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German Pages 112 Year 2014
Luca Di Blasi Der weiße Mann
X T E X T E
Luca Di Blasi
Der weiße Mann Ein Anti-Manifest
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung | 7 1. Schnittmengen | 11 2. Die weißen Heten | 17 3. Aufbruch nach Pandora | 21 4. Der Mann ohne Eigenschaften | 27 5. This eye fucks the world | 33 6. Ressentiment von oben | 41 7. White Trash | 51 8. Islamophobe Allianzen | 55 9. A strong horse and a weak horse | 59 10. Das Problem der Ausnahme | 65 11. Die Letzte der Minderheiten | 73 12. Transpartikularismus | 81 13. Versöhnende Spaltung | 89
Postskriptum | 99 Bibliographie | 101 Danksagung | 107 Zum Autor | 109
Einleitung
Wie können weiße Männer über sich nachdenken – und warum ist das so schwierig? Diese Frage bildet den Ausgangspunkt des vorliegenden Buches. Gerade weil weiße Männer in vielfacher Hinsicht privilegiert und geschont erscheinen, gerade weil sie vom Zentrum kommen, können sie sich nicht in gleicher Weise thematisieren wie jene, die sich lange Zeit an die Ränder einer vom ›weißen Mann‹ beherrschten Welt verwiesen sahen. Gerade weil mit den weißen Männern eine spezifische Geschichte der Dominanz verbunden ist, erscheint jede Selbstreflexion, die sich nicht auf eine Selbstkritik beschränkt, per se problematisch und verdächtig. Sogar die Selbstkritik kann noch beargwöhnt werden. »Macho, weiß, von gestern«, »Ade, weißer Mann« (Zeit), »Die Krise des weißen Mannes« (Spiegel), »Weißer Mann, was nun?« (Welt) titelten deutsche Medien 2012 nach der Wahlniederlage Mitt Romneys. Das klingt schonungslos. Doch gehört diese Art der Daueralarmierung nicht auch zur Geschichte des weißen Mannes? War eines seiner bisherigen Erfolgsgeheimnisse nicht gerade die Selbstmobilisierung durch Abstiegsängste? Das bedeutet nicht, dass solche Ängste gegenstandslos wären. Die neue Runde der (Selbst-)Hysterisierung weißer Männer seit den US-Wahlen basiert auf Fakten. Nachdem Barack Obama zum zweiten Mal einen weißen Gegenkandidaten besiegte und dabei die große Mehrzahl der Frauen sowie der Nicht-Weißen und anderer Minderheiten für sich gewann, verfestigte sich der Eindruck, dass
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Der weiße Mann
es weiße männliche Kandidaten zunehmend schwer haben werden, eine Mehrheit hinter sich zu vereinigen. Der Aufstieg nicht-westlicher Staaten und Regionen, die Emanzipation der Frauen, Veränderungen in der Arbeitswelt haben weit über die USA hinaus Einfluss auf die Stellung des weißen Mannes. Mit dem schleichenden Bedeutungsverlust gehen immer neue und immer lauter werdende Kritikwellen einher, die weißen, heterosexuellen Männern die Quittung für Jahrhunderte des Rassismus, des Kolonialismus, der Sklaverei, der Frauendiskriminierung, der Homophobie präsentieren. Der weiße Mann müsse sich »neu erfinden«, heißt es. Die Forderung, sich endlich »als einen unter anderen zu sehen und nicht als den einen über allen« (Zeit), ist allerdings leichter erhoben als befolgt. Wie genau soll das denn gehen? Sollen sich weiße heterosexuelle Männer beim nächsten Berliner Karneval der Kulturen um einen eigenen Stand bewerben? Eine Reflexion der spezifischen Lage weißer Männer ist überfällig. Der Prozess ihrer Dezentrierung, so begrüßenswert dieser auch ist, eröffnet nämlich nicht nur den Ausblick auf eine gerechtere Welt, sondern birgt auch Sprengstoff. Dazu gehört besonders die Versuchung weißer Männer, ihre Dezentrierung mit Marginalisierung und Privilegienabbau mit Diskriminierung zu verwechseln – und sich schließlich als White Trash, als Opfer der Opfer zu bemitleiden. Die blutigen Attentate von Anders Breivik haben Gefahren einer sich bedroht fühlenden Männlichkeit in erschreckender Weise sichtbar gemacht. Der »erste antimuslimische Terrorist« (Süddeutsche Zeitung) richtete seine Waffen nicht etwa auf Muslime 1, sondern auf Vertreter eines Multikulturalismus, von dem er sich ausgeschlossen sah. Der Attentäter betrachtete sich als Retter des Abendlands vor dem Islam – und glich sich dabei seinem Phantasma eines hyper1 | Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form gemeint.
Einleitung
virilen Muslim an. Spätestens seit dem Massenmord vom 22. Juli 2011 ist eine Beschäftigung mit der spezifischen Situation weißer Männer im Multikulturalismus unumgänglich. Das gilt umso mehr, als nicht nur die Konstruktion des frauendiskriminierenden orientalischen Muslim weit über rechtsextreme Kreise hinausreicht und weißen Männern dazu dient, sich als Kämpfer für Frauen- und Minderheitenrechte neu zu erfinden. Von linksextremen Antideutschen bis zu rechtsextremen Identitären reichen inzwischen antimuslimische Tendenzen, von den politischen Rändern bis in die Redaktionsräume einflussreicher Tageszeitungen. Auch die Entgegensetzung: weiße Männer hier und alle anderen Gruppen (Frauen, sexuelle Minderheiten, Nicht-Weiße etc.) dort ist keineswegs bloß das Phantasieprodukt paranoider Einzelgänger. Sie ist allgemein verbreitet und wird noch in der scheinbar kritischen massenmedialen Verabschiedung des weißen Mannes immer wieder bestätigt und reproduziert. Das vorliegende Buch artikuliert einen fortlaufenden Gedankengang – und belohnt von daher konventionell-lineare Lektüregepflogenheiten. Es erkundet Schritt für Schritt Wege und Abwege der Selbstreflexion weißer Männer und gelangt zum Ergebnis, dass die Besonderheit oder das Partikulare derjenigen, die gesellschaftlich in besonderem Maß geschont, privilegiert und dominant erscheinen, genau darin besteht, sich nicht ohne weiteres als Gruppe neben anderen Gruppen positionieren zu können. Was weißen Männern immer wieder vorgehalten wurde, dass sie nämlich als Unmarkierte einen Universalismus vertreten würden, ist bis zu einem gewissen Grad für sie alternativlos. Da dieser ›Universalismus‹ – und das ist das Neue, das dieses Buch vorschlägt – aus der spezifischen Situation weißer Männer entwickelt wird, aus ihrer Unmöglichkeit, sich in zufriedenstellender Weise als Partikularität neben Partikularitäten, als eigene Gruppe neben anderen Gruppen positionieren zu können, werde ich hierfür den Ausdruck Transpartikularismus einführen. Dieser Transpartikularismus ist reflexiver, weniger naiv, weniger borniert
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auch als das, was gerade von Liberalen normalerweise als Universalismus verstanden wird. Er legt das Paradox offen, das der ›westliche Universalismus‹ schon als Ausdruck in sich birgt und doch nicht thematisiert. Der Transpartikularismus steht dem Universalismus einiger linker Theoretiker nahe, aber er teilt nicht deren Abneigung gegen einen postmodernen Multikulturalismus. Doch auch gegenüber dem Multikulturalismus führt der Begriff des Transpartikularismus eine entscheidende Differenz ein. Sein Ausgangspunkt ist nämlich genau jene ›Gruppe‹, die aus strukturellen Gründen gerade keine Gruppe im Multikulturalismus bilden kann. Damit ist auch angedeutet, warum ich dieses Buch im Untertitel ein Anti-Manifest genannt habe. Gerade der vorliegende Gedankengang führte mich zum Resultat, dass sich Manifeste von und für weiße Männer verbieten. Dieses Buch ist in diesem Sinne ein Manifest gegen Manifeste weißer Männer. Das letzte Buch Michel Foucaults trägt den Titel: Der Mut zur Wahrheit.2 Wissen und Mut verschränkten auch schon die Aufklärer des 18. Jahrhunderts: Sapere aude. Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Vielleicht kann man folgenden Zusammenhang behaupten: Nicht, dass alles, was auszusprechen Mut erforderte, deswegen schon wahr wäre, wohl aber, dass das, was ohne Mut artikuliert werden kann, ohne Relevanz und in diesem Sinne unwahr ist. Manchen werden die Ergebnisse des vorliegenden Buches nicht gefallen. Bei anderen wird bereits die Umkreisung der Figur des weißen Mannes Verdächtigungen mobilisieren. Ich weiß das, weil dieser Text aus dem Dialog mit einem anhaltenden Selbstverdacht entstanden ist. Argwöhnisch blieb ich gleichwohl auch und gerade gegenüber der Verführung, das Buch so weit zu glätten, dass es schließlich jede Anstößigkeit verloren und seine Publikation keinerlei Mut mehr erfordert hätte. 2 | M. Foucault, Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesungen am Collège de France 1983/84, Berlin: Suhrkamp 2012.
1. Schnittmengen
Während des langen und spannenden Kopf-an-Kopf-Rennens zwischen Barack Obama und Hillary Clinton im US-amerikanischen Vorwahlkampf 2008 wurde viel darüber gerätselt, wer schließlich die Oberhand gewinnen würde. In dieser Zeit überraschte mich die Postkolonialismus-Theoretikerin Gabriele Dietze durch die Bestimmtheit, mit der sie den Sieg Obamas über Clinton prophezeite. Wer sich mit der Frage der Intersektionalität eingehender befasst habe, könne daran keinen Zweifel haben. Damals wurde ich erstmals auf die Wichtigkeit dieses sperrigen Begriffs aufmerksam. Eingeführt wurde der Intersektionalitätsbegriff bereits Ende der 1980er Jahre von der US-amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw.1 Mit seiner Hilfe werden die Überschneidungen, das Zusammenwirken und die jeweiligen Unterschiede verschiedener Diskriminierungsformen untersucht. Der Begriffsbildung lagen Erfahrungen in den USA der späten 1960er Jahre zugrunde, wonach der von weißen Mittelklassefrauen beherrschte Feminismus die Lebensbedingungen von (schwarzen) Arbeiterfrauen nicht adäquat berücksichtigte. Oder, in den prägnanten Worten der afroamerikanischen Literaturwissenschaftlerin bell hooks: »White women who dominate feminist discourse,
1 | Vgl. K. Crenshaw, »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine«, in: The University of Chicago Legal Forum, 1989, S. 139-167.
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who for the most part make and articulate feminist theory, have little or no understanding of white supremacy […].«2 Der Intersektionalitätsbegriff kann dazu dienen, die Intuition zu stützen, wonach zu einem gewissen Zeitpunkt bestimmte Formen der Diskriminierung schwerwiegender oder gesellschaftlich relevanter erscheinen als andere. Dass schwarze Frauen mehrheitlich für Barack Obama stimmten, konnte auch als Indiz dafür gelesen werden, dass für sie zu diesem Zeitpunkt die Diskriminierungskategorie Hautfarbe relevanter als die Gender-Kategorie war. Gerade die Kategorie Hautfarbe wiederum zeigt, wie sehr unterschiedliche Diskriminierungskategorien miteinander verflochten sind. Schwarz oder weiß sind eben nicht einfach ›natürliche‹ Hautfarben, sondern zutiefst mit der Geschichte von Kolonialismus, Rassismus und Diskriminierung verflochten und können selbstverständlich nicht von geschichtlichen, gesellschaftlichen und sozioökonomischen Fragen getrennt werden. In Intersektionalitätsanalysen werden genau solche Verflechtungen unterschiedlicher Diskriminierungskategorien untersucht, die häufig widersprüchlich erscheinen und daher einfache Positionierungen erschweren. Das zeigte sich besonders in den Debatten der vergangenen Jahre um den Schleier muslimischer Frauen. Manche westliche Feministinnen, allen voran Alice Schwarzer mit ihrer Zeitschrift Emma, deuten den Schleier als repressives religiöses und patriarchales Symbol. Schwarzer ging in ihrem Buch Der große Unterschied so weit, das Kopftuch mit dem Hakenkreuz zu vergleichen. Postkolonialistisch sensibilisierte Theoretikerinnen dagegen erkennen in einer solchen Kritik den typischen Ausdruck westlicher Borniertheit und Arroganz.3 Westliche Frauen gerierten sich hier, kaum anders als George W. Bush in Afghanistan, als Retterinnen muslimi2 | b. hooks, Feminist Theory: From Margin to Center, London: Pluto Press 2000, S. 4. 3 | Gabriele Dietze hat hierfür den Ausdruck ›Okzidentalismus‹ vorgeschlagen. Vgl. G. Dietze, »Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung«, in: Kritik des Okzidentalismus. Transdis-
1. Schnittmengen
scher Frauen vor muslimischen Männern. Dass junge Muslimas den Schleier auch in politischer, kreativer und widerständiger Form nutzten, wurde übersehen oder schlichtweg geleugnet. Im legitimen Versuch, Islamophobie und einen sich überlegen dünkenden und selbstgerechten westlichen Universalismus zu bekämpfen, schossen aber wiederum manche über das Ziel hinaus. Frauenrechtlerinnen wie Necla Kelek, Seyran Ateş oder Ayaan Hirsi Ali, die selbst Opfer islamisch-patriarchaler Gewalt geworden waren und den Islam öffentlich kritisierten, wurden zu Zielscheiben multikulturalistischer und postkolonialistischer Kritik und gerieten somit zwischen die Fronten.4 Ein Vorfall, der diese Konflikte anschaulich illustriert, ereignete sich im Frühjahr 2013: Das tunesische Mitglied der feministischen Gruppe Femen, Amina Tyler, postete auf Facebook Bilder von sich. Auf dem nackten Oberkörper der Frau war auf Arabisch zu lesen: »Mein Körper gehört mir, und er ist nicht Quelle von irgendjemandes Ehre.« Nur kurze Zeit später kursierten im Internet besorgniserregende Gerüchte über Todesdrohungen und eine angebliche Zwangseinweisung Amina Tylers. Zu ihrer Unterstützung organisierten Femen-Aktivistinnen für den 4. April 2013 den so genannten Topless Jihad Day, der mit Oben-ohne-Demonstrationen, etwa vor Moscheen, und Sprüchen wie »Naked Freedom« oder »Fuck Islamism« begangen wurde. Damit aber lösten sie Gegenaktionen aus. Nur einen Tag später wurde die Facebook-Seite Muslim Women Against Femen erstellt. In der Selbstbeschreibung hieß es: »Diese Seite ist für muslimische Frauen, die Femen als jene Islamophoben/Imperialisten bloßstellen wollen, die sie sind. […] Muslimische Frauen hatten schon genug
ziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, hg. v. G. Dietze, C. Brunner und E. Wenzel, Bielefeld: transcript 2009, S. 22-54. 4 | Eine lesenswerte Debatte um den Islam und den Multikulturalismus, an der sich namhafte Intellektuelle beteiligt haben, findet sich auf www. signandsight.com/features/1167.html, abgerufen am 15.05.2013.
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paternalistische und parasitäre Beziehungen mit MANCHEN westlichen Feministinnen.« Binnen 24 Stunden hatte diese Seite bereits rund 2000 Gefällt mir-Angaben. Viele Frauen artikulierten hier ihren Protest gegen eine Stereotypisierung und Bevormundung durch Femen. Eine Frau etwa schrieb: »We won’t be needing any of that ›Whitenon-Muslim-women-saving-Muslim-women-from-Muslim-men‹ CRAP« und paraphrasierte damit einen berühmt gewordenen Satz der postkolonialistischen Vordenkerin Gayatri Chakravorty Spivak aus den späten 1980er Jahren: »White men are saving brown women from brown men […].«5 Das Zusammenfallen von Differenzkategorien führt, wohlgemerkt, nicht notwendig zu einer Verstärkung von Diskriminierung. Es geht also nicht darum, dass eine Person mehr diskriminiert ist, weil sie Frau, nicht-weiß und muslimisch ist. Trotzdem kann insofern von einer besonderen Ausgesetztheit und Diskriminierung gesprochen werden, als Menschen, die unter mehrere Differenzkategorien fallen, leichter zwischen alle Stühle geraten. Sie riskieren, sowohl von der Mehrheitsgesellschaft als auch noch von anderen diskriminierten Gruppen diskriminiert zu werden. Von der Minderheit von Menschen, bei denen die jeweils gerade mächtigsten Differenzkategorien zusammenfallen, kann etwas Verunsicherndes ausgehen. Als potentielle Opfer der Opfer können sie den Opferstatus anderer diskriminierter Gruppen verunsichern, weil sich in ihrem Spiegel diese auch als dominant und diskriminierend erfahren. Der wohlhabende weiße Homosexuelle erfährt sich gegenüber einem sozial unterprivilegierten Homosexuellen aus einem Entwicklungsland als privilegiert, nicht als marginalisiert. Die westliche Feministin muss sich vorhalten lassen, gegenüber nicht westlichen Frauen unter Umständen dominant und paternalistisch aufzutreten. 5 | G.C. Spivak, »Can the Subaltern Speak?« in: Marxism and the Interpretation of Culture, hg. v. C. Nelson und L. Grossberg, Urbana and Chicago: University of Illinois Press 1988, S. 271-313, hier S. 296.
1. Schnittmengen
Gleichzeitig stabilisieren Mehrfachdiskriminierte bis zu einem gewissen Grad den Partikularismus.6 Während Prozesse der Gleichstellung Zuweisungen eines Diskriminierungsstatus mehr und mehr erschweren, erscheinen jene, die unterschiedliche Formen der Diskriminierung vereinen, eindeutiger diskriminiert. In diesem Sinne bestätigen Mehrfachdiskriminierte einen Partikularismus und Multikulturalismus, in welchen sich Gruppen aufgrund erfahrener Marginalisierung und Ausgrenzung gebildet und miteinander solidarisiert haben, um für Anerkennung und gleiche Rechte zu kämpfen. Genau dies gilt aber nicht für eine andere intersektionelle Gruppe: Jene, die in entgegengesetzter Weise heraus fällt aus der Pluralität der Gruppen und die man, in Analogie zu den Mehrfachdiskriminierten, als die Mehrfachgeschonten oder Mehrfachprivilegierten bezeichnen könnte.
6 | Unter ›Partikularismus‹ verstehe ich normalerweise den Anspruch auf Vorrang kleinerer Einheiten gegenüber dem Ganzen; an manchen Stellen verwende ich diesen Ausdruck jedoch auch, um das Verbindende von Multikulturalismus und Poststrukturalismus zu bezeichnen.
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2. Die weißen Heten
Der Begriff der Intersektionalität wurde bislang ausschließlich auf diskriminierte Gruppen oder Personen angewendet. Was aber passiert, wenn man ihn auf die Sphäre der Privilegierten überträgt? Wenn es Diskriminierungskategorien gibt, muss es spiegelbildlich auch Dominanzkategorien geben. Wenn Diskriminierungskategorien zusammenfallen, sollten auch Dominanzkategorien zusammenfallen können. Und wenn es Mehrfachdiskriminierte gibt, sollte es auch Mehrfachgeschonte geben, Menschen, die man gerade durch die Abwesenheit der jeweils mächtigsten Diskriminierungsformen von anderen abgrenzen könnte. Wenn man genauer fragt, wer heute zu der Gruppe der Mehrfachgeschonten gehört, dann stößt man wahrscheinlich schnell auf jene, die der geniale Berliner Volksbühnen-Regisseur und Dramatiker René Pollesch in einem seiner Stücke als »weiße männliche Heten« bezeichnete. Der Kürze halber und in Anlehnung an Edward Digby Baltzell, der auf die Vereinigten Staaten der 1960er Jahre bezogen von den white anglo-saxon protestants sprach, von den WASP1, werde ich von den WHM sprechen, der Menge der weißen heterosexuellen Männer (white heterosexual males). WHM sind also jene, die lange Zeit von schmerzhaften Markierungen weitgehend verschont geblieben sind, oder, negativ formuliert, die keinen nennenswerten Diskriminierungsstatus für sich 1 | Edward Digby Baltzell verwendet das Akronym WASP in seinem 1964 erschienenen Buch The Protestant Establishment: Aristocracy and Caste in America.
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beanspruchen können. Wo Männlichkeit mit (gemutmaßter) Heterosexualität und weißer Hautfarbe und damit implizit westlicher, also auch zumeist kolonial belasteter Herkunft zusammenfallen, hätte man es mit einer privilegierten ›Gruppe‹, einer ›Kultur‹ und, im weltweiten Maßstab, mit einer ›Minderheit‹ zu tun. Jede dieser Kategorien kann natürlich in vielfacher Weise hinterfragt und dekonstruiert werden. Ohne dies im Geringsten zu bezweifeln, ohne die Kategorien ›weiß‹, ›heterosexuell‹ oder ›männlich‹ naturalisieren, ontologisieren oder neutralisieren zu wollen und ohne umgekehrt behaupten zu wollen, es handle sich dabei ausschließlich um ›soziale Konstruktionen‹, werde ich sie im Weiteren als Dominanz- oder Privilegiertheitskategorien voraussetzen und mich auf Folgendes konzentrieren: die Tatsache, dass jene, die unter diese Kategorien fallen, eine spezifische Geschontheit verbindet. Wer zugleich weiß, männlich und heterosexuell ›ist‹, hatte lange Zeit die besten Chancen, die eigene Hautfarbe, das eigene Geschlecht, das eigene Sexualverhalten, als nicht-problematisch betrachten zu können, als ›normal‹. Die WHM waren und sind noch immer jene, die sich selbst als nicht besonders markiert erfahren, oder genauer, sich gerade nicht als anders, diskriminiert, marginalisiert erfahren müssen. Weniger markiert sein bedeutet auch: Weniger von verletzenden Anrufungen, um einen Ausdruck des Philosophen Louis Althusser zu verwenden, durch andere betroffen zu sein, von schmerzhaften Zuweisungen von Namen und Identitäten. Daher hängen Unmarkiertsein und Geschontsein zusammen. Nichtdiskriminiertheit bedeutet zuallererst: Nicht einmal bemerken, wie wenig man diskriminiert ist, und das bedeutet auch: im Selbstverständnis gerade keine Gruppe bilden. Diese ›Gruppe‹ oder ›Nicht-Gruppe‹ wäre ohne Zweifel noch weitaus präziser beschrieben, wenn man auch die Kategorie der Klasse einbeziehen würde. Aber wie ließe sich eine solche Kategorie heute bestimmen? Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte sind gerade jene industriellen Arbeitsplätze in nicht-westliche Niedriglohnländer verlagert worden, die am deutlichsten das offenbaren, was man Klassenausbeutung genannt hat. Eine solche findet natürlich
2. Die weißen Heten
auch heute statt, aber eben in globalem Maßstab, und von dieser Ausbeutung profitieren bis zu einem gewissen Grad auch (westliche) Konsumenten, nicht nur Kapitaleigner. Hinzu kommt, dass auch die Kategorie der Kapitalisten, verstanden als jene, die über Kapital verfügen, schwer eingrenzbar ist, schließlich verfügen ja auch viele Lohnarbeiter über Kapital. Aufgrund der aberwitzigen Verteilungsunterschiede könnte man in Anlehnung an die Occupy-Bewegung die »ein Prozent« der größten Kapitalbesitzer und damit der größten Profiteure des Kapitalismus von den anderen Kapitaleignern abgrenzen und als ›Klasse‹ bezeichnen. Man könnte auch einfach von der ›Klasse der Reichen‹ und sogar von einem laufenden ›Klassenkampf‹ oder ›Klassenkrieg‹ sprechen und sich dabei auf den US-amerikanischen Unternehmer Warren Buffett berufen: »There’s class warfare, all right, […] but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.« 2 Im Lichte dieser wahrhaft Privilegierten verblassen allerdings andere Formen der Privilegierung. Das ist ein Grund, warum ich mich entschieden habe, die Frage der Klasse auszuklammern. Sie ist nicht etwa zu irrelevant, sondern genau umgekehrt zu relevant. Gerade weil die Besserstellung der Reichsten so überwältigend ist, erscheinen andere Kategorien im direkten Vergleich weniger wichtig. Zu sagen, jemand sei besonders privilegiert, weil er weiß, männlich, heterosexuell und Milliardär sei, ist in eigentümlicher Weise schräg. Wer Milliardär ist, ist immer privilegiert, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht oder sexueller Orientierung. Der Verzicht auf die Verwendung der Klassenkategorie hat für dieses Buch zur Folge, dass die Unmarkiertheit der WHM nicht mit Privilegiertheit schlechthin gleichgesetzt werden kann. WHM sind in Bezug auf bestimmte Kategorien bevorzugt. Ein Blick in die aktuelle Zusammenstellung von Aufsichtsräten, Spitzengremien von Verbänden, Chefetagen der Wirtschaft, Leitungsfunktionen in 2 | Ben Stein, »In Class Warfare, Guess Which Class Is Winning«, in: New York Times, 26.11.2006, www.nytimes.com/2006/11/26/business/your money/26every.html?_r=1&, abgerufen am 01.07.2013.
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Der weiße Mann
Politik, Wissenschaft und Kirchen etc. belegt zwar eine auch gesellschaftliche, politische und ökonomische Besserstellung der WHM. Das ändert aber nichts daran, dass es gleichzeitig viele unter prekären Bedingungen lebende WHM gibt, ja dass Männer auch ganz unten, bei den Obdachlosen, in den Gefängnissen, bei den Drogenabhängigen etc. überrepräsentiert sind. Ohne eine gesellschaftliche Privilegierung zu leugnen, werde ich daher in Bezug auf die WHM trotzdem lieber von Nicht-Markiertheit und Geschontheit reden. Die weitgehende Unmarkiertheit und Geschontheit der weißen heterosexuellen Männer wird besonders dadurch erkennbar, dass es kaum Ausdrücke gibt, mit denen ihre etwaige Abwertung oder Diskriminierung bezeichnet werden könnte. Der Ausdruck Rassismus wird selten mit einer Abwertung der Weißen verbunden. Zu den Termini Homophobie oder Misogynie gibt es kaum angemessene Pendants: Der Ausdruck Androphobie bezeichnet keine Abwertung der Männer, sondern eine Angst vor Männern, die häufig in Folge männlicher Gewalt auftritt. Männerfeindschaft wird zumeist als Feindschaft unter Männern verstanden. Nur der Ausdruck Misandrie bietet sich an, er ist aber noch sehr jung und wenig gebräuchlich. Abwertende Ausdrücke für Heterosexuelle wie »Brüter« kursieren eher innerhalb homosexueller Zirkel, und Spielräume für akademische Neologismen sind bereits verstellt: Das analog zu Homophobie gebildete Heterophobie ist bereits besetzt und meint bezeichnenderweise die Angst vor den Anderen, zu denen auch die Homosexuellen, nicht aber die Heterosexuellen gehören.
3. Aufbruch nach Pandora
Trotz oder wegen ihrer Geschontheit sind die WHM im Laufe der vergangenen Jahrzehnte auf der Ebene der Wissenschaften und Kultur mehr als andere Gegenstand vielfältiger negativer Markierungen geworden. Hier ist sogar eine deutliche Asymmetrie zu erkennen. Während jede öffentliche negative Zeichnung von Gruppen umso mehr tabuisiert erscheint, je mehr diese Gruppen tatsächlich diskriminiert oder marginalisiert werden oder bis vor Kurzem wurden, ist es bei den WHM genau umgekehrt: Gerade weil sie lange Zeit weitgehend unmarkiert geblieben sind, werden die Kategorien Männlichkeit, Weißsein, Heterosexualität zu Gegenständen sozialund kulturwissenschaftlicher Dekonstruktionen und Zielscheiben kultureller Abwertungen. Das betrifft besonders den akademischen und hochkulturellen Raum. Der Feminismus macht auf eine unterstellte und unmarkierte Männlichkeit aufmerksam, queere Ansätze legen eine lange Zeit unmarkierter und selbstverständlich erscheinender Heteronormativität offen, postkolonialistische Ansätze reflektieren kritisch einen verbreiteten Eurozentrismus, Critical Whiteness Studies das Weißsein. Ließen sich alle diese Ansätze zu einem Bild zusammenfügen, – die WHM erschienen hier nicht sehr vorteilhaft als jene, die um sich herum alle, die anders als sie sind, negativ markiert hätten. Sie wären jene, die sich im windstillen Zentrum eines von ihnen selbst verursachten Wirbelsturms befänden, während andere mehr oder weniger die Schäden davon trügen. Die heutigen WHM wären die Erben einer langen und bis heute andauernden rassistischen, homophoben, heteronormativen und androzentrischen Un-
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rechtsgeschichte. In radikaleren Ansätzen erscheint die Geschichte der WHM nicht nur als die eines privilegierten Unmarkiert- und Geschontseins, sondern als nicht wieder gut zu machende Dominanz- und Gewaltgeschichte: Gewalt gegenüber Nicht-Männern, Nicht-Heterosexuellen und besonders: Nicht-Weißen. Für eine Kriminal- oder Gewaltgeschichte der weißen Männer bestünde in der Tat kein Mangel an Material. Die Verbrechen von Männern an Frauen, beispielsweise in der sogenannten Hexenverfolgung oder von Weißen an Nicht-Weißen, die in Folge des neuzeitlichen Kolonialismus und der Versklavung von Abermillionen von Menschen begangen wurden, übersteigen die Vorstellungskraft und ihre Aufarbeitung ist, entgegen der naiven Meinung vieler, alles andere als abgeschlossen – sie hat gerade erst begonnen. Das 20. Jahrhundert mit der Verfolgung und planmäßigen Ermordung besonders der europäischen Juden, der Sinti und Roma und von Behinderten durch Nazi-Deutschland steht in dieser Tradition und wäre auch dechiffrierbar als aggressive Reaktionsbildung weißer Männer auf demographische und politische Veränderungen im weltweiten Maßstab. Gerade der Nationalsozialismus mit seinem Rassismus und Virilitätskult, seinem wahnhaften Antisemitismus, seiner Betonung des Reproduktionsparadigmas mit einhergehender Verfolgung sexueller Minderheiten und versuchter Zurückdrängung der Frau in die Mutterrolle ließe sich auch als fataler Ausdruck einer aggressiven Angst vor dem demographischen und politischen Erstarken der nicht westlichen und nicht weißen Welt und einem gesellschaftlichen Aufstieg der Frauen lesen. Vor diesem Hintergrund überrascht die negative Zeichnung der WHM nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass diese längst schon kulturwissenschaftliche Seminarräume verlassen und Eingang in die Massenkultur gefunden hat. Der weiße Mann wurde mehr und mehr Gegenstand ironischer, abwertender und polemischer Darstellungen. Die deutsche Medienberichterstattung um die Jahreswende 2012 und 2013 bietet mehrere Beispiele, die diese Tendenz illustrieren:
3. Aufbruch nach Pandora
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Der Sieg Obamas über seinen weißen Gegenspieler in den USWahlen 2012 wurde auch in Deutschland als »Ende des Mannes« gelesen und breit diskutiert.1 Ein paar Monate später wurden die so genannte Brüderle-Affäre und der Fehlstart Peer Steinbrücks als SPD-Kanzlerkandidat als Belege dafür verstanden, dass vermeintlich typische Eigenschaften weißer Männer gesellschaftlich nicht länger hingenommen würden, ja, dass typische weiße Männer zu einer Art gesellschaftlichem Relikt oder Fossil geworden seien.2 Dazu passte das Erscheinen des Buches der Reporterin Hanna Rosin mit dem Titel Das Ende der Männer und der Aufstieg der Frauen. Die These war, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 offen gelegt habe, dass Frauen für die neuen Arbeitsverhältnisse besser angepasst seien als Männer und diese zunehmend hinter sich lassen würden. Genau in dieser Zeit lief in Deutschland mit Quentin Tarantinos Django Unchained zudem ein Film an, der eindringlich daran erinnerte, welch aggressiven und hässlichen Klang die Bezeichnung weißer Mann haben kann, wenn man sie vor dem Hintergrund der blutigen Gewaltgeschichte der Sklaverei und des Rassismus vernimmt.
Eine pointiert negative massenkulturelle Zeichnung weißer Männer ist inzwischen weit verbreitet. Besonders konsequent ist in dieser Hinsicht der 2009 erschienene Kinofilm Avatar. Auf bruch nach Pandora, der inflationsbereinigt das bisher höchste Einspielergebnis in US-Dollar erzielt hat. Hier werden Frauen fast ausnahms1 | Mit »Das Ende des Mannes« war die Ausgabe 47/2012 der Zeit betitelt. Vgl. auch Ö. Topcu/B. Ulrich, »Macho, weiß, von gestern«, Die Zeit, 15.11.2012, www.zeit.de/2012/47/Weisser-Mann-Macho-Hegemonie/se ite-1, abgerufen am 21.03.2013. 2 | Vgl. J. Augstein, »Die Krise des weißen Mannes«, Spiegel Online, 28.01.2013, www.spiegel.de/politik/deutschland/jakob-augstein-ueberdie-sexismus-debatte-a-879988.html, abgerufen am 21.03.2013.
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los als differenzsensibel, moralisch integer und mutig gezeichnet, während die weißen Männer fast durchgängig als unempathisch, rücksichtslos, interessengesteuert, ökologisch und gegenüber allen Schwächeren unsensibel und aggressiv erscheinen. Bei den Pandora-Ureinwohnern, den Na’vi, zeigen sich vage (positiv konnotierte) Merkmale jener nicht-weißen Ethnien, die in der Darstellung der kolonialisierenden Gruppe kaum repräsentiert sind. Diese Merkmale fusionieren zu einer einzigen Rasse oder Gattung, was dem Endkampf die Dimension eines manichäischen Krieges zwischen (bösen) weißen Männern und den (guten) Nicht-Weißen und Frauen verleiht. Diesen Manichäismus durchbricht der Held Jake Sully, der für den Bildungsgang eines tumben WHM steht: Zuerst wird er (unfreiwillig) zum Angehörigen einer diskriminierten Minderheit (sozial unterprivilegierter Querschnittsgelähmter) und schließlich (freiwillig) zum Angehörigen der nicht-weißen Gattung. Man könnte Avatar damit als postkolonialistisches Märchen deuten. Da der Regisseur James Cameron selbst ein weißer Mann ist, lässt sich der Film auch als autoaggressive Gewaltphantasie lesen, wie sie sich bereits in Jean-Paul Sartres berüchtigtem Vorwort zu Frantz Fanons Les Damnés de la Terre artikulierte: »Abattre un Européen c’est faire d’une pierre deux coups […]«3 (»Einen Europäer erschlagen, heißt zwei Fliegen mit einer Klappe treffen […]«). Vielleicht liegt es aber näher, in dem Film die Wunschphantasie des verunsicherten weißen Mannes zu erkennen: So wie Avatare im Internet häufig imaginäre Züge eines Ideal-Ichs zeigen, ist der Avatar Sullys Ideal-Ich. Er erlaubt es ihm nicht nur, die verhasste Rolle des brutalen Weißen endgültig zu verlassen, sondern gleichzeitig in die Lieblingsrolle des weißen Mannes zu schlüpfen: Wie der fiktive Old Shatterhand oder wie Che Guevara mutiert er zum heroischen Vorkämpfer für die Unterdrückten, eine Rolle, die ihm unter partikularistisch-identitätspolitischen Bedingungen ohne Identitätsum3 | J.-P. Sartre, »Préface (à l’édition de 1961)«, in: Frantz Fanon, Les Damnés de la Terre, Paris: La Découverte/Poche 2002, S. 17-36, hier S. 29.
3. Aufbruch nach Pandora
wandlung strukturell versagt bleibt. Nur noch in seinen virtuellen Avataren kann der WHM seine Heldenphantasien ausleben. Vor diesem Hintergrund ist auch ein anderer Science-FictionKassenknüller, Krieg der Sterne aus dem Jahr 1977, interessant, kann er doch, rückblickend, als frühes und inkonsequentes Beispiel des Übergangs zu einer kritischen Darstellung von WHM gelesen werden. Die binäre Gegenüberstellung einer ›bunten‹ multikulturellen Gesellschaft, die auch eine andere Spezies (Chewbacca) und posthumane Wesen (R2-D2, C-3PO) umfasst, und einer ausschließlich männlich und weiß (die Farbe der imperialen Sturmtruppen) konnotierten bösen Seite der Macht, ist hier deutlich angelegt. Gleichzeitig aber ist die Gegenüberstellung nicht voll entfaltet. Der Erzbösewicht Darth Vader, obwohl eigentlich ein weißer Mann, trägt eine schwarze Rüstung. Mit böse und primitiv gezeichneten nichtmenschlichen Spezies werden zudem, wie in Hollywood üblich, klassische Rassismen alludiert. Vor allem aber fungieren weiße Männer (Luke Skywalker, Han Solo, Obi-Wan-Kenobi) noch unproblematisiert als Helden. Auch in einer multikulturellen Gemeinschaft, so die naive Botschaft, können WHM weiterhin als Retter auftreten – gegen WHM.
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Etwas kann aus zwei unterschiedlichen Gründen vorborgen oder unmarkiert sein: 1. Es wird unreflektiert vorausgesetzt. 2. Es wird bewusst latent gehalten. Aus diesen beiden Möglichkeiten folgen zwei grundlegende aufklärerische Entlarvungsfiguren, von denen die erste Naivität entlarvt, die zweite böse Absicht oder Interesse sowie zwei grundlegende gegenaufklärerische Figuren: Die erste negativiert Reflexivität und affirmiert Naivität, die zweite affirmiert die Notwendigkeit des Latenzschutzes für grundlegende Wahrheiten. Im Graubereich zwischen Unmarkiertheit als (unterstellter) Naivität und Unmarkiertheit als (unterstellter) Selbstinvisibilisierung bewegen sich auch Reflexionen über die Geschonten, also auch die WHM. Aus einer ererbten Besserstellung erwachsen Naivität, oder, positiver formuliert, Unbefangenheit, und für Geschonte besteht grundsätzlich eine geringere Notwendigkeit, sich zu hinterfragen oder zu thematisieren. Dies aber kann ihnen auch als Strategie einer Selbstinvisibilisierung durch bewusste Dethematisierung ausgelegt werden. Enger bezogen auf die WHM könnte man sagen, dass seit den 1960er Jahren ihre Unmarkiertheit zunehmend ins Visier unterschiedlicher – antikolonialistischer und antirassistischer, bürgerrechtlicher, feministischer und queerer – Kritikwellen geriet. Attribute, die aus der naiven Perspektive der WHM als neutral und harmlos erschienen, – weiß, heterosexuell, männlich – hatten für jene, die lange Zeit benachteiligt und marginalisiert waren, immer schon einen ganz anderen Klang. Die Unmarkiertheit der WHM,
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die für sie selbst gerade keinen problematischen Charakter hatte, ja, kaum beobachtbar war, erschien jenen, die sich auf der Grundlage dieser Unmarkiertheit beständig und schmerzhaft markiert sahen, als Grundlage von Ungleichheit und Dominanz. Es ist vor diesem Hintergrund auffallend, dass etwa zu der Zeit, als diese Unmarkiertheit markiert zu werden begann, der Begriff der Unmarkiertheit in Theorieangeboten des radikalen Konstruktivisten George Spencer-Brown und des Systemtheoretikers Niklas Luhmann Eingang fand und dort eine zentrale Bedeutung einnahm, wie es auch auffallend ist, dass diese Theorien gerade unter männlichen Theoretikern besonders erfolgreich waren. Wie erklärt sich dieser Erfolg? Beobachten bedeutet für Luhmann immer beides: unterscheiden und bezeichnen (oder markieren), wobei gleichzeitig jede Beobachtung, auch die Beobachtung eines bislang unmarkierten Bereichs, ihrerseits auf einem unmarkierten Bereich beruht bzw. einen blinden Fleck 1 reproduziert. »Ein Beobachter kann nicht sehen, was er nicht sehen kann. Er kann auch nicht sehen, daß er nicht sehen kann, was er nicht sehen kann. Aber es gibt eine Korrekturmöglichkeit: die Beobachtung des Beobachters. Zwar ist auch der Beobachter zweiter Ordnung an den eigenen blinden Fleck gebun1 | Die Unterscheidung blinder Fleck/unmarkierter Bereich ist instabil, da Luhmann letzteren gelegentlich noch einmal in einen unmarked space und einen unmarked state unterscheidet und zumindest den unmarked state wiederum mit dem blinden Fleck identifiziert. »Die Welt ist der blinde Fleck des eigenen Beobachtens – das, was man nicht beobachten kann, wenn man sich entschieden hat, mit Hilfe einer bestimmten Unterscheidung zu beobachten. Die Welt ist der ›unmarked State‹ Spencer Browns.« (N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 212f.) Die genauere Untersuchung dieser Unterschiede führt geradewegs in die hegelsche Dialektik von Voraussetzung der Setzungen und Setzung der Voraussetzungen und erscheint auch in anderer Hinsicht ergiebig, würde aber den Rahmen dieses Buches sprengen.
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den, sonst könnte er nicht beobachten. Der blinde Fleck ist sozusagen sein Apriori. Wenn er aber einen Beobachter beobachtet, kann er dessen blinden Fleck, dessen Apriori, dessen ›latente Strukturen‹ beobachten.« 2
Wenn man dieser Theorie folgt, ergeben sich für unseren Zusammenhang wichtige Konsequenzen: Vor allem bedeutet das, dass Unmarkiertheit alle Beobachtungen betrifft. Dass die Kategorien weiß, männlich und heterosexuell lange weniger markiert waren und die WHM entsprechend geschonter, erscheint aus dieser Perspektive weniger dramatisch. Auch die Beobachter dieser Unmarkiertheit operieren vor dem Hintergrund eines unmarkierten Feldes, sehen ebenfalls etwas nicht, was andere sehen können usw. Auch beim Entlarver läuft, mit anderen Worten, ein blinder Fleck oder unmarkiertes Feld mit, was wiederum durch Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet werden kann. Außerdem werden in diesem Prozess fortlaufend unmarkierte Felder markiert. Dieses Markieren von unmarkierten Feldern oder blinden Flecken erscheint insofern entdramatisiert, als es aus systemtheoretischer Sicht eine Grundbedingung des modernen Wissenschaftssystems ist. Dieses kann geradezu als System organisierter Beobachtungen zweiter Ordnung beschrieben werden, wo die Akteure nach blinden Flecken (›Forschungslücken‹) bisheriger Akteure suchen und damit fortlaufend Differenzen produzieren und Komplexität vergrößern. Wem es dabei gelingt, ein bis dahin unmarkiert gebliebenes Feld zu entdecken, zu erschließen und auszubeuten, also eine neue, kraftvolle Unterscheidung oder Differenz einzuführen und das gesamte Wissensfeld damit neu durchzupflügen, der hat es geschafft und wird von diesem System entsprechend belohnt. Man kann das noch weiter treiben und die Suche nach dem blinden Fleck mit der Suche nach der Marktlücke im hoch entwickelten Kapitalismus vergleichen. Die Möglichkeit einer kulturökonomi2 | N. Luhmann und P. Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 10f.
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schen Interpretation taucht auf, nach der alle Akteure fortlaufend darum bemüht sind, das für sie jeweils relevante Feld via Beobachtungen zweiter Ordnung nach unmarkierten Orten abzuscannen. Kurz gesagt: Folgt man der Systemtheorie, besteht für verdachtstheoretische Erhitzungen kein Anlass, und zwar weder bei jenen, die die Unmarkiertheit der WHM markieren, noch bei den WHM, die sich solchen negativen Markierungen ihrer Unmarkiertheit ausgesetzt sehen. Man kann sogar vermuten, dass die berühmte Coolness von Luhmann ein bewusster therapeutischer Gestus war, der alle Formen verdachtshermeneutischer Erhitzung im Ansatz kalmieren sollte, so wie man vermuten kann, dass genau dieser Gestus Luhmanns ein Hauptgrund für seinen Erfolg gerade unter WHM war. Diese Abkühlung konnte die WHM ebenso vor identitätspolitisch erhitzten Angriffen schützen wie davor, selbst zu erhitzen. Und da ein Paralleluniversum nicht simuliert werden kann, kann man nur vermuten, nicht beweisen, dass Luhmann mit diesem prophylaktisch-makrotherapeutischen Wirken vielen WHM ein Mittel zur Verfügung stellte, nicht in die giftige Ressentimentfalle zu geraten. Die Systemtheorie begünstigt daher eine Abkühlung der Gemüter, eine moderierende, demonstrativ unaufgeregte Haltung gegenüber politischen Fragen. In letzter Konsequenz geht damit eine eurobuddhistische Tendenz der Selbstentleerung einher, die Entleerung zu einem Mann ohne Eigenschaften, einem eigenschaftslosen und desengagierten Beobachter zweiter Ordnung, der hinter seinen Beobachtungen verschwindet. Luhmann selbst, »der, so schien es, kein persönliches Leben hatte«3, verkörperte diese Eigenschaftslosigkeit wie kaum ein Zweiter.4 3 | P. Fuchs, »Man muß schmunzeln können«, in: taz, 14.11.1998, www.taz. de/1/archiv/archiv/?dig=1998/11/14/a0154, abgerufen am 03.08.2012. Zugleich ist gerade Luhmann möglicherweise ein Beispiel dafür, dass besonders das ›H‹ des WHM uneindeutig bleiben muss. 4 | In Spencer-Browns Laws of Form, einer zentralen logischen Grundlage Luhmanns, wird der Beobachter sogar mit dem Markierungszeichen und der (ersten) Unterscheidung formal identifiziert: »An observer, since he distin-
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Daran ist grundsätzlich nicht viel auszusetzen. Das eigentliche Problem besteht auch nicht darin, dass der hier betonte Unterschied zwischen einem strukturellen oder quasi-transzendentalen unmarkierten Bereich als Grundbedingung aller Beobachtungen und einer Unmarkiertheit, die aus spezifischen Machtasymmetrien entspringt, mit systemtheoretischen Mitteln nicht beobachtbar wäre. Das Problem besteht vielmehr in der Begünstigung der Invisibilisierung dieses Unterschiedes, in der Invisibilisierung der spezifischen Unmarkiertheit der Geschonten und Bessergestellten durch Universalisierung, Transzendentalisierung und Neutralisierung der Unmarkiertheit zu einer Voraussetzung aller Beobachtungen. Der für politische (und verdachtshermeneutische) Aufladungen aller Art anfällige Code markiert/nicht markiert wird also nicht etwa geleugnet oder verschwiegen, sondern im Gegenteil universalisiert, – damit aber auch politisch entschärft. Wenn alle Beobachter aus einer unmarkierten Position beobachten, verliert die spezifische Unmarkiertheit der Bessergestellten jede politische Ladung. Damit erklärt sich, warum radikal konstruktivistische und systemtheoretische Theorieangebote gerade bei weißen Männern seit den 1970er Jahren so erfolgreich waren: Sie boten ihnen die Möglichkeit, ihre zunehmend von außen markierte Unmarkiertheit dadurch zu verbergen, dass diese als Voraussetzung jeder Beobachtung verstanden wurde.
guishes the space he occupies, is also a mark. […] We see now that the first distinction, the mark, and the observer are not only interchangeable, but, in the form, identical.« G. Spencer-Brown, Laws of Form, New York: E.P. Dutton 1979, S. 76.
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Eine der schärfsten Kritikerinnen einer männlichen Selbstinvisibilisierung ist die postmoderne Feministin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway. In ihrem Text »Situated Knowledges« wandte sie sich ebenso ironisch wie leidenschaftlich gegen einen radikalen Konstruktivismus, eine »disembodied scientific objectivity«, einen »conquering gaze from nowhere« und zog dabei eine explizite Verbindungslinie zum weißen Mann: »This is the gaze that mythically inscribes all the marked bodies, that makes the un-marked category claim the power to see and not be seen, to represent while escaping representation. This gaze signifies the unmarked positions of Man and White, one of the many nasty tones of the word ›objectivity‹ to feminist ears in scientific and technological, late-industrial, militarized, racist, and male-dominant societies. […] And like the god trick, this eye fucks the world to make techno monsters.«1
Bereits 1985 hatte sie in ihrem berühmten Cyborg-Manifest ironisch festgestellt: 1 | D.J. Haraway, »Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective«, in: Feminist Studies, 14 (3), 1988, S. 575-599, hier S. 581. Zum Begriff des situierten Wissens vgl. auch A. Deuber-Mankowsky und C.F.E. Holzhey, »Einleitung: Denken mit Haraway und Canguilhem«, in: Situiertes Wissen und regionale Epistemologie. Zur Aktualität Georges Canguilhems und Donna J. Haraways, hg. v. A. DeuberMankowsky und C.F.E. Holzhey, Wien, Berlin: Turia + Kant 2013, S. 7-34.
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»In diesem Sinne besitzt die Cyborg keine Ursprungsgeschichte im westlichen Verständnis – eine ›finale‹ Ironie, denn der Cyborg stellt auch das furchtbare apokalyptische Telos der eskalierenden, ›westlichen‹ Herrschaftsform der abstrakten Individuation eines zu guter Letzt von jeder Abhängigkeit entbundenen, endgültigen Selbst dar: der Mann in den Weiten des Weltraums.« 2
Auch die feministische Standpunkttheoretikerin Nancy Hartsock legte den WHM die Vermeidung der Selbstthematisierung und Situierung als Flucht in eine »abstrakte Männlichkeit«3 aus und kritisierte androzentrische Weltbilder. Haraways suggestives Bild des weißen Mannes, der aus den »Weiten des Weltraums« oder aus einer »Gott-Position« in die Welt schaut, ist aber zumindest dann etwas einseitig, wenn es, wie sie es tut, auf den radikalen Konstruktivismus angewendet wird. Gerade diese Theorie, und das gilt auch für die mit ihr verwandte Systemtheorie Luhmanns, ist nämlich hoch reflexiv und berücksichtigt die Beobachterrelativität immer mit. Anders als klassische Formen des Szientismus, die von einer klaren Trennung von Subjekt und Objekt ausgingen, anders auch als analytische Konzepte der Trennbarkeit von Metasprache und Objektsprache, macht es gerade die Spezifität dieser neueren Theorien aus, sich auf die Paradoxien oder Probleme einzulassen, die durch Selbstreflexion oder Rekursion entstehen.
2 | D.J. Haraway, »Ein Manifest für Cyborgs«, in: Kursbuch Medienkultur: die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, hg. v. C. Pias, J. Vogl, L. Engell et al., München: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 464-471, hier S. 466. Das englische Original ist abgedruckt in: D.J. Haraway, Simians, Cyborgs, and Women: the Reinvention of Nature, New York: Routledge 1991. 3 | N. Hartsock, »The Feminist Standpoint: Developing the Ground for a Specifically Feminist Historical Materialism«, in: Discovering Reality. Feminist perspectives on Epistemology, Metaphysics, Methodology and Philosophy of Science, hg. v. S.G. Harding und M.B. Hintikka, Dordrecht: D. Reidel Publishing Company 1983, S. 283-310, hier S. 296.
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Die Menge aller Mengen ist ein berühmter Fall, wo Paradoxien entstehen, sobald man sich fragt, ob die Menge aller Mengen sich selbst enthält – ist sie doch schließlich auch eine Menge. Solche Formen der Selbstreflexion können auch alltägliche Bereiche betreffen und sogar einen praktischen Einfluss haben: Der Ärger über ›den Stau‹, in dem man gerade steckt, mag sich abschwächen, sobald man sich bewusst wird, selbst zum Stau beizutragen. Selbstreflexion und Rekursion zeigen sich besonders anschaulich in der Figur der mise en abyme, dem Bild, das sich selbst enthält. Die Künstlerin Georgia Kotretsos hat in ihrem listig-doppelbödigen Triptychon Being-seen-by-another is the truth of seeing the other eindrucksvoll festgehalten, wie jeder Versuch, den Beobachter in das Ganze des Bildes aufzunehmen, einen neuen Beobachter erfordert, der außerhalb des Bildes steht und der dann von einem Beobachter höherer Ordnung wiederum in das Bild aufgenommen werden kann ad infinitum (vgl. Abb. 1, nächste Seite).
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Abbildung 1: Georgia Kotretsos, »Being-seen-by-another is the truth of seeing the other: No. I Art Institute of Chicago, Modern Wing, Chicago, USA; No. II National Museum of Contemporary Art, Athens, Greece; No. III Macedonian Museum of Contemporary Art, Thessaloniki, Greece, 2011«, Archival inkjet print, H 75 x W 87 cm each, 2011.
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Genau solche Formen der Selbstreflexion spielen in der Systemtheorie und dem radikalen Konstruktivismus eine zentrale Rolle. In diesem Sinne begünstigen diese Theorien gerade nicht Beobachter, die gottgleich die Welt von einem unmarkierten Außen, mit einem »gaze from nowhere«, beobachten. Vielmehr werden fortlaufend Paradoxien beobachtet, die auftauchen, sobald man beobachtet, dass man selbst zur Welt gehört, die man beobachtet. Dann zeigt sich, dass man zugleich in der Welt ist und außer ihr. Allerdings hat diese ständige Selbstreflexion die Tendenz, sich in Spiegelkabinetten zu verlieren, in einem ›mystischen‹ Weltverlust durch Radikalreflexion. »Käme noch einer auf die Idee, Welt als Ganzes in den Blick nehmen zu wollen, er sähe ein unausdenkbar komplexes System sich wechselseitig überbietender, hierarchisch verwickelter, ineinander gespiegelter Beobachtungen, ein polykontexturales Spiegelkabinett, in dem er zuletzt sich selbst als beobachteter Beobachter ertappen müßte, der – ehe sein Blick kollabiert – gerade noch wahrnimmt, wie sein Spiegelbild in Spiegeln sich spiegelt.« 4
4 | N. Luhmann und P. Fuchs, Reden und Schweigen, S. 178.
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Hier zeigt sich erneut, dass dem radikalen Konstruktivismus und der Systemtheorie eine mystische oder eurobuddhistische Tendenz innewohnen, aber auch, dass die ständige Selbstbeobachtung zweiter oder höherer Ordnung zur Depolitisierung, Selbstimmunisierung und zu Weltverlust tendiert – und in diesem Sinn trifft der Vorwurf der unbeteiligten, entkörperlichten Gott-Position doch wieder zu. Das gilt auch deswegen, weil der Beobachter höherer Ordnung über keinerlei empirische Eigenschaften zu verfügen scheint. Wie im Fall der Unmarkiertheit, die, wie wir sahen, sowohl als spezifischer Ausdruck der jeweils Privilegierten als auch als universaler Ausgangspunkt aller Beobachtungen gedeutet werden kann, erwachsen die geschlechterpolitischen Konflikte daraus, dass die Beobachterposition den einen geschlechtlich neutral erscheint, während sie die anderen schon aufgrund dieses Anspruchs auf Neutralität als männlich markieren und entlarven.5 Es ist in unserem Zusammenhang bemerkenswert, dass der Logiker Spencer-Brown die Gleichsetzung von radikalem Konstruktivismus und Männlichkeit bereits zwanzig Jahre vor Haraway vor5 | Da Entlarvung keine Einbahnstraße ist, kann wiederum auch die Möglichkeit, geschlechtliche Unmarkiertheit geradewegs als verborgene Männlichkeit zu entlarven, ihrerseits als Ausdruck einer feministischen Paranoia entlarvt werden. Und so setzen sich die Spaltungen fort: Gerade aufgrund dieser unaufhörlichen Kette von Konflikten und wechselseitigen Verdächtigungen mag die Sehnsucht nach einem befriedenden, die Spannungen lösenden Punkt jenseits der Konflikte erwachsen. Genau diese Sehnsucht kann dann aber wiederum negativ als »passiver Nihilismus« (Friedrich Nietzsche), oder als todestriebartige Sehnsucht nach der Spannungslosigkeit des Anorganischen (Sigmund Freud) konzeptionalisiert werden. Auf dieser Grundlage kann ihr dann das »›untote‹, ewige Leben selbst, […] das schreckliche Schicksal, im endlosen Wiederholungskreislauf des Umherwandelns in Schuld und Schmerz gefangen zu sein«, bejahend gegenübergestellt werden. Vgl. S. Žižek, Parallaxe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 61.
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genommen und unterstrichen hat. Zwei Jahre nach seinen Laws of Form schrieb er 1971 in seinem Buch Only Two Can Play This Game: »In den Gesetzen der Form habe ich versucht, soweit ich es konnte, die männliche Seite der Dinge zu beschreiben, ebenso wie ich in diesem Buch versuche, soweit es meine begrenzten Fähigkeiten erlauben, etwas über die weibliche Seite zu sagen.«6 Only Two Can Play This Game enthält eine Abrechnung mit dem einseitig männlich und jüdisch-christlich geprägten Westen, die die polemischsten Angriffe Haraways an Schärfe noch übertrifft. Allerdings, und dies erscheint für bestimmte männliche Reaktionen auf die Dezentrierungserfahrungen nach 1968 symptomatisch, bedeutete diese Absage an den ›männlichen‹ Westen keineswegs eine Absage an den kolonialen Blick, im Gegenteil. Das Buch ist einer Liebeserfahrung entsprungen, durch die Spencer-Brown glaubte, Zugang auch zur weiblichen Seite erlangt zu haben, die ihm vorher verschlossen geblieben war. Die retrospektiv als einseitig-westlich und männlich erscheinende Perspektive machte einem esoterischen, megalomanen Holismus Platz, von dem aus sich Spencer-Brown in der Lage glaubte, alle Zeiten und Kulturen gleichermaßen überblicken zu können. Dass er mit seiner neuerlangten Ganzheit anderen keinen Platz mehr ließ, scheint er aber nicht bemerkt zu haben. »Eine der größten Freuden, mit meiner Geliebten zusammen zu sein, durch sie vervollständigt zu werden, bestand darin, daß ich zum ersten Mal von dem Fluch befreit war, ein Künstler zu sein. Ich wusste das. Und sie auch. Die Ironie darin war, daß sie mich zum Teil wegen des Ehrgeizes verließ, selbst eine Künstlerin zu sein […].« 7 Die Ironie besteht in Wirklichkeit darin, dass Spencer-Brown nicht bemerkte, wie seine Ganzwerdung mit den Ambitionen seiner Freundin – und mit ihr einer neuen Frauengeneration – kollidierte. Obwohl er selbst für sich in Anspruch nahm, dank der Liebe sowohl 6 | G. Spencer-Brown, Dieses Spiel geht nur zu zweit, Leipzig: Bohrmeier 2007, S. 93. 7 | Ebd., S. 85.
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über die mathematisch-logische ›männliche‹ als auch über die poetische ›weibliche‹ Sprache zu verfügen, glaubte er gleichzeitig Frauen ›differenzfeministisch‹ vor dem Eindringen in die letzten männlichen Domänen warnen zu müssen: »Der wirklich furchtbare Witz ist, daß Frauen dachten, sie könnten ›befreit‹ werden, indem sie zu Universitäten gehen und lernen, wie Männer zu argumentieren. Sie tappten nur weiter in die Männer-Falle und wurden noch mehr von dem Wissen entfremdet […].« 8 Spencer-Browns esoterischer Holismus wird hier lesbar als tragisch-komisches Unvermögen eines weißen Mannes, auf die Anforderungen einer weiblichen 68er-Emanzipationsbewegung angemessen zu antworten. Only Two Can Play This Game erscheint somit exemplarisch für einen spirituellen oder esoterischen Eskapismus. Statt die Erfahrung mit dem Anderen als Unterbrechung der eigenen Identität zu konzeptionalisieren, die die Voraussetzung für eine Begegnung mit dem Anderen ist,9 wird der andere sofort kolonialisiert und in ein neues rundes Ganzes reintegriert, die schmerzhafte Spur einer gescheiterten Beziehung wird stante pede zu einer Erfolgsgeschichte gelungener Seelenraumerweiterung umgelogen. Aus der überlegenen Meisterperspektive können dem integrierten Anderen nun wohlmeinende Ratschläge erteilt werden. Die alte, einseitige Männlichkeit und westliche Kultur werden als Larve abgestreift, doch die universellen Ansprüche werden gerettet, ja durch einen esoterischen, um die weibliche Perspektive ergänzten Holismus noch bekräftigt. Die kolonialistische Tragödie wiederholt sich hier als spirituell-holistische Farce.
8 | Ebd. 9 | »Only by being displaced and transposed from one spatiotemporal configuration to another does a tradition make some kind of contact with alterity, that field of the ›not-me‹.« J. Butler, Parting Ways. Jewishness and the Critique of Zionism, New York: Columbia University Press 2012, S. 12.
6. Ressentiment von oben »[…] der Adel, als Klasse, ist zur Eitelkeit bestimmt […].« René Girard
Wenn man die Kritik von Feministinnen wie Donna Haraway oder Nancy Hartsock ernst nimmt, ist die Zeit für die Rückkehr der WHM aus den Weiten des Weltraums reif, ja überfällig. Doch wie genau könnte diese Rückkehr erfolgen? Eine grundsätzliche Möglichkeit der Selbstthematisierung der WHM besteht darin, die eigene Privilegiertheit nicht zu leugnen, sondern umgekehrt zu versuchen, gerade diese zu thematisieren und nach Möglichkeiten einer (Selbst-)Artikulation des Geschontseins und der damit verbundenen moralischen Konsequenzen zu fahnden. Es gibt bereits einige Bemühungen, innerhalb eines affirmierten Pluralismus auch die Sprechräume der Unmarkierten, Geschonten oder Besserweggekommenen auszuloten und nach gangbaren Wegen einer angemessenen Artikulation ihrer jeweiligen Erfahrungen zu suchen, ohne sich deswegen gleich mit einer Lobbygruppe für die Interessen der Gutgestellten zu verwechseln. Einen philosophisch besonders anspruchsvollen Versuch in diese Richtung hat Christoph Narholz mit seinem Buch Die Politik des Schönen unternommen. Schon der Titel lässt eine Verbindung aus Schonung und Politik anklingen. Angesiedelt in der Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus, und schon in dieser Hinsicht mit dem vorliegenden Buch verwandt, erkundet Narholz explizit auch die Möglichkeiten, die sich für Privilegierte oder Geschonte ergeben: »Genossene Bevorzugung, moralisch auf den
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Begriff gebracht, bewirkt dasselbe wie erlittene Benachteiligung: Widerstandslust, Solidarität und reflexive Unruhe.«1 Cai Werntgen, ebenso wie Narholz von Niklas Luhmann und Peter Sloterdijk beeinflusst, widmete sich der Frage nach Artikulationsmöglichkeiten der Besserweggekommenen: In einem kurzen Essay mit dem Titel »Wir lebten wie die Prinzen« diagnostizierte er, dass »für Nachrichten vom Pol des unbeschädigten Lebens im Grunde kein etablierter Code verfügbar« ist und »dass für Alarm, Kritik und Trauma anerkannte Sprechämter bestehen, nicht aber für den Gegenpol des verschonten und verwöhnten Lebens, der Geborgenheit und, ja warum nicht auch: des Glücks.«2 Das prädestinierte Feld für Artikulationsversuche eines solchen »verschonten und verwöhnten Lebens« ist ohne Zweifel die Literatur – und nicht zufällig gehen Werntgens Interessen in diese Richtung. Überträgt man solche Beobachtungen hingegen in den politischen Kontext, dann verändern sie ihren Charakter. Dann blitzt so etwas wie die Utopie eines Multikulturalismus unter Einschluss der Privilegierten auf, eines Multikulturalismus ohne Ausschlüsse. Politisch könnte dies in die Forderung nach gleichberechtigter Berücksichtigung der Bessergestellten als eigene ›Minderheit‹ im Spektrum der Minoritäten münden. Das klingt schön. Problematisch ist eine solche Inklusion aber genau deswegen, weil zwischen dem Glück der einen und dem Unglück der anderen zumeist die direkte Beziehung der Wechselwirkung besteht. Das lässt sich anhand der Kristallpalast-Metapher zeigen, die der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk 2004 verwendete, um die Fragilität des kapitalistischen Westens zu beschreiben und diesen vor seinen Kritikern zu verteidigen.3 Sloterdijk verschwieg nicht, dass es auch Ausgeschlossene gibt, die den Kristallpalast nur 1 | C. Narholz, Die Politik des Schönen, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 272. 2 | C. Werntgen, »Wir lebten wie die Prinzen«, Telepolis, 17.04.2011, www. heise.de/tp/artikel/34/34506/1.html, abgerufen am 08.05.2011. 3 | Zur Metapher des Kristallpalastes vgl. P. Sloterdijk, Sphären III. Schäume, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 344-350 und P. Sloterdijk, Im
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von außen betrachten können. Was er aber nicht deutlich genug herausarbeitete, ist der Zusammenhang zwischen Inklusion und Exklusion, dem eigenen Reichtum und der Armut anderer. Wenn dieser Zusammenhang nicht mitbedacht wird, bekommen Aussagen, wonach die Wände des Kristallpalastes brüchig, das Funktionieren des hochkomplexen kapitalistischen Systems unwahrscheinlich und erstaunlich sei, einen apologetischen Zug. Die Betonung der Fragilität des kapitalistischen Systems weckt gleichsam Schutzinstinkte und den Zorn auf jene, die negativistisch auf dieses zerbrechliche Wunderwerk auch noch einschlagen, statt dessen Komfort zu loben, dessen Komplexität zu bestaunen und ihm Dankbarkeit entgegen zu bringen. Gerade anhand der WHM wird das strukturelle Problem augenfällig: Sie können das eigene Geschont- oder Unmarkiertsein gerade nicht von der Diskriminierung und Markierung der anderen abkoppeln. Sie haben von den Asymmetrien der gleichen binären Codes profitiert, die für andere mit schmerzhaften Marginalisierungen und Markierungen verbunden waren. Die ethnisch, geschlechtlich oder sexuell Privilegierten können daher, wenn sie ein Leben auf der Sonnenseite binärer Codes zu artikulieren versuchen, nicht mit der wohlwollenden Rezeption durch jene rechnen, die sich auf deren Schattenseite wieder fanden. Selbst dort, wo ein direkter Zusammenhang zwischen dem Wohlergehen der einen und der Benachteiligung der anderen nicht besteht, ist eine Selbstthematisierung der vom Schicksal Begünstigten problematisch, sobald sich diese als Kollektiv zusammen tun. Schon dadurch, dass sich die Geschonten als Gruppe zu konstituieren versuchen, als Partikularität unter Partikularitäten, als Klasse unter Klassen, als Generation unter Generationen, geraten sie schleichend in Konkurrenz und Rivalität mit anderen Gruppen, Klassen und Generationen, denen es weniger gut geht. Wo immer sich die Geschonten als privilegierte Gruppe zu äußern versuchen, Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 265-276.
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werden sie die Erfahrung machen, dass ihre eigene Stimme auf Unwillen und Ablehnung oder im besten Fall auf Desinteresse stößt. Natürlich können sie Desinteresse und Widerspruch als Ausdruck von Neid und Ressentiments deuten. Und sicher ist es richtig, dass die Bessergestellten, sobald sie nach Ausdruck streben, ressentimental gefärbte Reaktionen der Schlechtergestellten provozieren. Neid ist eine Realität, die man nicht leugnen kann. Es wäre trostlos und falsch, wenn jene, denen es besser geht, ihren Wohlstand oder ihr Glück nur deswegen nicht zeigen sollten, weil es anderen schlechter geht. Das liefe darauf hinaus, hässlichen und unmoralischen Affekten wie Neid, Missgunst oder Ressentiment eine moralische Dignität einzuräumen, die sie nicht haben. Narholz hat dies in seinem Buch analysiert und kritisiert. Was die Glücklichen und Bessergestellten aber notorisch zu unterschätzen tendieren, ist die Möglichkeit, selbst dem Ressentiment zu unterliegen. Wer aus einer Partikularität heraus zu sprechen versucht, der es – relativ zu den anderen – gut geht, (die WHM, besserverdienenden Steuerzahler, Geschonten, die Generation Golf oder wer auch immer), setzt sich allein dadurch in Konkurrenz mit anderen Gruppen, denen es nicht so gut geht. Das Problem ist nicht, dass die Gruppe der Privilegierten in dieser Konkurrenzsituation schwerlich gut aussehen kann. Das Problem ist nicht einmal in erster Linie, dass sie dadurch auf die abschüssige Bahn der mimetischen Rivalität gerät. Dieser Prozess ist vielleicht unvermeidlich. Das Problem ist die Verdrängung dieser Rivalität. Der französische Literatur- und Religionswissenschaftler René Girard hat diese Gefahr als Erster diagnostiziert – und zwar anhand des französischen Adels im 18. und 19. Jahrhundert: »Der Adlige, der vergleicht, ist, gesellschaftlich betrachtet, etwas adliger, geistig betrachtet jedoch bereits etwas weniger adlig. Ein Denkprozeß ist in Gang gesetzt, der allmählich den Adligen von seinem eigenen Adel trennt und diesen, vermittelt im Blick des Nicht-Adeligen, in schlichten Besitz verwandelt. Der Adlige ist also, als Individuum, das leidenschaftliche Wesen schlechthin, doch der Adel, als Klasse, ist zur Eitelkeit bestimmt.
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[…] Von nun an wird der Adel nicht mehr davon ablassen, die übrigen, zur Nachahmung des Adels bestimmten Klassen in die Eitelkeit zu führen und ihnen auf dem verheerenden Weg des metaphysischen Begehrens sogar voranzuschreiten.« 4
Girards zentrale (christliche) Einsicht besteht darin, dass das mimetische Begehren gerade nicht auf die Schwächeren beschränkt werden kann, sondern alle betrifft, also auch jene, die das mimetische Begehren auf andere beschränken und sich selbst davon frei halten wollen. Es ist symptomatisch für Peter Sloterdijks nietzscheanischelitäre Position, dass er genau diesen Punkt missverstanden hat, als er, das mimetische Begehren mit dem Ressentimentbegriff verbindend, »Ressentiment als Bindung des Verlierers an das Objekt« bezeichnet, »mit dem er sich zu seinem Nachteil verglichen sieht«.5 Sloterdijk glaubt dabei Girard zu paraphrasieren, doch in Wirklichkeit missversteht er gerade den Punkt, der für Girards Denken zentral ist. Sloterdijk schränkt nämlich das Ressentiment auf die Verlierer ein. Bei Girard ist es aber gerade die Ubiquität des mimetischen Begehrens, seine Unentrinnbarkeit, die uns dazu zwingt, uns davon nicht ausnehmen zu können. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: In mancherlei Hinsicht ist das Ressentiment sogar eher bei den Starken als bei den Schwachen angesiedelt. Das Ressentiment hat nämlich weniger mit Schwäche zu tun, wie Max Scheler meinte, als vielmehr mit Schwächung. »Das Ressentiment ist also seinem Boden nach vor allem auf die jeweilig Dienenden, Beherrschten, die vergeblich gegen den Stachel einer Autorität 4 | R. Girard, Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, Münster: Lit Verlag 1999, S. 124f. 5 | P. Sloterdijk, »Erwachen im Reich der Eifersucht. Notiz zu René Girards anthropologischer Sendung«, in: Girard, René, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, München, Wien: Hanser 2002, S. 241-254, hier S. 248.
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Anlöckenden beschränkt; und wo es sich bei anderen zeigt, da ist entweder eine Übertragung durch psychische Ansteckung gegeben, – deren das ungemein kontagiöse seelische Gift des Ressentiment [sic!] besonders leicht fähig ist – oder es ist ein in diesem Menschen selbst unterdrückter Trieb, von dem die Ressentimentbildung ihren Ausgang nimmt, und der nun in dieser Form einer ›Verbitterung‹ und ›Vergiftung‹ der Persönlichkeit revoltiert.« 6
Doch so verhält es sich keineswegs. Das Ressentiment ist nicht zuletzt ein Dekadenzausdruck, es kommt auch und gerade bei denen ins Spiel, die einer Degradierung oder Schwächung ausgesetzt sind oder eine solche befürchten. Es kann daher auch und gerade jene betreffen, denen es relativ zu anderen gesehen immer noch besser geht, da man eine gewisse Höhe haben muss, um fallen zu können. Girard deutete dies an, als er sagte, die Adeligen würden auf dem verheerenden Weg des metaphysischen Begehrens voranschreiten. Es ist hier unbedingt zu beachten, dass sich dasjenige, was ich Ressentiment von oben nennen möchte, anders äußert als jenes von unten. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass die absteigenden oder von Abstiegsangst besessenen Bessergestellten in der Regel zu stolz sind, sich ihr Ressentiment anmerken zu lassen, ja, sie gestehen es sich zunächst einmal gar nicht ein. Es ist in der Tat etwas widersinnig und peinlich, Leuten etwas zu neiden, denen es objektiv weniger gut geht. Daher äußert sich dieses Ressentiment von oben nicht direkt. Das erklärt auch, warum die Ressentimentproblematik im 19. Jahrhundert zunächst gerade nicht in Gestalt der Selbsteinsicht einer im Niedergang befindlichen Gruppe auftauchte, sondern in der spezifischen Form der Projektion auf die anderen, die ›Schwachen‹. Wer sich in einer Dekadenz befindet, tendiert dazu, diese auf die Schwächeren zu projizieren. Der berühmt-berüchtigte Ausdruck der »spätrömischen Dekadenz«, mit dem der ehemalige FDP-Parteichef Guido Westerwelle 6 | M. Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, Leipzig: Verlag der weissen Bücher 1915, S. 54f.
6. Ressentiment von oben
ausgerechnet in einer Zeit eskalierender Umverteilung nach oben ausgerechnet die Hartz-IV-Empfänger titulierte, war gerade in seiner monströsen Abseitigkeit und Umkehrung der wahren Verhältnisse sichtbarer Ausdruck einer solchen ressentimental gefärbten mimetischen Rivalität in ihrer reinsten Form. Es war Ausdruck einer Dekadenzerfahrung (dem eigenen Absturz als Parteichef ebenso wie dem Absturz der eigenen Partei und des Neoliberalismus überhaupt) im Modus der Verurteilung im präzisen Sinne Freuds.7 Auch in interkulturellen Beziehungen muss man mit ähnlichen Projektionen rechnen. So wurde gerade nach den Anschlägen von 2001 im Westen immer wieder das Bild eines zurückgebliebenen, präaufgeklärten und den Westen mit Ressentiments begegnenden Islam gezeichnet.8 Seit der Finanzkrise sind es zunehmend die Südeuropäer, die unter Neid- und Ressentimentverdacht geraten. In allen genannten Beispielen geht es nicht darum, die Stichhaltigkeit solcher Ressentiment-Diagnosen rundweg zu leugnen. Es geht darum, ihre Begrenzung auf den anderen (die »Sklavenmoral« bei Nietzsche 9, die »Beherrschten« bei Scheler, die »Verlierer« bei Sloterdijk, die »Hartz-IV-Empfänger« bei Westerwelle) in Frage zu stellen. Ressentiments beruhen auf Gegenseitigkeit. Wenn man davon ausgeht, erkennt man zum Beispiel, dass die nordeuropäischen Ressentimentvorwürfe gegen die Südeuropäer durchsetzt sind von Ressentiments der Lebensunfrohen gegenüber jenen, die verdäch7 | Vgl. S. Freud, »Die Verneinung«, in: Psychologie des Unbewussten. Studienausgabe Bd. III: Psychologie des Unbewußten, hg. v. A. Mitscherlich, A. Richards und J. Strachey, Frankfurt a.M.: Fischer 2000, S. 371-377. 8 | Vgl. I. Buruma und A. Margalit, Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, München: Hanser 2005. 9 | Eine Formel des Theologen John Milbank deutet das Ressentiment von oben bei Nietzsche an: »Nietzsche failed to see that even the affirmation of the strong over the hordes of the weak was a mode of ›weak‹ resistance to weakness.« J. Milbank, Theology & Social Theory. Beyond Secular Reason, Oxford: Blackwell Publishing 2006, S. 18.
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tigt werden, dass sie das Leben (›auf unsere Kosten‹) zu genießen wissen und ohnehin von Sonne und Meer begünstigt sind. Deswegen ist der bloße Ausdruck des Ressentiments (ähnlich dem Ausdruck des Neides in all seinen Variationen) eine verräterische Chiffre. Schon das gehäufte Auftreten der Ressentiment-Vokabel ist zumindest ein Ressentiment-Indikator, und man sollte immer damit rechnen, dass Ressentiments auch und gerade bei denen vorliegen, die solche bei anderen diagnostizieren.10 Ein Korrektiv im Umgang mit ansteckenden Ressentiments besteht, mit anderen Worten, darin, sie prophylaktisch immer dann auch bei sich selbst zu vermuten, wenn man glaubt, sie bei anderen lokalisieren zu können. Die Reflexion und Thematisierung eigener Geschontheit ist nicht per se problematisch. Das vorliegende Buch stellt selbst einen solchen Versuch dar. Problematisch sind aber jegliche Versuche einer Gruppenbildung auf dieser Grundlage. Mit der Gefahr des Ressentiments von oben ist das Hauptproblem der Partikularisierung der WHM auf der Grundlage eigener Privilegiertheit angesprochen. Es besteht darin, dass sie Gefahr läuft, in ihr Gegenteil zu kippen: In die Reflexion eigener Diskriminiertheit aufgrund der eigenen Privilegiertheit. In der Tat besteht innerhalb multikulturalistischer und poststrukturalistisch inspirierter Zirkel das Programm, nicht nur binäre Unterscheidungen zu dekonstruieren, sondern überdies die bevorzugten Seiten der binären Unterscheidungen (Weißsein, Heterosexualität, Männlichkeit) zu schwächen und gleichzeitig die anderen Seiten zu stärken (vgl. Kap. 10). Beginnen die Privilegierten sich zu partikularisieren, laufen sie Gefahr, diese Maßnahmen als eine spezifisch gegen sie gerichtete Diskriminierung zu interpretieren. Ihre Partikularisierung kann Privilegierte dazu verführen, 10 | Vgl. auch L. Di Blasi und M. Jongen, »Resentment – When Rage Becomes Intelligent. A dialogue between Luca Di Blasi and Marc Jongen«, in: Über Wut – On Rage, hg. v. V. Smith, S. Stemmler und C. Hamschmidt, Berlin: Revolver Publishing 2011, S. 322-329.
6. Ressentiment von oben
Privilegienabbau als Diskriminierung misszuverstehen. Von hier aber ist es nur noch ein Schritt zur offenen Selbstviktimisierung der Bevorzugten. Was als Ressentiment von oben beginnt, als uneingestandene Konkurrenz mit Schwächeren oder Diskriminierten aufgrund des Gefühls eigenen (drohenden) Bedeutungsverlusts, mündet damit in eine offene Selbstviktimisierung der Bessergestellten, der weißen Männer, des Mittelstandes, der Steuerzahler, der Abendländer etc.
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7. White Trash
Gerade weil weiße Männer seit einiger Zeit eine symbolische Abwertung erfahren, besteht die wahrscheinlich verführerischste heutige Form männlicher Selbstreflexion darin, nach dem Vorbild der Selbstthematisierung anderer Gruppen die eigene ›Schlechterstellung‹ zu reflektieren. Seit einiger Zeit kann man beobachten, wie die Gender-Kategorie die lange nur als antagonistisch mitlaufende männliche Seite der Unterscheidung erfasst. Die Figur des benachteiligten Mannes wird mehr und mehr zum Thema in der Wissenschaft, der Populärkultur und in den Medien. Im Zuge dessen nehmen Bestrebungen von Männern zu, es anderen gleichzutun und den Weg in eine Situierung, Selbstmarkierung und – in der Folge – vielleicht sogar Gruppenbildung, mit anderen Worten, in eine Selbstpartikularisierung zu beschreiten. Eine Voraussetzung für diese zunächst widersinnig erscheinende Möglichkeit der Selbstviktimisierung der Geschonten habe ich bereits genannt. Sie besteht in der Verwechslung von Privilegienabbau mit Diskriminierung sowie Dezentrierung mit Marginalisierung, eine Verwechslung, die durch die Partikularisierung der Bevorzugten oder Geschonten noch begünstigt wird. Daneben gibt es aber auch eine andere, empirische Voraussetzung, nämlich die spezifische Unschärfe der jetzigen Lage der WHM. Anders als es die Konstruktion der Mehrfachgeschonten nahe legt, die idealerweise die Gruppe jener umfasst, die in keiner Weise diskriminiert erscheinen, sind die WHM als konkrete Mehrfachgeschonte zwar nach bestimmten Kriterien am wenigsten diskriminiert, aber doch inzwischen vielfältigen kulturellen sowie
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gesellschaftlichen Abwertungen ausgesetzt. Aus diesen Markierungen, Abwertungen und partiellen Diskriminierungen eröffnet sich daher prima vista die Möglichkeit einer Partikularisierung, die strukturell ähnlich wie jene anderer Minoritäten verlaufen könnte, wenn auch mit deutlicher Verspätung. Wenn sich weiße Männer offenbar zunehmend als negativ gezeichnet und als »Emanzipationsverlierer« 1 wahrnehmen, als das »entehrte Geschlecht«2 , böte sich, analog zu anderen minoritären Appropriationsstrategien, die Selbstbezeichnung White Trash an, schon weil dieser Ausdruck deutliche Umwertungspotentiale in sich birgt. Bei diesem Ausdruck handelte es sich ursprünglich (und im Grunde bis heute) um eine pejorative Bezeichnung für Unterklassenweiße durch andere Bevölkerungsgruppen. Die akademische Disziplin, die sich der Kultur des White Trash in der Vergangenheit widmete, ihren Anfängen, ihren Vertretern etc., und die gleichzeitig deren Schlechterstellung (in Deutschland und bezogen auf die Männer etwa die deutlich kürzere Lebenserwartung, eine wesentlich höhere Selbstmordrate etc.) zum Thema machte, könnte sich analog ›White Trash Studies‹ nennen. Das Aufspüren und Korrigieren von Benachteiligungen des White Trash (Erziehungsmatriarchat, Gender Mainstreaming, Renten- und Familienrecht, häufig auf Männer beschränkte Wehrpflicht etc.) könnte unter dem Label affirmative reaction laufen. Auch sonst könnten die anderen Gruppen oder Kulturen eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung stellen, die dem White Trash zu einer adäquaten, intelligenten Subjektposition verhelfen könnte, ohne dabei in die Falle essentialistischer, naturalistischer, rassistischer, androzentrischer, heteronormativer Positionen zu geraten.
1 | W. Hollstein, »Die ungestellte Männerfrage«, in: Der Standard, 8.3.2011, www.derstandard.at/1297819762908/Zum-Rollenbild-von-Emanzipati onsverlierern-Die-ungestellte-Maennerfrage, abgerufen am 14.03.2011. 2 | Vgl. R. Bönt, Das entehrte Geschlecht: Ein notwendiges Manifest für den Mann, München: Pantheon Verlag 2012.
7. White Trash
Allerdings muss man das nur aufschreiben, um sich klar zu machen, dass diese gesamte Strategie aufgrund des eklatanten Missverhältnisses zwischen der Diskriminierungsgeschichte durch die WHM und dem, was sie an Abwertungen und partiellen Diskriminierungen erfahren haben, zum Scheitern verurteilt ist. Angesichts dieser Diskriminierungsgeschichte und angesichts ihrer auch gegenwärtig noch dominanten und geschonten Stellung erscheint jeder Versuch der WHM, sich als Opfer umzudeuten, im besten Fall wehleidig, im schlimmsten Fall reaktionär und ressentimenthaft. Um die spezifische eigene Situation des relativen Geschontseins, der Privilegiertheit und der anhaltenden Dominanz zu begreifen, bedarf es keines Reflexionsvirtuosentums. Es reicht aus, die unterschiedlichen Formen der Kritik am Weißsein, am Kolonialismus, an der Heteronormativität, an der Männlichkeit nicht vorschnell als Ausdrucksformen des Ressentiments der Schlechtergestellten oder gar als invertierte Formen von Rassismus oder Sexismus zu deuten. Vielmehr müssen weiße Männer lernen, hierin auch und gerade Reaktionen auf unaufgearbeitete Unrechtserfahrungen und auf bestehende Herrschaftsverhältnisse und Erfahrungen mit Ausschlüssen zu erkennen. Hinzu kommt, dass mittlerweile die Verwendung der Opferkategorien und Formen der Selbstviktimisierung in minoritären Diskursen vermieden werden. Die Selbstviktimisierung steht den WHM nicht nur nicht gut an, mit ihr liefen sie auch noch Gefahr, dass ausgerechnet sie als einzige Opfer weit und breit da stünden: Die WHM – die allerletzten Opfer. Was weißen Männern zur Selbstviktimisierung fehlt, ist ein allgemein nachvollziehbarer starker Diskriminierungsstatus und damit, denn beides hängt zusammen, ein eindeutiger Antagonist, eine Instanz, von der sie behaupten können, dass sie sie unterdrückt. Ihnen bleibt, mit anderen Worten, genau das vorenthalten, was sie selbst bis zu einem gewissen Grad für Benachteiligte darstellen: ein repräsentierbarer und damit orientierender Antagonist.
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8. Islamophobe Allianzen
Spätestens mit dem Fall der Mauer und der Konstruktion des Islam als neuem westlichen Antagonisten eröffnete sich für die WHM eine Option, aus der Defensive herauszutreten: indem sie muslimische heterosexuelle Männer als homophobe, gewaltbereite Frauenverächter darstellen. Rechtskonservative und Rechtsliberale konstruierten eine Karikatur muslimischer Männlichkeit, die der Karikatur der WHM nachempfunden ist. Muslimische Männer bekommen hier exakt die Stellung zugewiesen, die WHM in kritischen Diskursen selbst einnehmen. Dadurch können WHM nicht nur aus der Schusslinie geraten, sondern zudem in die aktive Rolle der Verteidiger von Frauen- und Minderheitenrechten gegen eine ›islamistische Gefahr‹ wechseln. Der zentrale Antagonist bekommt in Gestalt des (politischen) Islam klar umrissene Konturen und ermöglicht die Herstellung einer Äquivalenzkette im Sinne des politischen Theoretikers Ernesto Laclau, eine Verbindung von Bündnispartnern, die lange Zeit undenkbar war. Diese Strategie hat immerhin ein Gutes: Wenn Rechtskonservative in Abgrenzung zum Islam plötzlich ihre Leidenschaft für Frauen- und Minderheitenrechte entdecken, kann man hierin auch eine List der Vernunft am Werke sehen. Indem selbst Politiker wie George W. Bush sich mit Verweis auf die Missachtung von Grundrechten in Afghanistan und anderswo zu Beschützern jener aufspielten, an deren Gleichstellung sie lange Zeit kein ausgeprägtes Interesse gezeigt hatten, konnte der Islamismus zum Katalysator für eine nachholende Bejahung kultureller Entwicklungen werden,
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die gerade Konservative lange widerwillig begleitet oder offen abgelehnt und bekämpft hatten. Diese verspätete Modernisierung geht aber natürlich zu Lasten jener, die als muslimisch markiert werden. Dies zeigt sich besonders deutlich im Rechtspopulismus, der nicht zufällig gerade seit den 1990er Jahren überall in Europa sein hässliches Haupt erhebt. Auch moderne Rechtspopulisten legitimieren eine xenophobe, islamophobe und manchmal offen rassistische Rhetorik mit einer expliziten Verteidigung westlicher Errungenschaften einschließlich der Rechte der Frauen und der Homosexuellen. Es ist schwer zu bestreiten, dass sich Angehörige sexueller Minderheiten, ebenso wie Frauen, von religiösen Fundamentalisten im Allgemeinen, also auch von Islamisten bedroht fühlen können. Ein besonders erfolgreicher und charismatischer Rechtspopulist und Islamkritiker, Pim Fortuyn, lebte seine Homosexualität offen aus und fühlte sich offenbar persönlich vom erstarkenden Islam in der niederländischen Gesellschaft bedroht. Gerade hier zeigte sich, dass der Intersektionalitätsdiskurs unausgesprochen auch viel mit dem Rechtspopulismus zu tun hat: Wenn der schwule Rechtspopulist in extremis die Gefahr repräsentiert, dass Minderheiten sich gegeneinander wenden, statt sich miteinander zu solidarisieren, dann erscheinen jene, bei denen Differenzkategorien zusammenfallen, zum Beispiel schwule Muslime, als ebenso gefährdeter wie rettender Rest, der zwischen die Fronten gerät, weil er klare Frontenbildungen verunmöglicht.1 1 | Spannungen in diesem Bereich wurden Mitte 2010 sichtbar, als die prominente Philosophin und Vordenkerin der Queer Studies, Judith Butler, in Berlin den Preis für Zivilcourage des Christopher Street Day (CSD) mit der Begründung ablehnte, dass einige Veranstalter innerhalb des CSD sich explizit rassistisch geäußert bzw. sich von solchen Äußerungen nicht distanziert hätten. Vgl. J. Butler, »Ich muss mich von dieser Komplizenschaft mit Rassismus distanzieren.«, Civil Courage Prize, Refusal Speech Christopher Streetday, 19.06.2010, www.egs.edu/faculty/judith-butler/articles/ichmuss-mich-distanzieren, abgerufen am 02.08.2012.
8. Islamophobe Allianzen
Noch länger, verwirrender und brisanter wird die durch den Antagonisten Islamismus ermöglichte Äquivalenzkette, wenn sich dieser Allianz aus WHM, weißen Frauen und Homosexuellen zusätzlich Zionisten anschließen – was ebenfalls möglich ist, da Islamisten auch und gerade Israel im Visier haben und Rechtspopulisten in der Regel peinlich darauf bedacht sind, die antisemitische Karte nicht zu spielen. Die Verteidigung Israels wird hier zum entscheidenden Element. Durch sie können sich auch sektiererische Linksradikale wie die so genannten ›Antideutschen‹ in diese sonderbare antiislamische Allianz einreihen. Im Interesse einer Stärkung Israels gelangen islamophobe Vorstellungen auch am leichtesten in den westlichen, konservativ-liberalen Mainstream. In Deutschland sind es besonders Thilo Sarrazin und Henryk M. Broder, die islamkritische Vorstellungen salonfähig gemacht haben. Die Strategie, sich mit Verweis auf die (angebliche oder tatsächliche) Missachtung von Grundrechten durch Männer als Beschützer jener aufzuspielen, deren rechtliche Gleichstellung man selbst lange Zeit blockiert hat, taucht nicht erst mit dem Fall der Mauer auf. Sie ist wesentlich älter und reicht bis in die Anfänge der Hochphase des Eurozentrismus zurück. Ein Text aus dem Jahr 1764 spiegelt nicht nur einen arrogant gewordenen europäischen Blick auf die übrigen Kulturen, er erscheint auch als Ergebnis des Versuchs, auf ein Dilemma zu reagieren, das durch soziopolitische und mediale Entwicklungen entstanden war. Durch den Wechsel von Latein als Sprache der Philosophie zur deutschen Sprache um die Mitte des 18. Jahrhunderts und die Alphabetisierung der Frauen mussten sich Philosophen plötzlich daran gewöhnen, auch von Frauen gelesen zu werden. Dies führte zu folgendem Problem: Wie konnte man einen Humanitäts- und Gleichheitsdiskurs so modulieren, dass man auch gegenüber der neuen Gruppe der Leserinnen an einer Asymmetrie der Geschlechter festhalten konnte, ohne die weibliche Leserschaft vor den Kopf zu stoßen? Der Ausweg des Autors aus diesem Dilemma war – blanker Rassismus: Der Philosoph, kein Geringerer als Immanuel Kant, zeichnete das Bild des schwarzen Frauenverächters, um vor diesem
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Hintergrund eine Asymmetrie der Geschlechter zu legitimieren und sie sogar als frauenfreundlich verkaufen zu können. »Der Pater Labat meldet zwar, daß ein Negerzimmermann, dem er das hochmüthige Verfahren gegen seine Weiber vorgeworfen, geantwortet habe: Ihr Weiße seid rechte Narren, denn zuerst räumet ihr euren Weibern so viel ein, und hernach klagt ihr, wenn sie euch den Kopf toll machen; es ist auch, als wenn hierin so etwas wäre, was vielleicht verdiente in Überlegung gezogen zu werden, allein kurzum, dieser Kerl war vom Kopf bis auf die Füße ganz schwarz, ein deutlicher Beweis, daß das, was er sagte, dumm war.« 2
Obwohl durch den Antagonisten Islam eine Allianz zwischen WHM und anderen Minderheiten hergestellt werden kann, bleibt diese Allianz brüchig, solange sich WHM insgeheim als Opfer des Multikulturalismus sehen. Beides hängt sogar miteinander zusammen: Je mehr sich WHM als Antagonisten und Opfer des Multikulturalismus betrachten, umso stärker laufen sie Gefahr, ihrerseits eine andere Gruppe als Antagonisten zu zeichnen. Die WHM wenden sich dann sowohl gegen den Islam als auch gegen den Multikulturalismus und enden in einem (selbst-)zerstörerischen Zweifrontenkrieg.
2 | I. Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: Vorkritische Schriften bis 1768 (Immanuel Kant Werkausgabe Band II), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 882.
9. A strong horse and a weak horse
In seinem Buch Warum die Juden? Warum die Deutschen?1 beschreibt der Historiker Götz Aly den deutschen Antisemitismus der Jahrzehnte um 1900 als Folge von Neid und Missgunst gegenüber den sozial mobileren, besser gebildeten, urbanisierten und damit für die Moderne besser gerüsteten Juden. Wenn diese These richtig und wenn in der extremen Rechten der Antiislamismus mittlerweile tatsächlich an die Stelle des Antisemitismus getreten ist, wie manche meinen, dann stellt sich folgende Frage: Ist es hier nicht genau umgekehrt? Sind nicht ›wir‹, der so genannte Westen, die besser Gebildeten, Alphabetisierten, sozial Mobileren etc.? Sind damit, wie Ian Buruma und Avishai Margalit es in ihrem Buch Okzidentalismus 2 darstellen, nicht eher ›wir‹ die Zielscheibe eines islamistischen Neides und Hasses? In einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wurde Aly genau mit dieser Frage konfrontiert.3 Er versuchte seine These mit der Behauptung zu retten, dass die türkischen Zuwanderer die soziale Aufwärtsbewegung schneller als die Deutschen im 19. Jahrhundert durchlaufen würden. Doch selbst wenn 1 | Vgl. G. H. Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? – Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 – 1933, Frankfurt a.M.: Fischer 2011. 2 | Vgl. I. Buruma und A. Margalit, Okzidentalismus. 3 | Vgl. G. H. Aly, »Der Hass auf die Juden entstand aus dem Neid«, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 07.08.2011, http://www.faz.net/sonn tagszeitung/wirtschaft/der-hass-auf-die-juden-entstand-aus-dem-neiddie-vorwuerfe-des-historikers-11427413.html, abgerufen am 29.06.2013.
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das so wäre, macht sie das noch lange nicht zu Objekten eines rasenden Neides. Alys Grundgedanke vom Neid auf die Juden als zentrale Ursache für den deutschen Antisemitismus lässt sich trotzdem auf den gegenwärtigen Antiislamismus übertragen. Man muss nur die von ihm verwendeten sozioökonomischen durch kulturelle und geschlechtliche Register austauschen. Das lässt sich an einem extremen Beispiel des gegenwärtigen Antiislamismus verdeutlichen: An Anders Breiviks Massenmord vom 22. Juli 2011. Die erste Frage, die sich im Zusammenhang mit dieser Schreckenstat aufdrängt, wurde merkwürdigerweise wenig gestellt: Warum waren die gezielten Opfer eines antiislamischen Terroristen ganz überwiegend junge, nicht muslimische Sozialdemokraten? Was machte den Multikulturalismus oder den »kulturellen Marxismus«, für die diese jungen Sozialdemokraten in den Augen Breiviks standen, so hassens- und verachtenswert, dass er dafür zum Massenmörder wurde? Zunächst einmal ist es wichtig, den Unterschied zwischen einem rechtspopulistischen und einem rechtsextremistischen Antiislamismus festzuhalten. Politisch gesehen scheint es zwar nahe zu liegen, den norwegischen Attentäter dem Rechtspopulismus zuzurechnen. Breivik war zeitweise Mitglied der rechtspopulistischen Fortschrittspartei, islamfeindlich, sprach sich für die freie Marktwirtschaft und für Israel aus. Allerdings besteht ein entscheidender Unterschied zwischen Breivik und dem Rechtspopulismus. Rechtspopulisten benutzen, wie zuvor dargelegt, den Islam als Antagonisten, um gegen ihn eine breite Äquivalenzkette aus unterschiedlichen Gruppen zu bilden. Der Islam verhilft vielen Rechten somit zu einer nachholenden Modernisierung, denn mit Hilfe der Abgrenzung gegenüber einer (angeblichen) muslimischen Homophobie und Frauendiskriminierung können sie sich zu Werten bekennen, die sie, solange sie sie einer verhassten 68er-Generation oder einem Multikulturalismus zurechneten, entschieden ablehnten.
9. A strong horse and a weak horse
Genau diese rechtspopulistischen und rechtskonservativen Kalküle und Anpassungsleistungen sind aber bei Rechtsextremisten wie Breivik nicht wirksam, im Gegenteil: Es sind genau die Prozesse der verspäteten Akzeptanz (angeblich) westlicher Werte wie Gleichberechtigung der Frauen und sexueller Minderheiten, Anerkennung des Pluralismus als positivem Wert, die als verabscheuungswürdiges Aggiornamento, als Kapitulation vor dem 68erMultikulturalismus und Verrat an konservativen Werten verbucht werden. Dieser neue, antiislamische Rechtsextremismus gleicht hierin der katholischen Pius-Bruderschaft, die das Vatikanum II als Anpassung an den falschen Zeitgeist ablehnt. Breiviks Hass auf den Multikulturalismus ist nicht von seinem Hass auf den Islam zu trennen, wird der Multikulturalismus doch von ihm beschuldigt, einer Islamisierung Europas Vorschub zu leisten. Wie aber lässt sich dieser Hass auf den Islam verstehen? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich noch einmal auf das Theorieinventar René Girards zurückgreifen. Dieser Hass lässt sich nämlich genau in jenem Sinn begreifen, den Girard ihm vor über 50 Jahren in seinem Buch Strukturen des Begehrens gab: »Das Subjekt ist überzeugt, sein Vorbild fühle sich ihm gegenüber zu überlegen, um es als Nachahmenden überhaupt anzunehmen. Das Subjekt empfindet folglich seinem Vorbild gegenüber ein peinigendes, in sich widersprüchliches Gefühl, das ergebenste Verehrung und heftigste Rachsucht in sich vereint. Dieses Gefühl nennen wir Haß. Nur wer uns daran hindert, ein Begehren zu befriedigen, das er selbst in uns geweckt hat, ist wirklich Objekt des Hasses.« 4
Dass Breiviks Hass mit einer Hochachtung einherging, zeigte er in seinen anerkennenden Äußerungen für al-Qaida, die er als die »erfolgreichste militante Organisation der Welt« bezeichnete, und
4 | R. Girard, Figuren des Begehrens, S. 20.
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in seiner Bewunderung für deren Glauben an das Märtyrertum.5 Diese Ambivalenz aus Hass und Bewunderung zeigt sich besonders anschaulich in einer Karikatur, die Breivik sowohl in seinem Video Knights Templar 2083 als auch in seinem Text 2083. A European Declaration of Independence einfügte: Ein kleiner Junge, zwischen einem tänzelnden, lachenden und feminisierten Flower-Power-68er und einem supermaskulinen Dschihadisten, zu dem er aufschaut. Darunter der angeblich von Bin Laden stammende Satz: »When people see a strong horse and a weak horse, by nature they will like the strong horse.« (Abb. 2) Abbildung 2
www.redplanetcartoons.com/index.php/2007/07/
Hier werden nicht nur die hinter den Hassfiguren Multikulturalismus und Islam wirksamen geschlechtlichen Zuweisungen deutlich. Hier lässt sich jene mimetische Dynamik erahnen, die bei extremistischen Islamhassern wie Breivik offenbar am Werk ist. In den Muslim, besonders in hyperviril und todesmutig gezeichnete 5 | Vgl. www.spiegel.de/panorama/justiz/attentaeter-anders-breivik-lobt -al-qaida-vor-gericht-a-828103.html, abgerufen am 15.05.2013.
9. A strong horse and a weak horse
Dschihadisten, wird eine intakte Männlichkeit projiziert, in deren Spiegel der multikulturalistische Mann als entmännlicht wahrgenommen wird. Statt bloß zum WHM der WHM zu werden, wie im Rechtspopulismus, verwandelt sich der muslimische Mann hier in einen Rivalen. Die Figur des Muslim wird also sehr wohl zum Objekt des Neides, aber eben in anderer Weise als die Figur des Juden im beginnenden 20. Jahrhundert. Es geht hier nicht um soziale Fragen. Es ist die (imaginierte) kriegerische Männlichkeit des Islamisten, die ihn zum Rivalen für rechtsextremistische WHM machen kann. Der Rechtsextremist droht in den Bann seines eigenen Phantasmas einer anderen, virileren und fertilen Männlichkeit zu geraten. Er verfängt sich in eine mimetische Rivalität zum selbst entworfenen Bild des männlichen Muslim und gleicht sich ihm an. Damit wird er zur Karikatur der Karikatur des islamistischen Terroristen. Breivik, der sich als Kreuzritter gegen den Islam sieht, wird zum Massenmörder an den eigenen Landsleuten und damit zum Doppelgänger seines islamistischen Phantoms. Breivik steht damit für eine katastrophal entgleiste weiße Männlichkeit. Wurde der 11. September 2001 zur Chiffre für die Gefahr des Islamismus, so haben die Anschläge vom 22. Juli 2011 nicht nur die Gefahr eines Antiislamismus vor Augen geführt, sondern mit ihr die Relevanz der Frage nach der Sonderstellung der weißen Männer im Multikulturalismus deutlich gemacht. Um die schwierige und anstößige Thematisierung der spezifischen Situation der WHM kommt man seitdem nicht mehr herum.
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10. Das Problem der Ausnahme »Once they excluded the white man, they found that they could get together.« Malcolm X
Die indonesische Millionenstadt Bandung, die Stadt der Blumen, wurde 1955 zur Stätte jener berühmt gewordenen Konferenz von 29 asiatischen und afrikanischen Staaten, die sich gegen den (Neo-)Kolonialismus wandte. Hier wurde zum ersten Mal offiziell die Selbstbezeichnung Dritte Welt als Abgrenzung gegenüber dem Westen und dem Ostblock und als Synonym der Blockfreien-Bewegung verwendet. In einer eindrucksvollen Rede aus dem Jahr 1963 erinnerte der afroamerikanische Bürgerrechtler Malcolm X an die Bandung-Konferenz: »At Bandung all the nations came together, the dark nations from Africa and Asia. Some of them were Buddhists, some of them were Muslims, some of them were Christians, some of them were Confucianists, some were atheists. Despite their religious differences, they came together. Some of them were communists, some were socialists, some were capitalists – despite their economic and political differences, they came together. All of them were black, brown, red, or yellow. The number-one thing that was not allowed to attend the Bandung conference was the white man. He couldn’t
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come. Once they excluded the white man, they found that they could get together.«1
Was Malcolm X hier in Bezug auf den »white man« sagte, hat Laclau auf strukturalistischer Ebene zu erklären versucht. Durch einen gemeinsamen Ausschluss werden alle sonstigen Differenzen irrelevant: »[V]is-á-vis the excluded element, all other differences are equivalent to each other – equivalent in their common rejection of the excluded identity.«2 Und schon zuvor hatte Jacques Derrida geschrieben: »Isn’t there always an element excluded from the system that assures the system’s space of possibility?«3 Es ist kein Zufall, dass mit Laclau und Derrida zwei poststrukturalistische Theoretiker die Bedeutung der Ausnahme und des Ausschlusses thematisierten. Gerade der Poststrukturalismus und die von ihm beeinflussten akademischen Disziplinen Gender, Queer, und Postcolonial Studies operieren beständig entlang eines Widerspruchs, der mit der Frage der Ausnahme zusammenhängt. Einerseits ist die Infragestellung der privilegierten Ausnahme und der mit ihr ermöglichten Hierarchien – die Ausnahme Gott gegenüber der Welt, der Mensch gegenüber anderen Lebewesen, der Westen gegenüber anderen Kulturen, oder eben der weiße Mann gegenüber diskriminierten Gruppen – ein Kernbestandteil des Poststrukturalismus. Andererseits ordnet sich durch die Ausnahme das Ganze, wird ein Ganzes überhaupt konstruierbar und ist es der Ausschluss, der eine Solidarisierung und politische Orientierung
1 | Malcolm X, »Message to the Grass Roots, November 10, 1963, Detroit«, in: Malcolm X Speaks. Selected Speeches and Statements, hg. v. G. Breitman, New York: Grove Press 1990, S. 3-17, hier S. 5. 2 | E. Laclau, On Populist Reason, London, New York: Verso 2005, S. 70. 3 | J. Derrida, Glas, Lincoln, London: University of Nebraska Press 1986, S. 162.
10. Das Problem der Ausnahme
ermöglicht.4 Ohne Ausnahme und Ausschluss geht jede Ordnung verloren. Schon der strukturalistische Psychoanalytiker Jacques Lacan hat eine Figur entwickelt, die es erlaubt, Ausnahmen aufzulösen und zu bewahren. Er verband zwei unterschiedliche ›Logiken‹ miteinander, die unruhig und kippbildartig hin- und herspringen: eine ›männliche‹ binäre Logik, die auf einem Ausschluss oder einer Ausnahme basiert, und eine ›weibliche‹ Logik des »Nicht-Alles«, die die Ausnahme und das Denken in binären Oppositionen auflöst.5 Jacques Derrida, einer der wichtigsten Vertreter des Poststrukturalismus, hat eine vergleichbare, aber politischere Strategie entwickelt. Sie besteht, stark vergröbert, darin, binäre, asymmetrische Unterscheidungen in Frage zu stellen, zu dekonstruieren, sie aber zugleich im Interesse des Kampfes der Schwächeren zu invertieren und damit fortzuschreiben.6 Eine solche Doppelstrategie wird bereits in seinem ersten Hauptwerk Grammatologie aus dem Jahr 1967 sichtbar. Derrida dekonstruierte einerseits binäre und hierarchisierende Unterscheidungen (innen/außen, Präsenz/Differenz, Stimme/Schrift etc.). Indem er diese aber andererseits an eine bestimmte Partikularität (das vom Vokalalphabet geprägte Abendland) koppelte und sich polemisch dagegen wandte, reproduzierte
4 | Zur Kombination von weicher Dekonstruktion und politisch verschärfendem Antagonismus im Postkolonialismus vgl. L. Di Blasi und J. Di Blasi, »Die postkolonialistische Verschärfung. Eine Kritik der Documenta 11«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 644, 2002, S. 1131-1137. 5 | Vgl. J. Lacan, Encore. Das Seminar Buch XX, Berlin: Quadriga 1991, S. 85. Vgl. auch J. Copjec, Read My Desire. Lacan against the Historicists, Cambridge, Massachusetts: MIT Press 1994, S. 201-236. 6 | Vgl. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, besonders S. 422-442.
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er, bis zu einem gewissen Grad, den kritisierten und dekonstruierten Binärismus mit umgekehrten Vorzeichen.7 Die Infragestellung der Ausnahme ist gleichbedeutend mit der anarchistischen Auflösung der Ordnung und damit auch der Herrschaftsstrukturen. Der antagonistische Ausschluss dagegen ist gleichbedeutend mit einem Kampf gegen eine bestimmte Partikularität. Man könnte daher vielleicht sagen: Die Dekonstruktion binärer hierarchischer Unterschiede ist der universalisierbare, die Inversion des Binärismus zu Lasten der Ausnahme der antiuniversalistische Aspekt des Poststrukturalismus. Die Auflösung der Strukturen ist universalisierbar, weil sich ihr alle anschließen können, selbst jene, die von den ungerechten Verhältnissen profitieren. Sie ist aber nicht repräsentierbar und unanschaulich. Der Kampf gegen eine identifizierbare, die ›herrschende‹ Gruppe ist antiuniversalistisch und (bis zu einem gewissen Grad) selbstwidersprüchlich, aber konkret. Hinter unanschaulichen Strukturen wird ein identifizierbarer Feind – der Hauptprofiteur dieser Strukturen – imaginiert. Das verschärft den politischen Kampf zu einem wachmachenden Freund-Feind-Denken. Malcolm X ist auch deswegen lesenswert, weil er beide Seiten des Widerspruchs, auch und gerade die verpönte antiuniversalistische Seite, offen artikuliert hat. Er radikalisierte jenen Ausschluss des weißen Mannes, der eine Solidarisierung der anderen ermöglicht, zu einem Antagonismus und konsequenten Freund-Feind-Denken: »We have a common enemy. We have this in common: We have a common oppressor, a common exploiter, and a common discriminator. But once we 7 | Vgl. J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Vgl. auch L. Di Blasi, »Grammatheologie. Eine kultur- und medientheoretische Lektüre«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 55, 2007, S. 717-733. Da es sich hierbei auch um die Antwort auf einen antisemitischen Ausschluss handelt, kann man diese Reproduktion und Inversion eines (angeblichen) abendländischen und binären Denkens nicht schlechthin mit diesem gleichsetzen.
10. Das Problem der Ausnahme
all realize that we all have a common enemy, then we unite – on the basis of what we have in common. And what we have foremost in common is that enemy – the white man. He’s an enemy to all of us.« 8
In einer Rede, die er wenig später hielt, betonte Malcolm X dagegen die Möglichkeit eines (universalistischen) Kampfes gegen Diskriminierung und Ausschluss: »All of us have suffered here, in this country, political oppression at the hands of the white man, economic exploitation at the hands of the white man, and social degradation at the hands of the white man. Now, in speaking like this, it does mean we’re anti-exploitation, we’re anti-degradation, we’re anti-oppression. And if the white man doesn’t want us to be anti-him, let him stop oppressing and exploiting and degrading us.« 9
In aller Deutlichkeit zeigt sich hier der Widerspruch zwischen einem universalisierbaren Kampf gegen Rassismus und Unterdrückung und einem antiuniversalistischen ›rassistischen‹ Kampf gegen rassistische Unterdrücker. Und es ist genau diese Deutlichkeit, die das zugrunde liegende Problem erkennbar macht, das Problem, auf das das vorliegende Buch zu antworten versucht. Einerseits handelt es sich hier um einen inakzeptablen ›Rassismus‹. Malcolm X verwies immer wieder explizit auf die »europäische Herkunft«, die »blonden Haare«, »blauen Augen« und »blasse Hautfarbe« des weißen Mannes. Es scheint, als wollte er keine Zweifel daran aufkommen lassen, dass der weiße Mann gerade nicht als eine Metapher für eine spezifische gesellschaftliche Stellung verstanden werden sollte. Andererseits aber gibt es einen Unterschied zwischen einem Rassismus der Dominanten und einem ›Rassismus‹ der Margina8 | Malcolm X, »Message to the Grass Roots«, S. 5. 9 | Malcolm X, »The Ballot or the Bullet, April 3, 1964, Cleveland«, in: Malcolm X Speaks. Selected Speeches and Statements, hg. v. G. Breitman, New York: Grove Press 1990, S. 23-44, hier S. 24f.
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lisierten, und diesen Unterschied markiere ich mit Anführungszeichen. Die ›rassistische‹ Antwort auf einen verbrecherischen weißen Rassismus darf nicht schlechterdings mit diesem gleichgestellt werden. Das liefe darauf hinaus, die Differenz zwischen Tätern und Opfern, zwischen Angriff und Verteidigung einzuebnen. Wir haben es hier offenbar mit einer Variante des berühmten Intoleranz-gegenüber-Intoleranten-Dilemmas zu tun: Die Möglichkeit, das (scheinbar) universelle und allgemeine, kulturenübergreifende Problem des Rassismus oder, abstrakter gefasst, des Ausschlusses oder des binären Denkens, auf eine bestimmte Partikularität zurückzuführen (der weiße Mann, das christliche Abendland etc.), entlarvt jeweils hinter einem (vermeintlich) allgemeinen, universellen Problem einen partikularen Träger und politisiert das Denken. Diese Entlarvung hat aber ihrerseits rassistische, antiuniversalistische Züge, spaltet ihrerseits die Welt binär auf (zwischen dem weißen Mann und allen anderen, zwischen Abendland und dem Rest etc.) und reproduziert damit, abstrakt betrachtet, genau ein solches rassistisches oder binäres Denken, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Die Gleichsetzung von Ausschluss und ausschließender Antwort auf einen Ausschluss durch die gerade erfolgte Selbstreflexion wiederum löst alle Unterschiede abstrakt auf und neutralisiert sie. Die ›rassistische‹ Antwort auf Rassismus erscheint ihrerseits rassistisch, die Ablehnung eines binären Denkens binär, beides daher selbstwidersprüchlich. Doch genau eine solche Gleichsetzung oder Universalisierung nivelliert oder invisibilisiert wiederum relevante Unterschiede, so wie die Verallgemeinerung des Unmarkierten bei Luhmann Unterschiede nivelliert (vgl. Kap. 4). Nach einer solchen abstrakten Gleichsetzung besteht dann keinerlei Unterschied mehr zwischen Rassismus und der ›rassistischen‹ Antwort der rassistisch Verfolgten, zwischen Intoleranz und der ›Intoleranz‹ gegenüber Intoleranz etc. Ich denke, das Hin- und Herkippen zwischen Politisierung und Entpolitisierung ist sichtbar geworden. Man könnte geradewegs eine Gesetzmäßigkeit behaupten: Reflexive Selbstberücksichtigung (Rekursion) und Politisierung verhalten sich wie kommunizierende
10. Das Problem der Ausnahme
Röhren. So wie die Radikalisierung der Selbstreflexion und Rekursion eine Entpolitisierung begünstigt, so geht der Wille zur Politisierung mit einer Schwächung oder bewussten Verweigerung der Bereitschaft zur Rekursion einher. Im Postkolonialismus zum Beispiel wird dem Abendland immer wieder die gewaltsame Homogenisierung der Anderen vorgehalten, doch das Abendland erscheint dabei seinerseits homogenisiert, ohne dass dieser Selbstwiderspruch reflektiert würde. Im Interesse einer Politisierung wird in feministischen Theorien ein binäres Denken manchmal so sehr mit einem männlichen oder westlichen Denken verbunden, dass der binäre Charakter dieser Zuweisung selbst aus dem Blick gerät und nicht mehr reflexiv eingeholt wird. Das gilt selbst noch für das politische Alltagsgeschäft. Grundsätzlich weiß man natürlich, dass es ein Widerspruch ist, sich für die Rechte von Frauen, Homosexuellen etc. einzusetzen und gleichzeitig solche Identitäten in Frage zu stellen. Man weiß, dass die Bevorzugung bestimmter Gruppen problematisch ist. Wenn es aber der Herstellung von mehr Gleichheit dient, heiligt der Zweck die Mittel und erscheinen viele Dinge akzeptabel, die in Bezug auf dominante, nicht diskriminierte Gruppen inakzeptabel und unerträglich sind. Auf dieser Grundlage lässt sich folgendes Ergebnis festhalten: Während die Affirmation der schwarzen Hautfarbe, der Homosexualität, der Weiblichkeit bejaht und selbst Essentialisierungen gerechtfertigt werden können, solange es sich dabei um Strategien gegen Herrschende oder diskriminierende Herrschaftsverhältnisse handelt, erscheint die Affirmation der weißen Hautfarbe als Rassismus, die Affirmation von Heterosexualität als heteronormativ und homophob, die Affirmation von Männlichkeit als Androzentrismus, Sexismus oder Machotum, solange WHM privilegiert und solange die Gewaltgeschichte gegenüber anderen noch lebendig ist. Das Gleiche gilt für Partikularisierungen. Wo Menschen auf diskriminierende Markierungen strategisch antworten, also diskriminierende Markierungen zur Selbstkonstituierung und Selbststärkung (empowerment) als Gruppe übernehmen, ist dies verständlich
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und in gewissen historischen Phasen, besonders in Verfolgungs- und Unterdrückungssituationen, geradezu geboten. Es wäre zynisch, ja infam, wenn Menschen aufgrund bestimmter Diskriminierungskategorien zuerst als Gruppen produziert und markiert würden und man ihnen anschließend vorhielte, sie bestätigten mit ihrem Zusammenhalt die verwendeten Markierungen. Die gleichen Partikularisierungen erscheinen bei den dominanten, nicht diskriminierten Gruppen dagegen in einem anderen Licht. Es ist, als ob alle Ambivalenzen, Paradoxien, Aporien, die bei diskriminierten Gruppen bis zu einem gewissen Grad akzeptabel sind, bei ihnen problematisch erschienen. Die Figur des WHM spiegelt gleichsam alle Ambivalenzen partikularer Selbstkonstitutionen in hässlicher Eindeutigkeit zurück.
11. Die Letzte der Minderheiten
Die heutigen WHM stehen vor einem Dilemma. Solange die Kategorien weiß, männlich, heterosexuell relativ unmarkiert sind, tendieren sie weniger dazu, sich als Gruppe zu begreifen, als Partikularität unter Partikularitäten, und daher eher dazu, die eigene Perspektive als neutral und universalistisch misszuverstehen. Kein Wunder, dass WHM lange Zeit mit einem Humanitätsbegriff operierten, der nach ihrem eigenen Bild gezeichnet war und dadurch alle markierte, die von diesem Bild abwichen. Alle sind gleich, aber wenn sie weiblich, nicht weiß, nicht heterosexuell etc. sind, erscheinen sie als anders, abweichend, nicht dazu gehörig. Von jenen, die Opfer dieser Ausschlüsse werden oder die solche Opfer besonders im Blick haben, werden universalistische Ansprüche daher gewöhnlich mit Misstrauen betrachtet. Gerade WHM sind aufgefordert, gegenüber einem abstrakten Universalismus und ihrer eigenen Unmarkiertheit skeptisch zu sein. Die Forderung gerade an sie lautet: Sie sollen endlich von ihrem hohen universalistischen Ross absteigen, sich aus der Deckung ihrer »abstrakten Männlichkeit« (Nancy Hartsock), herauswagen, ihren naiven Universalismus aufgeben, ihre Positionalität reflektieren, sich situieren, sich endlich als Gemeinschaft neben anderen Gemeinschaften verstehen. Das Problem ist nur: Versuchen sie das, erregen sie schon mit dem ersten Schritt Argwohn. Schon die bloße Selbstthematisierung der WHM verursacht Unbehagen, und zwar gerade dort am meisten, wo der abstrakte Universalismus weißer Männer am heftigsten kritisiert wird. Sogar nur die Möglichkeit, die WHM als Minderheit
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zu bezeichnen, löst Irritationen aus. Der Begriff der Minderheit erscheint so sehr mit diskriminiert verbunden, dass die Rede einer ›Minderheit‹ weißer heterosexueller Männer regelrecht obszön klingt oder als Perfidie erscheint, so als wollten sich weiße Männer dadurch einen Opferstatus erschleichen, der ihnen am wenigsten zufällt. Man könnte noch weiter gehen. Jede Selbstthematisierung der WHM außerhalb einer bloßen Wiederholung der gegen sie und ihren Status gerichteten Vorwürfe unterliegt dem Verdacht, rassistisch, heteronormativ und sexistisch/androzentrisch motiviert zu sein. Eine Selbstthematisierung erscheint daher höchstens dann legitim, wenn sie sich darauf beschränkt, die gegen die WHM gerichtete Kritik in Form einer Selbstkritik zu reproduzieren und das zu wiederholen, was von feministischer, queerer oder postkolonialer Perspektive vorgebracht wird. Das aber wäre natürlich genau keine eigene Stimme, sondern die Appropriation der Stimme der Kritiker. Und selbst eine solche Appropriation ist nicht unproblematisch. Der weiße Mann, der sich selbst zum Kritiker der weißen Männer macht, erscheint vorteilhaft als schonungslos gegenüber sich selbst und kann in partikularistischen Kreisen normalerweise mit Zustimmung rechnen. Er verstrickt sich gleichwohl in einen spezifischen performativen Selbstwiderspruch. Wenn er eine (angeblich) männliche Ortlosigkeit kritisiert, kann er das gerade nicht aus einem geschlechtlich situierten Standpunkt heraus tun. Obwohl kritisch gewendet, reproduziert er noch in seiner Kritik jene abstrakte, unsituierte Männlichkeit, die den WHM gerade vorgehalten wurde. Auf die nahe liegende Frage, von wo aus er seine Kritik formuliert, kann er gerade nicht auf ein situiertes Wissen verweisen und nicht anders als mit Strategien der Selbstimmunisierung reagieren. An der Thematisierung der WHM als WHM besteht auch deswegen kein Interesse, weil diese den verpönten und (bis zu einem gewissen Grad) selbstwidersprüchlichen antiuniversalistischen Aspekt des Partikularismus offen legen würde, den binären Code, der die Dekonstruktion binärer Codes immer auch begleitet. Daher erscheint nicht nur eine Selbstthematisierung der WHM problema-
11. Die Let zte der Minderheiten
tisch – sie dürfen im Grunde auch von außen nicht in aller Deutlichkeit markiert werden. All diese Ambivalenzen münden in ein Paradox: Die WHM sind diejenigen, die nur als unmarkiert markiert zu werden vermögen. Eine (Selbst-)Thematisierung der WHM erscheint besonders irritierend, wenn diese weder in Form rassistischer, sexistischer, heteronormativer Antagonisten auftreten noch sich bei der Selbstthematisierung auf die Akzeptanz und Wiederholung der gegen sie gerichteten Vorwürfe beschränken. Als Sexisten, Homophobe und besonders als Rassisten, können WHM nämlich ausgeschlossen werden und dieser Ausschluss ist auch nicht tabuisiert. Thematisieren sich WHM in der Weise, dass sie die gegen sie gerichteten Vorwürfe reproduzieren, bekommen sie keine erkennbaren eigenen Züge und erscheinen daher ebenfalls weitgehend unproblematisch. Nur die WHM, die eigene Konturen zu gewinnen versuchen, nach einer eigenen Stimme suchen, also zur ›Vielfalt der Kulturen‹ einen eigenen Beitrag liefern wollen, ohne dabei andere Partikularitäten auszuschließen oder abzuwerten, verursachen Unbehagen. Was bereits für eine (Selbst-)Thematisierung gilt, trifft erst recht auf jede Form von Identitätspolitik und Gruppenbildung zu. Eine selbstbewusst auftretende Gruppe von WHM weckt sofort schlimme Erinnerungen an Rassismen und Gewalt und erscheint vollends unerträglich. Zwar kann man behaupten, dass das nicht nur für WHM gilt. In avancierten Diskursen haben mittlerweile die Begriffe Identität, Identitätspolitik und sogar der Begriff der Kulturen einen fragwürdigen Klang. Selbst die multikulturelle Urvorstellung einer Gesellschaft, in der unterschiedliche Kulturen friedlich miteinander leben, erscheint vielen kritischen Intellektuellen mittlerweile problematisch.1 Das Wort Kulturen kann in Richtung kultureller Identitäten verengt werden. Es berücksichtigt dann zu wenig interne Spannungen und Differenzen, auch nicht die Tatsache, dass Kul1 | Vgl. zum Beispiel A. Lentin und G. Titley, The Crises of Multiculturalism – Racism in a Neoliberal Age, London: Zed Books Ltd 2011.
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turen niemals klare Ursprünge haben, immer schon aus anderen Kulturen und in der Begegnung mit anderen Kulturen entstanden sind und sich fortlaufend verändern. Trotzdem besteht nach dem bisher Gesagten kein Zweifel, dass weiße Männer genau jene ›Minderheit‹ bilden, der es aufgrund der eigenen Geschichte nicht oder am allerwenigsten erlaubt ist, sich als Minderheit, Community oder Kultur zu verstehen und zu organisieren. Für alle Ausdrucksformen des Zusammenschlusses weißer Heterosexueller werden vornehmlich pejorative Attribute verwendet: Stammtisch, männliche Seilschaften, Männerbünde, Männerverein, Herrenriege etc. Ratschläge wie jene der Spiegel-Kolumnistin Silke Burmeister, die weißen Männer sollten endlich auf ihre Ausnahmestellung verzichten und mit den anderen Gruppen »eine Menge Spaß haben«2, sind daher, bei genauerem Hinsehen, doch eher als Schläge zu verstehen. Man kann sich die Reaktionen auf WHM vorstellen, die sich am Straßenumzug des Karneval der Kulturen durch den Berliner Stadtteil Kreuzberg beteiligen würden, um mit den anderen Gruppen »eine Menge Spaß« zu haben. Das Dilemma der WHM besteht, kurz zusammengefasst, darin, dass sie von allen Seiten unter Druck stehen, ihre Unmarkiertheit und daraus erwachsende naive Universalitätsansprüche abzustreifen und sich im Chor der Partikularitäten einzureihen; dass aber gleichzeitig Versuche, sich als Gruppe neben anderen zu positionieren, auf Misstrauen, Unverständnis und Widerstand stoßen würden. Obwohl ihnen ihre Unmarkiertheit vorgehalten wird, erscheint jede Selbstthematisierung weißer Männer, die sich nicht darauf beschränkt, kritische Diskurse zu wiederholen, verdächtig. Obwohl ihnen der Universalismus vorgehalten wird, steht den WHM kein Raum für eine Selbstsituierung als Gruppe zur Verfügung. 2 | S. Burmeister, »Frauen, überall Frauen! Und stellen auch noch Forderungen!«, Spiegel Online, 18.11.2012, www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ silke-burmester-ueber-frauen-und-das-ende-der-zeit-des-weissen-man nes-a-867733.html, abgerufen am 19.11.2012.
11. Die Let zte der Minderheiten
Beides, die Kritik der abstrakten Männlichkeit, der Unmarkiertheit der WHM und das Unbehagen gegenüber einer Selbstthematisierung oder gar Selbstpartikularisierung weißer Männer ist jeweils für sich genommen verständlich und nachvollziehbar. Im Ergebnis aber bedeutet das, dass heutigen weißen Männern jegliche Möglichkeit verstellt ist: Sie sollen weder universalistisch ihre eigene Partikularität überfliegen oder ignorieren noch sollen sie die eigene Partikularität thematisieren oder sich gar selbst als Partikularität neben anderen Partikularitäten situieren. Der Schluss ist also unvermeidlich: Die WHM bilden genau die partikulare Menge, die sich am allerwenigsten als partikulare Menge begreifen darf. Die WHM sind daher die allerletzte der Minderheiten, weil sie als am längsten Geschontgebliebene strukturell zu spät kommen: Was immer sie über schmerzhafte Markierungen verstehen, haben die anderen längst schon gewusst, was immer sie in diese Richtung versuchen, wurde schon versucht, was sie beginnen, wurde von anderen schon abgeschlossen. Sie sind aber auch in der Hinsicht die Allerletzten, dass sie in einer multikulturellen Gesellschaft die Letzten sind, die für sich in Anspruch nehmen können, eine Minderheit zu sein. Als solche sind sie eine unmögliche ›Minderheit‹, die Minderheit unter den Minderheiten, partikularer als partikular. Die Tatsache, dass sie sich weniger als alle anderen als Partikularität unter Partikularitäten konstituieren können, macht sie ironischer Weise zur Partikularität der Partikularitäten, zur Ausnahmepartikularität. Der Ausdruck der »Ausnahmepartikularität« findet sich beim slowenischen Philosophen Slavoj Žižek. Auch er verbindet diesen Begriff interessanter Weise mit dem Mann. Der Mann ist nach ihm insofern die Ausnahmepartikularität, als er das Moment der Spaltung einbringt, die »anfängliche Substanz« partikularisiert und als Partikulares die Allgemeinheit als solche verkörpert.3 Im vor3 | Vgl. S. Žižek, Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus. Teil I: Der erhabenste aller Hysteriker. Teil II: Verweilen beim Negativen. Wien: Turia + Kant 2008, S. 73ff.
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liegenden Ansatz dagegen partikularisieren WHM nicht eine »anfängliche Substanz«, sondern einen – durch den unbenennbaren Ausschluss der WHM strukturierten – Partikularismus und legen damit seine Partikularität offen. Die Unmöglichkeit der WHM, sich als Gruppe neben anderen einzureihen, fällt gewissermaßen auf den Partikularismus zurück. Einer Partikularität oder Gruppe, deren Partikularität darin besteht, gerade nicht partikular werden zu können, bleibt nichts anderes übrig, als dies zu unterlassen. Und genau das ist das erste Ergebnis meiner bisherigen Überlegungen: Mehr als andere müssen WHM darauf verzichten, sich als Gruppe neben anderen Gruppen zu situieren. Ein Ausweg aus dem Dilemma besteht daher in der Beachtung und Durchstreichung der eigenen Partikularität.4 Damit zeigt sich, dass, wie so häufig, genau das offene Eingeständnis der Sackgasse, der Stockung (stasis), ein erster Schritt hin zur Überwindung sein kann. Wenn die Partikularisierung gerade für die Dominanten, Privilegierten oder Geschonten besonders schwierig oder sogar unmöglich ist, bedeutet das, dass jener Universalismus, der weißen Männern immer wieder als Arroganz vorgehalten wurde und wird, gerade für sie bis auf weiteres alternativlos ist! Allerdings entspringt dieser ›Universalismus‹ gerade nicht einer naiven Besserstellung, sondern den spezifischen Erfahrungen heutiger weißer Männer mit der Kritik anderer Gruppen. Da dieser spezifische ›Universalismus‹ gerade aus der Berücksichtigung der eigenen partikularen Situation entspringt und nicht aus ihrem Überflug, könnte man diese Option auch als Transpartikularismus bezeichnen. Die WHM gelangen, sobald sie die hier vorgeschlagene 4 | Konstruktivistisch betrachtet lässt sich die Bewegung von einer Unmarkiertheit zu einer Selbstdurchstreichung einer Markiertheit auch als »Kompensation« im Sinne Spencer-Browns bezeichnen, wenn »Kompensation« bedeutet, dass eine sich aufhebende Unterscheidung an die Stelle des unmarkierten Zustands gesetzt wird. Vgl. G. Spencer-Brown, Laws of Form, S. 10.
11. Die Let zte der Minderheiten
Durchquerung aller (un-)möglichen Partikularisierungen vorzunehmen bereit sind, zum Transpartikularismus und werden zur Transpartikularität par excellence.
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12. Transpartikularismus
Die Konturen des hier entwickelten Transpartikularismus stechen prägnanter hervor, wenn man ihn mit anderen Universalismen vergleicht: einem westlich-liberalen und einem neokommunistischen Universalismus. Beide unterscheiden sich zwar deutlich im Reflexionsniveau, aber gemeinsam erlauben sie es, das Feld, um das es hier geht, genauer zu kartographieren. Wer dem westlich-liberalen Spektrum nahe steht, antwortet auf Angriffe auf die WHM gerne so, wie er auch auf Angriffe gegen den Westen antwortet: mit einer Leistungsbilanz, die den impliziten Anspruch der eigenen Überlegenheit untermauert. In Bezug auf die WHM könnte man die Argumentation, ohne ihr Niveau wesentlich abzusenken, in etwa wie folgt zusammenfassen: Ja, zugestanden, wir haben auch Mist gebaut. Aber im Grunde sind wir doch die Tollsten. Richard Herzinger, politischer Korrespondent der Welt-Gruppe, antwortete in seinem Blog Freie Welt auf die Kritikwelle gegen den weißen Mann um die Jahreswende 2012 wie folgt: »Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es nichts per se Schändliches oder Ehrenrühriges an sich hat, ein weißer Mann zu sein. Steht man als solcher doch immerhin in einer langen, ruhmreichen Tradition, an der man sich ein glänzendes Beispiel nehmen kann. Muss daran erinnert werden, dass sich die große Mehrheit der hervorragendsten Geister der Weltgeschichte, und
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namentlich der europäisch-amerikanischen Freiheitsgeschichte, aus weißen Männern rekrutierte?«1
Ähnlich Josef Joffe in der Zeit: »›Der weiße Mann ist am Ende‹, verkündete unser Blatt in der vorigen Woche. Das wäre wirklich schade, hat doch dieser von Platon bis Planck so ziemlich alles erfunden, was unsere Welt ausmacht, sei sie schwarz, weiß oder gelb. Kitsch und Kathedralen, Fast Food und Haute Cuisine, Tragödie und Comics, Fuge und Rock’n’Roll, Insulin und Internet, Christentum und Säkularismus.«2
Die Kreativität weißer Männer ist aber nicht unbegrenzt. »Man täte dem weißen Mann nämlich zu viel ›Ehre‹ an«, ergänzt Joffe, »schriebe man ihm allein Imperialismus, Kolonialismus und Sklaverei zu. Erfunden haben diese Geißeln die Ägypter, Perser, Babylonier und Chinesen; der Westen hat sie bloß über die ganze Welt verbreitet.« In ähnlicher Weise relativiert auch Herzinger die Versklavung Abermillionen Schwarzer mit dem Verweis, dass es Sklavenhandel auch schon vorher gegeben habe. »Lange auch, bevor die Europäer in den afrikanischen Sklavenhandel einstiegen, gab es bereits einen schwunghaften arabischen Sklavenhandel auf dem schwarzen Kontinent – wie es schon den der schwarzen Afrikaner selbst gab.« Beide Autoren schließlich betonen den exemplarischen und universellen Charakter von Erfindungen des weißen Mannes. Joffe: »Der Schurke hat sich auch die Menschenrechte, den Rechts1 | R. Herzinger, »Weißer Mann, was nun?«, Richard Herzingers Freie Welt, 22.12.2012, freie.welt.de/2012/12/22/weiser-mann-was-nun/, abgerufen am 25.03.2013. Aufgrund der polemischen Ausgangshaltung des Blogs darf man vermuten, dass es sich beim fehlenden ›s‹ im Wort ›weiß‹ in der Internetadresse um kein bloßes Versehen handelt. 2 | J. Joffe, »Ade, weißer Mann«, Die Zeit, 22.11.2012, www.zeit.de/2012 /48/Zeitgeist-Ade-weisser-Mann, abgerufen am 25.3.2013.
12. Transpar tikularismus
staat, die Demokratie, die UN und den Internationalen Gerichtshof ausgedacht – Institutionen, die zum Modell für die Welt geworden sind.« Und Herzinger bindet Universalismus noch enger an eine bestimmte Partikularität: »[…] Obama repräsentiert […] in geradezu exemplarischer Weise das universalistische amerikanische Prinzip der Colorblindness, also der Ausblendung von rassischen, ethnischen und sexuellen Merkmalen aus dem öffentlichen sozialen und politischen Raum. Als Sohn eines schwarzen Afrikaners und einer Mutter mit europäischen Vorfahren versteht er sich als Verkörperung einer Symbiose aus unterschiedlichsten Wurzeln, die im Zeichen der universalistischen Werte der amerikanischen Nation zu einer Einheit verschmelzen: E pluribus unum, wie es im Wappen der USA heißt.«
Bei Atlantikern ist die Gleichsetzung von WHM und Universalität weitgehend intakt. Die Kopplung des Universalismus an bestimmte Partikularitäten (weiße Männer, der Westen, die USA) ist hier noch so selbstverständlich, dass die Paradoxie einer Wendung wie »universalistisches amerikanisches Prinzip« offenbar gar nicht bemerkt oder jedenfalls nicht thematisiert wird. Gerade in diesem Punkt zeigt sich ein wichtiger Unterschied zum Transpartikularismus. Auch hier liegt die paradoxe Kopplung einer Partikularität (WHM) mit dem Universalismus vor. Die darin enthaltenen Paradoxien werden aber gerade offen gelegt. In diesem Sinne stehen sich ›westlicher Universalismus‹ und Transpartikularismus in etwa so gegenüber wie Sophismus und Philosophie. Der Unterschied zwischen sophistischen und philosophischen Diskursen besteht, so schreibt der Philosoph Boris Groys, allein darin, dass »der philosophische Diskurs den Selbstwiderspruch explizit thematisiert, den die sophistischen Diskurse verbergen wollen.«3 Diese tragen in der Außenkommunikation partikulare Interessen und Ansprüche in der Regel widerspruchslos und kohärent vor, »um 3 | Vgl. B. Groys, Das kommunistische Postskriptum, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 20.
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letztendlich einen Kompromiß mit anderen, entgegengesetzten Ansprüchen einzugehen.«4 Wie von westlich-universalistischen Vorstellungen, so lässt sich der Transpartikularismus auch von neokommunistischen und neouniversalistischen Theorien abgrenzen, die seit einigen Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Prototypisch hierfür ist der kommunistische Philosoph Alain Badiou. Er koppelt den Universalismus oder ein universelles Projekt streng an den Begriff des Subjekts. Ein Subjekt im starken Sinne des Wortes entsteht zuallererst durch seine Treue zu einem universellen Ereignis. Gleichzeitig verleiht erst das Subjekt mit seiner Treue zum Ereignis diesem rückwirkend Wirklichkeit und Wahrheit. Exemplarisch hierfür sind Paulus und seine Treue zur Idee der Auferstehung. Diese befähigte ihn Badiou zufolge dazu, die Partikularitäten seiner Zeit, Juden und Heiden, Freie und Sklaven, Männer und Frauen etc., zu überwinden.5 Paulus bildet damit den Beginn einer Reihe großer jüdischer Universalisten (Spinoza, Marx, Freud), die als »aktuelle Juden« und im Unterschied zu »virtuellen Juden« die Partikularität ihrer spezifischen Bedingungen zugunsten eines Universalismus überwunden haben. Badiou schreibt: »Most of the time vast amounts of Jews only assert their identity, like you and me. I call them virtual Jews. They pass on virtuality. Because it must necessarily be there, that powerful and detestable identity, to enable a Jew who is more than the Jews to come […].«6 Damit führt Badiou den Universalismus der »aktuellen Juden« darauf zurück, dass das Judentum eine besonders mächtige Partikularität darstellt. Dass dieser Universalismus aber, wie gerade das Beispiel Sigmund Freud deutlich zeigt,7 genauso dem Versuch 4 | Ebd., S. 57. 5 | Vgl. A. Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, Zürich, Berlin: Diaphanes 2009. 6 | A. Badiou, Polemics, London: Verso 2006, S. 186. 7 | Vgl. Y.H. Yerushalmi, Freud’s Moses: Judaism Terminable and Interminable, New Heaven: Yale University Press 1992, und in Antwort darauf J. Der-
12. Transpar tikularismus
entspringen könnte, die Spuren des Judentums zu verbergen, um einem verbreiteten Antisemitismus auszuweichen, wird von Badiou nicht erwogen. Man könnte hier sogar noch weiter gehen und sagen: Freuds Universalismus war keineswegs (nur) Antwort auf einen jüdischen Partikularismus, er war (auch und gerade) Reaktion auf eine antisemitische Partikularitätsfeindlichkeit, die im christlichen und abendländischen Universalismus eine lange Tradition hatte. Badious Gedanken erscheinen in dieser Hinsicht auch dann problematisch, wenn man bedenkt, dass seinem eigenen Neouniversalismus zufolge partikulare Identitäten ebenfalls als das erscheinen, was es zu überwinden gilt. Unser Eingebettetsein in Partikularitäten (Geschlechter, Klassen, Nationen, Ethnien, Religionen etc.) ist für Badiou, wie wir gerade hörten, »verabscheuungswürdig«. Und auch seine polemische Haltung zum Partikularismus zeigt, dass sein Universalismus weit davon entfernt ist, die eigene Partikularität durchquert zu haben. Daher läuft er Gefahr, in einen polemischen Antipartikularismus zu kippen. Das wird deutlich, wenn Badiou dem Neoliberalismus die ständige Produktion neuer Partikularitäten vorhält, um damit neue Marktsegmente zu generieren: »Jede produzierte Identität […] erzeugt eine Figur, die Stoff bietet für den Zugriff des Marktes. […] Damit die Äquivalenz selbst ein Prozess sein kann, braucht man den Anschein der Nicht-Äquivalenz. Welch unerschöpfliche Möglichkeit für merkantile Investitionen, wenn Frauen, Homosexuelle, Be-
rida, »Archive Fever: A Freudian Impression«, in: Diacritics, 25 (2), 1995, S. 9-63. Vgl. dazu auch J. Geller, »The queerest cut of all: Freud, Beschneidung, Homosexualität und maskulines Judentum«, in: Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, hg. v. U. Brunotte und R. Herrn, Bielefeld: transcript 2007, S. 157-172, und L. Di Blasi, »Circumcisions. Jacques Derrida and the Tensions between Particularism and Universalism«, in: Verifiche. Rivista di scienze umane, 2013, S. 9-31.
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hinderte, Araber als fordernde Gemeinschaften und kulturelle Singularitäten auftreten!« 8
Hier wird sichtbar, dass Badious Universalismus tatsächlich, wie ihm dies der italienische Philosoph Giorgio Agamben vorhielt, den Blick von oben auf die Partikularitäten fortschreibt.9 Daher ist es verständlich, dass jene, die im Namen vorangegangener Universalismen marginalisiert wurden, hellhörig werden und hier die Erneuerung einer Unsensibilität gegenüber Partikularitäten wittern. Der Transpartikularismus ist gerade kein Antipartikularismus. Er versucht nicht nur auf widersprüchliche Forderungen anderer Partikularitäten eine Antwort zu finden, sondern entspringt partikularen Erfahrungen der WHM. Obwohl er grundsätzlich allen offen steht und die Überwindung des Partikularen zum Ziel hat, gilt dies wiederum zunächst einmal und vor allem für die WHM selbst. Den Transpartikularismus verbindet viel mit poststrukturalistischen Ansätzen, die sich, wie jene von Jacques Derrida, Judith Butler oder Daniel Boyarin, zwischen Partikularismus und Universalismus bewegen. Diese kritisieren nicht einfach in abstrakter Weise den Universalismus, sondern antworten auf konkrete, aber verborgene Ausschlüsse durch universalistische Behauptungen. Auch der hier vorgeschlagene Transpartikularismus erwächst keiner abstrakten Negation eines Partikularismus. Vielmehr ergibt er sich aus der Reflexion einer konkreten Erfahrung mit einem mehr oder weniger verborgenen ›Ausschluss‹ und versucht darauf eine befriedigende Antwort zu finden. Allerdings unterscheidet sich der Transpartikularismus schon dadurch von den genannten poststrukturalistischen Theorien, dass er gleichsam von der gegenüberliegenden Seite kommt, der Seite jener, die gerade von
8 | A. Badiou, Paulus, S. 17; Vgl. B. Groys, Das kommunistische Postskriptum, S. 57f. 9 | Vgl. G. Agamben, Il tempo che resta. Un commento alla Lettera ai Romani, Torino: Bollati Boringhieri 2000, S. 54.
12. Transpar tikularismus
bestimmten Diskriminierungserfahrungen weitgehend verschont geblieben sind. Der Transpartikularismus stellt damit das Pensum dar, das WHM heute zu absolvieren haben: Als nach wie vor Privilegierte und Geschonte mit einer Geschichte der Gewalt und Dominanz müssen auch und gerade sie ihre spezifische, partikulare Situation, das heißt: ihre Gewaltgeschichte, ihr Geschontsein, ihre Vormachtstellung reflektieren und anerkennen. Sie dürfen sich aber aufgrund dessen gleichzeitig weniger als andere in ihrer Partikularität einrichten. Gerade sie müssen daher universalistisch für Gerechtigkeit eintreten, das heißt: für eine Gesellschaft, die weniger durch Ausschlüsse und Machthierarchien geprägt ist. Wenn mir WHM bis hierher gefolgt sind, haben sie mehrere Klippen umschifft: Statt es mit einer Selbstinvisibilisierung zu versuchen, insgeheim darauf hoffend, dass sich der Minoritätenlärm irgendwann wieder legen würde; statt als Gruppe der Geschonten und Bessergestellten einen Platz im Multikulturalismus zu beanspruchen oder sich umgekehrt selbst zu viktimisieren und beide Male Gefahr zu laufen, sich schleichend in das giftige Feld mimetischer Rivalitäten zu begeben und neidisch selbst bei den Diskriminierten nach deren Vorteilen zu schielen oder schließlich gar in Formen eines aggressiven Antiuniversalismus abzustürzen; statt selbst annihilierend die Stimmen der schärfsten Kritiker zu appropriieren und dadurch den eigenen Standpunkt nicht mehr angeben zu können und statt in einen tendenziell antipartikularistischen Universalismus zu verfallen, ist die Durchquerung der Reflexion eigener Partikularität und der Verzicht auf Partikularisierung die Aufgabe, die von ihnen bis auf Weiteres abverlangt wird.10 Sie be10 | Einen ersten Anlauf zu der hier angedeuteten prekären Balance aus Akzeptanz der Kränkungen und Immunisierung, aus Negativität und (Eigen-) Liebe habe ich anderswo unternommen. Vgl. L. Di Blasi, »Im Spiegelsaal des Kristallpalastes. Versuch über den operativen Narzissmus«, in: Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, hg. v. M. Jongen, K. Hemelsoet und S. v. Tuinen, München: Fink 2009, S. 204-220.
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jahen die eigene Dezentrierung und üben sich in der Dekolonialisierung ihres Blicks auf die anderen. Sie akzeptieren grundsätzlich die schmerzhaften, weil wenig schmeichelhaften Markierungen durch die anderen. Sie haben sich den vielfältigen narzisstischen Kränkungen ausgesetzt und gleichzeitig die Unmöglichkeit einer eigenen Partikularisierung begriffen.
13. Versöhnende Spaltung »Jeder will dann das beste Beispiel der Identität (als Nicht-Identität mit sich selbst) und folglich ein exemplarischer Jude sein.« Jacques Derrida
Wenn die WHM nicht eine Partikularität neben anderen bilden können, bedeutet das im Umkehrschluss, dass der Multikulturalismus oder Partikularismus nicht allen Gruppen in gleicher Weise offen steht. Der Partikularismus ist also genau das, was sein Name nahe legt: partikular. Wenn diese Partikularität aber erst offen gelegt werden muss, bedeutet das, dass sie verborgen wird, dass also dem Partikularismus die eigene Partikularität unangenehm ist. Er trägt die Maske der Partikularität, um zu verbergen, dass er tatsächlich partikular ist. Der ›Ausschluss‹ der WHM (es ist ein symbolischer Ausschluss, daher die Anführungszeichen) wird gebraucht, um Widersprüche und Rivalitäten unter den Minoritäten in eine solidarische Äquivalenzkette zu verwandeln. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Multikulturalismus ohne den ›Ausschluss‹ der WHM zu dem regredieren würde, was Slavoj Žižek als Sammlung partikularer Momente ohne Zusammenhang bezeichnet hat.1 Obwohl es sich um einen symbolischen ›Ausschluss‹ ohne schwerwiegende Nachteile für die Betroffenen handelt, ist die 1 | S. Žižek, Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus. Teil I: Der erhabenste aller Hysteriker. Teil II: Verweilen beim Negativen, Wien: Turia + Kant 2008, S. 75.
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Scheu, ihn zu thematisieren, verständlich. Spricht man davon, die WHM würde vom Multikulturalismus ›ausgeschlossen‹, legt man die Möglichkeit nahe, diesen ›Ausschluss‹ als Benachteiligung zu interpretieren und die Privilegierten zu Marginalisierten, die Geschonten zu Gezeichneten umzulügen. Wenn dieser ›Ausschluss‹ hier trotzdem thematisiert wird, dann deswegen, weil nur damit ein wichtiger Schritt vollzogen werden kann. Die entscheidende Einsicht besteht nämlich nicht darin, dass der universalismuskritische Partikularismus nicht eingestehen kann, dass er genau das ist, was er zu sein nahe legt: partikularistisch, also nicht universalistisch. Sie besteht vielmehr darin, zu erkennen, dass er das verbirgt. Dies nämlich zeigt, dass der Partikularismus für sich selbst nur in universalistischer Gestalt akzeptabel ist. Dieser Schritt ist entscheidend, weil wir mit ihm zu einer doppelten Durchkreuzung des Gegensatzes weiße Männer hier und alle anderen Gruppen dort, gelangen. So wie der vorgebliche Universalismus immer wieder die partikularen Züge seiner privilegierten und geschonten weißen, männlichen Träger aufwies, so birgt umgekehrt der Partikularismus eine universalistische Dimension in sich. Diese doppelte Durchkreuzung der Spannung Universalismus/ Partikularismus ändert nichts an den realen Machtverhältnissen und an den aus ihnen erwachsenden Spannungen. Sie ändert auch nichts an vergangenem Unrecht. Sie eröffnet aber die Möglichkeit, binäre Antagonismen zumindest theoretisch zugunsten von Positionen zu überwinden, die den Antagonismus auch in sich selbst erkennen und offen legen. Der so genannte westliche Universalismus war und ist spezifisch mit einer Partikularität verbunden und dadurch paradoxer, als es seinen Anhängern häufig bewusst ist. Gleichzeitig will aber auch der Partikularismus universalistischer sein, als man aufgrund seiner Universalismuskritik vermuten könnte. Es ist diese doppelte Internalisierung des Konflikts, die eine Kommunikation jenseits der Gegensätze möglich macht. An die Stelle von kompakten Identitäten, die sich verständnislos gegen-
13. Versöhnende Spaltung
überstehen und im Zuge binärer Verschärfungen auseinanderdriften, an die Stelle einer Logik der Ausnahme, in der die Geschonten von den Diskriminierten als Gruppe ›ausgeschlossen‹ werden und sich die Geschonten umgekehrt als exemplarische Norm für alle anderen missverstehen, tritt die Möglichkeit eines Nebeneinanders verschiedener Partikularitäten, die vielleicht nicht mehr gemeinsam haben als diese innere Widersprüchlichkeit, den Bruch mit sich selbst, das, was man in poststrukturalistisch beeinflussten Theorien manchmal als Nicht-Identität oder Spaltung bezeichnet. Etwas Derartiges scheint sich in gegenwärtigen Gesellschaftstheorien zu artikulieren: An die Stelle von Vorstellungen kultureller Identitäten, wie sie noch dem frühen Multikulturalismus zugrunde lagen, tritt der Begriff der Nicht-Identität mit sich selbst in das Zentrum der Betrachtungen. Ohne die Vorstellung von Partikularitäten, Gruppen, Gemeinschaften zu verwerfen, werden diese doch so gedacht, dass sie sich nicht allzu sehr zu fest gefügten Identitäten verhärten. Ist also so etwas wie ein Nebeneinander unterschiedlicher NichtIdentitäten denkbar? Ist zum Beispiel ein friedliches Zusammensein von Gruppen denkbar, die in der einen oder anderen Weise die Geste der Selbstdurchstreichung gemeinsam hätten? Ist eine solche Selbstdurchstreichung überhaupt eine universelle, für alle Partikularitäten gleichermaßen mögliche Geste? Gleicht sie einer erlernbaren Methode oder Technik, die beliebig von allen angewandt werden könnte? Sicher ist, dass Unterschiede und Spannungen weiterhin bestehen würden, und zwar schon deswegen, weil jede Nicht-Identität und jede Selbstdurchstreichung eine spezifische Geschichte haben und in spezifischer Weise erfolgen. Der Postkolonialismus-Theoretiker Homi K. Bhabha zum Beispiel hat in seinem Buch The Location of Culture die kolonialisierte Person als innerlich gespalten bezeichnet, als gespalten zwischen dem Begehren, den weißen Mann zu imitieren, so zu sein wie er, und dem Begehren, ihn zu eliminie-
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ren.2 Auch die Figur des Juden, die ich gleich genauer beschreiben werde, ist in spezifischer Weise gespalten. Allgemeiner gesagt mag für (vormals) Verfolgte die spezifische Nicht-Identität in der Notwendigkeit bestehen, in besonderer Weise an der eigenen Partikularität festzuhalten. Für (vormals) Privilegierte dagegen scheint aufgrund der Dominanzgeschichte gerade die besondere Verpflichtung oder Notwendigkeit zur Selbstnegation als Gruppe oder Partikularität zu bestehen. Damit taucht aber ein neues Problem auf: Wenn die Bevorzugten oder Geschonten jene sind, die weniger als andere Partikularität unter Partikularitäten werden können und daher mehr als andere der Überwindung des Partikularen, dem Transpartikularismus verpflichtet sind, bedeutet das nicht, dass sie als seine ureigensten privilegierten Träger angesehen werden müssen? Hier wird offenbar eine neue Asymmetrie erkennbar. Die WHM und allgemeiner: die jeweils Privilegierten, Vielfachgeschonten etc. erscheinen wegen der Notwendigkeit der Selbstdurchstreichung als Partikularität als exemplarische Träger des Transpartikularismus. Beanspruchen sie damit also nicht weiterhin eine Sonderstellung, den Status des Exemplarischen? Die Struktur und die Aporien des Exemplarischen sind mit besonderer Intensität in Bezug auf das Judentum durchdacht worden. Zuletzt hat die Religionswissenschaftlerin Sarah Hammerschlag die Figur einer exemplarischen Nicht-Identität anhand der »Figur des Juden« untersucht. Tatsächlich scheint sich die Frage der NichtIdentität und die Spannung zwischen Partikularismus und Universalismus gerade hier in besonderem Maße zuzuspitzen. In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts standen Juden noch für einen hartnäckigen Partikularismus, für die Weigerung, die eigene Partikularität aufzugeben. Im späten 19. Jahrhundert, mit dem aufkommenden Nationalismus, wurden sie umgekehrt mit einem entwurzelten Universalismus verbunden. Seit dem Zweiten Weltkrieg 2 | Vgl. dazu kritisch R. Chow, Entanglements, or Transmedial Thinking about Capture, Durham, London: Duke University Press 2012, S. 94ff.
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schließlich wurde dieser Widerspruch mehr und mehr Bestandteil des Namens oder der Figur des Juden: Seit Sartre, Levinas, Blanchot und Derrida steht die Figur des Juden für die Paradoxie einer exemplarischen Nicht-Identität.3 Die Paradoxie dieser Exemplarität besteht darin, »dass eine Einheit nicht nur in ihrer Identität exemplarisch ist, sondern in ihrer Differenz zu sich selbst«.4 In einem Gespräch mit Elisabeth Weber sprach Derrida über diese Logik der Beispielhaftigkeit, die einen »ein wenig irre werden läßt«. Obgleich diese Logik für alle Partikularitäten gelte (»von Volk zu Volk wie von Geschlecht zu Geschlecht und von Nation zu Nation«), charakterisiert Derrida sie anhand der jüdischen Exemplarität: »Wenn die Identität des Juden oder des Judentums mit sich selbst in solcher Beispielhaftigkeit bestehen würde, das heißt in einer gewissen Nicht-Identität mit sich, denn ›Ich bin dies‹ bedeutete, ›ich bin dies und das Universelle‹, so wäre einer um so jüdischer je mehr die Selbstidentität aufgelöst würde, je mehr er also sagte, ›meine Identität besteht darin, nicht mit mir identisch zu sein, fremd zu sein, nicht mit mir übereinzustimmen‹! Dann aber werden das Wort ›Jude‹, das Attribut ›jüdisch‹, die Qualität des ›Jüdischen‹ und des ›Judentums‹ in eine endlose Überbietung hineingezogen. Sie erlaubt zu sagen, daß man um so mehr Jude ist, je weniger man das ist, was man ist, und folglich, daß man um so mehr Jude ist, je weniger man Jude ist… Die logische Aussage ›Ich bin Jude‹ verliert also jegliche Gewähr, sie wird in eine haltlose Ambition, Anmaßung, Überbietung getrieben. Jeder will dann das beste Beispiel der Identität (als Nicht-Identität mit sich selbst) und folglich ein exemplarischer Jude sein.« 5 3 | Vgl. S. Hammerschlag, The Figural Jew. Politics and Identity in Postwar French Thought, Chicago, London: University of Chicago Press 2010. 4 | D. Hollander, Exemplarity and Chosenness. Rosenzweig and Derrida on the Nation of Philosophy, Stanford: Stanford University Press 2008, S. 127 (meine Übersetzung). 5 | J. Derrida in: E. Weber, Jüdisches Denken in Frankreich. Gespräche mit Pierre Vidal-Naquet, Jacques Derrida, Rita Thalmann, Emmanuel Lévinas,
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Stehen wir, wenn wir die Exemplarität der WHM bedenken, nicht vor einer ganz ähnlichen Paradoxie? Gelangen wir nicht auch dazu, einer spezifischen Nicht-Gruppe aufgrund ihrer spezifischen (partikularen) Bedingungen ein bevorzugtes Verhältnis zur Selbstüberschreitung als Gruppe zuzugestehen und damit ihre Partikularität sowohl durchzustreichen als auch noch zu unterstreichen? Ist nicht jedes Durchstreichen zugleich ein Unterstreichen? Gehorcht nicht auch die Durchstreichung dem Gravitationsgesetz und wird schließlich Unterstreichung? Der Ausdruck Transpartikularismus ist nicht frei von Ironie, denn er ist sozusagen selbst transpartikular: Er kann dazu verhelfen, die partikularen Spuren, die hinter seiner Ausarbeitung standen, zu tilgen und die Offenheit des Transpartikularismus für alle Partikularitäten zu signalisieren. Genau deswegen habe ich mich nicht dazu entschließen können, ausschließlich diesen neutralen Namen zu verwenden. Aus dem gleichen Grund wollte ich nicht nur abstrakt von den Geschonten, den Unmarkierten, den Vielfachgeschonten und dergleichen reden und damit die Bezeichnung WHM vermeiden, obwohl mir das viele Probleme erspart hätte. Die vollständige Tilgung der partikularen Spuren, die hinter der Konstruktion des Transpartikularismus-Begriffs stehen, hätte zugleich den Unterschied zum Begriff des Universalismus aufgelöst und das weiterhin bestehende Problem der Exemplarität invisibilisiert. Daher ist dieses Buch, obwohl es in einen allen offenen Transpartikularismus mündet, zugleich ein Buch über eine spezifische Partikularität, deren Spezifität und Partikularität eben darin besteht, keine Partikularität wie die anderen sein zu können. Daher muss das obszöne und anstößige WHM hinter dem Transpartikularismus sichtbar bleiben. Die Paradoxie der sich negierenden, aber Léon Poliakov, Jean-Francois Lyotard, Luc Rosenzweig, Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag 1994, S. 65. Vgl. auch V. Liska, »›Man kann verjuden.‹ Paradoxes of Exemplarity«, in: Crisis and Rebirth: Twentieth Century Intellectuals in Hard Times, hg. v. E. Mendelsohn, R. Cohen und A. Dubnov, New York, Oxford: Berghahn Books 2013.
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in dieser Negation sichtbar bleibenden Partikularität muss sichtbar bleiben, ebenso wie der Stachel der Exemplarität, der durch die beispielhafte Verbindung einer Partikularität mit einer universellen Idee erhalten bleibt.6 Es kann, mit anderen Worten, nicht darum gehen, die unvermeidliche Partikularität vollständig zu tilgen und eine glatte, konfliktfreie Universalität vorzutäuschen, die es nicht gibt. Die Frage der Exemplarität muss ausgesprochen werden, damit mit ihr produktiv umgegangen werden kann, damit erkennbar wird, dass auch die geteilte Geste der Selbstdurchstreichung zu keinem harmonischen Nebeneinander von Nicht-Identitäten führt, sondern eher als permanenter Spannungszustand rivalisierender Exemplaritäten gedacht werden muss. Trotzdem scheinen mir gerade in diesem Nebeneinander unterschiedlicher oder sogar entgegengesetzter Exemplaritäten produktive Potentiale verborgen zu sein. Nach Derrida entsprang Emmanuel Levinas’ Philosophie einer doppelten Exemplarität: dem jüdischen Lernen und der griechischen Philosophie.7 Derrida selbst stellte Mitte der 1980er Jahre, in einer Vorlesungsreihe zur Philosophischen Nationalität, der jüdischen Exemplarität den deutschen (fichteschen) Nationalismus als Exemplarismus zur Seite.8 Dies geschah nicht in der polemischen Absicht, eine valorisierte durch eine delegitimierte Exemplarität zu diskreditieren. Vielmehr eröffnet gerade das Nebeneinander zweier entgegengesetzter Exemplaritäten, wie jene der besonders Geschonten, die sich weniger als andere als partikular begreifen dürfen, und jener der besonders 6 | Auch Alain Badiou sieht einen unvermeidlichen Zusammenhang von Partikularität und Universalität, wenn er schreibt: »there is the paradox of the universal under an inherited name. The universal can take on the name ›Jew‹, which is absolutely particular. But note that the name of the universal is inevitably particular.« Vgl. A. Badiou, Polemics, S. 184f. 7 | Vgl. D. Hollander, Exemplarity and Chosenness, S. 71. 8 | J. Derrida, »Onto-Theology of National-Humanism (Prolegomena to a Hypothesis)«, in: Oxford Literary Review, 14, 1992, S. 3-24.
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Verfolgten, die weniger als andere ihre Partikularität überfliegen können, den Raum für etwas anderes, Neues, Produktives: die Möglichkeit einer Entschärfung der Aporien und Asymmetrien des Exemplarischen, ohne in einen abstrakten Universalismus auszuweichen. Der jüdische Religionsphilosoph Daniel Boyarin verfolgte eine ähnliche Strategie, scheint mir, als er sein Denken zwischen Universalismus und Partikularismus verortete: Eine dem Heiligen Paulus zugeschriebene universalistische Position der Toleranz und damit Überlegenheit gegenüber den Partikularitäten bezeichnete er als fehlerhaft, als »flawed«, um dann zu ergänzen: »Its opposite – by which I do not mean intolerance but insistence on the special value of particularity – is equally flawed.«9 Eine ähnliche Entgegensetzung bietet sich auch hier an: Eine zwischen der Figur des WHM, (oder allgemeiner: des Geschonten), die aufgrund ihrer spezifischen Geschichte exemplarisch für die Notwendigkeit der Reflexion und Überwindung der eigenen Partikularität steht, und der Figur des Juden, (oder allgemeiner: des Verfolgten), die umgekehrt exemplarisch nicht nur für den Universalismus, sondern auch für die permanente Gefahr der Verfolgung steht und in Folge für die Treue oder Erinnerung an die eigenen partikularen Wurzeln. Die Nicht-Leugnung unterschiedlicher Formen der Exemplarität geht einher mit der Anerkennung, dass Asymmetrien zwischen verschiedenen Gruppen auch dann bestehen bleiben, wenn sie sich alle in der Selbstdurchstreichung einig wären. Die Selbstdurchstreichung einer Partikularität ist nämlich nicht identisch mit der Selbstdurchstreichung einer anderen. Es macht nicht nur einen Unterschied, wer spricht, das Opfer oder der Täter, sondern ebenso, wer sich durchstreicht. Selbstdurchstreichung ist nicht gleich Selbstdurchstreichung, Nicht-Identität ist nicht gleich Nicht-Identität.
9 | D. Boyarin, A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1994, S. 10.
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Die Ergänzung einer Form der Nichtidentität durch eine andere, einer Exemplarität durch eine andere, die Bereitschaft, dem Anderen eine solche Exemplarität nicht von vornherein abzusprechen, kann aber vielleicht dazu beitragen, das naturgemäß schwierige Verhältnis zwischen unterschiedlichen Exemplaritäten wirkungsvoll zu entgiften.
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Postskriptum
Ich habe in diesem Buch versucht, die spezifische Situation der WHM zu reflektieren und Antworten auf das zu finden, was ich in den vergangenen Jahren als widersprüchliche und in dieser Widersprüchlichkeit unerfüllbare Forderungen empfunden habe. Der Transpartikularismus, die Berücksichtigung und Durchstreichung der eigenen Partikularität, entspricht in ihrer Paradoxalität der Widersprüchlichkeit dieser Forderungen. Es sollte aber auch klar geworden sein, dass es mir nicht nur um die WHM ging. Diese stehen vielmehr stellvertretend für jene, die in einer spezifischen gesellschaftlichen und geschichtlichen Situation in Hinsicht auf bestimmte Kriterien in besonderem Maße privilegiert erscheinen. Was ich anhand der Figur der WHM durchgespielt habe, kann man daher bis zu einem gewissen Grad auch auf andere Bereiche übertragen. Das sogenannte Abendland oder die westliche Welt sind ebenfalls in vielfacher Hinsicht bevorzugt und stehen in einer Schuldgeschichte der Kolonialisierung, Versklavung und Ermordung von Abermillionen von Menschen. Ein schwieriger Prozess der Dezentrierung und Dekolonialisierung ist gerade hier unvermeidlich. Nachdem Europa nach zwei Weltkriegen seine Führungsposition in der Welt eingebüßt hat und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, allen voran Russland, mit der Erfahrung einer radikalen Degradierung konfrontiert wurden, sind es nun die USA, die trotz und wegen einer geschichtlich einzigartigen, weltumspannenden imperialen Stellung mehr und mehr mit der Möglichkeit des eigenen Bedeutungsrückgangs konfrontiert sind.
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Ein solcher Prozess kann angesichts der mit den enormen Machtunterschieden verbundenen Potentiale des Machtmissbrauchs natürlich nur entschieden bejaht werden. Ob dieser Prozess allerdings gewaltfrei erfolgen kann, ist mehr als fragwürdig. Umso wichtiger erscheint es mir, sich mit der Möglichkeit der Dezentrierung der Dominierenden und den mit ihr einhergehenden Chancen und Gefahren theoretisch auseinanderzusetzen.
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Der weiße Mann
G.C. Spivak, »Can the Subaltern Speak?« in: Marxism and the Interpretation of Culture, hg. v. C. Nelson und L. Grossberg, Urbana and Chicago: University of Illinois Press 1988, S. 271-313. B. Stein, »In Class Warfare, Guess Which Class Is Winning«, in: New York Times, 26.11.2006, www.nytimes.com/2006/11/26/business/ yourmoney/26every.html?_r=1& [abgerufen am 01.07.2013]. Ö. Topcu/B. Ulrich, »Macho, weiß, von gestern«, Die Zeit, 15.11.2012, www.zeit.de/2012/47/Weisser-Mann-Macho-Hegemonie/seite-1 [abgerufen am 21.03.2013]. E. Weber, Jüdisches Denken in Frankreich. Gespräche mit Pierre Vidal-Naquet, Jacques Derrida, Rita Thalmann, Emmanuel Lévinas, Léon Poliakov, Jean-Francois Lyotard, Luc Rosenzweig, Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag 1994. C. Werntgen, »Wir lebten wie die Prinzen«, Telepolis, 17.04.2011, www. heise.de/tp/artikel/34/34506/1.html [abgerufen am 08.05.2011]. Y.H. Yerushalmi, Freud’s Moses: Judaism Terminable and Interminable, New Heaven: Yale University Press 1992. S. Žižek, Parallaxe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. Žižek, Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus. Teil I: Der erhabenste aller Hysteriker. Teil II: Verweilen beim Negativen, Wien: Turia + Kant 2008.
Danksagung
Obwohl sich die Grundstruktur des vorliegenden Buches früh abzeichnete, – die ersten Entwürfe entstanden bereits im Sommer 2009, – hat der Text seitdem unzählige Überarbeitungen erfahren. Umso glücklicher bin ich, dass dieser Prozess nun abgeschlossen und damit der Zeitpunkt gekommen ist, jenen danken zu können, die in unterschiedlicher Weise dazu beigetragen haben, dass dieses Buch schließlich die vorliegende Gestalt erhielt: Catharine Diehl, Marc Jongen, Georgia Kotretsos, Christoph Narholz, Ariadne von Schirach, Joulia Strauss, Michael Volkmer, Klaus Vondung und die Teilnehmenden des Kolloquiums des ICI Berlin. Mein besonderer Dank gilt Johanna Di Blasi und ihrer unermüdlichen Aufmunterungs- und Korrekturbereitschaft. Ihr ist das Buch gewidmet. Berlin, im Juli 2013
Luca Di Blasi
Zum Autor
Luca Di Blasi, geboren 1967 in Luzern; Studium in Wien und 2001 Promotion im Fach Philosophie; seit 2007 wissenschaftlicher Assistent des Direktors im ICI Kulturlabor Berlin; ab Februar 2014 Universitätsdozent für Philosophie an der Universität Bern. Di Blasi hat zahlreiche Arbeiten zu religions- und kulturphilosophischen Themen veröffentlicht, u.a. Der Geist in der Revolte. Der Gnostizismus und seine Wiederkehr in der Postmoderne, München 2002; Cybermystik (Hg.), München 2006; The Scandal of Self-Contradiction. Pasolini’s Multistable Geographies, Subjectivities, and Traditions, (hg. zusammen mit M. Gragnolati und Chr.F. Holzhey), Berlin, Wien 2012. Er ist mit der Kulturredakteurin Johanna Di Blasi verheiratet und lebt in Berlin.
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft Christoph Bieber, Claus Leggewie (Hg.) Unter Piraten Erkundungen in einer neuen politischen Arena 2012, 248 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2071-9
Karin Harrasser Körper 2.0 Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen Oktober 2013, 144 Seiten, kart., 17,99 €, ISBN 978-3-8376-2351-2
Felix Hasler Neuromythologie Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung (3., unveränderte Auflage 2013) 2012, 264 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1580-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft Imke Schmincke, Jasmin Siri (Hg.) NSU-Terror Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse 2013, 224 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2394-3
Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Occupy Räume des Protests 2012, 200 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-2163-1
Franz Walter Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland 2010, 148 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-8376-1505-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft Sebastian Dullien, Hansjörg Herr, Christian Kellermann Der gute Kapitalismus ... und was sich dafür nach der Krise ändern müsste 2009, 248 Seiten, kart., 6,99 €, ISBN 978-3-8376-1346-9
Kai Hafez Freiheit, Gleichheit und Intoleranz Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas Februar 2013, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2292-8
Kai Hafez Heiliger Krieg und Demokratie Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich 2009, 282 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1256-1
Byung-Chul Han Duft der Zeit Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens 2009, 114 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-8376-1157-1
Thomas Hecken Das Versagen der Intellektuellen Eine Verteidigung des Konsums gegen seine deutschen Verächter 2010, 250 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1495-4
Harald Lemke Politik des Essens Wovon die Welt von morgen lebt
Ramón Reichert Das Wissen der Börse Medien und Praktiken des Finanzmarktes 2009, 242 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1140-3
Werner Rügemer »Heuschrecken« im öffentlichen Raum Public Private Partnership – Anatomie eines globalen Finanzinstruments 2011, 204 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1741-2
Werner Rügemer Rating-Agenturen Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart 2012, 200 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1977-5
Imke Schmincke, Jasmin Siri (Hg.) NSU-Terror Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse Oktober 2013, 224 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2394-9
Franz Walter Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration 2009, 136 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-8376-1141-0
2012, 344 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1845-7
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