym bleibenden Mehrheit anderer Jugendlicher personifiziert und bewohnt wird. Colin-Joel kenne, so sagt er, sehr viele Jugendliche, die „sehr oberflächlich“ seien, denen es „nur um Likes“ gehe. An anderer Stelle im Interview benennt er sie als die Mehrheit. Ebenfalls geht er auf die semantischen Merkmale dieser Gruppe von „heutigen Jugendlichen“ ein. Deren Freundschaftsperspektive ist, anders als die der Freunde ‚früher‘, auf das eigene Selbst gerichtet; die semantischen Merkmale sind Selbstbezogenheit, Unaufrichtigkeit sowie fehlende Authentizität. Diese Tendenz, die Generation der digital natives, der man selbst angehört, auf diese Weise zu kritisieren, zugleich die mediatisierte, heutige Zeit als inauthentisch zu rahmen, findet sich in vielen Gesprächen. Es macht den Eindruck, als blickten die Jugendlichen gewissermaßen sehnsüchtig in die Retrospektive und wünschten sich jene Zeit der unmittelbaren, nicht-digitalisierten Vergangenheit zurück, welche in der eigenen Erinnerung als eine authentische Wirklichkeit manifest ist. Sehr interessant ist diesbezüglich auch das Interview mit dem 18-jährigen Per, der sich selbst als „heavy user von social media“ bezeichnet und im Gespräch angibt, „eigentlich alle Social Media-Angebote“ – der Erzähler nennt selbst: musical.ly, WhatsApp, Ask.fm, Facebook, Instagram, Snapchat – zu nutzen. Auch in seinem Text findet sich eine qualitativ signifikante Früher-heute-Opposition, die sich auf der Grundlage der gegebenen Mediatisierung anhand des Paradigmas der personellen Authentizität konstituiert. Auch hier spielt das Merkmal der Unmittelbarkeit der nicht-mediatisierten Kommunikation für die Bestimmung personeller Authentizität eine zentrale Rolle. Exemplarisch sei dies anhand des folgenden Ausschnitts gezeigt, in welchem der Erzähler die Anfänge von Instagram mit der Zeit der heutigen „Welt der Influencer“ vergleicht:
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Normative Freundschaftskonzeptionen
Textbeispiel 28 Per (17): Komische, unauthentische Leute 01 P: 02 03 I: 04 P: 05 06 07 08 09 10 11
Früher war Instagram so noch für Leute die Fotos gemacht ham von schönen Dingen (..). Ja. Das wäre? Hast du ein Beispiel? Von der Natur oder von dir und deinen Freunden, das Normale so, was (.), sowas eben (.) und dann ham die das hochgeladen und irgendjemand hat das geliked und heutzutage is Instagram einfach nur ne Plattform, die (..) von (.) gemachten Schönheitsidealen lebt und irgendwelchen komischen unauthentischen Leuten (.) (I: mhm), das is total komisch, Influencer die irgendein Stil kopieren und das (.) wird auch akzeptiert von den Leuten und (.) man kann da sagen dass sich die Plattform hier sehr zum Nachteil entwickelt hat auf jeden Fall, das is schon krass find ich.
Interessant ist zunächst, wie der Jugendliche einen Raum des Authentischen entwirft und bestimmten Bildinhalten konkrete Authentizität zuschreibt: Zu den „schönen Dingen“ (Z01–02) gehören jene alltäglichen, normalisierten Sachverhalte, die sich prinzipiell durch ihre Nicht-Medialität auszeichnen. Spannend ist, wie der Erzähler den Begriff der „Natur“ (Z04) verwendet. Er steht in Bezug auf die Unmittelbarkeit der ästhetischen Erfahrbarkeit mit der (Künstlichkeit der) heutigen Welt der Medien bereits per se in einem gewissen Spannungsfeld. Zu den „schönen Dingen“ gehören weiterhin Fotos mit den Freunden, welche allerdings in Bezug auf die bildhafte Darstellung und Inszenierung normalisiert waren, also das Alltägliche, das eben Nicht-Besondere abbildeten und vermutlich auch nicht bearbeitet und mit Bildeffekten – die Auswahl an zum Beispiel Augmented-Reality-Effekten auf Instagram ist riesig und sehr beliebt! – versehen wurden. Es handelte sich um Schönheit, die bildmedial eben nicht arrangiert, nicht konstruiert wurde, sondern aufgrund ihrer Echtheit gegeben war. Dieser Schönheit (welche durch die persönlichen Freunde repräsentiert wird) stehen künstlich etablierte Schönheitsideale gegenüber. Diese werden durch die Influencer explizit „gemacht“ (Z06) und von „unauthentischen Leuten“ (Z07) auf Instagram zeichenhaft repräsentiert. Das Dispositiv social media führt die formal-strukturellen und semantisch-inhaltlichen Aspekte also derart zusammen, dass sich jene künstlich etablierten und inauthentischen Vorstellungen von Schönheit durchgesetzt und normalisiert haben. Angesichts des Umstandes äußert der Erzähler selbst Überraschung und Unverständnis (Z08). Wie Colin-Joel konstatiert auch er eine Normalisierung jener Inauthentizität, die aber nicht nur akzeptiert wird, sondern von den Nutzerinnen und Nutzern auch aktiv eingefordert wird (Z09). Bei vielen Jugendlichen lässt sich eine solche Opposition einer inauthentischen Medienwelt, die der Beziehung zu den (engen) Freunden gegenübersteht, identifizieren. Spannend ist, dass sie alle eine bewusste Grenze ziehen und zum Beispiel zwischen Online-Beziehungen und echten Freundschaften unterscheiden, wobei sich Letztere, obschon sie selbstverständlich mediatisiert sind, narrativ vor allem im unmittelbaren, persönlichen Nahbereich verorten lassen. Der vordergründigen Anerkennung in Form von Likes steht das tiefere Bedürfnis nach Ausdruck und Anerkennung der authentischen Persönlichkeit gegenüber.
Freundschaftsvorstellungen – Freundschaft als Raum des authentischen Selbstentwurfs
7.1.4
Wechselseitig ermöglichte Vervollkommnung
Wie ist es zu erklären, dass sich die Jugendlichen in diesem hohen Maße auf das Authentizitätsideal berufen, dass sich in den Texten der wiederkehrende Wunsch artikuliert, ‚Selbst‘ sein zu können? Angeführt werden muss zunächst, dass jenem Wunsch eine entwicklungspsychologische Bedeutung zukommt: Der Begriff der Authentizität ist selbst eine Freiheitsvorstellung. Er beinhaltet, daß ich selbst den Entwurf meines Lebenswegs ausfindig mache und mich dabei auch gegen die Forderungen der äußerlichen Konformität zur Wehr setze.21
Das Konzept personeller Authentizität hängt immer, wenn auch auf verschiedene Weise, mit der Selbstbestimmungsfähigkeit und dem Gedanken der Autonomie des Individuums zusammen.22 Mit Blick auf die Lebensphase der Jugend muss es damit als eine Voraussetzung für die Erfüllung der Entwicklungsaufgaben gesehen werden, insbesondere dahingehend, dass ein eigenes Werte- und Normensystem entwickelt wird, dem eine, man könnte sagen, authentische Stabilität zugrunde liegt.23 Betont werden muss weiterhin, dass der „Aufstieg des Authentizitätsbegriffs […] eng an die Geschichte, Konzeption und Ethik des modernen Subjekts gebunden“24 ist. In individualisierten und insbesondere mediatisierten Gesellschaften ist „das authentische Selbst […] in der einen oder anderen Weise immer mit der Vorstellung der Identität und Autonomie von Personen, d. h. ihrer Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, sowie der Sinnhaftigkeit, Konsistenz und Konsonanz der Existenz verbunden.“25 Insofern personelle Authentizität also heute die Grundlage für die positive Freiheit bildet und zu den wichtigsten Parametern heutiger Lebensstile gehört,26 darf weder das zweifellos zu konstatierende Authentizitätspathos der Jugendlichen überraschen, noch ist es verwunderlich, dass das Konstrukt in den Texten der Jugendlichen höchst virulent ist und erzählerisch mit dem privaten Charakter der Freundschaft verbunden wird: Die dargelegten freundschaftlichen Authentizitätsphänomene zeigen sehr schön, in welch hohem Maße das Thema Freundschaft von den Jugendlichen als Quelle des authentischen Selbstausdrucks begriffen wird. In diesem Sinne bietet die Freundschaft den Jugendlichen eine wichtige soziopsychische Hilfe bei der Realisierung eines offenen Identitätsprojekts. Für dieses ist die Anerkennung und soziale Bestätigung durch die Freunde in besonderem Maße be-
21 22 23 24 25 26
Taylor 2018, S. 79. Vgl. Rössler, S. 103–110. Vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 34. Saupe 2012, unpg. Saupe 2012, unpg. Vgl. hierzu auch Reckwitz 2018, S. 275 sowie S. 293.
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Normative Freundschaftskonzeptionen
deutsam, welche als signifikante Andere als Spiegel der eigenen Authentizitäten fungieren. Im folgenden Textbeispiel erzählt die 17-jährige Sophie-Magdalena von dieser wechselseitigen Form der Spiegelung der eigenen Authentizität: Textbeispiel 29 Sophie-Magdalena (17): Ich würde vor mir weglaufen 01 I: Hast du vielleicht ein Beispiel von so einem Gespräch mit Lisa? (.) Dass du 02 vielleicht (ähm) erzählen möchtest oder so? 03 SM: (.) Ich (äh) (3) halt warte, da fällt mir was ein: ich kann mich noch erinnern, 04 dass ich Lisa einmal so offen gefragt habe, was sie davon hält, dass ich (.) nach 05 dem Abi nach Hamburg gehen will oder wollte. Und also\\ Also das war so, dass ich 06 dort halt also ich hatte überlegt, dort Journalismus, genau Journalismus zu 07 studieren. (..) Und ich weiß noch wie ich sie gefragt habe, ich meinte so: 08 „Hey du, pass mal auf, ich würde dich gern was fragen und um eine ehrliche 09 Antwort bitten, okay?“, und sie meinte so (.), nachdem sie erstmal etwas 10 überrascht geschaut hat: „Ja, natürlich, klar, werde ehrlich sein!“. Ich habe 11 sie dann gefragt und sie hat meinen Entschluss doch auch kritisiert (I: mhm) (.), 12 ja, sie meinte so: „(OHMMM) (.) Okay, also pass auf: ich finde erstens, du 13 solltest es nicht machen und vor allem deswegen, weil es dir bei der Wahl, 14 und das weißt du auch, nur darum geht möglichst weit weg in eine möglichst hippe, 15 coole Stadt zu gehen wie man es eben auch in Medien bei anderen Jugendlichen 16 sieht.“ Und sie meinte dann eben auch, ich will, (.) (NEEE) dass ich eben also, 17 ich würde vor mir weglaufen mit der Entscheidung, weil mich das Fach nicht 18 interessiert und das alles nur eine Flucht wäre. Und wir haben uns dann 19 gestritten, ja (.) nicht wirklich hart so, aber haben schon gut rumdiskutiert, 20 wobei ich bei// Ja. (.) Ich war dann ein bissl ja, wütend, abends, ja das weiß 21 ich noch, lag ich sehr lange wach im Bett, habe nachgedacht was jetzt (.), was 22 (.), ja, was denkt sie über mich und so weiter, weil ich so beharrend war, 23 nicht auf sie eingehen, eingegangen bin und da auch nicht immer fair war, ja 24 (lachen) als wir gestritten haben. […] Letztlich musste ich dann eingestehen, 25 dass sie halt schon auch irgendwie Recht hat, zumal sie daneben auch Sach 26 aufgezählt hat, die ich so hier machen, (.) also das ich hier studieren könnte. 27 Das war dann so insgesamt auch einer der Gründe, weshalb ich erstmal gesagt hab 28 (..) ich reise und jobbe so jetzt erstmal bissel nach dem Abi und find’s 29 so heraus für mich wie ich weitermachen will danach.
Die Herausforderung heutiger Jugendlicher, dass „der individualisierte Mensch […] nicht nur selber ständig in Wahl- und Entscheidungssituationen gestellt, sondern auch mit immer neuen Plänen, Entwürfen und Entscheidungen anderer Menschen konfrontiert [wird], welche seine Biographie mehr oder weniger nachhaltig tangieren“27, wird in diesem Textbeispiel empirisch greifbar: So besteht zwischen den Freundinnen ein Dissens dahingehend, welche persönlichen Eigenschaften das Selbst von Sophie-Magdalena authentisch charakterisieren: Was macht das erzählte Ich aus: Ist das erzählte Ich von Sophia-Magdalena eine Person, die im Gange ist, ihr authentisches Selbst zu verfehlen, da sie ihre regionale Identität und ihre wahren Interessen und Gefühle leug-
27
Hitzler und Honer 1994, S. 307.
Freundschaftsvorstellungen – Freundschaft als Raum des authentischen Selbstentwurfs
net, wie es Freundin Lisa in der Geschichte behauptet? Andererseits scheint aber der Wunsch, „hipp“ (Z14) zu sein und ein angesagtes Fach in einer beliebten Großstadt zu studieren, ebenfalls ein Teil ihrer Person und des von ihr intendierten Selbstausdrucks zu sein. Wäre ein etwaiges Studium in Hamburg daher als Flucht und Entfremdung vor der Person oder als eine Hinwendung zu ihr zu interpretieren? In der Art und Weise des Erzählens, in der dialogischen Rede und Nähe zum erzählten Inhalt, wird der dissonante Gefühlszustand der Erzählerin sehr schön gespiegelt: Deutlich wird nicht nur ein Nacherleben des Erzählten, sondern auch, dass jener Identitätskonflikt noch nicht gelöst ist und die narrative Identität des erzählenden Ichs bis heute prägt. Spannend ist diesbezüglich natürlich das Ende der Geschichte, in dem die inkonsistente Situation nach wie vor besteht: Sie „reise und jobbe so jetzt erstmal“ (Z28), womit der Prozess der Selbstfindung, das „individuelle Orientierungsproblem“28 heutiger Lebensführung aufrechterhalten und in die erzählte Gegenwart verlängert wird. Die Vielfalt an Wahlmöglichkeiten, deren Sichtbarkeit durch digitale Medien hergestellt und potenziert wird (Z15–16), bringt ein latent unangenehmes Gefühl mit sich. Raumsemantisch gesagt bewegt sich das erzählte Ich fortwährend zwischen zwei semantischen Räumen, die beide die Aufschrift des Authentischen zu tragen scheinen. Geradezu sinnbildlich wird hierfür die soziale Praxis des Reisens gewählt, welche nicht nur jene räumliche Bewegung, sondern auch die authentizitätsstiftende Suche treffend repräsentiert: „Das spätmoderne Reisen ist eine durch und durch kulturalisierende und singularisierende Aktivität. Es handelt sich um ein aktiv kuratiertes Reisen, das auf der Suche nach den besonderen Orten und Momenten in ihrer Authentizität ist“.29 Zynisch möchte man fragen, warum sich das spätmoderne Subjekt, und insbesondere Jugendliche, dies antun? Vordergründig scheint die Strategie ständiger Selbstthematisierung und der Glaube an die Möglichkeit eines authentischen Selbstausdrucks durch die Freundschaft essentialistische Sicherheit zu vermitteln. Man könnte den Wunsch der Jugendlichen folgendermaßen zusammenfassen: „Wenn ich mir nicht treu bleibe, verfehle ich den Sinn meines Lebens; mir entgeht, was das Menschsein für mich bedeutet.“30 Hinzu kommt, dass jene Vorstellung personeller Authentizität stets mit dem Gefühlen der Selbstwerterhöhung einhergeht: Das Subjekt wird in seiner singularischen Komposition von Lebens- und Alltagswelt originell und wertvoll.31 Entscheidend für den Nutzen ist also das gute Gefühl, ist jene sinnstiftende Vorstellung, jenes imaginierte Ideal einer authentischen Vervollkommnung des Selbst. Im Rahmen der Freundschaftsforschung wurde hierauf bereits hingewiesen: Axel Honneth spricht von der „wechselseitig ermöglichten Vervollkommnung des eigenen Selbst“32, was
28 29 30 31 32
Hitzler und Honer 1994, S. 309. Reckwitz 2018, S. 321. Taylor 2018, S. 38 f. Vgl. Reckwitz 2018, S. 294. Honneth 2011, S. 234 (Hervorh. durch mich, KET).
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Normative Freundschaftskonzeptionen
als der zentrale Sinn der Freundschaft heutiger Jugendlicher gesehen werden könnte. Angelika Nötzoldt-Linden spricht in ähnlicher Weise von einem Funktionswandel der Freundschaft, welcher sich „von der sozialen Funktionalität zur personalen Funktionalität“33 hin vollziehe. 7.2
Freundschaftserwartungen – Verlässlichkeit und die Idealisierung der Vertrauenswürdigkeit
Werden die Jugendlichen danach gefragt, was für sie eine gute Freundschaft ausmacht, welche persönlichen Eigenschaften ein guter Freund bzw. eine gute Freundin mitbringen muss, so sticht eine Erwartungshaltung hervor: Nahezu übergreifend wird vor allem die Erwartung von Vertrauenswürdigkeit angeführt: Charakteristisch für die Jugendlichen ist das Streben nach vertrauensvollen und verbindlichen Freundschaftsbeziehungen, die insbesondere den durch die enge Bindung resultierenden gegenseitigen Verpflichtungscharakter betonen. In ihrer normativen Bedeutsamkeit artikuliert sich die Vertrauenserwartung in den Texten übergreifend und ungeachtet der soziokulturellen wie -demografischen Merkmale der jugendlichen Gesprächspersonen. Das Thema ist nicht nur innerhalb der narrativen, sondern auch auf der Ebene der beschreibenden und argumentativen Strukturen stets immanent. 7.2.1
Erzählte Vertrauensverstöße und Ereignisfolgen
Es sei kurz darauf hingewiesen, dass die Jugendlichen sprachlich meist nicht sehr präzise operieren: Sie sprechen häufig von Vertrauen in einem alltagssprachlichen Sinne,34 wenngleich semantisch nicht die vertrauensvolle Hinwendung, sondern die Vertrauenswürdigkeit der anderen Person gemeint ist. Im Folgenden wird stets vom gemeinten Sinn der Jugendlichen ausgegangen, in welchem sich Vertrauen meist im Sinne von Verlässlichkeit und Kontingenz einer positiven Erwartungshaltung auf das Zukünftige richtet. Das heißt also: Vertrauen ist dann die generalisierte Erwartung, daß der andere seine Freiheit, das unheimliche Potential seiner Handlungsmöglichkeiten, im Sinne seiner Persönlichkeit handhaben wird – oder genauer, im Sinne der Persönlichkeit, die er als die seine dargestellt und
Nötzoldt-Linden 1994, S. 213. Der Vertrauensbegriff wird in der alltagssprachlichen Verwendung häufig vage in Gebrauch genommen und es besteht dort nicht immer Klarheit hinsichtlich seiner Signifikate: Einen Überblick über die semantische Bandbreite bieten zum Beispiel Dernbach und Meyer 2005, S. 13–15 oder Laucken 2005, S. 116. Zum Vertrauensbegriff spezifisch im Kontext von Freundschaft vgl. Salisch, Oppl und Vogelgesang 2002, S. 135. 33 34
Freundschaftserwartungen – Verlässlichkeit und die Idealisierung der Vertrauenswürdigkeit
sozial sichtbar gemacht hat. Vertrauenswürdig ist, wer bei dem bleibt, was er bewußt oder unbewußt über sich selbst mitgeteilt hat.35
In diesem Zusammenhang sei damit auch präzisiert, wie Vertrauen im Folgenden verstanden wird, nämlich als interpersonales Vertrauen, das auf persönlichen Erfahrungen beruht und in eine andere Person gesetzt wird – und damit von zum Beispiel generalisiertem Vertrauen, welches in Bezug auf ein gesellschaftliches Funktionssystem (wie das demokratische System, das Rechtssystem etc.) besteht, abgegrenzt werden kann.36 Spannenderweise erzählen die Jugendlichen vom Thema Vertrauen sowie von Verstößen gegen eine gegebene Vertrauenserwartung bei der Präsentation ihrer Lebensgeschichte zunächst nicht. Kommt es im lebensgeschichtlichen Erzählteil zu Beendigungen oder Auflösungen von Freundschaftsbeziehungen, so ergeben sich diese meist aus dem Lebensverlauf, wo sie vor allem durch die Altersentwicklung der Jugendlichen erklärt und als normal gerahmt werden: Freundschaftsbeziehungen gingen dementsprechend „einfach so“ auseinander, was ja auch „ganz normal“ sei (Robin). Als Beendigungsgründe wird dann zum Beispiel angeführt, dass sich die Interessen verlagert hätten und keine Gemeinsamkeiten mehr vorlägen. Jene Auflösungen von Freundschaftsbeziehungen sind im Rahmen der Lebensgeschichten also zunächst nicht als ereignishaft im narratologischen Sinne zu werten. In den späteren Interviewphasen kommt dem Thema dann aber eine zentrale Bedeutung zu: Verstöße gegen die Vertrauenserwartungen werden dann hervorgebracht, wenn die Jugendlichen im Zuge des freundschaftsgeschichtlichen Teils darum gebeten werden, frei von ihren Freundschaftserlebnissen zu erzählen. Interessant ist, dass viele der Jugendlichen, wenn sie in einer offenen Frage nach relevanten oder bedeutsamen Freundschaftserlebnissen gefragt werden, intuitiv die Geschichte einer gescheiterten Freundschaftsbeziehung auswählen – „also Fake-Friendship ist mir zuerst eingefallen, damit würde ich beginnen zu erzählen“ (Kerstin). Die relative Bedeutsamkeit des Vertrauensverstoßes für die Jugendlichen zeigt sich dann in den konkreten Ereignisfolgen, die sich in den Geschichten ergeben. Der 17-jährige Gymnasiast Per erzählt ausführlich, wie seine beste Freundin ihn hinter seinem Rücken schlechtmacht, intime Details bezüglich seiner partnerschaftlichen Beziehung verrät und ihn gleichzeitig hierüber belügt, was, so der Erzähler, insgesamt „ein ziemlich großes Drama“ gewesen sei. Im Anschluss wird die Freundschaft der Jugendlichen von Per beendet. Die 18-jährige Sophie-Magdalena erzählt, wie es zu einem Streit mit ihrer besten Freundin kam, da diese mit ihrem partnerschaftlichen Freund ein Verhältnis begann – „das war wirklich das Letzte von ihr, ich habe sie gehasst dafür“. Die 17-jährige Schülerin Li Kaiwen findet heraus, dass ihre beste Freundin darüber
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Luhmann 2014, S. 48. Vgl. für eine Einführung in die Vertrauensforschung Koller 1997, S. 13–26; zit. n. Schinkel 2002, S. 68.
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Bescheid weiß, wer über Instagram ein Fake-Profil von ihr veröffentlicht hat. Statt ihr dies aber mitzuteilen, beteiligt sich die Freundin daran, auf Instagram schlecht von ihr zu reden und sie „niederzumachen“. Es kommt zu einem klärenden Gespräch zwischen den Jugendlichen. Aspekte wie die Ausführlichkeit der Präsentation, die relative Nähe zum Geschehen sowie der Grad emotionaler Beteiligung der erzählenden Ichs machen auf der Ebene des discours deutlich, dass jene Erfahrungen als schwerwiegend empfunden wurden. Das Erlebte wirkt häufig noch in das Heute der Erzählzeit hinein. Auf der Ebene der histoire enden die Freundschaftsbeziehungen der Jugendlichen spannenderweise nicht prompt; die Ereignisse sind zwar stets von hohem Ereignisrang, allerdings raumsemantisch nicht sofort mit einer unmittelbaren Raumzerstörung bzw. mit irreversiblen Ereignisfolgen verbunden. So kommt es unter den Jugendlichen zu Streitgesprächen, sie reden für eine gewisse Zeit nicht mehr miteinander und wenden sich verärgert an andere Freunde, die im Plot dann als helfende Adjutanten fungieren und das erzählte Ich beim Versuch unterstützen, die „Freundschaft noch [zu] retten“ (Li Kaiwen), was partiell gelingt. Insgesamt scheint der Wunsch zu bestehen, bestehende Freundschaftsbeziehungen wenn möglich fortzuführen und auch bei Vertrauensverstößen an diesen festzuhalten. In den erzählten Passagen zeigt sich damit eine alltagsweltlich pragmatische Herangehensweise der Jugendlichen, die von den idealtypisch-idealistischen Wünschen der interpretierenden und argumentativen Passagen abgegrenzt ist. 7.2.2
Der Wunsch, vertrauensvolle Beziehungen zu führen
Die Erwartungshaltung der Vertrauenswürdigkeit dominiert in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht schließlich in der dritten Interviewphase, in der die Jugendlichen in nicht-narrativer Form explizit nach ihren Erwartungen bzw. szenarisch nach relevanten Beendigungsgründen gefragt wurden. Ein gutes Beispiel für eine weitere Ausdifferenzierung der Erwartungshaltung der Vertrauenswürdigkeit bietet das folgende Textbeispiel der 17-jährigen Sophie-Magdalena: Textbeispiel 30 Sophie-Magdalena (17): Weil sie mir nie schaden würde 01 I: Vielleicht kannst du dann einmal ganz generell sagen (.) (ähm), was für dich eine 02 Freundschaft ausmacht also was besonders wichtig ist (.) für dich und (..) 03 ja, also wir hatten es ja vorher schon davon aber nun nochmal GRUNDSÄTZLICH 04 gefragt sozusagen. 05 SM: Also das wichtigste überhaupt ist für mich Vertrauen (.), würde ich auf jeden 06 Fall in den Mittelpunkt meiner Freundschaftsdefinition (he) rücken (.) (I: mhm) 07 das// Ich find’s ganz zentral, dass ich ihr, wie das also bei ihr auch IST tat08 sächlich, alles guten Gewissens anvertrauen kann, ja (.) weil (I: mhm) ich weiß, 09 dass sie es für sich behält und (3), ja, sie an mich denkt und mir nicht schadet, 10 mir au nie schaden würde, denn das geht gar nicht.
Freundschaftserwartungen – Verlässlichkeit und die Idealisierung der Vertrauenswürdigkeit
Die Antwort der 17-jährigen Erzählerin kann dahingehend, was inhaltlich an Semantik vermittelt wird, als qualitativ repräsentativ bezeichnet werden. Werden die Jugendlichen nach den wichtigen Eigenschaften von Freunden gefragt, so wird wie von Sophia-Magdalena intuitiv das Thema Vertrauen zur Sprache gebracht. Darauf, dass die Vertrauenserwartung die wichtigste Freundschaftserwartung von heutigen Jugendlichen darstellt, ist in empirischer Hinsicht mehrfach hingewiesen worden: So weisen etwa die befragten Jugendlichen in der empirischen Studie von Margarita Azmitia und Angela Ittel dem „Verstoß gegen die Erwartung von Vertrauen und Intimität“37 sowohl bei der Beschreibung persönlicher Erlebnisse als auch bei den expliziten Erwartungen an enge Freunde die höchste Bedeutung zu.38 Die empirische Tendenz, ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Eltern anzustreben39 oder bei der Liebes-Partnerschaft eine vertrauensvolle Beziehung als konstitutiv anzusehen40, setzt sich daher auch innerhalb der Freundschaft fort. Charakteristisch für diese Arbeit ist, wie die Erzählerin die Vertrauenswürdigkeit exemplarisch plausibilisiert: Die freundschaftliche Vertrautheit bringt eine besondere Form informationeller Privatheit hervor, die eine spezielle Form der Verpflichtung umfasst. Zu dieser gehört konstitutiv, dass man persönliche Probleme, gute und schlechte Erfahrungen miteinander teilt.41 Synekdochisch manifestiert sich jene spezielle Form der Verpflichtung nicht nur bei Sophia-Magdalena als charakteristische Form des Anvertrauens von Geheimnissen (Z08), als spezifisch-intime Form der Selbstenthüllung, über welche die Freunde Stillschweigen zu wahren haben (Z09). Geheimnisse zu wahren wird von ihr, wie bei den Jugendlichen der Stichprobe,42 zu den wichtigsten Freundschaftserwartungen gezählt. Als problematisch erweist sich, dass die Annahme von Vertrauen eine gewisse Unsicherheit voraussetzt: „Das Vertrauen benötigt das Geheimnis, um sich wirklich als Vertrauen etablieren zu können.“43 Das Geheimnis wird von den Jugendlichen fast schon reflexartig genannt, wenn das Thema Vertrauen im Interview zur Sprache kommt. Das Narrativ Freunde müssen Geheimnisse für sich behalten scheint übergreifend als etabliertes Geschichtenmuster44 im kulturellen Wissen verankert zu sein und auch ungeachtet eigener Erfahrungen ihre (Ideal-)Vorstellungen von Freundschaft zu konstituieren. Interessant ist im Textbeispiel diesbezüglich, wie die Erzählerin eine sofortige Selbstreferenz herstellt und jene gebotene Verschwiegenheit in gleichem Zuge mit der Verletzlichkeit des eigenen Selbst korreliert (Z09–10) Azmitia und Ittel 2002, S. 108. Vgl. Azmitia und Ittel 2002, S. 108 f. Vgl. Leven und Utzmann 2015, S. 286–293. Vgl. Leven und Utzmann 2015, S. 293–302. Vgl. Rössler 2013, S. 3. Vgl. Argyle und Henderson 1990, S. 121 f. Schinkel 2002, S. 22 Zum Begriff des Geschichtenmusters in diesem Sinne vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 128 f. 37 38 39 40 41 42 43 44
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Normative Freundschaftskonzeptionen
und schwerwiegende Konsequenzen andeutet (Z10). Der auf die eigene Person fokussierte Wunsch, nicht verletzt zu werden, wird als Begründung formuliert. Verstöße gegen die Vertrauenserwartung werden, so kann man festhalten, von den Jugendlichen gerne sprachlich-emotional überhöht und rhetorisch als zentraler Beendigungsimperativ stilisiert, nicht aber notwendigerweise im freundlichen Alltagshandeln der Texte so realisiert. So wird zum Beispiel der von den Jugendlichen explizit meist unmittelbar mit der Auflösung von Freundschaft assoziierte Topos Geheimnisverrat in sechzehn Gesprächen nur einmal als eigene Erfahrung narrativiert. Vielleicht muss diese Ambivalenz von Erzählen einerseits und Begründen und Argumentieren andererseits dialektisch gedacht werden: In beiden Fällen scheint das Handeln der Jugendlichen – also das erzählte Handeln des erzählten Ichs in den anfänglichen Geschichten sowie das sprachliche Handeln des erzählenden Ichs in den späteren Argumentationen – vom Wunsch motiviert, eine Auflösung der Freundschaft möglichst zu vermeiden. Die gedachten, vertrauensvollen Beziehungen sind schließlich jene beständigen Beziehungen, in denen sich der Wunsch nach Anerkennung und einer personellen Authentizität imaginieren lässt, was besonders dann gilt, wenn sich dieser in der Vielgestaltigkeit heutiger Lebenswelten nicht realisieren lässt. Auf diesen Aspekt wird später noch einzugehen sein. 7.3
Freundschaftsästhetik – das Erleben einer intensiven Emotionskultur
Die bisher dargelegten Aspekte der Freundschaftsvorstellungen und -erwartungen der Jugendlichen machen deutlich, wie ernst sie die Freundschaft nehmen und welch hohe moralische Ideale sie an sie knüpfen. Mehrfach ergibt sich bei der Rezeption der Erzähltexte der Eindruck, als müssten diese Ideale ambivalent zu den erzählten Freundschaftspraktiken und dem Handeln der Jugendlichen verstanden werden. Auch wenn die Jugendlichen gebeten werden, davon zu erzählen, was sie mit ihren Freunden unternehmen und wie sie dies erleben, so scheint der Sinn der Freundschaft – vor allem bei den männlichen Jugendlichen (siehe dazu auch das Kapitel 7.4.1) – mitunter eher auf das hedonistische, affektive Erleben und auf Gratifikationen wie Zerstreuung und Spaß hinauszulaufen. Zumindest sind es jene Aspekte, die von den Jugendlichen häufig intuitiv als Erstes hervorgebracht werden, wenn sie spontan von ihren Freundschaftsaktivitäten erzählen, ohne explizit nach dem Sinn der Freundschaft gefragt zu werden. Bei allen Jugendlichen ist vor dieser Folie eine starke Gefühlswahrnehmung sowie ein tendenziell positives Emotionserleben zu konstatieren. Besonders deutlich ist dies im Fallbeispiel der 17-jährigen Alica zu erkennen. Die starke Gefühlswahrnehmung mit primär positiven Emotionen ist aber auch auf der korpusübergreifenden Ebene als ein zentrales Narrativ der Erzählungen der Jugendlichen zu werten. Typischerweise wird es auf zwei unterschiedliche Arten vermittelt: zum einen im Rahmen von
Freundschaftsästhetik – das Erleben einer intensiven Emotionskultur
Urlaubsgeschichten, die zu den beliebtesten Erzählthemen der Jugendlichen gehören, und zum anderen in kleinen Alltagsgeschichten, in denen sich die Jugendlichen (meist spontan) an ausgewählten Orten treffen, um miteinander Zeit zu verbringen. Exemplarisch hierfür sei noch einmal ein Textbeispiel des 20-jährigen Tomaž angeführt, das sich für diesen Zweck sehr gut eignet. Im Gespräch nennt er als Gratifikation der Freundschaft den Begriff der „Entspannung“, welchen er mit dem im heimischen Elternhaus erlebten „Stress“ kontrastiert (vgl. ausführlich das Kapitel 6.3.2.1). Der Interviewer fragt den Erzähler daraufhin, ob ihm ein Bespiel einfalle, das er spontan erzählen könne. Es ergibt sich die folgende Geschichte: Textbeispiel 31 Tomaž (20): Feiern und lachen 01 I: (Mhm) Ok. Fällt dir vielleicht noch ein Beispiel ein, jetzt spontan. Also wenn 02 du sagst Entspannung, als Begriff (.), was steht da sinnbildlich dafür, was du 03 mit Freunden machst? WAS repräsentiert das besten? 04 T: (4) (ÄHMMM) (4) Also zum Beispiel gestern. =Gestern 05 I: Ja.= 06 T: haben wir uns, also gestern war Training (.), haben (I: mhm) wir uns nach 07 dem Training einfach kurz getroffen, Rickard, Chrissie, sie ist aus meiner Klasse 08 (..), also =kenne ich 09 I: Ja, ok.= 10 T: daher. Sie, Rickard, Tom und ich, sind wir zu Burger King nach dem Training, 11 haben uns was geholt und ham das dann einfach so schnell aufm Parkplatz noch 12 gegessen. Er meinte so: „Ey, lass hier bleiben“, und ich so: „Jo, ok“. Und da 13 standen wir halt da, (SSS) (.) am Parkplatz direkt an der Autobahn, die Autos 14 sind vorbei gefahren und es war en HÖLLENlärm, im Grunde total 15 ungemütlich, Musik an, ey nix verstanden, wir uns fast net verstanden, total 16 unlogisch. 17 I: Ja. 18 T: Da also das zu essen. 19 I: (Mhm) Verstanden, ja. 20 T: Aber wir ham die ganze Zeit gelacht, uns erzählt (.), dumme Witze gemacht und 21 sowas eben (I: lachen), was Jugendliche tun eben, so, ne. (4) Also insgesamt, was 22 ich sagen wollt, es war einfach so WITZIG einfach, hat so viel Spaß gemacht und 23 das isch es eben, was ich mein mit Entspannung, das macht Freundschaft aus (ha): 24 (..) Zwei Stunden sinnlos an der Autobahn stehen, Musik hör’n (.), BURger essen, 25 Spaß ham und sich feiern.
Wie im Textbeispiel sind die Geschichten der Jugendlichen räumlich-topografisch an unterschiedlichen, jugendtypischen Orten und Plätzen – im heimischen Privatbereich der Wohnung, aber auch auf Sportplätzen, in Jugendhäusern, in der Natur – situiert. Diese sind typischerweise von der Öffentlichkeit und den Räumen der Erwachsenen abgegrenzt. Als semantischer Raum bildet das informelle Zusammensein damit auch stets eine Opposition zum formalisierten Alltag in der Schule und im Beruf. Wie in Textbeispiel 31 resultieren aus den alltäglichen Treffen der Jugendlichen, die von diesen erzählerisch zunächst normalisiert, also als etwas explizit Nicht-Besonderes gerahmt werden, dann bestimmte emotional-positive Momente. Diese kön-
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Normative Freundschaftskonzeptionen
nen zum Beispiel ironisch-amüsant, ausgelassen, in besonderem Maße gefühlsbetont oder – wie im Beispiel – situativ-komisch sein. Vermutlich erhalten sie dadurch ihre Erzählwürdigkeit und werden als Momente erinnert, die freundschaftlich bedeutsam sind. Von solchen Momenten scheinen die Jugendlichen gerne zu erzählen; sie formulieren mit einer besonderen Nähe zum Geschehen, etablieren einen gemeinsamen szenischen Vorstellungsraum und beteiligen mittels dramatischer und ausdrucksstarker Darstellungsformen das erzählte Ich unmittelbar an der Geschichte. Dies ist auch im Beispiel (insbesondere in Z10-Z16) zu erkennen, beispielsweise indem mittels eines typisch jugendsprachlich-expressiven Begriffsapparats emphatisch Begeisterung und Involviertheit zum Ausdruck gebracht wird. Die Partikel „ey“ (Z12, Z15) kommt etwa die kommunikative Funktion einer weiteren Steigerung zu.45 Charakteristisch ist die dargestellte Unmittelbarkeit des Erlebens, die sich aus jenen alltäglichen Momenten, in denen die Jugendlichen „Spaß ham und sich feiern“ (Z25), aus der Normalität, der Ereignislosigkeit – der Erzähler spricht im Beispiel von „sinnlos“ (Z24), was vielleicht aber eher im Sinne von absurd zu deuten wäre – ergibt. Unter Freunden bedarf es also keinerlei Anlasses, miteinander Spaß zu haben. Ein wichtiges Merkmal des alltäglichen Umgangs mit den Freunden ist stets das der Spontanität; konstitutiv für die Geschichten ist, dass sich jener Hedonismus meist unfreiwillig ergibt – „man hat keinen Plan mit guten Freunden, es ergibt sich einfach was Witziges“ (Tina). Die hier erwähnten Alltags- und Urlaubsgeschichten der Jugendlichen stehen exemplarisch für die hohe Emotionalität und Expressivität, die den Texten inhärent ist. In Teilen mag dies sicherlich dem methodischen Ansatz der Arbeit geschuldet sein, insofern das Erzählen Emotionen in besonderem Maße kommunizierbar macht. Gleichwohl ist das immer wieder dargestellte und thematisierte positive wie negative Emotionserleben auffällig, zumal gegenüber dem Interviewer durchaus auch privat und mitunter intim konnotierte Themen vermittelt werden, welche dann in Bezug auf das Gefühlserleben der handelnden Personen thematisiert werden. Einen Anhaltspunkt für eine Interpretation dieser Tendenz bietet Andreas Reckwitz: Er spricht von einem „grundsätzlichen Wandel der Emotionskultur“46 in der postmodernen Mediengesellschaft, welche von einer „Paradoxie von positiven und negativen Gefühlen“47 charakterisiert sei. Während frühere Gesellschaftssysteme von einer eher distanten Gefühlswahrnehmung und einer kontrollierten Emotionskultur geprägt seien, werde in heutigen, ästhetisierten Selbstentfaltungskulturen ein reichhaltiges emotionales Leben als Bestandteil eines gelungenen sozialen Lebens – das in dieser Hinsicht dann auch authentisch sei – gedeutet. Der Ausdruck und die Performanz jener Affekte spielen dabei eine entscheidende Rolle: „Das spätmoder45 46 47
Vgl. Bahlo u. a. 2019, S. 62. Reckwitz 2020, unpg. Reckwitz 2020, unpg.
Freundschaftsalltag – geschlechtertypische Praktiken und die verschiedenen Arten des Erzählens
ne Subjekt will nicht nur sich selbst verwirklichen, sondern will es anderen gegenüber auch zeigen, dass es ein authentisches Leben führt“.48 (Innerliche) Emotionalität muss damit zugleich aber wiederum in Bezug auf Sichtbarkeit und Anerkennung nach außen gesteuert werden. Charakteristisch für das spätmoderne Subjekt sei daher eine hohe Sensibilisierung sowie die Ausbildung eines Differenzierungsvermögens. Jene Sensibilisierung führe zu einer Gefühlsambivalenz; sie bedinge einerseits, dass die Jugendlichen intensive positive Momente erlebten (dies wurde im Fallbeispiel von Alica deutlich), während andererseits auch das negative Erleben spürbarer werde (dies wurde im Fallbeispiel von Tomaž angesprochen). Mit dieser bestehenden Ambivalenz sieht Reckwitz den Trend einer sich weiter ausdehnenden Emotionskultur, die heute aber nicht nur in den dispositiven „Erlebnisökonomien“49 sozialer Medien ihren Ausdruck finde, sondern sich auch in die sozialen Beziehungen der Subjekte überträgt. 7.4
Freundschaftsalltag – geschlechtertypische Praktiken und die verschiedenen Arten des Erzählens
Bei der Frage, wie die Jugendlichen von ihrem Alltag mit den Freunden erzählen, ist auf einen zentralen Unterschied hinsichtlich des Geschlechts der Erzählpersonen hinzuweisen, der sich bereits in der ersten Feldphase (vgl. Tabelle 5) andeutete und entsprechend schnell als qualitativ-valide, reproduzierbar und damit als signifikant nachgewiesen werden konnte. Wie nachfolgend gezeigt wird, ergab sich sowohl im Hinblick auf die Art und Weise des Erzählens als auch in Bezug auf den erzählten Inhalt der Freundschaftsgeschichten ein Unterschied zwischen den weiblichen und den männlichen Jugendlichen. Inhaltlich kann gesagt werden, dass Freundschaft von den männlichen Jugendlichen als ein sozial-kollektives, primär lebensweltlich situiertes Thema entworfen wird, während es von den weiblichen Jugendlichen stärker als ein individuelles und primär lebensbiografisch situiertes Thema erzählt wird. In sozialpsychologischer Hinsicht kann mit Blick auf die interpersonalen Funktionen der Freundschaft von einem Schwerpunkt der emotionalen Unterstützung bei den weiblichen Jugendlichen gesprochen werden, wohingegen bei den männlichen Jugendlichen die interpersonalen Funktionen kognitiver Unterstützung zu überwiegen scheinen.50
48 49 50
Reckwitz 2020, unpg. Reckwitz 2020, unpg. Vgl. zu den interpersonalen Funktionen in diesem Sinne Nötzoldt-Linden 1994, S. 115 f.
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Normative Freundschaftskonzeptionen
Abb. 11 Charakteristische Differenzen bei den Freundschaftserzählungen
7.4.1
Die lebensweltliche Konstruktion kognitiver Unterstützung
Die Spezifika der männlichen Jugendlichen lassen sich sehr treffend anhand des folgenden Textbeispiels aus dem Gespräch mit dem 17-jährigen Robin verdeutlichen. Robin hat gerade die Mittlere Reife beendet und eine Berufsausbildung zum IT-Systemelektroniker begonnen. Im nicht sehr narrativen Gespräch beschreibt er vor allem, was er in der Freizeit unternimmt sowie weshalb Freundschaft für ihn „eines der wichtigsten Sachen überhaupt“ sei. Textbeispiel 32 Robin (17): Chillen, Unsinn machen, ganz normal 01 R: 02 03 04 05 I:
Wir haben ein Ort, wo wir uns häufig treffen und (ähm) (.) das ist also das ist hinter einem Hochhaus hier in [Wohnort des Interviewten] und (äh) das isch so leicht versteckt man sieht es nicht gleich so ne Einbuchtung (I: mhm) und (.) hundert Meter weg isch Skatepark, Supermarkt wo man eben (3). Und da trefft ihr Euch?
Freundschaftsalltag – geschlechtertypische Praktiken und die verschiedenen Arten des Erzählens
06 R: Ja (3). 07 I: Und was passiert da so? =(lachen) 08 R: (Ähm) Also (..) (äh)= ja (uh) nicht besonderes eigentlich (ha) wir machen halt, 09 was miteinander (.) chillen, Unsinn machen, ganz normal und es ergibt sich 10 (ähm) eigentlich immer was (äh), witziges, was erleben, wo man sich dann drüber 11 schlapp lacht, letztens hatten wir was gekocht, so fertig Nudeln aus Packung 12 [sic] und dann hat sich ein Kumpel die über Schuhe gelehrt und wir ham uns alle 13 schlapp lachen müssen den ganzen Abend weil des Bild von dem (äh) (.), ja. 14 I: Es geht also auch darum, um Humor? 15 R Des isch// (.) Sie hatten// Was Sie vorhin meinten von wegen meine wichtigen 16 Erlebnisse oder so und des isch nich was (ähm) spezielles, so sondern (äh) eher 17 das gemeinsame, draußen treffen mit Kumpels, Sport machen, Spaß, normal.
Wie Robin tendieren die männlichen Erzähler dazu, vor allem von gemeinsamen Aktivitäten und Unternehmungen zu erzählen, die im Freundeskreis bzw. in einer Gruppe von mehreren Personen stattfinden.51 Dabei dominieren lebensweltliche Themen mit starkem Gegenwartsbezug, die häufig innerhalb der Freizeit situiert sind. Es ist weniger das Erleben in der Vergangenheit zentral, vielmehr sind es die Aktivitäten und Handlungen der gegenwärtigen Umwelt, die ihnen intuitiv in den Sinn kommen und erzählt werden. Zu den gängigen Narrativen zählt, dass die Jugendlichen „Unsinn machen“ (Z09), „Scheiß bauen“ (Colin-Joel), „dumme Sachen“ (Per) unternehmen und „was erleben“ (Z10), wobei es wichtig sei, „sich zu feiern“ (Tomaž) und dabei „für Stunden zusammen [zu] lachen“ (Per). Üblich ist, dass sich gewisse Grenzverstöße ergeben, welche in den Texten aber nicht als ereignishaft im narrativen Sinne gesetzt sind. Vielmehr sind sie dergestalt normalisiert, dass sie für (männliche) Jugendliche typisch und üblich sind. Manchmal werden diese Narrative von den Erzählern mit einer spezifisch männlichen Rahmung versehen: In einigen Fällen geschieht dies klar und explizit, etwa weil im discours ausschließlich oder überwiegend männliche Jugendliche an den gemeinsamen Aktivitäten beteiligt sind oder weil die handelnden Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht auf diese Weise handeln, also eine unmittelbare intratextuelle Kausalität vorliegt. In anderen Fällen ist die Semantisierung vielmehr eine implizit-männliche: So werden im Textbeispiel nicht nur eine Reihe eher männlich konnotierter Attribute genannt, es fällt auch auf, dass der Erzähler von „Kumpels“ (Z17) spricht und damit eine männliche Form der Adressierung verwendet. In diese Richtung deuten ließe sich auch die Formulierung „Sport machen“ (Z17), geht man davon aus, dass sich jene Aktivität im Jugendalter typischerweise gleichgeschlechtlich artikuliert. Gerade das soziale Feld des Sports ist für die männlichen Erzähler eine wichtige Größe, um das Thema Freundschaft zu verhandeln bzw. von Freundschaft zu erzählen.
Dieses Ergebnis zeigte sich auch in anderen empirischen Untersuchungen, zum Beispiel bei Azmitia und Ittel 2002, S. 108. 51
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Normative Freundschaftskonzeptionen
Entwicklungspsychologisch gilt dieses Feld als „für die geschlechtliche Sozialisation männlicher Jugendlicher von hoher Bedeutung“52 und kann als idealtypisches soziales Feld des Verhandelns von Konkurrenz und Wettbewerb als Teil des Konflikterlernens männlicher Peer-Groups gelten.53 Als Erzählthema wird es von fast allen männlichen Jugendlichen zumindest erzählt oder erwähnt, was durchaus nicht obligatorisch ist, da es nicht Gegenstand des Leitfadens war und auch sonst nicht durch den Interviewer eingebracht wurde. Die erzählten männlichen Freundschaftsbeziehungen sind in den Texten jedoch überproportional häufig sportlich gerahmt; die männlichen Jugendlichen lernen sich in Sportvereinen kennen und treffen sich nach der Schule zu sportlichen Aktivitäten. Auch die präsentierten Freundschaftsgeschichten nebst vielen der narrativ als ereignishaft zu wertenden Erlebnisse sind in diesem Feld situiert. Ein Vergleich der Textkorpora der weiblichen und männlichen Erzählpersonen legt die Vermutung nahe, dass die weiblichen Jugendlichen nicht minder häufig Sport auszuüben scheinen, die Freundschaft aber narrativ nur nicht auf dieser Grundlage entwickelt wird. Auch die Zugehörigkeit zu juvialen Szenen, die als „individualisierte Form der Vergemeinschaftung“54 bereits als ein zentraler Ankerpunkt der freundschaftsspezifischen Vergemeinschaftung der gegenwärtigen, posttraditionellen Jugend(generation) ausgemacht wurde, scheint gerade für männliche Jugendliche bedeutsam zu sein. Die in dieser Arbeit thematisierten Freundschaftsräume innerhalb der Lebensstilformationen von Rap, Dirt-Bike, Motocross oder Online-Gaming entsprechen mit ihren Szenekulturen und Distinktionsgewinnen dem Bedarf heutiger Jugendlicher, Freundschaft abseits konventioneller Sozialisationsagenturen selbst zu gestalten.55 Wenngleich insofern diese Szenekulturen als „selbstgewählte und selbstsozialisatorische Freiräume“56 genealogisch betrachtet zunehmend auch von weiblichen Jugendlichen angeeignet werden bzw. für diese als Vergemeinschaftungsform relevant sind,57 so ist hervorzuheben, dass sie in dieser Arbeit mit Ausnahme von Leonie fast ausschließlich von den männlichen Jugendlichen als freundschaftsrelevante Sozialräume thematisiert werden. Damit ist bei den männlichen Erzählern die Semantik sozialer Einbindung besonders hervorstechend, wobei narrativ nicht selten die Notwendigkeit herausgearbeitet wird, dass man sich gegenüber anderen beweisen und sich ihnen gegenüber abgrenzen müsse. Häufig wird von den männlichen Jugendlichen auch erwähnt, dass es am allerwichtigsten sei, überhaupt gemeinsam in der Gruppe Zeit miteinander zu verbringen, Meuser 2006, S. 166. Vgl. Krappmann 2010, S. 202. Hitzler und Niederbacher 2010b, S. 15 (Hervorh. i. Orig.). Vgl. hierzu – in ähnliche Richtung argumentierend – Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 49 f., 189 f.; ebenfalls: Hitzler und Niederbacher 2010b, S. 14. 56 Ferchhoff und Hugger 2014, S. 254 57 Vgl. Ferchhoff und Hugger 2014, S. 254 f. 52 53 54 55
Freundschaftsalltag – geschlechtertypische Praktiken und die verschiedenen Arten des Erzählens
wie es auch im letzten, evaluativen Abschnitt in Textbeispiel 32 (Z15–17) zur Sprache kommt. Oft stehen die Motive der Zerstreuung und Entlastung gerade bei den männlichen Jugendlichen im Mittelpunkt. Insgesamt deuten diese Ergebnisse auf eine eher nach außerhalb des Selbst gerichtete Freundschaftskonstruktion bei den männlichen Jugendlichen hin. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die gewählten Themenschwerpunkte der männlichen Jugendlichen, die sich zum Beispiel auf die eigene Freiheit und Unabhängigkeit von den Eltern beziehen, den zu erlernenden Beruf, den Erfolg im Sport, in der Schule und im Studium betreffen bzw. allgemein die eigene Zukunft thematisieren. Im Sinne von Angelika Nötzoldt-Linden58 ließen sich diese Ergebnisse insofern prinzipiell mit einem eher nach außen gerichteten Selbstkonzept erklären. Wenngleich eine solch starke Bestimmung angesichts der Breite der subjektiven Semantiken von Freundschaft problematisch erscheint (und mancher Befund freilich auch anders erklärt werden könnte59), so bleibt auffällig, dass die männlichen Erzähler eher die äußere Lebenswelt und deren (Um-)Welt fokussieren und die Freundschaft als etwas Äußerliches und Sozial-Kollektives erzählen. 7.4.2
Die lebensbiografische Konstruktion emotionaler Unterstützung
Bei den Erzählerinnen ist Freundschaft hingegen auf die Innerlichkeit der eigenen Personen bezogen: Erkennen lässt sich dies erstens daran, dass sie dazu tendieren, Freundschaft aus einer primär lebensbiografischen Perspektive zu erzählen. Anders als bei den männlichen Jugendlichen werden nicht die Aktivitäten und das Handeln im Hier und Jetzt der Gegenwart, sondern diejenigen der erzählten Vergangenheit betont. Der Wert der Freundschaft hängt häufig mit der eigenen Lebensgeschichte zusammen, in der beispielsweise die beste Freundin Beistand im Rahmen einer schwierigen Lebensphase leistet. Semiotisch-narrativ bringen diese Erlebnisse Ereignistransformationen in Gang, die mit Blick auf die Freundschaft in einer Änderung der Raumordnung resultieren und die Beziehung zum Beispiel in den Texten in eine ‚richtige‘ oder in eine ‚enge‘ Freundschaft überführen bzw. Freundschaft allgemein erst konstituieren. Erzählt wird von der Trennung der Eltern (Tina), vom Umzug der Familie (Sophia-Magdalena) oder von Fragen der eigenen kulturellen Identität (Adile). Gerade das Fallbeispiel von Adile, bei der die Freundschaft vor allem als Ermöglichung Vgl. Nötzoldt-Linden 1994, S. 109–113. Zum Beispiel müssen bei diesen Differenzen die Bedingungen der sozial-interaktiven Interviewsituation – bestehend aus einer (weiblichen oder männlichen) Gesprächsperson in der Rolle Jugendlicher und einem Interviewer in der Rolle des Wissenschaftlers – bedacht werden. Mit Blick auf das Phänomen sozialer Erwünschtheit könnten so etwa bei einem Gespräch mit einem männlichen Jugendlichen bewusst oder unbewusst bestimmte Erwartungen bedient werden, die im kulturellen Wissen – bezüglich der ‚Freundschaft unter Jungs/männlichen Jugendlichen/Männern‘– verankert sind. 58 59
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Normative Freundschaftskonzeptionen
e iner lebensgeschichtlichen Reflexion zu sehen ist, verdeutlicht in vielerlei Hinsicht auf eine idealtypische Art und Weise, wozu die weiblichen Jugendlichen tendieren, wenn sie von der Freundschaft erzählen. Wie bei ihr markiert der intime, vertrauensvolle Austausch über persönliche und privat konnotierte Themen den relevanten Übergang. Charakteristisch für die weiblichen Jugendlichen sind die sozial-kommunikativen Praktiken im Freundeskreis, die nicht nur quantitativ gegenüber den Texten der männlichen Jugendlichen überwiegen, sondern auch in hohem Maße positiv semantisiert sind. Der regelmäßige Austausch über persönliche und intim konnotierte Themen ist ein wichtiges Freundschaftsritual, das konstitutiv in den erzählten Alltag eingebunden ist. Freundschaft konstituiert sich für die weiblichen Jugendlichen auf der Grundlage interpersoneller Gesprächskontexte, die sich meist innerhalb einer engen und hochpersonalisierten dyadischen Freundschaftsbeziehung zu einer Person entfalten. Die Freundschaft ist das Resultat einer eher kommunikativen, als einer performativen sozialen Praxis. Sinnbildlich für die Erzähltexte der weiblichen Jugendlichen steht der Topos der besten Freundin, die als hervorgehobene Person einen besonderen Vertrautheitsstatus besitzt. Meist handelt es sich bei dieser Person um einen gleichaltrigen Peer, der häufig, aber nicht notwendigerweise das gleiche Geschlecht hat. Erzählt wird jedoch auch von der älteren Schwester (Adile) oder dem festen Freund (Leonie), die diese Rolle ebenso übernehmen können. Gleichwohl besteht eine klare Tendenz weiblicher Jugendlicher, den vertrauensvollen Austausch mit der besten Freundin als freundschaftliches Ideal zu entwerfen und in besonderem Maße normativ aufzuladen. Damit einhergehend werden konstitutiv aufeinander bezogene kommunikative Werte wie Ehrlichkeit, Vertrauen und Verständnis in besonderem Maße als relevant markiert. Mit der Tendenz weiblicher Jugendlicher, Freundschaft als enge, vertrauensvolle (Unterstützungs-)Beziehung zu entwerfen, gehen die Ergebnisse dieser Arbeit mit einer Reihe empirischer Arbeiten einher, die ebenfalls Vertrauen und emotionale Unterstützung als zentral für weibliche Jugendliche betonen60 und auf die Relevanz des persönlichen Gesprächs mit der besten Freundin hinweisen.61 Sie entsprechen damit der in der sozialpsychologischen Jugendforschung durchaus gängigen Auffassung der Freundschaftsbeziehungen unter Mädchen bzw. weiblichen Jugendlichen als ‚faceto-face-Freundschaft‘ und der von Jungen bzw. männlichen Jugendlichen als ‚sideVgl. diesbezüglich zum Beispiel Leven und Utzmann 2015, S. 287–289. Vgl. Kolip 1993, S. 174 f. Auf der Grundlage des durchaus umfangreichen qualitativen Datenmaterials schreibt sie zum Beispiel: „[…] vielmehr etablieren Mädchen eine Gesprächskultur, in der Alltagserlebnisse und -schwierigkeiten ausgetauscht und bei Bedarf auch schwerwiegende Probleme besprochen werden“ (S. 175). Vgl. zur Bedeutung der ‚besten Freundin‘ zum Beispiel auch Voigt 2015, insb. S. 102–238. Auch der Arbeit von Voigt ist diese hohe Idealisierung zu entnehmen; er konstatiert zum Beispiel, dass „ein regelrechter Kult um die beste Freundin entsteht, der sämtliche mediale und reale Interaktionsebenen erfasst“ (S. 421). 60 61
Freundschaftsalltag – geschlechtertypische Praktiken und die verschiedenen Arten des Erzählens
by-side-Freundschaft‘.62 Diese von Paul H. Wright entwickelte Typologie postuliert so zum Beispiel eine privat-intime, tiefe und vertrauensvolle Bindung bei weiblichen Personen, hingegen eine instrumentelle, aufgabenorientierte Freundschaft bei den männlichen Personen.63 Demnach wäre bei den weiblichen Jugendlichen die wechselseitige Konzentration aufeinander zentral, während bei den männlichen Jugendlichen die gemeinsame Aktivität und die Fokussierung auf eine abstrakte, dritte Entität – auf ein „die Freundschaft definierendes Element“64 – bedeutsam wäre. Freundschaft würde damit auch auf unterschiedliche Art und Weise artikuliert: Bei weiblichen Jugendlichen durch den Austausch von Vertrautheit über (physische) Intimität und bei den männlichen Jugendlichen durch den Austausch von Vertrautheit über indirekte Gesten.65 Margarita Azmitia und Angela Ittel weisen darauf hin, dass es männlichen Jugendlichen leichter fallen könnte, „mehrere Freundschaften nebeneiner zu pflegen und die Einsicht zu entwickeln, dass man mehr als nur einen engen Freund haben kann“.66 Bezüglich dieser Hypothese liefern auch die Befunde dieser Arbeit einige Hinweise. In diesem Zusammenhang ist etwa auffällig, dass die weiblichen Jugendlichen in ihren Erzählungen gerne eine strikte Grenzziehung zwischen verschiedenen Freundschaftsgraden bzw. -hierarchien vornehmen und nicht selten prononciert die jeweiligen Übergänge schildern, während solche Abstufungen von den männlichen Jugendlichen zumindest nicht in diesem Umfang thematisiert werden. Dass Freundschaft bei den weiblichen Jugendlichen verstärkt als dyadische Beziehung zu wenigen, dafür aber zu enger verbundenen Personen erzählt wird, könnte dadurch erklärt werden, dass weibliche Jugendliche dazu neigen, mehr von sich preiszugeben als männliche Jugendliche, und ihre Beziehungen „mit größerer Intimität und Ausschließlichkeit“67 pflegen. Nach den Autorinnen lernen weibliche Jugendliche „untereinander Gefühle von Eifersucht kennen und sie finden es vermutlich schwieriger, mit mehreren engen Freundinnen gleichzeitig umzugehen“.68 Tatsächlich taucht das Motiv der Eifersucht in den Textkorpora der weiblichen Jugendlichen mehrfach auf, während es bei den Erzählungen der männlichen Jugendlichen nicht in gleichem Maße nachweisbar ist. Der Freundschaftsalltag der männlichen Jugendlichen ist in den Texten pragmatischer und instru-
Vgl. Wright 1982, S. 14 f. In ähnlicher Weise auch Reinders 2004, S. 4 f. Einen Überblick zur sozialpsychologisch-orientierten Forschung in dieser Richtung bietet zum Beispiel Petra Kolip: Vgl. Kolip 1993, S. 84 f. 63 Vgl. Wright 1982, S. 15 64 Reinders 2004, S. 4. 65 Vgl. Reinders 2004, S. 5. 66 Azmitia und Ittel 2002, S. 107. 67 Azmitia und Ittel 2002, S. 107. Ähnlich: Kolip 1993, S. 134 f. Empirisch betrachtet muss natürlich ungeklärt bleiben, ob die befragten weiblichen Jugendlichen tatsächlich weniger, dafür aber engere und verbindliche Freunde haben als die männlichen Jugendlichen. 68 Azmitia und Ittel 2002, S. 107. 62
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Normative Freundschaftskonzeptionen
menteller akzentuiert und weniger emotional aufgeladen, als dies bei den weiblichen Jugendlichen der Fall ist. Angesichts dieser Ergebnisse scheint es als angemessen, eine kurze kritische Einordnung im Sinne der feministischen Kritik an der Freundschaftsforschung69 vorzunehmen. So hat etwa die relative Dominanz männlicher Personen im öffentlichen Raum in der Freundschaftsforschung ebenso die Auffassung einer geschlechtlich verschiedenen Freundschaft mitsamt unterschiedlichen Bedeutungen hinterlassen.70 Diese Auffassung kann so zusammengefasst werden, dass die Freundschaftsbeziehungen von weiblichen Personen hauptsächlich innerhalb des privaten, häuslichen Bereichs, die der männlichen Personen im öffentlichen Bereich ausgehandelt werden. Mit Erika Alleweldt lässt sich sagen: „In diesem Sinne führen Frauen und Männer unterschiedliche Freundschaften nicht aufgrund ihres Geschlechts, sondern aufgrund ihrer unterschiedlichen Gesellschaftspositionen“.71 Obschon Frauen heute in fast allen gesellschaftlichen Sphären in gleichem Maße wie Männer partizipieren (können) und daher auch die Möglichkeiten, Freundschaftsbeziehungen auf ähnliche Weise zu knüpfen gestiegen sind, und sich ebenfalls die männliche Exklusivität der freundschaftlichen Begriffssemantik weitgehend aufgelöst hat,72 so ist die hegemonial männliche Ordnung vielen objektiven gesellschaftlichen Strukturen – und damit auch den soziabilitätsrelevanten Orten der Lebenswelt von Jugendlichen – symbolisch inhärent. Zudem sind die Vorstellungen der Freundschaft von Frauen (bzw. von weiblichen Jugendlichen/ Mädchen) und Männern (bzw. von männlichen Jugendlichen/Jungen) im kulturellen Wissen verankert, sodass sie bestehende Stereotype auch implizit bestätigen (können). Vielleicht zeigen die Befunde damit auch, inwieweit diese Unterscheidungen noch in die heutige Gesellschaft hineinspielen (können), wenngleich im Rahmen dieser Arbeit freilich nicht geklärt werden kann, inwieweit die in der Sozialisation erlernten Geschlechterrollen und Geschlechterstereotype der jugendlichen Erzählerinnen und Erzähler in das Erzählen einfließen und daher für die unterschiedlichen Freundschaftskonstruktionen ausschlaggebend sind: „[…] women’s and men’s friendships differ in ways, that are interesting, persistent, and fully in keeping with traditional sex roles and socialisation patterns that define women as affective and socioemotionally oriented and men as instrumental and task oriented“.73 Wenn Freundschaft aber dazu geeignet ist, das sie prägende kulturelle Wissen ebenso zu reproduzieren wie die determinierenden sozialen Strukturen,74 so wäre mit Blick auf die vorgestellten Resultate
69 70 71 72 73 74
Zur feministischen Kritik einführend: Rössler 2001, S. 49–55. Vgl. Alleweldt 2013, S. 37 f. Alleweldt 2013, S. 112. Vgl. Bude 2016, S. 3. Wright 1982, S. 19. So konstatiert zum Beispiel Alleweldt 2016, S. 111 f. sowie S. 115 f.
Freundschaftsbegriff – nicht bloß diese Facebook-Freundschaften pflegen
durchaus eine implizite Fortschreibung konventionalisierter Stereotypisierungen und Rollenerwartungen in Bezug auf das Merkmal Geschlecht zu konstatieren. 7.5
Freundschaftsbegriff – nicht bloß diese Facebook-Freundschaften pflegen
Während sich der Freundschaftsalltag und die Freundschaftspraktiken unter den Geschlechtern unterscheiden, zeigt sich bei der Freundschaftsbegrifflichkeit ein einheitliches Bild. Typischerweise ist der Freundschaftsbegriff bei ihnen für gleichaltrige, peerbezogene Sozialbeziehungen reserviert, was durchaus gängigen Konventionen der Verwendung entspricht. Dem Forschungsstand entspricht aber auch, dass zu bestimmten Verwandten ein hinreichend freundschaftliches Verhältnis entwickelt wird.75 Auch in dieser Stichprobe findet der Freundschaftsbegriff im Kontext familiärer Beziehungen Verwendung: Mitunter ist es so, dass Geschwister (zum Beispiel bei Adile und Moritz) sowie Cousins und Cousinen (zum Beispiel bei Tina und SophieMagdalena) zu den besten Freunden gezählt werden. Auch der umgekehrte Fall, dass die Peerbeziehungen sprachlich als Brüder oder Schwestern familisiert werden – „das sind meine besten Freunde, Brüder so“ (Selim) –, ist empirisch gegeben. Auffällig ist die kontextspezifisch differente Semantisierung der beiden Verwandtschaftsbezeichnungen: Während der Begriff des Bruders, mit welchem (zum Beispiel bei Selim und Tomaž) ein guter männlicher Freund bezeichnet wird, vor allem die Verbindlichkeit und physische Hilfsbereitschaft akzentuiert, ist mit dem Begriff der Schwester, mit der die beste weibliche Freundin bezeichnet wird (zum Beispiel bei Adile und Per), ein besonders vertrauensvolles und empathisches Verhältnis gemeint. Einmal wird also die Funktion der physischen Unterstützung, einmal die der emotionalen Unterstützung betont. Mitunter wird der Freundschaftsbegriff auch dazu verwendet, das Verhältnis zu den Eltern (als freundschaftlich) zu beschreiben (zum Beispiel bei Moritz, Alica und Jannik). Uneindeutig sind die Ergebnisse in Bezug auf die intimisierten Beziehungen der Jugendlichen: Mal wird der partnerschaftliche Freund bzw. die Freundin zu den Freunden gezählt und in einem Atemzug mit diesen genannt (zum Beispiel bei Henriette), während andere Jugendliche sowohl sprachlich wie inhaltlich eine bewusste Grenze ziehen und die Verschiedenheit der Privatheitsbereiche betonen (zum Beispiel Jannik). Obwohl die Jugendlichen den Freundschaftsbegriff damit sprachlich relativ breit in Gebrauch nehmen und auf unterschiedliche Typen von sozialen Beziehungen anwenden – man könnte von einer relationalen Begriffsverwendung im Sinne von Graham
75
Vgl. exemplarisch Argyle und Henderson 1990, S. 86.
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Normative Freundschaftskonzeptionen
Allan76 sprechen –, wird dieser weder unreflektiert noch unkommentiert verwendet: Im offenen Erzählstimulus nach Freundschaft gefragt, erkundigen sich die Jugendlichen meist unmittelbar beim Interviewer, ob mit Freunden nur die „besten Freunde“, „alle Freunde“ oder „auch so normale Bekannte“ (Sophie-Magdalena) gemeint seien. Falls keine metakommunikative Interaktion erfolgt, wird das Maß an interpersoneller Verbundenheit auf der narrativen Ebene meist begrifflich ausdifferenziert: Dabei werden bei der Bezeichnungspraxis ganz verschiedene Termini verwendet, welche von Entlehnungen wie „Kollege“ (Selim) oder „Kumpel“ (Henriette) über Metonymien wie „meine Mädels“ (Tina) bis hin zu jugendspezifischen Anglizismen wie „Dude“ ( Jannik) oder Apokopen wie „Beschde“ (Adile) reichen und in unterschiedlichem Umfang die soziale Nähe der Personen spiegeln. Üblich ist auch die Differenzierung mittels eigens und spontan gebildeter Komposita, die mal mehr, mal weniger verbindlich markiert sind und von den Jugendlichen häufig erörtert werden. So unterscheidet der 20-jährige Tomaž zwischen „Vertrauensfreunden“ (Z02) und „Partyfreunden“ (Z03), die sich in Bezug auf die Alltagspraktiken und die gegebene Verlässlichkeit unterscheiden: Textbeispiel 33 Tomaž (20): Partyfreunde und Vertrauensfreunde 01 T: 02 03 04 05 I: 06 T: 07 08 09 10
Es ist eben auch so, man kann nicht nur Vertrauensfreunde haben im Leben. (.) Also nennen wir sie mal Vertrauensfreunde. Sondern es gibt halt auch Kollegen, wo du nur mit hart feiern gehst oder so. Partyfreunde sag ich mal (.), als Kontrast Das ist gut ja. (Mhm) Und mit Partyfreunden machst du vielleicht das eine, Party eben, also mit den Vertrauensfreunden natürlich auch aber die sind für einen eben auch noch MEHR, eben (.), wie Brüder manche, mit ihnen kann ich// Auf sie kann ich mich verlassen und ihnen vertrauen. (..) Den Partyfreunden (.), da muss man selber abstufen.
Festzuhalten ist, dass bei der Verwendung des Freundschaftsbegriffs stets die Frage miteinbezogen wird, was an sozialen Beziehungen wirklich wichtig ist und was eine Freundschaft ausmacht. Fast schon einen Gegenbegriff stellt daher die ‚FacebookFreundschaft‘ dar, welche gewissermaßen als Metapher für (einfache) Bekanntschaften bzw. für die Angehörigen des sozialen Netzwerks verwendet wird und als eigenständiger Topos der Jugendlichen von der Semantik ‚echter Freundschaft‘ eher abgegrenzt ist – „Sie meinen jetzt aber net facebook-friends oder? Schon richtige Freunde ne?“ (Moritz). Entsprechend dem Bild, welches die gegenwärtigen Jugendstudien zeichnen,77 kann man sagen, dass es den Erzählerinnen und Erzählern ein Anliegen ist, deutlich zu machen, dass sie großen Wert auf inhaltlich gehaltvolle, verbindliche und
76 77
Vgl. Allan 1979, S. 33–35. Vgl. exemplarisch Calmbach u. a. 2016, S. 475 oder Albert u. a. 2015, S. 30.
Freundschaftsstruktur – offene Haltungen und vielfältige Beziehungen
vertrauensvolle Beziehungen legen, weshalb sie die – vermutlich durch die technische Implementierung des Lexems auf Facebook bedingte – semantische Abwertung des Freundschaftsbegriffs (gerne) problematisieren. Die Angst, mediale Dispositive und die Welt der Online-Kommunikation führe zu einer Verflachung der Freundschaftskultur und zu einer Abwertung ihrer wichtigsten Werte, wird von vielen reflektiert und thematisiert. 7.6
Freundschaftsstruktur – offene Haltungen und vielfältige Beziehungen
Zu diesen Ergebnissen passt, dass die Jugendlichen auch bei der Anzahl ihrer Freundschaften konservativ verfahren und eher weniger Personen zu ihren engen Freunden zählen. Im Mittel erzählen sie von maximal fünf engen Freunden sowie von einem erweiterten Freundeskreis, welcher typischerweise zwischen 15 und 20 Personen umfasst. Die Nennungen entsprechen den üblichen Zahlen innerhalb der Freundschafts-78 bzw. Jugendforschung.79 Erwartungsgemäß sind die Freundschaftsbeziehungen der Jugendlichen häufig in Gruppen- und Cliquenstrukturen aus gleichaltrigen Peers eingebunden, wobei sich innerhalb dieser Strukturen die dyadischen Freundschaften konstituieren. Auch nach Auflösung der Cliquen mit Beendigung der Schulzeit – wovon häufig erzählt wird – bestehen die dyadischen Beziehungen meist weiter und reichen bis in die erzählte Gegenwart hinein. Die Cliquenstrukturen der Jugendlichen sind auf der Mesostruktur häufig in die performativen Lebensstilformationen juveniler Szenen eingebunden. Gemeinsam geteilte Interessen und ein verbindendes Identitätsgefühl bieten nicht nur soziales, sondern auch kulturelles Kapital in Form inhaltlich bedeutsamer Distinktionsgewinne. Mit Blick auf die Mediatisierung der Freundschaft ist auffällig, dass die Jugendlichen meist nicht explizit auf bestimmte Online-Umgebungen und social media Bezug nehmen und nur selten von ‚Online-Freundschaften‘ oder medial angeknüpften Beziehungen erzählen. Mit Ausnahme des 19-jährigen Selim, für den die mediatisierten Beziehungen im medial simulierten Sozialraum des Online-Gaming von wichtiger Bedeutung sind, verfestigt sich insbesondere mit Blick auf die narrative Analyse der Eindruck, dass sich die wichtigsten Freundschaftspraktiken wie ihre Bedeutungskonstitution vor allem im unmittelbaren physischen Umgang vollziehen. Dabei ist die Freundschaftskommunikation der Jugendlichen und der Grad ihrer Mediatisiertheit in einer Selbstverständlichkeit gegeben, dass diese von den Erzählerinnen und Erzählern im intuitiven Erzählen nicht thematisiert und erst im Zuge des bewussten
78 79
Vgl. Argyle und Henderson 1990, S. 86–88 oder Kolip 1993, S. 118–120. Vgl. Albert u. a. 2015, S. 30.
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Normative Freundschaftskonzeptionen
Rückfragens reflektiert und zum Beispiel mit Freundschaft in Verbindung gebracht wird. Wie eingangs dargelegt, wurden die Jugendlichen in der Phase des freundschaftsgeschichtlichen Erzählens gebeten, von ihren Freundschaftsbeziehungen im Lebensverlauf zu erzählen, wozu gehört, die Freundschaft über unterschiedliche Lebensalter hinweg zu reflektieren und zu evaluieren. In den meisten Fällen werden die eigenen Freundschaftsbeziehungen in der Kindheit bzw. in der frühen Jugend als instabile, wenig verbindliche, nicht vertrauensvolle Beziehungen verstanden und als „nicht richtige Freundschaft“ (Henriette) interpretiert – „Kindheit halt Freundschaft war da nur so, Spielkinder-Ebene eben, ist ja klar“ (Leonie). Die Erzählungen der Jugendlichen gehen damit einher mit der empirischen Freundschaftsforschung, welche die Vertrautheit und Verbindlichkeit ab Beginn der Pubertät betont.80 Dies wird von den Jugendlichen auch so erzählt; die Freundschaftsbeziehungen, die aus der heutigen Perspektive als relevant erzählt werden, wurden typischerweise im Alter zwischen zwölf und 16 Jahren geschlossen. Semantisch bedeutsame Freundschaftsbeziehungen aus der Kindheit bestehen zwar auch, auf der narrativen Textschicht gehen diese Beziehungen aber auch oft auseinander. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Freundschaften der Kindheit in besonderem Maße mit Authentizität, Echtheit und Aufrichtigkeit semantisiert werden und ihnen dadurch eine besondere Qualität zukommt. Von diesen Jugendlichen (genannt werden können Sophie-Magdalena oder Colin-Joel) wird die frühe Lebensphase allgemein positiv erinnert, wobei – dieser Eindruck drängt sich auf, insbesondere wenn man analysiert, wie erzählt wird: mit einer hohen Involvierung und mit überraschender Nähe zum erzählten Inhalt – Reminiszenzen im Akt des Erzählens gewissermaßen Sehnsuchtsmomente evozieren und eine Idealisierung der erzählten Vergangenheit bewirken. Übergreifend artikulieren die Jugendlichen, dass sie vielfältige Freundschaftsbeziehungen praktizieren, d. h. Freundschaften, die auf bestimmte situative Kontexte und Themen angepasst sind, sich dabei flexibel und durchaus wandlungsfähig zeigen: Das Spektrum dessen, worin sich die Vielfalt der Freundschaften der Jugendlichen artikuliert, ist weit gesteckt und reicht von den Formen der Alltagsgestaltungen und freizeitlichen Interessen (Tomaž, Henriette, Moritz) über persönliche Verhaltensmerkmale (Tina, Per) und die Gesprächsthemen (Moritz, Sophia-Magdalena, Adile) bis zu politischen Einstellungen (Kerstin, Benedikt). Im nachfolgenden Textbeispiel konstatiert etwa die 20-jährige Kerstin, dass sie und ihre Freundinnen nicht nur „unterschiedliche berufliche Interessen“ (Z09) zeigten, sondern teilweise auch „eine komplett andere politische Einstellung“ (Z10-Z11) hätten. Ihre Äußerungen sind dem folgenden Textbeispiel zu entnehmen:
80
Vgl. Argyle und Henderson 1990, S. 102 f.
Freundschaftsstruktur – offene Haltungen und vielfältige Beziehungen
Textbeispiel 34 Kerstin (20): Wir wissen, dass wir nicht enttäuscht werden 01 K: Was ich auch sagen muss, und was ich jetzt so für meine heutigen Freundschaften 02 sagen würde (.), es ist auch wichtig, dass man sich gegenseitig nich einengt (.) 03 (I: mhm), ich sag mal, der anderen Person auch Freiheit zugesteht. 04 I: Ja, ja. Hast du vielleicht ein Beispiel dafür (.) (K: ÄHMMM). Also wo oder wie du 05 das genau meinst (.), sozusagen. 06 K: (Ähm), zum Beispiel wenn ich jetzt an Becki denk (.): Nur einmal so gesagt: 07 Wir haben keine gemeinsamen Hobbys zusammen, wir haben uns für ein 08 komplett anderes Studium entschieden, ham also irgendwie so (..) 09 unterschiedliche berufliche Interessen auch (.) (I: mhm), wir haben (hn), das 10 klingt jetzt vermutlich komisch (.), sogar, eine komplett andere POLItische 11 Einstellung, Einstellung// 12 I: Ja. 13 K: Und (ähm) ja, wir sind trotzdem beste Freundinnen (.), weil wir wissen, dass wir 14 uns so verhalten können und (.) NICHT enttäuscht werden, ja. 15 I: (Mhm) Verstehe. 16 K: Nicht enttäuscht zu werden, das d/ (.) ist// (..) 17 I: Etwas sehr Wichtiges an Freundschaft? 18 K: Auf jeden Fall […].
Der Aspekt der politischen Einstellung fungiert gewissermaßen als semantischer Extrempunkt für die Verschiedenheit von Becki und Katrin, was im Text durch die Fokuspartikel „sogar“ (Z10) indiziert ist. Obschon die beiden Freundinnen also gegebenenfalls auf ein differierendes (kultur- und gesellschaftspolitisches) Wertesystem rekurrieren – was mit dem Thema der politischen Einstellung letztlich korreliert –, so ist es dennoch möglich, „beste Freundinnen“ (Z13) zu sein. Wie bei vielen der Jugendlichen scheinen die im Privatraum zu verhandelnden Gesprächsthemen der Freunde wenig festgelegt, stattdessen aushandelbar und variabel – und selbst ein hohes Maß an Verschiedenheit in recht intimen Fragen und bei kritischen Themen stellt kein notwendiges Hindernis für eine potenzielle Beziehung dar. Wichtig scheint es zu sein, sich persönlich wertzuschätzen, zugleich thematisch aber weitgehend offen zu sein: Textbeispiel 35 Sophia-Magdalena (17): Nicht enttäuscht zu werden 01 SM: Also ich finde (3) […] so hey, wir haben eine andere Meinung zu etwas und das ist 02 ok, weil das ist unsere Freiheit und wir sollten uns das zugestehen und statt 03 jetzt darüber zu streiten oder so (.), konzentrieren wir uns als Freundinnen oder 04 Freunde eher auf das, was uns ausmacht, WAS wir dann (.) (ähm) ja, gemeinsam 05 haben oder gemeinsam teilen an Interessen in der Freizeit oder so.
Die Freundschaftspraxis gestaltet sich dann pragmatisch anhand der vorhandenen Gemeinsamkeiten; sie formt sich dort, wo es gewissermaßen einfach fällt, aufeinander zuzugehen, sich auszutauschen und sich wechselseitig zu bestätigen. Dort, wo es zu Konflikten kommen könnte, hält man sich eher zurück und geht diesen im Zweifelsfall auch aus dem Weg. Insgesamt scheint der Wunsch zu bestehen, bestehende Freund-
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Normative Freundschaftskonzeptionen
schaftsbeziehungen wenn möglich fortzuführen und auch bei Vertrauensverstößen an diesen festzuhalten. Analog zu den aktuellen Jugendstudien lässt sich eine immanente Vermeidungsstrategie vermuten, die davon schützen soll, Freunde zu verlieren.81 Zu den unterschiedlichen Freundschaften, die die Jugendlichen pflegen, zählt auch, dass sie ihre Beziehungen qualitativ hierarchisieren und sowohl im Erzählen und Beschreiben als auch im Argumentieren stets darauf hinweisen, dass sich „das Ausmaß an Freundschaft unterscheidet“ (Sophia-Magdalena). In semantischer Hinsicht spannend sind die Wortschöpfungen der Jugendlichen, anhand derer sie jene qualitativen Differenzierungsgrade sprachlich entwickeln: Der 17-jährige Per wählt den Begriff von „Pausen-Freundschaften“ für jene Personen, mit denen man zwar Spaß in der Freizeit haben könne, denen man aber anders als engen Freunden nicht alles erzählen dürfe. Tomaž spricht von „Vertrauensfreunde[n]“, die sich erst über die Zeit hinweg herausstellen. Diese grenzt er gegenüber „Partyfreunden[n]“ bzw. „Spaßfreunden[n]“ ab, wobei er explizit betont, dass auch diese wichtig seien und es in Ordnung sei, „wenn jemand Spaßfreund ist“. Eine ähnliche Systematisierung verwendet Sophia-Magdalena: Sie spricht von „Gefühlsfreundschaften“, welche sie gegenüber ihren „Einfach-so-Freunde[n]“ abgrenzt. Gefühlsfreundschaften bestehen zu „maximal zwei, drei Personen“ und charakterisieren sich geradezu klassisch durch ein hohes Maß an Vertrautheit sowie durch wechselseitige intime Selbstoffenbarung. Den zweiten Kreis von Personen trifft man hingegen „einfach so mal“. Später im Gespräch konstatiert sie bezüglich jener Differenzierung dann: „[…] ich glaube, dass das heute normal ist und dazugehört“. Signifikant für die Erzählungen der Jugendlichen ist, dass sie ihre Freundschaften nicht nur übergreifend als solch differenzierte Beziehungen erzählen, sondern dabei auch stets die Werte der Akzeptanz, Offenheit und Toleranz hinsichtlich dieser personellen Verschiedenheiten betonen, was sie zugleich zeitgenössisch begründen: Wie Kerstin in Textbeispiel 34 betont, sei es eben gerade heute wichtig, dass man sich nicht „einengt“ (Z02) und „der anderen Person auch Freiheit zugesteht“ (Z03). Auch dass man „unterschiedliche Freunde für unterschiedliche Situationen“ (Colin-Joel) habe, wird akzeptiert und ist in den Texten positiv semantisiert. Es sind „unterschiedliche Qualitäten […], die jeden Freund, jede Freundin ausmachen“ (Tina). Hierin sind sich die Jugendlichen einig, die damit auch in Bezug auf ihre zukünftigen Freundschaftsbeziehungen wenig festgelegt scheinen und die Bereitschaft artikulieren, gerade in der Zukunft vielfältige Freundschaften zu leben. Auffällig – und vielleicht auch überraschend – ist das in den Texten manifeste (hohe) Reflexionsniveau, das bei vielen Erzählpersonen in Bezug auf das Thema Freundschaft zu erkennen ist. Während die Freundschaft im Erzählen gerne idealisiert und als hohes moralisches Ideal stilisiert wird, herrscht im Rahmen der Argumenta-
81
Vgl. Leven und Utzmann 2015, S. 355.
Freundschaftsstruktur – offene Haltungen und vielfältige Beziehungen
tionsstrukturen eher ein pragmatisches, alltagsnahes und lebensgefühlbezogenes Verständnis vor. Der 17-jährige Per äußert sich beispielsweise folgendermaßen: Textbeispiel 36 Per (17): Weil ich auch da was mitnehmen kann 01 P: 02 03 04 05
ich glaube wenn’s um Freundschaft geht erwarten immer alle die enge und ganz (..) bedeutungsvolle und nachhaltige Freundschaft (I: mhm) aber das is nich die einzige Freundschaft (ah), die mega wichtig is aber man muss eben au für so (.) Spielfreundschaften, sag ich mal, dankbar sein (I: mhja), denn die gehören au dazu. […] Weil ich auch da was mitnehmen kann.
Wie Per artikulieren die Jugendlichen den Bedarf, nicht nur strong ties, sondern auch weak ties als Freundschaftstypen auszubilden. Begründet wird dies wieder mit der eigenen Person (vgl. Z05), mit der Frage, was dem eigenen Selbst durch die jeweiligen Beziehungen als Wert zufließen kann. Mitunter hat man beim Lesen der Texte den Eindruck, als wären diese als individuelle Selbstbestätigungslieferanten zu sehen. Implizit klar ist den Jugendlichen damit auch, dass keine Freundschaft ohne Interesse bleibt sowie dass jene interessenslose Freundschaft, die sie sich imaginieren, die sie sich wünschen und von der sie in ihren Authentizitätsentwürfen so gerne erzählen, eine idealisierte Vorstellung bleiben muss.82 Diese Ambivalenz zwischen Erwartung, Wunsch, Vorstellung und praktischer Realität wird von einigen angesprochen und – wie hier von Per (Z01–02) – auch reflektiert. Versehen wird dies nicht mit Kritik, sondern vielmehr als normal und üblich konturiert und mit einem alltagspraktischen Realismus interpretiert.
82
Vgl. Vedder 2018 unpg.
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8
Heutige Freundschaftsbeziehungen
Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit war es, die gegenwärtigen Semantiken heutiger Freundschaftsbeziehungen Jugendlicher aus lebensweltlicher Sicht zu rekonstruieren und aus subjektiver Sicht zu verstehen. Weiterhin sollten die Befunde in ein (gesamt-) gesellschaftliches Bild eingeordnet werden, um so Erkenntnisse über die Werte und mögliche Veränderungen der Freundschaft aus einer ganzheitlichen Sicht zu gewinnen. Welche Veränderungen lassen sich nun schlussfolgern und welches normative Freundschaftsbild ist für die heutige Zeit zu konstatieren? Bevor auf diesen Aspekt eingegangen wird, sei die eingangs dieser Arbeit vorgenommene Gesellschaftsdiagnose mitsamt ihren Annahmen in aller Kürze in Erinnerung gerufen. 8.1
Im Stile einer kurzen Rekapitulation
Ausgangspunkt der Betrachtung war eine kurze Skizzierung der Werteorientierungen der gegenwärtigen ( Jugend-)Generation, die bereits eine Ambiguität und ein uneindeutiges Bild an Werten und Einstellungen andeutete. Die Analyse der zentralen Entwicklungslinien, d. h. der Individualisierung und der Mediatisierung der Gesellschaft ergab, dass sich die Freundschaft der Jugendlichen im Lichte der individualisierten Bedingungen umfänglich mediatisierter Sozialräume manifestiert. Dabei konnte eine ambivalente Bedeutungsproduktion bei der Freundschaft herausgearbeitet werden: Freundschaften werden als freiwillige, selbst gewählte Sozialformen zu obersten Fixpunkten Jugendlicher und zu einer der wichtigsten Quellen von sozialem und symbolischem Kapital. Es konnten sowohl Tendenzen der Zunahme als auch der Abnahme von Aspekten wie Vertrautheit, Verbindlichkeit, Interessenbezogenheit oder Dauerhaftigkeit ausgemacht werden; pointiert gesagt standen sich Annahmen der Erosion von Freundschaft und ihrer tradierten Sinngehalte einerseits und der Zunahme der Intimität aufgrund der Relevanz der Freundschaft für das jugendliche Subjekt und dessen Identitätsarbeit andererseits gegenüber. Vor dieser Folie hat die Thematisierung der sozialwissenschaftlichen Freundschaftsforschung gezeigt, dass Freundschaft typischerweise nicht sinnverstehend ergründet
Im Stile einer kurzen Rekapitulation
und die Subjektperspektive vernachlässigt wurde, was als wichtiges Forschungsdesiderat herausgearbeitet wurde. Methodologisch wurde das Desiderat durch den sozialphänomenologischen Zugang der Arbeit, durch ein differenziertes Verständnis von Freundschaft als Gefühl emotionaler Verbundenheit sowie mit der heuristischen Konzeption von Freundschaft als privater Raum bedient. Das Forschungsmodell und die leitenden Forschungsfragen wurden auf dieser Grundlage konkretisiert. Ausgehend von diesen Überlegungen wurde die Methode des Erzählinterviews ausgewählt und erarbeitet. Im Anschluss wurde das semiotisch-narrative Analysekonzept entwickelt und mit seinem begrifflich-heuristischen Instrumentarium vorgestellt. Zum Abschluss des methodologischen Teils wurden die Vorgehensweise und der Ablauf der Untersuchung im Sinne des Forschungsstils der grounded theory dokumentiert. Die Analyse der Erzählinterviews nach dem semiotisch-narrativen Ansatz ergab dann sechs zentrale Freundschaftssemantiken, die mit den gezeigten Charakteristika das empirische Feld in seiner semantischen Bandbreite beschreiben. Paradigmatisch ließen sich diese wiederum anhand von drei Freundschaftsfunktionen systematisieren, über welche zugleich ein Bezug zur individuellen Lebensgeschichte sowie zur subjektiven Wahrnehmung und Deutung der mediatisierten Alltags- und Lebenswelt hergestellt wird. Dies zeigt die folgende Abbildung 12:
Abb. 12 Freundschaftsfunktionen und Freundschaftssemantiken
Ausgehend von der Deutung des umgebenden Lebensraums hat der private Raum der Freundschaft die Funktion, mittels distinkter und interagierender Grenzziehungen eine sozialräumliche und gesellschaftliche Verortung vorzunehmen, wie es die Fallbeispiele von Selim und Moritz verdeutlicht haben. Wie die Fallbeispiele von Henriette und Alica gezeigt haben, kann Freundschaft aber auch stärker in psychosozialer Hinsicht funktionalisiert sein, wo sie auf das Wohlbefinden und die psychische Konstitution gerichtet ist, einen introversiven Ausgleich bietet und hilft, emotionale Spannungen und Stimmungen zu regulieren. Die auf die eigene Zukunft oder Vergangenheit
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Heutige Freundschaftsbeziehungen
gerichtete Funktion der Selbstauseinandersetzung und des Identitätsmanagements durch das ko-konstruktive, peer-bezogene Hilfesystem, das der private Raum der Freundschaft bereitstellt, wurde schließlich anhand der Fallbeispiele von Adile und Tomaž verdeutlicht. In Anschluss hieran wurden die normativen Freundschaftskonzeptionen der Jugendlichen – d. h. deren Erleben der Beziehungen mitsamt ihren Wünschen, Erwartungen und den gegebenen Strukturen der Freundschaft – vorgestellt. Die Jugendlichen erwarten Freundschaften, die in hohem Maße vertrauensvoll und verlässlich sind. Im mediatisierten Alltag gelebt werden aber vielmehr differenzierte Beziehungen, die sich je nach Kontext vielfältig darstellen, partiell flexibel gehandhabt werden, dabei aber zugleich hoch emotionalisiert sind. Als zentrale Erwartungshaltung und dahinterliegendes Metanarrativ der Freundschaftserzählungen der Jugendlichen – welche sich, hierauf ist hinzuweisen, in Bezug auf das Geschlecht der Erzählpersonen durchaus signifikant unterscheiden – erwies sich der Wunsch nach personeller Authentizität. 8.2
Charakteristika heutiger Freundschaftsbeziehungen
Die Frage nach einer möglichen Veränderung der Freundschaft soll nun anhand von sieben Charakteristika, welche heutige Freundschaftsbeziehungen hinreichend beschreiben, beantwortet werden. Die Charakteristika sind im Stile qualitativer Hypothesen formuliert, da sie zwar aus dem vorliegenden empirischen Material induktiv entwickelt wurden, in ihrem Abstraktionsgrad jedoch gleichwohl den Anspruch verfolgen, nicht ausschließlich für dieses Sample gültig zu sein. 1. Heutige Freundschaften bedingen differenzierte Erscheinungsformen Im Anschluss an die Soziologie der Freundschaft von Georg Simmel1 sowie die Arbeit von Friedrich Tenbruck2 möchte ich zunächst argumentieren, dass es sich bei den heutigen, mediatisierten Freundschaften um in hohem Maße differenzierte Beziehungen handelt. Mit Differenziertheit ist gemeint, dass die Subjekte heute verschiedene Freundschaftsbeziehungen pflegen, gegebenenfalls in unterschiedliche Freundeskreise eingebettet sind, die jeweils für sich auf eine Identitätsfacette bezogen sind und sich hier spezifisch sinn- und zweckorientiert konstituieren. In differenzierten Freundschaften rufen die Akteure unterschiedliche identitäre Ressourcen ab, wobei jede Beziehung ihrerseits auf Privatheit beruht. Im Sinne von Friedrich Tenbruck kann davon gesprochen werden, dass die Personen „Freunde für die verschiedenen Daseinsbereiche besitzen, den einen für die geistigen Interessen, den anderen für das geistliche Da-
1 2
Siehe Simmel 1999. Siehe Tenbruck 1964.
Charakteristika heutiger Freundschaftsbeziehungen
sein, den dritten für den politischen Austausch und so weiter“.3 Im Sinne von Georg Simmel bezieht sich Freundschaft nicht auf die „ganze Breite der Persönlichkeit“4, sondern vielmehr auf fragmentarische Identitäten, wie sie für die heutigen Subjekte charakteristisch sind: Es scheint, daß deshalb die moderne Gefühlsweise sich mehr zu differenzierten Freundschaften neigte, d. h. zu solchen, die ihr Gebiet nur an je einer Seite der Persönlichkeiten haben und in die die übrigen nicht hineinspielen.5
Im ausdifferenzierten Alltag schließen sich die Jugendlichen daher, wie die Ergebnisse gezeigt haben, auf der Grundlage potenziell ambiger Gegenstandsbereiche – dies können sein: Gesprächsthemen, persönliche Eigenschaften, gemeinsame Erfahrungen, gegenwärtige Interessen usw. – zusammen, welche sich unterscheiden und sich mitunter widersprüchlich zueinander verhalten können. Das Netzwerk an Freundschaftsbeziehungen kann in diesem Sinne als Assemblage verstanden werden, dessen einzelne Elemente mit ihren jeweils kontextspezifisch flexibel zu verstehenden privaten Räumen auf einen Teil des Selbst der Person gerichtet sind, sodass sie insgesamt ein kontingentes Ensemble verschiedener Bedeutungen, Praktiken und Handlungen ergibt, das Identität konstituiert und Selbst-Sein für die Jugendlichen ausmacht. Dieser Freundschaftstypus differenzierter Beziehungen bringt mit seinen fragmentarischen Identitäten zwei Konsequenzen mit sich, wovon die eine eher als positiv-erweiternd und bereichernd empfunden wird, während sich die andere als eher negativ-bedrückend und einschränkend artikuliert: Differenzierte Freundschaften ermöglichen es zuerst, heterogene Facetten der eigenen Identität auszubilden, neue soziale Rollen zu erproben und so in den privaten Räumen mit einem heterogenen personellen Selbst zu wirken – differenzierte soziale Beziehungen ermöglichen differenzierte Erscheinungsformen des Selbst. Der hohe Nutzen für die Identitätsarbeit und den psychosozialen Ausgleich, den diese Möglichkeit bereithält, kam vielfach zum Ausdruck und wurde insbesondere im Rahmen des Fallbeispiels von Henriette diskutiert. Theoretisch Anschluss bietet das von Helga Bilden entwickelte Verständnis der „Person als dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste“6 sowie das Begriffsinventar von Erving Goffman. Goffman spricht von Fassaden, womit das „standardisierte Ausdrucksrepertoire, das der Einzelne im Verlauf seiner Vorstellung bewußt oder unbewußt anwendet“7, gemeint ist. Es dient dazu, „regelmäßig in einer allgemeinen und vorherbestimmten Art […] die Situation für das Publikum der Vorstellung zu bestimmen“.8 Der
3 4 5 6 7 8
Tenbruck 1964, S. 454. Simmel 2000, S. 162. Simmel 2000, S. 163. Bilden 1997, S. 233. Goffman 2011, S. 23. Goffman 2011, S. 23.
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Heutige Freundschaftsbeziehungen
Begriff der Fassade ist in dem hier gemeinten Sinne weniger alltagsweltlich-formell zu denken, als Goffman dies tut, er ist vielmehr lebensweltlich-informell zu konturieren. Jene Fassade im Freundeskreis ‚Sport‘, die etwa Henriette als offene und mutige Person zeigt, entspricht genauso einer wünschenswerten Erscheinungsform wie jene Fassade, die sie als eher zurückhaltend und schüchtern zeigt und zum Beispiel gegenüber ihrer Freundin aus der Kindheit gelebt wird. Denn es geht in heutigen Freundschaften nicht darum, sich zu etwas Bestimmtem hinwenden zu können, sondern in differenzierten Beziehungen potenziell heterogene Erscheinungsformen anzunehmen, ohne dass dies der Person schlecht ausgelegt wird. Erving Goffman spricht hier von der „Darstellung“ (presentation) der Person, womit das Gesamtverhalten eben spezifisch in Gegenwart anderer Personen zu verstehen ist.9 Der heutige Jugendliche ist gewissermaßen gezwungen, für jeden Kontext eine andere oder neue Erscheinungsform bereitzuhalten, im Sinne Goffmans kann er aber seine bisherigen Erfahrungen und sein stereotypisches Denken anwenden und bestimmte Aspekte der Darstellung flexibel wählen. So ergeben sich an die jeweiligen privaten Räume der Freundschaftskontexte gebundene, flexible und dynamische Erscheinungsformen, die dialektisch mit der heute individualisierten Lebenswelt Jugendlicher verschränkt sind: Zum einen bringen jene Bedingungen die differenzierten Erscheinungsformen erst hervor, gleichzeitig begünstigen diese wiederum die Tendenzen der Ausdifferenzierung und Verinselung der Lebenswelt, die durch die Existenz verschiedener Erscheinungsformen und das ‚Management‘ des an sie gebundenen Ausdrucksrepertoires forciert wird. Differenzierte Erscheinungsformen zu praktizieren ist in modernen, individualisierten (Medien-)Gesellschaften also gewissermaßen eine notwendige Praxis. Dies gilt insbesondere, da sie, wie die Befunde gezeigt haben, zwei unterschiedliche Formen von sozialem Kapital implizieren: Gemeint ist einmal die hohe Vertrautheit und dauerhaftqualitative (Fremd-)Bestätigung, welche die Subjekte durch das bonding social capital enger Freunde (strong ties) erfahren, einmal die Anerkennung und kurzfristig-quantitative (Fremd-)Bestätigung, welche die Subjekte durch das bridging social capital lockerer Freunde und Kontakte (weak ties) erfahren. Beide Formen sind an differente Erscheinungsformen und Fassaden gebunden: Die letztere Kategorie entspricht nicht nur den in dieser Arbeit von den Jugendlichen als „Spaßfreunde“ oder „Partyfreunde“ betitelten Personengruppen, es handelt sich auch um die Welt der Facebook-Freunde, der Instagram- und Musical.ly-Follower und YouTube-Abonnenten. An dieser Stelle ist es unabdingbar zu verstehen, dass es sich bei diesen um gleichfalls sozialkapitalrelevante Gruppen handelt. Björn Vedder spricht daher bei „Facebook-Freunden“ auch von echten Freunden, da sie heutige Personen bei der Suche nach „quantitativer Anerkennung“ bestätigen.10 Die für social media charakteristische Selbstpräsentation im Sinne von ‚wie 9 Vgl. Goffman 2011, S. 23–25. 10 Vgl. Vedder 2018, unpg. Björn Vedder schlägt vor, nicht zwischen echten und unechten, sondern zwi-
schen intimen und wenig intimen Freunden zu unterscheiden.
Charakteristika heutiger Freundschaftsbeziehungen
möchte ich sein‘ entspricht daher nicht – wie in der öffentlichen Kritik postuliert und teils auch von der kulturkritisch angelegten, wissenschaftlichen Seite suggeriert – einer ‚unauthentischen‘ oder gar ‚falschen‘ Darstellung der Person. Vielmehr ist sie eben authentisch in dem Sinne, dass sie glaubhaft an eine Erscheinungsform gebunden ist. Wichtig ist es mir daher, dieser Praxis keine negative Konnotation zu verleihen: Die Freundschaft der Jugendlichen soll nicht als distanziertes, egoistisches und unempathisches Konstrukt verstanden werden. Auch wenn ich durchaus vermute – und glaube, dies empirisch auch gezeigt zu haben –, dass heutige Freundschaften vermehrt mit Kalkül und auf berechnende Art und Weise geführt werden, so darf dies nicht als etwas primär Kritisches gesehen werden – im Gegenteil: Denn die skizzierten Merkmale wie Offenheit, Reflexivität oder auch die heute gebotene Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit machen wichtige Werte der Aufgeschlossenheit, der Empathie, der Toleranz zur konstitutiven Bedingung, um das notwendige Vertrauen und die persönliche Vertrautheit für die privaten Räume innerhalb differenzierter Freundschaften aufbauen zu können. Und diese werden von den Jugendlichen nach wie vor konstruiert, praktiziert und hoch geschätzt und schließlich auch durch verschiedene Grenzziehungen geschützt – wie gezeigt werden konnte. Nicht nur scheint es daher unangebracht, von einer Entwertung der Freundschaft zu sprechen, auch ist es m. E. problematisch, derlei Veränderungen als Entfremdung zu begreifen oder eine Destabilisierung des Konzepts zu schlussfolgern. Vielmehr drücken sich in der differenzierten Erscheinung, in der Assemblage von teilidentitätsbezogenen Fassaden, jene soziokulturellen Anforderungen aus, die das Versprechen und die Forderung nach Verwirklichung der eigenen Wünsche – bei gleichzeitigem Nicht-einschränken- oder Nicht-beschränken-Wollen – in der heutigen Gesellschaft mit sich bringen. 2. Heutige Freundschaften unterliegen einem relativen Privatismus Die Diagnose differenzierter Erscheinungsformen des Selbst bringt ein Problem mit sich, welches in dieser Arbeit prominent durch das Metanarrativ personeller Authentizität indiziert ist: Plötzlich erscheinen Fragen der Echtheit, der Ehrlichkeit, der Unverfälschtheit und Aufrichtigkeit im eigenen Blickfeld und stören gewissermaßen das eigene Wohlbefinden. Die Erscheinungsformen der mediatisierten Alltagswelten stehen dem Wunsch entgegen, echt und authentisch zu sein – eine Anforderung, die in der heutigen Zeit nicht zuletzt auch medial in Form von social media, von Rundfunk, TV und allerlei Ratgebern immanent vermittelt wird. Dies ist die eher negativ-bedrückende und einschränkende Seite heutiger Freundschaften, die bereits angedeutet wurde. Wie die jugendlichen Subjekte auf diese Herausforderung reagieren, ist in dieser Arbeit gezeigt worden: zum einen mit einem relativen Privatismus, den die Jugendlichen in ihren Freundschaften praktizieren (müssen), zum anderen mit einer thematischen und inhaltlichen Offenheit. Mit Bezug zu Georg Simmel sei zuerst auf den relativen Privatismus eingegangen: Georg Simmel führt aus, dass differenzierte Beziehungen dann funktionieren, wenn
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Heutige Freundschaftsbeziehungen
„das Geheimnis des einen vom anderen gewissermaßen anerkannt, daß das absichtlich oder unabsichtlich Verborgene absichtlich oder unabsichtlich respektiert“11 wird. Er spricht diesbezüglich auch von einer „mit Diskretionen umgebenen Beziehung“12. Differenzierte Freundschaftsbeziehungen fordern, „daß die Freunde gegenseitig nicht in die Interessen- und Gefühlsgebiete hineinsehen, die nun einmal nicht in die Beziehungen eingeschlossen sind und deren Berührung die Grenze des gegenseitigen SichVerstehens schmerzlich fühlbar machen würde.“13 Freundschaften sind sehr privat, doch sind sie heute auf eine spezifische Art: Sie sind es nicht notwendigerweise der Themen wegen, die die Jugendlichen miteinander besprechen – dies mag zusätzlich der Fall sein, wenn diese intimer Natur sind, mit Scham oder Verletzlichkeit konnotiert sind usw. Heutige Freundschaften Jugendlicher sind auf eine andere Art als besonders privat anzusehen, da die spezifische Erscheinungsform der eigenen Person, die Art und Weise, wie man sich gibt, über welche Eigenschaften man verfügt, wie man denkt, wie man handelt usw., ebenfalls etwas Privates ist. Diese Informationen sind schützenswert, da sie an die jeweilige Erscheinung der Person gebunden sind. Sobald die Informationen die spezifische Grenze des (Freundschafts-)Kontextes überschreiten, sobald sie zum Beispiel in anderen Freundeskreisen erscheinen, zeigt sich die Verletzlichkeit heutiger Subjekte: Während bei den Privatheitsverstößen die Kategorie des Vertrauens verletzt würde, wird heute auch die Kategorie der personellen Authentizität potenziell kompromittiert. Geht man bei der Authentizität, wie es intuitiv erfolgt, zusätzlich von einer singulären Größe aus, so bliebe nichts anderes als eine ständige Enttäuschung. Kritisch gesehen werden müssen m. E. also jene Freundschaftsperspektiven, die davon ausgehen, dass sich Freundschaft durch eine authentische Form der Selbstpräsentation konstituiere. Es gilt, authentisch nicht im Sinne von echt, sondern vor der Folie unterschiedlicher Fassaden im Sinne von glaubwürdig zu verstehen. 3. Heutige Freundschaften sind offene Beziehungen In diesem Sinne artikuliert sich Freundschaft heute als eine auf situative Kontexte und Themen angepasste, flexible und durchaus wandlungsfähige Beziehung. Sie ist weniger stringent, verbindlich und konsistent, als zu Beginn der Forschung erwartet. Werte und Einstellungen erweisen sich dergestalt als fluide, dass sie den jeweiligen Anforderungen und Kontext gegenüber angepasst werden. Heutige Freundschaften Jugendlicher sind in inhaltlicher Hinsicht in besonderem Maße als offen zu verstehen. Hierzu gehört, dass man sich offen halten muss für das, was gerade gefordert ist, und dass es keine festen Themen gibt, die notwendigerweise Gegenstand der Freundschaft sind, dort gewissermaßen abgebildet sein müssen. Freundschaft ist als offen zu verstehen, sie 11 12 13
Simmel 2000, S. 166. Simmel 2000, S. 164. Simmel 2000, S. 163 f. (Hervorh. durch mich, KET)
Charakteristika heutiger Freundschaftsbeziehungen
ist dergestalt variabel, dass der gemeinsame Gegenstandsbereich stets neu hergestellt werden muss. Grundsätzlich möchte ich daher ebenfalls argumentieren, dass die Ausdifferenzierung der mediatisierten Alltagswelten und jene „Individualisierung der Lebensformen“14 die Herstellung von Gemeinsamkeit in der Beziehungspraxis erschwert, da sich die Lebenswelten, die Biografieverläufe, die normativen Orientierungspunkte Jugendlicher stärker voneinander abgrenzen, sie nicht immer ähnliche Sozialisationserfahrungen machen oder die gleichen Interessen teilen. Der intersubjektive Privatraum muss sich als das ‚Gemeinsame‘ stets wieder neu konstituieren, was inhaltlich die Herstellung eines gemeinsamen Gegenstandsbezugs erforderlich macht. Auf diese Entwicklung ist im Rahmen der Freundschaftsforschung bereits vereinzelt hingewiesen worden. So spricht Erika Alleweldt von fragmentierten Erfahrungswelten und konstatiert: Es sind vor allem die fehlenden bzw. fragmentierten Erfahrungswelten, die heutzutage die Herstellung von Gemeinsamkeiten in Freundschaften konterkarieren, weil sie weder ausreichend Überschneidungsfelder, noch miteinander geteilte Inhalte noch verbindliche Begegnungsfelder bieten. Vielmehr wird die Tatsache, dass jeder etwas anderes macht oder jeder sein eigenes Lebensprojekt verfolgt, zur Grundlage der Freundschaftserfahrungen […].15
Offenheit meint daher die ständige Suche nach Themen, nach Gemeinsamkeiten und Schnittmengen, nach Ähnlichkeiten und Interessen – und zwar lebenspragmatisch wie ideell. Auf der Ebene der alltäglichen Freundschaftspraktiken, soweit es etwa die Kommunikation über social media betrifft, hat dies die ständige Notwendigkeit der Versicherung von Freundschaft zur Folge. Der gewohnheitsmäßige Austausch von Kurznachrichten über WhatsApp ist etwa als gemeinsame Praxis habitueller Bestätigung des Gemeinsamen zu sehen; die Kommunikationspraktiken sind nicht trotz ihrer oberflächlichen, informationell orientierten „phatischen Kultur“16, sondern gerade wegen dieser von wichtiger Bedeutung. Als persönliche Eigenschaft ist Liberalität erforderlich. Die Analyse der Freundschaftserzählungen hat gezeigt, dass die Jugendlichen durchaus bereit sind, jene Freiheit auch ihren Freunden zuzugestehen: Sie akzeptieren, wenn ihre Freunde noch andere Freunde haben, in mehreren Freundeskreisen aktiv sind, und auch: wenn sie sich dort anders darstellen und hierfür Diskretion beanspruchen. Zumindest wird dies nicht negativ semantisiert; die Toleranz, die sie einfordern, geben sie im Sinne einer offenen Einstellung weiter. Sie sind übergreifend nicht der Meinung, man müsse stets die gleiche Meinung teilen und sich zwingend ähnlich sein. 14 15 16
Beck und Beck-Gernsheim 1994, S. 10. Alleweldt 2013, S. 233. Vgl. Miller 2008.
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Heutige Freundschaftsbeziehungen
4. Heutige Freundschaften sind in besonderem Maße reflexiv Vor dem Hintergrund der Differenziertheit, des relativen Privatismus und der Offenheit der Beziehungen wird deutlich, dass diese heute vor allem über den eigenen Subjektbezug strukturiert sind. Auf normativer Ebene ist dieser Aspekt in dieser Arbeit auch im hohen Maße von Selbstentfaltungswerten wie persönlicher Autonomie, Selbstverwirklichung und Freiheit, sowie in hedonistischen Werten wie Individualität, Abwechslung und Spaß zu erkennen, welche die Jugendlichen vor allem im Rahmen der narrativen Textsorte thematisieren. Die heutigen Freundschaften der Jugendlichen sind als Beziehungen zu verstehen, die sich in besonderem Maße auf das Subjekt rückbeziehen und dort reflexiv sind. Gemeint ist, dass Freundschaft verstärkt zum Gegenstand bewusster Aufmerksamkeit und der Selbstthematisierung wird. So sitzt man etwa zusammen, verbringt gemeinsam Zeit und tauscht sich in einem privaten Rahmen aus, wobei es aber jedem Akteur um das geht, was das eigene Selbst beschäftigt – seien dies konkrete Fragen der Alltags- und Lebensgestaltung, individuelle Problemlagen oder ganz grundsätzliche Orientierungen. Dieses Motiv überwiegt gegenüber jener Idee einer wechselseitig geistigen Verbindung, wie sie etwa in klassischen Freundschaftskonzepten entworfen wird.17 Das Gemeinsame – manifest etwa in personellen Ähnlichkeiten, in individuellen Interessen oder ähnlichen Erfahrungen – mag sich zwar als notwendig für die Anknüpfung und Konstitution der (dyadischen) Beziehung erweisen, ist aber nicht das Element, das die Freundschaft heute zusammenhält. Die Genese besteht im Wechselspiel gemeinsamer Selbstthematisierung: „Die Aussicht auf […] die individuelle Belohnung bestimmt somit das Eingehen und Aufrechterhalten einer Freundschaft.“18 Diese Art der heutigen Freundschaft soll aber nicht negativ verstanden werden als „Mittel zur kalkulierten Nutzenmaximierung von rational und egoistisch handelnden Subjekten“.19 Vielmehr gilt es an dieser Stelle, eine nüchterne und alltagspragmatische Sicht einzunehmen: Björn Vedder spricht von der „Überzeichnung der ethischen Imperative von Freundschaft“20 und konstatiert, dass man gerade in Deutschland gerne davon ausgehe, es gäbe eine interessenlose Freundschaft – was die hohe Idealisierung der Freundschaft in dieser Arbeit auch belegt; ich werde dies im folgenden Abschnitt noch ansprechen. Berücksichtigt werden muss ein weiterer Punkt: Mit Blick auf die heutige Gesellschaft lässt sich mit Charles Taylor sagen, dass „die Formen der gleichen Anerkennung für die gegenwärtige Kultur wesentlich geworden sind“.21 Durch den Abbau jener sozialen und kulturellen Unterschiede und Unterscheidbarkeiten wandert das subjektive Erfahren von Anerkennung in den individuellen Privatbereich:
17 18 19 20 21
Vgl. Schinkel 2002, S. 149. Schinkel 2002, S. 332. Schinkel 2002, S. 324. Vedder 2018, unpg. Taylor 2018, S. 56.
Charakteristika heutiger Freundschaftsbeziehungen
Die sozial abgeleitete Identität war in ihrem innersten Wesen eine gesellschaftsabhängige Identität. In jener früheren Zeit trat die Anerkennung jedoch nie als etwas Problematisches auf. Ebendadurch, daß die sozial abgeleitete Identität auf gesellschaftlichen Kategorien beruhte, die jeder als selbstverständlich hinnahm, war die soziale Anerkennung von vornherein mit dieser Identität gegeben. Das entscheidende Merkmal der innerlich abgeleiteten, persönlichen und originellen Identität besteht darin, daß diese sich nicht jener apriorischen Anerkennung erfreut.22
Auch Eva Illouz argumentiert, dass sich allgemeine, eher sozial determinierte Merkmale wie Status, Schicht oder Klasse als Träger persönlicher Anerkennung verabschieden: „Die Rituale der Anerkennung müssen […] das ‚Wesen‘ des Selbst würdigen, nicht die Zugehörigkeit zur richtigen Klasse“23. Es gilt heute, „sich in geeigneter Weise um sein Selbst zu sorgen, das ‚essentialisiert‘ worden ist – es existiert jenseits der sozialen Schicht. Das Selbstwertgefühl wohnt jetzt dem Selbst inne.“24 Der heutige Selbstwert ist demnach kein absoluter, sondern ein relativer Wert; er konstituiert sich dadurch, dass das Subjekt Anerkennung durch andere Personen erfährt. Das Erfahren von Selbstwert verschiebt sich, anders gesagt, zur performativen Fremdbestätigung.25 Die Jugendlichen in der heutigen, mediatisierten Gesellschaft streben also stets danach, aufgrund ihrer Person (und aufgrund der Authentizität jener kontextbezogenen Selbste; dies habe ich thematisiert) anerkannt zu werden. Gerade das Sozialkapital der Freunde wird zur maßgeblichen Größe, denn nur über sie kann das Subjekt Anerkennung durch frei und selbst gewählte Bezugspunkte erfahren, was umso bedeutsamer wird, je mehr es an Möglichkeitsräumen fehlt, sich aufgrund eigener, innerer Eigenschaften wertzuschätzen. 5. Heutige Freundschaften strukturieren sich egozentrisch All die mimetischen Kommunikate auf social media – die Abos, die Likes, die Smileys –, aber auch die gefühlsbezogenen, in hohem Maße idealisierten Wünsche weisen Jugendliche also nicht als narzisstische Personen aus. Sie weisen sie aus als verletzliche Personen, die auf der Suche nach jener intersubjektiven Wertschätzung sind. Für die Jugendlichen bietet das digitalisierte Kommunikationsumfeld hier perfekte Bedingungen einer idealisierten Freundschaft, welche dort stets wieder aufs Neue legitimiert und bestätigt werden kann. Denn der bestehende Konnex auf WhatsApp, TikTok und anderen sozialen Medien mit seinen fortwährenden Mikro-Interaktionen gewährleisTaylor 2018, S. 57 f. Illouz 2017, S. 313 Illouz 2017, S. 212 f. (Hervorh. i. Orig.). Ich folge hier bei meinen Gedanken zur Freundschaft als Eva Illouz, die zur ‚partnerschaftlichen Liebe‘ notiert: „Die erotische/romantische Bindung muß zu einem Selbstwertgefühl verhelfen, und der moderne soziale Wert ist vor allem performativ, das heißt, er wird im Zuge der und durch die eigenen Interaktionen mit anderen erlangt.“ (Illouz 2017, S. 222) 22 23 24 25
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Heutige Freundschaftsbeziehungen
tet kontinuierliche Wertschätzung durch mediale Zeichen. Damit geht zum gleichen Zeitpunkt eine Abhängigkeit von den Freunden einher, die ihrerseits Tendenzen wie die oben skizzierte Offenheit befeuert: Bei Aspekten wie der persönlichen Ähnlichkeit wenig kritisch zu sein, den Freunden zuzugestehen, ebenfalls differenzierte Beziehungen zu praktizieren und in unterschiedlichen Erscheinungsformen aufzutreten, muss als Schutzmechanismus gesehen werden. Jene pragmatische Haltung hilft dabei, der Verweigerung von Anerkennung vorzubeugen. Ich stimme daher mit Charles Taylor überein, dass soziale Beziehungen, Gemeinschaften und auch Freundschaften heute eine starke instrumentelle Bedeutung haben, wobei die Richtung der Verbindungen als egozentriert gedacht werden muss. Nicht glaube ich jedoch, „die menschliche Beziehung sei der Selbstverwirklichung der Partner untergeordnet“,26 zumindest nicht dergestalt, dass sie nicht von moralischem Handeln geprägt wären oder dass der Fokus auf die andere Person ein rein funktioneller wäre, der nur darauf hinausliefe, (unbewusst oder bewusst) ein quasi narzisstisches Selbst zu bestätigten. Wertschätzung ist in sozialen Beziehungen stets an die soziale Tatsache der Reziprozität gebunden; die Jugendlichen sind gewissermaßen gezwungen, dem Gegenüber Wert zuzuschreiben. Die durchaus offenen, reflexiven, egozentrischen Freundschaften heute sind damit keine narzisstischen Beziehungen, denn auch sie sind, so ließe sich mit Axel Honneth sagen, nicht möglich ohne die „grundlegende Tatsache der wechselseitigen Anerkennung“.27 Die dialektische Dynamik jener Wertschätzungspraktiken führt zu einer wechselseitigen Vervollkommnung der eigenen Selbste und eben nicht zu einer Vervollkommnung nur des eigenen Selbst. Neu ist dabei meines Erachtens nach nicht die Funktion der Wertschätzung, neu ist die Form heutiger Wertschätzungsformen: Wertschätzung ist stets an eine spezifische Erscheinungsform innerhalb der jeweiligen Freundschaft gebunden, die performativ hergestellt und an den jeweiligen privaten Raum, dessen Authentizität gebunden ist. 6. Heutige Freundschaften werden moralisch besonders idealisiert Die Ambivalenz des dargelegten Privatismus resultiert nun aber gleichzeitig im Wunsch nach etwas moralisch Höherem, nach etwas Sublimem an der Freundschaft: Indem die Jugendlichen Freundschaft zunehmend für die alltägliche Problem- und Lebensbewältigung funktional machen, indem sie sie kontextbezogen privatisieren, bezieht sie sich unzweifelhaft mehr auf sich als auf die anderen. Wie die Arbeit gezeigt hat, steht dieser alltagsorientierten, pragmatischen Interpretation auf der Handlungsebene von Freundschaft eine in hohem Maße idealisierte Aufladung des Freundschaftsbegriffs auf der normativen Ebene gegenüber. Den Begriff der Freundschaft nehmen die Jugendlichen in ihren Erzählungen sehr ernst; ihre Wünsche sind getragen von der
26 27
Taylor 2018, S. 52. Honneth 2012, unpg.
Charakteristika heutiger Freundschaftsbeziehungen
Vorstellung einer verpflichtenden Interpretation, die von Vertrauen, Treue und Verbundenheit gekennzeichnet ist. Zum Ausdruck kommt das aus der Antike stammende Ideal der „vollkommenen Freundschaft“,28 welches auf der „ganzen Breite der Persönlichkeit“29 aufbaut und durch das Ideal einer absoluten, seelischen Vertrautheit gekennzeichnet ist. Die Jugendlichen wünschen sich, gegenüber Freunden stets ehrlich und aufrichtig sein zu können, ihnen jederzeit vertrauen zu können, sich dabei eben nicht ‚verstellen‘ zu müssen. Imaginativ erzeugt diese Vorstellung von Freundschaft ein gutes Gefühl, suggeriert Vertrauen, Beständigkeit, Wärme und Geborgenheit. In der Vorstellung werden diese positiven Gefühle durch einen idealistischen Entwurf gewissermaßen zum Leben erweckt; das hohe moralische Gut Freundschaft verspricht den Jugendlichen Annehmlichkeiten, die sie zu vermissen glauben, die zumindest in jener heutigen Beziehungsform nicht unmittelbar gegeben sind. Im Sinne von Zygmunt Bauman rekurriert der Begriff der Freundschaft für sie auf „eine Welt, die sich bedauerlicherweise erheblich von der unseren unterscheidet – in der wir aber liebend gerne leben würden und die wir eines Tages zurückzuerobern hoffen.“30 Mit Zygmunt Bauman ergeben sich aus den Identitätskämpfen der digitalisierten Moderne imaginierte und erwünschte Gemeinschaften, die dem sehnsüchtigen Wunsch entsprechen, in einer Gemeinschaft der Gleichen zu leben. Dabei ist das Wort Gemeinschaft „uns zum Synonym für ein verlorenes Paradies geworden, in das wir eines Tages zurückzukehren hoffen, und so suchen wir fieberhaft nach den Wegen dorthin.“31 Die idealisierte Freundschaft, die von den Jugendlichen imaginiert wird und als abstrakter, hoch geschätzter Wert auch in den aktuellen Jugendstudien so populär zum Ausdruck kommt,32 und der relative Privatismus, der sich andererseits im Lebensalltag vollzieht, sich dort empirisch zeigt, mögen sich unterscheiden, doch „die Phantasie ist, anders als die harsche Wirklichkeit, ein weiter Raum unbeschränkter Freiheit“,33 denn „der Kontrast zwischen diesen beiden beflügelt lediglich unsere Phantasie und läßt und die imaginierte (postulierte, erträumte) Gemeinschaft umso verlockender erscheinen.“34 Zygmunt Bauman weist darauf hin, dass der Nutzen, dass das Vertrauen, Geborgenheit und Wärme suggerierende Gefühl nur so lange existieren könne, so lange die idealistische Freundschaftsvorstellung eine Imagination bleibt, da Freundschaft andernfalls mit dem Verzicht auf Freiheit, auf Autonomie, Flexibilität und Individualität zu entrichten wäre.35 Betroffen ist der Wertekonflikt von Freiheit und Sicherheit: 28 29 30 31 32 33 34 35
Vgl. Aristoteles 1999, S. 33. Simmel 1999, S. 162. Bauman 2017, S. 9. Bauman 2017, S. 9. Vgl. exemplarisch Schmid und Antes 2017, S. 17 f. bzw. siehe ausf. Leven und Utzmann 2015. Bauman 2017, S. 9. Bauman 2017, S. 10. Vgl. Bauman 2017, S. 11 f.
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Heutige Freundschaftsbeziehungen
Auf Gemeinschaft verzichten heißt auf Sicherheit verzichten; der Anschluss an eine Gemeinschaft bedeutet allerdings sehr bald den Verzicht auf Freiheit. Sicherheit und Freiheit sind gleich kostbare und gesuchte Werte, die man besser oder schlechter ausbalancieren, doch kaum je störungsfrei in Einklang bringen kann. […] Die Schwierigkeit liegt darin, daß die Formel, nach der die ‚real existierende Gemeinschaften‘ zusammengebraut werden, den Widerspruch zwischen Sicherheit und Freiheit nur noch verschärft und den Ausgleich zwischen ihnen erschwert.36
Pointiert gesagt ermöglicht die vordergründige Dissonanz von idealistischem Konzept im Abstrakten und alltagspragmatischer Auslegung im Konkreten also ein gleichzeitiges Erfahren von Sicherheit und Freiheit, das in dieser Form auf anderem Wege nicht zu gewinnen ist: Die idealistische Gemeinschaft der Freundschaft zerfiele, wenn sie tatsächlich vorhanden wäre und zum „Gegenstand der Reflexion“37 würde. Es zeigt sich, dass in dem Maße, in dem sich eine Gesellschaft ausdifferenziert und komplexer wird, die Mitglieder also zu einer idealistischen Interpretation neigen und davon ausgehen, Freundschaft dürfe nicht von Nützlichkeitsüberlegungen geleitet und durch jene Form der Egozentrik strukturiert sein.38 Vielmehr manifestiert sich, so glaube ich, ein Freundschaftsbild, welches sich gerade dadurch auszeichnet, dass Freundschaft einen intrinsischen Wert hat, dass sie schützenswert ist, weil sie nicht funktional, nicht instrumentell (für etwas anderes) ist, sondern als ‚irreduzibles Gut‘ normativen Wert besitzt, auch wenn dieser vom praktischen Alltag vielleicht weit entfernt ist. Eine Reihe empirischer Befunde stützen diese These: So zeigt etwa auch Erika Alleweldt in ihren Untersuchungen zur Frauenfreundschaft im Alltag, inwieweit diese in ihrer Idealisiertheit den praktischen Anforderungen im Alltag nicht gewachsen ist und dass sich auch dort die artikulierten Ideale und Wünsche der Befragten nicht reproduzieren lassen.39 Die These, dass heutige Freundschaften idealisiert sind, sich aber empirisch offen und differenziert manifestieren, sich egozentriert konstituieren, muss mit Zygmunt Bauman auf einer kulturellen Ebene als ein nicht auflösbarer Konflikt von Individualität und Gemeinschaft gelesen werden. Die wechselseitigen interpersonellen Verpflichtungen, die aus Gemeinschaften resultieren, stehen den Bedingungen gegenüber, die die geforderte Individualität mit sich bringt. 7. Heutige Freundschaften sind verstärkt lebenspraktisch substitutiv Freundschaften dienen in mediatisierten, individualisierten Gesellschaften so gesehen ganz wesentlich dazu, die vielfältigen Herausforderungen bei der Gestaltung der eigenen Lebensbiografie zu bewältigen, welche mehr denn je eine Frage des Individuums 36 37 38 39
Bauman 2017, S. 11 (Hervorh. i. Orig.) Bauman 2017, S. 18. Vgl. in ähnlicher Weise auch Flick und Schobin 2016, S. 145 f. Vgl. Alleweldt 2016, S. 115 f. bzw. siehe ausf. Alleweldt 2013.
Charakteristika heutiger Freundschaftsbeziehungen
und des Selbstmanagements ist. In Anlehnung an Janosh Schobin werden die Freunde für diese komplizierten Leistungen gewissermaßen (Lebens-)Berater benötigt, die über einen exklusiven Zugang zum eigenen Selbst verfügen.40 Mit dem Begriff des Substitutiven ist in diesem Zusammenhang das letzte Merkmal angesprochen, das heutige Freundschaften charakterisiert. Substitutiv meint im Sinne von Friedrich Tenbruck, dass Freundschaften sozialwissenschaftlich verstärkt die Funktion der „Ergänzung einer inkompletten sozialen Struktur“41 übernehmen und hier eine lebenspraktische Funktion haben. Wie historisch gezeigt werden kann, bietet in zunehmendem Maße, in dem sich das Subjekt als „Individuum zu erleben“42 beginnt, sich personelle Distanz aneignet, gleichzeitig die soziale Welt an Komplexität und Heterogenität gewinnt, Freundschaft die soziale Bestätigung und kollektive Orientierung für das Subjekt.43 In seinem Essay arbeitet Friedrich Tenbruck mit einer historischen Perspektive heraus – u. a. nimmt er die Epoche des Renaissance-Humanismus44 und die Antike45 in den Blick –, dass die Freundschaft in diesem Sinne (immer) in jenen historischen Abschnitten relevant wurde, in denen sich eine soziale Destabilisierung ergab. In Anschluss an Heinz Bude und mit Blick auf die heutigen sozialstrukturellen Bedingungen fungiert Freundschaft in hochdifferenzierten Gesellschaften damit vermehrt als ein Substitut für den Staat und die Familie, da sie „einen dritten Weg darstellt zwischen frei gewählter Liebe und natürlich gegebener Abstammung, zwischen Familie und Wohlfahrtsstaat“46. In diesem Sinne bietet sie aufgrund ihres Solidaritätsmotivs relative Sicherheit bei der gleichzeitig notwendigen Flexibilität, die notwendig ist, um die Subjekte in ihren heutigen Problemlagen aufzufangen.47 Wie in der Arbeit gezeigt wurde, wird dies durch die gegebene Ambiguität und die Differenz von Vorstellung bzw. imaginiertem Ideal einerseits und pragmatisch gelebter Alltagswirklichkeit andererseits geleistet. Lebenspraktisch können Freundschaften daher jene Pluralität an Funktionen übernehmen und in heutigen Gesellschaften vermehrt auch das leisten, was einst eher Aufgabe der Eltern, der Familie oder die von Lehrkräften gewesen sein mag. Nicht nur diese Arbeit, sondern auch die Vielzahl aktueller Jugendstudien zum Thema48 weisen die Freunde als die ersten Ansprechpartner bei Problemen und Sorgen aus. Die Freunde werden eben nicht nur für die Zerstreuung und Ablenkung, sondern zunehmend für wichtige Fragen des Lebenslaufs, der Ausbildung, des Berufs u. v. m. herangezogen.
40 Siehe in diese Richtung auch die Theorie der Symbolischen Lebenspfänder und der Intimkommunikation von Janosh Schobin, vgl. Schobin 2018 unpg. 41 Tenbruck 1964, S. 453. 42 Tenbruck 1964, S. 439 43 Vgl. Tenbruck 1964, 440 f. 44 Vgl. Tenbruck 1964, S. 447 f. 45 Vgl. Tenbruck 1964, S. 441–443. 46 Bude 2008, S. 8. 47 Vgl. Bude 2008, S. 8 f. 48 Vgl. exemplarisch Schmid und Ates 2017, S. 14 bzw. Leven und Utzmann 2015, S. 302.
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9
Narrative Freundschaftsanalysen
9.1
Einordnung und Reflexion des methodischen Ansatzes
Das methodologische Ziel dieser Arbeit war es, den Mehrwert der narratologischen Herangehensweise im Allgemeinen aufzuzeigen und die heuristischen Vorzüge einer semiotisch fundierten Analysemethode im Besonderen deutlich zu machen. Dabei ist ein methodischer Ansatz präsentiert worden, der unter dem wissenssoziologischen Dach des Sozialkonstruktivismus mit dem Forschungsstil der grounded theory1 nach Anselm Strauss und Barney Glaser eine Vorgehensweise in der Tradition der pragmatischen Soziologie mit einem Analyseansatz in der Tradition der semiotischen Literaturwissenschaft kombiniert, womit er letztlich auch die Wissenschaftsbewegungen des Pragmatismus und des Strukturalismus zu integrieren versuchte. Er erlaubt sowohl eine Feinanalyse der sprachlichen Zeichen auf der Mikroebene als auch eine auf die zentralen Narrative der Geschichten fokussierte Analyse auf der Makroebene. Der in dieser Arbeit entwickelte Analyseansatz und die zugrundeliegende theoretische Fundierung haben sich als funktionale und anschlussfähige qualitative Heuristiken erwiesen, deren Stärken dort liegen, wo ebenjene Rekonstruktion subjektiven Sinns im Mittelpunkt steht. Dies wird in verschiedenen empirischen Analyseergebnissen dieser Arbeit deutlich. Genannt werden kann etwa der angesprochene Unterschied zwischen idealisiertem Freundschaftskonzept und der pragmatisch gelebten Freundschaft im Alltag der Jugendlichen. Auf einer abstrakten Ebene des Argumentierens wird die Freundschaft als enge, vertrauensvolle Beziehung, als hohes moralisches Ideal reflektiert, während sich auf der Ebene der alltäglichen Handlungspraxis ein pragmatischeres Konstrukt ergibt. Dieser interessante Unterschied wäre ohne Zugang zu einem narrativen Text, der selbst gemachte Erfahrungen und alltägliche Erlebnisse vermittelt, vermutlich nie zum Ausdruck genommen. Denn jene Ambiguität verweist auf den handlungstheoretischen Umstand, dass die Reflexion einer Sache – hier: der Freundschaft – eben typischerweise nicht deckungsgleich ist mit dem Verhalten der
1
Siehe Strübing 2008.
Einordnung und Reflexion des methodischen Ansatzes
Person und sich aus dem Verhalten auch nicht notwendigerweise jene vermittelte Auffassung kausal ergibt. Vermutlich hätten die hier befragten Jugendlichen, wenn sie in klassischen, problemzentrierten Interviews unmittelbar nach Freundschaft gefragt worden wären, diesen Aspekt nicht kommuniziert – auch weil er ein extrem hohes Maß an Selbstreflexivität voraussetzt. Jene auf induktive Kategorienbildung angelegten Auswertungsverfahren wie die Inhaltsanalyse2 – die theoriegeleitete Variante insbesondere, aber die empiriegeleitete Variante ebenfalls – hätten die Differenzen vielmehr egalisiert, als sie mit Bezug zu den jeweiligen kognitiven Orientierungszentren der Subjekte, der Verhaltensebene und der Reflexionsebene, auszudifferenzieren. Ebenso wie in der sozialwissenschaftlichen Analyse gebräuchliche Techniken der Zusammenfassung oder Paraphrasierung3 lassen sie das Wesen der Indexikalität im Sprachgebrauch und die stets relational sich konstituierenden Zeichenbedeutungen außen vor. Die Stärke des hier verwendeten Ansatzes zeigt sich auch mit Blick auf die Rolle und Bedeutung digitaler Kommunikationsmedien wie des Smartphones und socialmedia-Formaten wie WhatsApp, Facebook usw. In den Texten wurden diese zwar regelmäßig thematisiert, etwa wenn die Jugendlichen von ihrem Tagesablauf erzählten, allerdings wurden sie, wie die raumsemantische Analyse zeigen konnte, in der diegese semantisch nicht mit Freundschaft auf eine disruptive oder störende Weise in Verbindung gebracht. Zwar stimmt es, dass jene medialen Plattformen und die dortige Kommunikation oft für die dort fehlende Aufrichtigkeit, Authentizität und Echtheit kritisiert werden, doch zum einen ist dies qualitativ wenig signifikant (es gibt auch Erzählpersonen wie Alica, bei denen eher das Gegenteil zum Ausdruck kommt), zum anderen beziehen sich diese Aspekte auf die abstrakte und anonyme Welt von social media, nicht jedoch auf die Kommunikation mit den eigenen, engen Freunden. Hier ergeben sich eben keine oppositionellen semantischen Räume, sondern vielmehr ein synthetischer Freundschaftsraum, der verschiedene (mediale) Handlungsebenen und Kommunikationsformen selbstverständlich einschließt. Dies ergibt sich daraus, dass medienvermittelte Kommunikation hier zwar stattfindet, im Text aber nicht als spezifisch-medial erzählt, thematisiert oder semantisiert wird. Weniger differenziert wären wohl jene Ergebnisse ausgefallen, wenn die Jugendlichen unmittelbar und direkt nach Freundschaft und digitalen Medien gefragt worden wären, denn die Erzählpersonen hätten vermutlich nur jenen kritischen Aspekt vermittelt, zumal sie auf der extradiegetischen Ebene davon ausgehen müssen, dass es sich hierbei um die sozial-ideologisch präfigurierte Sichtweise handeln könnte. Nicht-narrative Formen der Erkenntnisgenerierung und -analyse hätten den Sachverhalt nivelliert, dass medienvermittelte Kommunikation in diesem hohen Maße habitualisiert und selbstverständlich ist.
2 3
Vgl. exemplarisch Früh 2017, S. 76–81. Vgl. hierzu Kruse 2015, S. 372–374.
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Narrative Freundschaftsanalysen
Besonders leistungsfähig erwies sich der hier verwendete Ansatz dann, wenn die Erzählpersonen nah an der Lebenswelt erzählen und nicht etwa ausschließlich ihre Lebensbiografie – bzw. andere in hohem Maße durch soziale Tatsachen und Erwartungen (vor)strukturierte Sinngebilde – mehr oder weniger systematisch abarbeiten, wie dies bei lebensgeschichtlichen Erzählungen mitunter der Fall ist. Für die Arbeit mit der Grenzüberschreitungstheorie könnte dies darin resultieren, dass die Jugendlichen eine eher statische Welt entwerfen, die im narratologisch-semiotischen Sinne nicht (oder nur bedingt) als ereignishaft zu werten wäre. In arbeitspraktischer Hinsicht ist es daher unabdingbar, wenn mit dieser Methode gearbeitet wird, dass die Interviewenden stets diverse an den Forschungsgegenstand angepasste Erzählfragen und -stimuli einsetzen und darauf achten, ihr Forschungsinteresse narrativ-fragend und präsuppositionsfrei zu formulieren. Neben einer hohen Aufmerksamkeit, aktivem Zuhören erfordert dies besondere Flexibilität seitens der Interviewenden, zumal es ebenfalls wichtig ist, dass die Interviewenden gleichzeitig dynamisch an das bereits Gesagte anknüpfen, sodass am Ende die erzählte Welt nicht aus einer Reihe frei schwebender, singulärer Geschichten besteht, sondern die Rekonstruktion eines zusammenhängenden Welt- und Sinngebildes ermöglicht wird. Wenngleich die Methoden und Techniken des narratologisch-semiotischen Ansatzes nicht auf die Analyse von narrativen Strukturen beschränkt sind,4 so zeigt die korpusübergreifende Analyse gleichwohl, dass sie besonders bei dieser Textsorte ihre hohe Wirksamkeit entfaltete. Lagen zudem nicht nur quantitativ umfangreiche, sondern zugleich qualitativ in Bezug auf den Weltentwurf ausdifferenzierte Geschichten vor, so fiel auf, dass die letzte Phase des Gesprächs, die exmanente Nachfragephase, oftmals keine neuen Erkenntnisse mehr liefern konnte, da relevante Bedeutungsaspekte, Handlungsorientierungen, Werte usw. bereits im Rahmen der narrativen Strukturen gegeben waren. Die Raumsemantik und die Grenzüberschreitungstheorie der strukturalen Narratologie konnten ihre Leistungsfähigkeit für die Deskription erzählter Welten dort aufzeigen, wo seitens der Gesprächspersonen vor allem die Lebensgeschichte, aber auch die Alltags- und Lebenswelt umfänglich präsentiert wurde, was in dieser Arbeit etwa im Gespräch mit Moritz oder Selim erfolgte. Es ist wichtig zu betonen, dass es in Erzählinterviews jedoch stets ergänzender Auswertungsmethoden bedarf, und zwar nicht nur der Mikrostrukturen mündlicher Zeichenkommunikation wegen, sondern vor allem, weil die im Interview gegebenen Informationen nicht immer für eine für eine umfangreiche raumsemantische Modellierung ausreichen. Bei der Analyse mancher Texte, zum Beispiel bei Benedikt oder Colin-Joel, wurde etwa auf den Einsatz der Grenzüberschreitungstheorie und das Konzept der Ereignisfolgen ganz verzichtet.
Vgl. bezogen auf die narratologisch-semiotische Analysemethoden Müller und Grimm 2016, S. 153–162; mit Blick auf Narrationsanalysen generell vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 141–170. 4
Einordnung und Reflexion des methodischen Ansatzes
Dementsprechend gilt es, bei der semiotisch-narratologischen Analyse der Interviewtexte nicht vergleichsweise erratisch auf bestimmte Techniken des dargestellten Methodenkoffers zu rekurrieren, sondern stets in Anbetracht der spezifischen Konstitution des konkreten Interviewtexts – und zwar in Bezug auf die sprachlichen Mittel des discours wie hinsichtlich des Handlungsverlaufs der histoire – zu entscheiden, welche Analysetechniken anzuwenden sind. Obschon dies einerseits aus methodisch-reflektiver Sicht evident erscheint, andererseits hierauf bereits von Seiten der Begründer der semiotisch-narrativen Analyse hingewiesen wurde,5 so ist es mir wichtig, dies (auch) für die Textsorte des Erzählinterviews herauszustellen, zumal sich jene (Gesprächs-) Texte von den ‚professionell‘ konstruierten (Erzähl-)Texten in Literatur und Film, für welche die semiotisch-narratologischen Analysetechniken genuin entwickelt wurden, in der skizzierten Weise unterscheiden. Aus dem faktualen Referenzanspruch resultiert methodologisch, dass eine Analyse der sozialen und kulturellen Zusammenhänge im Stile einer sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse, die den Wortschatz und die Aussagenorganisation der Gesprächsperson mit ihren Bedingtheiten und impliziten Prämissen, Anspielungen, Argumentationsstrategien, Redewendungen usw. fokussiert, im Einzelfall erkenntnisreicher sein mag als der Versuch, notwendigerweise Grenzüberschreitungen bzw. Ordnungsverletzungen modellieren zu wollen. Dabei dürfte das Gütekriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit eine weitere Stärke des hier vorgestellten und eingeführten Analyseinstrumentariums darstellen, allein schon weil die Analyse unmittelbar an den kontextbezogenen schrift- und parasprachlichen Zeichen ansetzt, welche den Text konstituieren. Allgemein als hilfreich erwies sich hierfür das Konzept zur narrativen Positionierung,6 das im Zusammenspiel mit dem Begriffsinstrumentarium der Semiotik und Narratologie eine Analyse der Kommunikation (zwischen Interviewer und interviewter Person) auf der extradiegetischen Ebene erlaubte und eine Zusammenführung mit den (intra)diegetischen Ebenen ermöglichte. Gerne werden in der einschlägigen Methodenliteratur die Probleme und Risiken der gleichzeitigen Nähe und Fremdheit in der Interviewsituation diskutiert,7 selten wird aber darauf hingewiesen, dass dieser ‚Positionierungszwang‘ eben auch als eine erkenntnisseitige Ressource gesehen werden muss. Denn gegenüber der erzählten Welt ergibt sich nicht nur eine weitere analytische Ebene, die Gegenstand von Semantisierungen und potenziellen Weltentwürfen ist, es ergibt sich hinsichtlich der histoire noch ein weiterer temporaler Punkt, der sich im Hier und Jetzt befindet und die präsentierte Geschichte damit stets bis in die Gegenwart verlängert. Mit Blick auf den Handlungsverlauf und die Grenzüberschreitungstheorie resultiert das Erzählen der Lebensgeschichte in einer besonderen Herausforderung hin5 6 7
Vgl. ausf. Krah 2015, exemplarisch etwa S. 219 f. Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 196. Vgl. exemplarisch Kruse 2015, S. 298–304.
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Narrative Freundschaftsanalysen
sichtlich der Identifikation ereignishafter Erlebnisse: Denn das Konzept der lebensgeschichtlichen Erzählung präfiguriert eine Reihe soziokulturell konventionalisierter Themen (zum Beispiel jene institutionalisierten Lebensabschnitte), die letztlich bereits gemäß kulturellem Wissen der Jugendlichen Träger von Veränderung sind und von ihnen vermutlich unbewusst als wichtig bzw. ereignishaft präsupponiert werden. Die Jugendlichen haben in gewisser Weise eine Prädisposition, psychosoziale persönliche Veränderungen bei dieser spezifischen Erzählform auch darzustellen. In der praktischen Analyse mit dem narratologischen Instrumentarium kann sich dies als problematisch erweisen: So bewirkte etwa der biologisch-psychologische Prozess des Erwachsenwerdens in manchen Texten der Jugendlichen freundschaftsrelevante Veränderungen (zum Beispiel dahingehend, dass sich neue Ordnungssätze des semantischen Raums ergaben), die auch im Hinblick auf die gegebenen Folgen als ereignishaft zu werten waren (da sie zum Beispiel in einer Raumzerstörung mündeten). Im einzelnen Fall stellte sich dann die Frage, ob jene Transformation als ereignishaft in semiotisch-narrativer Hinsicht zu werten ist oder ob sie sich nicht durch den automatischen Prozess des Älterwerdens erklärt, womit jene Transformation letztlich ebenso als Teil der sujetlosen Textschicht ebenjener spezifischen Textsorte Erzählinterview zu werten wäre. In manchen Texten (zum Beispiel bei Leonie oder Moritz) reichten die textimmanent gegebenen Informationen nicht aus, um eine eindeutige Bestimmung vorzunehmen. 9.2
Perspektiven und Anknüpfungspunkte für weitere Forschung
Mit den skizzierten inhaltlichen wie methodologischen Befunden ergeben sich eine Reihe an Perspektiven, an denen zukünftige Forschungsarbeiten anknüpfen können. In inhaltlicher Hinsicht ist zuerst zu betonen, das Freundschaft geschlechtscharakteristisch verschieden entworfen wird: Typisch für die männlichen Jugendlichen ist der Entwurf von Freundschaft als gemeinschaftliches, gruppenbezogenes Konstrukt mit der Funktion der kognitiven Unterstützung, wohingegen bei den weiblichen Jugendlichen der Entwurf von Freundschaft als individuelles, eher lebensbiografisch geprägtes Konstrukt der emotionalen Unterstützung charakteristisch ist. Es ist zu konstatieren, dass die Freundschaftsentwürfe der Jugendlichen von typischen Geschlechterrollen getragen sind8 und der Entwurf differenzierter sozialer Beziehungen von weiblichen und männlichen Freundschaften eben auch eine Perpetuierung und Bestätigung bestehender Geschlechterkonstruktionen nahelegt. Hier ist Erzählen als ein Prozess zu begreifen, der maßgeblich an der „Herstellung, Dissemination und Perpetuierung von
8
Vgl. in diesem Sinne exemplarisch Sobiech 2013.
Perspektiven und Anknüpfungspunkte für weitere Forschung
Geschlechtervorstellungen auf individueller wie kollektiver Ebene beteiligt ist“9 und dementsprechend auch als solcher empirisch zu dechiffrieren wäre: Aufmerksamkeit verdient bei einer Beschäftigung mit dem Zusammenhang zwischen Gender und Erzählen auch die Frage, ob innerhalb einer Kultur Erzähltraditionen existieren, die einem Geschlecht vorbehalten sind oder doch zumindest mit einem Geschlecht in besonderer Weise in Verbindung gebracht werden.10
Wichtig dürfte es sein, zu entschlüsseln, inwieweit es sich um allgemeine Deutungs- und Geschichtenmuster handelt,11 wobei von Seiten der Erzählerinnen und Erzähler vor allem auf mentale Modelle sowie auf kollektives Wissen rekurriert wird, bzw. inwieweit sich die Beziehungen auch im sozialen Feld empirisch dergestalt artikulieren und wenn ja, warum dies der Fall ist. Unabhängig hiervon ergeben sich Fragen auf der Ebene des discours, die eine methodische Verknüpfung der Kategorie Gender mit narrativen Strukturen – zum Beispiel in Bezug auf die narrative Positionierung, den point of view oder die Erzählstimme und das Konzept der narrativen Autorität12 – in den Blick nehmen und ausdifferenzieren. Zu einem Desiderat der Erzählforschung gehört hier ohnehin, dass „Studien zum Zusammenhang von Gender und Erzählen in bislang noch weniger untersuchten Formen von Erzählungen […] interessante Erkenntnisse erwarten“13 lassen. Der empirische Befund dieser Arbeit, dass Freundschaft geschlechterseitig zumindest differenziert erzählt wird, ist auf die prinzipielle Erkenntnisoffenheit des qualitativen Paradigmas zurückzuführen. In ähnlicher Weise ergaben sich jene Differenzen, die hinsichtlich der lokalräumlichen Verortung der Jugendlichen gezeigt wurden. Gezeigt hat sich, dass sich die empirische Jugendforschung gerade heute lokalräumlich differenziert vollziehen muss. In Bezug auf die Befunde lässt sich das Desiderat einer weiteren Ausdifferenzierung der Lebenswelt und der Bedeutungskonstitutionen von Jugendlichen in urbanen und peripheren, ländlichen Räumen allgemein formulieren. Zukünftige qualitative Forschungsvorhaben sollten nicht auf Aspekte wie die Freundschaft beschränkt sein. Es gilt meines Erachtens, die soziokulturellen Herausforderungen in Bezug auf die Ungleichheit und die Entwicklungsmöglichkeiten der Personen im räumlich-demografischen Kontext allgemein zu adressieren.14 Ein spannender Befund dieser Arbeit ist, dass sie empirisch keine durch mediatisierte Kommunikationspraktiken, technische Endgeräte oder Medienpraktiken hervorgerufenen Veränderungen der Freundschaftssemantik Jugendlicher zu zeigen vermochte. 9 Gymnich 2017, S. 326. 10 Gymnich 2017, S. 327. 11 Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, S. 128 12 Vgl. in diesem Sinne die weibliche Erzählstimme
als „universal language of the powerless“: Lanser 1992, S. 7–12, hier: S. 11 f. 13 Gymnich 2017, S. 333. 14 Vgl. hierzu einführend Beierle u. a. 2016 bzw. siehe die aktuell im Aufbau befindliche Studie „Jugend im Ländlichen Raum“ der Jugendstiftung Baden-Württemberg: Vgl. Jugendstiftung 2021.
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Die in diesem Korpus empirisch identifizierten und dargelegten Aspekte – etwa der habituelle Smartphonegebrauch innerhalb von Freundschaftsbeziehungen oder die Aneignung virtueller Kommunikationsräume – bleiben letztlich auf der Ebene der sozialen Handlungspraxis verhaftet, scheinen jedoch nicht in die Bedeutungsebene hineinzuwirken. Als konstitutiv in semantisch-inhaltlicher Hinsicht erwiesen sich vielmehr Fragen der subjektiven Lebenslage, der Interpretation von Lebens- und Alltagswelt und der Deutung der eigenen Biografie. Weiterhin ist das Auftreten der vorgestellten Freundschaftssemantiken eher im Zusammenhang mit jenen – sozialwissenschaftlich betrachtet eher klassischen – gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zu interpretieren, die auf die Subjektebene rückwirken. Genannt seien hier neben der zunehmenden sozialen Beschleunigung des Alltagslebens vor allem die Pluralität an Einstellungen, an Lebens- und Biografieentwürfen. Unsicherheit, subjektive Gefühle der Überforderung sowie die Angst, soziales und kulturelles Kapitel zu verlieren, sind trotz objektiv solider sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Gegebenheiten oft zu beobachtende Erzählparadigmen der wahrgenommenen Lebenslage. Dementsprechend sind die gesellschaftlichen Erwartungen und beruflichen Anforderungen oft wiederkehrende in die Lebenswelt hineinwirkende Größen, die von den Jugendlichen mit der Freundschaft verbunden werden. Pointiert ließe sich im Einklang mit aktuellen Jugendstudien15 formulieren, dass die hohe Bedeutung persönlicher Beziehungen zu Freunden, Eltern und Familienmitgliedern ebenso wie die angesprochene normative Überstilisierung der Freundschaft vor der Folie soziokultureller Abstiegsängste zu lesen ist. Auch hier ergibt sich also ein Bedarf an weiterer qualitativer Forschung, die auch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen wie die Folgen der Covid-19-Pandemie miteinbeziehen muss. Dass sowohl die Forschungskonzeption als auch die empirische Gesprächsführung dieser Arbeit vor Beginn der pandemischen Lage erfolgte, hat ein Für und ein Wider: Einerseits muss über die Aktualität der Arbeit gesprochen werden, denn vielleicht würden die Jugendlichen während bzw. nach der Covid-19-Pandemie anders von der Freundschaft erzählen, als dies in den Gesprächen dieser Arbeit der Fall war. Andererseits ist es in doppelter Hinsicht ein glücklicher Umstand, dass die Gespräche vor Beginn der pandemischen Lage geführt wurden und die Jugendlichen nicht von Kontaktbeschränkungen und Auflagen wie der Schließung von Schul- und Freizeiteinrichtungen betroffen waren. Nicht nur hätte dies eine Durchführung nach dem entwickelten methodischen Konzept dieser Arbeit enorm erschwert bzw. in Teilen verunmöglicht, es wäre auch inhaltlich fraglich gewesen, ob sich die aufgeworfene Forschungsfrage hätte beantworten lassen. Beispielsweise wären die Gespräche dergestalt durch die dispositive Funktion der Pandemie geprägt gewesen, dass es vermutlich automatisch um die spezifische Form der ‚Freundschaft in Zeiten von Covid‘ bzw. in diesem Sinne um einen Vergleich von ‚vorher‘ und ‚nachher‘ gegangen wäre. Dem vor-
15
Vgl. in dieser Hinsicht exemplarisch Quenzel u. a. 2015, S. 380.
Perspektiven und Anknüpfungspunkte für weitere Forschung
dergründigen Kritikpunkt fehlender Aktualität ist überdies zu entgegnen, dass sich die tatsächlichen sozialen und sozialpsychologischen Konsequenzen der pandemischen Situation ohnehin erst langfristig zeigen dürften und dann mit einem retrospektiven Blick eruiert werden müssten. Gemäß dem Forschungsziel ergaben sich Befunde dieser Arbeit wunschgemäß in Richtung der subjektiven Sinnkonstruktionen der befragten Jugendlichen. Ein Desiderat besteht mit Blick auf die bestehende Forschungslandschaft in Richtung der gemeinsamen Beziehungspraxis, die im Kontext heutiger mediatisierter Lebenswelten empirisch zu dekonstruieren wäre.16 Das Forschungsinteresse müsste auf das interpersonelle Handeln und auf den geteilten Privatraum der Jugendlichen bezogen sein. Die hierfür relevanten Fragen der Anknüpfung und interpersonellen Handlungspraxis in Freundschaften können aber nur schwer mit dem hier gewählten Zugang, d. h. aus einer „individuumszentrierten Lebenslaufperspektive“17 ermittelt werden. In methodischer Hinsicht wäre es möglich, die Ergebnisse dieser Arbeit durch eine „paarbiografische Perspektive“18 zu ergänzen und sie damit prozessual19 zu validieren. Hierfür bieten sich verschiedene Formen von Paarinterviews an, um die Befunde dieser Arbeit sinnvoll zu ergänzen: Das Paarinterview ist […] zwischen teilnarrativen Einzelinterviews und Gruppendiskussionen zu verorten. Durch diese Zwischenstellung werden ergiebige Erkenntnisse ermöglich, da nicht nur subjektspezifische semantische Relevanzen rekonstruiert werden können, sondern diese auch im Hinblick auf ihren dyadischen bzw. systemischen Entstehungskontext verstehbar werden.20
Ein solches performativ angelegtes Interview könnte nicht nur auf den inhaltlichen Befunden dieser Arbeit, sondern auch auf den methodologischen Erfahrungen dieser Arbeit aufbauen. Methodisch ließe sich ein gemeinsames, wechselseitiges kontextuelles Erzählen erproben. Erkenntnispotenziale ergäben sich damit nicht nur in Richtung der Rekonstruktion des Konstituierungsprozesses und der gemeinsamen Alltagspraxis, sondern auch hinsichtlich der interpersonellen Identität der Beziehung, des privaten Raums und damit des gemeinsam geteilten Sinns der Jugendlichen.21 Gerade für diese Fragen bietet der Methodenkoffer der empirischen Sozialforschung eine Reihe an Möglichkeiten der Ergänzung. Interessant ist etwa die Methode des Doppeltagebuchs, die von Elisabeth Auhagen bereits im Kontext der Freundschaftsforschung eingesetzt Vgl. hierzu auch Schobin 2016, S. 169–184. Kruse 2015, S. 160. Kruse 2015, S. 160. Vgl. Flick 2018, S. 192 f. Kruse 2015, S. 159 (Hervorh. i. Orig.). In anderer Hinsicht sind die Erkenntnispotenziale solcher Erhebungsverfahren natürlich eingeschränkt, zum Beispiel wenn es um Konfliktthemen geht. Vgl. für eine kurze Diskussion: Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 109–111. 16 17 18 19 20 21
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wurde.22 Die Jugendlichen könnten sowohl physische als auch rein gedankliche wie mediale Kontakte notieren, sie ggf. kurz erläutern usw. Eine solches Forschungsdesign wäre insbesondere interessant, da das kommunikative Medienhandeln der Jugendlichen, wie diese Arbeit gezeigt hat, mit einem Ansatz wie dem freien Erzählen nur bedingt in den Blick genommen werden kann. Zwar erzählen die Jugendlichen allgemein (und spätestens auf Rückfrage) gerne davon, wie sie digitale Medien nutzen, doch wird hier nicht nur lediglich eine Seite jener bilateralen Medienpraxis präsentiert, auch ist kein Zugang zum kommunikativen Akt, dem relevanten Kommunikationsmedium und den sich konstituierenden medialen Zeichen gegeben. Erkenntnisseitig vielversprechend könnten qualitative Studien sein, die zusätzlich ethnografische Bestandteile aufweisen und gewissermaßen einen teilnehmenden, unmittelbaren Zugang zum Gegenstandsbezug mit dem hier skizzierten narrativen Ansatz verbinden. Die ethnografische „Methodenpluralität“23 erlaubt verschiedene Forschungsdesigns mit ethnografischer Akzentuierung, die in dieser Hinsicht auch eine triangulatorische Erkenntnisgewinnung24 erlauben würden. Denkbar ist etwa, dass gemeinsam mit den Jugendlichen deren social-media-Aktivitäten gesichtet werden, wobei die Jugendlichen gleichzeitig oder im Anschluss von den betreffenden Praktiken (zum Beispiel der mediatisierten Interaktion mit den Freunden) erzählen. Auch Bilder und Videos könnten gemeinsam gesichtet und einer transmedialen, narrativen Analyse unterzogen werden. Methodisch würde so nicht nur eine Triangulation eröffnet, im Sinne „authentischer Gespräche“25 läge zusätzlich Forschungsmaterial in der Form von natürlichem Alltagsmaterial mit hoher Reliabilität und deskriptiver Validität26 vor. Wäre das Forschungsinteresse spezifisch auf die Frage der Veränderung des Freundschaftskonzepts heutiger Jugendlicher (oder anderer Gruppen) hin fokussiert, so böte Roland Girtles Entwurf des ero-epischen Gesprächs27 einen interessanten Ansatzpunkt. Bei dieser Interviewform handelt es sich um dialogische, gleichberechtigte Gespräche zwischen der forschenden und der interviewten Person, die sich im Sinne eines wechselseitigen Erzählens von Selbsterlebtem vollzieht:28 Das Charakteristische dieses Gesprächs ist, wie gesagt, daß der Forscher sich selbst einbringt und nicht bloß durch Fragen den Gesprächspartner in ‚Zugzwang‘ bringt. Das ‚eroepische Gespräch‘ ist somit ein eher feinfühliges und nicht so leicht durchführbares Unternehmen, denn es gehören viel Gefühl und Geduld zu diesem.29
22 23 24 25 26 27 28 29
Vgl. Auhagen 1991, S. 33–39. Pfadenhauer 2018, S. 562. Vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 94. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 143. Vgl. Flick 2018, S. 187–189. Vgl. Girtler 2001, S. 147–168. Vgl. Girtler 2001, S. 147. Girtler 2001, S. 149 (Hervorh. i. Orig.).
Perspektiven und Anknüpfungspunkte für weitere Forschung
Wird dieses Gespräch mit Feingefühl durch einen erfahrenen Interviewenden geführt, so geht Girtler davon aus, die „Verfälschung der sozialen Wirklichkeit“30 standardisierter und monologisch angelegter Interviewdesigns durch die entstehende Offenheit, Vertrautheit und Natürlichkeit des Gesprächs weitgehend auflösen zu können. Ohne eine abschließende methodologische Auseinandersetzung zum Erkenntnisstatus führen zu wollen,31 ließe sich mittels eines solchen Forschungsdesigns nicht nur an den hier formulierten qualitativen Hypothesen der Veränderung anknüpfen, sondern zugleich auch das hier eingeführte Analyseinstrumentarium auf eine spannende, explorative und definitiv neue Art und Weise einsetzen, um so eine weitere Ausdifferenzierung und Popularisierung des semiotisch-narrativen Ansatzes im Rahmen der Werteforschung der empirischen Sozialforschung zu bewirken.
Girtler 2001, S. 155. Für eine diesbezügliche Diskussion des ero-epischen Gesprächs vgl. exemplarisch Spetsmann-Kunkel 2005; für eine Diskussion der partizipativen Forschung allgemein siehe Unger 2018, S. 161–178. 30 31
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Anhang A Transkriptionssystem
Transkriptionsregeln
Grundsätzlich wird der genaue Wortlaut des Gesprochenen transkribiert (zu den Ausnahmen siehe unten). – Die Satzform und der Satzbau werden beibehalten, auch wenn dieser grammatische oder syntaktische Fehler enthält. Beispiel: „Dann bin ich zuhause gegangen“. – Wortdoppelungen werden transkribiert. – Die Interpunktion wird gemäß den Regeln der deutschen Sprache gesetzt. – Sprechfehler (zum Beispiel ein Stottern) werden bereinigt. – Sprachvarietäten, insbesondere Soziolekte und Dialekte, werden um ihre phonologischen Charakteristiken bereinigt und in die hochdeutsche Schriftsprache überführt. Akzente werden nicht transkribiert. Sondersprachliche Ausdrücke werden beibehalten, wenn keine sinngemäße Übersetzung möglich ist. a. Beispiel: „No isch mein Vadder in die USA gfloga“ wird zu „dann ist mein Vater in die USA geflogen“. b. Beispiel: „dann hamma uns getroffen“ wird zu „dann haben wir uns getroffen“. c. Beispiel: „mittags waren wir dann biken“ (bleibt unverändert). – Redewendungen, Redensarten, Idiome werden wie sie gesagt wurden transkribiert und nicht verändert. Beispiel: „übers Ohr hauen“ statt „über das Ohr hauen“. – Rhetorische Stilmittel werden wie sie gesagt wurden transkribiert und nicht ergänzt oder erweitert. Eine Erläuterung kann im Rahmen einer Anmerkung erfolgen. d. Beispiel Ellipse: „Okay und meine Eltern meinten, ich solle um Halb spätestens da sein“ (bleibt unverändert). –
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Transkriptionssystem
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e. Beispiel Synekdoche: „Dann haben wir das ganze Haus zerstört, nur weil wir schon so früh da waren“ (bleibt unverändert). f. Beispiel Ironie: „Ja, nee, is klar Junge“ [Anm. KET: Vermutlich ironisch zu verstehen und ablehnend gemeint]. Verzögerungs- und Fülllaute („ähm“, „mhm“, „ja“, „ah“, „ähm“ usw.) werden transkribiert.
Anmerkungen zur einheitlichen Schreibweise
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Abkürzungen werden immer ausgeschrieben. Beispiel: und so weiter, zum Beispiel. Anredepronomen der zweiten Person werden klein geschrieben. Die Höflichkeitsanrede-Pronomen in der Sie-Form werden groß, die der Du-Fom klein geschrieben. Wortverkürzungen und Wortverschleifungen werden an das Schriftdeutsch angenähert. Beispiel: „Für die Zukunft stell ich mir schon vor, mal’n Haus zu bauen“ wird zu „Für die Zukunft stelle ich mir schon vor, mal ein Haus zu bauen.“ Fremdsprachige Begriffe werden nicht übersetzt. Sie werden den orthographischen Regeln des Schriftdeutschen gemäß behandelt (zum Beispiel hinsichtlich ihrer Groß- und Kleinschreibung). Beispiel: „Ich fand das echt nice vom Lehrer, dass er mich gelobt hat.“ Akronyme und Kurzwörter werden in ihrer verkürzten Schreibweise geschrieben. Sofern erläuterungsbedürftig und nicht im Duden gelistet sind, erfolgt dies in einer Anmerkung. Beispiel: „Ich bekomme kein BAföG, daher muss ich arbeiten“ Zahlen von null bis zwölf werden im Fließtext mit Namen, Zahlen ab der 13 in Ziffern geschrieben. Gelten spezifische Zahlenkonventionen, etwa die des Datums, bei Hausnummern oder Zeitangaben, werden diese eingehalten. Zitate von wörtlicher Rede der Gesprächspersonen werden in Anführungszeichen gesetzt. Einzelbuchstaben werden immer groß geschrieben.
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Layout und Syntax
Layout und Syntax
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Formatierung: Die Transkripte werden in der Schriftart Courier New, in Schriftgröße 10, mit linksbündiger Ausrichtung und in 1,3-fachem Zeilenabstand erstellt. Sprecherkürzel: Die interviewende Person wird durch das Kürzel I gekennzeichnet. Die befragte Person erhält mit dem Anfangsbuchstaben ihres anonymisierten Vornamens eine entsprechende Kennnummer. Zeitmarken werden nicht eingefügt. Kommentare oder Anmerkungen des Autors werden in [] gesetzt. Nonverbale und parasprachliche Äußerungen (zum Beispiel lachen, husten oder seufzen) werden in () notiert. Wortabbrüche werden im Transkript durch das Abbruchzeichen / gekennzeichnet. Für Satzabbrüche wird das Abbruchzeichnen // verwendet. Wird die sprechende Person unterbrochen wird dies durch -- angezeigt. Sprecherpausen werden im Transkript durch das Pausezeichen (.) gekennzeichnet. Dabei gilt: a. (.) für eine Pause von bis zu einer Sekunde; b. (..) für eine Pause von bis zu zwei Sekunden; c. (Zahl) für eine Pause von drei oder mehr als drei Sekunden. Sprecherüberlappungen: Gleichzeitig gesprochene Passagen werden im Transkript in = geführt. Sprechgeschwindigkeits- und Lautstärkeveränderungen werden in notiert. Dabei gilt die folgende Konvention: a. lento, langsam b. allegro, schnell c. forte, laut bzw. kräftig d.
piano, leise bzw. schwach Unverständliches sowie Geräusche werden im Transkript durch ??? gekennzeichnet. Im Falle von nicht vollständig verständlichen Äußerungen wird das vermutete Wort oder der vermutete Satzteil danach gegebenenfalls als Kommentar in [] angeführt werden. Sprachlich signifikante Dehnungen werden in GROßbuchstaben geschrieben. Vermutete Schreibweisen (zum Beispiel von Namen, Bezeichnungen o. ä.) werden mit einem (?) gekennzeichnet. Aussparungen von transkribiertem Text, wie sie vor allem im Hauptteil der Arbeit vorgenommen werden, werden mit […] gekennzeichnet.
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Anhang B Gesprächsleitfaden
Interviewphase 1: Präsentation der Lebensgeschichte
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Erzählstimulus: „Ich möchte Dich bitten, dich zurückzuerinnern und mir die Geschichte Deines Lebens, so von Anfang an, zu erzählen. In diesem ersten Teil des Gesprächs werde Dich nicht unterbrechen, du kannst frei erzählen, wie nach und nach eines zum anderen gekommen ist. Ich mache mir höchstens für den zweiten Teil ein paar Notizen, falls ich etwas nicht verstanden habe oder noch etwas nachfragen möchte.“ Detaillierungsfragen, zum Beispiel: „Mir ist nicht ganz klar, wie sich diese Zeit genau vollzogen hat. Du hattest gesagt […]. Kannst Du diesen Punkt vielleicht nochmals ausführlicher erzählen?“ Ergänzungsfragen, zum Beispiel: „Du hattest erzählt, dass […]. Dieser Entwicklung interessiert mich ganz besonders. Wie ging es danach weiter? Magst Du vielleicht erzählen, was sich danach ereignet hat?
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Interviewphase 2: Immanente Nachfragephase
Freundschaftsgeschichtliches Erzählen: „Ich möchte Dich nun bitten, dich zurückzuerinnern mir die Geschichte deiner Freundschaften zu erzählen, also wie nach und nach eines zum anderen gekommen ist, wie ihr euch kennengelernt habt und so weiter. Du kannst die Freundschaften nacheinander oder zusammen erzählen, wie Du möchtest. Ich werde Dich nicht unterbrechen, sondern mir nur einige Notizen machen. Bitte bedenke, dass es keine richtigen und keine falschen Geschichten gibt.“ Optional: „Lass Dir ruhig etwas Zeit. Ich verlasse für ein paar Minuten den Raum. Hier hast Du ein Blatt Papier, um Dir Notizen zu machen.“ –
Interviewphase 2: Immanente Nachfragephase
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Strategie erweiterter Erzählgenerierung: Beispielhafte Fragen: Freundschaft: • „Erzähl mir doch mal eine spontane Geschichte, die Du mir Deinem besten Freund bzw. mit Deiner besten Freundin erlebt hast.“ • „Vielleicht möchtest Du mir einmal erzählen, wie so eine typische Woche mit Deinem Freundeskreis aussieht?“ • „Welche zwei Erlebnisse mit deinen Freunden möchtest Du auf keinen Fall missen? Möchtest Du mir einmal davon erzählen?“ • „Kannst Du Dich daran erinnern, wann Dir ein Freund/eine Freundin richtig geholfen hat? Wie war das? Was ist passiert?“ • „Hattest Du schon einmal Stress oder Konflikte mit einer Freundin/einem Freund? Erzähl’ doch bitte einmal, wie das eine zum anderen kommen ist.“ Lebenswelt, Routinen und Alltagserzählungen: • „Was hast Du in der vergangenen Woche so alles gemacht? Möchtest Du einmal erzählen, was sich von Montag bis Sonntag so alles ereignet hat?“ • „Wie sieht eine typische Woche bei Dir aus? Erzähl doch einmal, was Du unter der Woche und am Wochenende so unternimmst?“ Digitale Endgeräte und Mediennutzung: • „Was hast Du in der vergangenen Woche so alles online gemacht?“ • „Wie sieht eine typische Woche mit digitalen Medien bei Dir und Deinen Freunden aus?“ • „Gibt es eine Geschichte, die Dir spontan zu social media einfällt?“ Interviewphase 3: Exmanente Nachfragephase
Fragen zu Reflexionen, Verortungen, Deutungen: • „Was macht eine gute Freundschaft allgemein aus?“ • „Was ist der Unterschied zwischen einer Freundschaft und einer Bekanntschaft? Hast Du dafür vielleicht ein Beispiel?“ • „Welche Erlebnisse mit einem Freund/einer Freundin waren besonders überraschend? Welche waren besonders schön oder spannend? Was war unangenehm?“ • „Was könnte man an Eurer Freundschaft verbessern?“ • „Gibt es zwischen der Freundschaft online und offline einen Unterschied?“ • „Was glaubst Du hat sich mit digitalen Medien und sozialen Netzwerken verändert?“ – Gegebenenfalls Vervollständigung soziodemographischer Informationen (Alter, Wohnort usw.) – Unterschrift Einverständniserklärung und Datenschutzvereinbarung –
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Kai Erik Trost untersucht, wie heutige Jugendliche Freundschaft praktizieren und als sinnhaft erleben. Welche subjektiven Bedeutungen haben die Beziehungen im digitalisierten Alltag? Welche Werte sind in besonderem Maße relevant? Methodisch arbeitet der Autor mit Erzählinterviews. Für die Auswertung der Geschichten entwickelt er einen neuartigen, narratologisch-semiotisch fundierten Analyseansatz und wendet ihn empirisch an. In seiner Analyse identifiziert Trost sechs Freundschaftssemantiken, die anhand
ISBN 978-3-515-13546-7
9 783515 135467
der sozialen Funktionen der sozialräumlichen und gesellschaftlichen Verortung, der psychosozialen Stabilisierung und der Selbstauseinandersetzung logisch paradigmatisiert werden. Die Ergebnisse zeigen, dass heutige Freundschaften als offene Beziehungen zu verstehen sind, die einem relativen Privatismus sowie einer besonderen Form der Selbstreflexivität und des Egozentrismus unterliegen. Sie erweisen sich als sehr fragil, werden zugleich aber moralisch in besonderem Maße idealisiert.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag