Ein Mann, der wurde, was er konnte: Dag Hammarskjöld zum 50. Todestag [1 ed.] 9783428537983, 9783428137985

2011 jährte sich der Todestag Dag Hammarskjölds, des zweiten Generalsekretärs der Vereinten Nationen, zum 50. Mal. Der v

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Ein Mann, der wurde, was er konnte: Dag Hammarskjöld zum 50. Todestag [1 ed.]
 9783428537983, 9783428137985

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 173

Ein Mann, der wurde, was er konnte Dag Hammarskjöld zum 50. Todestag

Herausgegeben von

Andreas Th. Müller und Jodok Troy

Duncker & Humblot · Berlin

ANDREAS TH. MÜLLER / JODOK TROY (Hrsg.)

Ein Mann, der wurde, was er konnte

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 173

Ein Mann, der wurde, was er konnte Dag Hammarskjöld zum 50. Todestag

Herausgegeben von

Andreas Th. Müller und Jodok Troy

Duncker & Humblot · Berlin

Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung aus den Fördermitteln des Vizerektorats für Forschung der Universität Innsbruck, des International Relations Office der Universität Innsbruck, der Forschungsplattform „Politik – Religion – Kunst“ an der Universität Innsbruck sowie des Landes Vorarlberg gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Frontispiz: UN Photo / JO, New York Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-13798-5 (Print) ISBN 978-3-428-53798-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-83798-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Einleitung Andreas Th. Müller/Jodok Troy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zum Geleit Commemorating Fiftieth Anniversary of Dag Hammarskjöld’s Death Ban Ki-moon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Preventive Diplomacy, “a Constant and Essential Work in Progress” Ban Ki-moon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dag Hammarskjöld and United Nations Peacekeeping Carl Bildt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Ein kurzes Leben aber ein unsterbliches Erbe: Verdienste und Würdigungen Dag Hammarskjöld: Ein Schwede im Dienste des Weltfriedens Frederik Löjdquist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Reflections on a Legacy: Dag Hammarskjöld from the Perspective of a UN Staff Member Janos Tisovszky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Hammarskjöld-Tradition in der internationalen Politik: Das Vermächtnis des zweiten UN-Generalsekretärs Manuel Fröhlich/Henning Melber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

II. Dag Hammarskjöld als UN-Generalsekretär und Staatsmann „The Most Impossible Job on This Earth“. Dag Hammarskjöld als UN-Generalsekretär und Staatsmann Andreas Th. Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Der Beitrag Dag Hammarskjölds zur Entwicklung des Völkerrechts Helmut Tichy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Einfluss Dag Hammarskjölds auf die Entwicklung des Amtes des UN-Generalsekretärs Gerhard Hafner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„Leave it to Dag“. Dag Hammarskjöld als stiller Diplomat und Schöpfer der Blauhelmmissionen Jelka Mayr-Singer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Dag Hammarskjöld als Mystiker Dag Hammarskjöld: Leben als Dienst an der internationalen Gemeinschaft – für all die Anderen Jodok Troy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Denken und Glauben – Dag Hammarskjöld und das Tiefe des Politischen Clemens Sedmak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„Suche nicht die Vernichtung. Die wird dich finden.“ Politik und Opfer im Denken Dag Hammarskjölds Wolfgang Palaver . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Andreas Th. Müller und Jodok Troy „Ein Mann, der wurde, was er konnte“ lautet der Titel dieses Bandes, der aus Anlass des 50. Todestages Dag Hammarskjölds (1905–1961), des zweiten Generalsekretärs der Vereinten Nationen, entstanden ist. Das Zitat stammt aus dem allerersten Eintrag in Hammarskjölds Tagebuch Zeichen am Weg, geht allerdings noch weiter: Ein Mann, der wurde, was er konnte, und der war, was er war – bereit, im einfachen Opfer alles zu fassen.

Durch diese seine eigenen Worte ist wahrscheinlich das Wichtigste über Hammarskjöld bereits gesagt. Ein Diener der internationalen Gemeinschaft wollte er sein und ist es auch geworden. Dabei war er bereit, aufs Ganze zu gehen und auch das letzte Opfer, den Tod, für den Dienst an der Sache auf sich zu nehmen. Der vorliegende Band – und das ihm zugrundeliegende Symposium, das am 20. Oktober 2011 an der Universität Innsbruck stattfand – drehen sich jedoch nicht um die bis heute nicht geklärten Umstände, unter denen Dag Hammarskjöld in der Nacht vom 17. zum 18. September 1961 nach einem Flugzeugabsturz auf dem Gebiet des heutigen Sambia ums Leben kam. Hier geht es vielmehr um eine Würdigung Dag Hammarskjölds aus der Perspektive des beginnenden 21. Jahrhunderts. Diese erfolgt in drei Schritten, die einen Bogen über die vielen Facetten der schillernden, ja auf manche widersprüchlich wirkenden Persönlichkeit Hammarskjölds und sein mannigfaches Schaffen spannen wollen. Der erste Abschnitt sucht eine Annäherung an Dag Hammarskjöld aus verschiedenen Blickwinkeln. Den Anfang machen Geleitworte des gegenwärtigen UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon und des schwedischen Außenministers Carl Bildt. In der Folge beleuchten Frederik Löjdquist und Janos Tisovzsky zwei Eckpunkte in Hammarskjölds Leben, die für ihn gleichermaßen wichtig waren und sein Denken und Handeln entscheidend geprägt haben: einerseits seine schwedischen Wurzeln, seine Jugend und familiären Bindungen in Uppsala und sein beruflicher Aufstieg in Stockholm, anderer-

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Andreas Th. Müller und Jodok Troy

seits das Amt des Generalsekretärs und damit des „ersten Bürgers“ der Vereinten Nationen, das Hammarskjöld zwar unverhofft zugefallen war, in dem er aber dennoch seine spezifische Berufung als Diener der internationalen Gemeinschaft sah. Abgerundet wird der erste Teil durch den Beitrag von Manuel Fröhlich und Henning Melber. Sie zeigen auf, dass Hammarskjölds Wirken als Generalsekretär zu einer pragmatischen und innovativen Erweiterung der Instrumente der Vereinten Nationen geführt hat. Seine unparteiliche und doch wertgebundene Amtsführung ist das besondere Vermächtnis Hammarskjölds, das gerade auch für die Herausforderungen der Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert richtungweisend geblieben ist. Diesen Gedanken aufgreifend, stellt der zweite Abschnitt Hammarskjöld als UN-Generalsekretär und Staatsmann in den Mittelpunkt. Im einführenden Beitrag von Andreas Th. Müller wird herausgestellt, dass der Schwede 1953 zwar vielleicht den „unmöglichsten Job der Welt“ übernommen hat, es aber in geschickter und nachhaltiger Weise verstand, das in dieser Funktion angelegte politische Potenzial zu realisieren und den Generalsekretär damit als Akteur auf der Bühne der Weltpolitik zu etablieren. Helmut Tichy widmet sich sodann der Analyse des Beitrags Dag Hammarskjölds zur Entwicklung des Völkerrechts und identifiziert dabei als spezifische Interessens- und Wirkungsfelder des Generalsekretärs die Sicherung der Unabhängigkeit der Vereinten Nationen gegenüber den Mitgliedstaaten, die Stärkung der Rolle des Generalsekretärs selbst sowie die Entwicklung neuer Aufgaben und damit auch Gestaltungsmöglichkeiten für die Vereinten Nationen. Die Entwicklung des Amtes des UN-Generalsekretärs und der Beitrag Dag Hammarskjölds hiezu stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Gerhard Hafner. Das damalige geopolitische Umfeld, die durch die Satzung der Vereinten Nationen festgelegten rechtlichen Parameter sowie die Persönlichkeit Hammarskjölds bilden für ihn die Basis für entscheidende Innovationen in den Vereinten Nationen, namentlich die Schaffung friedenserhaltender Truppen sowie den konsequenten Einsatz präventiver Diplomatie. Diese beiden Instrumente wiederum bilden den Kern des Beitrags von Jelka Mayr-Singer. Hammarskjöld hat das Instrumentarium stiller oder vertraulicher Diplomatie in mehreren heiklen Missionen zur Anwendung gebracht und fortlaufend zu entwickeln und zu adaptieren gesucht, mit durchaus bemerkenswerten Erfolgen. Eine genuine Schöpfung der Hammarskjöldschen Amtsführung sind schließlich die friedenserhaltenden Missionen, besser bekannt als „Blauhelmmissionen“. Wiewohl in der Satzung der Vereinten Nationen nicht vorgesehen, haben sie wie kaum ein anderes Instrument das Erscheinungsbild der Organisation in der Welt mitgeprägt. Der dritte und letzte Abschnitt schließlich richtet den Blick auf den Menschen, auf den Mystiker Dag Hammarskjöld. Jodok Troy führt in ihn ein

Einleitung

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und macht in seinem Beitrag deutlich, was Hammarskjölds Anliegen als „verwaltender Sekretär“ und „gestaltender General“ waren: der Einsatz für all die anderen, die Machtlosen, die Vergessenen. Der Sinn liegt für Hammarskjöld im Dienen. Clemens Sedmak stellt in der Folge Überlegungen zu Hammarskjölds Politikverständnis an, welches er als „tiefe Politik“ bezeichnet. Er versteht darunter eine Form der öffentlichen Machtausübung, deren Protagonisten um eigenes Wachstum bemüht sind und selbstreflexiv am Aufbau einer Kultur von Innerlichkeit arbeiten. Sie weichen den fundamentalen Fragen, die eine Gesellschaft als ganze betreffen, nicht aus. Damit steht diese Art von Politik in einer besonderen Beziehung zu Wahrheit und Sinn. Wolfgang Palaver schließlich weist auf die Bedeutung des Opfers im Denken und Handeln von Hammarskjöld hin. Er zeigt auf, dass Hammarskjöld sich kein naives oder gar archaisches Opferverständnis – das Opfer für sich selbst – zurecht gelegt hat, sondern dass es für ihn um ein Opfer für die anderen, für den Nächsten geht. „Nicht ich, sondern Gott in mir“ ist eines der bekanntesten Zitate aus Hammarskjölds Tagebuch. Der Eintrag findet sich unter dem Jahr 1953, also jenem Jahr, in dem der Schwede zum Generalsekretär der Vereinten Nationen berufen wurde. In knappen Worten ist damit zum Ausdruck gebracht, dass unser eigenes Handeln immer über uns hinausweist, sich nie uns allein verdankt. In einem viel bescheideneren Kontext, aber um nichts weniger ernsthaft wollen wir dies aufgreifen und all jenen danken, die zum Gelingen der Innsbrucker Tagung und des vorliegenden Bandes tatkräftig beigetragen haben. Ein besonderes Dankeschön gilt in diesem Zusammenhang unserer Autorin und unseren Autoren für ihren Beitrag zu einer kritischen Würdigung der außergewöhnlichen Person und Persönlichkeit Dag Hammarskjölds. Bedanken möchten wir uns darüber hinaus auch bei Frau Maria Naderhirn vom United Nations Information Service (UNIS) Wien sowie Frau Kerstin Schröder von der Botschaft des Königreichs Schweden in Österreich.

Zum Geleit

Commemorating Fiftieth Anniversary of Dag Hammarskjöld’s Death Ban Ki-moon, Secretary-General of the United Nations* It is with deep emotion that I stand by the graveside of my predecessor to pay tribute to him 50 years after his death. I am honoured to do so before you, Mr. Mayor, and before distinguished members of Dag Hammarskjöld’s family. Over the past few weeks, I have been honoured to participate in various commemorations of the fiftieth anniversary of Hammarskjöld’s untimely passing. There have been eloquent speeches, stimulating discussions and insightful analyses of his leadership, legacy and achievements. Many statesmen, including the Prime Minister and Foreign Minister of Sweden, have described well the accomplishments that serve us to this day. We have discussed how Dag Hammarskjöld was the architect of peacekeeping as we know it today; how he designed the first complex peace operations, including what we know now as peacemaking and peacebuilding; how he pioneered the concept of the Secretary-General working with the Security Council to overcome deadlock; how, as problem-solver and mediator, he created the practice of direct, personal and quiet diplomacy; how he championed the concept of action taken on the basis of conviction and principle; and more than anything else, how he defined the role of United Nations Secretary-General and set a standard for the rest of us to aspire to. The anniversary of his death has given us a valuable chance to remember these accomplishments – even more important, to share them with succeeding generations. Today, in the stillness of this sanctuary, I have the chance to do something else, something which was also one of Hammarskjöld’s strengths: to stand in peaceful contemplation; to reflect on what it means and what it takes to serve in the interest of the greater good. * Following are UN Secretary-General Ban Ki-moon’s remarks as delivered to commemorate the fiftieth anniversary of the death of Dag Hammarskjöld, today, 12 October, in Uppsala, Sweden.

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Ban Ki-moon

As Hammarskjöld wrote in his personal reflections, published posthumously as Markings, and I quote: “The more faithfully you listen to the voice within you, the better you hear what is sounding outside. And only he who listens can speak.” Today, we know that this voice within guided Hammarskjöld never to do what was expedient or popular always to do what he believed was right. For that, he stands out among the leaders of the past century. Those close to Hammarskjöld said he saw himself as a servant as much as a leader, and for that reason, he was followed by many. For that equally, he stands out among the leaders of the past century. This morning, as we stand in the ancient city of learning and enlightenment that shaped Dag Hammarskjöld from his earliest days, we are reminded of another profound characteristic of his: the love he had for his own country, its traditions and its ideals, which inspired him to work in service to the world. And so today, I take the opportunity to pay tribute to the people of Sweden for their unwavering commitment to the United Nations, 50 years after Hammarskjöld’s death. Your contributions to peacekeeping and the rule of law, to humanitarian efforts and human rights, to democracy and governance support, speak for a tradition of solidarity that is enshrined in the very identity of your nation. Fifty years ago, Dag Hammarskjöld made the long and final journey home from Ndola, 5,000 miles way, to this resting place. A quarter of a million Swedes gathered for a torchlight procession along the route his coffin took. At Uppsala cathedral, 15,000 of his fellow Uppsalians came to say their farewells. At the end of the service, church bells tolled across Sweden. The country came to a halt for a moment of silence. Before I ask you to observe a minute, I would like to introduce my personal reflection; personal anecdote. Without knowing that one day, maybe 50 years later, I would become a Secretary-General, at that time I was a sixth grader in an elementary school in my country. At that time in 1956, there was some democratic uprising in Hungary. As the student chair at the elementary school, I read out in front of all the school children a letter appealing to then-Secretary-General Dag Hammarskjöld, “Mr. Secretary-General, please help the people of Hungary so they can have freedom and democracy.” I do not know whether he heard my appeal, but I am sure he had heard and he had acted, that is why people in Eastern Europe and Hungary are now enjoying freedom and democracy.

Commemorating Fiftieth Anniversary of Dag Hammarskjöld’s Death

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When I was elected, I was thinking what message I should send out to the world. And in my acceptance speech in 2006, as recorded in the General Assembly record, I introduced this personal experience and anecdote. And I said that while I served as Secretary-General, I hoped I would not receive this kind of appeal any more from young people around the world. In reality, unfortunately I am still receiving those kinds of appeals from many people, particularly what we are observing in Arab [countries], in North Africa and in many parts of the world where people are oppressed, where people do not have freedom of expression, freedom of assembly. I am speaking out again today and I will continue to do so to the leaders of those countries [to] please listen sincerely and attentively to the voices of people. What are their aspirations? We must all work together to uphold the fundamental principle of democracy so these people, and all people, men and women, countries big or small, rich or poor, can enjoy genuine freedom and people can live without fear. This is what we have to do, upholding the torch Dag Hammarskjöld has left for us. I am committed to that mission. And I am very much humbled to serve as one of his [successors]. I would like to observe that moment of silence again today. Let us join together in tribute to this giant among men whose life was too short, but whose legacy is eternal. Quelle: UN Department of Public Information/News and Media Division/New York, Secretary-General SG/SM/13874, 12 October 2011 (http://www.un.org/News/Press/docs/2011/sgsm13874.doc.htm)

Preventive Diplomacy “a Constant and Essential Work in Progress” Ban Ki-moon, Secretary-General of the United Nations* I am honoured to participate in this very meaningful event, remembering and paying tribute to my eminent predecessor. It is fitting that we meet here, in the Dag Hammarskjöld Auditorium, to remember the legacy of a Secretary-General who did so much to shape this Organization, as well as the role of Secretary-General itself. Allow me to share a personal recollection. Just a few weeks after I took office as Secretary-General, I came here, to this auditorium, for the first time. Although I was the head of the United Nations, I sat quietly in the back, in the dark. I did not make any speeches at the time. I was here to simply watch a movie screening in memory of Dag Hammarskjöld. The documentary film was called, The Vision of a Secretary-General. And it opened my eyes. Of course, I had read the writings of my predecessor. But nothing compared to watching his words and deeds come alive in this film at the dawn of my own term in office – an office he did so much to defend and define. I was deeply moved by Hammarskjöld’s integrity, his intelligence and his idealism. And I am so honoured now to take part in various commemorations of the fiftieth anniversary of his death. One modest way I am marking this milestone is to dedicate to Dag Hammarskjöld my new report, “Preventive Diplomacy: Delivering Results”. I have just come from the Security Council, where I presented this report and I made my speech there. I am, therefore, all the more encouraged to see preventive diplomacy as the theme of this event. Hammarskjöld articulated the very concept of preventive diplomacy. He spoke about how to use the preventive capabilities of the United Nations “to forestall the emergence of conflicts”. He knew that the UN was best* Following are UN Secretary-General Ban Ki-moon’s remarks at the commemorative event “Dag Hammarskjöld’s Legacy for UN Preventive Diplomacy in the Twenty-first Century” in New York on 22 September.

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Ban Ki-moon

placed to carry out what he rightly called this “arduous and time-consuming” work. My own efforts in preventive diplomacy have benefited from an understanding that has grown among Member States since Hammarskjöld’s time – that calming tensions is far less costly in financial and human terms than coping with the effects of violent conflicts. Yes, there are risks; yes, the challenges are evolving. But I share Dag Hammarskjöld’s abiding belief that preventive diplomacy is a constant and essential work in progress. Allow me to share with you Dag Hammarskjöld’s words to the American Political Science Association in September 1954. They are the same words I used to preface my report dedicated to Dag Hammarsköld: “I believe we have only begun to explore the full potentialities of the United Nations as an instrument for multilateral diplomacy, especially the most useful combinations of public discussion on the one hand and private negotiations and mediation on the other.” All of you in this room know how true those words are to this day, the delicate balance between public and quiet diplomacy, the choice between mediation and direct talks. Many of you here have deep experience negotiating peace agreements, standing up for women’s rights and human rights, working on the frontlines of peacekeeping and peacebuilding. And Foreign Minister [of Sweden Carl] Bildt, you yourself have served not only your country but the international community, including the United Nations. This past Sunday, during your visit to the Hammarskjöld Memorial Site at Ndola [Zambia], you spoke for all of us when you paid tribute to your compatriot. And I quote: “We know that the spirit of Dag Hammarskjöld is still very much alive. He set the rest of us on a path that he charted. He saw himself as a servant as much as a leader, and for that reason, he was followed by many. He knew and loved his own country deeply, and was inspired by its ideals to work in the service of the world.” I will always be inspired by Dag Hammarskjöld’s example of courage and conviction. His life was too short. His legacy is eternal. Quelle: UN Department of Public Information/News and Media Division/New York, Secretary-General SG/SM/13837, 22 September 2011 (http://www.un.org/News/Press/docs/2011/sgsm13837.doc.htm)

Dag Hammarskjöld and United Nations Peacekeeping Carl Bildt Foreign Minister of the Kingdom of Sweden When Dag Hammarskjöld was appointed Secretary-General of the United Nations on 7 April 1953, there was a full-scale war on the Korean peninsula, the Organization was deeply divided between East and West, and the Soviet Union was boycotting the Security Council over the refusal of the United Nations to give the now communist Chinese regime a seat on the Council. It was by no means a safe bet that the United Nations was going to be more successful than its predecessor, the League of Nations, in preventing an outbreak of a new world war. The man who took on this mission, however, had a firm belief in the United Nations role as an international peacekeeping body and protector of the interests and integrity of less powerful nations. He was also a strong believer in the power of diplomacy. He knew that even the most intense conflicts must reach a political solution, and that it was the task of international diplomacy to pave the way towards that end. One would not necessarily expect a person of vision and principle to also be a pragmatic and creative person. That is why Dag Hammarskjöld, fifty years after his death, continues to fascinate and inspire people from all over the world. Hammarskjöld combined these seemingly antithetical virtues remarkably well. His often quoted ambition that the United Nations should be a dynamic instrument for its Member States essentially cast pragmatism as vision, for Hammarskjöld understood that the Organization’s relevance lay in its ability to constantly adapt to new challenges. Peacekeeping is perhaps the most prominent example of that adaptation. When the Suez Crisis erupted in 1956, the United Nations Charter did not contain any provisions for using impartial and armed UN forces to stabilize fragile situations. It still does not – but neither has it ever barred such arrangements. For Hammarskjöld, this void was an opportunity rather than a constraint. On the basis of a suggestion from Canada’s Foreign Minister, Lester Pearson, he devised the concept of peacekeeping in a few days, and managed to assemble the United Nations Emergency Force (UNEF) within weeks. It testifies to Hammarskjöld’s wisdom that the basic principles of

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Carl Bildt

UNEF’s operation have remained a central feature of all similar UN interventions to this day. As we consider the future of UN peacekeeping, however, we should view UNEF as the epitome of Hammarskjöld’s pragmatism and creativity. A number of developments have fundamentally altered the premise of UN peacekeeping since the Suez Crisis. The end of the Cold War gave rise to intrastate conflicts of political as well as ethnic and religious stripe, conflicts that had been kept in check by the bipolar tension. Globalization and the improvement of all means of communication have shrunk distances in time and space. The emergence of regional forms of organization have created structures that sometimes complement, sometimes duplicate, the functions of the United Nations. While these circumstances have enabled UN peacekeeping operations to take on a wider range of conflicts than before, they have also created significant challenges. Today, the actors are more numerous and the agenda is broader. Since the end of the Cold War, the North Atlantic Treaty Organization has played a significant role in a number of operations in the Balkans, the Middle East, and Afghanistan. The European Union is currently implementing its External Action Service in order to further increase its diplomatic strength and political relevance. The Arab League and the African Union are important actors in Africa. In Asia, cooperation within the Association of Southeast Asian Nations is steadily developing. With regard to the broadening of the *agenda, the tool box today includes measures to prevent conflicts and to support state building and institutional and economic development, in addition to classic peacekeeping actions. The United Nations has also become a key actor in developing the international legal framework for codes of conduct and rules of engagement, and in dealing with the consequences of armed conflicts. In recent years, the discussion on the new challenges has been guided by two landmark publications: the Report of the Panel on United Nations Peace Operations of 2000 (the “Brahimi Report”), and the UN Secretariat “non-paper” A New Partnership Agenda: Charting a New Horizon for UN Peacekeeping of 2009 (the “New Horizon” initiative). The Brahimi panel found that peacekeeping operations were increasingly deployed not in post-conflict situations, but in stalemate situations where at least one of the parties was not seriously committed to ending the confrontation. The panel, therefore, acknowledged the need for UN forces to be prepared to “confront the lingering forces of war and violence” and to have “the ability and determination to defeat them.” The panel stressed that impartiality for United Nations operations must mean adherence to the principles of the Charter. Where one party is incontrovertibly violating the Char-

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ter’s terms, continued equal treatment may amount to complicity with evil. Further, an operation’s authority to use force should be specified and its rules of engagement should be sufficiently robust to prevent UN contingents from ceding the initiative to peace spoilers. The New Horizon non-paper took stock of the increasing scale and complexity of UN peacekeeping operations in the first decade of the new millennium. It emphasized the need to forge a stronger political consensus, shift the focus from quantity to quality and capabilities of troops, enhance the accountability among the stakeholders of UN peacekeeping, and develop a coherent strategy for the United Nations field support system. The Brahimi Report and the New Horizon non-paper offered an encouraging direction, while honouring the spirit and letter of the Charter and reiterating the basic principles of UN peacekeeping. The documents recognize, as Hammarskjöld did with regard to the United Nations as a whole, that UN peacekeeping is an imperfect but indispensable instrument for the international community. The increasing numbers of international actors, as well as the broader agenda, do not depreciate the role and importance that the United Nations plays in global peacekeeping. On the contrary, it is an affirmation of the importance of the task itself and an acknowledgement that many states and regional actors today feel a direct responsibility to partake in the global agenda for peace and conflict prevention. The United Nations role will be different from the role it played in the fifties and sixties, but it will not be less important. The United Nations will still provide legitimacy for necessary actions and be the primary coordinator of the international response to future global and regional crises. In all its diversity, the United Nations will still be the main forum for the international dialogue on peacekeeping, conflict prevention, and conflict resolution. The United Nations is a cornerstone of Sweden’s foreign policy. Together with our fellow members of the European Union, we welcomed the Brahimi Report and strongly support the further development of the New Horizon initiative. The common ground that has now been reached needs to be consolidated and broadened. First, the importance of protecting civilians must be acknowledged. The success or failure to protect civilians directly affects the credibility and legitimacy of UN peacekeeping operations, as well as their standing with populations in conflict areas. It is encouraging that the UN Member States recognized this circumstance during the 2010 session of the Special Committee on Peacekeeping Operations of the United Nations. Missions need to have clear Security Council mandates, well-crafted guidelines, robust com-

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Carl Bildt

mand and control systems, and the ability and determination to perform this difficult task. Second, the nexus between peacekeeping and peacebuilding must be strengthened. By providing security and support, peacekeepers play an enabling role for national and international actors to implement long-term peacebuilding measures in areas such as police, rule of law, Security Sector Reform (SSR), and Disarmament, Demobilization and Reintegration. Third, the demand for civilian expertise in fields such as rule of law, justice, and SSR is increasing, especially in complex peacekeeping operations. We must respond to this by strengthening the supply, retention, and support of civilian personnel. It is important that countries from the Global South be given equal opportunities to contribute personnel. Fourth, we should follow the example of Dag Hammarskjöld’s Summary Study, first published in 1958, and turn our scrutiny to the UN system itself and our working methods. It is encouraging to see that the initiative to start informal consultations with a view to revising the working methods of the Special Committee, forwarded during the Swedish Presidency of the European Union in 2009 and the Spanish Presidency in 2010, has received widespread support among UN Member States. In conclusion, let us remember that Hammarskjöld’s overarching and primary commitment was to the evolution of the United Nations. Whether he recognized it or not, he was the United Nations able pilot on this journey. Hammarskjöld’s view that the United Nations embodied the “edge of development of human society” and worked on the “brink of the unknown” remains an inspiring vision. Quelle: „Dag Hammarskjöld and United Nations Peacekeeping“ by Carl Bildt in UN Chronicle „Pursuing Peace: Commemorating Dag Hammarskjöld“, Vol. XLVIII No. 2, 2011 (11.07.2011) (http://www.un.org/wcm/content/site/chronicle/cache/bypass/home/archive/issues2011/ pursuingpeace/dhunpeacekeeping?ctnscroll_articleContainerList=1_0&ctnlistpagina tion_articleContainerList=true)

I. Ein kurzes Leben aber ein unsterbliches Erbe: Verdienste und Würdigungen

Dag Hammarskjöld – Ein Schwede im Dienste des Weltfriedens Frederik Löjdquist Im Jahr 2011 jährte sich der Todestag von Dag Hammarskjöld zum 50. Mal, und rund um die Welt wird sein Vermächtnis geehrt. Für Schweden ist dies eine gute Gelegenheit, Wissen über Hammarskjölds Taten und seine gegenwärtige Bedeutung zu verbreiten. Kein Schwede hat bis heute ein wichtigeres Amt inne gehabt und kein Schwede hat die internationale Politik dermaßen beeinflusst, zumindest nicht seit König Karl XII. Dag Hammarskjöld spielte global gesehen eine wichtige Rolle. Er war kein Politiker und hat sich nicht als Politiker verstanden. Er war ein Staatsmann – und ein Beamter. I. Der Staatsmann Dag Hammarskjöld Dag Hammarskjölds Arbeit hat nicht nur zu seinen Lebzeiten dazu beigetragen, die Vereinten Nationen weiterzuentwickeln, sondern er hat auch einen bedeutenden Einfluss auf die schwedische Diplomatie hinterlassen, die uns heute noch in unserer Arbeit inspiriert und vielleicht auch andere internationale Diplomaten stimuliert. Schwedens Außenminister Carl Bildt hat die Faszination über Dag Hammarskjöld beispielsweise folgendermaßen ausgedrückt: „One would not necessarily expect a person of vision and principle to also be a pragmatic and creative person. That is why Dag Hammarskjöld, fifty years after his death, continues to fascinate and inspire people from all over the world.“1

Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan hat über Hammarskjöld gesagt: „His wisdom and his modesty, his single-minded devotion to duty, have set a standard for all servants of the international community [. . .] There can be no better rule of thumb for a Secretary-General, than to ask himself ‚How would Hammarskjöld have handled this?‘ “2

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Bildt, Dag Hammarskjöld and United Nations Peacekeeping. Annan, Dag Hammarskjöld and the 21st Century.

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Hammarskjöld hat sich sehr stark über seine Arbeit definiert. Sein Leben war ausgesprochen intensiv mit seiner Rolle als Generalsekretär verbunden. Ohne zuviel auf Details einzugehen, möchte ich kurz auf einige Taten hinweisen, die Hammarskjölds Einfluss auf die Vereinten Nationen erkennen lassen. Die Organisation ist durch ihn zu etwas Größerem und Bedeutenderem gewachsen. Hammarskjöld hat einen wesentlichen Beitrag geleistet, um die Rolle des Generalsekretärs als einen wichtigen Akteur auf internationaler politischer Ebene zu festigen. Zum Teil gegen den Willen und die Intentionen der Großmächte. Die Rolle des Generalsekretärs war – und ist – nicht eindeutig festgelegt. Im Rahmen der UN Charta baute er die tatsächlichen Mandate und den Handlungsspielraum des Generalsekretärs aus. Einer Anekdote nach, wollten die Großmächte einen Sekretär als Generalsekretär, sie bekamen stattdessen jedoch einen General. Während der Kongokrise beispielsweise gelang es Dag Hammarskjöld und den Vereinten Nationen, einen Krieg zu vermeiden und man setzte sich gegen eine Intervention der Großmächte ein. Hammarskjöld hatte eine sorgfältig durchdachte Vision über die Rolle und Stellung der UNO, die ihm in seiner Arbeit als Wegweiser stets begleitet hat. Wie Außenminister Bildt betonte, hatte Hammarskjöld nicht nur eine lösungsorientierte Einstellung zu seiner Organisation, sondern er verfügte auch über ein hohes Maß an Kreativität: Die UNO sollte als flexibles Instrument eingesetzt werden können. Damit hat er eine aktive Arbeit für die Integrität und Unabhängigkeit der Organisation geleistet. Der schwedische Diplomat initiierte die erste Friedens- und Polizeitruppe der Vereinten Nationen in Zusammenhang mit der Suezkrise 1956, eine Operation die heute noch verwendet wird. Für Dag Hammarskjöld war die UNO nicht nur eine Organisation der großen Weltmächte, sondern vielmehr eine für die kleinen Staaten. Während der Kongokrise stellte er sich bei der UN-Generalverhandlung 1960 gegen einen der mächtigsten Männer der Welt, nämlich Nikita Chruschtschow. Der Präsident der Sowjetunion kritisierte Hammarskjöld und forderte ihn auf, sein Amt als UN-Generalsekretär niederzulegen. Hammarskjöld antwortete darauf: „It is not the Soviet Union or, indeed, any other big powers who need the United Nations for their protection; it is all the others. In this sense the Organization is first of all their Organization, and I deeply believe in the wisdom with which they will be able to use it and guide it. I shall remain in my post during the term of my office as a servant of the Organization in the interest of all those other nations, as long as they wish me to do so.“3

Den Erfolg als Generalsekretär hatte Dag Hammarskjöld auch seinen Fähigkeiten zu verdanken. Er hatte ein bedeutendes diplomatisches Talent und 3

Falkman, To speak for the world, S. 86.

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einen demütigen Führungsstil. Er war für sein analytisches Denkvermögen bekannt und für die Begabung, prekäre Situationen sehr früh einschätzen zu können. Er war ein Renaissancemensch, ein Aristokrat, der bedenkenlos die Verantwortung einer Führungskraft auf sich nahm. Gleichzeitig war er vielleicht manchmal zu avanciert für seine Umgebung durch sein wohlbehütetes Leben. Sein engster UN-Mitarbeiter, Sture Linnér, beschieb ihn als eine „Ming-Vase unter Tongefäßen.“4 Dag Hammarskjöld galt als Vorbild für andere Diplomaten und Staatsmänner, nicht zuletzt für die Schwedischen. Der schwedische Friedens- und Konfliktforscher Professor Peter Wallensten schreibt, dass Dag Hammarskjöld eine typisch skandinavische (und britische) Tradition von Staatsmännern repräsentiert. Dabei sieht sich der Staatsmann selbst als Garant für Effektivität, gegen Korruption und als Barriere zu politischen Veränderungen, die gegen vereinbarte Prinzipien verstoßen. Der Staatsmann ist auch Hüter des Rechtssystems. Neutralität und Unparteilichkeit galten bei Hammarskjöld als höchste Tugend, was auch seinen Verhandlungsstil geprägt hat. Er konnte bei Verhandlungen das Gefühl suggerieren, dass es ein gemeinsames Problem zu lösen gab, vielmehr als einen Konflikt, den nur die eine Seite gewinnen konnte. Aber Hammarskjöld beeinflusste nicht nur individuelle Entscheidungsträger, sondern auch die Außenpolitik in Schweden. Seit der Kongokrise, als Hammarskjöld den schwedischen Staat überzeugte, Flugzeuge und Soldaten für die friedenserhaltende Mission beizusteuern, gehört Schweden zu den treuesten Beitragsleistern für UN-Operationen. Als Resultat dieser Arbeit liegt die Anzahl der schwedischen Dienstleistungen in Einsätzen mit UNMandat nun bei etwa 100.000. Ich denke auch, dass Hammarskjöld andere neutrale Staaten wie Österreich beeinflusst haben kann, eine aktivere Rolle bei UN-Einsätzen anzunehmen. II. Familiärer Hintergrund und Ausbildung Dag Hammarskjöld wurde 1905 im südschwedischen Jönköping geboren, wuchs aber in der Universitätsstadt Uppsala und später in Stockholm auf. Ein Teil der väterlichen Vorfahren Hammarskjölds dienten dem Land als Offiziere sowie als hohe Regierungsbeamte. Sein Vater Hjalmar Hammarskjöld war Ministerpräsident Schwedens während des Ersten Weltkrie4 Linnér, Dag Hammarskjöld and the Congo crisis. „Perhaps to some extent he had lived too sheltered and exclusive a life to be able to understand the everyday Congolese realities – he could sometimes seem like a nobly formed Ming vase among rough clay jars.“ Ebd.

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ges. Der starke Charakter und die Integrität des Vaters sowie die familiären Wurzeln im Beamtenadel waren Ausprägungen, die Hammarskjöld beeinflussten. Hammarskjöld gehörte zu einem selbstaufopfernden MandarinenBeamtentum. Dag Hammarskjöld war Mitglied der Schwedischen Akademie. Seine philosophisch-politische Weltanschauung war sowohl von seinen aristokratischen Ahnen als auch dem Zeitgeist Schwedens der 1920er und 30er Jahre beeinflusst: der sozialen Ingenieurskunst und dem Logischen Positivismus im Geiste der philosophischen Uppsala-Schule (ein Pendant zum Wiener Kreis in Österreich während der Zwischenkriegszeit) mit dessen Wertefreiheit. Probleme können logisch und pragmatisch gelöst werden. Dag Hammarskjöld hatte eine sehr schnelle Karriere gemacht. Er war dafür gut ausgebildet und galt überhaupt als sehr gebildet. In Nationalökonomie erhielt er seinen Doktortitel. Neben Rechtswissenschaften studierte er in Uppsala aber auch Philosophie und Französisch. Die berufliche Stellung seines Vaters öffnete Dag Hammarskjöld gewiss auch die Türen zur intellektuellen Elite des Landes. Nach seinen Studien begann Hammarskjöld seine Karriere als Staatssekretär im Finanzministerium. Später wurde er Präsident der Schwedischen Nationalbank, Schwedischer Delegierter in der OEEC, Staatssekretär im Außenministerium und nicht-parteigebundener Minister in Tage Erlanders Regierung 1951–1953. Es sollte hervorgehoben werden, dass Dag Hammarskjöld diese Posten seiner Bildung und Intelligenz zu verdanken hatte und nicht einer politischen Parteizugehörigkeit. Als er im Alter von 48 Jahren zum UNO-Generalsekretär gewählt wurde, war er auf internationaler politischer Ebene noch ziemlich unbekannt. Auch in Schweden galt er medial noch als unbeschriebenes Blatt. Die Umstände, dass er sowohl parteipolitisch neutral war als auch aus einem neutralen Land kam, trugen zur Wahl als UNO-Generalsekretär bei. Schweden hat seit 1813 keinen Krieg mehr erlebt und hatte keine Erfahrungen in der Kolonialherrschaft. III. Der private Mensch Dag Hammarskjöld Persönliche Eigenschaften, die Dag Hammarskjöld zugeschrieben werden, sind Integrität, Selbstaufopferung, asketische Lebensweise, Verantwortungsbewusstsein sowie ein demütiges jedoch selbstsicheres Auftreten. Hammarskjöld war in gewisser Weise auch als Eigenbrötler bekannt, er galt als scheu und zählte mit seinem protestantisch pflichtbewussten Beamtenethos – unabhängig, unparteiisch und rechtschaffen – zu einem aussterbenden, vielleicht sogar bereits ausgestorbenen Menschentypus. Seine körperliche

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und geistige Ausdauer prägten seinen beruflichen wie seinen privaten Lebensstil. Er hat sehr hart gearbeitet und kannte kaum ein Leben außerhalb der Arbeit. Es ist daher umso erstaunlicher festzustellen, dass dieser ausgeprägte Mensch voller Tatendrang, viele intellektuelle und geistige Interessen hatte. Hammarskjöld wuchs in einem religiösen Zuhause auf. Diese Seite hat vor allem seine Mutter Agnes geprägt. Man kann Dag Hammarskjöld als religiösen Menschen bezeichnen, aber im persönlichen Sinne. Er war ein Suchender, eine meditative Person. Im privaten Leben suchte er die Einsamkeit. Seine Karriere ließ kein Familienleben und keinen großen Freundeskreis zu – oder war es er selbst, der sein Leben ganz und gar den beruflichen Aufgaben widmete und keinen Platz sah für ein Leben mit Familie? Dag Hammarskjöld zeigte ein großes Interesse für moderne Kunst, Fotografie und Literatur. Nach dem Tod seines Vaters bekam Dag Hammarskjöld dessen Stuhl in der Schwedischen Akademie. Mit dieser Position war er in der Vergabe des Nobelpreises für Literatur engagiert. Nach seinem Tod fand man ein Manuskript mit Prosatexten und Gedichten, welche Dag Hammarskjöld während vieler Jahre angefertigt hatte. Die Texte wurden unter dem Titel „Zeichen am Weg“ (schwedisch: Vägmärken, ein Begriff aus der Bibel) veröffentlicht. In diesen Aufzeichnungen kam seine religiöse Mystik und das geistliche Suchen zum Ausdruck. Dag Hammarskjöld war ein Naturliebhaber und aktiv im schwedischen Touristenverein. Er versuchte auch Manhattan zu entfliehen und, bei den wenigen Gelegenheiten, die sich boten, in die Natur zu gelangen. Wie für viele Schweden, hatte Hammarskjöld ein sehr nahes, fast religiöses Verhältnis, zur Natur. Im Jahre 1961 erhielt Dag Hammarskjöld posthum den Friedensnobelpreis. IV. Abschließende Worte Meiner Ansicht nach hat sich Dag Hammarskjöld nicht hauptsächlich als Oberhaupt einer internationalen Organisation gesehen, sondern vielmehr als ein internationaler Staatsmann im Dienst des Weltfriedens, mit einem überzeugenden Glauben an das Gute. Hammarskjöld rückte die Vereinten Nationen ins Licht der internationalen Diplomatie. Die Vereinten Nationen waren etwas ganz anderes als die UN vor der Zeit Hammarskjölds. Die Welt hatte einen glaubenswürdigeren Beschützer von kleineren Staaten und von Demokratie bekommen und ein Gegengewicht zur Dominanz der Großmächte. Ich möchte mit einem Zitat aus Hammarskjölds Buch Vägmärken schließen. Ich finde, es spiegelt auf eine herrlich zweideutige Weise sowohl die Einstellung Hammarskjölds zur Friedensarbeit sowie seine persönliche geis-

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tige Lebensweise wider: „No peace which is not peace for all, no rest until all has been fulfilled“.5 Literatur Annan, Kofi: Dag Hammarskjöld and the 21st Century (The Fourth Dag Hammarskjöld Lecture), Uppsala 6. September 2001 (http://www.dhf.uu.se/pdffiler/Kofi. pdf). Bildt, Carl: Dag Hammarskjöld and United Nations Peacekeeping, In: The UNChronicle. http://www.un.org/wcm/content/site/chronicle/cache/bypass/home/ archive/issues2011/pursuingpeace/dhunpeacekeeping?ctnscroll_articleContainerList=1_0&ctnlistpagination_articleContainerList=true. 23.09.2011. Falkman, Kaj: To speak for the world: Speeches and Statements by Dag Hammarskjöld. Stockholm 2005. Hammarskjöld, Dag: Markings. New York 1993. Linnér, Sture: Dag Hammarskjöld and the Congo Crisis, 1960–61, in UN SecretaryGeneral Hammarskjöld. Reflections and Personal Experiences, hrsg. V. Sture Linnér und Sverker Åström: Uppsala 2005, S. 21–33 (http://www.dhf.uu.se/ pdffiler/Dh_lecture_2007.pdf).

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Hammarskjöld, Markings, S. 26.

Reflections on a Legacy: Dag Hammarskjöld from the Perspective of a UN Staff Member Janos Tisovszky It is a great honor and a distinct pleasure to be part of this event. I would especially like to thank the organizers – the University of Innsbruck – and also all of you as participants of this afternoon’s event for dedicating your time to the memory and legacy of Dag Hammarskjöld. It is a special privilege to be a part of this event representing the United Nations – and personally for me as someone who has been with this organization for the past twenty one years. Deputy Permanent Representative Löjdquist already reflected on Dag Hammarskjöld’s unique role in advancing international peace and security. He did so from the perspective of Hammarskjöld’s home country – Sweden. In the course of the discussions this afternoon through you will have a chance to further explore this role – what he did to advance peacemaking in the form of quiet diplomacy and conflict prevention; how he helped craft and lay the ground rules of peacekeeping that to this day continue to be the sacrosanct principles governing the conduct of blue helmets in most peace operations. You will also be looking at how he breathed life into the role of the Secretary-General and expanded the operational boundaries of the post setting an example as well as a benchmark but more so a solid foundation and precedent for all his successors. In my own reflections I will focus on what precisely Dag Hammarskjöld evokes in someone who has indeed spent the past 21 years working in various areas and capacities for the same United Nations that Dag Hammarskjöld made relevant and human. Let me start with my favorite Dag Hammarskjöld quote – and I am sure most of you here have at least one – and if not this afternoon will provide you with a healthy selection to choose from. So mine is the one that goes like this: “Everything will be all right – you know when? When people, just people, stop thinking of the United Nations as a weird Picasso abstraction and see it as a drawing they made themselves.” Hammarskjöld understood more than anyone that the United Nations had to be not only made but also seen and accepted as relevant by ordinary people. For them to see and understand how the UN helps in their daily lives, what relevance it has

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for them. They had to own the organization otherwise it would remain an abstract debating forum of government officials with a myriad of meetings and mandates. The UN had to be made and seen as an Organization where people felt they had a say and could express their views. Although in this regard we have come a long way but to this day this is indeed one of the key challenges we at the UN face on a daily basis. While the Organization has indeed become more operational with a focus on delivering concrete results – putting more and more the individual’s well being at the centre of its work rather than the well being of governments and the security of states – proving the UN’s daily relevance continues to be a daunting task – especially for us communication people. Hammarskjöld himself played a unique role to break down that Picasso abstraction – and he did so in a number of ways: First and foremost he gave a face to an up to then truly abstract Organization. He was the first as a Secretary-General to indeed personify that abstraction – if you wish give it a human face. That indeed brought the UN closer to people – just people – to use his words. He made the UN humane – and to this day Secretaries-General do indeed provide the face of the Organization and embody through their presence the abstraction of what the UN is – namely an intergovernmental structure of decision-making; a system of UN programmes, agencies, offices with expert staff carrying out a multitude of tasks from keeping the peace to waging war on poverty; as well as a set of norms and standards – ideals and aspirations we all wish to live up to and make others live up to. As Sir Brian Urquhart – a former UN Under-Secretary-General for Political Affairs who worked with Hammarskjöld noted: “He put the UN on the map as an organization that can actually get things done – pass resolutions but also go to the field and do things.” But Hammarskjöld was also a very pragmatic person – and here comes my second favorite quote – which incidentally is most often associated with him – although it was originally said by a US Senator, Henry Cabot Lodge Jr. a number of years before – namely that the: “United Nations is created to prevent you from going to hell. It isn’t created to take you to heaven.” By the way this shows that Hammarskjöld had no ego problems in taking on words of wisdom from others. And here again my own communications background comes in as I consider this also a great line for what we tend to call as managing expectations – often needed when it comes to very high benchmarks set for the UN through the ideals and aspirations worded in the Charter. It is clear that Hammarskjöld was quite aware of the hardpolitical realities and limitations that this Organization possessed right from its foundations onwards.

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Injecting ourselves with that practical dose of realism is something we need quite often to this very day. But Hammarskjöld was first and foremost a human being whom people could associate with and through him with the UN. But in doing so he also gave life to the role of the Secretary-General. Took it beyond being a mere “Chief Administrative Officer” as the UN Charter would imply to a status some may like to refer to as a diplomatic rock star or that of a secular pope. While both may be debatable – what is sure is that Hammarskjöld used his personal charisma and conviction to play out the full possibility left open by the UN Charter’s vague definition of the role and functions of the Secretary-General to set the operating freedom and independence and unique political role that Secretaries-General to this day enjoy or regret – depending on the good times and bad times they may be experiencing – and most have in their careers faced an operating environment that was at times favorable and at other times quite constraining. Above and beyond empowering the role of Secretary-General and giving a human face to the Organization itself – it is also creativity and determination that led Hammarskjöld to leave his mark on the work of the organization and create his legacy in not just what the Organization is but also what it does and how it goes about its business: One prime example being peacekeeping of course. Again this is something you will hear more about later today as part of the panel discussions – but from my own perspective what is important is that he set the stage to show that there is plenty of room for creativity to solve problems with and through the United Nations if there is enough political will. To this day this is true and I have witnessed it myself on numerous occasions with a number of examples – and as a staff member it is indeed that makes working for the UN both rewarding and challenging. Then there is preventive diplomacy: good offices, quiet diplomacy, often referred to as peacemaking. This is yet another area where Hammarskjöld’s creative pragmatism and determination shines through and where his work has set the example to this day. This will be explored in more detail this afternoon in the first panel debate – but let me just say that his legacy in conflict prevention, mediation and quiet diplomacy is very much with us today in our everyday work. Indeed if there is a growth area of work within the UN that has received increasing support from member states and which has also recorded some clear success is indeed conflict prevention – with a realization that it is a highly important area of activity that needs determination, creativity, statesmanship, expertise, considerable optimism and staying power – it is both an

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art and science requiring an artist – a gifted mediator and the scientists – a streak of experts with knowledge on a wide variety of issues complicating a conflict mediation process. This is clearly reflected in the very first report of the United Nations on conflict prevention – issued by Secretary-General Ban Ki-moon in August this year – and dedicated to no other than Dag Hammarskjöld. The dedication and humanism of Hammarskjöld is also what makes him the embodiment of what international civil service is supposed to represent. Because above all he considered himself as an international civil servant – and as such he indeed has created a legacy for all of us to live up to. He was a champion of an independent civil service. He clearly understood the importance of having a cadre of international civil servants who dedicate their careers to serving the UN, whose skills and experience evolve and who are able and willing to serve under extremely dangerous circumstances. He was both a prime example of such an international civil servant as well as a key player in shaping such a service which we – working in the UN now – can own and carry forward. Independence, courage, integrity, accuracy of judgment along with intelligence and idealism have been the attributes most often associated with Hammarskjöld. If any one of you would venture to the UN’s career portal and look at the vacancy announcements we have posted – you would see that in all cases we are associating certain core competencies with those vacancies – in other words requiring people who work for the United Nations to have them as part and parcel of who they are – that is as international civil servants – and you would indeed find that the attributes most often associated with Hammarskjöld are among the competencies. One of the most often associated attribute with Hammarskjöld is sacrifice. He gave the ultimate sacrifice to his job. And while for decades following his death working for the UN did require considerable dedication from staff serving with the United Nations, rarely did it demand that ultimate sacrifice. However, we have seen those times change and unfortunately since the 2003 August bombing in Baghdad we have seen UN staff become deliberate targets of brutal terrorist attacks – most recently in August 2011 in Abuja. For those of us serving with the United Nations, Hammarskjöld’s tragic personal example has become unfortunately more relevant than we may wish it to be. We can only take comfort though in his own approach to death when he said: “Do not seek death. Death will find you. But seek the road which makes death a fulfillment.” But let me close my personal reflections by something less somber although somewhat speculative in nature. Obviously I did not have the good fortune to know or work with Hammarskjöld – as did Sir Brian Ur-

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quhart. The only iconic person I had the good fortune to meet – someone with the charisma and fate similar to that of Hammarskjöld – was Sergio Vieira de Mello the legendary UN diplomat who died in the Baghdad bombings in 2003. What I noticed being with him, was that he seemed to have very much relished his work. Simply put: he seemed to enjoy what he was doing. And that is how I would personally imagine Hammarskjöld in going about his work. And what I in my work have always tried to do.

Die Hammarskjöld-Tradition in der internationalen Politik: Das Vermächtnis des zweiten UN-Generalsekretärs1 Manuel Fröhlich und Henning Melber I. Einleitung In der Nacht vom 17. auf den 18. September 2011 jährte sich der Tod des zweiten UN-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld zum 50. Mal. Sein Flugzeug zerschellte beim Anflug auf die im Grenzgebiet zu Kongo liegende Minenstadt Ndola in Nordrhodesien (heute Sambia). Zeitgenössischen Beobachtern erschien sein Tod als besonders schwerer Verlust für die UN: Der Schwede, der zu Beginn seiner Amtszeit als eher blasser Technokrat angesehen wurde, entpuppte sich nicht nur als fähiger Verwaltungschef, sondern auch als politisch aktiver Krisenmanager sowie als Ideengeber für die Nutzung und Weiterentwicklung des Potenzials der Weltorganisation. Ihre Arbeitsweise und ihr Problemhorizont sind bis heute von Impulsen Hammarskjölds geprägt, der dabei eine spezifische Tradition des Denkens und Handelns in der internationalen Politik begründet hat. Hammarskjöld war am 17. September 1961 auf dem Weg zu Gesprächen mit Moïse Tshombe, dem Anführer der Sezessionsbewegung Katangas. Die ressourcenreiche Provinz hatte sich nach der Unabhängigkeit BelgischKongos (Juni 1960) für selbstständig erklärt. Mit Hammarskjöld starben 15 Menschen bei dem Flugzeugabsturz. Obgleich alle offiziellen Untersuchungen ein Unglück für die wahrscheinlichste Ursache halten, kursieren ein halbes Jahrhundert später mehr als je zuvor gegenteilige Vermutungen.2 Der offizielle UN-Bericht schließt eine Fremdeinwirkung ausdrücklich nicht aus. Die Umstände seines Todes haben Leben und Wirken Hammarskjölds für viele Beobachter mit einem heroischen Anstrich versehen. Nicht zuletzt der damalige amerikanische Präsident John F. Kennedy be1

Dieser Text ist ein Wiederabdruck des gleichnamigen Aufsatzes aus der Zeitschrift Vereinte Nationen, Heft 6, 2011. 2 Vgl. etwa Williams, Who Killed Hammarskjöld? sowie Rembe/Hellberg, Midnatt i Kongo.

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zeichnete ihn als den „größten Staatsmann unseres Jahrhunderts“.3 Auch bei Kennedy war und ist sein Vermächtnis unauflöslich mit seinem tragischen Ende verbunden. Doch genau wie bei diesem gibt es auch bei Hammarskjöld Elemente seines Vermächtnisses, die unabhängig von dieser Perspektive Relevanz und Orientierungskraft für aktuelle Herausforderungen haben. Einige dieser Elemente sollen im Folgenden dargestellt werden. II. Die zeitgenössische Bilanz Dazu bietet sich zunächst ein Blick auf Kommentare seiner Zeitgenossen an. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine der ersten Biografien Hammarskjölds: Richard I. Miller schrieb seine auf zahlreichen Interviews beruhende Bilanz der Tätigkeit Hammarskjölds im Jahr 1961. Das Vorwort schloss er im Juli ab; als das Buch erschien, war der Generalsekretär gestorben. Dennoch liegt hier eine Analyse fast der kompletten Amtszeit Hammarskjölds vor, die jedoch noch nicht durch die Umstände seines Todes geprägt ist. Im Schlusskapitel bilanzierte Miller: „Heute ist Herr Hammarskjöld einer der zwei oder drei bekanntesten Führungspersönlichkeiten der Welt – ein ziemlicher Sprung von einem zwar wichtigen, aber international kaum bedeutsamen Posten in der schwedischen Regierung.“4 Für diesen „Sprung“ nannte Miller eine Reihe von Gründen, die teils auf strukturelle Bedingungen, teils auf die konkreten Handlungen des Generalsekretärs zurückzuführen sind. In Bezug auf Ersteres hatte sich die Mitgliedschaft der Weltorganisation von 60 Staaten im Jahr 1954 auf 99 Staaten im Jahr 1960 erheblich erweitert, was dem Generalsekretär und dem Sekretariat größere Führungsleistungen abverlangte. Insbesondere der Zuwachs an entkolonialisierten, neuen und kleinen Staaten hatte dem Generalsekretär, inmitten der Spannungen des Ost-West-Konflikts, Gelegenheit und Spielraum für eine eigenständige Rolle gegeben. Diese Spannungen hatten nach dem Korea-Krieg etwas abgenommen (bevor sie im Zuge der Kongo-Krise wieder stark zunahmen). Hammarskjöld konnte jedenfalls in einigen Krisen persönlich seine Fähigkeiten als Vermittler im Namen der internationalen Gemeinschaft unter Beweis stellen. Erfolge, wie die Freilassung amerikanischer Piloten in der Volksrepublik China (1955), die Aufstellung der ersten großen Blauhelmtruppe während der Suez-Krise (1956) oder die Beobachtermission in Libanon (1958), beförderten unter vielen Delegationen eine Haltung nach dem Motto: „Lass das mal Dag machen“. 3

So gegenüber Hammarskjölds Mitarbeiter Sture Linnér in einem Gespräch im März 1962. Vgl. Linnér, Dag Hammarskjöld and the Congo Crisis, S. 28. (Die Übersetzung dieser und folgender Zitate aus dem Englischen durch die Verfasser.) 4 Miller, Dag Hammarskjöld and Crisis Diplomacy, S. 319.

Die Hammarskjöld-Tradition in der internationalen Politik

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Je mehr jedoch der Ost-West-Konflikt das Geschehen dominierte, desto geringer wurde die Wirkung seines persönlichen Einsatzes. Dennoch urteilte Miller: „Herrn Hammarskjölds persönliche Effektivität war der wichtigste Einzelfaktor in dem beschriebenen Wandel. Die Haltung des ‚Lass das mal Dag machen‘ war keiner Konstellation von Zufällen geschuldet, sondern dem Umstand, dass er bereit war, Verantwortung zu übernehmen und diese in konstruktive und erfolgreiche Konzepte umzuwandeln.“5 Miller identifizierte schließlich vier Elemente im Handeln Hammarskjölds, die seine besondere Rolle geprägt haben: erstens sein Konzept der stillen, vertraulichen Diplomatie, zweitens sein Verständnis von Unparteilichkeit, drittens das Urteilsvermögen, sich jeweils zielgerichtet einzuschalten und viertens die Fähigkeit, zugleich pragmatisch und kreativ Lösungen zu suchen. Diese vier Elemente sind tatsächlich bis heute auch Teil des Vermächtnisses Hammarskjölds, wenngleich sie durch weitere Elemente erweitert und ausdifferenziert wurden. In diesem Sinne sollen im Folgenden Herkunft und Relevanz dieser prägenden Elemente als Hammarskjöld-Tradition in der internationalen Politik skizziert werden.6 III. Erweiterung der Instrumente der Vereinten Nationen 1. Erfinder der Friedenstruppen Hammarskjöld gilt, neben dem kanadischen Außenminister Lester Pearson, als einer der wesentlichen „Väter“ der Idee und Praxis von Friedenstruppen der Vereinten Nationen. Wenngleich er zu Beginn der Suez-Krise noch nicht ganz von dieser Idee überzeugt war, schuf er doch in den entscheidenden Tagen und Wochen Ende 1956 innerhalb kürzester Zeit nicht nur die konzeptionellen und völkerrechtlichen Grundlagen für eine solche Truppe, sondern arbeitete, zusammen mit seinem Untergeneralsekretär Ralph Bunche, an der praktischen Umsetzung dieser Idee: Von der Frage der Färbung der Helme bis hin zur Logistik der Flugverbindungen ins Krisengebiet. Bezeichnenderweise entschloss er sich, die ersten Soldaten persönlich nach Ägypten zu begleiten, um ihren Charakter als UN-Truppen augenfällig zu machen. Die von Hammarskjöld formulierten Prinzipien der klassischen Friedenssicherung (Konsens der Konfliktparteien, Unparteilichkeit, Gewalt5

Ebd., S. 320. Vgl. dazu auch Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen; sowie Fröhlich/Klumpjan/Melber, Dag Hammarskjöld. Bis heute maßgeblich bleibt die Schilderung seines Lebens und seiner Amtszeit von Urquhart, Hammarskjöld. 6

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anwendung nur zur Selbstverteidigung) prägten über viele Jahre das Bild der Friedenstruppen. Die Vielzahl der heutzutage im Einsatz befindlichen UN-Truppen und auch manche Infragestellung dieser grundlegenden Prinzipien der Friedenssicherung hätte sich Hammarskjöld wohl nicht vorstellen können. Gleichwohl ist es interessant zu sehen, dass er in der späteren Kongo-Mission durchaus schon mit Problemen konfrontiert wurde, die auch heute noch die Friedensarbeit der Vereinten Nationen in diesem Land bestimmen. So zum Beispiel die Frage, ob ihre Unparteilichkeit die Truppen auch zu Untätigkeit angesichts von Massakern verdammen würde – ein Problem, bei dem Hammarskjöld sich erstaunlich nah an den heutigen Debatten um die Schutzverantwortung positionierte.7 Wenn der chinesische UN-Botschafter Li Baodong am 26. August 2011 in einer Debatte des Sicherheitsrats über die Friedensmissionen die Einhaltung der „Hammarskjöld-Prinzipien“ als handlungsleitendes Element fordert,8 dann kann er sich sicher darauf berufen, dass Hammarskjöld einerseits den Einsatz von UN-Truppen nicht zum Zweck des Regimewechsels vorangetrieben hätte, dass er aber andererseits auch für den Schutzgedanken und die Robustheit von Friedenseinsätzen offen war. Dieses Beispiel zeigt zugleich, dass die Bezugnahme auf Hammarskjöld zu einem Argument mit ganz eigenem Gewicht im System der Vereinten Nationen geworden ist – ob es nun Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung ihrer politischen Positionen oder aber seine Nachfolger zur Legitimation von pragmatischen und innovativen Handlungsweisen nutzen. 2. Eifriger Nutzer von Sondergesandten In diesem Zusammenhang muss auf eine weitere geistige Vaterschaft Hammarskjölds hingewiesen werden: Die Blauhelme waren für ihn nur eine Variante des weitergehenden Konzepts einer UN-Präsenz.9 Die Errichtung einer Vertretung der Vereinten Nationen in Konfliktsituationen hatte für Hammarskjöld per se schon einen friedensfördernden, ausgleichenden und „Zeit kaufenden“ Einfluss auf die Deeskalation von Konflikten. Wenn große Truppenverbände wie bei der Suez-Krise oder in Kongo am einen Ende des Spektrums einer solchen Präsenz standen, findet sich am anderen Ende das Instrument der Repräsentanz über nur eine Person. Diese eine Person kann 7 Vgl. dazu Bring, Dag Hammarskjöld and the Issue of Humanitarian Intervention, S. 485–517. 8 „China Calls for Necessary Improvement of Peacekeeping Theory, Practice“, People’s Daily Online, 27.8.2011, http://english.peopledaily.com.cn/90883/7581592. html. 9 Vgl. zum Hintergrund Fröhlich/Lemanski/Bütof, Mapping UN Presence, S. 13–24.

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der Generalsekretär selbst sein oder von ihm beauftragte Sondergesandte. Ähnlich wie für die Blauhelmtruppen findet sich auch für die Sondergesandten keine explizite Grundlage in der UN-Charta. Hammarskjölds Vorgänger Trygve Lie hatte sich durch sein Handeln in Bezug auf die Konflikte in Griechenland im Jahr 1946 nach Artikel 99 UN-Charta die Kompetenz zur Einsetzung von Tatsachenermittlungsmissionen errungen. Hammarskjöld erweiterte dies auf den regelmäßigen Einsatz von Gesandten. Diese traten nicht nur als Vollstrecker von Handlungsaufträgen des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung auf, sondern boten die Guten Dienste des Generalsekretärs an. So legte der stetige Einsatz von Sondergesandten in Hammarskjölds Zeit den Grundstein für ein ausdifferenziertes System Dutzender solcher Sondergesandten/Sonderbeauftragen des Generalsekretärs. Hammarskjöld selbst hatte unter anderem Pier Pasquale Spinelli nach Jordanien entsandt, Johann Beck-Friis nach Thailand und Kambodscha oder Dayal Rajeshwar und Conor Cruise O’Brien in den Kongo. Solche Sondergesandten nehmen heutzutage unterschiedliche Mandate in der Friedensschaffung, Friedenswahrung und Friedenskonsolidierung wahr.10 Die teils geradezu schlitzohrigen politischen und rechtlichen Manöver, mit denen Hammarskjöld solche neuen Schritte gegenüber einem misstrauischen und zerstrittenen Sicherheitsrat sowie einer zögerlichen Generalversammlung begründete, bilden eine bis heute wichtige Berufungsgrundlage für die spätere Arbeit von Vermittlern in Myanmar und Leitern von Übergangsmissionen in Kosovo oder Timor-Leste. IV. Unparteiliche und wertgebundene Amtsführung Angesichts der Spannungen des Ost-West-Konflikts legte Hammarskjöld größten Wert auf die Unparteilichkeit der Vereinten Nationen. Diese verstand er im Sinne einer Verpflichtung auf die Grundsätze der Charta und den Auftrag zur Friedenssicherung – also nicht als wertfreie Neutralität. Eine solche Haltung der Unparteilichkeit musste inmitten der Versuche zur Einflussnahme und Machtprojektion seiner Zeit zu Schwierigkeiten führen. So war schon damals der Kongo ein Tummelplatz von Söldnern, Glücksrittern, Geheimdiensten und Bergbauunternehmen. Wenige Wochen nach seiner Wahl zum Präsidenten Kongos wurde Patrice Lumumba – aufgrund seiner antikolonialen Rhetorik der Sympathien für den Kommunismus bezichtigt – Opfer der rivalisierenden Großmächte. Nach seinem Sturz durch das Militär, bei dem der spätere Präsident Mobutu Sese Seko als junger Offizier 10 Vgl. die aktuelle Übersicht UN-Special and Personal Representatives and Envoys of the Secretary-General: http://www.un.org/en/peacekeeping/sites/srsg/index. htm.

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die Fäden zog, wurde er gefangen, gefoltert und ermordet. Kritiker beklagen, dass die UN dem flüchtenden Lumumba Schutz vor dem Zugriff durch die Häscher verweigerte und an dessen Ermordung Mitschuld trägt.11 Lumumba hatte die Vereinten Nationen gebeten, eine Friedensmission zu entsenden, die im Juli 1960 vom Sicherheitsrat beschlossen worden war. Hammarskjölds Verständnis der Kongo-Mission kann als paradigmatisches Beispiel für seine Auffassung von der Rolle der Vereinten Nationen und deren Generalsekretär gelten. Von Beginn an wurde er von östlicher wie auch westlicher Seite der Parteinahme bezichtigt. Der sowjetische Regierungschef, Nikita Chruschtschow, forderte mehrfach seinen Rücktritt. In einer seiner spektakulärsten Reden in der Generalversammlung der Vereinten Nationen widersetzte sich Hammarskjöld diesem Ansinnen Anfang Oktober 1960 mit der Begründung, dass er eine Verantwortung gegenüber all jenen Mitgliedstaaten trage, für die die Organisation von entscheidender Bedeutung ist: „Nicht die Sowjetunion oder, was das betrifft, eine der anderen Großmächte braucht die Vereinten Nationen zu ihrem Schutz; es sind all die anderen Staaten. In dem Sinne ist die Organisation vor allem ihre Organisation [. . .]. Ich werde bis zum Ende meiner Amtszeit auf meinem Posten bleiben, als Diener der Organisation im Interesse all dieser anderen Nationen, so lange sie es wünschen.“12

Nach neuerlichen Angriffen auf seine Integrität und die angebliche Parteinahme der Vereinten Nationen für die westlichen Interessen im Kongo erklärte Hammarskjöld in einer Sitzung des Sicherheitsrats am 15. Februar 1961: „Über sieben oder acht Monate hat diese Organisation durch Bemühungen, die bei weitem die Vorstellung ihrer Gründer übersteigen, Tendenzen entgegen zu wirken versucht, den Konflikt der Großmächte nach Afrika und die jungen afrikanischen Länder unter den Schatten des Kalten Krieges zu bringen. [. . .] Wir konnten effektiv den Versuchen von allen Seiten entgegen wirken, den Kongo zu einem fröhlichen Jagdgrund für nationale Interessen zu machen.“13

Solch deutliche Worte lassen sich aus dem Munde eines UN-Generalsekretärs zu Beginn des 21. Jahrhunderts wohl kaum noch vernehmen. Hammarskjöld arbeitete durchaus eng mit den Großmächten zusammen, wenn deren Interessen sich mit dem Anliegen der Vereinten Nationen deckten. Über die Zeit geriet er jedoch nicht nur mit der Sowjetunion, sondern auch 11 Siehe besonders prominent De Witte, The Assassination of Lumumba sowie einige Kapitel in Hill/Keller, Trustee for the Human Community. 12 Zitiert in deutscher Übersetzung nach Wallensteen, Dag Hammarskjöld, S. 30 (Hervorhebung im Original, d. Verf.). 13 Second Statement After Soviet Demand for His Dismissal, in: Cordier/Foote (Hg.), Public Papers of the Secretaries-General of the United Nation, S. 349–350.

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mit Frankreich, Großbritannien oder den USA sowie einer Vielzahl weiterer Staaten aneinander. Für das politische Vermächtnis Hammarskjölds ist deshalb bedeutsam, dass – unabhängig vom konkreten Nachweis einer Alternative zur Unfallthese für den Absturz in Ndola – seine unparteiliche Haltung von gleich mehreren Staaten und Gruppierungen zum Motiv für eine Ausschaltung des eigensinnigen Generalsekretärs hätte werden können.14 Hammarskjöld blieb so auch bei seinem letzten Härtetest jenen Grundsätzen treu, die er bereits anlässlich der militärischen Interventionen der westlichen Staaten in Ägypten während der Suez-Krise formulierte. In einer von den USA einberufenen Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrats am 31. Oktober 1956 erläuterte er die seine Amtsführung leitenden Prinzipien folgendermaßen: „Die Grundsätze der Charta sind bei weitem größer als die Organisation, die sie verkörpert, und die Ziele, die sie überwachen soll, sind heiliger als die Politik irgendeiner Nation oder eines Volkes. [. . .] Die Diskretion und Unparteilichkeit, die durch die Natur der dringlichen Sachlage dem Generalsekretär abverlangt werden, dürfen nicht zu einer Politik der Zweckmäßigkeit degenerieren. Er muss auch Diener der Grundsätze der Charta sein, und deren Ziele müssen letztlich bestimmen, was für ihn richtig und falsch ist. Dafür muss er stehen.“

Es sei seine feste Überzeugung, so Hammarskjöld weiter, „dass jegliches Ergebnis, das um den Preis eines Kompromisses mit den Grundsätzen und Idealen der Organisation erkauft wird – sei es durch die Anwendung von Gewalt, durch die Nichtbeachtung von Recht, durch die Vernachlässigung gemeinsamer Interessen oder die Missachtung von Menschenrechten – zu teuer bezahlt wird. Dies ist so, weil ein Kompromiss bei ihren Grundsätzen und ihrer Sinngebung die Organisation dergestalt schwächt, dass dies einen unbedingten Verlust für die Zukunft bedeutet, der durch keinerlei unmittelbar erlangten Vorteil ausgeglichen werden kann.“15

V. Philosophie der Weltorganisation Anhand seiner Reden und seines Nachlasses lässt sich eine ausdifferenzierte Philosophie der Weltorganisation rekonstruieren, deren Formulierung sich Hammarskjöld für die Zeit nach seiner Amtszeit vorgenommen hatte.16 14 Williams, Who Killed Hammarskjöld? hat (ohne einen konkreten Beweis einer spezifischen Theorie) eine Reihe von bemerkenswerten Indizien zu möglichen Motivlagen von Mitgliedern der rhodesischen Regierung und einflussreichen Konzernen in Katanga zusammengetragen, die sie in den weiteren Kontext des Kampfes um Entkolonialisierung einbettet. 15 Security Council Official Records in: Cordier/Foote (Hg.), Public Papers of the Secretaries-General of the United Nations, S. 309–310. 16 Vgl. Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen.

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Während seiner Amtszeit handelte er jedoch bereits stets mit Blick auf die Annäherung an das Ziel einer konstitutionell verfassten internationalen Gesellschaft. Wie sich nach seinem Tod herausstellte, beruhte sein enormes Leistungsvermögen und die Integrität, mit der er seine Aufgaben wahrnahm, auf einer kontinuierlichen Selbstprüfung und spirituellen Reflektion. Sein posthum veröffentlichtes Tagebuch legt davon Zeugnis ab.17 Das von Hammarskjöld in den fünfziger Jahren anvisierte Ziel einer verfassten internationalen Gemeinschaft ist mit seinen Aussagen zur Interdependenz der Staaten und Völker, zu den kulturellen Herausforderungen des globalen Austauschs aber auch mit seiner Identifizierung eines notwendigen Wandels überholter Souveränitätsbegriffe und der Notwendigkeit der Stärkung der Herrschaft des Rechts in hohem Maße anschlussfähig zu heutigen Debatten um die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft, die Konstitutionalisierung des Völkerrechts oder den Ausbau der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Zugleich verfolgte Hammarskjöld schon damals einen Sicherheitsbegriff, der nicht nur militärische Dimensionen hatte, sondern ebenso stark auf wirtschaftliche Teilhabe angelegt war.18 Die von ihm auf den Weg gebrachte Ausweitung der technischen Hilfe ebnete in diesem Zusammenhang den Weg zu multilateraler Entwicklungszusammenarbeit jenseits paternalistischer Bevormundung. Das in seiner pragmatischen und innovativen Erweiterung der Instrumente der Vereinten Nationen sowie seiner unparteilichen und wertgebundenen Amtsführung liegende Vermächtnis des zweiten UN-Generalsekretärs ist auch für die Herausforderungen, denen sich die Weltorganisation im 21. Jahrhundert zu stellen hat, richtungsweisend geblieben. Literatur „China Calls for Necessary Improvement of Peacekeeping Theory, Practice“, People’s Daily Online, 27.8.2011, http://english.peopledaily.com.cn/90883/7581 592.html. Bring, Ove: Dag Hammarskjöld and the Issue of Humanitarian Intervention, in: Petman, Jarna/Klabbers, Jan (Hg.): Nordic Cosmopolitanism: Essays in International Law for Martti Koskenniemi, Leiden 2003, S. 485–517. De Witte, Ludo: The Assassination of Lumumba, London 2001.

17

Hammarskjöld, Zeichen am Weg. Vgl. Hüfner, Vorzeitige Gedanken eines Generalsekretärs, S. 5–9 sowie die Betonung auf Hammarskjölds integrativen Ansatz in der Rede von Eliasson, Entwicklung und Menschenrechte gehören zusammen, S. 266–271. 18

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Eliasson, Jan: Frieden, Entwicklung und Menschenrechte gehören zusammen, in: Zeitschrift Vereinte Nationen, Heft 6, 2011, S. 266–271. Fröhlich, Manuel: Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen. Die politische Ethik des UNO-Generalsekretärs, Paderborn u. a. 2002. Fröhlich, Manuel/Klumpjan, Helmut/Melber, Henning: Dag Hammarskjöld (1905–1961). Für eine friedliche Welt – Ideen und Impulse des zweiten UN-Generalsekretärs, Frankfurt a. M. 2011. Fröhlich, Manuel/Lemanski, Jan/Bütof, Maria: Mapping UN Presence. A Follow-Up to the Human Security Report, in: Die Friedens-Warte, Heft 2, 2006, S. 13–24. Hammarskjöld, Dag: Zeichen am Weg. Das spirituelle Tagebuch des UN-Generalsekretärs. Überarbeitete Neuausgabe, herausgegeben von Manuel Fröhlich, Stuttgart 2011. Hill, Robert A./Keller, Edmond J. (Hg.): Trustee for the Human Community. Ralph J. Bunche, the United Nations, and the Decolonization of Africa, Athens/Ohio 2010. Hüfner, Klaus: Vorzeitige Gedanken eines Generalsekretärs. Dag Hammarskjöld als politischer Entwicklungsökonom, in: Zeitschrift Vereinte Nationen, Heft 1, 1982, S. 5–9. Linnér, Sture: Dag Hammarskjöld and the Congo Crisis, 1960–61, in: Linnér, Sture/ Åström, Sverker: UN Secretary-General Hammarskjöld. Reflections and Personal Experiences, Uppsala 2008 (The 2007 Dag Hammarskjöld Lecture). Miller, Richard I.: Dag Hammarskjöld and Crisis Diplomacy, New York 1961. Rembe, Rolf/Hellberg, Anders: Midnatt i Kongo. Dag Hammarskjölds förlorade seger, Stockholm 2011. Second Statement After Soviet Demand for His Dismissal, 13.2.1961, Security Council Official Records, Sixteenth Year, 933rd Meeting, in: Public Papers of the Secretaries-General of the United Nation. Volume V: Dag Hammarskjöld 1960–1961, hrsg. v. Cordier, Andrew W./Foote, Wilder, New York/London 1975, S. 349–350. Security Council Official Records, Eleventh Year, 751st Meeting, October 31, 1956, in: Public Papers of the Secretaries-General of the United Nations. Volume II: Dag Hammarskjöld 1953–1956, hrsg. v. Cordier, Andrew W./Foote, Wilder. New York/London 1972, S. 309–310. UN-Special and Personal Representatives and Envoys of the Secretary-General: http://www.un.org/en/peacekeeping/sites/srsg/index.htm. Urquhart, Brian: Hammarskjöld, New York 1972/1994. Wallensteen, Peter: Dag Hammarskjöld, Stockholm 1995. Williams, Susan: Who Killed Hammarskjöld? The UN, the Cold War and White Supremacy in Africa, London 2011.

II. Dag Hammarskjöld als UN-Generalsekretär und Staatsmann

„The Most Impossible Job on This Earth“ Dag Hammarskjöld als UN-Generalsekretär und Staatsmann Andreas Th. Müller Dass Dag Hammarskjöld aus dem Amt des Generalsekretärs der Vereinten Nationen mehr gemacht hat, als viele dieser Funktion beim Amtsantritt des Schweden im Jahre 1953 zutrauten, dürfte außer Frage stehen.1 Hammarskjöld beschränkte sich beileibe nicht auf die Rolle des UN-Bürokraten Nr. 1, sondern hatte eine genuin politische Vision des Generalsekretärsamts – im Sinne einer Verantwortung in der und für die Weltgemeinschaft. Dafür musste er sein Amt gestalten, aber nicht neu erfinden. Vielmehr hat Generalsekretär Hammarskjöld einen Gutteil seiner Energie darauf verwendet, über seine vielfältigen bürokratisch-administrativen Aufgaben hinaus das politische Potenzial zu aktivieren, das im Amt des Generalsekretärs institutionell bereits angelegt war. Dass ihm dies in bemerkenswertem Maße gelungen ist, erhellt allein aus dem Ausspruch des damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy, der Hammarskjöld nach seinem Ableben als den größten Staatsmann des 20. Jahrhunderts charakterisierte.2 Zugleich ist es beileibe nicht selbstverständlich, dass gerade Dag Hammarskjöld die Rolle zufallen sollte, das Aufgaben- und Wirkungsprofil des Generalsekretärs der Vereinten Nationen entscheidend zu erweitern. Schließlich war er selbst – im besten Sinne – der geborene Bürokrat. In seiner Heimat hatte er vor der Berufung nach New York eine Reihe von wichtigen Beamtenpositionen innegehabt3 und sah sich auch als – parteifreies – Mitglied der schwedischen Regierung gewiss nicht als Berufspolitiker. Er verwies auf seine lange Familientradition im Hervorbringen von Soldaten und Beamten.4 Und schließlich waren es nicht zuletzt seine Vita und sein Ruf als professioneller und leistungsfähiger Beamter, die ihn aus Sicht der 1

Vgl. dazu den ersten Abschnitt in diesem Band. Vgl. Williams, Who Killed Hammarskjöld?, S. 239. 3 Im schwedischen Finanzministerium (1936–1945) und als Präsident des schwedischen Reichsbankdirektoriums (1941–1948); vgl. dazu Fröhlich, Dag Hammarskjöld, S. 118 ff. sowie Landberg, The Road to the UN, S. 28 ff. 4 Vgl. etwa Hammarskjöld, Dag: Old Creeds in a New World, written for Edward R. Morrow’s radio programme „This I Believe“, 1954, abgedruckt in Foote, Servant 2

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ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates als Kompromisskandidaten für die Nachfolge des ersten Generalsekretärs der Vereinten Nationen, des Norwegers Trygve Lie, als geeignet erscheinen ließen.5 Es sollte sich freilich so manches anders entwickeln als von den ständigen Ratsmitgliedern vorausgesehen. Dag Hammarskjölds vielfältige und nachhaltige Beiträge zur Erhöhung der Sichtbarkeit und Relevanz der Organisation der Vereinten Nationen in der internationalen Politik, zur Konfliktvermeidung, -beilegung und -regelung und zur Sicherung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, der Mission der Vereinten Nationen katexochen,6 sind vielfach herausgestellt worden und erfahren auch im Folgenden Analyse und Würdigung.7 Interessant ist aber auch, eingangs kurz die Frage aufzuwerfen, wie das von Hammarskjöld übernommene Amt eigentlich konzipiert war und welches Amtsprofil er vorfand, als er am 9. April 1953 von seinem Vorgänger Lie am Idlewild Airport in New York empfangen wurde und dieser den zum geflügelten Wort gewordenen Ausspruch tat: „You are about to enter the most impossible job on this earth.“8 Lies sprechendes Résumé seiner eigenen Erfahrung als erster Inhaber dieses „jobs“ zeugt davon, dass er damit eine Anzahl von konfligierenden, wenn nicht widersprüchlichen Erwartungshaltungen verbunden sah. Sie waren ihm offensichtlich eine große, ja übergroße Hypothek, zumal sie schließlich auch zu seiner eigenen Handlungsunfähigkeit geführt hatten.9 Wer aber war der Generalsekretär der Vereinten Nationen aus Sicht der damaligen Zeit, und welche „mission impossible“ war ihm aufgeben? I. Die Stellung des Generalsekretärs in der Satzung der Vereinten Nationen Der Generalsekretär findet, nicht überraschend, seinen Platz in der Satzung der Vereinten Nationen (SVN). Allerdings fungiert nicht er (oder, um of Peace, S. 23; zur diesbezüglichen Familiengeschichte Hammarskjölds vgl. etwa Fröhlich, Dag Hammarskjöld, S. 105 ff. 5 Urquart, The Evolution of the Secretary-General, S. 19. 6 Vgl. v. a. Art. 1 Abs. 1, aber auch etwa die Präambel und Art. 24 SVN. 7 Vgl. die nachfolgenden Beiträge von Tichy, S. 65 ff., Hafner, S. 75 ff. und Mayr-Singer, S. 97 ff. mit zahlreichen Nachweisen. 8 Vgl. Tharoor, „The most impossible job“ description, S. 33 mit Verweis auf Dag Hammarskjölds Rede an das Personal des Sekretariats, UN Press Release SG/299 vom 1. Mai 1953. 9 Im Zuge der Koreakrise zog sich Lie den unerbittlichen Widerstand der Sowjetunion zu. 1951 zwar als Generalsekretär wiederbestellt, boykottierte ihn die Sowjetunion konsequent, bis er am 10. November 1952 zurücktrat.

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gleich in die Zukunft zu denken, sie10) selbst als eines der sechs Hauptorgane der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) gemäß Art. 7 Abs. 1 SVN, sondern das „Sekretariat“.11 Diesem sind lediglich die fünf knappen Artikel des Kapitels XV (Art. 97–101 SVN) gewidmet. Dementsprechend rudimentär fällt auch die Regelung von Status und Funktion des Generalsekretärs als Teil des Sekretariats (Art. 97 SVN) aus. Darüber hinaus ist bezeichnend, dass in der SVN abgesehen von Kapitel XV nur fünfmal auf den Generalsekretär oder das Sekretariat Bezug genommen wird.12 Trotzdem lassen sich aus diesen Bestimmungen wichtige Folgerungen für die Stellung des Generalsekretärs im System der Vereinten Nationen ziehen, und zwar – in der hier gebotenen Kürze in naturgemäß bloß holzschnittartiger Weise – in viererlei Hinsicht. Bereits aus dieser groben Übersicht wird deutlich, in wieviele Bezüge der Generalsekretär gestellt ist: 1. Leitung des Sekretariats: Gemäß Art. 97 SVN ist der Generalsekretär „der höchste Verwaltungsbeamte der Organisation“ und steht damit als Vorgesetzter der sonstigen Bediensteten den Aktivitäten des Sekretariats vor.13 Im Einklang mit den von der Generalversammlung erlassenen Regelungen ist er auch für die Ernennung der Bediensteten des Sekretariats zuständig (Art. 101 SVN), obschon die Mitgliedstaaten gerade auf die Bestellung der wichtigeren Mitarbeiter der Vereinten Nationen Einfluss zu nehmen suchen.14 2. Verhältnis zu den Mitgliedstaaten: Der Generalsekretär ist gegenüber den Mitgliedstaaten, auch wenn sie die „Herren der Satzung“ (Art. 109 SVN) sind, gemäß Art. 100 SVN unabhängig. Beide Seiten werden darin auch ausdrücklich verpflichtet, diese Unabhängigkeit zu wahren: Der Generalsekretär (und mit ihm die anderen Bediensteten des Sekretariats) dürfen bei der Wahrnehmung ihrer Pflichten von einer Regierung oder Autorität außerhalb der Organisation Weisungen weder erbitten noch entgegenneh10 Der besseren Lesbarkeit wegen wird im Folgenden auf die Verwendung der weiblichen Form verzichtet. Sie ist aber mitgemeint und wird hoffentlich in absehbarer Zukunft auch auf eine UN-Generalsekretärin Anwendung finden. 11 Neben der Generalversammlung, dem Sicherheitsrat, dem Wirtschafts- und Sozialrat, dem Treuhandrat und dem Internationalen Gerichtshof. Zum Unterschied von Sekretariat und Generalsekretär vgl. insbesondere Fiedler, Article 97, Rn. 3 f. m. w. N. 12 Vgl. dazu Art. 12 Abs. 2, Art. 20, Art. 73 lit. e, Art. 102 und Art. 110 Abs. 2 SVN; vgl. dazu infra Fn. 15 und 20. 13 Vgl. Preparatory Commission, Report, nr. 9: „. . . the execution of [the] duties [delegated to the Secretary-General’s staff and particularly to his higher officials] must be subject to his supervision and control; the ultimate responsibility remains his alone“; vgl. weiters Fiedler, Article 97, Rn. 7 zur monokratischen Struktur des Sekretariats. 14 Vgl. dazu etwa Schwebel, United Nations Secretary-General, S. 1166.

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men. Sie haben namentlich „jede Handlung zu unterlassen, die ihrer Stellung als internationale, nur der Organisation verantwortliche Bedienstete abträglich sein könnte“ (Abs. 1). Komplementär dazu sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, den „ausschließlich internationalen Charakter der Verantwortung des Generalsekretärs und der sonstigen Bediensteten zu achten und nicht zu versuchen, sie bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen“ (Abs. 2). Der Generalsekretär, der in vielfältigen Beziehungen zu den Mitgliedstaaten steht,15 ist demnach nicht Vertreter eines einzelnen Mitgliedstaats oder einer Staatengruppe, sondern allein der Gesamtorganisation verantwortlich. Da er an der Spitze des Sekretariats steht, kommt ihm auch die Aufgabe zu, als Garant der Unabhängigkeit des Organs insgesamt einzuschreiten. 3. Verhältnis zu den anderen Organen der Vereinten Nationen: Das Sekretariat ist gemäß Art. 7 Abs. 1 SVN eines der Hauptorgane der UNO. Wiewohl es als Nicht-Staatenvertreter-Organ16 im ordre de préséance an die letzte Stelle gereiht ist,17 stehen die Organe grundsätzlich in einem horizontalen Verhältnis zueinander.18 Gerade dem Generalsekretär kommt unter den Organen eine stark koordinierende und organverstrebende Funktion zu.19 So legt Art. 98 SVN fest, dass der Generalsekretär „in dieser Eigenschaft bei allen Sitzungen der Generalversammlung, des Sicherheitsrats, des Wirtschafts- und Sozialrats und des Treuhandrats tätig“ ist, und auch Art. 12 Abs. 2 und Art. 20 SVN sehen für den Generalsekretär eine ent15 Vgl. dazu nur die ausdrücklichen Erwähnungen in Art. 73 lit. e SVN (Mitteilungen über Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung), Art. 102 SVN (Registrierung von völkerrechtlichen Verträgen beim Sekretariat) und Art. 110 SVN (Notifikation der Unterzeichnung der Hinterlegung von Ratifikationsurkunden der Satzung durch den Depositarstaat USA). Darüber hinaus beinhalten auch das IGH-Statut ebenso wie eine Reihe von sonstigen völkerrechtlichen Verträgen und Abkommen verschiedene Aufgaben für den Generalsekretär im Staatenverkehr; vgl. dazu namentlich Fiedler, Article 98, Rn. 5 f. Vgl. auch Preparatory Commission, Report, nr. 12, wo der Generalsekretär als „channel of all communication with the United Nations or any of its organs“ charakterisiert wird. 16 Darüber hinaus ist er auch nicht mit der besonderen Dignität eines Gerichts ausgestattet. 17 Sowohl in Art. 7 Abs. 1 SVN als auch in der Behandlung der Organe in der Satzung in den Kapiteln IV (Generalversammlung), V (Sicherheitsrat), X (Wirtschafts- und Sozialrat), XIII (Treuhandrat), XIV (Internationaler Gerichtshof), XV (Sekretariat) steht das Sekretariat an letzter Stelle. 18 Siehe hierzu, Vergleiche und Unterschiede zum Völkerbund herstellend, Fiedler, Article 97, Rn. 2. 19 Vgl. insbesondere Preparatory Commission, Report, nr. 12: „[The SecretaryGeneral] must endeavour, within the scope of his functions, to integrate the activity of the whole complex of United Nations organs and see that the machine runs smoothly and efficiently.“ Vgl. des Weiteren Fiedler, Article 98, Rn. 26 ff.

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sprechende Rolle vor.20 Dies schließt nicht aus, dass er gemäß Art. 98 SVN „alle sonstigen ihm von diesen Organen [sc. der Generalversammlung, dem Sicherheitsrat, dem Wirtschafts- und Sozialrat und dem Treuhandrat] zugewiesenen Aufgaben wahr[nimmt]“ und insofern auftragsgebunden handelt.21 4. Außenvertretung der Vereinten Nationen: Die SVN beinhaltet interessanterweise keine ausdrückliche Regelung darüber, wer zu ihrer Vertretung gegenüber Dritten berufen ist. Den Generalsekretär trifft aber auch hier eine besondere Verantwortung. Er vertritt die Vereinten Nationen bei der Verhandlung und beim Abschluss von Abkommen mit Staaten und anderen internationalen Organisationen. Dabei handelt er entweder auf Ersuchen eines anderen UNO-Organs oder aber auf Grund seiner aus der Satzung erwachsenden „implied powers“.22 Gleichzeitig vertritt der die Vereinten Nationen gegenüber der Öffentlichkeit.23 Schon die Preparatory Commission of the United Nations stellte fest, der Generalsekretär stehe „more than anyone else . . . for the United Nations as a whole“.24 Umso mehr gilt in der heutigen, auf Personen hin orientierten medialen Welt, dass der Generalsekretär das „Gesicht“ der Vereinten Nationen ist. II. Frühes Verständnis der Funktion des Generalsekretärs Nachdem die UNO mittlerweile bereits auf eine Geschichte von mehr als zwei Generationen zurückblicken kann und mit Ban Ki-moon nunmehr schon den achten Generalsekretär zählt, sind die Debatten und Optionen der „Gründerzeit“ der Vereinten Nationen vielfach in Vergessenheit geraten. Da man sich an ein gewisses politisches Profil des Amts des Generalsekretärs gewöhnt hat – das freilich gerade in jüngerer Zeit nicht mehr über die Maßen gepflegt zu werden scheint –, wird selten gefragt, wie die Funktion konzipiert war, als sie in die Satzung eingefügt wurde. Die Gründungsväter der Vereinten Nationen waren aus der Zwischenkriegszeit zum einen mit der eher zurückhaltenden Amtsführung der beiden Generalsekretäre des Völkerbundes, Sir Eric Drummond und Joseph Avenol, vertraut, zum ande20 Diese Bestimmungen beziehen sich auf die Unterrichtung der Generalversammlung über die vom Sicherheitsrat behandelten, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betreffenden Angelegenheiten (Art. 12 Abs. 2 SVN) sowie die Einberufung außerordentlicher Tagungen der Generalversammlung durch den Generalsekretär (Art. 20 SVN). 21 Fiedler, Article 98, Rn. 15. 22 Ebd., Rn. 56. 23 Ebd., Rn. 55. 24 Preparatory Commission, Report, nr. 17.

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ren mit der schillernden Persönlichkeit des ersten Direktors der Internationalen Arbeitsorganisation, Albert Thomas. Beide hatten Modellcharakter: Stephan Schwebel hat diesbezüglich bereits 1952 festgehalten, dass erstere als der Prototyp des UN-Generalsekretärsamts gelten könnten, während letzterer den Archetyp dafür abgegeben hätte.25 Im Vorfeld der Verabschiedung der SVN zirkulierten verschiedene Vorschläge für die Ausgestaltung des Amtes des Generalsekretärs. Es gab namentlich Pläne, den Generalsekretär – oder (zeitlich noch davor) einen „Präsidenten“ der Weltorganisation, der dann gegenüber einem mit rein bürokratisch-administrativen Aufgaben betrauten „Generaldirektor“ der Organisation institutionell verselbständigt gewesen wäre – mit nennenswerten politischen Verantwortlichkeiten auszustatten.26 US-Präsident Franklin D. Roosevelt soll als Bezeichnung für diese Funktion „The World’s Mediator“ bevorzugt haben27 und hat damit offensichtlich das Aufgabenprofil eines globalen Mediators vor Augen gehabt. Diese hochfahrenden Pläne wurden indes im Diskussions- und Verhandlungsprozess, der über Dumbarton Oaks und Jalta nach San Francisco zur Annahme der SVN am 26. Juni 1945 führte, zunehmend abgeschwächt. Am Schluss blieb ein doch in erster Linie auf administrative Aufgaben hin orientierter Sekretär der Organisation, allerdings in einer gegenüber dem Völkerbund – gerade durch die formale Anerkennung des Sekretariats als Hauptorgan der UNO – merklich gestärkten Form.28 Vor allem aber finden sich in der Satzung Elemente, die deutlich über das Administrative hinausweisen. Typischerweise in diesem Zusammenhang genannt werden der (hier nicht weiter behandelte) Art. 98 sowie Art. 99 SVN. III. Der Generalsekretär als politischer Akteur: Das Beispiel des Art. 99 SVN Schon früh wurde erkannt,29 dass unter den Bestimmungen des Kapitels XV Art. 99 SVN, der auf eine Initiative der USA zurückging,30 besonders herausstach und für den UN-Generalsekretär signifikant mehr Gestaltungs25

Schwebel, United Nations Secretary-General, S. 1164. Zur Entwicklung vgl. Schwebel, Origins and Development, S. 373 f.; Fiedler, Article 99, Rn. 4 ff., jeweils m. w. N. 27 Vgl. Schwebel, United Nations Secretary-General, S. 1164; Fiedler, Article 99, Rn. 4 spricht dagegen von „The World’s Moderator“. 28 Vgl. Fiedler, Article 97, Rn. 2. 29 Vgl. dazu grundlegend Schwebel, Origins and Development, S. 371 ff.; vgl. auch Puente Egido, Funciones, S. 450 ff., v. a. S. 456 ff. 30 Vgl. Fiedler, Article 99, Rn. 4. 26

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möglichkeiten schuf als für sein Pendant im Völkerbund.31 Demnach kann der Generalsekretär „die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats auf jede Angelegenheit lenken, die nach seinem Dafürhalten geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden“. Die Preparatory Commission sah darin „a quite special right which goes beyond any power previously accorded to the head of an international organization“.32 Diese Bestimmung beruft den Generalsekretär zweifellos zu politischem Handeln.33 Denn er wird darin ermächtigt, Angelegenheiten vor den Sicherheitsrat als jenes Organ zu bringen, dem die „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ zukommt (Art. 24 Abs. 1 SVN), und wird damit selbst zum Akteur auf der weltpolitischen Bühne. Die Wahrnehmung dieser Verantwortung ist eine im engeren Sinne politische, da Voraussetzung dafür allein das Dafürhalten des Generalsekretärs („in his opinion“), d.h. sein eigenes politisches Urteil, ist, ob eine Angelegenheit die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährdet. Wenn der Sicherheitsrat auch in seinen Qualifizierungsprärogativen nach Art. 39 SVN an die Einschätzung des Generalsekretärs nicht gebunden ist, kann dieser dennoch durch geeignete Initiativen eine politische Dynamik in Gang setzen, sei es (a) ganz auf eigene Faust, (b) anstelle eines Sicherheitsratsmitglieds, das bevorzugt nicht selbst aktiv zu werden, oder aber (c) als Druckmittel, um die Sicherheitsratsmitglieder anzuhalten, sich „freiwillig“ mit einer Krise zu beschäftigen, die sie ansonsten lieber (noch) nicht im Sicherheitsrat erörtert hätten.34 Hammarskjöld, der sich des Potenzials von Art. 99 SVN wohl bewusst war, hat insbesondere durch die bewusste Verwendung dieses Instruments zur Stärkung des politischen Profils des Generalsekretärsamts beigetragen. Wenn die Erstverwendung der Bestimmung auch gerne Trygve Lie zugeschrieben wird,35 war es doch Hammarskjöld, der erstmals unter ausdrück31 Vgl. Schwebel, Origins and Development, S. 371, n. 2, auch mit Verweis auf Resolutionen der Völkerbundversammlung, die den Status des Generalsekretärs jenem der SVN annäherten. 32 Preparatory Commission, Report, nr. 16; vgl. aber auch die Relativierung durch die vorhergehende Fn. 33 Vgl. Fiedler, Article 97, Rn. 16; ders., Article 99, Rn. 1, 3 und 10 m. w. N.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 132. 34 Vgl. Schwebel, Origins and Development, S. 372 f., 374 und 378 zu den verschiedenen Motivationen. 35 Tatsächlich war auf Grund der Koreakrise eine Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrats schon auf Antrag der Vereinigten Staaten einberufen worden, sodass die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats eigentlich schon gemäß Art. 35 Abs. 1 SVN auf diese Angelegenheit gelenkt war. In der Sitzung vom 25. Juni 1950 wurde dem Generalsekretär, bevor die Ratsmitglieder sprachen, das Wort zur Berichterstattung

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licher Berufung auf Art. 99 SVN eine Angelegenheit vor den Sicherheitsrat brachte, nämlich die Kongokrise 1960.36 Wenn er auch nur dieses eine Mal die Bestimmung formal in Anspruch nahm,37 bezog er sich dennoch regelmäßig darauf und setzte sie dementsprechend als politisches Gestaltungsmittel ein.38 Darüber hinaus machte er geltend, Art. 99 SVN würde gleichsam von Annexkompetenzen begleitet, die für die effektive Ausübung des Rechts zur Befassung des Sicherheitsrates nötig seien. Hierher gehören v. a. das Recht, aus eigener Initiative Untersuchungen in einer Angelegenheit anzustellen, ebenso wie jenes, einen Repräsentanten des Generalsekretärs vor Ort zu installieren.39 Schon im Bericht der Preparatory Commission war von der Rolle des Generalsekretärs als politischem Akteur die Rede, wenn herausgestellt wird, der Generalsekretär „may have an important role to play as a mediator and as an informal adviser of many governments, and will undoubtedly be called upon from time to time, in the exercise of his administrative duties, to take decisions which may justly be called political“,40 um danach spegegeben. Dies nutzte er zur Darlegung der Situation in Korea aus seiner Sicht und beschloss seine Schilderung mit den Worten: „The present situation is a serious one and is a threat to international peace. The Security Council is, in my opinion, the competent organ to deal with it. I consider it the clear duty of the Security Council to take steps necessary to re-establish peace in that area“ (Security Council, Official Records, 473rd Meeting of the 5th Year, Proceedings of 25 June 1950). Drei Monate später deutete Generalsekretär Lie sein Handeln folgendermaßen: „[F]or the first time I invoked Article 99 of the Charter.“ (General Assembly, Official Records, 289th Plenary Meeting, 28 September 1950, para. 40). Vgl. dazu ausführlich Schwebel, Origins and Development, S. 380 f.; Fiedler, Article 99, Rn. 30 ff. 36 Zu den Hintergründen vgl. Fiedler, Article 99, Rn. 17 ff. 37 Vgl. Fiedler, Article 99, Rn. 16 und 21 ff., der als einzigen weiteren Fall der formalen Inanspruchnahme von Art. 99 SVN durch einen Generalsekretär Kurt Waldheims Befassung des Sicherheitsrats anlässlich der Besetzung der US-Botschaft in Teheran im Jahr 1979 gelten lassen will; vgl dazu auch Fröhlich, Dag Hammarskjöld, S. 47, n. 28. Schwebel, United Nations Secretary-General, S. 1166 nennt daneben noch Hammarskjölds Aktivität betreffend Bizerte, aber auch Lies Vorgangsweise in der Koreakrise. 38 Vgl. Fiedler, Article 99, Rn. 35 f. zu Hammarskjölds Bezugnahmen auf Art. 99 SVN betreffend Jordanien und Libanon, Laos und vor allem Bizerte. Gerade im letzten Fall kam dies einer formalen Bezugnahme auf die Bestimmung sehr nahe. 39 Vgl. Hammarskjöld, Dag: The International Civil Servant in Law and in Fact, Lecture Delivered to Congregation at Oxford University, 30 May 1961, zit. in Foote, Servant of Peace, 335: „a broad discretion to conduct inquiries and to engage in informal diplomatic activity“; vgl. ferner Schwebel, Origins and Development, S. 379 f.; ders., United Nations Secretary-General, S. 1165 und 1167; Fiedler, Article 97, Rn. 16; ders., Article 99, Rn. 12 m. w. N. Vgl. insbesondere auch Declaration on Fact-finding by the United Nations in the Field of Maintenance of International Peace and Security (A/RES/46/59) vom 9. Dezember 1991, Rn. 12 ff.

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ziell auf Art. 99 SVN einzugehen.41 Schon kurz nach Inkrafttreten der SVN wurde gesehen, dass gerade diese Bestimmung eine „specific legal authorization for [the] extensive, informal, behind-the-scenes political activity of the Secretary-General“42 enthielt. Darin läge „the prime and unmistakable affirmation of the true character of the office of Secretary-General. The power it confers, taken together with the Secretary-General’s position as the chief permanent officer of the United Nations . . . constitutes, particularly when blended with Article 98, the legal basis for the SecretaryGeneral’s political authority.“43 Die Preparatory Commission stellte noch vorsichtig in den Raum, es sei „impossible to foresee how this Article will be applied“.44 Wenn in Folge dessen 1952 ausgelobt wurde, Art. 99 SVN sei „of considerable, and may prove to be of very great, importance“,45 so muss sich der bloß ein Jahr danach sein Amt antretende Generalsekretär Hammarskjöld diese Prophezeiung für seine Amtsführung zu Herzen genommen haben. Freilich ist Art. 99 SVN nur ein Beispiel unter mehreren, die das politische Potenzial des Amts des Generalsekretärs und Dag Hammarskjölds Beitrag hiezu illustrieren. Man denke insbesondere an die Schaffung der UN-Friedensmissionen, die den Generalsekretär heute zum „commander-inchief“ einer Hundertausendschaft an Blauhelmen machen,46 ebenso wie Hammarskjölds „quiet diplomacy“, von denen in der Folge noch ausführlich die Rede sein wird.47 IV. Politische Jungfräulichkeit und politischer Zölibat Dag Hammarskjöld war sich bewusst, dass der Preis, der für eine Stärkung des politischen Profils des Generalsekretärs zu zahlen war, das Risiko, ja die Gewissheit war, in Gegensatz zu einer oder gleich zu mehreren Großmächten zu geraten. Er musste dies denn auch in wechselnden Konstellationen am eigenen Leibe erfahren, gerade gegen Ende seiner Amtszeit durch das Frankreich General de Gaulles, vor allem aber durch 40

Preparatory Commission, Report, nr. 16. Vgl. bereits supra Fn. 32. 42 Schwebel, Origins and Development, S. 375. 43 Ebd., S. 379. 44 Preparatory Commission, Report, nr. 16. Vgl. noch Urquhart, The Evolution of the Secretary-General, S. 15, der diesbezüglich von einer „somewhat unclear legal basis for the progressive expansion of the Secretary-General’s political role“ spricht. 45 Schwebel, Origins and Development, S. 382. 46 Vgl. etwa Chesterman, Introduction, S. 1. 47 Vgl. hierzu im Detail die Folgebeiträge in diesem Band (supra Fn. 7). 41

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die Sowjetunion. Bekannt geworden sind vor allem die harsche Kritik von Nikita Chruschtschow an Hammarskjöld in Zusammenhang mit der Kongokrise und der damit verbundene Vorschlag, Hammarskjöld solle zurücktreten und das Amt des UN-Generalsekretärs durch eine Troika von je einem Vertreter des Westens, des Ostblocks und der blockfreien Staaten ersetzt werden.48 Ebenso bekannt ist Hammarskjölds flammende Rede in der Generalversammlung gegen diesen Vorschlag,49 für die er lang anhaltende Ovationen erntete. Hammarskjöld wusste wohl um die grundsätzliche Spannung, in der die politische Aktion des Generalsekretärs stand. Die Mitgliedstaaten waren aus eigenem Recht Teil des globalen Macht- und Interessengefüges und damit „geborene“ Akteure auf der Bühne der Weltpolitik. Demgegenüber kam für die UNO als internationale Organisation und den Generalsekretär an ihrer Spitze mangels eigener „harter“ Machtmittel die Verfolgung einer Interessenpolitik im Stile der Großmächte nicht in Frage – und war aus Hammarskjölds Sicht auch nicht erstrebenswert. Worin lag dann aber die Legitimation für ein politisches Handeln des Generalsekretärs, der eben gerade keine spezifischen Machtinteressen oder eine spezifische Gruppe vertreten sollte? Hammarskjöld suchte – und fand – diese Legitimation in der Satzung selbst und leitete daraus ab, dass die UNO zuallererst für die Staaten da zu sein habe, die nicht zu den „big powers“ gehörten.50 Insofern konzipierte er sein Amt im Allgemeinen und dessen politische Dimension im Besonderen bewusst in Distanz zu und als Korrektiv von Großmachtinteressen – mit durchaus wechselndem Erfolg, man denke nur an die ganz unterschiedlichen Ergebnisse der Interventionen Hammarskjölds zu Gunsten der in China inhaftierten amerikanischen Piloten aus der Koreakrise oder jene in der Suez-, Kongo- oder Ungarnkrise.51 Typischerweise hielten jeweils die Großmächte, deren Interessen durch Hammarskjölds Aktivitäten gerade behindert zu werden drohten, dem Generalsekretär mangelnde Unparteilichkeit vor. Dies war oft mehr ein rhetorisches Manöver, zumal sich damit – gleichsam als anthropologische Grundkonstante – regelmäßig die Überzeugung verband, dass Menschen ohnehin nicht neutral sein könnten. Nikita Chruschtschow wird in diesem Sinne mit dem Satz zitiert: „While there are neutral countries, there are no neutral men.“52 Dementsprechend wurde die Idee einer neutralen internationalen 48 Schwebel, United Nations Secretary-General, S. 1167; vgl. hiezu auch Fröhlich, Dag Hammarskjöld, S. 314 ff. 49 Vgl. Statement to the General Assembly, 3. Oktober 1960, zit. nach Foote, Servant of Peace, S. 317 ff. 50 Ebd., S. 319. 51 Vgl. dazu näher die Folgebeiträge in diesem Band (supra Fn. 7).

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Beamtenschaft und namentlich eines neutralen Generalsekretärs an ihrer Spitze von vornherein als illusorisch abgetan und die einzig angemessene Reaktion darin gesehen, den Apparat der internationalen Organisation möglichst weit von eigenständigen politischen Gestaltungsspielräumen abzuschneiden. In einer seiner letzten Reden, die er am 30. Mai 1961 anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorats vor der Universität Oxford hielt,53 stellte Hammarskjöld diesem Ansatz eine alternative Vision gegenüber, die den „international civil servant“ nicht als (u. U. sogar gefährliche) Illusion ansah, sondern als reale Möglichkeit und Chance für die Pflege der internationalen Beziehungen. Dabei griff er Motive auf, die er bereits bei seiner Ankunft in New York am 9. April 1953 als für sein Amtsverständnis wesentlich charakterisiert, wenn auch deutlich weniger stark akzentuiert hatte.54 Acht Jahre und eineinhalb Amtszeiten später suchte sich Hammarskjöld dem Thema des „international civil servant“ insbesondere durch die Unterscheidung von politischer Jungfräulichkeit (being politically virgin) und politischem Zölibat (being politically celibate) zu nähern.55 Das eine, die Jungfräulichkeit, sei tatsächlich nicht möglich, denn jeder Mensch habe Symund Antipathien und Ideen und Ideale, die ihm lieb sind. Dem internationalen Beamten seien aber diesen Vorlieben und Neigungen gegenüber besondere Verhaltensmaßregeln auferlegt: „[H]e is requested to be fully aware of those human reactions and meticulously check himself so that they are not permitted to influence his actions.“56 Der Generalsekretär oder ein sonstiger Bediensteter der Vereinten Nationen, der sich in diese Haltung einübt, die Hammarskjöld mit der eines Richters vergleicht, könne in der Tat „politisch zölibatär“ leben. Seine 52 Lippmann, Walter: Interview with Chairman Nikita Khrushchev, New York Herald Tribune, 17. April 1961, zit. nach Chesterman, Introduction, S. 2; vgl. auch Foote, Servant of Peace, S. 329. 53 Hammarskjöld, Dag: The International Civil Servant in Law and in Fact, Lecture Delivered to Congregation at Oxford University, 30 May 1961, zit. in Foote, Servant of Peace, S. 329–349; vgl. zum Folgenden insbesondere Tharoor, „The most impossible job“ description, S. 35 f. 54 „In my new official capacity the private man should disappear and the international public servant take his place. The public servant is there in order to assist, so to say from the inside, those who take the decisions which frame history. He should – as I see it – listen, analyze and learn to understand fully the forces at work and the interests at stake, so that he will be able to give the right advice when the situation calls for it.“; vgl Foote, Servant of Peace, S. 27. Aber auch zu diesem sehr frühen Zeitpunkt ist sich Hammarskjöld auch der „political responsibilities of the Secretary-General“ durchaus bewusst; vgl. ebd., S. 27. 55 Foote, Servant of Peace, S. 331. 56 Ebd., S. 348.

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Handlungsanleitungen und Wertmaßstäbe gewinnt er, indem er sich von grundlegenden Prinzipien, zuallererst den Grundsätzen und Zielen der SVN, leiten lässt.57 Auf dieser Grundlage ist es nach Hammarskjölds Auffassung möglich, auch differenzierter artikulierten Zweifeln an der Neutralität des Amtes des Generalsekretärs glaubwürdig entgegen zu treten: Thus while the Secretary-General may be in a higher sense impartial in the carrying out of his political duties, he cannot be neutral. Neutrality implies political abstinence, not political action, and, in certain circumstances . . . might well keep the Secretary-General from conscientious fulfilment of his Charter obligations. There is, indeed, an „un-neutral“ predisposition about the Secretary-General’s calling the attention of the Security Council to a matter threatening the peace, since it is unlikely that it can ever be in the equal interests of the parties to a dispute, in an exact, strictly „neutral“ degree, that a situation in which they are involved be brought before the Council.58

Eine derartige neutrale Haltung ist für Hammarskjöld Ausfluss professioneller Integrität.59 Dabei kommt dem Element der „Einübung“ besondere Bedeutung zu. Neutrales und integres Handeln ist kein beliebig aktivierbares ephemeres Handlungsmuster, das man nach Belieben an- und abschalten kann, sondern eine Handlungsdisposition, ein Habitus, der erarbeitet und gepflegt werden will. Dazu gehören gewissen institutionelle Vorkehrungen60, vor allem aber die Arbeit an der eigenen Person. Dag Hammarskjöld war gewiss jemand, dem die Rede von „politischen Tugenden“ mehr als eine Worthülse war.61 57 Vgl. etwa Statement regarding Suez before the Security-Council, 31. Oktober 1956, zit. nach Foote, Servant of Peace, S. 124: „[The Secretary-General] must also be a servant of the principles of the Charter, and its aims must ultimately determine what for him is right and wrong. For that he must stand.“ sowie die Rede von 1961: „Of primary importance in this respect are the principles and purposes of the Charter which are the fundamental law accepted by and binding on all States.“; vgl. Foote, Servant of Peace, S. 346. 58 Schwebel, Origins and Development, S. 381. Hammarskjöld setzte sich in seiner Rede mit den Implikationen der „politischen“ Zuständigkeit des Generalsekretärs, wie sie in Art. 98 SVN, vor allem aber in Art. 99 SVN verankert sind, ausdrücklich auseinander; vgl. Foote, Servant of Peace, S. 335 sowie 357 f. 59 Vgl. dazu allenthalben in seiner Rede von 1961; vgl. Foote, Servant of Peace, S. 345 f. und 348. 60 Das kommt u. a. darin zum Ausdruck, dass Hammarskjöld festhält, dass „[i]n regard to these problems, the Secretary-General must find constitutional means and techniques to assist him, insofar as possible, in reducing the element of purely personal judgment“; vgl. ebd., S. 347. 61 Als Leitstränge von Hammarskjölds politischer Ethik nennt Fröhlich, Dag Hammarskjöld, S. 330 ff. etwa Dienst an der (internationalen) Gemeinschaft als Berufung, selbstbewusste Neutralität und persönliche Integrität aus Selbstreflexion als Grundbedingung politischen Handelns.

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Derartige Integrität muss sich zuallererst bewähren in einer gewissen Kontinuität des Handelns, die in vergleichbaren Situationen vergleichbare Taten gebiert, auch und gerade wenn die politische Konstellation der Beteiligten sich geändert haben sollte. Hiezu gehört auch Transparenz, einschließlich des Offenlegens von Gründen und Motivation für die verfolgte Politik. Diesbezüglich verdient Erwähnung, dass Hammarskjöld als Generalsekretär nicht nur an regelmäßiger Information der Medien interessiert war.62 Er trachtete auch im Umgang mit den anderen Organen der Vereinten Nationen danach, deutlich zu machen, weshalb ihm auf Grund der Satzung gewisse Zuständigkeiten zukommen sollten, die sich aus Kapitel XV vielleicht nicht unmittelbar zu ergeben schienen. Hammarskjölds Reden, Berichte und Briefe waren sprachlich ebenso präzise wie wohl komponiert, und er verwendete bekanntermaßen viel Zeit darauf, diese selbst zu redigieren und zu vervollkommnen. Er, der die Sprache so meisterhaft beherrschte, wusste wohl um die ihr innewohnende Macht, aber auch um die mit ihr verbundenen Gefahren: Achtung vor dem Wort ist die erste Forderung in der Disziplin, durch welche ein Mensch zur Reife erzogen werden kann – intellektuell, im Gefühl und sittlich. Achtung vor dem Wort – seinem Gebrauch in strengster Sorgfalt und in unbestechlicher innerer Wahrheitsliebe –, das ist auch die Bedingung des Wachstums für Gemeinschaft und Menschengeschlecht. – Das Wort missbrauchen, heißt die Menschen verachten. Das unterminiert die Brücken und vergiftet die Quellen. So führt es uns rückwärts auf der Menschwerdung langem Weg. „Wahrlich, ich sage euch, über ein jegliches unnütze Wort –.“63

Schlussbemerkung Gerne wird versucht, das Handeln eines Generalsekretärs im Spektrum von „General“ und „Sekretär“ zu verorten.64 Amtsverständnis und -führung Dag Hammarskjölds werden regelmäßig – durchaus wohlwollend – mehr 62 Vgl. Urquhart, The Secretary-General, S. 19; vgl. auch den Beitrag von MayrSinger, S. 101 in diesem Band. 63 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 99 f. (Eintrag zum 1.8.1955) (Hervorhebung im Original). 64 Vgl. etwa Chesterman, Introduction, 1 sowie den Titel des Bandes insgesamt: „Secretary or General? The UN Secretary-General in World Politics“. Vgl. auch Tharoor, „The most impossible job“ description, S. 34, wo von einer „curious duality between administrative and political work“ die Rede ist: „It would depend on each holder of the office to demonstrate whether he would be more secretary or general.“

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ersterem als zweiterem zugeschlagen. Zweifellos hat Hammarskjöld durch seine Initiativen Elemente staatsmännischen Handelns ins Aufgaben- und Verantwortungsprofil des UN-Generalsekretärs eingeführt und damit auch nachhaltige Erfolge erzielt. Sir Brian Urquhart geht in seiner Bewertung noch einen Schritt weiter: „It was Hammarskjöld’s development – perhaps creation is not too strong a word – of the political role of the Secretary-General that is his most lasting practical legacy.“65 Ob man ihm darin folgen will oder nicht – die politischen Tugenden jedenfalls, die die Preparatory Commission vom Generalsekretär für die Inanspruchnahme von Art. 99 SVN eingefordert hatte,66 die aber für sein gesamtes Handeln bedeutsam waren, hat Dag Hammarskjöld gewiss zu einem sehr erheblichen und in der Geschichte der Vereinten Nationen wohl sonst nicht erreichten Maß mitund in die Organisation eingebracht. Dabei ließ er sich vor allem von der Vision leiten, die Vereinten Nationen dürften nicht bloß eine statische Konferenzmaschine sein, sondern ein dynamisches Instrument zur Erreichung der Ziele und Grundsätze der Organisation,67 wie sie sich insbesondere aus Art. 1 und 2 SVN ergeben. Die Mission der Vereinten Nationen, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu bewahren und sich dementsprechend gegen Gewaltanwendung und Blutvergießen und für friedliche Konfliktbeilegung, freundschaftliche Beziehungen zwischen den Staaten, Menschenrechte und gleiche Entwicklungschancen für alle Nationen einzusetzen, wies nach der Überzeugung Hammarskjölds noch über die Organisation hinaus.68 Diese in der Satzung selbst an prominentest möglicher Stelle verankerte Mission war für Hammarskjöld die Legitimationsbasis seines politischen Handelns als Generalsekretär. Eben dieser Mission suchte er – gestützt auf das ihm unterstehende Sekretariat, das er leidenschaftlich in seiner professionellen Unabhängigkeit gegenüber mitgliedstaatlichen Einflüssen verteidigte, aber auch in teils kritisierter Weise für seine Zielvorstellungen einspannte – durch integre und neutrale Amtsführung des Generalsekretärs gerecht zu werden – und dabei selbst die Werte und Ziele der Vereinten Nationen zu verkörpern.69 Denn 65

Urquhart, The Secretary-General, S. 19 f. Vgl. Preparatory Commission, Report, nr. 16: „[T]he responsibility [sc. Art. 99 of the Charter] confers upon the Secretary-General will require the exercise of the highest qualities of political judgement, tact and integrity.“ 67 Vgl. Lash, Dag Hammarskjöld, S. 295 f. sowie Jonah, An Independent International Civil Service, S. 168. 68 „The principles of the Charter are, by far, greater than the Organization in which they are embodied, and the aims which they are to safeguard are holier than the policies of any single nation or people.“; vgl. Statement regarding Suez on the Duties of the Secretary-General before the Security-Council, 31. Oktober 1956, zit. nach Foote, Servant of Peace, S. 124. 66

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wie Dag Hammarskjöld schon 1951 schrieb: „Nur der verdient Macht, der sie täglich rechtfertigt.“70 Literatur Chesterman, Simon: Introduction: secretary or general?, in: Secretary or General. The UN Secretary-General in World Politics, hrsg. von Simon Chesterman, Cambridge 2007, 1–11. Fiedler, Wilfried: Article 97; Article 98; Article 99, in: The Charter of the United Nations. A Commentary, hrsg. von Bruno Simma, 2. Aufl., Oxford 2002, 1191–1205; 1205–1216; 1217–1230. Foote, Wilder (Hrsg.): Servant of Peace. A Selection of the Speeches and Statements of Dag Hammarskjöld, Secretary-General of the United Nations 1953–1961, New York/Evanston 1962. Fröhlich, Manuel: Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen. Die politische Ethik des UNO-Generalsekretärs, Paderborn 2002. Hammarskjöld, Dag: Zeichen am Weg. Das spirituelle Tagebuch des UN-Generalsekretärs, übersetzt und eingeleitet von Anton Graf Knyphausen, München 2001. Jonah, James O.C.: An Independent Civil Service, in: The Adventure of Peace. Dag Hammarskjöld and the Future of the UN, hrsg. von Sten Ask und Anna MarkJungkvist, Stockholm 2005, 164–177. Landberg, Hans: The Road to the UN – The Emergence of the International Civil Servant, in: The Adventure of Peace. Dag Hammarskjöld and the Future of the UN, hrsg. von Sten Ask und Anna Mark-Jungkvist, Stockholm 2005, 26–42. Lash, Joseph P.: Dag Hammarskjöld. Custodian of the Bushfire Peace, Garden City, NY 1961. Preparatory Commission of the United Nations: Report of 23 December 1945, Doc. PC/20, Chapter VIII, section 2. Puente Egido, José: Funciones Administrativas y Diplomático-Políticas del Secretario General de las Naciones Unidas segffln la Carta y la Práctica de la Organización, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 20 (1959/60), 36–72 und 450–505. Schwebel, Stephan M.: The Origins and Development of Article 99 of the Charter. The Powers of the Secretary-General of the United Nations, in: British Yearbook of International Law 28 (1951), 371–382. – United Nations Secretary-General, in: Encyclopedia of Public International Law, hrsg. von Rudolf Bernhardt, Bd. 4, Amsterdam 2000, 1164–1168. 69

Vgl. Preparatory Commission, Report, nr. 17: „In the eyes of the world, no less than in the eyes of his own staff, [the Secretary-General] must embody the principles and ideals of the Charter to which the Organization seeks to give effect.“ 70 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 62 (Eintrag zu 1951).

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Tharoor, Shashi: „The most impossible job“ description, in: Secretary or General. The UN Secretary-General in World Politics, hrsg. von Simon Chesterman, Cambridge 2007, 33–46. Urquhart, Brian E.: The Secretary-General – Why Dag Hammarskjöld, in: The Adventure of Peace. Dag Hammarskjöld and the Future of the UN, hrsg. von Sten Ask und Anna Mark-Jungkvist, Stockholm 2005, 14–22. – The Evolution of the Secretary-General, in: Secretary or General. The UN Secretary-General in World Politics, hrsg. von Simon Chesterman, Cambridge 2007, 15–32. Verdross, Alfred/Simma, Bruno: Universelles Völkerrecht. Theorie und Praxis, 3. Aufl., Berlin 1984. Williams, Susan: Who Killed Hammarskjöld? The UN, the Cold War and White Supremacy in Africa, London 2011.

Der Beitrag Dag Hammarskjölds zur Entwicklung des Völkerrechts Helmut Tichy1 Es ist für mich eine große Ehre, bei einem Symposium zur Erinnerung an den 50. Todestag von Dag Hammarskjöld sprechen zu dürfen. Ich freue mich, dass ein solches Symposium in Österreich abgehalten wird und dass – durch das Engagement der Universität Innsbruck – auch in Österreich Hammarskjölds Todestag zum Anlass genommen wird, sich an diesen bedeutenden Generalsekretär der Vereinten Nationen und Friedensnobelpreisträger zu erinnern. Ich wurde eingeladen, über den Beitrag Dag Hammarskjölds zur Entwicklung des Völkerrechts zu sprechen. Dies ist eine interessante Themenstellung: Als Generalsekretär der Vereinten Nationen von 1953 bis zu seinem Tod 1961 hatte Hammarskjöld die Möglichkeit, über seine engeren administrativen Aufgaben weit hinausgehend in die Gestaltung der internationalen Beziehungen einzugreifen und dadurch auch entscheidend zur völkerrechtlichen Praxis beizutragen. Ich werde versuchen, in einigen Punkten darzustellen, welche juristischen Fragen Hammarskjöld besonders beschäftigt haben und wo er selbst innovative Schritte im Bereich der völkerrechtlichen Praxis gesetzt hat. Hammarskjöld war eine Persönlichkeit mit einem unglaublich breiten Interessensspektrum. Er studierte in Uppsala und Stockholm Volkswirtschaft, aber auch Sprachwissenschaft, Literatur, Geschichte – und Rechtswissenschaften. Bevor er Generalsekretär der Vereinten Nationen wurde, war er viele Jahre in der schwedischen Verwaltung tätig und wurde Direktor der schwedischen Reichsbank und schließlich Staatsminister im schwedischen Außenministerium. Außerdem übersetzte er literarische Werke aus dem Französischen und Deutschen und machte sich ernste Gedanken über Gott, die Welt und die Pflichterfüllung, die er in seinem posthum erschienenen spirituellen Tagebuch „Vägmärken“, auf Deutsch „Zeichen am Weg“, festhielt. 1 Die hier vertretenen Auffassungen müssen nicht mit jenen des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten übereinstimmen.

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Trotz dieser Vielseitigkeit war Hammarskjölds Tätigkeit als Generalsekretär aber eindeutig von einer juristischen Denkweise geprägt. Dies kommt in vielen seiner Reden und Berichte an die Gremien der Vereinten Nationen zum Ausdruck, in denen er sich mit der Satzung der Vereinten Nationen als Grundlage seines Handelns und als Verfassung der Staatengemeinschaft auseinandergesetzt hat. Diese Denkweise war wohl auch familiär geprägt: In Hammarskjölds Familie gab es verschiedene bedeutende Juristen, sein Vater Hjalmar Hammarskjöld, ehemaliger schwedischer Ministerpräsident, war Vorsitzender des Völkerbund-Ausschusses für die Kodifikation des Völkerrechts, der mit der heutigen UN-Völkerrechtskommission vergleichbar ist, und sein Bruder war langjähriger Kanzler des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, des Vorläufers des heutigen Internationalen Gerichtshofs, und schließlich Richter an diesem Gericht. Schon vor seiner Bestellung zum Generalsekretär hatte Hammarskjöld als Vertreter Schwedens bei internationalen Konferenzen Gelegenheit, an der Schaffung wichtiger internationaler Instrumente der Nachkriegszeit und am Aufbau von internationalen Organisationen, wie der damaligen Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit und dem Europarat, mitzuwirken.2 Als er 1953 als Kompromisskandidat Generalsekretär der Vereinten Nationen wurde, war aber nicht abzusehen, mit welchem Nachdruck er sich – gestützt auf die Satzung – für die Entwicklung dieser Organisation zu einem Instrument der Friedenserhaltung und Friedensstiftung einsetzen würde. Noch eine letzte Bemerkung zur Einleitung: Seit ich die Einladung zu diesem Symposium bekommen habe, habe ich versucht, mich intensiv mit dem Wirken Dag Hammarskjölds zu beschäftigen. Es ist nur fair darauf hinzuweisen, dass ich sehr viele interessante Informationen der detaillierten Biographie verdanke, die Hammarskjölds Mitarbeiter Sir Brian Urquhart, ein späterer Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen, geschrieben hat.3 Durch den Hinweis eines Kollegen4 bin ich aber auch auf eine Schrift gestoßen, die ein früherer Angehöriger des Völkerrechtsbüros im österreichischen Außenministerium, Botschafter Dr. Erich Kussbach, anlässlich des 20. Todestags Hammarskjölds verfasst hat und die sich mit dessen juristischem Vermächtnis auseinandersetzt;5 auch diese war mir eine wertvolle Hilfe.

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Urquhart, Hammarskjold, S. 22. Vgl. die vorhergehende Anmerkung. 4 Ich danke Gesandten Dr. Konrad Bühler für diesen Hinweis. 5 Kussbach, Der Kampf um die Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen. 3

Der Beitrag Dag Hammarskjölds zur Entwicklung des Völkerrechts

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I. Hammarskjöld und die Rolle des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen Wenden wir uns der Frage zu, wie Hammarskjöld die Rolle des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen gesehen hat. Ich zitiere aus einer Publikation aus dem Jahre 1956, in der er Folgendes geschrieben hat: „Ich bedauere, dass in der Zeit seit dem 2. Weltkrieg die zentrale Bedeutung des Völkerrechts irgendwie vernachlässigt worden ist. Wir verstehen jetzt die Bedeutung von wirtschaftlichen und sozialen Fragen. Und leider wurde uns nicht erlaubt, die Bedeutung der Politik aus den Augen zu verlieren. Aber mir scheint, dass wir diesen beiden Aspekten gestattet haben, die Bedeutung des Rechts etwas zu sehr in den Schatten zu stellen. Ich hoffe, dass die Regierungen im nächsten Jahrzehnt eine stärkere Entwicklung im Bereich des Völkerrechts unterstützen werden, vor allem seine Kodifikation, und eine ungezwungenere und häufigere Befassung des Internationalen Gerichtshofs.“6 Einige der Hoffnungen Hammarskjölds haben sich in den 55 Jahren seit dieser Publikation verwirklicht – das gilt gerade für die letzten Jahrzehnte, denn Kussbach musste 1981 diesbezüglich noch eine recht negative Analyse vornehmen.7 Die UN-Völkerrechtskommission hat ihre Aufgabe der Kodifikation und fortschreitenden Entwicklung des Völkerrechts in einem Maße erfüllt, dass heute oft gefragt wird, mit welchen Themen von größerer Relevanz sie sich überhaupt noch beschäftigen kann. Auch die Menschenrechte, deren universelle Anerkennung Hammarskjöld ein besonderes Anliegen war,8 wurden kodifiziert, und es ist heute nicht mehr möglich, ihre Geltendmachung als Einmischung in innere Angelegenheiten abzutun. Die Zahl der beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag anhängigen Verfahren hat so zugenommen, dass der Gerichtshof nun voll ausgelastet ist – und manche der Verfahren, insbesondere manche Gutachten, betreffen heute auch wirklich die großen Fragen der internationalen Beziehungen. Weitere internationale Gerichte sind entstanden, die – derzeit noch mit unterschiedlichem Erfolg – der „Rule of Law“, der Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen, und der Straflosigkeit für internationale Verbrechen zum Durchbruch verhelfen sollen. Und die Vereinten Nationen haben seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem damit verbundenen Ende der Ost-West-Konfrontation manchmal Gelegenheit bekommen, jene Handlungsfähigkeit zu entwickeln, die sich ihre Gründer – und ihr zweiter Generalsekretär Dag Hammarskjöld – vorgestellt haben. 6

Hammarskjold, The United Nations, S. 18. Kussbach, Der Kampf um die Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen, S. 23. 8 Ebd., S. 10. 7

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Trotzdem, von der Verwirklichung von Hammarskjölds Visionen sind diese Entwicklungen noch weit entfernt. Er wusste aber, dass man die Verwirklichung von Visionen nur in kleinen, pragmatischen Schritten angehen kann. Diese Haltung zeigte sich auch in einer Rede, die Hammarskjöld 1960 unter dem Titel: „Die Entwicklung eines Verfassungsrahmens für die internationale Zusammenarbeit“ hielt und in der er Folgendes sagte: „Jene, die für eine Weltregierung oder diese oder jene besondere Form eines Weltföderalismus eintreten, haben oft fesselnde Theorien und Ideen, aber wir können, genauso wie unsere Vorfahren, uns nur gegen die zurückweichende Mauer stemmen, die die Zukunft verbirgt. Durch solche Bemühungen, die wir unternehmen, so gut wir dazu fähig sind, mehr als durch den Entwurf von Idealvorstellungen, die der Gesellschaft aufgezwungen werden müssten, legen wir den Grundstein und ebnen wir den Weg für die Gesellschaft der Zukunft.“9 Es fällt auf, dass sich Hammarskjöld immer wieder die Frage stellte, unter welchen Umständen er als Generalsekretär der Vereinten Nationen „nützlich“ sein könne, was auch auf eine pragmatische Vorgangsweise hinweist. Diese Nützlichkeit war für ihn aber nicht eine Frage der politischen Opportunität, sondern der Verwirklichung der Ziele der Satzung der Vereinten Nationen, eines völkerrechtlichen Vertrags. Betrachten wir nun die konkreten Beiträge Hammarskjölds zur völkerrechtlichen Praxis. Er musste in einer schwierigen Aufbauzeit die Unabhängigkeit der Vereinten Nationen und die Handlungsfähigkeit ihres Generalsekretärs verteidigen, und er entwickelte neue Einsatzformen der Organisation zur Friedenssicherung, auf die noch heute zurückgegriffen wird. II. Unabhängigkeit der Vereinten Nationen Beginnen wir mit Hammarskjölds Einsatz für die Unabhängigkeit der Vereinten Nationen. Diese setzt voraus, dass die UN-Beamten von den Mitgliedstaaten unabhängig und nur der Organisation verpflichtet sind. Vorstellungen vom unabhängigen Beamtentum brachte Hammarskjöld schon aus seiner Familie mit: Er sprach mit Stolz davon, dass es in seiner Familie „Generationen von Soldaten und Beamten“ gegeben habe, und betonte, dass der Dienst für Staat und Menschheit sowohl Opfer als auch die Bereitschaft erfordert, „unbeirrbar für seine Überzeugungen einzustehen“.10 9

Rede vor der University of Chicago Law School am 1. Mai 1960, zitiert nach Urquhart, Hammarskjold, S. 46. 10 Aus einem Radiointerview Hammarskjölds 1953, zitiert nach dem Vorwort von Manuel Fröhlich in Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 19.

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Ich kann mir gut vorstellen, dass es diese Haltung war, die Hammarskjöld auch davon abhielt, einer politischen Partei anzugehören. Jedenfalls erwartete er sich von den UN-Beamten, dass sie ein wahrhaft internationales Sekretariat bilden und keine Treuepflicht gegenüber irgendeiner Regierung empfinden.11 Hammarskjölds musste vor allem klarstellen, dass ihm als Generalsekretär die alleinige Personalhoheit über die UN-Beamten zukommt. Große Mitgliedstaaten erwarteten damals – man spricht von der sogenannten McCarthy-Zeit –, dass ihre Staatsbürger, denen mangelnde Loyalität zum eigenen Staat vorgeworfen wurde, nicht im Dienst der Vereinten Nationen bleiben bzw. nicht in diesen aufgenommen werden dürften. Zur Erleichterung der dafür notwendigen Untersuchungen gab es zur Zeit des Amtsantritts Hammarskjölds als Generalsekretär sogar eine eigene nationale Polizeidienststelle im UN-Gebäude am East River. Hammarskjöld widersetzte sich erfolgreich dieser Einschränkung seiner Personalhoheit, wobei er sich auf die Art. 100 und 101 der Satzung berief, die die Weisungsungebundenheit der UN-Beamten gegenüber den Mitgliedstaaten und ihre Ernennung durch den Generalsekretär betreffen. Die staatliche Polizeidienststelle im UN-Gebäude wurde geschlossen.12 Schwierigkeiten gab es auch bei dem im Amtssitzabkommen vereinbarten „freien Zugang“ zum UN-Gebäude, der manchmal durch sehr weitgehende Sicherheitsauflagen des Gaststaats, wie z. B. häufige polizeiliche Meldepflichten, eingeschränkt wurde. Hammarskjöld fand eine Kompromisslösung, die die Sicherheitsinteressen des Gaststaats anerkannte, aber zur Wahrung des Status der Organisation, ihrer Beamten und ihrer offiziellen Besucher Konsultationen vorsah.13 In dieser, die Rechtsposition beider Seiten berücksichtigenden Lösung kommt Hammarskjölds Pragmatismus zum Ausdruck – durchaus eine Inspiration auch für die Lösung von anderen Amtssitzfragen in anderen Staaten. III. Stärkung der Rolle des Generalsekretärs Hammarskjöld war es auch wichtig, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen die für die Ausübung seines Amts erforderliche Handlungsfähigkeit zu sichern. Die Satzung der Vereinten Nationen enthält nur wenige Bestimmungen über die Rolle des Generalsekretärs; was dieser aus seiner 11 Aus einer Rede Hammarskjölds anlässlich des UN Staff Day am 8. September 1961, zitiert nach Urquhart, Hammarskjold, S. 529. 12 Urquhart, Hammarskjold, S. 58 ff. 13 Ebd., S. 64 f.

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Funktion machen kann, hängt sehr wesentlich vom Sicherheitsrat und dessen Mitgliedern – insbesondere den ständigen Mitgliedern – ab. Hammarskjöld übernahm sein Amt in einer denkbar schlechten Ausgangssituation: Sein Vorgänger Trygve Lie war wegen eines Vetos der Sowjetunion nicht wiedergewählt und seine weitere – immerhin drei Jahre dauernde – de facto-Amtsführung von der Sowjetunion nicht anerkannt worden.14 Unter diesen Umständen war es dem Generalsekretär kaum möglich, eigenständige Initiativen zu setzen – was sich unter Hammarskjöld rasch änderte. Hammarskjöld zögerte nicht, sich in entscheidenden Fragen auf Art. 99 der Satzung der Vereinten Nationen zu stützen, der es dem Generalsekretär erlaubt, „die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats auf alle Angelegenheiten zu lenken, die seiner Meinung nach geeignet sind, die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu bedrohen“ – eine Bestimmung, die in der Völkerbundsatzung keinen Vorläufer hatte und einem geschickt agierenden Generalsekretär beachtliche Möglichkeiten einräumt. Hammarskjöld nützte dieses Initiativrecht, um vom Sicherheitsrat Aufträge gemäß Art. 98 der Satzung erteilt zu bekommen; andere Mandate erteilte ihm die Generalversammlung, ebenfalls im Rahmen des Art. 98. In einer komplizierten Situation gelang es Hammarskjöld, allgemeine Akzeptanz für eine entscheidende Ausweitung seiner Befugnisse zu erreichen. Hammarskjöld setzte sich im Jänner 1955 – aufgrund eines ihm durch die Generalversammlung erteilten Mandats – in China für die Befreiung von Piloten ein, US-Staatsbürgern im Dienst der Vereinten Nationen, die der Spionage verdächtigt wurden. Die Volksrepublik China bzw. Ministerpräsident Chou En-lai war zu Gesprächen über diese Frage bereit, wollte bei dem Treffen aber auch noch andere Probleme relevieren, für deren Diskussion Hammarskjöld kein Mandat hatte. Dabei ging es insbesondere um die damalige Nicht-Vertretung der Pekinger Regierung in den Vereinten Nationen. Hammarskjöld erklärte sich dazu unter dem Verständnis bereit, dass er Probleme außerhalb seines Mandats nur anhören und dazu nur allgemeine Bemerkungen machen werde. Er habe aber überall in der Welt zum Abbau von Spannungen beizutragen, dies entspreche seiner verfassungsmäßigen Verantwortung für die Verwirklichung der allgemeinen Ziele der Satzung der Vereinten Nationen. Rechtsgrundlage seines Besuchs in Peking sei daher die Satzung und nicht die ihm ein Mandat erteilende Resolution der Generalversammlung. Diese Grundlage für ein selbständiges Handeln des Generalsekretärs im Rahmen „guter Dienste“ wurde als „Peking-Formel“ bezeichnet.15 14 15

Ebd., S. 7. Ebd., S. 105.

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Hammarskjöld stützte sich auch in Gesprächen mit Südafrika über das Massaker von Sharpeville vom 21. März 1960 auf die Peking-Formel und unterstrich, dass weder China noch Südafrika dieser Formel das Interventionsverbot des Art. 2 Abs. 7 der Satzung entgegengehalten hätten.16 Keinen Erfolg hingegen hatten Hammarskjölds Bemühungen im Zusammenhang mit der Situation in Ungarn nach der Niederschlagung der Revolution von 1956, die unter Berufung auf das Interventionsverbot abgelehnt wurden. Gegen Ende seiner Tätigkeit hat sich auch Hammarskjöld die Ablehnung der Sowjetunion zugezogen, die deshalb das Amt des Generalsekretärs durch eine Generalsekretärs-Troika mit Nominierung ihrer drei Mitglieder durch die Blöcke bzw. die Blockfreien ersetzen wollte. Dieser für die unabhängige Arbeit der Vereinten Nationen wohl sehr abträgliche Vorschlag, der in totalem Gegensatz zu Hammarskjölds Amtsverständnis stand, konnte abgewehrt werden, nicht zuletzt deshalb, weil Hammarskjöld den an ihn gerichteten Rücktrittsforderungen nicht nachkam. IV. Neue Aufgaben der Vereinten Nationen Wenden wir uns nun dem Aspekt zu, in welcher innovativen Weise die Vereinten Nationen unter Generalsekretär Hammarskjöld tätig geworden sind, um ihre satzungsmäßigen Aufgaben zu erfüllen. Dabei kam es insbesondere zur Entwicklung von zwei, in der Satzung selbst nicht vorgesehen neuen Konstruktionen: dem Einsatz von UN-Truppen im Rahmen friedenserhaltender Operationen und der Schaffung von sonstigen UN-Präsenzen in bestimmten Ländern. Hammarskjöld wird deshalb manchmal als Schöpfer der friedenserhaltenden Operationen der Vereinten Nationen bezeichnet, weil er nach der SuezKrise 1956 den Einsatz der UN Emergency Force (UNEF I) vorschlug und durchsetzte. Er konnte sich dabei auf Überlegungen des damaligen kanadischen Außenministers Lester Pearson stützen. Es muss allerdings präzisiert werden, dass es schon vor UNEF I friedenserhaltende Operationen gegeben hat, insbesondere seit 1948 die UN Truce Supervision Organization (UNTSO) im Nahen Osten. UNTSO besteht aber nur aus einzelnen Miltärbeobachtern,17 nicht aus militärischen Kontingenten. Der Einsatz von UNEinheiten im Koreakrieg 1950 kann wieder nicht als friedenserhaltende Operation bezeichnet werden. UNEF war daher der erste friedenserhaltende Einsatz von UN-Truppen, und auf ihrem Vorbild aufbauend werden bis heute zahlreiche friedenserhaltende Operationen entsandt. Anders als 16 17

Ebd., S. 495. Resolution des Sicherheitsrates 50 (1948) vom 29. Mai 1948, Z. 6.

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UNEF, die auf einer Resolution der Generalsversammlung beruhte,18 werden Operationen heute in der Regel durch Resolution des Sicherheitsrats begründet, was bei UNEF nicht möglich war. Ebensowenig wie die innovativen friedenserhaltenden Operationen sind sonstige UN-Präsenzen in der Satzung der Vereinten Nationen vorgesehen. Hammarskjöld schuf aber solche, wenn ihm dies zur Friedenssicherung erforderlich schien. So setzte er u. a. 1958 ein Büro seines Sondervertreters für Jordanien in Amman ein und 1959 einen Sondervertreter für Guinea. Hammarskjöld war auch um die Abgrenzung der Aufgaben der Vereinten Nationen gegenüber den Spezialorganisationen bemüht. Er hielt die Auseinandersetzung mit den Gefahren der Verwendung der Nuklearenergie für ein so wichtiges Thema, dass er der Schaffung einer eigenen Atombehörde skeptisch gegenüberstand. Dass er sich in diesem Punkt nicht durchsetzen konnte, hat sehr wesentlich dazu beigetragen, dass Wien heute Sitz zahlreicher Internationaler Organisationen und auch einer der Amtssitze der Vereinten Nationen ist. Für Österreich ist Hammarskjöld aber vor allem jener Generalsekretär, in dessen Amtszeit wir Mitglied der Vereinten Nationen wurden und erstmals ein Kontingent zu einer friedenserhaltenden Operation, nämlich von ONUC im Kongo, entsandt haben. V. Zum Schluss Es ist bekannt, dass Hammarskjöld im Rahmen seiner Bemühungen um eine Beendigung des Bürgerkriegs im Kongo und der Sezession Katangas unter heute noch ungeklärten Umständen durch einen Flugzeugabsturz am 18. September 1961 gestorben ist. Er ist heute für seinen konsequenten Einsatz für die Ziele der Vereinten Nationen bekannt, der ihm schließlich das Leben gekostet hat. Dieser Einsatz wurde 1961 durch die posthume Verleihung des Friedensnobelpreises gewürdigt. Ich habe versucht zu zeigen, dass Hammarskjöld als Generalsekretär auf der Verwirklichung der Ziele der Satzung der Vereinten Nationen bestanden und in diesem Zusammenhang auch einige Neuerungen eingeführt hat, die noch heute für das Selbstverständnis der Vereinten Nationen als unabhängige Internationale Organisation und für ihre Aufgabenerfüllung wichtig sind. Er hat damit auch einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Völkerrechts geleistet.

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Resolution der Generalversammlung 1001 (ES-I) vom 7. November 1956.

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Literatur Hammarskjold, Dag: The United Nations, Indian Council of World Affairs, New Delhi 1956. – Zeichen am Weg. Das spirituelle Tagebuch des UN-Generalsekretärs, übersetzt von Anton Graf Knyphausen, mit einem Vorwort von Manuel Fröhlich, München 2005. Kussbach, Erich: Der Kampf um die Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen. Dag Hammarskjölds Vermächtnis, Berlin/New York 1982. Urquhart, Brian E.: Hammarskjold, London/Sydney/Toronto 1972.

Der Einfluss von Dag Hammarskjöld auf die Entwicklung des Amtes des Generalsekretärs der Vereinten Nationen Gerhard Hafner1 I. Einleitung Die Person Dag Hammarskjölds prägte sich selbst meiner Generation ein.2 Er war Generalsekretär der Vereinten Nationen (im Folgenden: „UNO“) zu einer Zeit, die für Österreich entscheidend war. Während dieser Zeit, im Jahr 1955, erlangte Österreich seine volle Souveränität, wobei zuvor Gespräche dazu in der UNO geführt wurden.3 Außerdem trat Österreich im selben Jahr der UNO bei4 und setzte große Hoffnungen in sie. Hammarskjöld war Generalsekretär, als die großen Krisen 1956 ausbrachen,5 die nicht zuletzt auch Österreich berührten, wie etwa die Vorgänge in Ungarn.6 Schließlich waren wir alle betroffen, als wir von seinem gewaltsamen Tod erfuhren.7 Seine Bedeutung für die Welt zeigte sich in der posthumen Verleihung des Nobelpreises;8 schließlich auch in zahlreichen Veröffentlichungen9 und den häufigen Veranstaltungen zu seiner Erinnerung, sowohl im 1

Für die wertvolle Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts danke ich Mag. Gregor Novak. 2 Als Dag Hammarskjöld im August 1961 starb, hatte ich erst vor kurzem mein 18. Lebensjahr vollendet. 3 Vgl. z. B. Resolution der Generalversammlung 613 (VII) vom 20. Dezember 1952 („Question of an appeal to the Powers signatories to the Moscow Declaration of 1 November 1943 for the early fulfilment of their pledges towards Austria“); vgl. auch Stourzh, Um Einheit und Freiheit. 4 Cede/Postl, Völker- und verfassungsrechtliche Aspekte der Aufnahme Österreichs in die Vereinten Nationen, S. 83; Resolution der Generalversammlung 995 (X) vom 14. Dezember 1955; Resolution des Sicherheitsrates 109 vom 14. Dezember 1955. 5 Vgl. die Verweise in Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the SecretariesGeneral, Vol. III, S. 719 zur Suez-Krise und zur Palästina-Frage. 6 Ebd., S. 719 mit Verweisen zu Ungarn. 7 Vgl. zu den Umständen seines Todes Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. V, S. 572 ff.; vgl. aber auch Williams, Who killed Hammarskjöld? 8 Jahn (Chairman of the Nobel Committee), Award Ceremony Speech.

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Rahmen der UNO,10 als auch auf nationaler Ebene oder auf privater Initiative.11 Die hohe Anerkennung seines Wirkens fand auch ihren Ausdruck in der Benennung der UNO-Bibliothek in New York nach ihm.12 Diese Anerkennung resultierte aus seiner Tätigkeit als Generalsekretär der UNO. Auf diesem Posten konnte er seine Persönlichkeit voll zur Wirkung bringen, und es gelang ihm dabei, Akzente zu setzen, die bis heute diese Funktion prägen.13 II. Das Amt des Generalsekretärs Das Amt des Generalsekretärs und dessen Wahrnehmung sind vor allem von drei Größen bestimmt: dem politischen Umfeld, den rechtlichen Rahmenbedingungen dieses Amtes und der Persönlichkeit des Amtsträgers. 1. Das politische Umfeld Hammarskjöld amtierte als Generalsekretär der UNO von April 1953 bis zu seinem Tod im September 1961. In dieser Zeit fanden gewaltige Umwälzungen der politischen Landschaft in und um die UNO statt. Die Dekolonisation sowie auch andere Umstände bewirkten ein gewaltiges Anwachsen der Mitgliederzahl dieser Organisation: im Jahre 1953 hatte sie 60 Mitglieder, Ende 1961 jedoch schon 104 Mitglieder, also fast die doppelte Anzahl.14 Insbesondere zwei Gruppen von Staaten traten damals der Organisa9 Dag Hammarskjöld Library/Dag Hammarskjöld Foundation (Hrsg.), Dag Hammarskjold. 10 Vereinte Nationen, Dag Hammarskjöld (abrufbar unter: http://www.un.org/ depts/dhl/dag/legacy.htm). 11 Vgl. ebd.; sowie insbesondere in Schweden vgl. etwa die Veranstaltungen der Dag Hammarskjöld Stiftung (abrufbar unter: http://www.dhf.uu.se/events/publicevents, zuletzt besucht im März 2012). 12 Hammarskjöld/Thant/Cordier (Hrsg.), The Dag Hammarskjold Library. 13 Vgl. z. B. Urquhart, The Evolution of the Secretary-General, S. 23: „[Dag Hammarskjöld] left behind principles, precedents, practices, achievements, and a whole literature of speeches and documents on the philosophy as well as the conduct of international affairs. This legacy describes a view of the present and a vision of the future that has guided his successors ever since. Hammarskjöld transformed the role of Secretary-General into the active, diplomatic, political, moderating, and negotiating office that it has remained ever since.“) 14 Während der Amtszeit Dag Hammarskjölds als Generalsekretär traten folgende Staaten der UNO bei: Albanien (1955), Österreich (1955), Bulgarien (1955), Kambodscha (1955), Finnland (1955), Ungarn (1955), Irland (1955), Italien (1955), Jordanien (1955), Laos (1955), Libyen (1955), Nepal (1955), Portugal (1955), Rumänien (1955), Spanien (1955), Sri Lanka (1955), Japan (1956), Marokko (1956), Tunesien (1956), Ghana (1957), Malaysia (1957), Guinea (1958), Benin (1960),

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tion bei: einerseits vor allem im Jahre 1955 einige Staaten des kommunistischen Blocks sowie neutrale oder paktfreie Staaten, andererseits in weiterer Folge die im Rahmen der Dekolonisation unabhängig gewordenen Entwicklungsländer. Diese Änderung der Mitglieder schuf neue politische Bedingungen für die Arbeit der UNO und in ihr. Der sowjetische Block wurde größer, doch änderte sich gleichzeitig der Charakter der Ost-West-Beziehungen: Unmittelbar nach 1945 hatte die Sowjetunion noch Hoffnungen in die UNO gesetzt und war mit positiven Erwartungen an sie herangegangen.15 Mit der zunehmenden Schärfe des Kalten Kriegs ab ca. 1948, schließlich auch als Folge der Koreakrise und der „Uniting for Peace“-Resolution16 nahm die Sowjetunion zur Zeit des Amtsantritts Hammarskjölds eine abwehrende Haltung der UNO gegenüber ein, die sich nicht zuletzt auch darin äußerte, dass sie die UNO nicht als Organisationseinheit akzeptierte.17 Allerdings wich etwa nach dem Tode Stalins im März 1953 diese Haltung allmählich einer positiveren Einschätzung zur UNO, im Unterschied zum Generalsekretär, dem gegenüber Kritik ausgeübt wurde.18 Diese neue Position der Sowjetunion war auch vom aufkommenden Gedanken der friedlichen Koexistenz der Staaten gezeichnet, die aus dem indisch-chinesischen Vertrag von 1954 abgeleitet wurde.19 Mit diesem Ansatz wurde die Trichotomie des Völkerrechts begründet, wonach es aus dem kapitalistischen VölkerBurkina Faso (1960), Kamerun (1960), Zentralafrikanische Republik (1960), Tschad (1960), Kongo (DRK) (1960), Elfenbeinküste (1960), Zypern (1960), Gabun (1960), Madagaskar (1960), Mali (1960), Niger (1960), Nigeria (1960), Senegal (1960), Somalia (1960), Sudan (1956), Togo (1960). Die Anzahl der UNO-Mitglieder wuchs auch nach Hammarskjölds Amtszeit; so hatte die UNO Ende 2011 194 Mitglieder. 15 Vgl. mit weiteren Quellen Hafner, The Legal Personality of International Organizations, S. 88–90. 16 Resolution der Generalversammlung 377 (V) vom 3. November 1950. Mit dieser Resolution behielt sich die Generalversammlung vor, notwendige kollektive Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu beschließen, falls der Sicherheitsrat seine primäre Verantwortung nicht wahrnimmt; vgl. ebd., Z. 1: „Resolves that if the Security Council, because of lack of unanimity of the permanent members, fails to exercise its primary responsibility for the maintenance of international peace and security in any case where there appears to be a threat to the peace, breach of the peace, or act of aggression, the General Assembly shall consider the matter immediately with a view to making appropriate recommendations to Members for collective measures, including in the case of a breach of the peace or act of aggression the use of armed force when necessary, to maintain or restore international peace and security.“ 17 Vgl. Hafner, The Legal Personality of International Organizations, S. 90. 18 Vgl. Urquhart, The Evolution of the Secretary-General, S. 22–23. 19 Agreement on Trade and Intercourse between Tibet Region of China and India, unterzeichnet am 29. April 1954, in Kraft getreten am 3. Juni 1954, 299 UNTS 70.

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recht, dem die beiden politischen Systeme verbindenden Völkerrecht der friedlichen Koexistenz sowie jenem der sozialistischen Staaten bestand.20 Auch von sowjetischer Seite war somit anerkannt, dass es friedliche Beziehungen zwischen West und Ost geben könne, wenn nicht sogar müsse, um einen alles zerstörenden Einsatz von atomaren Waffen, über die zu dieser Zeit beide Seiten verfügten, zu vermeiden.21 Die Sowjetunion verwendete somit die UNO als Verhandlungsforum, mit der Wirkung, dass einerseits die Organisation einen bedeutenderen Platz als selbständiger Akteur in den internationalen Beziehungen einnehmen konnte, andererseits aber somit alle Probleme in der UNO auch von der sowjetischen Position bestimmt wurden. Gleichzeitig brachte es die zunehmende Zahl der Mitgliedsstaaten mit sich, dass sich die Sowjetunion bei Abstimmungen in der Generalversammlung im Gegensatz zu früher immer eher in der Mehrheit fand. Die UNO profitierte von dieser Änderung, da sie als hauptsächliches Instrument der friedlichen Koexistenz galt. Die zweite große politische Änderung zur Amtszeit Hammarskjölds wurde durch das allmähliche Ende des Kolonialismus und das Aufkommen der Entwicklungsländer als unabhängige Staaten veranlasst, wie es sich z. B. schon in der Mau Mau-Bewegung in Kenia angekündigt hatte.22 Die große Aufnahmewelle von Entwicklungsländern in die UNO23 schuf ganze neue Verhältnisse und Mehrheitsbedingungen in der Generalversammlung. Diese insbesondere aus afrikanischen Staaten bestehende und um die Anerkennung ihrer vor allem wirtschaftlichen Probleme ringende Staatengruppe konnte nicht mehr vernachlässigt werden. Nicht zuletzt bestanden aber selbst nach dem Erwerb der Selbständigkeit weiterhin in gewissen Bereichen neokoloniale Strukturen, die sich zugunsten der früheren Kolonialmächte auswirkten.24 Der dadurch aufbrechende Nord-Süd-Konflikt blieb aber nicht losgelöst vom Ost-West- Konflikt, sondern wurde in diesen insofern involviert, als sich die Ost-West-Spannungen auch in den Entwicklungsländern manifestierten.25 Schließlich stand das Problem des Nahen Os20 Vgl. Hafner, Die permanente Neutralität in der sowjetischen Völkerrechtslehre, S. 215–258. 21 Vgl. mit weiteren Quellen z. B. Singh/McWhinney, Nuclear Weapons and Contemporary International Law, S. 223 f. 22 Branch, Defeating Mau Mau, Creating Kenya. Counterinsurgency, Civil War, and Decolonization. 23 Vgl. oben Fn. 14. 24 Kämmerer, Colonialism, Rn. 3. Kämmerer definiert Neokolonialismus mit Verweis auf Susan Demeske als „any form of alien economic, political or cultural domination in present international relations that resembles classic colonialism“. 25 Vgl. etwa Nolte, Eingreifen auf Einladung, S. 16 („Der Kalte Krieg war von Beginn an durch sog. Stellvertreterkriege gekennzeichnet, in denen ‚Befreiungs-‘

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tens im Brennpunkt der politischen Agenda der UNO seit 1949, dem Zeitpunkt der Gründung Israels.26 Diese Änderungen reflektierten sich auch in den Krisen, mit denen die UNO zur Amtszeit Hammarskjölds und somit auch der Generalsekretär selbst konfrontiert waren: – 1954 endeten der Erste Indochina-Krieg mit der Niederlage Frankreichs und einem Waffenstillstandsabkommen27 sowie der Kaschmirkonflikt mit der Folge der Aufteilung dieses Gebietes zwischen Indien und Pakistan.28 – 1956 führten die Aktionen Frankreichs und Großbritanniens als Folge der Verstaatlichung des Suezkanals29 sowie die militärische Tätigkeit Israels30 zu krisenhaften Situationen. Europa wurde von den Vorgängen des ungarischen Aufstandes und dessen Niederschlagung durch die Sowjetunion erschüttert.31 – 1954 wurde Guatemala Opfer von militärischen Aktionen, die durch Agenten der CIA über Stützpunkte in Honduras und Nicaragua finanziert und organisiert wurden.32 Das Problem China manifestierte sich in Klagen Burmas über in ihrem Territorium befindliche Truppen der Kuomintang33 sowie in der Geiselhaft von US-Piloten in China.34 bzw. ‚Freiheitskämpfer‘ die Regierung eines Staates unter Berufung auf die Ideologie einer der beiden führenden Mächte mit dem Ziel bekämpften, das staatliche politische System in ihrem Sinn zu verändern und selbst die Macht zu übernehmen.“; vgl. eine Aufzählung bei Afsah, Cold War (1947–91), Rn. 26 („Because direct confrontations were too dangerous, both superpowers contested their resolve in a number of costly interventions and proxy wars, notably from 1956–73/90 in the Middle East, from 1960–73 in Vietnam and Cambodia, from 1961–90 in Angola, Mozambique, and Namibia, from 1962–91 in the Horn of Africa, 1965 in the Dominican Republic, 1965 in Indonesia, 1970–73 in Chile, and throughout the period in Latin America.“). 26 Vgl. z. B. Sachar, A History of Israel, „United Nations“ im Index, S. 1145 f. 27 Agreement on the Cessation of Hostilities in Vietnam, unterzeichnet am 20. Juli 1954, in Kraft getreten am 22. Juli 1954, 935 UNTS 149. 28 Vgl. Hönig, Der Kaschmirkonflikt und das Recht der Völker auf Selbstbestimmung. 29 Vgl. oben Fn. 5. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. oben Fn. 6; vgl. auch z. B. Judt, Postwar, S. 313–318. 32 Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. II, S. 325, mit einem Verweis auf Claude, Inis L., The OAS, the UN, and the United States, Carnegie Endowment for International Peace, 1964, S. 32. 33 Annual Report of the Secretary-General on the Work of the Organization, 1 July 1953–30 June 1954, UN Doc. A/2663, S. 16 f. 34 Vgl. Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. II, S. 415–459, 469–474.

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– 1958 kam es zu militärischen Konflikten in Libanon und Jordanien.35 – 1960 wurden nach der Unabhängigkeit Kongos die UNO um Unterstützung gegen belgische Truppen ersucht, wobei Premierminister Patrice Lumumba, Präsident Joseph Kasavubu sowie der Vorsitzende der Provinz Katanga, Moïse Tschombé, im Zentrum der Auseinandersetzungen standen.36 2. Die Persönlichkeit Dag Hammarskjölds Schweden hatte Hammarskjöld zum Generalsekretär der UNO nicht vorgeschlagen und kein Lobbying betrieben, geschweige denn er selbst.37 Er wurde von Frankreich und Großbritannien aufgrund seiner Tätigkeit in den OEEC-Verhandlungen als möglicher Kandidat ins Spiel gebracht.38 Allerdings kann nicht behauptet werden, dass er wenige Erfahrungen in politischen Aktivitäten hatte. Seine Familie war schon Anfang des 17. Jh. wegen des Mutes und Einsatzes seines Vorfahren geadelt worden (woraus auch das Familienwappen resultierte).39 Sein Vater Hjalmar, ein Professor der Rechte, war Teilnehmer an der Konferenz in Den Haag 1907 und während des Ersten Weltkriegs Ministerpräsident Schwedens, der die Neutralität selbst unter Hinnahme von Opfern verteidigte.40 Sein Bruder Åke war ein ausgewiesener Völkerrechtler, schließlich Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof und Mitglied des Institut de Droit International.41 Hammarskjölds grundlegende Auffassung über die Berufung des Menschen wird in seiner eigenen Aussage aus 1953 am deutlichsten: „Von meinen Vorfahren väterlicherseits, den Soldaten und Beamten, habe ich den Glauben geerbt, dass kein Leben befriedigender war als jenes, das im selbstlosen Dienst für das eigene Land – oder für die Menschheit – gelebt wurde. Dieser Dienst verlangte das Opfer aller persönlichen Interessen, aber ebenso den Mut, unbeugsam für die eigenen Überzeugungen einzustehen. Von meinen Vorfahren mütterlicherseits, den Gelehrten und Geistlichen, habe ich den Glauben geerbt, dass alle Menschen gemäß der radikalsten Auslegung des Evangeliums als Kinder 35

Vgl. ebd., Vol. IV, S. 96–151. Vgl. ebd., Vol. V, S. 16–20 und ff. 37 Vgl. Urquhart, The Evolution of the Secretary-General, S. 19. 38 Vgl. Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. II, S. 5–7. 39 Steiner, Die Vereinten Nationen unter Dag Hammarskjöld, S. 51. 40 Ebd., S. 53. 41 Biographical Notes concerning Members of the Court: M. Åke Hammarskjöld, Member of the Court, in: Thirteenth Annual Report of the Permanent Court of International Justice (15 June 1936–15 June 1937), A. W. Sijthoff’s Publishing Company, 1937, S. 25 f. 36

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Gottes gleich sind und von uns als unsere Brüder in Gott behandelt werden sollten. In dieser Weise haben wir ihnen zu begegnen.“42

Seine Befassung mit Religion brachte ihn auch dazu, im Hauptgebäude der Vereinten Nationen in New York einen eigenen bis heute bestehenden Meditationsraum einzurichten, „wo die Tore zu dem unendlichen Land der Gedanken und der Gebete offen stehen mögen“,43 unabhängig von der Religion des oder der Einzelnen. Diese Pflichterfüllung und Prinzipientreue, gepaart mit dem Gefühl, eine von ihm geführte Aktion sei unbedingt notwendig und müsse rasch erfolgen, prägte seine Auffassung von der Erfüllung seines Amtes.44 Nicht zuletzt wurde ihm auch eine Art Christus-Komplex nachgesagt,45 wonach es an ihm sei, die entsprechenden Maßnahmen zur Lösung einer Konfliktsituation zu setzen. Darüber hinaus nahm er auch die Verpflichtung zur Unparteilichkeit mit; schließlich war er in Schweden Minister ohne Portefeuille und Parteizugehörigkeit gewesen. Das Beamtentum habe sich seiner Ansicht nach neutral zu verhalten.46 Dies müsse auch für die Beamten internationaler Organisationen gelten. 42

Auf Englisch zitiert in Haberman (Hrsg.), Nobel Lectures: Peace 1951–1970, S. 252. 43 Vgl. „Dag Hammarskjöld: ‚A Room of Quiet‘: The Meditation Room, United Nations Headquarters“ (abrufbar unter http://www.un.org/depts/dhl/dag/meditation room.htm, zuletzt besucht im März 2012). 44 So schreibt Wallensteen, Dag Hammarskjöld, S. 25, dass Hammarskjöld „von einem persönlichen Willen zu raschem Handeln getrieben [war]. Das entsprach seinem Charakter.“ Selbst habe Hammarskjöld gesagt: „Die Pflichten des Generalsekretärs kann man nicht einfach beiseite schieben, nur weil die durch ihn erfolgte Durchführung gefaßter Beschlüsse politisch kontrovers werden könnte. Der Generalsekretär hat stets die Pflicht, die Politik zu verwirklichen, die die Organe beschlossen haben; es ist jedoch eine wesentliche Forderung, daß er dieses nur auf der Grundlage seiner internationalen Verantwortung tut und nicht im Interesse eines besonderen Staates oder einer Staatengruppe.“ (ebd., S. 39). 45 Der Spiegel, 31/1965 (abrufbar unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/ d-46273581.html, zuletzt besucht im März 2012). In diesem Artikel wird auch Selbstmord als mögliche Todesursache Hammarskjölds diskutiert; vgl. auch eine entsprechende Erwähnung in Williams, Who killed Hammarskjöld?, S. 108. 46 Zwei Wochen nach seiner Vorlesung „The International Civil Servant in Law and in Fact“ an der Universität Oxford vom 30. Mai 1961 wurde Hammarskjöld am 12. Juni 1961 auf einer Pressekonferenz in New York gefragt, was er über „the possibility of the freedom of the individual from dependence on ideologies or loyalties to one particular country“ denke. Hammarskjöld antwortete wie folgt: „[. . .] It may be true that in a very deep, human sense there is no neutral individual, because [. . .] everyone, if he is worth anything, has to have his ideas and ideals – things which are dear to him, and so on. But what I do claim is that even a man who is in that sense not neutral can very well undertake and carry through neutral actions, because

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3. Die rechtlichen Parameter Der Generalsekretär der UNO ist ein Geschöpf der Dumbarton OaksKonferenz,47 deren Vorschläge betreffend die Stellung dieses Amtsträgers in Jalta nur wenige Änderungen erfuhren.48 Allerdings war sich Hammarskjöld dessen bewusst, dass ursprünglich auch mit dem Präsidenten der USA vergleichbare Funktionen damit hätten verbunden sein sollen, doch nicht akzeptiert worden waren.49 Die Funktionen des Generalsekretärs sind hauptsächlich in den Art. 97–100 der Satzung der Vereinten Nationen (SVN) dargelegt, doch finden sich besondere Funktionen auch in anderen Artikeln erwähnt, wie z. B. Art. 12 Abs. 2 SVN, wonach der Generalsekretär die Generalversammlung über alle Fragen, mit denen der Sicherheitsrat befasst ist, mit Zustimmung desselben zu informieren hat.50 Außerdem hat er jene Aufgaben wahrzunehmen, die ihm von der Generalversammlung oder dem Sicherheitsrat übertragen werden.51 that is an act of integrity. That is to say, I would say there is no neutral man, but there is, if you have integrity, neutral action by the right kind of man. And ‚neutrality‘ – may develop, after all, into a kind of jeu de mots. I am not neutral as regards the Charter; I am not neutral as regards facts. But that is not what we mean. What is meant by ‚neutrality‘ in this kind of debate is, of course, neutrality in relation to interests; and there I do claim that there is no insurmountable difficulty for anybody with the proper kind of guiding principles in carrying through such neutrality one hundred percent.“ (vgl. Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. V, S. 492). 47 Fiedler, Article 97, S. 1196 f.; vgl. auch den Bericht A. Gromykos an das Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten der UdSSR vom 7. September 1944, in: Sovetskij Soiuz na medunarodnych konferencijach perioda velikoj otevoiny 1941–1945 gg; tom III Konferencij predstabiteleij SSSR, SA i Velikobritanii v Dumbarton-Okse, Moskau 1978, S. 173. 48 Fiedler, Article 97, S. 1197 f. 49 Lash, Dag Hammarskjöld’s Conception of His Office, S. 548. 50 Art. 12 Abs. 2 SVN bestimmt: „Der Generalsekretär unterrichtet mit Zustimmung des Sicherheitsrats die Generalversammlung bei jeder Tagung über alle die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betreffenden Angelegenheiten, die der Sicherheitsrat behandelt; desgleichen unterrichtet er unverzüglich die Generalversammlung oder, wenn diese nicht tagt, die Mitglieder der Vereinten Nationen, sobald der Sicherheitsrat die Behandlung einer solchen Angelegenheit einstellt.“ 51 Art. 97 SVN bestimmt: „Das Sekretariat besteht aus einem Generalsekretär und den sonstigen von der Organisation benötigten Bediensteten. Der Generalsekretär wird auf Empfehlung des Sicherheitsrats von der Generalversammlung ernannt. Er ist der höchste Verwaltungsbeamte der Organisation.“ Art. 98 SVN bestimmt: „Der Generalsekretär ist in dieser Eigenschaft bei allen Sitzungen der Generalversammlung, des Sicherheitsrats, des Wirtschafts- und Sozialrats und des Treuhandrats tätig und nimmt alle sonstigen ihm von diesen Organen zugewiesenen Aufgaben wahr. Er erstattet der Generalversammlung alljährlich über die Tätigkeit der Organi-

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Seine Aufgaben sind insbesondere verwaltungstechnischer und politischer Natur, können jedoch noch weiter unterteilt werden in allgemeine verwaltungs- und Ausführungsaufgaben, technische Aufgaben, Aufgaben der Finanzverwaltung, Organisation und Verwaltung des Sekretariats, politische Aufgaben und Repräsentationsaufgaben.52 Es seien hier nicht alle Funktionen des Sekretariats und des Generalsekretärs untersucht, sondern lediglich solche, die entscheidend für die Würdigung der Tätigkeit Dag Hammarskjölds sind. Im politischen Bereich ist es gemäß Art. 99 SVN Aufgabe des Generalsekretärs, die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrates auf jede Angelegenheit zu lenken, die nach seinem Dafürhalten geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden. Gemäß dem Bericht der Vorbereitungskommission sollte der Generalsekretär auch als „mediator and . . . informal adviser of many Governments“ agieren,53 zuzüglich aber noch als Initiator für Tätigkeiten des Sicherheitsrates. Dieser Bericht stellte zu dieser Funktion fest: „It is impossible to foresee how this Article will be applied; but the responsibility it confers upon the SG will require the exercise of the highest qualities of the political judgment, tact and integrity.“54

Im administrativen Bereich wurde Art. 100 SVN für Hammarskjöld von Bedeutung. Diese Bestimmung sichert das internationale Mandat des Sekretariats und Generalsekretärs, da es ihm wie auch den anderen Mitgliedern des Sekretariats verwehrt ist, Weisungen von außerhalb der Organisation zu erbitten oder entgegenzunehmen. Sie haben in voller Unabhängigkeit zu agieren. Gleichzeitig haben die Mitgliedstaaten diese Unabhängigkeit zu achten. Diese Bestimmung sichert somit die Selbständigkeit der Organisation und ihre Fähigkeit, als selbständiger Akteur auftreten und als solcher wahrgenommen werden zu können. III. Die Tätigkeit Dag Hammarskjölds Der bis heute währende Einfluss Hammarskjölds auf das Amt des Generalsekretärs kann auf drei Bereiche fokussiert werden: die Unabhängigkeit der UNO im administrativ-personellen Bereich, die präventive Diplomatie und die Friedenserhaltenden Operationen im politischen Bereich. sation Bericht.“; vgl. außerdem Fiedler, Article 97, S. 1191 ff.; ders., Article 98, S. 1205 ff. 52 Ebd., S. 1195 f., S. 1206–1216. 53 Report of the Preparatory Commission of the United Nations: Committee Structure of the General Assembly, 23 December 1945, PC/20. 54 Ebd.

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1. Die Unabhängigkeit der UNO In der Zeit des vorherigen Generalsekretärs, Trygve Lie, hatten die USA unter Einfluss des Senators McCarthy ihre Staatsbürger, die in den Vereinten Nationen arbeiten wollten, einem Loyalitätsverfahren unterworfen.55 Die dadurch verursachte Vertrauenskrise war einer der Gründe für das Zurücktreten Trygve Lies.56 Hammarskjöld war jedoch bestrebt, jeden nationalen Einfluss auf die UNO auszuschalten, um dieser Organisationen einen wahrhaft internationalen Status verleihen zu können. Denn lediglich unter diesen Umständen könnte sie ihren Funktionen in unparteiischer Weise nachkommen. Die Beamten sollten deshalb nur der Organisation und nicht ihren Heimatstaaten verpflichtet sein, anders somit, als ursprünglich etwa Jugoslawien oder praktisch auch die Sowjetunion es sahen.57 Hammarskjölds erste Maßnahme gegen den McCarthyismus war es, die FBI-Beamten aus der UNO zu entfernen.58 In weiterer Folge konnte er die Maßnahmen des Senats gegen Beamte der UNO abwehren. Inspiriert war er insbesondere auch von Art. 101 SVN, wonach das Personal der UNO allein dem Generalsekretär unterstellt ist. Ihm allein kommen die Rechtssetzungsund Verwaltungsbefugnisse hinsichtlich der Beamten zu. Hammarskjöld nützte diese Kompetenz auch aus, um als erster Generalsekretär das Sekretariat zugunsten erhöhter Effizienz umzustrukturieren.59 Die Generalversammlung billigte diese Vorgangsweise und verwies lediglich noch auf den 5. Ausschuss der Generalversammlung60 und das Advisory Committee on Administrative and Budgetary Questions (ACABQ). Dieser Grundsatz der Unparteilichkeit und Loyalität allein gegenüber der Organisation wie auch die Trennung von den Staaten, insbesondere den Heimatstaaten der jeweiligen Beamten, blieb für die UNO bis heute bestimmend. Dies kam auch in jüngerer Zeit zur Geltung, als den Beamten auch finanzielle Unterstützung seitens ihrer Heimatstaaten untersagt wurde.

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Vgl. Urquhart, The Evolution of the Secretary-General, S. 18. Ebd., S. 18. 57 Vgl. Trinh, The Bully Pulpit, S. 115; vgl. außerdem die entsprechenden Aussagen Hammarskjölds oben Fn. 46. 58 Vgl. Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. II, S. 110–167 zu „Measures Clarifying Personnel Policy“. 59 Vgl. ebd., Vol. II, S. 168–193 zu „Organization of the Secretariat“. 60 Dieser Ausschuss ist der Budgetausschuss; vgl. Verfahrensregeln der Generalversammlung (Rules of Procedure of the General Assembly), UN Doc. A/520/ Rev. 15, S. 22 (abrufbar unter http://www.un.org/ga/59/ga_rules.html, zuletzt besucht im März 2012). 56

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2. Friedenserhaltende Truppen Als Hammarskjöld am 7. April 1953 zum Generalsekretär bestellt wurde, war der Koreakrieg voll entbrannt, war die UNO unter dem Banner des Kalten Kriegs und boykottierte die Sowjetunion diese Organisation nicht zuletzt auch wegen der Weigerung, das Regime der Volksrepublik China anzuerkennen. Die Erfolgsaussichten für die UNO waren dadurch sehr in Frage gestellt. 1956 brach in Verbindung mit den französisch-britischen Reaktionen auf die Verstaatlichung des Suezkanals der Krieg zwischen Israel und Ägypten aus.61 Wegen der verschiedenen britisch-französischen Vetos gegen die unterschiedlichen Resolutionsentwürfe war der Sicherheitsrat gelähmt,62 sodass die Angelegenheit in die Generalversammlung gebracht wurde, wo Forderungen nach Feuereinstellung, dem Rückzug der Truppen der drei Staaten und nach Wiedereröffnung des Suezkanals erhoben wurden.63 Der kanadische Außenminister Lester Pearson schlug die Schaffung einer Truppe der UNO vor.64 Nach anfänglichem Zögern griff Hammarskjöld diese Idee auf und entwickelte innerhalb weniger Tage ein Konzept, das dieser Truppe zugrunde gelegt werden konnte.65 Insbesondere lehnte er die Einbeziehung von britischen und französischen Truppen entschieden ab,66 womit er den Grundstein für eine lange Praxis der UNO schuf, wonach die Truppen der UNO vor allem von paktfreien kleineren und mittleren Staaten bereit gestellt werden und jedenfalls nicht die Großmächte involvieren sollten.67 Die UNO verfolgte diese Strategie jedenfalls bis zur gewaltigen Änderung der politischen Verhältnisse nach dem Ende des Ost-West-Konflikts um 1990. Die Schaffung derartiger Truppen ist aber in der SVN selbst nicht vorgesehen. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die Gründung der friedenserhaltenden Truppen (damals noch „emergency force“ – UNEF – benannt) 61 Vgl. Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. III, S. 110–167. 62 Resolution des Sicherheitsrates 119 on an emergency special session of the General Assembly on the Suez question vom 31. Oktober 1956. 63 Resolution der Generalversammlung 997 (ES-I) vom 2. November 1956, GAOR First Emergency Special Session Supp. 1, 2. 64 Generalversammlung, Official Records of First Emergency Special Session, 563rd Plenary Meeting, 3. November 1956, UN Doc. A/PV.563 (Statement of Mr. Pearson, Canada), S. 54 f. 65 Vgl. Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. III, S. 315–392, insb. 343 f. 66 Ebd. 67 Ebd.

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nicht zuletzt auch durch den Internationalen Gerichtshof beeinflusst war, der in seinem Gutachten Reparation for Injuries mit der von der Verfassung der USA inspirierten implied powers-Lehre den Vereinten Nationen Kompetenzen zuschrieb, die in der SVN selbst nicht vorgesehen sind.68 Wenn auch zuvor schon die UNO Militärbeobachter entsendet hatte,69 so war es nunmehr das erste Mal, dass sie Kampftruppen entsendete – dies allerdings mit einer überraschenden Geschwindigkeit, wozu nicht zuletzt auch Hammarskjölds Persönlichkeit wesentlich beitrug. Er war ein Mann, der unbedingt ein Tätigwerden forderte und der sich, nachdem er sich bewusst war, an der Spitze der UNO zu stehen, dafür verantwortlich fühlte, dass diese als Akteur und nicht bloß als Forum der Diskussionen fungieren sollte. Es war auch eines der wenigen Male, dass die Generalversammlung ihm den Auftrag erteilte, eine derartige Truppe unter Leitung der UNO zusammenzustellen. Darüber hinaus wurde er selbst beauftragt, Richtlinien für die Verwendung dieser Truppen zu erarbeiten und Frankreich und Großbritannien zum Rückzug ihrer Truppen zu bewegen.70 Hammarskjöld gelang es, innerhalb von 24 Stunden die Regeln für die UNEF zu erarbeiten und der Generalversammlung vorzulegen.71 Wenn er auch die Hilfe des Inders Arthur Lall, des Norwegers Hans Engen und des Kolumbianers Francisco Urrutia erhielt, war er doch die treibende Kraft dahinter.72 Die „Regulations for the United Nations Emergency Force“ (im Folgenden: „Richtlinien“),73 ein Bulletin des Generalsekretärs, wurden das tragende Element der zukünftigen friedenserhaltenden Truppen. Sie waren von fünf Prinzipien geleitet, die zuvor im Zweiten Bericht des Generalsekretärs über die Durchführbarkeit einer UNO-Truppe erläutert wurden:74 1. Die UNEF war von der Zustimmung der betroffenen Staaten hinsichtlich der Dislozierung und des Einsatzes abhängig; 2. die Operationen stellten keine Durchsetzungsmaßnahme dar; 68 Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations (Advisory Opinion), ICJ Reports 1949, 174; vgl. auch Bothe, Peace-Keeping, S. 648–700. 69 Ebd., S. 665. 70 Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. III, S. 343 f. 71 Ebd., S. 329–333. 72 Ebd. 73 Regulations for the United Nations Emergency Force, 20. Februar 1957, UN Doc. ST/SGB/UNEF/1. 74 Vgl. Second Report of the Secretary-General on the Feasibility of a UN Emergency Force, 6. November 1956, UN Doc. A/3302; Bellamy/Williams, Understanding Peacekeeping, S. 177 f.

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3. die militärischen Aufgaben waren beschränkt; 4. die Operationen durften das militärische Kräftegleichgewicht der in den Konflikt involvierten Parteien nicht beeinflussen, und 5. der Einsatz war zeitlich begrenzt. Die Kommandostruktur war gemäß den Richtlinien dergestalt, dass die Generalversammlung zwar selbst den Kommandanten bestellte. Die „chain of command“ ging jedoch vom Generalsekretär nicht an nationale, sondern an diesen Kommandanten, um den internationalen Charakter der Kräfte zu wahren. Punkt 6 der Richtlinien unterstreicht den internationalen Charakter der UNEF und ihre Errichtung als Unterorgan der Vereinten Nationen: „The members of the Force, although remaining in their national service, are, during the period of their assignment to the Force, international personnel under the authority of the United Nations and subject to the instructions of the Commander through the Chain of command. The functions of the Force are exclusively international and members of the Force shall discharge these functions and regulate their conduct with the interest of the United Nations only in view.“75

Die Autorität wurde zwischen dem Generalsekretär und dem Kommandanten geteilt. Jener wurde für Verwaltungsangelegenheiten, finanzielle und Exekutivaufgaben sowie für Verhandlungen und den Abschluss von Abkommen mit den betroffenen Staaten zuständig, während die militärischen Aufgaben in den Aufgabenbereich des Kommandanten fielen. Diese Aufgabenteilung besteht bis heute.76 Zwar musste Hammarskjöld nicht nur die Zustimmung des betroffenen Staates einholen, sondern gleichzeitig auch die truppenstellenden Staaten engagieren, doch konnte die UNEF innerhalb kürzester Zeit zum Einsatz gebracht werden, obwohl auch noch Ägyptens Zustimmung zu gewinnen war. Der UNEF gelang es auch, die meisten ihrer Aufgaben (Kontrolle des militärischen Rückzugs, Räumung des Suezkanals, Einhaltung des Waffenstillstands) innerhalb kürzester Zeit zu erfüllen.77 Dieser Erfolg ist nicht zuletzt Hammarskjölds Charakter und Amtsauffassung zuzuschreiben, die ihm geboten, in voller Verantwortung für die ihm 75

Regulations for the United Nations Emergency Force (Fn. 73), S. 2. UNDPKO/UNDFS, Policy on Authority, Command and Control in United Nations Peacekeeping Operations („Command and Control Policy“), 15. Februar 2008; vgl. auch Bellamy/Williams, Understanding Peacekeeping, S. 179. 77 Report of the Secretary-General, Summary Study of the Experience Derived from the Establishment and Operation of the Force, 9. Oktober 1958. UN Doc. A/3943; vgl. auch Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. IV, S. 227–295. 76

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gestellte Aufgabe effizient tätig zu werden und als Generalsekretär der UNO im Dienste dieser Organisation und zugunsten deren Autorität zu wirken. Mit der UNEF war ein neuer Typ von UNO-Aktivitäten entstanden, in die der Generalsekretär zentral eingeschaltet war. Diese von Hammarskjöld ausgearbeiteten Grundelemente der friedenserhaltenden Truppen lenkten die weiteren Operationen der UNO, bis sie angesichts der inzwischen gewaltig geänderten politischen Rahmenbedingungen unter anderem durch den Brahimi Report78 abgelöst wurden.79 4. Die präventive Diplomatie Die politischen Funktion des Generalsekretärs beschränken sich gemäß der SVN in einem engen Verständnis insbesondere auf die Informationsbeschaffung und, neben den ihm besonders übertragenen Angelegenheiten, darauf, die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrates auf jede Angelegenheit zu lenken, die nach seinem Dafürhalten geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden.80 Gleichzeitig hat er die Generalversammlung mit Zustimmung des Sicherheitsrats davon zu unterrichten, ob Angelegenheiten des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit vom Sicherheitsrat behandelt werden.81 Hammarskjöld interpretierte diese Kompetenzen in extensiver Weise, offenbar wieder aus seinem Verständnis der Funktion der UNO, der Stellung des Generalsekretärs darin und seiner besonderen Aufgaben heraus. Für ihn sollte diese Organisation einen selbständigen Akteur in den internationalen Beziehungen und nicht 78 Sicherheitsrat, Report of the Panel on United Nations Peace Operations, 17. August 2000, in „Identical Letters Dated 21 August 2000 from the SecretaryGeneral to the President of the General Assembly and the President of the Security Council“, UN Doc. S/2000/809. 79 Vgl. auch UN Peacekeeping Best Practices Unit/UNDPKO, Handbook on United Nations Multidimensional Peacekeeping Operations, Dezember 2003. Das Handbuch basiert unter anderem auf dem Brahimi Report. Vgl. außerdem Agenda for Peace: Preventive Diplomacy, Peacemaking and Peace-Keeping, Report of the Secretary-General pursuant to the Statement Adopted by the Summit Meeting of the Security Council on 31 January 1992, 17. Juni 1992, UN Docs. S/24111 and A/47/ 277; Report of the Secretary-General on the Work of the Organization: Supplement to An Agenda for Peace: Position Paper of the Secretary-General on the Occasion of the Fiftieth Anniversary of the United Nations, 25. Januar 1995, UN Docs. A/50/ 60 and S/1995/1; UNDPKO/UNDFS, A New Partnership Agenda: Charting a New Horizon for UN Peacekeeping, Juli 2009; Report of the Secretary-General, Implementation of the Recommendations of the Special Committee on Peacekeeping Operations, 22. Dezember 2009, UN Doc. A/64/573; UNDPKO/UNDFS, The New Horizon Initiative: Progress Report No. 1, Oktober 2010. 80 Vgl. Art. 99 SVN. 81 Art. 12 Abs. 2 SVN; vgl. oben Fn. 50.

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nur ein Diskussionsforum darstellen. Der Generalsekretär sollte die Spitze der Organisation bilden, in ihrem Namen agieren und dazu beizutragen, dass sie ihre Funktion erfüllt. Aus diesem Verständnis heraus resultierte auch sein erster größerer politischer Erfolg: Im Laufe des Korea-Kriegs kamen dreizehn US-Soldaten, davon elf Piloten, die den Truppen der UNO in Korea angehört hatten, in Gefangenschaft der Volksrepublik China und wurden dort wegen Spionage vor Gericht gestellt. Die USA erklärte diese Angelegenheit zu einer solchen der UNO,82 nicht nur deswegen, weil es formell Angehörige von Truppen dieser Organisation waren, sondern auch deswegen, weil die USA kaum in offizielle Verhandlungen mit der Volksrepublik eintreten konnten, da sie diese nicht anerkannt hatte.83 Die Angelegenheit war auch dadurch erschwert, dass die Volksrepublik China nicht in der UNO vertreten war.84 Hammarskjöld war zwar von der UNO beauftragt, die Freilassung dieser Soldaten zu erwirken, doch schrieb er nicht in diesem Auftrag an den Ministerpräsidenten Chinas Tschou en Lai, sondern als Vertreter der Organisation. Er unterschied somit eindeutig zwischen den ihm durch die Generalversammlung oder den Sicherheitsrat übertragenen Aufgaben nach Art. 97 SVN und seiner originären Funktion aus Art. 7 und 99 SVN heraus.85 Ihm wurde diese Aufgabe allerdings dadurch erleichtert, dass Schweden die Volksrepublik China bereits anerkannt hatte und er sich vor seiner Reise nach China in Schweden mit dem Botschafter der Volksrepublik China treffen konnte.86 Der dort erzielte Erfolg mit der späteren Freilassung aller Soldaten verbesserte Hammarskjölds Position, aber auch jene der UNO selbst, insbesondere gegenüber den USA, da diese Aktion bewies, dass die Organisation durch den Generalsekretär als selbständiger Vermittler zwischen den Großmächten auftreten konnte. Auch in weiterer Folge interpretierte Hammarskjöld die Aufgaben des Generalsekretärs in extensiver Weise: Als er im Jahre 1956 beauftragt wurde, zwischen den involvierten Mächten im Nahen Osten zu vermitteln, 82 Vgl. Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. II, S. 416 f. 83 Vgl. Wallensteen, Dag Hammarskjöld, S. 15. 84 Zu dieser Zeit galt noch die Regierung Nationalchinas als legale Regierung Chinas. China wurde erst seit 1971 durch die Regierung der Volksrepublik China in der UNO vertreten, vgl. Resolution on the Restoration of the Lawful Rights of the People’s Republic of China in the United Nations, Resolution der Generalversammlung 2758 (XXVI) vom 25. Oktober 1971, GAOR 26th Session Supp 29, 2. 85 Lash, Dag Hammarskjöld’s Conception of His Office, S. 548. 86 Vgl. Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. II, S. 423 f.; Hammarskjöld flog in weiterer Folge von New York nach London, von London nach Neu Delhi und von Neu Delhi nach Kanton (vgl. ebd., S. 424).

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agierte er aus beiden Kompetenzen heraus.87 Als er im Jahre 1960 den Auftrag erhielt, mit Südafrika in Gespräche zu treten,88 verwies er wieder auf seine Autorität als Generalsekretär, jedoch nicht auf sein vom Sicherheitsrat gegebenes Mandat. In dieser Eigenschaft akzeptierte ihn auch Südafrika, da anderenfalls nach dessen Meinung Art. 2 Abs. 7 SVN89 zur Geltung hätte kommen können. Nach seinen eigenen Worten war diese Inanspruchnahme eigener genuiner Kompetenzen aus der SVN heraus notwendig, um allenfalls Lücken im übrigen System der Vereinten Nationen zu füllen: „The reasoning behind this is that the Secretary-General shall be the organ of the United Nations which can bring the United Nations out of deadlock.“90 Des Generalsekretärs Recht, die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats auf Situationen zu lenken, nützte er ebenfalls, um entsprechende erweiterte Aktionen zur Informationssammlung zu setzen. Diese seien seiner Ansicht nach notwendig, um überhaupt erst Kenntnis von einer Bedrohung des Weltfriedens erwerben zu können.91 Dies schloss auch die Entsendung persönlicher Vertreter in die Krisenregionen mit ein.92 Denn er müsste selbst entscheiden können, ob eine derartige Bedrohung vorlag. Im Fall des französischen Angriffs auf Bizerta93 ging er sogar soweit, aus Art. 99 SVN das Recht abzuleiten, Maßnahmen des Sicherheitsrats vorzuschlagen. Überdies sah er in Art. 99 SVN nicht ein Recht des Generalsekretärs, Sitzungen des Sicherheitsrats zu initiieren, sondern sogar eine Pflicht,94 was manche als Anwendung der implied powers-Doktrin verstehen.95 Mit der Laos-Frage96 erweiterte sich dieses Verständnis bis zur präventiven Diplomatie, da Hammarskjöld aktiv wurde und sogar einen persönlichen Vertreter an Ort und Stelle ließ, ohne dazu ausdrücklich beauftragt zu werden. Er erklärte dies in einem persönlichen Brief an alle Mitglieder des Sicherheitsrates so: „The legal basis for a decision to leave a personal representative in Laos, apart from the consent of the Government of Laos, would be the general responsibil87

Lash, Dag Hammarskjöld’s Conception of His Office, S. 549. Ebd., S. 549. 89 Ebd., S. 549. 90 Zitiert ebd., S. 551. 91 Ebd., S. 547. 92 Ebd., vgl. auch Introduction to the Annual Report of the Secretary-General on the Work of the Organization, 16 June 1958–15 June 1959, UN Doc. A/4132/Add.1, S. 3. 93 Lash, Dag Hammarskjöld’s Conception of His Office, S. 560; vgl. auch Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. V, S. 527–537. 94 Fiedler, Article 99, S. 1217–1230, S. 1221 und S. 1225; vgl. auch Cordier/ Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. V, S. 21–24. 95 Lash, Dag Hammarskjöld’s Conception of His Office, S. 555. 96 Vgl. Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. IV, S. 470–488. 88

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ities of the Secretary-General regarding developments which might threaten peace and security, combined with his administrative authority under the Charter.“97

Dieses erweiterte Verständnis des Aktionsradius des Generalsekretärs traf nicht nur auf Unterstützung, sondern auch auf Kritik von Mitgliedstaaten, in erster Linie der Sowjetunion, aber auch anderer wie etwa Frankreichs. In seinem Bericht an den Sicherheitsrat 1960 verwendete Hammarskjöld zum ersten Mal den Begriff der präventiven Diplomatie,98 wenn er auch in diesem Sinne schon vorher tätig gewesen war. Im unabhängig werdenden Kongo berief er sich bewusst auf diese Funktion, als er bereits vor der Unabhängigkeit in den Kongo reiste, um sich Kenntnis der Probleme zu verschaffen. Er initiierte unter Berufung auf Art. 99 SVN die Einberufung des Sicherheitsrates, als sich Lumumba und Kasavubu an die UNO um Unterstützung gegen belgische Truppen wandten.99 Dementsprechend wurde er beauftragt, Truppen für den Kongo zusammenzustellen.100 In weiterer Folge wurde er wieder autonom aktiv, als er versuchte, zwischen den verschiedenen Machthabern im Kongo zu vermitteln.101 Die Funktion der präventiven Diplomatie oder der guten Dienste, die versucht, den Ausbruch von Konflikten zu verhindern, wurde zum Leitbild der UNO. Es handelt sich in den Worten der UNO dabei um „action to prevent disputes from arising between parties, to prevent existing disputes from escalating into conflicts and to limit the spread of the latter when they occur.“102 Sie nimmt einen prominenten Platz nicht nur in der Agenda for Peace ein. Auch die einschlägigen Dokumente der Organisation aus jüngerer Zeit sowie Stellungnahmen von Staaten berufen sich immer wieder auf Hammarskjöld103 oder das Konzept der präventiven Diplomatie.104 Die Agenda for 97 Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. IV, S. 486–489. 98 Introduction to the Annual Report of the Secretary-General on the Work of the Organization, 16 June 1959–15 June 1960, UN Doc. A/4390/Add.1, S. 4 ff. 99 Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. V, S. 18 f. 100 Resolution des Sicherheitsrates 143 vom 14. Juli 1960. 101 Vgl. Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. V, S. 16–56. 102 Agenda for Peace: Preventive Diplomacy, Peacemaking and Peace-Keeping (Fn. 79), S. 5; vgl. auch Generalversammlung, Supplement to an Agenda for Peace: Position Paper of the Secretary-General on the Occasion of the Fiftieth Anniversary of the United Nations, 25. Januar 1995, UN Doc. A/50/60-S/1995/1. 103 Vgl. etwa Official Records of the 6178th meeting of the Security Council, 5. August 2009, UN Doc. S/PV.6178 (Stellungnahme von Herr Zhenmin, China): „Experience has shown that the Hammarskjöld principles are important guarantees of the success of peacekeeping operations and remain effective in practice.“

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Peace sieht noch immer eine bestimmte Rolle für den Generalsekretär in dieser Tätigkeit vor, auch wenn sie gleiche Funktionen höheren Beamten, Spezialorganisationen, dem Sicherheitsrat, der Generalversammlung oder regionalen Organisationen in Kooperation mit der UNO zuordnet. Wenn nach heutigem Verständnis dazu auch die Vertrauensbildung zählt,105 kommt Hammarskjölds Verständnis zur Geltung, der immer bemüht war, sich erst das Vertrauen seiner Gesprächspartner zu erwerben.106 Auch die anderen Elemente der präventiven Diplomatie wie Frühwarnung auf der Grundlage entsprechender Informationen und früher Einsatz von friedenserhaltenden Truppen lassen ebenfalls Hammarskjölds Wirken erkennen. Der Widerstand, auf den dieses Selbstverständnis der Aufgaben des Generalsekretärs traf, brachte ihn dazu, diese Tätigkeit organisatorisch zu formalisieren und ein Advisory Committee zur Beratung mit dem Generalsekretär einzuschalten.107 Der Widerstand vor allem von Seiten der Sowjetunion, aber auch Frankreichs, die diese weite Interpretation als Sucht nach persönlicher Macht deuteten,108 reflektierte sich nicht nur in Angriffen Chrusˇcˇevs Hammarskjöld,109 sondern auch im Vorschlag, anstelle des Generalsekretärs eine Troika zu schaffen, die – entsprechend der sowjetischen Konzeption der damaligen Zeit110 – aus einem von westlicher Seite, einem von sozialistischer Seite und einem von der Seite der Entwicklungsländer besetzten Generalsekretariats bestehen sollte.111 Dadurch wäre aber die Selbständigkeit der UNO verloren gewesen. Sie hätte nicht mehr als eigenständiger, autonomer Akteur in den internationalen Beziehungen wirken können. IV. Schluss Es lässt sich nicht leugnen, dass Dag Hammarskjölds Verständnis der erweiterten Funktion des Generalsekretärs auch Probleme hervorrief, so wie 104 Vgl. etwa die Verweise auf „conflict prevention“ in UNDPKO/UNDFS, A New Partnership Agenda: Charting a New Horizon for UN Peacekeeping, Juli 2009. 105 Agenda for Peace: Preventive Diplomacy, Peacemaking and Peace-Keeping (Fn. 79), Rn. 24. 106 Vgl. einen Überblick in Cordier/Foote (Hrsg.), Public Papers of the Secretaries-General, Vol. II, S. 8–20. 107 Vgl. Whitfield, Good Offices and „Groups of Friends“, S. 88 f.; vgl. auch die Vorlesung „The International Civil Servant in Law and in Fact“, die Hammarskjöld am 30. Mai 1961 an der Universität Oxford hielt (oben Fn. 46). 108 Vgl. Urquhart, The Evolution of the Secretary-General, S. 22 f. 109 Ebd., S. 22 f. 110 Ebd., S. 22 f. 111 Ebd. S. 22 f.

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manche in ihm auch die Ursache für die spätere finanzielle Krise der UNO erblickten.112 Seine Interpretation der Stellung des Generalsekretärs rief eine stete Auseinandersetzung vor allem mit den Großmächten hervor, die dadurch ihren Einfluss auf die UNO und durch die UNO auf die Konfliktsituationen wesentlich geschmälert sahen. Doch zeigt sich, dass sich Dag Hammarskjölds Verständnis seiner Aufgabe als Generalsekretär der UNO bis heute auswirkt und wesentlich zur Fähigkeit der UNO beigetragen hat, selbständig im Dienste des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu wirken. Literatur Afsah, Ebrahim: Cold War (1947–91), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition, hrsg. von Rüdiger Wolfrum, Oxford 2008 (zuletzt besucht im März 2012). Bellamy, Alex J./Williams, Paul: Understanding Peacekeeping, 2. Aufl., Cambridge 2010. Bothe, Michael: Peace-Keeping, in: The Charter of the United Nations. A Commentary, hrsg. von Bruno Simma, 2. Aufl., Oxford 2002, 648–700. Branch, Daniel: Defeating Mau Mau, Creating Kenya. Counterinsurgency, Civil War, and Decolonization, Oxford 2009. Cede, Franz/Postl, Michael: Völker- und verfassungsrechtliche Aspekte der Aufnahme Österreichs in die Vereinten Nationen: Neutralität und VN-Mitgliedschaft, in: Journal für Rechtspolitik 1999, S. 83. Cordier, Andrew W./Foote, Wilder (Hrsg.): Public Papers of the Secretaries-General of the United Nations, Vol. II: Dag Hammarskjöld, New York/London 1972; Vol. III: Dag Hammarskjöld (1956–1957), New York/London 1973; Vol. IV: Dag Hammarskjöld (1958–1960), New York/London 1974; Vol. V: Dag Hammarskjöld (1960–1961), New York/London 1975. Dag Hammarskjöld Library/Dag Hammarskjöld Foundation (Hrsg.), Dag Hammarskjold: Literature: A Compilation Based on the Collections of the Dag Hammarskjöld Library, Uppsala 2011. 112 Im Zusammenhang mit dem IGH-Gutachten Certain Expenses of the United Nations (Article 17, paragraph 2, of the Charter) (Advisory Opinion), ICJ Reports 1962, 151 bemerkt Dörr: „The obligation of the Member States to contribute to the financing of those operations is today generally accepted, even if several Member States have on various political grounds refused to pay their contributions. The consequential financial problems for the UN and its peacekeeping activities remain unsolved.“; vgl. Dörr, Certain Expenses of the United Nations (Advisory Opinion), Rn. 19. Zur Finanzkrise der UNO vgl. Zemanek, Die Finanzkrise der Vereinten Nationen, S. 555–563.

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„Leave it to Dag“ Dag Hammarskjöld als stiller Diplomat und Schöpfer der Blauhelmmissionen Jelka Mayr-Singer* I. Einleitung Auch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod gilt Dag Hammarskjöld unter den bisherigen acht Generalsekretären weithin als der bemerkenswerteste und mit Sicherheit als der profilierteste Inhaber dieses Amtes. Dabei hatte ihm gerade die Tatsache, dass er den meisten Delegierten in New York unbekannt war und als unauffälliger Finanz- und Verwaltungsfachmann ohne politisches Profil eingeschätzt wurde, dieses Amt im Jahr 1953 beschert: Er war der klassische Kompromisskandidat, auf den sich die ständigen Sicherheitsratsmitglieder gerade deshalb einigen konnten, weil man ihn für „pflegeleichter“ hielt als seinen Vorgänger, den ehemaligen norwegischen Gewerkschaftsführer und späteren Diplomaten Trygve Lie, der politisch ambitioniert und wegen seiner prononcierten Haltung in der KoreaKrise bei der Sowjetunion in Misskredit geraten war.1 Der freiwillige Rücktritt Lies im November 1952 markierte denn auch einen Wendepunkt in der Entwicklungsgeschichte der Vereinten Nationen, die zu diesem Zeitpunkt bereits in die Mühlen des Kalten Krieges geraten waren und deren – auf der Einigkeit der ständigen Sicherheitsratsmitglieder basierendes – System der kollektiven Sicherheit bereits lahmgelegt war. Der britische Botschafter Gladwyn Jebb hatte den als unbeschriebenes Blatt geltenden Hammarskjöld als einen von vier auch für die Sowjetunion akzeptablen Kandidaten ins Spiel gebracht, und Frankreich hatte den Vorschlag im Sicherheitsrat eingebracht. Am 31. März 1953 empfahl der Sicherheitsrat Hammarskjöld als neuen Generalsekretär. China enthielt sich der Stimme, wohl deshalb, weil Schweden zuvor die kommunistische Regierung der Volksrepublik China in Peking anerkannt hatte.2 Eine Woche später wurde * Die Autorin dankt Herrn Dr. Walter Fimml für seine wertvollen Hinweise und die kritische Durchsicht dieses Beitrags. 1 Rovine, The First Fifty Years, S. 240; Urquhart, The Evolution of the Secretary-General, S. 18.

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diese Empfehlung von der Generalversammlung in geheimer Abstimmung mit großer Mehrheit angenommen.3 Frankreich, Großbritannien und vor allem der Sowjetunion kam ein Generalsekretär im Stil des ehemaligen Völkerbund-Generalsekretärs Sir Eric Drummond gelegen, der als diensteifriger Technokrat sein Amt apolitisch und kalkulierbar ausfüllen würde.4 Entgegen der ihm zugedachten Rolle des willfährigen Handlangers von Großmachtinteressen5 erwies sich Dag Hammarskjöld jedoch während seiner achtjährigen Amtszeit als Generalsekretär als dynamische und charismatische Führungspersönlichkeit, die sich unbeeindruckt von politischer Räson einzig an den in der Satzung der Vereinten Nationen verbrieften Zielen und Grundsätzen orientierte und die formativen Jahre der Vereinten Nationen nachhaltig prägte. Dass er sein Amt weit über die dem leitenden Beamten der Vereinten Nationen übertragenen Aufgaben hinaus entwickeln konnte, war nicht zuletzt auch auf die veränderten Rahmenbedingungen zurückzuführen. Durch die Dekolonisierung und die damit einhergehende Entstehung der so genannten Dritten Welt bekam vorbeugende Diplomatie einen besonderen Stellenwert, und die neuen Mehrheiten in der Generalversammlung führten dazu, dass die Vereinten Nationen begannen, die politischen und wirtschaftlichen Ziele dieser Staaten stärker zu berücksichtigen. Zudem hatte im Januar 1953 Dwight Eisenhower die US-Präsidentschaft übernommen, wodurch die Beendigung des Korea-Krieges zu einer realistischen Option wurde. Der Tod Stalins im März 1953 ließ auf eine Verbesserung der Ost-West-Beziehungen hoffen. Vor diesem Hintergrund war es aber dennoch Hammarskjölds außerordentlichem diplomatischen Geschick sowie der Klarheit und Kreativität seines Intellekts zu verdanken, die Vereinten Nationen aus dem Tiefpunkt der frühen 1950er Jahre herausgeführt zu haben. Die Stärke seiner Persönlichkeit ermöglichte es ihm, im Dienste der Weltorganisation deren Rolle als unparteiische Vermittlerin praktisch umzusetzen und deren Ansehen und Effizienz auf radikale Weise zu verbessern.6 2 Security Council Official Records, 8th year, 617th Meeting. Die Empfehlung wurde mit zehn Prostimmen und einer Enthaltung angenommen. Zu diesem Zeitpunkt setzte sich der Sicherheitsrat noch aus elf Mitgliedern zusammen. Zum vorherigen Auswahlverfahren siehe Urquhart, The Secretary-General – Why Dag Hammarskjöld?, S. 16 f. 3 GAOR 7th Session, 423rd Plenary Meeting vom 7. April 1953, S. 669 ff. Die Wahl erfolgte mit 57 Prostimmen bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung. 4 Rovine, The First Fifty Years, S. 274. 5 Siehe Melber, Mehr General als Sekretär. 6 Rovine, The First Fifty Years, S. 272; Urquhart, The Secretary-General – Why Dag Hammarskjöld?, S. 18.

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Heute besteht kein Zweifel daran, dass Hammarskjöld mit seinen innovativen Ideen die Basis für ein Instrumentarium gelegt hat, das nach wie vor zum Kern des UN-Friedenssicherungsmechanismus zählt. In einem Beitrag der Wochenzeitung „Die Zeit“7 zur Funktionsweise der Vereinten Nationen werden die Mittel, derer sich die Weltorganisation zur Erhaltung des Friedens bedient, sehr pointiert mit „Diplomatie und Friedenstruppen“ beschrieben, beides gerade die Maßnahmen, die Hammarskjöld zugeschrieben werden. Die nachfolgenden Ausführungen sollen unter den vielfältigen UN-Aktivitäten und Initiativen, die bis heute den Stempel Dag Hammarskjölds tragen, diese beiden Facetten in der Friedenssicherungsarchitektur der Vereinten Nationen herausgreifen und die Spuren nachzeichnen, die Hammarskjöld im Bereich der „Stillen Diplomatie“ und der „Peacekeeping-Operationen“ hinterlassen hat. II. Stille Diplomatie Anders als die friedenserhaltenden Operationen, die Hammarskjöld als grundsätzlich neues Instrument der Friedenssicherung konzipiert und ins Leben gerufen hat, handelt es sich bei stiller Diplomatie um eine Verhandlungsmethode, deren Ursprung mehrere Jahrhunderte zurückreicht. Die vertrauliche Behandlung von Verhandlungsinhalten vor der Erreichung einer Konfliktlösung war seit jeher selbstverständliche Praxis erfolgreicher Diplomatie. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts entwickelte sich Geheimdiplomatie allerdings auch zu einer Quelle persönlicher Intrigen und Skandale und diskreditierte die offizielle Diplomatie.8 Auch im 19. und 20. Jahrhundert spielte geheime Diplomatie – insbesondere die Metternichsche Kongressdiplomatie – eine oft nicht ganz durchsichtige Rolle, sodass geheime Diplomatie zunehmend kritisch gesehen und ihre Abschaffung immer vehementer gefordert wurde. Dazu kam, dass Geheimdiplomatie schlichtweg für unvereinbar mit dem Selbstverständnis einer dem Ideal der Demokratie verpflichteten Staatengemeinschaft gehalten wurde.9 Nachdem Geheimverträge der Alliierten vielfach für den Ausbruch und die Dauer des Ersten Weltkriegs mitverantwortlich gemacht worden waren,10 verlangte US-Präsident Woodrow Wilson schließlich 1918 im ersten Punkt seines 14 Punkte-Programms, mit dem er die Grundzüge einer Friedensordnung für das vom Ersten Weltkrieg erschütterte Europa skizzierte, dass „es in Zukunft nur offene 7

Nückles, Wie die UN funktionieren. Gnodtke, Geheimdiplomatie, S. 632. 9 Delbrück, Politische Instrumente zur Beeinflussung von Regierungen, S. 242. 10 Knapp/Martens, Article 102, S. 1278. 8

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Friedensverträge, offen erreicht“, geben solle und dass „Diplomatie immer aufrichtig und vor den Augen der Öffentlichkeit“ vor sich gehen solle.11 Dies führte dazu, dass schon die Völkerbundsatzung und in weiterer Folge nunmehr die Satzung der Vereinten Nationen in ihrem Art. 102 vorsieht, dass die UN-Mitglieder sich nur dann bei einem Organ der Vereinten Nationen auf Verträge, die sie nach dem Inkrafttreten der Satzung abgeschlossen haben, berufen können, wenn diese beim Sekretariat registriert und von diesem veröffentlicht worden sind. Schließlich erwies sich aber auch dieses Wilsonsche Konzept einer ausschließlich „offenen“ Diplomatie als nicht praktikabel, vor allem dann nicht, wenn es gilt, heikle Konfliktlagen zu bereinigen. 1. Die Hammarskjöldsche „Vertrauliche“ Diplomatie Es ist Dag Hammarskjöld zu danken, das Mittel der stillen Diplomatie „wiederbelebt“ und es im Sinn einer „vertraulichen Diplomatie“ praktiziert zu haben. Er hat ihm eine ganz eigene Prägung verliehen und es in einen philosophischen wie politischen Gesamtzusammenhang gestellt.12 Seine „quiet diplomacy“ stellte im Grunde eine Form der Diplomatie sui generis dar, welche die beiden Extreme einer Geheimdiplomatie wie sie von Metternich praktiziert wurde und einer „open diplomacy“ à la Wilson zu vermeiden, aber gleichzeitig Elemente beider Varianten zu vereinen versuchte.13 Für Hammarskjöld stellten die beiden Formen einander ergänzende Methoden dar, um Konflikte ihrer jeweiligen Phase entsprechend adäquat bearbeiten zu können. Die Hammarskjöldsche „quiet diplomacy“ ist also keinesfalls im Sinne geheimer Absprachen zu verstehen, sondern vielmehr als Verlauf einer Konfliktlösungsinitiative, deren Anfangsetappen zum Zwecke des Aufbaus gegenseitigen Vertrauens von Verschwiegenheit getragen sind, um spätere Lösungsvarianten nicht zu gefährden. So war Hammarskjöld überzeugt davon, dass erste Verhandlungsphasen zwar in strikter Vertraulichkeit stattfinden sollten, dass aber nach der Erzielung eines Ergebnisses die Öffentlichkeit umfassend informiert werden sollte.14 11 „Open covenants of peace openly arrived at“ and that „diplomacy shall proceed always frankly and in the public view“, zit. nach Do Nascimento e Silva, Diplomacy, Secret, S. 1033, der feststellt, dass „[t]he concept of open diplomacy did not survive its first test and at Versailles Wilson himself reverted to secret diplomacy; Lloyd George, Clemenceau, Orlando and he held over 150 meetings behind closed doors“. 12 Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen, S. 253. 13 Klumpjan, „Eine Synthese finden zwischen Nation und Welt“, S. 100. 14 Sein Verständnis von „open“ und „quiet diplomacy“ formulierte Hammarskjöld folgendermaßen: „You know that I am – we certainly all are – in favour of what

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Diese erste vertrauliche Verhandlungsphase verstand Hammarskjöld im Sinne der Denkmuster des österreichisch-jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber, mit dem ihn eine ähnliche Auffassung über die politischen Grundprobleme der Zeit verband und mit dem er sich seelenverwandt fühlte. Beide sahen sich als Zeitgenossen einer Ära des Misstrauens, dem nur mit persönlicher, von gegenseitigem Respekt und beidseitiger Gesprächsbereitschaft getragener Kontaktnahme begegnet werden könne.15 Dass Hammarskjöld bewusst den persönlichen Dialog hinter den Kulissen und abseits der aufgeheizten öffentlichen Debatte pflegte, war im Grunde die praktische Umsetzung von Bubers sogenannter „Vergegenwärtigung“. Diese geschieht nach Buber am besten durch „Realphantasie“, d.h. durch die Fähigkeit sich vorzustellen, was ein anderer Mensch eben jetzt will, fühlt, empfindet, denkt, und zwar nicht als abgelöster Inhalt, sondern im Kontext seiner Lebensumstände.16 Hammarskjöld hatte ein untrügliches Gespür für den richtigen Zeitpunkt, die am besten geeignete Form und den idealen Gesprächspartner, um seine Vorschläge umzusetzen, und verfügte in diesem Sinne über ein geradezu außergewöhnliches Talent für konsensstiftende Verhandlungsführung. Dabei war er auf strikte Unparteilichkeit und neutrale Haltung bedacht und gab niemandem Anlass für Zweifel an seiner persönlichen Integrität. Er vermied es, Verhandlungsinhalte den Medien preiszugeben, und zog es stets vor, Ideen im engsten Kreis zu entwickeln. Auch widerstand er der Versuchung persönlicher Profilierung als Verhandlungskünstler und machte sich anbahnende positive Verhandlungsergebnisse nie in einem verfrühten Stadium publik, auch dann nicht, wenn er unter öffentlichen Druck geriet. Auf der anderen Seite war es aber auch Hammarskjöld, der erstmals Pressekonferenzen einberief. Für ihn war die regelmäßige Information von Medienvertretern eine Form der Rechenschaftslegung, Ausdruck seiner Berichtspflicht und selbstverständliche Notwendigkeit, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Weltorganisation zu stärken.

we call ‚open diplomacy‘. However, I am sure that, without digging too far back into our memories, we can all find good examples when immature or premature open diplomacy has wrecked a case. After all, open diplomacy is a must in a democratic world, but on the other hand open diplomacy, or a false kind of publicity at the wrong stage, prematurely, has often frozen positions in a way which has rendered the situation much more difficult.“, zit. nach Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen, S. 271. 15 Ebd., S. 192 ff. 16 Buber, Urdistanz und Beziehung, S. 33.

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2. Die Verhandlungs- und Vermittlungsinitiativen Dag Hammarskjölds a) Die Peking-Mission Hammarskjöld hat sein Konzept „vertraulicher“ Diplomatie oftmals in die Tat umgesetzt. Den wahrscheinlich aufsehenerregendsten Erfolg, der ihn in die Schlagzeilen der Weltpresse katapultierte und ihm in den Medien den in den Folgejahren noch vielfach gebrauchten Slogan „Leave it to Dag“ einbrachte, erzielte er dabei im Rahmen seiner „Peking-Mission“ im Jahre 1955. Hintergrund für diese Mission war der Abschuss von zwei Flugzeugen der US-amerikanischen Luftwaffe während des Korea-Krieges durch China. Die Besatzungsmitglieder17 dieser Militärbomber wurden gefangen genommen und von einem chinesischen Militärgericht wegen angeblicher Spionage18 zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Diese zumindest machtpolitisch vergleichsweise belanglose Aktion löste in der amerikanischen Öffentlichkeit große Empörung aus, und im US-Kongress wurde mit zunehmender Vehemenz ein militärisches Vorgehen gegen China gefordert.19 Da zwischen den USA und China keine diplomatischen Beziehungen bestanden, die Luftwaffenpiloten aber zum Zeitpunkt der Kampfhandlungen unter UN-Kommando gestanden hatten, wälzte US-Präsident Eisenhower die Verantwortung für die Besatzung auf die Vereinten Nationen ab.20 China wurde zu diesem Zeitpunkt in den Vereinten Nationen aber nicht von der Regierung der Volksrepublik China, sondern von der Natio17 Die diesbezüglichen Zahlenangaben sind in den hier verwendeten Quellen unterschiedlich: So spricht Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen, S. 255 von 15, Urquhart, The Evolution of the Secretary-General, S. 19 von 17 und Traub, The Secretary-General’s Political Space, S. 187 von elf Angehörigen der Air Force und zwei Zivilisten. Die entsprechende Resolution der Generalversammlung (vgl. unten Fn. 22) zählt ebenfalls „eleven members of the United States armed forces under the United Nations Command“. Dies erklärt Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen, S. 256 in Fn. 128 damit, dass sich unter den 13 Verurteilten zwei zivile Mitarbeiter befanden, die in einer Maschine unterwegs waren, die nicht unter UN-Kommando stand. 18 Traub, The Secretary-General’s Political Space, S. 187 hält den Vorwurf, dass es sich um CIA-Agenten handelte, für durchaus berechtigt. 19 Sowohl der Fraktionsführer der Republikaner im Senat, William Fife Knowland, als auch der Chef des amerikanischen Generalstabs, Admiral Arthur W. Radford, schlugen vor, über China eine Blockade zu verhängen; vgl. dazu den Beitrag Hammarskjöld. Der Baron und der Kommissar, in: Der Spiegel 4/1955, 23–27, S. 24. Ähnlich Mögle-Stadel, Dag Hammarskjöld, S. 154: „Der republikanische Senator Knowland forderte eine Seeblockade Chinas, was nach der amerikanischen Verfassung einer Kriegserklärung gleichkäme, und Außenminister Foster Dulles drohte mit der Atombombe.“ 20 Wallensteen, Leave it to Dag!, S. 18.

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nalregierung in Taipeh vertreten21, sodass es auch zwischen den Vereinten Nationen und der Regierung in Peking keine direkten Kontakte gab. In einer in der Folge von den USA und 14 weiteren westlichen Staaten in der Generalversammlung eingebrachten Resolution22 wurde zum einen China vorgeworfen, durch die Inhaftierung und Verurteilung der amerikanischen Kriegsgefangenen die von Nordkorea und den Vereinten Nationen abgeschlossenen Waffenstillstandsvereinbarungen verletzt zu haben, zum anderen wurde der Generalsekretär aufgefordert, die Freilassung der Luftwaffenangehörigen zu erwirken und sich dabei der ihm am geeignetsten erscheinenden Mittel zu bedienen. Damit war Hammarskjöld eine äußerst heikle Aufgabe gestellt worden. Die Frage, welche der beiden chinesischen Regierungen denn für den Mitgliedstaat (und das ständige Sicherheitsratsmitglied) China in den Vereinten Nationen vertretungsbefugt sein solle, war zu dieser Zeit ohnehin schon ein politisch brisantes und völkerrechtlich umstrittenes Thema. Zudem traten die USA als Schutzmacht der nationalchinesischen Regierung auf, um die geostrategisch bedeutsame Insel Taiwan nicht in den kommunistischen Machtbereich geraten zu lassen. Wenige Tage vor der Verabschiedung der Generalversammlungsresolution hatten die USA mit der Nationalregierung in Taipeh ein bilaterales Verteidigungsbündnis abgeschlossen23 und versuchten die Pekinger Regierung international zu isolieren. Die Frage der US-Gefangenen in China hatte sich vor diesem Hintergrund zu einem gefährlich emotionsgeladenen Thema ausgewachsen. Diese „mission impossible“ gab Dag Hammarskjöld erstmals Gelegenheit seine diplomatische Finesse unter Beweis zu stellen. Da Schweden als einer der ersten Staaten die Volksrepublik China anerkannt und diplomatische Beziehungen aufgenommen hatte, bestanden diplomatische Kanäle, die sich Hammarskjöld zunutze machen konnte. So gelang es ihm, mit dem chinesischen Ministerpräsidenten und Außenminister Tschou En-Lai zu persönli21 Die Vertretungsbefugnis für China in den Vereinten Nationen wurde der Regierung in Taipeh zugesprochen, obwohl diese seit dem Ende des chinesischen Bürgerkrieges 1949 keinerlei Kontrolle mehr über das gesamte chinesische Festland und mehr als 99% der chinesischen Bevölkerung hatte. Sie beherrscht seither lediglich die Inselgruppe Taiwan und bezeichnet sich weiterhin als Regierung der „Republik China“. Erst mit Resolution der Generalversammlung 2758 (XXVI) vom 25. Oktober 1971 erkannte die Generalversammlung die Regierung in Peking als vertretungsbefugt für ganz China an, auch wenn diese wiederum Taiwan nie beherrscht hat. Zur Frage der Vertretungsbefugnis Chinas in den Vereinten Nationen vgl. insbes. Neukirchen, Die Vertretung Chinas und der Status Taiwans im Völkerrecht sowie Petzold, Die völkerrechtliche Stellung Taiwans. 22 Resolution der Generalversammlung 906 (IX) vom 10. Dezember 1954. 23 Mutual Defense Treaty vom 2. Dezember 1954, 248 UNTS, S. 213 ff.; deutschsprachiger Text in Europa-Archiv, 1955, S. 7254 f.

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chen Gesprächen „über aktuelle Fragen“ in Peking zusammenzutreffen und mit diesem einen von gegenseitigem Respekt getragenen Dialog zu führen. Dabei versuchte er eine Formel zu finden, die – ohne Gesichtsverlust für die chinesische Seite – eine Freilassung der amerikanischen Besatzungsmitglieder ermöglichte: etwa dadurch, dass die inhaftierten Militärflieger nicht direkt an die USA, sondern an eine dritte Partei übergeben würden, denn damit würde nicht der Eindruck entstehen, dass China vor Drohgebärden von außen in die Knie gehe. Ein anderer Vorschlag ging dahin, den Familienangehörigen der Inhaftierten einen Besuch in China zu gestatten. Da Familienbesuche bei Gefangenen in China traditionell mit Amnestierungen verbunden sind, würde China auf diese Weise die Freilassung als persönliche „good-will“-Aktion darstellen können. Diese Variante wurde jedoch vom US-Außenministerium dadurch unterlaufen, dass die Ausstellung von Pässen für China-Reisen verweigert wurde, da man nicht für die Sicherheit der Familienangehörigen garantieren könne.24 Dass es Hammarskjöld dennoch glückte, diese Pattsituation zu überwinden, ist ausschließlich seiner Persönlichkeit und seiner Fähigkeit zu verdanken, sich als neutraler Vermittler zu präsentieren. So brachte er seine Unparteilichkeit etwa auch dadurch zum Ausdruck, dass er sich nie auf die Vereinten Nationen als solche, sondern stets auf seine ganz persönliche Verantwortung als Generalsekretär berief.25 Auch war er – um China nicht unter öffentlichen Druck zu setzen – von Anfang an auf absolute Vertraulichkeit der Gespräche bedacht und behielt diese auch dann bei, als sich die Perspektive einer vorzeitigen Entlassung einzelner Gefangener andeutete.26 Dementsprechend 24

Eliasson/Wallensteen, Preventive Diplomacy, S. 293. In diesem Sinn verstand Hammarskjöld auch seine rechtliche Position bei diesem Besuch, eine Definition, die später als „Peking-Formel“ bezeichnet wurde: „Under the Charter of the United Nations the Secretary-General is entitled – and, . . . in my view obliged – to take whatever initiative he finds appropriate in order to get under control or reverse developments leading to serious tensions. . . . He acts under his constitutional responsibility for the general purposes set out in the Charter, which must be considered of common and equal significance to Members and Non-Members alike. The constitutional position of the Secretary-General as I now define it, is the basis on which I have approached you and on which I have come here. Thus, sitting here at this conference table I do so as Secretary-General, not as a representative of an Assembly majority or of any national or individual interest. From what I have said follows also that I cannot commit anybody or any nation, or the Organization, to anything. I can solely engage myself and that only within the limits set by the Charter.“, zit. nach Fröhlich, Political Ethics and the United Nations, S. 137. 26 Bei seiner Rückkehr aus Peking hatte er eigentlich ein positives Ergebnis zu verkünden, das ihm aber nur implizit und nur mit Vorbedingungen zugestanden worden war. Um das Resultat nicht zu gefährden, konnte er weitergehende Entwicklungen nicht ansprechen. Seine Gefühle bei der Ankunft am Flughafen in New York schilderte er später der Journalistin Kay Rainy Gray: „My feet hardly touched the 25

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wurden die US-Flieger erklärtermaßen nicht als politisches Zugeständnis an die USA freigelassen, sondern einzig und allein als Ausdruck der Wertschätzung für die Person Dag Hammarskjölds, dem Tschou En-Lai dies auch explizit in einer Grußbotschaft anlässlich seines 50. Geburtstages mitteilte.27 b) Weitere Initiativen Die erfolgreiche Beendigung seiner Peking-Mission, die in der Freilassung der amerikanischen Militärflieger gipfelte und ihn zum stillen Diplomaten „par excellence“28 machte, war aber nur eine von vielen Bemühungen Hammarskjölds, inner- und zwischenstaatliche Konflikte friedlich beizulegen. Wenngleich es Hammarskjöld nicht immer gelungen ist, sich der Interessenpolitik der Großmächte zu widersetzen und jeden Konflikt auch tatsächlich im Rahmen der Vereinten Nationen zu bereinigen, so haben auch vermeintliche Niederlagen und die Konfrontation mit den Großmächten seine Position insgesamt gestärkt. Dies gilt etwa für die – vom amerikanischen Geheimdienst CIA gelenkte – Invasion Guatemalas durch Honduras im Jahr 1954, die darauf abzielte, den demokratisch gewählten Präsidenten Jacobo Arbenz Guzmán zu stürzen.29 Guatemala brachte die Angelegenheit vor den Sicherheitsrat – sehr zum Missfallen der USA, die die Sache auf die regionale Ebene zu verlagern versuchten. Dementsprechend schlugen sie eine Überweisung der Angelegenheit an die Organisation Amerikanischer Staaten vor, um auf diese Weise eine weitere Ingerenz der Sowjetunion zu verhindern. Ebenso ground. I had a good story to tell, but couldn’t tell it.“, zit. nach Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen, S. 276. 27 Melber, „Als Diener der Organisation“, S. 21. Die entsprechende Nachricht, die dem schwedischen Botschafter in Peking übermittelt wurde, lautete: „The Chinese Government has decided to release the imprisoned U.S. fliers. This release from serving their full term takes place in order to maintain friendship with Hammarskjöld and has no connection with the UN resolution. . . . The Chinese Government hopes to continue the contact established with Hammarskjöld. . . . Chou En-lai congratulates Hammarskjöld on his 50th birthday“, zit. nach Fröhlich, Political Ethics and the United Nations, S. 144. 28 James, Alan, The Role of the Secretary-General of the United Nations in International Relations, in: International Relations, 1959, S. 627, zit. nach Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen, S. 253, Fn. 120. 29 Arbenz hatte im Rahmen einer Agrarreform landwirtschaftlich nutzbare Flächen, die dem US-Konzern United Fruit Company gehörten, gegen Entschädigung in Besitz genommen und an landlose Bauern neu verteilt. Aus der Perspektive der USA war dies mit Kommunismus gleichzusetzen, sodass die USA daran interessiert waren, das missliebige Regime zu beseitigen; vgl. Wallensteen, Dag Hammarskjöld, S. 13.

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wie die Sowjetunion vertrat auch Hammarskjöld den Standpunkt, dass die Vereinten Nationen und nicht eine Regionalorganisation das geeignete Forum für die Lösung des Konflikts seien, was ihm entsprechende Kritik vonseiten der USA einbrachte. Wenngleich er letztendlich nicht verhindern konnte, dass die guatemaltekische Regierung vertrieben und an ihrer Stelle eine Militärjunta installiert wurde, hat doch sein von Großmachtinteressen unbeeinflusstes Agieren seine Reputation als integre, nur seinem Amt verpflichtete Persönlichkeit gestärkt. Ähnlich positiv wirkten sich auch Hammarskjölds Aktivitäten im Rahmen der Ungarnkrise 1956 aus. Unbeeindruckt von politischer Räson erklärte er in diesem Zusammenhang vor dem Sicherheitsrat, er werde seine politischen Pflichten erfüllen, unabhängig davon, ob dies den Interessen aller Mitgliedstaaten entspreche. Diese Erklärung veranlasste dieses Mal die USA dazu, ihn in ihrem – im Rahmen einer Notstandssondertagung30 eingebrachten – Resolutionsantrag mit weitreichenden Befugnissen auszustatten. Er solle nicht nur die durch die sowjetische Intervention in Ungarn entstandene Situation untersuchen, sondern auch geeignete Methoden für deren Beendigung vorschlagen.31 Damit war Hammarskjöld wieder einmal mit einer schwierigen Aufgabe konfrontiert worden: abgesehen davon, dass der ihm erteilte Auftrag nicht einmal von allen nichtkommunistischen Staaten mitgetragen wurde, musste er davon ausgehen, dass sich die Sowjetunion konsequent allen seinen Bemühungen widersetzen würde. In der Folge versuchte Hammarskjöld vergeblich eine Vermittlerrolle einzunehmen, scheiterte aber an der Verhinderungsstrategie der Sowjetunion und der von ihr in Budapest eingesetzten Marionettenregierung, die weder ihm noch seinen Vertretern gestattete, ungarischen Boden zu betreten. Auch in dieser Situation bewies Hammarskjöld Prinzipienfestigkeit: Vor der Generalversammlung stellte er klar, dass er ohne Zusammenarbeit mit der ungarischen Regierung und ohne entsprechende Untersuchungen zu keinem Ergebnis gelangen könne, und beantragte schließlich die Befreiung von diesem Mandat.32 Nicht nur in der Staatengemeinschaft und in den Medien wurde das Verhandlungsgeschick Dag Hammarskjölds gewürdigt. Auch das völkerrechtliche Schrifttum seiner Zeit stellte ihm ein ausgezeichnetes Zeugnis aus: „Die Stellung des Generalsekretärs ist in letzter Zeit immer bedeutender geworden. Am Anfang der Vereinten Nationen ist vielleicht nicht genügend klar gewesen, welche Möglichkeiten die Satzung und die Geschäftsordnungen der einzelnen Organe der Vereinten Nationen dem Generalsekretär geben. . . . In seinen Jahres30

Zu den Notstandssondertagungen siehe unten Fn. 37. Vgl. Z. 4 der Resolution der Generalversammlung 1004 (ES-II) vom 4. November 1956. 32 Pfeiffenberger, Die Vereinten Nationen, S. 215 f. 31

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berichten . . . pflegt er zu den Haupttendenzen der Weltpolitik . . . kritisch Stellung zu nehmen. Autoren haben diese Berichte schon mit der State of the Union Message des Präsidenten der USA verglichen. Die politische Macht, die der Generalsekretär ausübt, verwendet er zu Verhandlungen in besonders schwierigen Streitfällen. So hat er am Ende der aktiven Feindseligkeiten in Korea mit der rotchinesischen Regierung verhandelt und sich später insbesondere mit der Erhaltung der Ruhe im Mittleren Osten befasst. Andere Organe der Vereinten Nationen scheinen in der Tat nicht so geeignet zu sein, ähnliche Aufgaben zu erfüllen.“33

III. Friedenserhaltende Operationen Zur „Erhaltung der Ruhe“ im Nahen Osten und später in Afrika brachte Dag Hammarskjöld mit den Peacekeeping-Operationen ein vollkommen neues Instrumentarium in den Friedenssicherungsmechanismus der Vereinten Nationen ein, das sich in den Folgejahren zu einer der erfolgreichsten UN-Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens entwickeln sollte. 1. Klassisches Peacekeeping: Die Suezkrise und UNEF I Im Nahen Osten ist insbesondere die Suezkrise 1956 mit ihren komplexen regionalen und weltpolitischen Implikationen untrennbar mit dem Namen Dag Hammarskjölds verbunden, nachdem es ihm gelungen war, diesen explosiven Krisenherd mit Hilfe von Peacekeeping Forces zu entschärfen und über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren – bis 1967 – unter Kontrolle zu halten.34 Die Krise hatte damit begonnen, dass der ägyptische Präsident Nasser – als Reaktion auf die Rücknahme des US-amerikanischen Angebots einer finanziellen Beteiligung am Bau des Assuan-Staudammes – 1956 die mehrheitlich britisch-französische Suez-Kanal-Gesellschaft verstaatlichte. Insbesondere Großbritannien und Frankreich als Hauptbetroffene der Nationalisierung wollten den geostrategisch bedeutsamen Suezkanal wieder unter ihre Kontrolle bringen. Dies veranlasste sie dazu, eine mit Israel abgestimmte Militäraktion unter dem Decknamen „Operation Musketeer“35 zu planen und durchzuführen. Hammarskjöld war von dem israelisch-anglo-französischen Komplott empört und fühlte sich von Israel, Großbritannien und Frankreich hintergangen, zumal er mit den jeweiligen Außenministern bereits eine Reihe informeller Verhandlungen zur Lösung der Krise geführt hatte. 33

Münch, Tätigkeit der Vereinten Nationen in völkerrechtlichen Fragen, S. 451 f. Vgl. Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen, S. 305. 35 Vgl. dazu etwa ebd., S. 285; Mögle-Stadel, Dag Hammarskjöld, S. 161 f. und Wallensteen, Dag Hammarskjöld, S. 17 f. 34

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Mit Großbritannien und Frankreich als Hauptakteuren der Suezkrise und dem Wettkampf der Sowjetunion und der USA um den größeren Einfluss in der Region schied der Sicherheitsrat als Forum für die Bewältigung der Krise aus. In dieser Situation machte sich Hammarskjöld erstmals den mit der Resolution „Uniting for Peace“36 eingeführten Mechanismus der Einberufung von „Emergency Special Sessions“, also Notstandssondertagungen37 der Generalversammlung, zunutze, um die „United Nations Emergency Force“ (UNEF)38 als erste eigentliche Friedenstruppe39 auf den Weg zu bringen. 36 Resolution der Generalversammlung 377 (V) vom 3. November 1950. Die Resolution war im Zusammenhang mit der Paralysierung des Sicherheitsrates im Korea-Krieg verabschiedet worden und sah vor, dass die Generalversammlung anstelle des Sicherheitsrates Kollektivmaßnahmen dann empfehlen können soll, wenn der Sicherheitsrat im Fall einer Friedensbedrohung, eines Friedensbruches oder einer Angriffshandlung durch ein Veto blockiert ist und daher seiner erstgegebenen Verantwortung nicht nachkommen kann. 37 Eine Notstandssondertagung der Generalversammlung ist binnen 24 Stunden einzuberufen, wenn dies von neun beliebigen Sicherheitsratsmitgliedern oder der Mehrheit der Mitglieder der Vereinten Nationen verlangt wird. Diese erste Notstandssondertagung fand vom 1. bis zum 10. November 1956 statt. Bisher hat die Generalversammlung insgesamt zehn Mal in Form einer solchen „Emergency Special Session“ getagt. 38 UNEF I wurde vor allem auf der Basis der Resolutionen der Generalversammlung 998 (ES-I) vom 4. November 1956, 1000 (ES-I) vom 5. November 1956 und 1001 (ES-I) vom 7. November 1956 eingesetzt. Die beiden erstgenannten Resolutionen wurden jeweils mit 57 Prostimmen bei 19 Enthaltungen, darunter Ägypten, Frankreich, Großbritannien, Israel, die Sowjetunion und verschiedene osteuropäische Staaten, angenommen. Der letztgenannten Resolution stimmten 64 Staaten (etwa auch Frankreich und Großbritannien) zu, 12 enthielten sich der Stimme, darunter wiederum Israel, Ägypten, Südafrika, die Sowjetunion und diverse osteuropäische Staaten. 39 Friedenserhaltende Operationen können in Form von Beobachtermissionen (military observers) oder als Friedenstruppen (peacekeeping forces) eingerichtet werden. Bei ersteren handelt es sich um Operationen, die zwar aus militärischem Personal bestehen, aber nicht bewaffnet sind, während Friedenstruppen leicht bewaffnet sind, aber keinen Kampfauftrag haben. Mit UNEF I wurde erstmals eine Friedenstruppe eingesetzt. Davor gab es nur zwei Beobachtermissionen, nämlich die „United Nations Truce Supervision Organization“ (UNTSO), die als erste PeacekeepingOperation überhaupt 1948 ebenfalls im Nahen Osten mit der Aufgabe eingerichtet wurde, die Einhaltung der Waffenruhen und der Waffenstillstandsvereinbarungen zu überwachen. Ihr Hauptquartier liegt in Jerusalem, und sie besteht mit einer Truppenstärke von 150 Militärbeobachtern (unter österreichischer Beteiligung) noch heute fort. Auch die zweite friedenserhaltende Operation, die „United Nations Military Observer Group in India and Pakistan“ (UNMOGIP), ist nach wie vor aktiv. Sie wurde 1949 geschaffen, um die Einhaltung der Waffenruhe zwischen Indien und Pakistan im indischen Bundesstaat Jammu und Kashmir zu überwachen, verfügt über 39 Militärbeobachter und hat ihr Hauptquartier abwechselnd in Islamabad und in Srinagar.

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Wenngleich der Vorschlag, eine internationale Friedenstruppe aufzustellen, vom kanadischen Außenminister Lester Pearson kam und Hammarskjöld ihm anfänglich sogar skeptisch40 gegenüberstand, so gehört es zweifelsfrei zu den ganz großen Errungenschaften Hammarskjölds, diesen neuen Typ von Peacekeeping-Operationen konzeptiv ausgestaltet zu haben.41 Die von ihm entwickelten Grundsätze der heute als „klassische friedenserhaltende Operationen der ersten Generation“ bezeichneten Missionen, die von Konsens und Kooperation getragen sind und die prinzipientreue Persönlichkeit Hammarskjölds widerspiegeln, legten den Grundstein dafür, dass Peacekeeping zu einem der erfolgreichsten Instrumente des UN-Friedenssicherungsmechanismus wurde. An erster Stelle sei das Prinzip der Zustimmung des Gaststaates genannt, auf dessen Territorium die Truppen stationiert werden.42 Zum zweiten erfolgt auch die Teilnahme an friedenserhaltenden Operationen auf freiwilliger Basis, sodass die Truppensteller ihre Beteiligung jederzeit wieder beenden können. Die Operation ist drittens in strikt neutraler Haltung durchzuführen und darf die Lösung des zugrunde liegenden Konfliktes in keinster Weise präjudizieren. Das vierte Prinzip verbietet den Einsatz von offensiver Waffengewalt, d.h. dass der Einsatz von Waffen lediglich zur Selbstverteidigung erlaubt ist. Auch war es Hammarskjöld wichtig klarzustellen, dass derartige43 Operationen nur als vorübergehende Maßnahme gedacht waren und ihre Funktionen im Wesentlichen auf die Überwachung von Waffenstillstandsvereinbarungen und die Bildung von Pufferzonen zwischen den Konfliktparteien 40 „Our main concern is of course whether it is at all possible within a reasonable time to establish such a group with the peculiar conditions which must apply in the choice of nations from which recruitment can take place. My personal lack of optimism is of course no excuse for not exploring the field.“; zit. nach Guéhenno, The Peacekeeper, S. 186 f. 41 Für die organisatorischen, technischen und logistischen Fragen war der Stellvertretende Generalsekretär Ralph Bunche zuständig: „It was Bunche’s task to transform Hammarskjöld’s metaphysical subtleties into practical arrangements on the ground.“, zit. nach Fröhlich, Political Ethics and the United Nations, S. 156. 42 Dass die strikte Einhaltung des Zustimmungsprinzips auch problematische Auswirkungen haben kann, zeigte sich als der Nachfolger Hammarskjölds, U Thant, 1967 auf die Aufforderung der ägyptischen Regierung hin den Abzug von UNEF I veranlasste, woraufhin der „Sechstagekrieg“ zwischen Ägypten, Syrien und Jordanien einerseits und Israel andererseits ausbrach, in dessen Folge Israel die Halbinsel Sinai, den Gazastreifen, die Westbank einschließlich Ost-Jerusalems und Teile der Golan-Höhen eroberte. UNEF II wurde im Gefolge des Jom-Kippur-Krieges 1973 etabliert und 1979 nach Abschluss des Camp-David-Abkommens aufgelöst. 43 Nach Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen, S. 303 sah Hammarskjöld UNEF ganz klar als Präzedenzfall für weitere Missionen.

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beschränkt sein sollten. Um den internationalen Charakter der Truppe und deren unparteiische Haltung zu unterstreichen, verlangte Hammarskjöld außerdem, dass die Mission unter einem einheitlichen UN-Kommando stehen und ständige Sicherheitsratsmitglieder von der Mitwirkung ausgeschlossen sein sollten. Von den 24 Nationen, die freiwillig Truppen zur Verfügung stellen wollten, wählte Hammarskjöld schließlich zehn Staaten aus, darunter etwa auch Brasilien, Kolumbien und Indonesien, um ein westliches Übergewicht zu verhindern.44 Selbst für die Verlegung der Kontingente nach Ägypten zog er die Charterflugzeuge der Swissair45 einem Transport durch amerikanische Maschinen vor und verzichtete auch auf technische Geräte von britischen und französischen Truppen, um den neutralen Charakter der Peacekeeping Force besonders zu betonen.46 Die UNEF wurde schließlich ab Mitte November 1956 mit einer maximalen Truppenstärke von etwa 6.000 Soldaten stationiert. Sie wurde mit der Aufgabe betraut, nach dem Abzug der britischen, französischen und israelischen Truppen den Waffenstillstand zu überwachen und als Pufferstreitkraft zwischen den Armeen der Kontrahenten Israel und Ägypten zu fungieren. Damit konnte sie zwar den Konflikt nicht lösen, aber doch wesentlich zur Entspannung der Lage beitragen. Wenn auch der selbständige Kurs, den Hammarskjöld in der Suezkrise verfolgte, einigen Staaten – insbesondere Großbritannien und Frankreich – missfiel, weil Hammarskjöld unabhängig von deren Interessen agierte, trug der Erfolg von UNEF weiter zu seinem Ansehen als UN-Generalsekretär bei, sodass das Schlagwort „Leave it to Dag“ – „Überlasst die Sache nur Dag“ – zu einem fixen Bestandteil westlicher Pressemeldungen wurde. 2. Robustes Peacekeeping: Die Kongokrise und (M)ONUC Mit den klassischen friedenserhaltenden Operationen hatte Hammarskjöld ein Instrumentarium geschaffen, das in der Satzung der Vereinten Nationen nicht vorgesehen war und – so die mittlerweile klassische Formulierung – dort als Kapitel VI ½47 einzubauen wäre, also als Maßnahmen, die weder 44

Siehe dazu im Detail die Backgroundinformation zur UNEF I auf der Homepage der Vereinten Nationen, abrufbar unter http://www.un.org/en/peacekeeping/ missions/past/unef1backgr2.html (zuletzt besucht im März 2012). 45 Die Kosten dafür wurden zum Teil von der Schweiz, die nicht Mitglied der Vereinten Nationen war, getragen. 46 Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen, S. 302. 47 Diese Formulierung wird vielfach Hammarskjöld zugeschrieben, stammt aber – Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen, S. 298 zufolge – wohl vom brasilianischen UN-Vertreter Freitas-Valle.

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den Maßnahmen friedlicher Streitbeilegung noch den Zwangsmaßnahmen zuzuordnen sind, aber doch Ziel und Intention der beiden Kapitel ergänzen sollen. Dieses Instrumentarium wirkt bis in die Gegenwart hinein, obwohl es in seiner mehr als fünfzigjährigen Entwicklung mancher Transformation unterworfen war. a) MONUC In ein Kapitel VI ¾ wäre wohl die UN-Mission im Kongo, die „Mission de l’Organisation des Nations Unies en République démocratique du Congo“ (MONUC)48 einzuordnen, die 1999 durch eine Resolution des Sicherheitsrates49 eingerichtet wurde. Sie zählt zur mittlerweile dritten Generation friedenserhaltender Einsätze, dem „robusten Peacekeeping“, das sich in einer Grauzone zwischen Friedenserhaltung und Friedensdurchsetzung bewegt. Typisch für robuste Peacekeeping-Einsätze ist zunächst, dass das Prinzip der Zustimmung der Konfliktparteien aufgeweicht ist, ganz einfach deshalb, weil nicht alle Streitparteien an der Unterzeichnung von Waffenstillständen und Friedensverträgen teilhatten und diese bei den durch ethnischen Rivalitäten, Warlords und Staatszerfall charakterisierten Konflikten auch kein Ende der Gewalt mit sich brachten. Robustes Peacekeeping bedeutet auch, dass – anders als beim klassischen Peacekeeping – ein offensiver Waffengebrauch erlaubt ist, wenn dies zur Umsetzung des vom Sicherheitsrat erteilten Mandats erforderlich ist. Die Peacekeeping Forces werden also auf der Grundlage von Kap. VII der SVN ermächtigt, zur Herstellung eines sicheren Umfelds nötigenfalls auch militärische Gewalt einzusetzen. Auch wenn robuste Peacekeeping-Einsätze unter Bezug auf Kap. VII der SVN mandatiert sind, unterscheiden sie sich dennoch von den Zwangsmaßnahmen, die der Sicherheitsrat auf der Basis von Kap. VII durchführt bzw. autorisiert. Bei letzteren handelt es sich nämlich um nach militärischen Grundsätzen durchgeführte Feldzüge, bei denen zumeist eine Konfliktpartei offen unterstützt wird. Die MONUC war im Zuge des Bürgerkrieges in der Demokratischen Republik Kongo (also dem ehemaligen Belgisch-Kongo und späteren Zaire) im Jahr 2000 zunächst als traditionelle Peacekeeping-Mission zur Überwachung des Waffenstillstandsabkommens von Lusaka50 in Gang gesetzt 48 Mit 1. Juli 2010 wurde die MONUC in die „United Nations Organisation Stabilization Mission in the Democratic Republic of the Congo“ (MONUSCO) übergeführt und ihre Truppenstärke auf beinahe 20.000 Mann erhöht. 49 Resolution des Sicherheitsrates 1279 vom 30. November 1999. 50 Das Waffenstillstandsabkommen von Lusaka wurde im Juli 1999 von den am Bürgerkrieg beteiligten Staaten, d.h. der Demokratischen Republik Kongo, Angola, Namibia, Simbabwe, Ruanda und Uganda, unterzeichnet.

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worden. Ihre Aufgabe war von Anfang an schwierig, zumal der Bürgerkrieg im Kongo, der 1998 begonnen hatte und auf die Beseitigung von Präsident Laurent Kabila abzielte, wegen der Vielzahl der involvierten Akteure unter komplexen Rahmenbedingungen ablief. Auf der einen Seite wurde die Regierung Kabila von Angola, Namibia und Simbabwe unterstützt, auf der anderen Seite besetzten zwei Rebellenbewegungen51 gemeinsam mit Truppen Ruandas, Ugandas und Burundis große Teile des Nordens und Ostens des Landes. Ins Kreuzfeuer der Kritik geriet die MONUC erstmals im Sommer 2003, als 700 Peacekeeper in Bunia, der Hauptstadt des Distrikts Ituri, nichts unternahmen, um von Milizen an der Zivilbevölkerung des Landes begangene Massaker mit mehr als tausend Opfern zu verhindern. In den Folgejahren nahm die ethnische Gewalt vor allem im Osten Kongos so massiv zu, dass der Sicherheitsrat die Truppenstärke der MONUC schrittweise erhöhte und ihr ein robustes Mandat erteilte.52 Damit autorisierte er MONUC, alle notwendigen Mittel – also auch offensive Waffengewalt – einzusetzen, um ihr Mandat zu erfüllen. Obwohl die MONUC nunmehr resoluter vorgehen konnte, blieb der Osten des Kongo eine rechtlose Region, in der Rebellen sowie in- und ausländische Milizen die Zivilbevölkerung terrorisierten. Dies lag unter anderem daran, dass die Sicherheitsratsresolution die Aufgaben von MONUC nicht genügend spezifiziert hatte, sodass über die Robustheit des Mandats unterschiedliche Auffassungen bestanden. Auch wenn MONUC im Jahr 2004 beinahe 17.000 Soldaten umfasste, war sie im Verhältnis zur Größe ihres Einsatzgebiets und zur Bevölkerungszahl – auf einen Peacekeeper kamen 3.572 Kongolesen – eine relativ kleine Operation. Die dürftige Ausstattung – sowohl in personeller, als auch in logistischer Hinsicht – tat ein Übriges dazu, dass es der MONUC nicht gelang, die Lage unter Kontrolle zu bringen.53 Seit den Wahlen von 2006 verfügt die Demokratische Republik Kongo zwar über eine demokratisch legitimierte Regierung, aber nicht über Sicherheitskräfte, die eine effektive staatliche Kontrolle über dieses riesige und großteils schwer zugängliche Land sicherstellen können.54 Aufgrund dieser schwierigen Rahmenbedingungen und nicht zuletzt auch wegen der mangelnden Unterstützung durch die Staatengemeinschaft konnte die MONUC die in sie gesetzten Erwartungen zur Herstellung eines sicheren Umfelds insgesamt nicht erfüllen – ihre Wirkung als wichtiger Stabilitätsfaktor sollte aber dennoch nicht unterschätzt werden. 51 Die Rebellenorganisationen MLC (Mouvement pour la Libération du Congo) und RCD (Rassemblement Congolais pour la Démocratie). 52 Resolution des Sicherheitsrates 1493 vom 28. Juli 2003. 53 Zu alldem siehe Tull, Herkulesaufgabe Kongo, S. 91, 93 und 97. 54 Manahl, Friedenserhaltung im Grenzbereich, S. 121.

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b) ONUC Vierzig Jahre zuvor hatte dieselbe Region Dag Hammarskjöld mit einer der wohl schwierigsten Aufgaben seiner Amtszeit konfrontiert.55 Am 30. Juni 1960 hatte sich Belgisch-Kongo unter dem Namen „Republik Kongo“ für unabhängig erklärt. Premierminister wurde der sowjetnahe Führer der kongolesischen Unabhängigkeitsbewegung Patrice Lumumba und Präsident sein Gegenspieler Joseph Kasavubu. Die Unabhängigkeit war von der Kolonialmacht Belgien nur unzureichend vorbereitet worden und stellte das Land vor große Probleme, zumal nur wenige Kongolesen Erfahrung in Politik und Verwaltung hatten. Eine belgische Verwaltung war nach wie vor präsent, belgische Offiziere hatten Führungspositionen in der kongolesischen Armee inne, und eine belgische Bergwerksgesellschaft beutete die Bodenschätze in der reichsten Provinz des Landes, Katanga, aus. Nur wenige Tage nach der Unabhängigkeitserklärung kam es zu Unruhen, nachdem kongolesische Soldaten der ehemals belgischen „Force Publique“ den belgischen Offizieren den Gehorsam verweigerten. Schnell wurde klar, dass die Revolte Ausdruck einer allgemeinen gegen die belgische und europäische Bevölkerung gerichteten Haltung war. Die Lage spitzte sich noch weiter zu, als sich Katanga für unabhängig erklärte und Belgien Truppen schickte, um die Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten.56 Dieses Vorgehen wurde von der kongolesischen Regierung als Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes empfunden, sodass Lumumba und Kasavubu die Vereinten Nationen um sofortige militärische Hilfe ersuchten. Unter Berufung auf Art. 99 SVN, der zuvor noch nie aktiviert worden war, beantragte Hammarskjöld daraufhin die Einberufung einer Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates. Der Sicherheitsrat nahm einen tunesischen Resolutionsantrag an, der Belgien aufforderte, seine Truppen aus dem Kongo abzuziehen, und den Generalsekretär ermächtigte „to take the necessary steps, in consultation with the Government of the Republic of the Congo, to provide the Government with such military assistance as may be necessary until, through the efforts of the Congolese Government with the technical assistance of the United Nations, the national security forces may be able, in the opinion of the Government, to meet fully their tasks.“57 55 Hammarskjöld selbst bezeichnete die Mission als „the most difficult mission I have ever had to face“, zit. nach Fröhlich, Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen, S. 311. 56 Zu alledem vgl. Simmonds, Legal Problems Arising from the United Nations Military Operations in the Congo, S. 30 ff. und Wallensteen, Dag Hammarskjöld, S. 22 f. 57 Resolution des Sicherheitsrates 143 vom 14. Juli 1960, Z. 2. Die Resolution wurde mit acht Prostimmen (darunter die Sowjetunion und die USA) und drei Enthaltungen (China, Frankreich, Großbritannien) angenommen.

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Diese „notwendigen Schritte“ sah Hammarskjöld – wie schon zuvor in der Suezkrise – in der Einsetzung einer internationalen Peacekeeping-Operation, der „Opération des Nations Unies au Congo“ (ONUC). Bei der Rekrutierung der Kontingente suchte er in erster Linie die Unterstützung afrikanischer Staaten, bezog aber auch diesmal Truppen aus europäischen, asiatischen und lateinamerikanischen Staaten mit ein, um der ONUC einen internationalen Charakter zu verleihen. Die Staatengemeinschaft stellte – wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen58 – bereitwillig Truppen zur Verfügung, sodass die ONUC innerhalb von weniger als 48 Stunden stationiert werden konnte. Ihr vorrangiges Ziel war es, die kongolesische Regierung bei der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung zu unterstützen und möglichst rasch den Abzug der Belgier herbeizuführen. Dies wurde zügig umgesetzt, und im ganzen Land wurden belgische Truppen durch Peacekeeping Forces ersetzt – die Hammarskjöldsche Rechnung war also innerhalb kürzester Zeit aufgegangen. Massive Probleme bereitete Hammarskjöld aber die abgespaltene Provinz Katanga. In der Frage der weiteren Vorgangsweise in Katanga geriet er nämlich zunächst in Konflikt mit Premierminister Lumumba, der die ONUC instrumentalisieren wollte, um die Sezession Katangas niederzuschlagen – ein Ansinnen, das Hammarskjöld rigoros ablehnte. Gleichzeitig verweigerte aber die katangesische Provinzregierung den UN-Truppen den Zutritt, und Belgien war nicht bereit, seine Truppen aus Katanga abzuziehen. Zudem kritisierte auch die Sowjetunion das – ihrer Meinung nach – zu zögerliche Vorgehen Hammarskjölds, der den Einmarsch in Katanga aufschob und den Sicherheitsrat mit der Sache befasste. Dieser verlangte von Belgien den sofortigen Rückzug seiner Truppen und autorisierte – unter Hinweis auf die strikte Beachtung des Verbots der Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Kongo – den Einmarsch der Peacekeeping Forces in Katanga.59 Hammarskjöld begleitete persönlich die darauffolgende Stationierung der ersten UN-Einheiten in Katanga, und mit Anfang September 1960 hatten alle belgischen Truppen die Provinz verlassen, was zweifelsohne als großer Erfolg Hammarskjölds gewertet werden kann.60 58 Die afro-asiatischen Staaten wollten zum einen den Zusammenbruch des Kongo verhindern, weil dies der Dekolonisierung geschadet hätte, und zum anderen den Kongo auch nicht zum Kriegsschauplatz zwischen Ost und West werden lassen. Die Sowjetunion war daran interessiert, die Präsenz Belgiens möglichst rasch zu beenden, um selbst Einfluss nehmen zu können. Die USA wollten Unabhängigkeit und Stabilität, weil das Land über einen außerordentlichen Reichtum an Bodenschätzen verfügt und – in Zentralafrika gelegen – auch eine strategisch wichtige Position einnimmt; vgl. dazu Wallensteen, Dag Hammarskjöld, S. 25. 59 Resolution des Sicherheitsrates 146 vom 9. August 1960. Die Resolution wurde mit neun Prostimmen bei zwei Enthaltungen (Frankreich und Italien) angenommen.

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Die Katanga-Frage selbst blieb aber ungelöst. Zum einen mischten sich die Sowjetunion und Belgien weiterhin in den Konflikt zwischen der kongolesischen Zentralregierung und der katangesischen Provinzregierung unter Moïse Tshombé ein. Dazu kam eine elf Monate dauernde Regierungskrise zwischen Lumumba und Kasavubu.61 Da Kasavubu vom Westen, Lumumba aber vom Osten unterstützt wurde, drohte Kongo zu einem klassischen Schauplatz des Kalten Krieges zu werden. Wie immer achtete Hammarskjöld peinlich genau darauf, für keine Seite Partei zu ergreifen und sich lediglich seiner Verantwortung für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung zu widmen. Gerade diese unparteiische Haltung wurde ihm jedoch zum Verhängnis: Während die USA ihm mangelnde Unterstützung für Kasavubu vorwarfen, übte die Sowjetunion Kritik an seinem „kolonialistischen Handeln“. Im Sicherheitsrat kam daher kein Beschluss zustande, sodass wiederum eine „Emergency Special Session“ der Generalversammlung einberufen wurde. Dort wurde Hammarskjöld zwar von der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten das Vertrauen ausgesprochen,62 letztlich gelang es aber auch der Generalversammlung nicht, sich auf eine effektive Vorgangsweise zu einigen. So verblieben die Initiative und die Verantwortung für die Kongo-Krise allein beim Generalsekretär. Dabei ging Hammarskjöld immer mehr auf Konfrontationskurs sowohl zu den USA, die ihr eigene anti-kommunistische Vision verwirklichen wollten, als auch zu Frankreich, dessen Unmut er sich ohnehin schon wegen der Bizerta-Affaire63 zugezogen hatte. Vor allem aber verschlechterte sich sein Verhältnis zur Sowjetunion zunehmend. So nutzte denn auch der damalige Leiter der sowjetischen Delegation, Nikita Chruschtschow, die 15. ordentliche Generalversammlungstagung im Herbst 1960, um Hammarskjöld Voreingenommenheit gegenüber sozialistischen 60 Zu alldem und zur ONUC insgesamt vgl. die ausführliche Darstellung in United Nations (Hrsg.), United Nations Operation in the Congo (ONUC), S. 175–199. 61 Aus dieser Krise ging letztendlich durch einen Putsch Joseph Mobutu hervor, dem sich später Kasavubu anschloss. 62 Die von der Generalversammlung verabschiedete Resolution forderte nämlich die Staaten unter anderem auf, keine Waffen oder andere Kriegsmaterialien zur Verfügung zu stellen, es sei denn auf Geheiß des Generalsekretärs als Vertreter der Vereinten Nationen; vgl. Resolution der Generalversammlung 1474 (ES-IV) vom 20. September 1960, Z. 6. Die Resolution wurde mit 70 Prostimmen angenommen. Elf Staaten (der Sowjetblock, Frankreich und Südafrika) enthielten sich der Stimme, wobei der französische und der südafrikanische Delegierte ihre Enthaltung damit rechtfertigten, dass die Resolution in die inneren Angelegenheiten des Kongo interveniere. 63 Bizerta war ein Militärstützpunkt, den Frankreich auch nach der Unabhängigkeit Tunesiens behielt, um von dort aus den Algerienkrieg zu führen. Tunesien verlangte die Rückgabe des Stützpunktes, was Frankreich im Sommer 1961 mit militärischen Maßnahmen beantwortete. Der Konflikt wurde durch eine persönliche Intervention Hammarskjölds beigelegt und endete mit dem Abzug Frankreichs.

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Staaten und eine einseitige Unterstützung der Kolonialmächte vorzuwerfen. Er sei als Generalsekretär untragbar geworden und habe nicht den Mut zurückzutreten. In einer eindrucksvollen Rede verteidigte Hammarskjöld sich bzw. vielmehr seine Stellung als Generalsekretär und stellte unmissverständlich klar, dass er auf seinem Posten bleiben werde, was von den Delegierten mit minutenlangem Applaus beantwortet wurde.64 Dag Hammarskjölds letztes Jahr im Amt war im Grunde davon geprägt, dass weder der Sicherheitsrat noch die Generalversammlung in der Lage waren, Beschlüsse zu fassen, sodass der Generalsekretär weitgehend selbst die Lage analysieren und die Maßnahmen vorschlagen musste, die er für angebracht hielt. Im Februar 1961 wurde schließlich doch noch eine Resolution im Sicherheitsrat durchgebracht, mit der die ONUC ermächtigt wurde, als letzten Ausweg auch militärische Mittel einzusetzen, wenn dies notwendig sei, um einen Bürgerkrieg zu verhindern.65 Damit waren eigentlich die späteren – und nunmehr gängigen – robusten Peacekeeping-Einsätze bereits vorweggenommen. Noch drastischer als heute brachte allerdings die Umwandlung in eine robuste Mission große finanzielle Probleme mit sich, da sich die Sowjetunion und später auch Frankreich weigerten, die ONUC mitzufinanzieren.66 Abgesehen davon kam es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der kongolesischen Armee und sudanesischen Peacekeeping-Einheiten. Zudem wurde auch den UN-Truppen in Katanga immer stärkerer Widerstand geleistet und diese in Kampfhandlungen verwickelt. In dieser Situation war Hammarskjöld davon überzeugt, dass eine 64

„By resigning I would . . . at the present and dangerous juncture throw the Organization to the winds. I have no right to do so because I have a responsibility to all those member States for which the Organization is of decisive importance – a responsibility which over-rides all other considerations. It is not the Soviet Union or indeed any other big Powers which need the United Nations for their protection. It is all the others. In this sense, the Organization is first of all their Organization and I deeply believe in the wisdom with which they will be able to use it and guide it. I shall remain in my post during the term of office as a servant of the Organization in the interest of all those other nations, as long as they wish me to do so. In this context the representative of the Soviet Union spoke of courage. It is very easy to resign. It is not so easy to stay on. It is very easy to bow to the wishes of a big Power. It is another matter to resist. As is well known to all members of this Assembly, I have done so before on many occasions and in many directions. If it is the wish of those nations who see in the Organization their best protection in the present world, I shall now do so again.“; GAOR, 15th Session, 883rd Plenary Meeting, 3. Oktober 1960, Agenda Item 9, Z. 10–12. 65 Resolution des Sicherheitsrates 161 vom 21. Februar 1961, Z. 1. 66 Vgl. dazu das Rechtsgutachten, in dem der Internationale Gerichtshof feststellte, dass die Ausgaben der Organisation dann gerechtfertigt – und daher von den Mitgliedstaaten zu finanzieren – sind, wenn sie zur Erfüllung des Organisationszweckes angebracht sind; vgl. Certain Expenses of the United Nations (Article 17, paragraph 2, of the Charter), Advisory Opinion, ICJ Reports 1962, 151.

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Lösung der Krise nur durch direkte Verhandlungen erzielt werden könne. Er wollte deshalb mit Moïse Tshombé in Rhodesien zu einem persönlichen Gespräch zusammentreffen – ein Vorhaben, das er aber nicht mehr umsetzen konnte, nachdem sein Flugzeug beim Landeanflug auf Ndola aus ungeklärter Ursache abstürzte. Trotz allem war es zweifelsohne das Verdienst Dag Hammarskjölds, einmal mehr eine Gefährdung des Weltfriedens abgefangen zu haben. Es war ihm zwar nicht mehr möglich, eine Lösung für die Kongo-Krise zu erreichen, aber es ist ihm gelungen, den Kongo nicht zu einer Arena für Stellvertreterkriege werden zu lassen. Nach seinem Tod wurde die ONUC bis 1964 weitergeführt. Die Sezession Katangas wurde endgültig beendet, und die territoriale Einheit des Kongo blieb gewahrt. c) MONUC und ONUC: Same but different Die Parallelen zwischen der MONUC und der ONUC sind unübersehbar und zeigen die Grenzen komplexer Friedenssicherung auf. Beide Operationen waren und sind nach wie vor heftiger Kritik ausgesetzt, ganz einfach weil sie im Grunde mit den ihnen gestellten Aufgaben überfordert waren. In beiden Fällen liefen die Missionen unter politisch ausgesprochen verworrenen Bedingungen ab und erfuhren kaum oder zumindest nur phasenweise Unterstützung vonseiten der jeweiligen Regierung. Sowohl die MONUC als auch die ONUC starteten als klassische friedenserhaltende Operationen, waren aber mit den Mitteln, die traditionelles Peacekeeping anbietet, nicht imstande, die Lage im Land in den Griff zu bekommen. Dies zum einen, weil das Einsatzgebiet riesig und mit der personellen Ausstattung nicht unter Kontrolle zu bringen war. Das wiederum lag einerseits an der zu geringen Bereitschaft der Mitgliedstaaten, für die entsprechende finanzielle Bedeckung zu sorgen, aber auch an der mangelnden Bereitschaft der Staatengemeinschaft, zur Befriedung der Krise an einem einheitlichen Strang zu ziehen. Zum anderen führten einander widersprechende Interessenslagen zu ganz bewusst unscharf formulierten Mandaten in den jeweiligen Sicherheitsratsresolutionen. „Mission creep“ war die Folge: Klassisches Peacekeeping wurde den Anforderungen nicht mehr gerecht, und es musste mit der Autorisierung von offensiver Waffengewalt „nachgedoppelt“ werden. Aber auch dann blieben die Zielsetzung der nunmehr robusten Operationen und auch die Einzelheiten ihrer Umsetzung unter den Mitgliedstaaten umstritten, und der Sicherheitsrat verabsäumte es weiterhin, klar Stellung zu beziehen. Im großen Unterschied zur MONUC war die ONUC jedoch ein Kind des Kalten Krieges und ein Kind Dag Hammarskjölds. In weitaus dramatischerem Ausmaß als Kofi Annan und Ban Ki-moon in Bezug auf die MONUC

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hatte Hammarskjöld dementsprechend mit völlig konträren Großmachtinteressen zu kämpfen. Zeitweise gab es für zumindest drei der ständigen Sicherheitsratsmitglieder überhaupt keine gemeinsame Aktionsgrundlage, was zu einer vollkommenen Lähmung des Sicherheitsrates führte. Damit war Hammarskjöld gezwungen, selbst Regie zu führen, selbst Stratege zu sein und sich damit auch zwangsläufig den Unmut und der Kritik mehrerer Seiten auszusetzen. IV. Schlusswort Dag Hammarskjöld hat sich dieser schwierigen Aufgabe, wie allen seinen Missionen, nicht nur gestellt, sondern sich ihr mit großem persönlichen Einsatz hingegeben. Er war stets bestrebt, Probleme in einem frühen Stadium präventiv – etwa mit Hilfe stiller Diplomatie – in Angriff zu nehmen und aus den Ost-West-Auseinandersetzungen herauszuhalten. Das ist ihm nicht immer gelungen. So manche seiner Initiativen wurde von den Vetomächten im Sicherheitsrat boykottiert, sodass auch Hammarskjöld die Hände gebunden waren. Sein diplomatisches Talent und sein kreativer Intellekt, gepaart mit seinem Durchhaltevermögen und einer unkonventionellen Interpretation seines Amtes, ermöglichten es ihm aber auch in bereits fortgeschrittenen Konfliktstadien, geeignete Maßnahmen – etwa friedenserhaltende Operationen – zu entwickeln. Mit Sicherheit hat Generalsekretär Hammarskjöld damit dazu beigetragen, die Vereinten Nationen als Forum für Krisenmanagement und als relevanter Akteur im Bereich der Friedenssicherung salonfähig zu machen. Er selbst war bereit, für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens persönliche Risiken einzugehen. Sein Charisma und seine Führungsstärke kamen der Organisation, der er mit Leib und Seele diente, zugute. So mancher seiner Nachfolger hatte diese Funktion inne, weil er „etwas mehr Sekretär und etwas weniger General“67 war. Dag Hammarskjöld war eine große Persönlichkeit und General, kein Sekretär! Literatur Buber, Martin: Urdistanz und Beziehung, Heidelberg 1960. Delbrück, Jost: Politische Instrumente zur Beeinflussung von Regierungen. Diplomatie, Völkerrecht und internationale Organisationen, in: Die Konstitution des Friedens als Rechtsordnung. Zum Verständnis rechtlicher und politischer Bedingungen der Friedenssicherung im internationalen System der Gegenwart, hrsg. von Jost Delbrück und Klaus Dicke, Berlin 1996, 238–253. 67

Raabe, Mehr Sekretär als General, S. 3.

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III. Dag Hammarskjöld als Mystiker

Dag Hammarskjöld: Leben als Dienst an der internationalen Gemeinschaft – für all die Anderen Jodok Troy1 Am 18. September 2011 jährte sich der 50. Todestag des zweiten Generalsekretärs der Vereinten Nationen. Doch wenigen ist Dag Hammarskjöld heute jedoch noch ein bekannter Name. Manchen fällt im Laufe ihres Lebens Hammarskjölds „Tagebuch“ Zeichen am Weg in die Hände.2 Meist wird es aber rasch wieder zur Seite gelegt, weil es nicht spannend genug oder gar unverständlich ist. Angesichts der Entwicklung der Vereinten Nationen seit 1945 ist die Unwissenheit über deren zweiten Generalsekretär jedoch eine Lücke, und es ist es mehr als wert, genauer auf diese Lücke zu sehen. Dies betrifft zum einen die Geschichte der Vereinten Nationen als auch das Leben von Hammarskjöld selbst.3 Es ist aber vor allem die Art und Weise, in der Hammarskjöld das Amt des Generalsekretärs verstanden und geprägt hat, die es verdient, gewürdigt zu werden. I. Das Amt: verwaltender Sekretär und gestaltender General Anlässlich der offiziellen Trauerfeier 1961 in Schweden betonte Erzbischof Erling Eidem, Hammarskjölds Tod werfe die alte Frage nach dem Sinn des Lebens auf. Die Antwort, so der Erzbischof, sei einfach: „Der Sinn liegt im Dienen.“4 Und tatsächlich, Hammarskjölds spirituelles „Tagebuch“ Zeichen am Weg zeugt von einem heute oft mangelndem Verständnis vom Dienst an einer Gemeinschaft. Vielmehr noch – vom Dienst am Nächsten. Von diesem „Tagebuch“ schrieb Hammarskjöld einst an seinen 1 Für einen ausführlicheren Beitrag des Autors zu Dag Hammarskjöld und dieser Thematik siehe Troy, Dag Hammarskjöld. 2 Für die aktuellste Ausgabe siehe Hammarskjöld/Fröhlich/Knyphausen, Zeichen am Weg. 3 Für eine ausführliche Biographie über Hammarskjöld siehe insbesondere das Werk seines ehemaligen Mitarbeiters: Urquhart, Hammarskjöld. 4 Hoffman-Herreros, Dag Hammarskjöld, S. 82.

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Sekretär: „Wenn Du findest, da[ss] sie verdienen gedruckt zu werden, so gib sie heraus – als eine Art Weißbuch meiner Verhandlungen mit mir selbst – und Gott.“5 Als dieses Buch in Schweden erschien, waren Hammarskjölds schwedische Landsleute sowie viele andere beinahe schockiert, denn im Grunde ist es das Tagebuch eines Mystikers.6 Im Text dieses „Weißbuches“ findet sich keine Bezugnahme auf Politik oder konkrete Begebenheiten aus dem bewegten Leben des Generalsekretärs. Dies ist um so bemerkenswerter angesichts des Umstands, dass sein unmittelbarer Vorgänger Trygve Lie seinen schwedischen Nachfolger mit den bekannten Worten „Willkommen zum unmöglichsten Job der Welt“ empfangen hat und so auf die Schwierigkeiten dieses Amtes verwies. Und einer seiner Nachfolger, Kofi Annan, hat in Krisen die Frage geprägt „Was würde Hammarskjöld tun?“ In der Tat würde man sich bei einer Stellenausschreibung für die Stelle des Generalsekretärs der Vereinten Nationen schwer tun, alles Relevante knapp zusammen zu fassen, was er können muss und vor allem was er tun sollte. Wollte man dies in einem Satz machen, könnte dieser in etwa folgendermaßen lauten: Der Generalsekretär der Vereinten Nationen ist der oberste Diener der internationalen Gemeinschaft. Er ist der Vertreter der Menschheit. Sein Amt ist das eines „säkularen Papstes“7, wie es Hammarskjöld selbst einmal formulierte: ein Papst im Sinne der Wortbedeutung Pontifex Maximus, des obersten Brückenbauers – aller Menschen. So ist es nicht verwunderlich, dass es heute vor allem tatsächlich der Papst der Katholischen Kirche und der Generalsekretär der Vereinten Nationen sind, die sich, kraft ihres Amtes, an das moralische Gewissen der Menschheit schlechthin wenden.8 Hammarskjöld war, wie jeder gute Staatsmann, zwar kein Moralist, aber doch ein moralischer Mensch. Wie die Amtsbezeichnung „Generalsekretär“ aber impliziert, ist es nicht nur das verwaltende Amt eines „Sekretärs“ wie dies in Art. 97 der Satzung der Vereinten Nationen beschrieben ist: „Er ist der höchste Verwaltungsbeamte der Organisation“. Vielmehr ist es auch das Amt eines gestaltenden „Generals“. Art. 99 der Satzung hält dazu fest, dass der Generalsekretär „die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats auf jede Angelegenheit lenken“ kann, „die nach seinem Dafürhalten geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden.“ Beides hat Hammar5

Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 15. Stolpe, Dag Hammarskjöld, S. 101. 7 Kille, The secular Pope. 8 Dies ist nicht mit der legalen Autorität der Vereinten Nationen gleich zu setzen. Cooper/Patterson, UN Authority and the Morality of Force. 6

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skjöld als oberster Diplomat der Vereinten Nationen in unvergleichlicher Weise beherzigt. Beispielsweise hat er sich auf Art. 99 der Satzung gestützt und die Möglichkeiten dieses Artikels erstmals voll ausgeschöpft. Diplomaten arbeiten in einem Spannungsfeld, das gekennzeichnet ist vom Wunsch nach Beziehungen zwischen Menschen, aber auch der Existenz von Grenzen.9 Insofern sind auch Diplomaten von einer Gesinnungsethik, von persönlichen Überzeugungen geprägt, aber immer auch einer Verantwortungsethik, einer Ethik für ein Gemeinwesen verpflichtet. Verantwortungsethik gebietet es, seine eigenen Überzeugungen zurück zu nehmen, wenn es dem Wohl der vertretenen Gemeinschaft dienlich ist. Hans Morgenthau, der „Vater“ des politischen Realismus des 20. Jahrhunderts, hat dies folgendermaßen zusammengefasst: „Fiat justitia, pereat mundus“ (Tu Gerechtigkeit, selbst wenn die Welt zugrunde geht). Aber der Staat, beziehungsweise die für ihn, für das Gemeinwesen Verantwortlichen, dürfen, ja können dies nicht.10 Hammarskjöld ist ein Beispiel von gelebter Verantwortungsethik, geprägt durch sehr persönliche Überzeugungen, in und für die internationale Gemeinschaft bis zur Lebenshingabe. Als Generalsekretär der Vereinten Nationen ist er auch ein Beispiel für die gelebte Verantwortung eines Diplomaten in einer Welt, die sich zusehends von einer internationalen hin zu einer Weltgesellschaft entwickelt.11 Als neutraler Vermittler, der seine eigenen Interessen zurück nimmt und sich als international civil servant ganz in den Dienst der Organisation stellt, hat er sich verstanden. Ein aktiver neutraler Diener wollte er sein, „aktiv wie ein Instrument, ein Katalysator, vielleicht ein Anreger“, einer der „dient“. So hat es Hammarskjöld anlässlich seiner Ankunft in New York, vor Antritt seines Amtes, formuliert.12 John F. Kennedy hat kurz nach dem Tod von Hammarskjöld diesen, aktiven neutralen Diener als „größten Staatsmann unseres Jahrhunderts“ bezeichnet.13 II. Selbstaufgabe und Opferbereitschaft: Ein dreifaches „Ja“! Hammarskjöld war sich bewusst, für was er lebt und für was es sich lohnt zu sterben. Dies umso mehr, je tiefer er von einer mystischen Spiri9

Sharp, Diplomatic Theory of International Relations, S. 84. Morgenthau, Politics among Nations, S. 9. 11 Buzan, From International to World Society? 12 Foote, Dag Hammarskjöld, S. 27. 13 Williams, Who killed Hammarskjöld?, S. 239. 10

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tualität getragen war, in der die Leidensnachfolge Jesu Christi zur Wurzel für sein Verständnis vom Sinn als Dienen geworden ist. Vor seinem Tod ließ Hammarskjöld in seinem Hotelzimmer eine Ausgabe der Nachfolge Christi (De imitatione Christi) des christlichen Mystikers Thomas von Kempen zurück. Darin eingetragen war der Amtseid des Generalsekretärs der Vereinten Nationen: keiner Regierung zu gehorchen, sondern sich nur dem Geist der Satzung der Vereinten Nationen zu verpflichten.14 Abraham Lincoln wird der Satz nachgesagt: „Ich werde mich vorbereiten und eines Tages wird meine Chance kommen.“ Als Hammarskjöld 1953 das Amt des Generalsekretärs der Vereinten Nationen angeboten wurde, war dies für viele, auch für ihn selbst, überraschend. Er war jedoch in vielerlei Hinsicht gut darauf vorbereitet. Seine Karriere in Schweden verlief bis 1953 kontinuierlich nach oben: von seiner Tätigkeit im Finanzministerium über das Außenministerium bis hin zur Funktion als parteiloser Minister. Er blieb dabei, in traditioneller schwedischer Beamtentradition, stets neutral und parteilos. So war er schließlich auf ein politisches Amt vorbereitet, ohne je wirklich Politiker gewesen zu sein.15 Dass Hammarskjöld auf ein derartiges Amt vorbereitet gewesen ist, erklärt jedoch nicht, wie er es ausgeführt hat. Denn der Rahmen und die Begründung für sein Verständnis des Generalsekretärs der Vereinten Nationen finden sich nicht nur in der Beamtentradition, in der Prinzipientreue, sondern vielmehr auch in seinen persönlichen ethischen und religiösen Überzeugungen. Will man die Grundtexte, die diese Überzeugungen geprägt haben, identifizieren, wären dies, neben unzähligen anderen, am ehesten die Satzung der Vereinten Nationen, die Psalmen des Alten Testaments und das Neue Testament.16 Von seinen beiden Auffassungsmöglichkeiten der Vereinten Nationen, einer „statischen Konferenzmaschinerie“ oder eines „dynamischen Instruments“ hat sich Hammarskjöld stets zu letzterem bekannt.17 Insgesamt sind es drei Linien, drei „Vererbungen“, die Hammarskjöld zu dem gemacht haben wofür er heute steht: erstens das Erbe des Vaters, von dem er gelernt hat, dass kein Leben befriedigender ist als der selbstlose Dienst am Vaterland; zweitens das Erbe der Mutter, von der er den Glauben übernahm, dass im „radikalen“ Sinne der Evangelien alle Menschen als Kinder Gottes gleich sind. Wie man aber diese beiden Überzeugungen leben kann, wie man gleichermaßen ein aktives Leben für ein Gemeinwesen in der Harmonie des Glaubens leben kann, das hat Hammarskjöld, drittens, 14 15 16 17

Mögle-Stadel, Dag Hammarskjöld, S. 193. Wallensteen, Dag Hammarskjöld, S. 8. Lyon, The UN Charter, the New Testament, and the Psalms. Lash, Dag Hammarskjöld, S. 295–296.

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von den mittelalterlichen Mystikern gelernt.18 Wie für sie damals war für Hammarskjöld die Selbstaufgabe der Weg zur Selbstverwirklichung. Gerade durch die Innerlichkeit wird man befreit zu den großen Aufgaben des Lebens und zu dem was kommt, „ja“ zu sagen wie er es in Zeichen am Weg beschreibt: „Ja zu Gott: ja zum Schicksal und ja zu dir selbst . . .“19 Insofern überrascht auch Hammarskjölds Interesse am Elsässer „Urwaldarzt“ Albert Schweizer und dem jüdischen Philosophen Martin Buber nicht. Zeichen am Weg ist von zwei zentralen Motiven gekennzeichnet: Dienen durch Selbstaufgabe und Opferbereitschaft. So nimmt auch die Bedeutung des Todes einen gewichtigen Platz in seinem Tagebuch ein. Die christliche Tradition, sich täglich den Tod vor Augen zu führen, hilft ihm nicht zuletzt das Leben zu nutzen. Sein Leben und dessen Chancen hat er in der Ausgestaltung des Amtes des Generalsekretärs der Vereinten Nationen genutzt. Während seiner Amtszeit hat Hammarskjöld vor allem Weitblick für die Vereinten Nationen bewiesen. Mehr noch: er gab einen „Weltausblick“.20 III. Hammarskjölds Vermächtnis: Ein Instrument für die Anderen So hat Hammarskjöld die Vereinten Nationen und deren Chancen als das gesehen, was sie damals waren: ein neues Element internationaler Politik, immer gehemmt durch nationalstaatliches Denken der Mitglieder und bestimmt durch den Willen der fünf Vetomächte. Hammarskjölds Innovationen im Rahmen der Vereinten Nationen waren vor allem die Betonung „stiller“ und präventiver Diplomatie, aber auch die Einrichtung der sogenannten UN-Blauhelme in Peacekeeping Operationen. So erreichte er 1955 die Freilassung Amerikanischer Piloten, die in der Volksrepublik China inhaftiert waren, oder 1956 eine Entschärfung der Suezkanal-Krise durch die Entsendung von Blauhelmsoldaten. Als er von der Generalversammlung den Auftrag bekam, eine Spezialtruppe der Vereinten Nationen zu organisieren, war er es, der deren Richtlinien erstellte die bis heute im Wesentlichen noch immer Bestand haben. In anderen weltpolitischen Krisen hingegen, wie etwa in der Vermittlung des „Ungarnaufstandes“ von 1956, scheiterte auch er an den Strukturen der Vereinten Nationen und dem Machteinfluss der dort vertretenen Großmächte. Sein letzter Vermittlungsversuch Anfang der 1960er Jahre in der Demokratischen Republik Kongo (ehemals Belgisch-Kongo) sollte ihm sein Le18 19 20

Foote, Dag Hammarskjöld, S. 23–24. Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 86. Jones, The World Outlook of Dag Hammarskjöld.

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ben kosten. Er starb während einer Vermittlungsreise am 18. September 1961, durch einen Flugzeugabsturz unter bis heute ungeklärten Ursachen.21 Das, was sich in seinen Gedanken im Tagebuch längst schriftlich abzeichnete, die Bereitschaft auch sein Leben für eine Sache hinzugeben, ist schlussendlich eingetreten. Zwar sagen manche Hammarskjöld einen „Christuskomplex“ nach. Doch war seine Opferbereitschaft, bei genauer Betrachtung der Zeichen am Weg, weder Suche noch Sehnsucht nach dem Tod. Der Gefährlichkeit des Amtes war sich Hammarskjöld durchaus bewusst. Auch ein anderer prominenter Mitarbeiter der Vereinten Nationen und Hammarskjölds Landsmann, Graf Folke Bernadotte, ist 1948 während seiner Vermittlungsbemühungen in Palästina ums Leben gekommen. Hammarskjölds Tod im Dienst der Vereinten Nationen hat eine Entwicklung vorweggenommen, die mittlerweile traurige Realität ist: die Lebensgefahr, der heute täglich Tausende Mitarbeiter der Vereinten Nationen in internationalen Missionen ausgesetzt sind. In seinen letzten Amtsjahren hat Hammarskjöld seinen Dienst zunehmend mehr als den eines „Generals“ denn eines „Sekretärs“ interpretiert. Hammarskjölds „Vermächtnis“ ist zunächst eines der Vereinten Nationen. Er hat diese Organisation als ein Instrument gesehen, den Interessen der Mitglieder ein Forum zu geben. Dementsprechend hat er die Organisation als solche, aber auch sein eigenes Amt, an die Erfordernisse einer weltpolitischen Bühne, die von unterschiedlichen Interessen geprägt ist, angepasst und reformiert. Es ist aber sein persönliches „Vermächtnis“, das uns heute, wenn nicht als Vorbild, so doch zumindest zum Nachdenken veranlassen sollte: den „Sackgassen“ und Widersprüchlichkeiten menschlichen und politischen Lebens ins Auge zu blicken. Hammarskjöld hat durch sein Leben vorgezeigt, dass das Leben eines gläubigen Menschen ein aktives, ein tätiges sein muss – gerade durch die Hinwendung Gottes zum Menschen, gerade angesichts menschlicher „Sackgassen“. Es finden sich in Zeichen am Weg keine Hinweise, die Gott anklagen oder ihn verteidigen, noch Spekulationen über das Leid in der Welt. Vielmehr wird die Frage nach Leid dadurch beantwortet, dass es bekämpft wird.22 Der Einsatz dafür erfordert Hingabe und Opferbereitschaft. „Leben in Gott ist nicht Flucht aus dem Leben, sondern der Weg zur vollen Einsicht: Es ist nicht unsere Verdorbenheit, die uns zu einer fiktiven religiösen Lösung zwingt, sondern das Erleben der religiösen Wirklichkeit, welches 21 Die aktuellste und bis dato wohl umfassendste wissenschaftliche Untersuchung zum Tod von Hammarskjöld liefert zwar keine eindeutige Ursache, kommt aber zum Schluss, dass Hammarskjölds Tod mit großer Wahrscheinlichkeit das Resultat einer „sinisteren Intervention“ war. Williams, Who killed Hammarskjöld?, S. 232. 22 Aulen, Dag Hammarskjöld’s White Book, S. 95.

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die Nachtseite ans Licht bringt.“23 „Gott“ ist für Hammarskjöld, anders ausgedrückt, „eine Stille die antwortet“24. Und so war Hammarskjölds Einsatz als „General“ einer, der das „Instrument“ der Vereinten Nationen für „den Anderen“, für den Nächsten verstanden hat. Durch seine mystischen Meditationen, der Erfahrung Gottes der Zuwendung zu allen Menschen, wurde er befähigt, sein Leben als neutrales Dienen an der Menschheit zu verstehen. Insofern war er auch „Sekretär“, der seine eigenen Interessen hintanstellte – wohlwissend um die rivalisierenden Interessen. Anlässlich seiner Rede zu einem Konzerttag der Vereinten Nationen hat Hammarskjöld, am Beispiel von Beethovens 9. Sinfonie, eindrücklich dargelegt: „On this road from conflict and emotion to reconciliation in this final hymn of praise, Beethoven has given us a confession and a credo which we, who work within and for this Organization, may well make our own. We take part in the continuous fight between conflicting interests and ideologies which so far has marked the history of mankind, but we may never lose our faith that the first movements one day will be followed by the fourth movement. In that faith we strive to bring order and purity into chaos and anarchy. Inspired by that faith we try to impose the laws of the human mind and of the integrity of the human will on the dramatic evolution in which we are all engaged and in which we all carry our responsibility.“25

„ ‚Andere als Ziel und nicht als Mittel behandeln‘. Und mich selbst als Ziel nur in meiner Eigenschaft als Mittel“26, war Hammarskjölds Vision einer Menschheitsethik. Dies bedeutet vor allem, sich für die Schwachen und Machtlosen einzusetzen. Für seinen Einsatz für „die Anderen“, für die Machtlosen, hat Hammarskjöld posthum auch den Friedensnobelpreis verliehen bekommen. In Folge der Rücktrittsforderungen der Sowjetunion im Zuge seines Engagements in Afrika erklärte Hammarskjöld für sein Amtsverständnis paradigmatisch: Es sind nicht die Großmächte, die des Schutzes der Vereinen Nationen bedürfen. Es sind all die anderen.27 Literatur Aulen, Gustav: Dag Hammarskjöld’s White Book. An Analysis of Markings, London 1970. Buzan, Barry: From International to World Society? English School Theory and the Social Structure of Globalisation, Cambridge 2004. 23 24 25 26 27

Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 152. Kendrick, Holy Clues, S. 69. Meine Übersetzung. Hammarskjöld, Remarks at United Nations Day Concert. Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 37. Foote, Dag Hammarskjöld, S. 319.

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Dag Hammarskjölds Gedanken als Wegmarken tiefer Politik Clemens Sedmak Dag Hammarskjölds wegweisende Gedanken, wie sie in seinem posthum veröffentlichten Tagebuch festgehalten sind, drücken ein Verständnis des Politischen aus, das ich als „tiefe Politik“ bezeichnen möchte. Unter „tiefer Politik“ verstehe ich eine Form der öffentlichen Machtausübung, (i) deren Protagonisten um eigenes Wachstum bemüht sind und selbstreflexiv am Aufbau einer Kultur von Innerlichkeit arbeiten, (ii) die den fundamentalen Fragen, die eine Gesellschaft als ganze betreffen, nicht ausweicht. Fundamentale Fragen sind die Fragen nach Grundlagen und Ziel des Gemeinwesens und nach deren Ordnung, innerhalb dessen politisches Tun stattfindet. Tiefe Politik stellt ethische Fragen nicht nur in Bezug auf einzelne Aspekte des politischen Entscheidungsspektrums, sondern auch in Bezug auf das Politische insgesamt. Mit der Bindung an eine Reflexionskultur und mit der Bindung an eine Auseinandersetzung mit fundamentalen Fragen steht „tiefe Politik“ in besonderer Beziehung zu Wahrheit und Sinn.1 Diese beiden Verpflichtungen auf Wahrheit und Sinn gelten auf Ebene der einzelnen Verantwortungsträger wie auch auf Ebene der politischen Prozesse und Institutionen. In einem ersten Schritt soll das Verständnis tiefer Politik skizziert werden, um es dann anhand von Hammarskjölds Notizen auf Ebene der „Arbeit am Selbst“ und der „Lebensordnung“ zu exemplifizieren. I. Tiefe Politik 1. Politik und die Verpflichtung auf Wahrheit Tiefe Politik ist, weil sie sich um eine Kultur von Reflexion und Reflexivität bemüht und diese Kultur nicht ins Bodenlose der Beliebigkeit fallen 1 Arne Naess hatte in einem bekannten Aufsatz aus dem Jahr 1973 den Begriff der „deep ecology“ eingeführt und damit vor allem auch die Art des inneren Engagements der Beteiligten eingemahnt und eine Perspektive jenseits der beobachtbaren Dynamiken. Siehe Naess, The shallow and the deep. Eine Perspektive über die prima facie feststellbaren Verhältnisse finden wir auch im Begriff der Tiefengrammatik, der sich in Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen“ findet.

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kann, sondern auf Verankerung angewiesen ist, der Wahrheit verpflichtet. Das bedeutet, dass vor allem drei Kategorien in den Vordergrund treten: Zum einen die Kategorie von Wahrheiten auf der Ebene von Tatsachen und auf der Ebene von Gesetzmäßigkeiten; zum zweiten die Kategorie der Glaubwürdigkeit (Aufrichtigkeit im Umgang mit Wahrheit); zum dritten die Kategorie der Selbsttäuschung als Schlüssel zu einer Politik der Lüge. a) Dass Politik, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, nicht selbstverständlich ist, hatte Hannah Arendt in ihren einflussreichen Beiträgen über Lüge, Wahrheit und Politik herausgearbeitet.2 Mehr noch: Wahrheit und Politik stehen im Grunde auf Kriegsfuß miteinander, wie es das Wort „Fiat iustitia, et pereat mundus“ ausdrückt; es bedarf tiefer Reflexion, Urteilskraft und langfristiger Perspektiven, um nicht „Sicherheit vor Wahrheit“ zu stellen.3 Tiefe Politik ist deswegen notwendig, weil eine Gesellschaft, die auf Lüge gebaut ist, langfristig unter großen Druck gerät oder schlicht unhaltbar ist. Um zwei Beispiele zu nennen: Soziale Sicherungssysteme wie das Alterssicherungssystem kommen ebenso an Grenzen wie Energie- und Umweltpolitik, wenn Wahrheit über demographischen Wandel und Klimawandel ignoriert oder nicht systematisch eruiert wird. Politik beruht nach einer tiefen Einsicht Hannah Arendts auf Meinungen, auf Positionen und nicht in erster Linie auf Wahrheit. Dennoch werden auch mit Meinungen Geltungsansprüche erhoben. Die Unterscheidung zwischen Meinung und Wahrheit ist Kernanliegen einer Politik, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlt. Anders gesagt: „Tiefe Politik“ ist erkenntnistheoretisch gerahmte Politik, die im Rahmen eines epistemologischen Bemühens, zwischen „doxa“ und „episteme“ zu unterscheiden, stattfindet. Tiefe Politik operiert mit erhöhten Begründungsansprüchen und widersetzt sich damit der politischen „Neigung, Tatsachen in Meinungen aufzulösen, bzw. den Unterschied zwischen beiden zu verwischen.“4 Der Verpflichtung auf Wahrheit entspricht ein Verständnis von Wahrheit, das diesen Unterschied zwischen „Meinung“ und „Wahrheit“ nicht dadurch aufweicht, dass „Wahrheit“ in die Nähe einer Konstruktion gerückt und damit mit einer gewissen Beliebigkeit ausgestattet wird. Die im Gegensatz zur Meinung stehenden Wahrheit geht über den Bereich des beliebig Aushandelbaren und Veränderbaren hinaus. Gerade damit bewegt sie sich auch in einer Spannung zur Politik, die sich in der Sphäre des Veränderbaren und des Verhandlungsraumes abspielt. In einer schönen Formulierung Arendts: „Vom Standpunkt der Politik gesehen ist Wahrheit despotisch; und dies ist 2 Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik. Dazu erhellend in Bezug auf die Einordnung der Fragestellung der Beitrag von Nelson, Politics and Truth. 3 Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, S. 44 f. 4 Ebd., S. 56.

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der Grund, warum Tyrannen sie hassen und sie Konkurrenz mit ihr fürchten“.5 Politik findet in der Sphäre menschlichen Handelns statt, in der ein Neuanfang stets möglich ist. Dies hat vor allem auch mit der Einsicht zu tun, dass Dinge anders sein könnten, als sie sind. Das Vermögen zur Einschätzung dieser Kontingenz ist die Vorstellungskraft oder Einbildungskraft. Hier treffen sich Politik und die Idee der Möglichkeit eines Neuanfangs. Aufgrund des Gespürs dafür, dass die Dinge anders kommen könnten, haben wir es mit einer natürlichen Verbindung von Politik und Lüge zu tun: „Da alles, was geschieht, auch anders hätte kommen können, sind die Möglichkeiten, die dem Lügen offenstehen, unbegrenzt“.6 Tiefe Politik weiß um die Gefährdung des Umgangs mit Wahrheit, ist doch das Gewebe von Wahrheiten über Kontingentes, weil sie sich auf das Einmalige und Unwiederholbare beziehen, zerbrechlich. Aus diesem Grund wird man sich um die Wahrheit entschieden und angestrengt bemühen müssen. Die Kategorie von „Wahrheit“ auf verschiedenen Ebenen ist ein Schlüssel zu tiefer Politik. Hannah Arendt hat zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten unterschieden; erstere beziehen sich auf Gesetzmäßigkeiten, wie sie Naturwissenschaften oder auch Philosophie jenseits des Kontingenten mit dem Anspruch von Allgemeingültigkeit formulieren, letztere betreffen den Bereich der Praxis, in dem Tatsachen in ihrer Einmaligkeit auftreten. Die Gewichtung von Tatsachen ist eine politische Aufgabe – etwa das Filtern von Informationen für den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.7 Die Vernunftwahrheiten betreffen auch den Rahmen, innerhalb dessen sich Fragen nach Tatsachenwahrheiten abspielen; jene politisch in Frage zu stellen, steht auf einer anderen Ebene als die Leugnung von Tatsachenwahrheiten. Es ist ein Unterschied, um es in einem Bild zu sagen, ob Lehrbücher der Physik oder Lehrbücher der Geschichte verbrannt werden. Der Angriff auf Tatsachenwahrheiten betrifft den Bereich menschlichen Handelns und damit den Bereich des Politischen; im Angriff auf Vernunftwahrheiten bewegt sich die Politik außerhalb ihrer je eigenen Sphäre.8 Tiefe Politik wird sich um Wahrheit nicht nur in dem Sinne bemühen, dass Tatsachenwahrheiten zuzumuten sind. Man kann den Umgang der Politik mit dem, was Arendt unter Tatsachenwahrheiten versteht, die sich also 5

Ebd., S. 61. Ebd., S. 83; 9. 7 Ebd., S. 12. 8 Arendt hat dies mit dem Satz ausgedrückt: „Da philosophische Wahrheit den Menschen im Singular betrifft, ist sie ihrem Wesen nach unpolitisch“ (ebd., S.). Dahinter steht natürlich eine bestimmte Auffassung vom Begriff philosophischer Wahrheit, der deutlich macht, dass die politische Relevanz der Philosophie durch die Urteilskraft, die Allgemeines und Besonderes zusammenbringt, konstituiert wird. 6

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auf Einmaliges und Kontingentes beziehen, als Lackmustest politischer Qualität sehen: „Die Frage ist, warum unter gewissen und keineswegs seltenen Umständen das unbekümmerte Aussprechen von Faktizitäten bereits als eine antipolitische Haltung empfunden wird“.9 Dies zeigt sich vor allem auch im Umgang mit der Vergangenheit und der politischen Gestaltung von kulturellem und sozialem Gedächtnis. Hier kann auch gezeigt werden, dass die Bindung des politischen Diskurses an Wahrheit, aufgrund der Vielschichtigkeit von Wahrheit, komplex ist. Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission, die als Beispiel für tiefe Politik gelten kann, hat vier Begriffe von Wahrheit unterschieden, die in der Arbeit der Kommission maßgeblich waren: forensische Wahrheit oder Tatsachenwahrheit, persönliche und narrative Wahrheit, soziale Wahrheit, restorative Wahrheit.10 Diese Wahrheitsformen und Wahrheitsebenen sind miteinander verbunden, aufeinander angewiesen und eingebettet in einen Rahmen prozeduraler Gerechtigkeit, der auch erkenntnistheoretisch für die angesprochene Unterscheidung von „episteme“ und „doxa“ relevant ist. Wie immer man die Arbeit der TRC im Einzelnen beurteilen mag, kann sie, aufgrund der kritischen Selbstreflexivität der eigenen Arbeit und der Auseinandersetzung mit den fundamentalen Fragen nach Zukunft und dem Gefüge einer Gesellschaft als ganzer, als Beispiel für tiefe Politik gelten. Überhaupt ist es plausibel, konzertierte und selbstreflexive politische Anstrengungen um Wahrheit, wie sie in Wahrheitskommissionen zum Ausdruck kommen (können), als Ausdruck tiefer Politik anzusehen.11 b) Die zweite Kategorie, die für tiefe Politik als „Politik in Wahrheit“ entscheidend ist, ist die Kategorie der Glaubwürdigkeit. Der Begriff der Glaubwürdigkeit avancierte in Überlegungen zu einer Ethik des öffentlichen Lebens zu einer Kernkategorie.12 Glaubwürdigkeit ist eine Kategorie, die mit den Begriffen „Wahrhaftigkeit“, „Integrität“ und „moralischer Anstrengung“ in Zusammenhang gebracht werden kann. „Wahrhaftigkeit“ bezieht sich auf das aufrichtige und auch angesichts von Widrigkeiten bestehende Bemühen, die erkannte Wahrheit zu sagen und nach der erkannten Wahrheit zu leben; „Integrität“ bezieht sich auf die Redlichkeit der Absicht, sich an der Wahrheit auszurichten und das eigene Leben damit nicht nur von 9

Ebd., S. 59. TRC Final Report, Vol 1, S. 110–114; siehe auch die kritischen Bemerkungen in Bezug auf den Wahrheitsbegriff in ebd., Vol 5, S. 441 f. 11 Rotberg/Thompson, Truth and Justice; Chapman/Ball, The Truth of Truth Commissions; Kaminski und Nalepa haben den Wahrheitsbegriff als entscheidendes Instrument zur Beurteilung von Konfliktlösungsanstrengungen angesiedelt: Kaminski/Nalepa, Judging Transitional Justice. 12 Trilling, Sincerity and Authenticity; Taylor, The Ethics of Authenticity; Ferrara, Reflective Authenticity; Dernbach/Meyer, Vertrauen und Glaubwürdigkeit. 10

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einem persönlichen Standpunkt aus zu gestalten und in den Dienst eines größeren Rahmens zu stellen; „moralische Anstrengung“ spricht den Aufwand an, der mit dem Bemühen um Wahrheit und deren Umsetzung wie auch mit der Bereitschaft, auch einen Preis für dieses Bemühen zu bezahlen, verbunden ist. Der Begriff der Glaubwürdigkeit bewegt sich an der Schwelle von Gesinnung und Handeln, Glaubwürdigkeit hängt an der Korrespondenz zwischen Rede und Tun, an der Kohärenz der eigenen Lebensführung und Selbstpräsentation in den unterschiedlichen Lebenskontexten, an der Sensibilität gegenüber dem jeweils vorliegenden Kontext und an der Konsequenz im Umsetzen von Versprechen. In diesem Sinne hat Glaubwürdigkeit vor allem mit einem Freisein von Widersprüchlichkeit zu tun. Widersprüchlichkeit wird dabei in dem Sinne geschichtlich angesetzt, dass in der Vergangenheit eingegangene Bindungen („commitments“) durch Versprechen oder Positionierungen als Referenzgröße herangezogen werden. Robert Brandom hat diese Dynamik der nachwirkenden Selbstverpflichtung mit dem Begriff der „discursive commitments“ ausgedrückt – die derart strukturiert sind, dass mich jede Aussage, die ich treffe, auf weitere sprachliche Handlungen festlegt.13 Glaubwürdigkeit hat wesentlich mit der Anerkennung von eingegangenen Selbstverpflichtungen (und mit der entsprechenden Einlösung dieser Anerkennung im Handeln) zu tun. Auch wenn durchaus auch eine politische Partei oder eine Institution mit dem Begriff der Glaubwürdigkeit vermessen werden kann, ist die Kategorie doch zunächst eine persönlichkeitsbezogene Kategorie, die auf einen einzelnen Menschen bezogen ist. Damit kommt, wenn man die Kategorie der Glaubwürdigkeit in den Raum der Öffentlichkeit nimmt, eine subjektive Note in das politische Geschehen. Charles Taylor hat in seinem Werk Ethics of Authenticity Glaubwürdigkeit als Signatur unserer Zeit charakterisiert und dabei Authentizität definiert als „be true to yourself“, sich selbst gegenüber wahrhaftig und aufrichtig sein, also „du selbst sein“.14 Hier wird Glaubwürdigkeit mit Quellen für die unverwechselbare, einzigartige Identität verbunden. Der glaubwürdige Mensch vermag seine eigene Geschichte zu erzählen und seine – als je eigene erfahrene und kultivierte – Geschichte zu leben.15 Das verlangt dann Selbstreflexion und 13

Brandom, Making It Explicit. „Being true to oneself means being true to my own originality, and that is something only I can articulate and discover. In articulating it, I am also defining myself. I am realizing a potentiality that is properly my own. This is the background understanding to the modern ideal of authenticity, and to the goals of selffulfilment or self-realization in which it is usually coached.“ Taylor, The Ethics of Authenticity, S. 29. 15 Lange vor Taylor hat Jean Paul Sartre Glaubwürdigkeit im Sinne der Verantwortung für den eigenen Lebensentwurf und den je individuellen Freiheitsentwurf 14

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das Bemühen um Selbsterkenntnis, wie es im Tagebuch von Dag Hammarskjöld zum Ausdruck kommt. Das Gut der Glaubwürdigkeit ist gerade auch deswegen ein „bonum“, weil es das Vertrauen und damit das Bindemittel des Zusammenlebens tangiert. Glaubwürdigkeitsverluste sind schwer zu sanieren, weil sie die Grundlage des Vertrauens untergraben. In dem 1971 erschienen Aufsatz „Lying and Politics“, in dem sie mit der Vietnampolitik der USA abrechnet, spricht Hannah Arendt von der „Glaubwürdigkeitslücke“16, und tatsächlich hat der Vietnamkrieg eine Vertrauenskrise in die amerikanische Politik gebracht, die sich bis zu den Golfkriegen gezeigt haben dürfte.17 Tiefe Politik ist gekennzeichnet durch Sensibilität gegenüber den Vertrauensfundamenten; diese liegen einerseits und vor allem in den Verantwortungsträgern, andererseits in den Institutionen. „Vertrauen in Menschen“ („trust in people“) und „Vertrauen in Systeme“ („trust in abstract systems“) sind miteinder verbunden, aber begrifflich zu unterscheiden. Vertrauen in Menschen „is built upon mutuality of response and involvement: faith in the integrity of another is a prime source of feeling of integrity and authenticity of the self. Trust in abstract systems provides for the security of day-to-day reliability, but by its very nature cannot supply either the mutuality or intimacy which personal trust relations offer.“18 Glaubwürdige Verantwortungsträger/innen und glaubwürdige Institutionen werden die Unterscheidung zwischen persönlichem Vertrauen und Systemvertrauen nicht zu einer Kluft ausweiten lassen. Die Politik hat es, wenn es um das Vertrauen geht, mit einem zerbrechlichen Gut zu tun, das langsam aufgebaut wird und rasch verloren gehen kann. Tiefes Vertrauen als Ergebnis tiefer Politik zeigt sich dort, wo Menschen einer Person oder einem System auch in schwierigen Verhältnissen und angesichts von Widrigkeiten und Einschränkungen vertrauen. In diesem Sinne sind Formen totalitärer Herrschaft, die auf Angst beruhen, Maschinerien zur systematischen Destruktion von Vertrauen, was wiederum die Notwendigkeit politischer Kontrolle stärkt, die Vertrauensvakuen durch Machtfülle abdeckt. Politik, die der Wahrheit verpflichtet ist, bemüht sich um Glaubwürdigkeit ihrer Vertreter/innen und geht dadurch sorgsam mit dem fragilen Gut des Vertrauens um. charakterisiert. Baugh, Authenticity Revisited. Als „Echtheit“ und „Selbstsein“ und „Identitätskonstruktion aus Freiheit“ und „Selbstverantwortung“ fungiert der Authentizitätsbegriff als „existentielle Tugend“ in der Existenzphilosophie. Siehe Grene, Authenticity. 16 Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, S. 7. 17 Die Krise betraf das Vertrauen der US-Bürger/innen in die Politik ebenso wie das Vertrauen der Armee in die politische Führung; verloren ging vor allem der Konsens über die Grundlage der Zuerkennung von Ehre. Berman, No Honor; Ryan, The Other Side of Grief. 18 Giddens, The Consequences of Modernity, S. 114.

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c) Selbsttäuschung ist als dritte Kategorie der Wahrheitsverpflichtung tiefer Politik zu nennen. Selbsttäuschung steht der Verpflichtung auf Wahrheit auf gefinkelte und schwer in den Griff zu bekommende Weise entgegen. Wir haben es hier mit einer in sich widersprüchlichen epistemischen Situation zu tun, in der sich ein Mensch befindet. Ein Mensch befindet sich im Zustand der Selbsttäuschung, wenn er die Umgebung von epistemischer Arbeit so gestaltet, dass eine Überzeugung oder ein Bündel von Überzeugungen auf eine Rechtfertigungsbasis verweist, wobei „counter evidence“ zur Rechtfertigungsbasis systematisch aus der epistemischen Umgebung ausgeschlossen ist. Epistemische Arbeit ist jene Orientierungsarbeit, die wir leisten müssen, um uns Überzeugungen anzueignen, um Überzeugungen zu ordnen und zu verwalten und um Überzeugungen aufrechtzuhalten und gegebenenfalls zu verteidigen. Die Umgebung dieser epistemischen Arbeit („epistemische Umgebung“) ist der Rahmen, innerhalb dessen die epistemische Arbeit stattfindet, also der Kontext als Gesamt sprachlicher und außersprachlicher Einrichtungen und Tätigkeiten oder die Lebensform. Selbsttäuschung lässt epistemische Arbeit zu, arbeitet auch an einer Basis zur Begründung und Rechtfertigung der erhobenen Geltungsansprüche, setzt die Rechtfertigungsbasis selbst aber nicht einer kritischen Prüfung aus und operiert deswegen mit einem geschlossenen Gefüge von Überzeugungen. Anders gesagt: Selbsttäuschung ist ein Prozess systematischer Exklusion relevanter, aber unerwünschter Erkenntnisgründe. Selbsttäuschung ist eine nicht der Wahrheit entsprechende Einschätzung der eigenen Position im Kosmos, die aber gleichzeitig mit starken Wünschen verbunden ist. Scott Peck beschreibt aus psychiatrischer Sicht Menschen, die sich in einer permanenten Form der Realitätsverweigerung befinden, in einer Lüge oder einem Netz von Lügen gefangen sind, einer Lebenslüge erliegen, auf Grundlage einer Form des malignen Narzissmus, der mit verhärteten Konturen eines Selbstbildes und starken Geltungs- und Kontrollwünschen verbunden ist.19 Ken Bach hat in einer Analyse des Begriffs der Selbsttäuschung vorgeschlagen, den Begriff nicht im Sinne einer vollends geschlossenen epistemischen Umgebung zu verstehen, sondern im Sinne der wie auch immer diffusen Wahrnehmung einer zu bekämpfenden Widersprüchlichkeit: „The self-deceiver desires that not-p while believing that p, and what he does is to avoid the sustained or recurrent thought that p.“20 Bach unterscheidet Selbsttäuschung vom Wunschdenken, von intellektueller Blindheit, vom verzerrten Denken und von Irrationalität. Selbsttäuschung ist damit ein Fall von drei inneren Bewegungen – einer appetitiven Bewegung des Wollens und Sehnens und zwei kognitiven Be19 20

Peck, People of the Lie. Bach, An analysis of self-deception, S. 354.

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wegungen, einer des Überzeugtseins und einer der Überzeugungsvermeidung. Auffallend wird Selbsttäuschung in der Regel dann, wenn Menschen aus dieser Selbsttäuschung erwachen (der Begriff des Erwachens scheint für diesen Dämmerzustand durchaus zutreffend). Das Märchen von des Kaisers neue Kleider ist ein Fall von Selbsttäuschung, Kazuo Ishiguro beschreibt ein Szenario von Selbsttäuschung in seinem bekannten Werk The Remains of the Day. Eintrittsstellen für Selbsttäuschung, die Robert Trivers für ein fundamentales menschliches Phänomen hält,21 ist die Täuschung von anderen. Selbsttäuschung entsteht, so die These Trivers, gerade dadurch, dass wir die kognitiven Kosten des Lügens verringern und mehr Selbstbewusstsein entwickeln. Selbsttäuschung bildet die Grundlage für die problemlose Abwicklung von Täuschungen – indem sich das betreffende Erkenntnissubjekt von bestimmten mentalen Prozessen, die die Grundlage der Selbsttäuschung in Frage stellen könnten, dissoziiert. Den Zusammenhang zwischen Täuschung von anderen und Selbsttäuschung hat auch Hannah Arendt identifiziert, indem sie den Weg vom Selbstbetrug zur Lüge aufzeigt.22 Selbsttäuschung sei gerade deswegen die gefährlichste Form des Lügens, weil sie den Anschein der Wahrhaftigkeit zu erwecken vermag.23 Die Politik ist ein anfälliger Raum für Selbsttäuschungen, weil hier eine epistemische Umgebung geschaffen wird, die auch weitgehend durch die Verwaltung von Informationsquellen und Informationsflüssen kontrolliert werden kann. Ein Präsident, eine Präsidentin erhält sorgfältig gesiebte Informationen. Dies wird durch die Schaffung einer internen Welt möglich: „Die interne Welt der Regierung mit ihrer Bürokratie auf der einen, ihrem gesellschaftlichen Leben auf der anderen Seite, machte die Selbsttäuschung relativ einfach.“24 Hier finden wir Mechanismen am Werk, die die Offenheit einer epistemischen Umgebung, wie sie Karl Popper in seiner Vision einer offenen Gesellschaft vor Augen hatte, tendenziell schließen. Die Politik ist auch deswegen anfällig für Selbsttäuschung, weil die Ehre, die einem Machtträger zuerkannt wird, diesen – wie in einem Schutzbunker sitzend – vor Korrekturen schützt. Die soziologische Dynamik der Ehre drückt sich unter anderem dadurch aus, dass der mit Ehre ummantelte Mensch vor unangenehmen Zugriffen geschützt und dadurch im Kontakt mit der Realität gesteuert wird; er kommt nur mit bestimmten Menschen und bestimmten Informationen in bestimmten Situationen in Berührung;25 gleichzeitig erlaubt eine gute Ausstattung mit symbolischem Kapital (Ehre, 21 22 23 24 25

Hippel/Trivers, The evolution and psychology of self-deception. Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, S. 13. Ebd., S. 78 f. Ebd., S. 34. Vogt, Zur Logik der Ehre.

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Status, Prestige) einen der Spielräume, der es schwer macht, Fehler zu machen, die auch als solche erkennbar sind. Dadurch entstehen einerseits Lernschwierigkeiten, wie sie Chris Argrys treffend beschrieben hat,26 andererseits auch Führungsschwächen, weil sich der Verantwortungsträger in einer Blase der Selbsttäuschung befindet.27 Eintrittstellen für Selbsttäuschung sind also u. a. Ehre, Macht, Status – Güter, die in der Welt des Politischen verteilt werden. Wir werden sehen, wie Dag Hammarskjöld immer wieder auf diese Fallen von Selbstbewunderung, Selbstüberschätzung und Verblendung zurückgekommen ist, um nicht einem Muster von Selbsttäuschung zu erliegen. Eintrittsstellen für Selbsttäuschung können durch Urteilskraft, Selbstreflexion und Dialog minimiert werden. Dies ist ein entscheidender Punkt, denn Lügen ist bodenlos und stürzt den Menschen ins Bodenlose.28 Tiefe Politik bemüht sich darum, den Boden nicht zu verlieren. Tiefe Politik ist der Wahrheit verpflichtet – dies wirkt sich auf den Umgang mit Wahrheiten auf der Ebene von Tatsachen und auf der Ebene von Gesetzmäßigkeiten aus, auf eine Kultur von Glaubwürdigkeit und auf systematische Anstrengungen zur Verringerung der Eintrittsstellen von Selbsttäuschung. Damit wird ein Moment von „Ethik des Erkennens“ ins politische Geschehen eingefügt. 2. Politik und die Verpflichtung auf Sinn Tiefe Politik weicht den fundamentalen Fragen, die eine Gesellschaft als ganze betreffen, nicht aus. Sie ist einer Kultur der Reflexion und Reflexivität verpflichtet, die auch die Grundfragen nach Fundament und Ziel einer Gesellschaft stellt. Diese Fragen tangieren jene Aspekte, die das Gemeinwesen überhaupt und als solches thematisieren. Tiefe Politik steht damit nicht 26 Argrys, Teaching Smart People How to Learn. Argrys analysiert ein „learning dilemma“: Menschen in Führungspositionen sollten am meisten lernen, haben aber kaum die Chance, aus Fehlern zu lernen, weil sie nicht in Umgebungen operieren, in denen eine Fehlerkultur entsprechend etabliert ist. Strategien zur Lernvermeidung inkludieren die Maximen „to maximize ‚winning‘ and to minimize ‚losing‘; dadurch soll ein Sinn für Verwundbarkeit reduziert und die Kontrolle über Situationen, in die man sich begibt, gesteigert werden. Dies führt zu einer Kultur der Selbsttäuschung, in der bestimmte Schwächen gezüchtet werden: „As a result, many professionals have extremely ‚brittle‘ personalities. When suddenly faced with a situation they cannot immediately handle, they tend to fall apart.“ 27 Arbinger Institute, Leadership and Self-Deception. Das Buch beschreibt den Verantwortungsträger, der nach einem bestimmten komfortablen Muster wahrnimmt und einordnet („thinking inside the box“) und sich durch die eingeschränkte und verzerrte Wahrnehmung über sich selbst und über die Menschen, für die er Führungsverantwortung übernommen hat, täuscht. Entscheidender Schritt zur Überwindung der Selbsttäuschung ist das Heraussteigen aus dieser „box“. 28 Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, S. 84.

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nur in besonderer Beziehung zur Wahrheit, sondern auch in besonderer Beziehung zu Sinn und Sinnfragen. Damit ist eine Tiefendimension der menschlichen Koexistenzgestaltung angesprochen, die Frage nach Fundament und „Telos“ des Gemeinwesens. „Woraufhin“ und „warum“ soll Zusammenleben politisch gestaltet werden? Diese Fragen mögen als Überforderung der Politik angesehen und zugunsten pragmatischen Managements täglicher politischer Herausforderungen zurückgedrängt werden. Die Frage nach der Sinndimension bricht allerdings dort auf, wo sich Krisen einstellen, Konflikte aufbrechen und Entscheidungen anstehen. Fragen der Art „Wo sollen budgetäre Einschnitte vorgenommen werden?“, „Wie sollen pflegebedürftige Menschen behandelt werden?“, „Warum soll Versöhnung Teil des politischen Vokabulars sein?“, „Warum sollen künftige Generationen berücksichtigt werden?“ Solche Fragen, die auf die Grundlagen des Zusammenlebens Bezug nehmen, stellen sich angesichts von knappen Ressourcen ein. Hier reicht der öffentliche Vernunftgebrauch als Mittel zur Aushandlung der Interessen nicht aus; erstens weil es nicht nur um Entscheidungen geht, die mit entsprechender argumentativer Kraft durchzufechten sind, sondern auch um „Vorstellungen“, Vorstellungskraft und eine Vorstellung alternativer Szenarien (in welche Richtung soll es gehen? Wie könnte eine anstrebenswerte Vision aussehen?); zweitens weil wir es hier mit jenen Fragen zu tun haben, die den Rahmen tangieren, innerhalb dessen Vernunft gebraucht wird, also Tradition und Gemeinschaft;29 drittens schließlich weil wir Maßstäbe brauchen, um entscheiden zu können, was eine Entscheidung mit Blick auf das menschliche Zusammenleben „vernünftig“ macht. Dazu bedarf es einer grundsätzlichen anthropologischen Analyse und einer Verständigung über das Wertefundament. Ich will an einem Beispiel verdeutlichen, was ich unter tiefer Politik, die sich an der Sinnfrage orientiert, verstehe. Ich möchte mich auf den 2011 verstorbenen Vaclav Havel, das letzte Staatsoberhaupt der Tschechoslowakei und den ersten Präsidenten der Tschechischen Republik beziehen. Vaclav Havels Denken und Tun ist Ausdruck des Bemühens um tiefe Politik – um Politik auf der Basis des Versuchs, in der Wahrheit zu leben. In der Wahrheit zu leben bedeutet, einer authentischen menschlichen Existenz gerecht zu werden. Nach seinem Verständnis von Politik geht es darum, dem Leben in seiner Ordnung politisch gerecht zu werden: „Das Leben tendiert in seinem Wesen zur Vielfarbigkeit, zur unabhängigen Selbstkonstitution und Selbstorganisation, einfach zur Erfüllung seiner Freiheit.“30 Systeme, die diese Freiheit einschränken oder aushebeln, sind bestrebt, Uniformität 29 Man denke hierzu an die Überlegungen von MacIntyre, Three rival versions of moral Enquiry. 30 Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, S. 16.

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und Konformität zu schaffen. Damit wird das vergewaltigt, was Havel als „authentische Existenz“ des Menschen bezeichnet, als jene Daseinsform, die „in der Wahrheit“ leben lässt.31 Totalitäre Regime leben in der Lüge und aus der Lüge: „Da das ‚Leben in Lüge‘ die Grundstütze des Systems ist, ist es kein Wunder, daß das ‚Leben in Wahrheit‘ eine Grundbedrohung für das System bedeutet.“32 Aus diesem Grund werden Regimekritiker und -gegner auch entsprechend bekämpft – weil sie die Wahrheits- und Sinndimension, eine moralische Dimension im Politischen einmahnen. Sie kämpfen gegen das Absurde an, gegen die Vernichtung der Sinndimension des Menschen, gegen ein kafkaeskes System.33 Systeme der Unterdrückung demoralisieren den Menschen, „Leben in Wahrheit“ ist Rebellion gegen diese Demoralisierung.34 Und dazu bedarf es eines moralischen Standpunktes, der fundamentale Fragen mit dem Anspruch einer Verallgemeinerbarkeit stellt: „Die historische Erfahrung lehrt uns, daß in der Regel nur jener Ausweg für den Menschen wirklich sinnvoll ist, der ein Element einer gewissen Universalität enthält, der also nicht nur einen partiellen, nur einer bestimmten Gruppe zugänglichen und auf andere nicht übertragbaren Ausweg bildet.“35 Die Suche nach dieser Universalität ist die Auseinandersetzung mit fundamentalen Fragen. Diese Auseinandersetzung bleibt notwendig, auch in posttotalitären Regimen, die sich die Frage nach der rechten Gestaltung der Zivilisation und dem rechten Umgang mit Technik stellen müssen.36 Es geht auch hier um die rechte Ordnung der „Lebenswelt“, für deren Gestaltung der Mensch verantwortlich ist. „Verantwortung“ bleibt eine Schlüsselkategorie tiefer Politik. „Gewissen“ ist eine reale politische Kraft.37 „In der Wahrheit“ zu leben bedeutet, sich stets der ständigen Verantwortung bewusst zu sein, die ein Mensch trägt.38 Diese Verantwortung bildet die Grundlage und den Kern unserer sozialen Existenz, unserer Existenz als soziale Lebewesen, die auf Gemeinwesen und damit auf die Gestaltung dieses Gemeinwesens 31

Ebd., S. 29. Ebd., S. 28. 33 In seiner Dankrede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität in Jerusalem am 26. April 1990 hat sich Havel mit Franz Kafka beschäftigt, dessen grundlegende Intuitionen er gut nachvollziehen könne. Havel, Angst vor der Freiheit, S. 52 ff. Hier werden die Themen der Absurdität und Nichtzugehörigkeit und Sinnleere thematisiert. 34 Havel, Versuch in der Wahrheit zu leben, S. 34. 35 Ebd., S. 72. 36 Ebd., S. 83. Vgl. Havel, Am Anfang war das Wort, S. 84 ff. 37 Ebd., S. 113. 38 Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, S. 73; Havel, Briefe an Olga, S. 205. 32

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durch die Politik angewiesen sind. Verantwortung ist Grundlage für Identität, ist Schwerpunkt, Bauprinzip, Achse, Kitt.39 Oder noch deutlicher – in einem Brief aus dem Gefängnis an Ehefrau Olga gesagt: „Verantwortung ist das Messer, mit dem wir unseren uneinholbaren Umriß in das Panorama des Seins einschneiden“.40 Es ist Teil dieser Verantwortung, bereit zu sein, das Leben für den Sinn, den es gefunden hat, zu opfern.41 Diese Rede vom – nie verordbaren und stets nur freiwillig zu gebenden und in der Macht des einzelnen liegenden – Opfer deutet die Bereitschaft an, einen Preis für das als wertvoll, als „bonum“ Erkannte zu zahlen. Es ist eine moralische Angelegenheit, sich für ein der Würde und Verantwortung des Menschen entsprechendes Leben einzusetzen. Es ist Teil tiefer Politik, sich auch die Frage nach dem zu stellen, was über den Horizont der Tagespolitik hinausgeht, etwa die Fragen nach dem Lernen aus der Vergangenheit (etwa: Lernen aus Lidice), die Fragen nach Hoffnung oder nach einer Vision von Zukunft.42 Explizit spricht Havel die Frage nach dem Sinn an; explizit macht er sich Gedanken über das „Wohin“ des Gemeinwesens – in seinen „Sommermeditationen“ entwirft Havel eine solche Vision für die Zukunft der Tschechischen Republik,43 in einer Rede in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom 10. Mai 1990 in Straßburg artikuliert Havel die Notwendigkeit, „das Unmögliche zu träumen.“44 Dieses menschengemäße Leben zeigt sich nach Havel vor allem in der moralischen Existenz und in der Kultur, oder anders gesagt: in der Qualität des Wortes, wie Havel anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels bemerkte.45 Der Umgang mit dem Wort ist Indikator für eine Politik, die den Menschen als Menschen ernst nimmt. Damit ergeht der Auftrag an tiefe Politik, Bedingungen dafür zu schaffen, dass ein Leben in Verantwortung und Freiheit möglich ist. Abgestumpftheit und Apathie, politische Resignation und ein Verlust von Selbstwirksamkeit ste39

Ebd., S. 92. Ebd., S. 94. 41 Havel, Am Anfang war das Wort, S. 105. 42 Ebd., S. 225 ff.; Havel, Moral in Zeiten der Globalisierung, S. 172 ff. bzw. S. 222 ff. (Lernen aus Lidice). 43 Havel, Sommermeditationen, S. 102 ff. Dieses Kapitel („Wovon ich träume“) ist ein bemerkenswertes Zeugnis eines Politikers, der sich Gedanken über die Richtung macht, in die die Entwicklung des Gemeinwesens mittel- und langfristig gehen sollte. 44 Havel, Angst vor der Freiheit, S. 58 ff. Hier bricht eine Erweiterung des Horizonts in das tagespolitische Geschehen ein: Havel erwähnt das Buch „Träumen von Europa“, das Dienstbier als Heizer geschrieben hatte: „Das Träumen des Heizers wandelte sich zur alltäglichen Arbeit des Außenministers“ (S. 60). 45 Havel, Am Anfang war das Wort, S. 210 f. 40

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hen diesem Auftrag entgegen. Tiefe Politik stellt die Frage nach Bedingungen der Möglichkeit des Gelingens von Zusammenleben. Dazu bedarf es einer Richtung dieses Zusammenlebens und eines Fundaments. In seiner Rede vor den Mitgliedern des Deutschen Bundestages und des Bundesrates im Plenarsaal des Bundestages am 24. April 1997 in Bonn konnte der tschechische Präsident ausführen: „Freiheit im tiefsten Sinne des Wortes bedeutet . . . daß ich den anderen sehe, mich in seine Lage hineinzuversetzen, in seine Erfahrungen hineinzufühlen und in seine Seele hineinzuschauen vermag und imstande bin, durch einfühlsames Begreifen von alledem meine Freiheit auszuweiten. Denn was ist das gegenseitige Verständnis anderes als die Ausweitung der Freiheit und die Vertiefung der Wahrheit?“46 Die Bedingungen menschengemäßen Lebens werden damit dort bedroht, wo Wahrheit und Empathiefähigkeit bedroht werden. Wahrheit und Sinn als die zwei Dimensionen tiefer Politik sind miteinander verbunden. Die Sinndimension wird im Politischen dort virulent, wo Menschen nicht beurteilen können, was das menschenwürdige, d.h. das dem Menschen gemäße und der Würde des Menschen entsprechende Leben ist; oder wenn sie die Last eines solchen Lebens fürchten. Die Überwindung der Furcht vor dem Äußeren muss von Innen her kommen. Vaclav Havel spricht die Idee an, dass die Gestaltung des Politischen „von innen her“ erfolgen müsse: „Der beste Widerstand gegen die Totalität ist es einfach, sie aus der eigenen Seele zu vertreiben.“47 Das hat auch viel mit Bildung zu tun, die ein Bewusstsein für Kontingenz und damit ein Verständnis für die uns zur Verfügung stehenden Freiräume entwickeln lässt. Grundlage der Souveränität von Gemeinschaftsgebilden ist die Selbstbestimmung des Einzelnen, von innen wie von außen her: „Die Souveränität der Gemeinde, der Region, des Volkes, des Staates, jegliche höhere Souveränität hat nur dann Sinn, wenn sie von der in der Tat einzigen originalen Souveränität abgeleitet ist, nämlich von der Souveränität des Menschen, die ihren politischen Ausdruck in der Souveränität des Bürgers findet.“48 Grundlage tiefer Politik ist der einzelne Mensch und Grundlage des Menschseins ist seine Innerlichkeit. Havel steht für den Versuch, die Sinndimension als Teil der politischen Reflexion aufzufassen. Wohin und worum soll es eigentlich gehen? Immer wieder drückt Havel etwa seine Sorge darüber aus, dass sich die Europäische Union zu einer technokratischen und materialistischen Entität entwickle, die im Zuge der Schaffung von Einheit die Freiheit einschränken würde.49 Europa leide an einem Mangel an Ethos, wir bräuchten ein neues 46 47 48 49

Havel, Havel, Havel, Havel,

Moral in Zeiten der Globalisierung, S. 211 f. Am Anfang war das Wort, S. 109. Sommermeditationen, S. 27. Fassen Sie sich bitte kurz, S. 359.

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Verständnis unserer Werte.50 Eine Reduktion des europäischen Zusammenlebens auf technische und wirtschaftliche Belange kann nur dann verhindert werden, wenn sich die Europäische Union mit der Frage ihrer Rechtfertigung und ihres Telos beschäftigt. Tiefe Politik stellt die Frage nach dem Woher, Wohin und Warum eines politischen Ganzen. Damit wird, wenn ich diese Sprache verwenden darf, die „Innenseite des Politischen“ angesprochen. Diese drei Fragen entsprechen in gewisser Weise den drei Vermögen, die in der augustinischen Seelenkonzeption zu finden sind, „memoria“, „voluntas“, „intellectus“. Diese drei Vermögen als Kernvermögen menschlicher Innerlichkeit antworten auf die drei Fragen nach dem „Woher“ (Wurzeln), „Wohin“ (Ziele) und „Warum“ (Gründe). Für die Politik bedeutet dies die Frage nach einer Politik des Gedächtnisses, nach einer Politik des Anstrebenswerten und einer Politik der Rechtfertigung. Diese Fragen finden sich in unterschiedlicher Weise im Opus Havels immer wieder angesprochen. Politik, die die Frage nach dem Sinn des Zusammenlebens stellt, thematisiert die „Richtung“ ebenso wie das „Gewicht“ des politischen Handelns. Es thematisiert die Richtung des Politischen als Geschichtlichkeit (Herkünftigkeit, Hinkünftigkeit) des Gemeinwesens und als Antwort auf die Fragen „Woher?“ und „Wohin?“ Es thematisiert das Gewicht des Politischen als Frage nach der Werteordnung mit der damit verbundenen Prioritätenordnung. Wenn man Werte als „dauerhafte Begriffe des Erstrebenswerten“ ansieht, ergeben sich aus Werteordnungen Bewertungs- und Gewichtungskriterien ebenso wie Motivationen zum Tun. Daraus ergeben sich auch Anhaltspunkte zur Ermessung der Gewichtigkeit politischer Entscheidungen und politischen Tuns. Erst auf dieser Grundlage kann politische Urteilskraft tätig werden. Erst auf der Grundlage eines Begriffs von Allgemeinem kann der Zusammenhang von Besonderem und Allgemeinem, wie er von der Urteilskraft herzustellen ist, geleistet werden. Die Sinnfrage im Politischen, die sich auf Richtung und Gewicht politischer Entscheidungen und politischen Tuns bezieht, zieht Politik aus der Beschränkung auf einen nur von Reaktionen bestimmten Spielraums und aus der Beschränkung auf eine kurzfristige Perspektive des „Jetzt“ und des „Heute“ heraus und erweitert den Horizont der politischen Entscheidungsfindung. Tiefe Politik bezieht seine Sinntiefe aus bestimmten öffentlichen Gütern, die man „dilatorische Güter“ nennen könnte. „Dilatorische Güter“ sind Güter, die den Horizont über die Kurzfristigkeit und reaktionsheischende Notwendigkeit hinaus erweitern, Güter wie „Hoffnung“, „Vision“, „Werte“. Die angesprochene südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission kann ebenfalls aufgrund der Politik des Gutes einer „Vision von Zukunft“ und des Gutes einer „Kultur von 50

Havel, Moral in Zeiten der Globalisierung, S. 51 ff. bzw. S. 89 ff.

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Versöhnung“ als Beispiel für tiefe Politik, die der Sinndimension verpflichtet ist und sich um dilatorische Güter bemüht, angeführt werden. Dilatorische Güter sind Güter, die die Grenzen des politisch Relevanten ausweiten und die politische Arbeit in einen größeren Zusammenhang einbetten. Solche Güter sind unerlässlich, wenn es um eine Sinnverpflichtung von Politik geht. Tiefe Politik als Politik, die den großen und grundsätzlichen, den allgemeinen und langfristigen Fragen nicht ausweicht, ist in besonderer Weise diesen dilatorischen Gütern verpflichtet. Nur auf der Grundlage dieser Güter und eines soliden Fundaments kann Politik Sicherheit gewähren – Politik, die nicht auf Wahrheit und Sinn verpflichtet ist, sondern lediglich und ausschließlich auf Macht beruht, ist unzuverlässig und auch unberechenbar. In den Worten Hannah Arendts: „Auf Macht ist kein Verlaß; sie entsteht, wenn Menschen sich für ein bestimmtes Ziel zusammentun und organisieren, und verschwindet, wenn dies Ziel erreicht oder verloren ist.“51 Wenden wir uns nun den Gedanken Dag Hammarskjölds zu, die in den Rahmen einer auf Wahrheit und Sinn verpflichteten tiefen Politik eingebettet werden können; oder auch: die das Ringen um tiefe Politik orientierungsstiftend anzuleiten vermögen. II. Dag Hammarskjölds Ringen um Selbstsein als Ausdruck tiefer Politik 1. Die Reise zu sich selbst Das Tagebuch Dag Hammarskjölds ist Zeugnis einer konsequenten Arbeit an sich selbst.52 Es ist Zeugnis dafür, dass hier ein Mann mit Macht und Verantwortung ein intensives Innenleben entfaltet, dieses Innenleben als Fundament des äußeren Engagements ansieht und um Reife und Wachstum bemüht ist.53 Entscheidend ist hier der Begriff des Selbst, der Hammarskjölds Einträgen zugrunde liegt. Hammarskjöld beschreibt das Selbstsein als Wagnis und Wahl. Selbstsein ist verbunden mit der Haltung der Entschiedenheit und der Aufgabe der Entscheidung. Die grundsätzliche Ent51

Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, S. 85. Hammarskjöld, Zeichen am Weg. Im Folgenden beziehe ich mich auf diese Ausgabe mit „DHZ“, gefolgt von der Seitenzahl. 53 Die These, dass das äußere Engagement im christlichen Kontext auf innerem Engagement beruhen muss, findet sich einflussreich in Dom Jean-Bapstise Chautards Werk L’âme de tout apostolat (1907) entfaltet, einem der bevorzugten Bücher von Papst Pius X. Der Hinweis sei nicht mit der Absicht gegeben, Dag Hammarskjöld eine ähnlich geartete spirituelle Ausrichtung zuzuweisen, sondern als Erinnerung an ein – im Fall der Schrift des Abtes Chautard – argumentierbares christliches Motiv eines Primats der Interiorität. 52

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scheidung, den eigenen Weg zu gehen, die grundsätzliche Entscheidung, „selbst“ zu sein, führt in fremdes Land (DHZ 41), lässt einen neuen Weg ebnen (DHZ 121), bringt auch Einsamkeit mit sich (DHZ 103). Es ist eine moralische Pflicht, die Hammarskjöld hier wahrnimmt. Verfälschung als gehorsame Anpassung an fremde Forderungen“ ist Versündigung, ist Verrat (DHZ 73). Hier werden „Pflichten gegen sich selbst“ angesprochen, die mit der Verpflichtung zum Dienst austariert werden müssen. Hammarskjöld nimmt sich unter der Pflicht stehend wahr, „ständig alles“ zu sein, was man zu sein vermag (DHZ 110), wie er im Jahr 1954 notiert. Ein tiefes Leben führt Menschen immer wieder in Situationen, in denen ihnen Entscheidungen abverlangt werden; es geht darum, zu wagen „du selbst zu sein“ (DHZ 43). Wählen heißt wagen (DHZ 55), und zwar immer wieder und wieder (vgl. DHZ 116).54 Oder in einer der Existenzphilosophie nahestehenden Formulierung: „In jedem Augenblick wählst du dein Selbst“ (DHZ 51). Der eigenen Berufung zu folgen verlangt auch, alles abzuwerfen, was diesem Weg entgegensteht (DHZ 88), sodass die Selbstwahl verbunden ist mit Selbstzucht und Selbsterkenntnis, wie wir gleich sehen werden. Es steht das ganze Sein eines Menschen auf dem Spiel – anders gesagt: in bestimmten Entscheidungen zeigt sich der ganze Mensch, in bestimmten Situationen wird der ganze Mensch gefordert. „Bei einem bedeutenden Entschluss spielt unser ganzes Wesen mit, seine Niedertracht wie seine Güte“ (DHZ 87). Entscheidungen und Wahl implizieren Spielraum, Freiheit, Verantwortung – und Rechenschaftspflichtigkeit. Das Selbst kann gestaltet und aufgebaut werden, es ist nicht die Summe von Erfahrungen und entsprechenden Reaktionen. Die Gestaltung ist ein Akt, der willentliche Anstrengung und Urteilskraft verlangt. Das gestaltete Selbst gestaltet das Leben und geht über bloßes Problemlösen hinaus.55 Die innere Freiheit und Verantwortung bringt entsprechenden Sinn für die Übernahme von Aufgaben mit sich: „Verkleidet ist das Ich, das nur aus gleichgültigen Urteilen, sinnlosen Anschauungen und protokollierten ‚Leistungen‘ geschaffen ist. Eingeschnürt in die Zwangsjacke des Naheliegenden“ (DHZ 155). Verkleidet ist also jenes Ich, das sich nicht mit innerem Engagement in 54 Entscheidungen führen zu weiteren Entscheidungen. Hammarskjöld vergleicht die Situation mit einer Schule, in der man von einer Klasse in die nächste kommt (DHZ 113). 55 Diese Einsicht finden wir auch in Hannah Arendts Überlegungen zur Politik in der Wahrheit – in ihrer Analyse des Vietnamkriegs schreibt sie an einer Stelle: „Liest man die Memoranden, die Alternativvorschläge, die Szenarien und wie bei geplanten Aktionen potentielle Risiken mit potentiellen Ergebnissen prozentual verglichen werden . . . so hat man manchmal den Eindruck, daß Südostasien von einem Computer und nicht von Menschen, die Entscheidungen treffen, überfallen worden ist. Die Problem-Löser urteilten nicht, sie rechneten“. Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, S. 35.

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eine Aufgabe wirft, das sich mit Reaktionen und dem Abarbeiten auferlegter Pflichten zufrieden gibt, das also das Leben nicht in die Hand nimmt, dem eigenen Leben und Tun keine Richtung verleiht und nicht kraftvoll in diese Richtung schreitet. Wichtiges Instrument zur verantwortungsvollen Gestaltung des Selbst ist die Selbsterkenntnis. Immer wieder spricht Dag Hammarskjöld die Bedeutung der Selbsterkenntnis an, die Dynamik, die sich entfaltet, wenn wir „gezwungen“ sind, „uns selbst zu sehen, Auge in Auge“ (DHZ 49). Hammarskjöld verwendet an einer Stelle das Bild eines ausgeblasenen Eis, das zwar wunderbar schwimmen kann, aber innerlich leer ist (DHZ 66) – Selbsterkenntnis ist der Weg, sich schonungslos Klarheit über sich selbst zu verschaffen. Selbsterkenntnis hat so auch mit Selbstbefreiung zu tun, ist doch eigens dafür Sorge zu tragen, dass Eigeninteressen nie „eine heitere, erkennende Selbstbetrachtung lähmen“ (DHZ 70). In der philosophischen Tradition wurde die Aufforderung „gnothi seauton“ im Kontext der antiken Philosophie auch als Aufforderung verstanden, die eigene Nichtgöttlichkeit, die eigene Sterblichkeit, die eigene Seele zu erkennen. Sokrates wird in der Apologie als der weiseste aller Menschen gezeigt, weil er um seine Begrenztheit weiß. Selbsterkenntnis ist der Prozess, den eigenen Ort im Universum zu erkennen, sich selbst mit Blick auf eine Lebensordnung einordnen zu können. Dabei ist Selbsterkenntnis vor allem auch als „Einsicht in die Innerlichkeit“ verortet. Gerade Augustinus steht mit seinen Confessiones für einen erkenntnistheoretischen Wendepunkt, der der Selbstbetrachtung neue Schneisen auf dem Weg zur Selbsterkenntnis schlug.56 In den Confessiones tritt uns das Innere des Menschen als eigentlicher Personkern entgegen. Das Innere ist der Ort, an dem Gott dem Menschen begegnet – die Stätte, „wohin Gott kommt zu mir“ (Conf I,2). Gott erleuchtet die Seele (Conf II,8), er allein gibt das Licht, das die wahre Erkenntnis ermöglicht. Gott schenkt das Licht in der Finsternis (Conf IX,4). Gott ist es auch, der das Innere des Menschen bis auf den Grund durchschaut (Conf II,6; Conf V,1; Conf XI,2), bis auf den Grund, der selbst dem Menschen nicht zugänglich ist. Auch aus diesem Grund ist ein Mensch sich selbst ein Rätsel (Conf IV,4). Es ist etwas im Menschen, das selbst der Geist des Menschen nicht weiß (Conf X,5). Das Innere ist nach augustinischem Verständnis nicht nur Personkern und unergründbares Zentrum, es ist auch fragil und beeinflussbar. Die Seele kann müde werden und ermatten (Conf I,15); sie kann von Sorgen „zernagt“ werden (Conf VI,4), das Herz kann in Gefahren und Nöten zittern (Conf X,39); die Seele kann „zerrissen“ und „blutend“ sein (Conf IV,7). Die Seele kann auch gestaltet werden, man kann Inhalte aus dem Herzen vertreiben 56

Im Folgenden im Text durch „Conf“ und dem jeweiligen Buch abgekürzt.

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(vgl. Conf X,35), die Seele kann von Zustimmung zurückgehalten werden (Conf VI,4); die Seele kann aber auch als „agens“ in Erscheinung treten und handeln, ist Sitz von Entscheidungen und Bewegungen. Durch die Innerlichkeit wird der Mensch nach dem Verständnis des Augustinus zu einem tiefen Wesen. Durch die Interiorität kann der Mensch „aus der Tiefe“ rufen (Conf II,3), mit einer Erschütterung, die die ganze Person umfasst. Das Innere kann – und hier kommt wieder der Aspekt der Selbsterkenntnis ins Spiel – sich zu sich selbst ins Verhältnis setzen (vgl. Conf VIII,9); es kann sich selbst aber nicht vollends fassen (Conf X,8). Selbsterkenntnis hat mit Ordnung zu tun, inneres Wachstum mit dem Bemühen um Klarheit und Einheit. Selbsterkenntnis ist heilend – und impliziert ein Moment des Gnadenhaften: Gott heilt dadurch, dass er den Menschen sich selbst gegenüber stellt (Conf VIII,7), also durch Selbsterkenntnis. Um diese Selbsterkenntnis, auch im Sinne dieser augustinischen Tradition, ist es Dag Hammarskjöld zu tun. Ähnlich wie in den Bekenntnissen des Augustinus finden wir in den Notizen Hammarskjölds das Ringen einer Seele um Reinheit, Klarheit, Sammlung; wir finden das Motiv des Erschauderns vor dem eigenen Inneren und das Mühen um Durchdringung des eigenen Wesens. „Welche Ströme von Ehrgeiz durchfließen mein Streben als Mensch?“ (DHZ 98). Wir finden auch die Idee der Innerlichkeit und den Aufbau von Innerlichkeit als Schlüssel zu gelingender Existenz: „Lass dem Inneren den Vorrang vor dem Äußeren, der Seele vor der Welt“ (DHZ 99). Hammarskjöld greift ein Motiv auf, das sich auch in der stoischen Philosophie findet – der Blick in die eigene Seele ist ein Blick in den Kosmos und den Menschen im Singular – „von sich wusste er . . . was im Menschen ist: an Kleinlichkeit, Gier, Hochmut, Neid – und Verlangen“ (DHZ 79). Selbsterkenntnis als anspruchsvolle Aufgabe wird ihm zur selbst auferlegten Pflicht: „Es ist wichtiger, die eigenen Beweggründe zu erkennen, als die Motive des anderen zu verstehen“ (DHZ 123). Selbsterkenntnis als keineswegs triviales Unterfangen ist auf entsprechende Rahmenbedingungen angewiesen, auf Stille, auf Rückzug, auf einen geschützten Raum: „Schweigen ist der Raum, um jede Tat und Gemeinschaft“ (DHZ 44; vgl. DHZ 62, 134). Ein Leben aus innerer Mitte ist angewiesen darauf, „mitten im Gelärm das innere Schweigen [zu] bewahren“ (DHZ 101). Aus dieser Aufmerksamkeit nach innen entsteht die Grundlage für die Aufmerksamkeit nach außen: „je treulicher du nach innen lauschst, umso besser wirst du hören, was um dich ertönt“ (DHZ 46). Innerlichkeit ist damit die Basis für das äußere Tun und Empfangen, Innerlichkeit zeigt sich als Personkern und Zentrum. Entsprechend gilt der Satz, niedergeschrieben im Jahr 1950: „Die längste Reise ist die Reise nach innen“ (DHZ 81). Diese Reise begibt sich auf jene nicht begrenzten Weiten, von denen Augustinus in seinen Bekenntnissen ebenso geschrieben hat wie Johannes von Kreuz im Aufstieg auf den

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Berg Karmel oder Teresa von Avila in Wohnungen der inneren Burg. Diese Reise führt ins Zentrum, und aus diesem Zentrum heraus gilt es zu leben, es gilt, „im Zentrum“ zu bleiben (DHZ 160). In einem Gedicht vom 24. August 1961 heißt es: „ich wohnte am innersten See“ (DHZ 208) – hier wird das Bild einer innerer Landschaft entworfen und damit ein Bild für das Innere verwendet, das die Reise anschaulich macht. Selbstwahl und Selbsterkenntnis laufen auf ein drittes Moment hinaus, das ebenfalls Hammarskjölds Notizen durchzieht – die Einsicht, dass „Arbeit am Selbst“ notwendig und mühevoll ist und im Grunde im Aufbau einer Kultur von Innerlichkeit besteht. „Selbststrenge“ ist ein typisches Motiv: „du musst streng gegen dich selber sein, um das Recht auf Milde gegen andere zu haben“ (DHZ 121). Diese „seelische Selbstzucht“ (DHZ 79) ist notwendig, um sich auf den Weg der Vollkommenheit zu begeben. Mit der Größe des Amtes und der Verantwortung wächst auch die Verantwortung für das Innere und die eigenen Standards – „auf einem sauberen Kleid stört der kleinste Fleck“ (DHZ 115). Die Zucht der Seele bedeutet vor allem, jene Regungen und Bewegungen unter Kontrolle zu bringen, die von der Integrität abhalten. Hammarskjöld hat Selbstbewunderung als Gefahr und Nemesis erkannt (DHZ 44), die Gefallsucht thematisiert (DHZ 125) und an anderer Stelle von „dickhäutigem Selbstgefallen“ (DHZ 82) geschrieben. Selbstgefälligkeit wird hier als Hindernis auf dem Weg zum inneren Wachstum beschrieben; hier sehen wir eine Verbindung zu den vorhin angestellten Überlegungen zur Falle der Selbsttäuschung, die durch große Ehre, Machtfülle und hohen Status genährt wird. Der hochbegabte und schon früh mit großer Verantwortung betraute Dag Hammarskjöld war sich der Gefahren von Selbstgefälligkeit (gar: Selbstbewunderung) wohl bewusst. Er verwendet an einer Stelle das Bild des Gartens, der rein von Unkraut zu halten sei. Die Grenzen dieses Gartens sind durch die eigenen Fähigkeiten abgesteckt, der Gefahr der Selbstgerechtigkeit ist entsprechend zu begegnen (DHZ 47), konsequent ist hier zu arbeiten: „Wer seinen Garten rein halten will, darf keinen Fleck dem Unkraut überlassen“ (DHZ 48). Ziel der Selbstzucht nach dem Verständnis Hammarskjölds ist eine Form der Reinheit, die an das Ideal der Vollkommenheit rührt: „Reinheit ist auch, frei von allen . . . Halbheiten zu sein“ (DHZ 120). Sie ist damit Verwirklichung eines konsequenten Weges, der frei von unlauteren Kompromissen ist.57 Diese Reinheit kann am treffendsten mit den Begriffen von „Selbstvergessenheit“, „Selbstaufgabe“ und „Selbstbefreiung“ umschrieben werden. Sehr tief lässt folgendes Bild blicken, das uns wieder an das Motiv der 57 Mit dieser Frage nach der Unterscheidung zwischen vernünftigen und faulen Kompromissen hat sich Avishai Margalit beschäftigt und die Grenzlinie im Kriterium der Erniedrigung gefunden: Margalit, Kompromisse und faule Kompromisse.

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Selbstbewunderung erinnert: „Ein Märchen berichtet: von einer Krone, so schwer, dass nur der sie tragen vermochte, der in völliger Vergessenheit ihres Glanzes lebte“ (DHZ 86). Die Ämter, die Hammarskjöld bekleidete, erinnern an die Krone, vor allem auch das spätere Amt des UN-Generalsekretärs, wobei besagter Eintrag aus dem Jahr 1951 stammt. Der Gefahr der Selbsttäuschung kann man dadurch vorbeugen, dass man nicht an das Amt, sondern an die Aufgaben, nicht an die Ehre, sondern an den Dienst denkt, nicht sich selbst, sondern das Zentrum des Seins in die Mitte stellt – und aus dieser Mitte und angesichts dieser Mitte lebt. Interessant ist in diesem Zusammenhang der folgende Satz aus dem Jahr 1955, also bereits als UN Generalsekretär: „Das Mysterium ist ständig Wirklichkeit bei dem, der inmitten der Welt frei von sich selber ist“ (DHZ 129). Das Mysterium als Grund des Lebens und Mitte des Seins, als Ursprung und Ende – es wird real bei dem und in dem, der seinen Dienst tut und seine Verantwortung übernimmt, „mitten in der Welt“, also ohne Flucht und Rückzug, und der inmitten der Aufgaben und Verantwortungen frei ist von sich selbst; frei von sich selber sein bedeutet in der asketischen Sprache der christlichen Tradition zumeist: frei sein von ungeordneten Anhänglichkeiten und damit frei sein für das Wesentliche. Ungeordnete Anhänglichkeiten sind innere Abhängigkeiten von Sekundärem, von Scheingütern, wie Reputation, Vermögen, Sicherheit. Hammarskjöld spricht von der kindlichen Abhängigkeit von bewundernder Zuneigung (DHZ 54), von der Überwindung einer kindlichen Attitüde sich bei nichterfüllten Wünschen zu beklagen (vgl. DHZ 59), von der Gefahr von Selbstbetrug (DHZ 47), von der Gefahr, sich in sein eigenes Bild zu verlieben, eine Gefahr, die diejenigen besonders betrifft, die in die Öffentlichkeit gestoßen sind (DHZ 87). In diesem Sinne bedeutet Selbstbefreiung auch „Selbstauslöschung in der Sammlung“ (DHZ 109), ein Loslassen von Bindungen an derivative oder instrumentelle Güter, die den Status des „bonum“ nur insofern haben, als sie auf echtes, intrinisches Gut hingerichtet sind und zu dessen Verwirklichung und Erfüllung beitragen. Selbstbefreiung als Lösen von Nichtwesentlichem läuft auf Selbstvergessenheit hinaus. Tief lässt der Gedanke blicken, dass gerade dadurch das Mysterium Wirklichkeit wird, personenbezogen und bezeugt durch das Leben und im Leben eines Menschen. Theologisch gesehen deutet dies eine sakramentale Struktur an, die Idee, dass Sichtbares auf Unsichtbares verweist und durch das Leben eines Menschen etwas deutlich wird, was das Leben des Menschen von Grund auf übersteigt. Am 31. Dezember 1956 finden wir einen Eintrag, der das Motiv des Weges und das Motiv der Selbstvergessenheit und Selbstbefreiung miteinander verbindet: „Jedes Werk immer weniger an deinen Namen gebunden, jeder Schritt immer leichter“ (DHZ 149). Es geht nicht darum, sich einen Namen zu machen, sondern ein Werk zu vollbringen; und wenn es nicht mehr um den Namen und die Last des eigenen Rufes geht,

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wird jeder Schritt leichter, weil auch das Risiko wegfällt, zu scheitern, da ja nicht persönlicher Sieg oder Niederlage auf dem Spiel steht. Der Weg von Selbstwahl über Selbsterkenntnis und Selbstzucht zu Selbstbefreiung ist ein Reifeprozess. Immer wieder hat Hammarskjöld über das Motiv der Reife nachgedacht – und Reife einerseits in die Nähe einer Haltung des „detachment“ gerückt,58 andererseits in die Nähe von Selbstbejahung. Man könnte dies vielleicht folgendermaßen verstehen: Die Überwindung des Wachtumshindernisses von Selbstbewunderung und Selbstgefälligkeit kann nicht dadurch geleistet werden, dass man seine eigenen Fähigkeiten und Talente leugnet. Dann würde man auf andere Weise in den Modus der Selbsttäuschung fallen und nicht in der Wahrheit leben. Das Bild des hochsinnigen Menschen, das Aristoteles im vierten Buch der „Nikomachischen Ethik“ zeichnet, ist das Bild eines Menschen, der um seine Qualitäten weiß, der Tugenden als Tugenden erkennt und anerkennt, der sich als Adeliger in einem sittlichen Sinn verstehen kann. Die Großgesinntheit steht zwischen Kleinmut und Aufgeblasenheit und ist damit gegen die Selbsttäuschung gerichtet. Dag Hammarskjölds Überlegungen gehen teilweise in eine ähnliche Richtung (vgl. DHZ 153). Der reife Mensch kennt sich selbst, kennt damit auch seine Stärken und Fähigkeiten und kann diese in den Dienst stellen: „Reife heißt auch – seine Stärken nicht verbergen“ (DHZ 105). Es ist ein Zeichen der Reife, „keine Angst vor sich selbst“ zu haben, „seine Eigenart“ auszuleben, „ganz, aber zum Guten“ (DHZ 78); die Demut zu finden, sich nicht vergleichen zu müssen (vgl. DHZ 91). Es ist ein Zeichen von Reife, aus dem Inneren zu schöpfen und von hier aus Maßstäbe zu gewinnen – „Maßstab für die Forderung des Lebens ist nur deine eigene Kraft“ (DHZ 44; vgl. DHZ 136). Es ist ein Zeichen von Reife, in „lichter Ruhe“ zu leben (DHZ 108), frei zu sein, sich selbst und das eigene Leben zu bejahen (DHZ 107). Oder in einer viel zitierten Formulierung aus dem Jahr 1953: „Ja sagen zum Leben heißt auch ja sagen zu sich selbst“ (DHZ 107). 2. Robuste Identität Man kann Dag Hammarskjölds Notizen als Identitätsarbeit verstehen, als Arbeit am Selbst, als Arbeit an den Identitätsressourcen, die tatsächlich Quellen für ein Leben aus der Wahrheit sind. Wenn man etwas vereinfachend zwei Typen von Identitätstheorien unterscheidet, extrinsezistische 58 Ein Eintrag aus dem Jahr 1953: „Reife: auch eine neue Unbewusstheit, die du erst erlangst, wenn du dir selbst vollkommen gleichgültig geworden bist durch bedingungsloses Bejahen deines Schicksals“ (DHZ 106); hier sieht man den Zusammenhang zwischen Lebensbejahung und Selbstbejahung, der im Begriff der Indifferenz, wie wir ihn u. a. aus der ignatianischen Tradition kennen, seine Brücke findet.

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und intrinsezistische, dann finden wir einen Fall einer intrinsezistischen Identitätstheorie. Extrinsezistische Identitätstheorien binden personale Identität an äußere und soziale Faktoren wie „Zugehörigkeit“ oder „Anerkennung“.59 Identität liegt hier in der Beziehung des Identitätssubjekts zu etwas, was außerhalb dieses Identitätssubjekts liegt. Intrinsezistische Theorien der Identität machen Identität an inneren Faktoren wie „Bindungen“ und „Sorgen“ fest, also an Faktoren, die „im Subjekt“ anzusiedeln sind.60 Dag Hammarskjöld entwirft in seinen Notizen eine intrinsezistische Identitätstheorie, eine Theorie des Selbst, die an das Subjekt gebunden ist. Diese weitgehende Unabhängigkeit von äußeren Aspekten wie Gruppenzugehörigkeit oder Prestige macht den Entwurf des Selbst auch gegenüber äußeren Widrigkeiten stark und entsprechend resilienzfähig. Wir könnten hier von „robuster Identität“ sprechen. Selbstsein als Wagnis und Wahl, Selbsterkenntnis, Selbstzucht, Selbstbefreiung und Selbstbejahung konstituieren robuste Identität. Robuste Identität ist eine Form des Selbstseins, die wenigstens drei Eigenschaften aufweist: Klarheit (Profil); Festigkeit (Unerschütterlichkeit); Verankerung (Zentrum). Dag Hammarskjöld mahnt klare Linien und eine klare Positionierung, verlangt von sich Standfestigkeit und Rückgrat, erinnert sich immer wieder an das Zentrum, in dem er sein Leben verankert sieht. Solches Ringen um robuste Identität finden wir in beeindruckender und berührender Weise in den Schriften und Briefen, die der Jesuitenpater Alfred Delp im Gefängnis geschrieben hat.61 Robuste Identität schöpft aus Identitätsressourcen, die eine gewisse Unabhängigkeit von äußeren Umständen ermöglichen. Für die Idee einer tiefen Politik ist robuste Identität aus zwei Gründen entscheidend – zum einen, weil politische Verantwortungsträger wohl beraten sind, die von Dag Hammarskjöld genannten Hindernisse auf dem Weg zum Wachstum (Abhängigkeit von anderen, Selbstgefälligkeit) im Sinne einer glaubwürdigen Führungsethik, die sich gegen die Selbsttäuschung stemmt, zu überwinden.62 Zum anderen, weil tiefe Politik die Thematisie59 Diese Zugänge können mit Margalit, Politik der Würde (Identität als Zugehörigkeit zu identitätsstiftenden Gruppen) und Honneth, Kampf um Anerkennung (Identität durch Anerkennung durch andere) in Verbindung gebracht werden. 60 Man könnte in diesem Zusammenhang an Taylor, Quellen des Selbst (Bindungen konstituieren Identität) und Frankfurt, Sich selbst ernst nehmen (Strukturen der Sorge bestimmen Identität) denken. 61 Delp, Gesammelte Schriften IV. Delp beschreibt in diesen Briefen die identitätsstiftende Kraft der leidvollen Gefängniserfahrungen, die ihm ein Lebensthema gegeben haben, ringt um eine Kultur der Innerlichkeit und arbeitet an einer robusten Identität, die sich auch durch Lockangebote (Freiheit gegen Ordensaustritt) nicht erschüttern lässt. 62 An dieser Stelle könnte man an ein mit dem Tagebuch Hammarskjölds vergleichbares Werk denken, das geistliche Tagebuch von Papst Johannes XXIII., der seit seinen Jugendjahren sein inneres Wachstum sorgsam bedacht hat. Johannes XXIII.,

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rung von dilatorischen Gütern und damit auch von Zugängen zu Ressourcen robuster Identität nicht scheut. Dag Hammarskjölds Notizen weisen Wege zu robuster Identität und relevante Fallstricke aus. Selbstwahl, Selbsterkenntnis, Selbstdisziplin, Selbstbefreiung und Selbstbejahung können als Schlüssel zu Prozessen von Reifung, Wachstum und Bildung robuster Identität angesehen werden. III. Dag Hammarskjölds Reflexion auf die Lebensordnung als Hinweis auf tiefe Politik 1. Lebensordnung und Lebensrahmen Tiefe Politik weiß sich den fundamentalen Fragen von Wahrheit und Sinn verpflichtet. Damit stellen sich die Fragen nach dem Lebensrahmen und der Lebensordnung, gewissermaßen nach den Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Wir haben am Beispiel Vaclav Havels gesehen, wie grundsätzliche Reflexionen auf die Ordnung des Lebens einen Einfluss auf die Gestaltung der Politik nehmen können. Dag Hammarskjöld reflektiert in seinen Notizen immer wieder auf die Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Er stellt Überlegungen in Bezug auf eine „Daseinsanalyse“ des Menschen an, macht damit Aussagen über den Rahmen, innerhalb dessen wir leben. Wir finden Aussagen über die Gesetze des Lebens. Es ist ein Gesetz des Lebens – und dies hängt mit der skizzierten Selbstwahl und den Entscheidungssituationen zusammen –, dass das Leben nur in eine Richtung geht: „Uns trägt das laufende Band der Tage unerbittlich vorwärts“ (DHZ 83); aus diesem Grund ist es weise, sich dieser Richtung des Lebens anzupassen – „der Mythos hat stets den verurteilt, der sich umwendete“ (DHZ 157). Das Leben setzt sich, so der Eindruck, den man aus den Notizen gewinnt, aus einer Reihe von Schritten zusammen, die eine innere Dynamik der Art aufweisen, dass ein Schritt den nächsten ergibt und jeweils eine neue Ausgangsposition schafft. Ganz am Anfang der Aufzeichnungen findet sich das Motiv der Reise, die „ins Unbekannte“ treiben lässt, „immer ein Fragender werde ich dort sein“ (DHZ 41). Da das Leben nie an denselben Punkt, an dem wir bereits waren, zurückkehrt, finden wir uns, wenn wir entsprechend offen sind, stets in der Rolle des fragenden Menschen. Dazu kommt, dass durch unsere Entscheidungsgewalt Irreversibilität hergestellt werden kann: „Einen Punkt gibt es, wo alles einfach wird, wo keine Wahl bleibt, weil alles, worauf du gesetzt hast, verloren ist, wenn du dich umsiehst. Des Geistliches Tagebuch. Es ließen sich eine Fülle von Parallelen zwischen den beiden Textsammlungen ausweisen, etwa die Bedeutung der „Nachfolge Christi“, das Motiv der Demut sowie den kritischen Umgang mit Selbstbewunderung.

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Lebens eigener point of no return“ (DHZ 87). Diese Irreversibilität von Entscheidungen hängt auch mit der von Dag Hammarskjöld eingemahnten Unabhängigkeit der Wirklichkeit zusammen. Es gibt ein Moment der Anerkennung der Wirklichkeit als einer nicht beliebig konstruierbaren und manipulierbaren Gegebenheit, der sich Menschen demütig unterwerfen müssen: „Einfachheit heißt, die Wirklichkeit nicht in Beziehung zu uns zu erleben, sondern in der heiligen Unabhängigkeit“ (DHZ 171). Die heilige Unabhängigkeit der Wirklichkeit zwingt Menschen dazu, sich darauf einzustellen, dass es Größeres als die menschliche Handlungsmacht gibt. Dies zeigt sich vor allem auch in der fundamentalen Einstellung zum Tod. Hammarskjöld übernimmt hier Motive der Existenzphilosophie, deren Vertreter/innen die Einstellung zum Tod als Grundentscheidung angesehen haben, die Einfluss auf Lebensführung und Lebensauffassung hat. Die angesprochene heilige Unabhängigkeit der Wirklichkeit zeigt sich in der Endlichkeit des Menschen. Hierin liegt eine Lebensaufgabe: „Das Schwerste: recht zu sterben“ (DHZ 100); Reife lässt sich auch in der Fähigkeit zeigen, zum Tod Ja sagen zu können: „es gibt nur einen Weg aus dem dunstigen, verfilzten Dschungel, in dem der Kampf um Ehre, Macht und Vorteil geführt wird – aus den dich umstrickenden Hindernissen, die du selbst geschaffen. Und dieser Weg heißt: zum Tod ja sagen“ (DHZ 46). Durch dieses Wissen um Endlichkeit und Grenzen relativiert sich vieles, was die Alltagsgeschäftigkeit durchzieht. Durch die Begrenztheit des Lebens bekommt die Lebensaufgabe eine besondere Dringlichkeit. Dag Hammarskjöld kommt immer wieder darauf zu sprechen, dass das Leben in seiner Gestaltung Gewicht hat, dass wir es mit einem kostbaren Gut zu tun haben, das entsprechend gestaltet sein will. Die Grunddimension der Lebensgestaltung ist nach der Lebensauffassung Hammarskjölds der Dienst. Das Motiv des Dienstes strukturiert die Lebensgestaltung in einem vorgegebenen Rahmen. „Den Rahmen unseres Schicksals dürfen wir nicht wählen. Des Rahmens Inhalt aber geben wir“ (DHZ 79). Nun stellt sich die Frage nach dem rechten Inhalt, die Hammarskjöld im Jahr 1958 folgendermaßen beantwortet: „Das Leben hat nur Wert durch seinen Inhalt – für andere“ (DHZ 166). Das Leben wird im Rahmen einer Pflicht zum Dienst gesehen; kostbar sind die begrenzten Stunden des Lebens, die sinnvoll genutzt werden können; entsprechend auch der Auftrag, sorgsam mit der Zeit umzugehen – „wie brennt doch das Gedenken jeder Stunde, die ich vertan“ (DHZ 42). Dieses früh schon formulierte Moment des „carpe diem“ hängt mit einer anderen Einsicht Hammarskjölds zusammen, die sich ebenfalls in der christlichen Tradition finden lässt: die Idee, dass Trägheit eine gefährliche Quelle von Fehlhaltungen sei. Hammarskjöld spricht die „Todsünde der Trägheit“ (DHZ 82) an, beschreibt die Welt, in der er sich bewegt, als eine Welt von Trägheit, Angst und Unverschämtheit (DHZ 88). Diese Punkte erinnern an

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jene Fehlhaltungen, die Evagrius Ponticus und Johannes Cassian im vierten und fünften Jahrhundert als grundsätzliche Quellen von verirrtem Leben festgehalten haben. Man könnte Dag Hammarskjöld so interpretieren, dass er sich über die bei diesen und anderen Autoren angesprochene Dynamik im Klaren ist, dass eine bestimmte innere Haltung weitere Haltungen und auch Handlungen hervorbringt und damit eine Dynamik in Gang setzt, die schließlich die ganze Lebensführung prägt. Das Innere wirkt nach Außen. Dag Hammarskjöld erkennt es als ein Lebensgesetz, dass die Beglaubigung menschlichen Lebens von innen erfolgt, von einer Konzeption von Interiorität her: Im August 1956 notiert er: „wie tot kann ein Mann sein hinter einer Fassade von großer Tüchtigkeit, Pflichttreue und Ehrgeiz“ (DHZ 141). Das Innere hat den Primat vor dem Äußeren, die Echtheit und Glaubwürdigkeit menschlichen Tuns ergibt sich von innen her. Von innen her wird der Mensch zu seinem Handeln angetrieben, Dag Hammarskjöld verwendet hier den Begriff des „Hungers“: „Hunger ist meine Heimat im Land der Leidenschaften. Hunger nach Gemeinschaft, Hunger nach Gerechtigkeit – einer Gemeinschaft, durch Gerechtigkeit gebaut, und einer Gerechtigkeit gewonnen durch Gemeinschaft. Nur Leben erfüllt des Lebens Forderung“ (DHZ 78). Harry Frankfurt hat diesen „Hunger“, wie wir gleich sehen werden, mit dem Begriff von „concern“ und „Sorge“ ausgedrückt. Entscheidend ist die Idee, dass im Inneren des Menschen, in den Strukturen dessen, was einem Menschen wichtig ist, die Triebfedern des Handelns zu suchen sind. Das „gelingende Leben“, um diesen Begriff einzuführen, hat nach Dag Hammarskjöld wesentlich mit den rechten Motiven für das Handeln zu tun, mit der rechten Einbettung des Lebens in einen größeren Zusammenhang, in den Kontext einer Lebensordnung. Anhaltspunkte für eine „Theorie des rechten Lebens“ ergeben sich auch aus Hammarskjölds Betonung von Selbstverpflichtungen, von „commitments“. Reinheit als Ideal des Menschlichen besteht für ihn darin, frei von Halbheiten zu sein (DHZ 120). Diese Halbheiten ergeben sich aus Inkonsequenz und dem bereits angesprochenen Eingehen von unlauteren Kompromissen. Hier kommt es darauf an, eine Position zu erarbeiten und zu behaupten. In diesem Zusammenhang zeigen sich einige Eckpunkte von Hammarskjölds Auffassung von Verhandlungen und Diplomatie: „was du durch Nachgeben gewinnen kannst, nimm niemals an. Nur dem Eroberer gibt das Leben. Lebst du von Diebesgut, erschlaffen die Muskeln“ (DHZ 43) – und einige Jahre später: „Nicht ‚dem Frieden zuliebe‘ ablassen von der eigenen Erfahrung und Haltung“ (DHZ 102). Integrität und Aufrichtigkeit zeigen sich in der Positionierung und der Bereitschaft, die Kosten und Konsequenzen für diese Positionierung zu übernehmen. Aus dieser Positionierung erst kann echter Dienst geleistet werden.

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Dieses abschließend erwähnte Motiv zieht sich durch Hammarskjölds Texte und weist sein Selbstverständnis und seine Auffassung vom gelingenden Leben aus: Das Leben hat zu dienen. Das Leben als Dienst wird gerade mit wachsender Macht und Verantwortung drängend. Der Umstand, dass einem Menschen andere Menschen anvertraut sind, ist nach Hammarskjöld eine Quelle von Demut, einer „Demut, die aus dem Vertrauen anderer geboren wird“ (DHZ 108). Das Leben als Dienst ist dem Verantwortungsträger in besonderer Weise aufgetragen: „Die Stellung gibt dir nie das Recht, zu befehlen. Nur die Schuldigkeit, so zu leben, dass andere deinen Befehl annehmen können, ohne erniedrigt zu werden“ (DHZ 117). Das ist ein Satz, der in seiner Tiefe und Schlichtheit viel über Autorität und Macht aussagt. Das Leben als Dienst bringt Gewichtigkeit mit sich. Es geht Hammarskjölds Auffassung vom gelingenden Leben entsprechend gerade nicht darum, den Weg hin auf ein leichtes Leben zu gehen. Man bekommt bei der Lektüre der Notizen den Eindruck: Das Leben hat schwer zu sein, es ist recht, dass das Leben mit Lasten, Pflichten und Bürden verbunden ist. Ähnlich wie der angesprochene Johannes XXIII. in seinem geistlichen Tagebuch,63 ist es auch Dag Hammarskjöld um ein schweres Leben zu tun. „Um Bürden batest du –. Und wimmertest, dass du beladen wurdest“ (DHZ 63; vgl. DHZ 65). Die Bürde besteht darin, der Verantwortung, der Aufgabe, den Menschen gerecht zu werden, ohne selbst zu fallen oder unlautere Kompromisse einzugehen. Dabei ist die Auffassung vom Leben als Dienst nach Hammarskjöld nicht ein abstraktes Ideal, das es erlauben würde, zugunsten einer Idee, Menschen zu opfern (ein Motiv, das sich bekanntlich in Karl Poppers sozialphilosophischem Denken findet, wie es in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde zum Ausdruck kommt). Entscheidend ist der Blick auf den einzelnen Menschen: „Es ist besser, aus ganzer Seele einem Menschen Gutes zu tun, als sich ‚für die Menschheit‘ zu opfern“ (DHZ 138), notiert Hammarskjöld 1956, als er bereits eine globale Verantwortung hat; auch hier zeigt sich ein Motiv, das wir auch in der Existenzphilosophie finden können. So sehen wir in Hammarskjölds Notizen Eckpfeiler seiner Auffassung von Lebensordnung und Lebensgesetzmäßigkeiten: Die Macht der Irreversibilität, die Unabhängigkeit der Wirklichkeit, die Wahrheit des „Lebens zum Tode“, die „Pflicht zum Inhalt“, das Leben „von innen her“, das Leben als Dienst. Damit sind Eckpfeiler dessen, was man ein „ernsthaftes Leben“ nennen könnte, angesprochen und ausgedrückt. 63 Besonders augenscheinlich wird das in einem Gebet, das Angelo Roncalli im Frühjahr 1930 niederschreibt: „O mein Jesus, gewähre mir ein hartes, mühevolles, apostolisches Leben unter dem Kreuze“. Johannes XXIII, Geistliches Tagebuch, S. 234.

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2. Ernsthaftigkeit Dag Hammarskjölds Notizen mahnen eine Ernsthaftigkeit im Umgang mit sich selbst und im Umgang mit den fundamentalen Fragen an, wie sie tiefer Politik eigen ist. Die Idee der Ernsthaftigkeit findet sich philosophisch in Harry Frankfurts Beiträgen entfaltet:64 „Sich ernst zu nehmen bedeutet, sich nicht einfach so hinzunehmen, wie man eben ist“.65 Selbstreflexion mit der entsprechenden Fähigkeit zur Selbstobjektivierung und die Liebe als Grundlage von Strukturen der Sorge konturieren das ernsthafte Leben. Unsere Entscheidungen prägen unsere Folgeentscheidungen, unsere Lebensstrukturen prägen unsere Entwicklung. Entsprechend sind wir auch mitverantwortlich für das, was wir sind. Immer wieder sind wir gezwungen, Entscheidungen zu treffen – dazu müssen wir uns einerseits über unsere eigene Lage klar werden, andererseits etwas anstreben, was uns wichtig ist; „manche Dinge sind nur deshalb wichtig für uns, weil wir uns um sie sorgen.“66 Willentliche Entscheidungen sind Ausdruck unserer selbst; wir sind aufgrund unserer Entscheidungen in einer besonderen Weise mit unserem Leben verbunden, in unser Leben eingebunden, machen dieses Leben „zu unserem Leben“. Sorgen strukturieren unser Leben, geben unserem Leben eine Richtung und auch Gewicht. „Wenn es nichts gäbe, um das wir uns sorgten – wenn unsere Reaktion auf die Welt ganz einförmig und monoton wäre –, hätten wir keinen Grund, uns um irgendetwas zu sorgen.“67 Endzwecke werden von der Liebe bereitgestellt und auch legitimiert. Liebe ist auf paradigmatische Weise persönlich und lässt Strukturen des Lebens in paradigmatisch persönlicher Weise hervortreten. Aufgrund der Liebe sorgen wir uns um etwas, was wiederum entscheidenden Einfluss auf unseren Charakter und die Qualität unseres Lebens hat.68 Dadurch, dass wir uns um Dinge sorgen, werden sie für uns wichtig, „it is by caring about things that we infuse the world with importance.“69 Wenn wir etwas „mit ganzem Herzen“ anstreben, haben wir uns das Leben zu Eigen gemacht und handeln aus Eigenem heraus.70 Die auf diese Weise entstehende Ernsthaftigkeit können wir auch bei Dag Hammarskjöld sehen. Die politische Relevanz der Ernsthaftigkeit kann nur mehr angedeutet werden – es ist Ausdruck und Kennzeichen tiefer Politik, wenn die grund64 65 66 67 68 69 70

Frankfurt, Sich selbst ernst nehmen. Ebd., S. 16. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. Frankfurt, The Reasons of Love, S. 10–17. Ebd., S. 23. Frankfurt, The Importance of what we care about, S. 159–176.

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legenden Fragen gestellt werden; diese Fragen betreffen vor allem auch die Strukturen der Sorge; sie betreffen die Herausforderung der Frage, worum wir uns sorgen sollen, wofür wir Sorge zu übernehmen haben. Eine ernsthafte Gesellschaft wird sich diesen Fragen nicht nur in je privater Auseinandersetzung stellen. Man kann Dag Hammarskjölds Überlegungen, die er in seinen Notizen festgehalten hat, als Ausdruck des Ringens um ein ernsthaftes Leben verstehen – und damit als „Exerzitien in tiefer Politik“. IV. Schluss Am 8. Februar 1959 notierte Dag Hammarskjöld: „[Ich bin mir] oder bewusst der Wirklichkeit des Bösen, der Tragik des individuellen Lebens und der Forderung nach ‚würdiger‘ Lebensgestaltung“. Wir dürfen diese drei Punkte als Eckpfeiler tiefer Politik festhalten: (i) Wir leben in einer nichtidealen Welt, die sanierungsbedürftig und verbesserungswürdig ist; es gibt das zu bekämpfende „malum“, gegen das sich Politik zu wenden hat; (ii) es geht auch in der Politik nicht um „die vielen Leben“, sondern um das Leben von einzelnen Menschen, das sich mitunter in Umstände verstrickt, die es scheitern lassen, das um Chancen und Potentiale gebracht wird, das nicht in Freiheit und Kraft gelebt werden kann; (iii) Ziel von Politik und Pflicht gegen sich selbst ist das, was man eine „würdige Lebensgestaltung“ nennen könnte, eine Lebensgestaltung, die dem Menschen und seiner Entscheidungsfreiheit und Selbstgestaltung gemäß ist – menschenwürdig. Dag Hammarskjöld hat diese drei Eckpfeiler in seinem Wirken und Denken umgesetzt. Die letzte Eintragung vom 24. August 1961 entwirft das Bild einer inneren Landschaft („ich wohnte am innersten See“), die auch als Bild für die Innerlichkeit dienen kann, und deutet im letzten Satz die Kraft der Selbsterkenntnis an: „Und ich beginne die Karte zu kennen, die Himmelsrichtungen“ (DHZ 208). Literatur Arbinger Institute: Leadership and Self-Deception. San Francisco 2000. Arendt, Hannah: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. München, 2. Auflage 1987. Argrys, Chris: Teaching Smart People How to Learn. Harvard Business Review Classics. Cambridge, Mass. 2008. Bach, Ken: An analysis of self-deception, in Philosophy and Phenomenological Research 41, Heft 3, 1981, S. 351–370. Baugh, Bruce: Authenticity Revisited, in The Journal of Aesthetics and Art Criticism 46, Heft 4, 1988, S. 477–487.

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„Suche nicht die Vernichtung. Die wird dich finden.“ Politik und Opfer im Denken Dag Hammarskjölds Wolfgang Palaver Der Zusammenhang zwischen Politik und Opfer gehört zu den spannendsten, aber auch komplexesten Fragen der Sozialethik, der politischen Philosophie und der Theologie. Das Opfer gehörte unauflöslich zur Welt der alten Politik. Es lässt sich sogar problemlos ein Bogen von den mythischen Ursprüngen bis ins 21. Jahrhundert spannen. Die moderne Welt steht dem Opfer dagegen skeptisch gegenüber. Bevor ich mich direkt mit der Frage des Opfers im Denken Dag Hammarskjölds auseinandersetze, möchte ich zuerst kurz das Verhältnis von Opfer und Politik nachzeichnen, um sowohl die frühere enge Verbindung als auch die moderne Skepsis zu erklären. I. Altes Opferdenken und moderne Opferskepsis In bestimmten Traditionen des Katholizismus war es üblich, ohne große Unterscheidung zwischen mythischen Opferkulten und christlichem Opfer einfach die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit von Opfern herauszustreichen und gleich auch entsprechende politische Folgerungen abzuleiten. Ein Beispiel dafür ist die Tradition, die sich von den katholischen Gegenrevolutionären Joseph de Maistre und Juan Donoso Cortés bis hin zu Carl Schmitt ziehen lässt. Ihr Denken erweist sich als sakrifiziell – als opferkultisch – und kann auf jenen mythischen Ursprung zurückgeführt werden, den René Girard als Sündenbockmechanismus bezeichnet. Die Logik des für de Maistre und Donoso Cortés typischen Opferdenkens drückt sich konzentriert in den Worten des königlichen Staatsministers Graf Ferrand aus, einem Vertreter der theokratischen Restauration unter Ludwig XVIII., zu deren Theoretikern de Maistre zählte: „Ihr, die ihr für die Menschlichkeit kämpft, seid euch bewußt, daß etliche Tropfen Blut vergossen werden müssen, wenn nicht Ströme fließen sollen.“1 Für de Maistre ist die ganze Welt ein riesiger Opferaltar: „Die ganze Erde, immerfort mit Blut getränkt, ist nur ein unermeßlicher Altar, auf welchem alles, was lebt, ohne Ende, ohne Maß, ohne Unterlaß, bis zur Vollendung der Dinge, bis zur Vertilgung 1

Zit. nach Eisfeld, Joseph de Maistre und L.-G.-A. de Bonald, S. 103.

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des Bösen, bis zum Tode des Todes, geopfert werden muß.“2 Ähnlich werden Krieg und Todesstrafe von de Maistre und Donoso Cortés mittels des Opfergedankens legitimiert. Bei aller Abscheu, die wir solchen Haltungen gegenüber empfinden, dürfen wir aber nicht vergessen, dass es für de Maistre und Donoso Cortés nicht um eine unmoralische Verherrlichung von Krieg und Todesstrafe ging. Ähnlich den urtümlichen Religionen am Beginn der menschlichen Zivilisation wollten sie durch den kontrollierten und gezielten Gewalteinsatz den kulturellen und politischen Frieden erhalten. Carl Schmitt schließt mit seiner politischen Theologie an die katholischen Gegenrevolutionäre de Maistre und Donoso Cortés an und verteidigt so wie diese das Opfer, das der Krieg verlangt. Seine Kritik richtet sich dabei gegen jenen pazifistischen Liberalismus, der eine „Welt ohne Politik“ – ohne die „Unterscheidung von Freund und Feind“ – schaffen möchte und dadurch die Fähigkeit zum Opfer verliere.3 Ein so „pazifizierter Erdball“ kenne keinen solchen Gegensatz, „auf Grund dessen von Menschen das Opfer ihres Lebens verlangt werden könnte und Menschen ermächtigt werden, Blut zu vergießen und andere Menschen zu töten.“4 Gerade gegen die hier kurz skizzierten Formen des katholischen Opferdenkens ist aus Reformation und Aufklärung jene moderne Ablehnung des Opfers hervorgegangen, die unsere heutige Welt bestimmt. Vor allem die Tradition des Liberalismus ist wesentlich von der Distanz zum mythischen Opferdenken gekennzeichnet. Es lässt sich hier eine Linie von Thomas Hobbes am Beginn der Neuzeit bis hin zu John Rawls und Jürgen Habermas in unserer Gegenwart ziehen. Gemäß Hobbes’ Verständnis des Naturrechts ist es „einem Menschen verboten, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann“.5 Die Selbsterhaltung ist das oberste Gebot dieses frühen Liberalismus. Wenn sich Hobbes auch aus Gründen der Staatsräson vorstellen konnte, Menschen in Kriege zu schicken, so identifizierte er sich doch so sehr mit dieser naturrechtlichen Pflicht zur Selbsterhaltung, dass er dabei gleichzeitig allen Menschen das Recht zusprach, sich solchen Gefährdungen durch den Staat zu entziehen. Er legte den Gedanken der Selbsterhaltungspflicht so strikt aus, dass er auch eine der Forderung der Bergpredigt gemäße einseitige Vorleistung entschieden ablehnte, weil niemand sich „andern willig zum Raube“ anbieten dürfe.6 John Rawls setzt sich mit der Frage des Opfers in seiner Kritik des Utilitarismus 2

Maistre, Die Abende von St. Petersburg, S. 312. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 35. 4 Ebd., S. 36; vgl. S. 48 f., 70. 5 Hobbes, Leviathan oder Stoff, S. 99; vgl. Palaver, Politik und Religion, S. 124–126. 6 Hobbes, Leviathan, S. 119. 3

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auseinander und distanziert sich von individuellen Opfern zugunsten des allgemeinen Nutzens: „Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher läßt es die Gerechtigkeit nicht zu, daß der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird. Sie gestattet nicht, daß Opfer, die einigen wenigen auferlegt werden, durch den größeren Vorteil vieler anderer aufgewogen werden.“7 Ähnlich wie Hobbes schließt auch Rawls den Gedanken der einseitigen Vorleistung aus. Jürgen Habermas hat ebenso in mehreren seiner Schriften darauf hingewiesen, dass die moderne „Vernunftmoral“ die „Abschaffung des Opfers“ besiegle.8 Am Beispiel der Themen Todesstrafe, allgemeine Wehrpflicht, Steuerpflicht und Schulpflicht bemerkt er, dass der „normative Kern“ einer „Aufklärungskultur“ darin bestehe, „die Moral des öffentlich zugemuteten sacrificium abzuschaffen“.9 Anlässlich der Diskussion über die Errichtung eines Holocaust-Denkmals in Deutschland erinnerte er sich an den „Opferkult“, der noch in seiner Jugend vorherrschend war und auf den „Heldentod“ – dem „präsumptiv freiwilligen Sacrificium für die vermeintlich höheren Zwecke des eigenen Kollektivs“ – zielte.10 Klar distanzierte er sich von diesem mit dem „Zeitalter des europäischen Nationalismus“ eng verbundenen Opferkult und seinen „Kriegerdenkmälern“. II. Die Lebenshingabe als Dienst am Weltfrieden Vor dem Hintergrund der modernen Skepsis gegenüber dem Opfer erstaunt es, wie sehr das Thema des Opfers im Zentrum des spirituellen Tagebuchs von Dag Hammarskjöld steht. Von Anfang an kommt er immer wieder auf dieses Thema zurück. So heißt es schon in einer der ersten Eintragungen aus den Jahren 1925–1930: „Ein Mann, der wurde, was er konnte, / und der war, was er war – / bereit, im einfachen Opfer / alles zu fassen.“11 Und auch am Ende des Tagebuchs – versehen mit der Datumsabgabe „7. Juli 1960 – Frühjahr 61“ – findet sich das Thema Opfer wieder: „Jetzt bin ich der Erwählte, / fest gespannt auf den Block, / Opfer zu werden.“12 7

Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 19 f. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 136. 9 Habermas, Die postnationale Konstellation, S. 152; Habermas, Zeit der Übergänge, S. 192 f. 10 Habermas, Zeit der Übergänge, S. 55. 11 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 58. 12 Ebd., S. 213. Diese Verse sind Teil eines Gedichts, das während der Kongokrise entstand. Siehe Erling/Hammarskjöld, A Reader’s Guide, S. 268–269. 8

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Steht Hammarskjöld für die Renaissance des alten Opferdenkens wie wir es aus der Tradition des politischen Katholizismus kennen? Auf den ersten Blick könnte eine solche Vermutung tatsächlich bestätigt werden, wenn wir seine Hinweise auf das neutestamentliche Wort von Kajaphas (Joh 11,50), dass es besser sei, wenn ein Mensch an Stelle des ganzen Volkes zugrunde gehe,13 oder auf die mythische Geschichte von Ödipus entdecken: „Ödipus, der Königssohn, der Throngewinner – der vom Glück begünstigte Untadelhafte –, wird gezwungen, die Möglichkeit und endlich die Wirklichkeit dessen einzusehen, dass auch er mit einer Schuld beladen ist, die es rechtfertigt, zur Rettung des Volkes geopfert zu werden.“14 Beide Stellen können problemlos mittels der mimetischen Theorie René Girards jenem uralten Opferdenken zugeordnet werden, das aus dem Gründungsmord am Beginn menschlicher Kulturen hervorgegangen ist. Hammarskjöld nennt an einer anderen Stelle auch ausdrücklich den „barbarischen Kult“, mit dem der Opfergedanke verbunden sein kann.15 Die konkreten Beispiele unterstreichen dies zuerst. Ödipus ist für Girard der Prototyp eines mythischen Sündenbocks, dessen Opferung die soziale Krise in der Stadt Theben überwinden soll.16 Ebenso kann der Ausspruch des Kajaphas als politische Opferlogik verstanden werden. Nach Girard verkörpert das Wort des Hohenpriesters jene „politische Vernunft“, die der „Vernunft des Sündenbocks“ gleichkommt.17 Es geht um die „größtmögliche Begrenzung der Gewalt“, auf die „aber im Extremfall“ zurückgegriffen werden kann, „um mehr Gewalttätigkeit zu vermeiden“.18 Ein genaueres Studium des spirituellen Tagebuches zeigt allerdings, dass Hammarskjöld den Satz des Kajaphas nicht politisch versteht und er daher auch nicht der mythischen Opferlogik folgt, sondern diesen Text biblisch liest und damit für die Überwindung der alten Opferlogik Partei ergreift.19 Das verdeutlicht sich vor allem an jenen Stellen, in denen sich Hammarskjöld direkt mit dem Opfertod Jesu am Kreuz auseinandersetzt. An keiner Stelle vertritt er dabei das politische Argument von Kajaphas, dass ein erzwungener Tod eines Einzelnen gut für die ganze Gemeinschaft wäre, sondern er betont die freiwillige Hingabe Jesu als Dienst an den Men13

Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 154. Ebd., S. 168. 15 Ebd., S. 137. 16 Girard, Heilige, S. 104–133; vgl. Palaver, René Girards mimetische Theorie, S. 205–207. 17 Girard, Der Sündenbock, S. 165. 18 Ebd. 19 Vgl. Erling/Hammarskjöld, A Reader’s Guide, S. 162–163. Bezüglich der Unterscheidung einer politischen und einer biblischen Lesart dieses Textes siehe Girard, Der Sündenbock, S. 166. 14

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schen.20 Inhaltlich besonders aufschlussreich ist eine Reflexion über das letzte Abendmahl von Jesus, das Hammarskjöld mit der Hervorhebung der Fußwaschung als Liebesdienst versteht, der auf jenen Frieden hin ausgerichtet ist, den Gott den Menschen schenkt. Ausdrücklich betont er mit Joh 14, 27 das positive friedliche Ziel der „Lebenshingabe“ von Jesus: „Meinen Frieden gebe ich euch.“21 Das Opfer Jesu zielt nach Hammarskjöld nicht auf Zerstörung und Tod, sondern auf das Leben. Jesu Lebenshingabe ist eine strenge „Hingabe an das Leben“.22 Hammarskjöld thematisiert selbst die entscheidende Frage, die an dieses Opfer zu stellen ist und beantwortet sie, indem er herausstreicht, dass Jesus sein Leben aus Liebe – er zitiert Joh 13,34 – für die anderen hingab: „Opferte er sich für andere doch um seiner selbst willen – in einer erhabenen Egozentrik? Oder verwirklicht er sich selbst um anderer willen? Die Scheidelinie verläuft zwischen Nichtmensch und Mensch. ‚Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebet.‘“ 23 Die Selbsthingabe des eigenen Lebens um das Leben der anderen willen ist nach Girard die Haltung des christlichen Opfers, das sich radikal von jenen mythischen Opfern unterscheidet, die den Frieden der Gemeinschaft auf dem erzwungenen Tod der Sündenböcke errichten. Sowohl in der guten Hure des Salomonischen Urteils (1 Kön 3,16–28) als auch in Jesus Christus erkennt er diese christliche Haltung der Lebenshingabe um das Leben der anderen willen.24 Hammarskjölds Interpretation des Opfers Jesu entspricht hier ganz der von Girard erarbeiteten christlichen Perspektive. Dies zeigt sich auch in seiner Zurückweisung jener Gottesbilder, die dem Leiden als solchem einen Sinn zusprechen und es direkt zum Lebensziel erheben. Hammarskjöld entlarvt solche Gottesbilder als bloß menschliche Projektionen: „Dieser lästerliche Anthropomorphismus: dass Gott durch Leiden uns erziehen wolle. Wie weit davon entfernt ist das Bejahen des Leidens, wenn es uns darum trifft, damit wir dem folgen, was wir als Gottes Willen erkennen.“25 Leiden ist also kein gerechtfertigter Zweck an sich, sondern ist nach Hammarskjöld nur legitim, wenn wir es aus Liebe für das Leben der anderen auf uns nehmen.26 Jesu Lebenshingabe wurzelt in keiner psychopathischen Leidverherrlichung, sondern weiß sich einem Gott des Lebens und der Liebe verpflichtet. 20

Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 79, 105 f., 170; vgl. Huls, Hammarskjöld’s Interpretation of the Bible. 21 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 105. 22 Ebd., S. 106. 23 Ebd., S. 106; vgl. Aulén, Dag Hammarskjöld’s White Book, S. 52–55. 24 Girard, Das Ende der Gewalt, S. 293–302. 25 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 180. 26 Aulén, Dag Hammarskjöld’s White Book, S. 90, 133; Benning, Dag Hammarskjöld, S. 131 f.

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Hammarskjöld versteht sein eigenes politisches Leben als eine Opfergabe gemäß der Nachfolge Christi. Als er nach seiner Wahl zum Generalsekretär der Vereinten Nationen am 9. April 1953 in New York eintrifft, erklärt er, dass er sein Amt als das eines „internationalen öffentlichen Dieners“ („international public servant“) versteht.27 Ähnlich hat er nach seiner Ernennung in einem Radio-Interview erklärt, wie er seinen Dienst für die Weltgemeinschaft als ein Dienen und ein Opfer sieht: „Aus Generationen von Soldaten und Beamten auf der Seite meines Vaters habe ich gelernt, dass es kein erfüllenderes Leben geben kann als das des selbstlosen Dienstes am Vaterland – oder an der Menschheit. Dieser Dienst setzt das Opfer persönlicher Interessen ebenso voraus wie die Bereitschaft, unbeirrbar für seine Überzeugungen einzustehen.“28 In einer Aufzeichnung aus den Jahre 1955 verbindet er seinen Einsatz für die Vereinten Nationen – den „Traum von der Menschheit“ – mit dem Opfergedanken, weil er bereit ist, sich in diesen Traum „zu verlieren“, und weil er dafür auch „gerne Tod oder Scham“ auf sich nimmt, sollte der Traum diese fordern.29 Sind aber tatsächlich Opfer notwendig, um in unserer modernen Welt Frieden zu stiften? Oder ist dieser Rückgriff auf den Opfergedanken ein Anschluss an die alte Opfertradition, die wir endlich hinter uns lassen sollten? John Lennon träumte in seinem Lied „Imagine“ von einer Welt, in der es weder die Notwendigkeit des Tötens noch der Lebenshingabe geben würde („nothing to kill or die for“ lautet die treffende Zeile).30 Hammarskjöld verherrlicht weder das Töten noch die Gewalt als solche. Skeptisch steht er der Gewalt gegenüber und scheut auch nicht davor zurück, das Töten als sinnlos zu bezeichnen: „Gewalttat –. Im Großen wie im Kleinen das bittere Paradox: des Todes Sinn – und des Tötens Sinnlosigkeit.“31 Die das Leben hervorbringende Schöpfung steht für ihn im Gegensatz zur Vernichtung, auf die das Töten zielt. Die Unterscheidung zwischen Schöpfung und Vernichtung ist für ihn sogar zum persönlichen Prüfstein geworden: „Schöpfst du? Vernichtest du? / Dies sind die Fragen für deine Eisenprobe.“32 Hammarskjöld ist sich auch der Versuchung des Masochismus bewusst und weist diese entschieden zurück – nachdem er vermutlich auch persönlich mit ihr gerungen hatte. Jede heroische Sehnsucht nach dem Opfer oder nach dem Tod um des Opfers willen widerspricht einer Lebenshingabe, die 27

Hammarskjöld, Servant of Peace, S. 27; vgl. Troy, Dag Hammarskjöld. Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 34. 29 Ebd., S. 140; vgl. Aulén, Dag Hammarskjöld’s White Book, S. 106. 30 Vgl. dazu kritisch Münkler/Fischer, „Nothing to kill or die for . . .“; Palaver, Opferkulte. 31 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 144. 32 Ebd., S. 201; vgl. Aulén, Dag Hammarskjöld’s White Book, S. 92. 28

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auf den Frieden und das Leben zielt. Zahlreiche Tagebucheintragungen weisen diese romantische, sentimentale Opferhaltung eindeutig zurück. Klar distanziert er sich von einer Lebenshaltung, die auf Selbstvernichtung zielt: „Suche nicht die Vernichtung. Die wird dich finden. Suche den Weg, der zur Vollendung führt.“33 Jeden „lustbetonten Todestrieb“, der oft mit einem „Einschlag von narzisstischem Masochismus“ einhergeht, zählt er zu jenen „Abgründen“, die es zu vermeiden gilt.34 In einer seiner vielen selbstkritischen Tagebucheintragungen bemerkt er auch, dass der heroische Lebenseinsatz für die Menschheit immer noch Ausdruck „deines Solipsismus, deines Machthungers und deines Zerstörungstriebs“ sein kann, wenn er nicht durch die Liebe zu den Menschen in der Nähe gebeugt ist: „Es ist besser, aus ganzer Seele einem Menschen Gutes zu tun, als sich ‚für die Menschheit zu opfern‘.“35 So entschieden aber wie er das gewaltsame Töten und die sentimentale oder machhungrige Todessehnsucht zurückweist, so distanziert er sich auch von einer Haltung, die dem Tod um jeden Preis auszuweichen versucht und jegliches Opfer ausschließt. Die „animalische Furcht des physischen Selbsterhaltungstriebs“ gehört nämlich für ihn genauso zu den zu vermeidenden „Abgründen“ wie der lustbetonte Todestrieb.36 Lässt sich aber der Opfergedanke in der heutigen Welt plausibel machen? Konkret könnte im Blick auf die Frage nach der Notwendigkeit von Opfern zum Beispiel auf die Blauhelm-Einsätze der Vereinten Nationen („peacekeeping“) hingewiesen werden, die ja wesentlich von Dag Hammarskjöld – angeregt durch den damaligen kanadischen Außenminister Lester Pearson – 1956 angesichts der Suezkrise eingerichtet wurden.37 Diese Friedenseinsätze setzten auch eine Bereitschaft zum Opfer voraus, wie allein an der Tatsache deutlich wird, dass von 1948 bis zum 31.12.2011 insgesamt 2.966 Menschen im Rahmen von UN-Einsätzen ihr Leben lassen mussten.38 Hammarskjöld verweist in seinem spirituellen Tagebuch als einleuchtendes Beispiel für die Plausibilität des Opfergedankens auf die Vergebung, die in unserer heutigen Welt so besonders wichtig geworden ist, weil wir zwar immer sensibler für Verfolgungen geworden sind und uns mit Sündenböcken solidarisieren, aber damit oft zur Gewalteskalation beitragen, wenn die Sorge um die verfolgten Opfer nicht mit Vergebung einhergeht. Eine 33

Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 177. Ebd. 35 Ebd., S. 154. 36 Ebd., S. 177. 37 Wallensteen, Dag Hammarskjöld, S. 18–20, 42–43; Benning, Dag Hammarskjöld, S. 53 f. 38 Siehe http://www.un.org/en/peacekeeping/fatalities/documents/StatsByYear_1. pdf. 34

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solche Vergebung kann aber ein Opfer erfordern, ein stellvertretendes Leiden, wie es beispielhaft von Jesus Christus vorgelebt wurde. Hammarskjöld spricht den Zusammenhang von Vergebung und Opfer deutlich an: „Der Vergebung zerbricht die Ursachenkette dadurch, dass der, der – aus Liebe – ‚vergibt‘, die Verantwortung auf sich nimmt für die Folgen dessen, was du tatest. Sie bedeutet daher immer Opfer.“39 Mit der „Ursachenkette“ verweist Hammarskjöld auf jene mit dem Sündenbockmechanismus und dem Vergeltungsdenken verbundene mythische Verschränkung von Schuld und Vergeltung, die gerade durch Jesu vergebende und liebende Hingabe durchbrochen wurde.40 Bis heute trägt das Vergeltungsdenken gerade im Bereich der internationalen Politik zur Eskalation von Konflikten bei, die nur durch den Verzicht auf Ansprüche und Akte der Vergebung überwunden werden können. Als Hammarskjöld Ostern 1960 diese Einsicht in den Zusammenhang von Vergebung und Opfer festhielt, dürften ihm durchaus auch solche politischen Implikationen bewusst gewesen sein.41 Hammarskjölds Überlegungen über den Zusammenhang von Opfer und Gewaltüberwindung berühren sich eng mit Einsichten der französischen Mystikerin und Philosophin Simone Weil.42 Sie betonte, dass der wahre Gott auf dem Weg des freiwilligen Leidens die Gewalt überwindet, während alle mythischen Götzendienste das Leiden gerade in Gewalt verwandeln: „Der falsche Gott macht aus dem Leiden Gewalt. Der wahre Gott macht aus der Gewalt Leiden.“43 Die christliche Haltung der Transformation wird von ihr ganz explizit ausgesprochen: „Erlösung durch das Leiden, die das Böse in reines Leiden umwandelt.“44 Auch wo sich Weil mit dem Pazifismus auseinandersetzte, war für sie klar, dass ein ethisch vertretbarer Pazifismus die Bereitschaft zum Opfer nicht ausschließen darf. Wo sie nämlich ausgeschlossen wird, droht die Gewalt durch die Hintertüre einzutreten: „Der Pazifismus kann nur dann Unheil stiften, wenn er zwei Arten von Abscheu durcheinanderbringt: die Abscheu vor dem Töten und die Abscheu vor dem Sterben. Die Erstere ist ehrenwert, aber sehr schwach; Letztere will kaum einer zugeben, aber sie ist sehr stark; die Mischung beider bildet einen Beweggrund von großer Energie, der nicht von der Scham gehemmt wird und bei dem nur die zweite Art von Abscheu aktiv ist. Die französischen Pazifisten der letzten Jahre verabscheuten das Sterben, keineswegs 39

Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 207. Vgl. Aulén, Dag Hammarskjöld’s White Book; Kelsen, Vergeltung und Kausalität; Girard, Sündenbock; Burkert, Kulte des Altertums, S. 126–157. 41 Erling/Hammarskjöld, A Readers Guide, S. 255. 42 Vgl. Palaver, Die Frage des Opfers; Specker, Leben als Opfer?, S. 122–128. 43 Weil, Cahiers III, S. 196. 44 Ebd., S. 221 [meine Hervorhebung]. 40

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das Töten, sonst hätten sie sich im Juli 1940 nicht so schnell in die Kollaboration mit den Deutschen gestürzt.“45 Weil’s Einsicht in den Zusammenhang von Opfer und Gewaltverzicht korrespondiert mit einem Gottesbild, das selbst im Verzicht auf Gewalt und Machtausdehnung gipfelt. Gottes schöpferische Kraft wurzelt gerade in jenem Machtverzicht, der der Schöpfung erst Raum gibt. Sie spricht daher von Gottes „schöpferischem Verzicht“, in dem sie auch das Modell menschlicher Nächstenliebe erkennt.46 Der Gott des Lebens und der Liebe wird gerade durch seinen Verzicht schöpferisch. Hammarskjölds Gottesbild und sein Verständnis des Opfers berühren sich deutlich mit dieser Einsicht von Simone Weil. Wie wir schon oben gesehen haben, stellt er Schöpfung und Vernichtung als zwei einander entgegengesetzte Haltungen gegenüber. Das Opfer, wie er es in seiner Nachfolge Christi versteht, steht klar auf der Seite der Schöpfung und dient nicht der Vernichtung. Ähnlich wie Weil daher vom „schöpferischen Verzicht“ spricht, so findet sich bei ihm der Ausdruck „Schöpfungsakt des Opfers“, womit einmal mehr deutlich wird, dass das Opfer auf das Leben, vor allem auch das Leben der anderen zielt.47 III. Die Unterwerfung unter Gottes Willen befreit zum wahren Selbst Das Thema des Opfers zeigt sich im spirituellen Tagebuch auch am Gedanken der Unterwerfung unter Gott, die erst eine wahre Freiheit und eine echte Selbstverwirklichung möglich macht.48 Ähnlich wie in René Girards erstem Buch über die romanesken Schriftsteller, die ihre großen Meisterwerke dem Verzicht auf den eigenen Stolz und der mimetischen Rivalität mit den anderen verdanken – Weil’s Einsicht in den „schöpferischen Verzicht“ und das biblische Wort vom Weizenkorn, das sterben muss, um reiche Frucht zu bringen (Joh 12,24), spielen dabei eine zentrale Rolle –, so weiß auch Hammarskjölds um die Gefahren der mimetischen Leidenschaften wie Ehrsucht, Hochmut oder Neid, die letztlich nur durch die Unterwerfung unter den Willen Gottes überwunden werden können.49 Die folgenden Tagebucheintragungen zeigen deutlich die negativen, zerstörerischen Konsequenzen jener egoistischen Selbstsucht, die sich der Nachahmung von 45

Weil, Die Verwurzelung, S. 150. Weil, Das Unglück, S. 161. 47 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 182; vgl. Aulén, Dag Hammarskjöld’s White Book, S. 88. 48 Vgl. Sölle, „Du stilles Geschrei“, S. 282–287. 49 Girard, Figuren des Begehrens, S. 307, 311, 319. 46

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Gottes schöpferischem Verzicht verweigert und daher in jene Falle mimetischer Rivalitäten gerät, die die gegenseitige Nachahmung der selbstverliebten Egoisten zur Folge hat: „Es gibt nur einen Weg aus dem dunstigen, verfilzten Dschungel, in dem der Kampf um Ehre, Macht und Vorteil geführt wird – aus den dich umstrickenden Hindernissen, die du selbst geschaffen. Und dieser Weg heißt: zum Tod Ja sagen.“50 „Du bist dein eigener Gott – und wunderst dich, dass die Wölfe dich über die dunkle Öde des Wintereises jagen.“51 „Die Lust an sich selbst schlägt um das Ich einen eisigen Ring, der sich langsam an den Kern heranfrisst.“52 „Von sich wusste er – wusste ich, was im Menschen ist: an Kleinlichkeit, Gier, Hochmut, Neid – und Verlangen.“53

Immer wieder betont Hammarskjöld gegen diese mimetischen Versuchungen die Vater-unser-Bitte „Dein Wille geschehe“.54 In diesen Zusammenhang gehört auch die folgende treffende und zusammenfassende Eintragung: „Nicht ich, sondern Gott in mir.“55 Ausdrücklich erkennt Hammarskjöld, wie sehr eine vernünftige Moral aus der Haltung des Opfers hervorgeht, das im Sich-Verlieren an Gott besteht. Gerade in dieser Haltung können wir das „Salz der Erde“ erkennen: „Wie sollte die Anstandsmoral der Vernunft – und der Allgemeinheit – Gestalt gewonnen haben ohne die Märtyrer des Glaubens? Mehr noch: wie sollte diese Moral dem Einschrumpfen entgehen ohne jene Erneuerung, jenen Zustrom an Kraft, die von dem ausgeht, der sich in Gott verlor? Das Seil über den Abgrund wird von denen gespannt, die es am Himmel festmachen – durch Treue zu einem Glauben, der ständiges, äußerstes Opfer ist. / Wer durch ‚Gottes Vereinigung mit der Seele‘ verurteilt ist, Salz der Erde zu sein – weh ihm, wenn er sein Salz verscherzt.“56 Deutlich erkennt Hammarskjöld in der Demut, die für ihn – in mystischer Zuspitzung – eine Form von Selbstvernichtung bedeutet, die Absage an die vergleichende Nachahmung: „Demut ist im gleichen Grade der Gegensatz zur Selbstdemütigung wie zur Selbstüberhebung. Demut heißt sich nicht vergleichen. In seiner Wirklichkeit ruhend ist das Ich weder besser noch schlechter, weder größer noch kleiner als anderes oder andere. Es ist – nichts, aber gleichzeitig eins mit allem. In diesem Sinne ist Demut völlige 50 51 52 53 54 55 56

Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 62. Ebd., S. 64. Ebd., S. 86. Ebd., S. 95. Ebd., S. 115, 162, 182. Ebd., S. 122. Ebd., S. 132.

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Selbstvernichtung.“57 Es ist die vergleichende Nachahmung – die mimetische Rivalität –, in der Girard die Hauptursache für die zwischenmenschliche Gewalt erkennt. Hammarskjölds Gegenüberstellung von Vergleich und Demut zeigt den Ausweg aus dieser Sackgasse der Gewalt, indem sich für ihn in der Nachfolge Jesu der Weg einer positiven Mimesis öffnet. Eine ähnliche Aufzeichnung deutet in dieselbe Richtung, wenn hier Hammarskjöld für die zerstörerischen Verwicklungen der mimetischen Rivalität den Begriff „Hindernis“ verwendet, um ihn der positiven „Erfüllung“ gegenüber zu stellen: „Heraus aus mir selbst, dem Hindernis, hinaus zu mir selbst, der Erfüllung.“58 Hammarskjölds „Hindernis“ entspricht Girards Begriff skándalon (Skandal, Ärgernis, Stolperstein, Stein des Anstoßes, Hindernis), in dem dieser die neutestamentliche Reflexion über die Sackgassen der mimetischen Rivalität zusammengefasst sieht.59 Gemäß dem schöpferischen Verzicht kann nur der Tod der Selbstsucht zum wahren Selbst führen. Erst die demütige Unterwerfung unter den Willen Gottes ermöglicht nach Hammarskjöld die echte Selbstverwirklichung: „Du wirst finden, dass des ständigen Abschieds, der stündlichen Selbstaufgabe Freiheit deinem Erlebnis der Wirklichkeit jene Reinheit und Schärfe gibt, die – Selbstverwirklichung ist.“60 Die eigentliche Kraft zu dieser Unterwerfung kommt von Gott selbst. Sie ist ein Geschenk der Gnade: „dieses ‚surrendered‘ Sein“ ist das, „was Gott von sich, in mir, sich gibt“.61 In seinem Radiointerview von 1953 betont Hammarskjöld ausdrücklich, dass er bezüglich seiner Haltung der Unterwerfung in der Tradition der großen mittelalterlichen Mystiker steht, „für die ‚Selbstaufgabe‘ der wahre Weg zu Selbstverwirklichung war“.62 Immer wieder zitiert er beispielsweise einen Satz des spanischen Mystikers Johannes vom Kreuz, wonach der „Glaube . . . Gottes Vereinigung mit der Seele“ ist.63 Die Initiative für den Glauben geht von Gott aus und befähigt zu jener Selbstvergessenheit, aus der die Selbstverwirklichung und die Liebe zu den Nächsten fließen. Wichtig im Blick auf Hammarskjölds Verständnis der Mystik ist aber, dass er nicht für eine mystische Flucht in eine passive Innerlichkeit eintritt, sondern seine Unterwerfung unter den Willen Gottes ihn zum aktiven Handeln für die 57

Ebd., S. 187. Ebd., S. 171; vgl. Aulén, Dag Hammarskjöld’s White Book, S. 99. 59 Girard, Der Sündenbock, S. 225–228; Girard, Das Ende der Gewalt, S. 476–492; Girard, Ich sah den Satan, S. 21–49; vgl. Palaver, René Girards mimetische Theorie, S. 322–324. 60 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 152; vgl. 212. 61 Ebd., S. 126. 62 Ebd., S. 35. 63 Ebd., S. 34, 126, 132, 154, 177, 181; vgl. Aulén, Dag Hammarskjöld’s White Book, S. 60–66. 58

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Welt befreit. In einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1955 reflektiert er über das „mystische Erlebnis“, in dem er eine durch „Distanz“ gekennzeichnete „Freiheit“ als eine „Freiheit unter Tätigen“ versteht: „Der Weg zur Heiligung geht in unserer Zeit notwendig über das Handeln.“64 Dabei ist es aber wichtig zu erkennen, dass sich Hammarskjölds Mystik nicht nur mit der christlichen Tradition berührt, sondern offen für ähnliche Erfahrungen in anderen Religionen ist. Über sein Elternhaus kam er schon früh mit dem lutherischen Theologen, Religionswissenschaftler, Friedensnobelpreisträger und Erzbischof von Uppsala Nathan Söderblom in Kontakt, der ihm den Blick für die ökumenische Zusammenarbeit und eine interreligiöse Offenheit vermittelte.65 In seinen Aufzeichnungen greift Hammarskjöld auf mystische Erfahrungen vieler religiöser Traditionen zurück. Sein Hinweis auf Rumi, den großen mittelalterlichen Sufimeister, zeigt beispielsweise, wie sehr er sich auch mit islamischen Traditionen berührt: „The lovers of God have no religion but God alone.“66 Ein längeres Zitat von Tsi Si, einem Enkel des Konfuzius, das unter anderem die Worte „Er, der den Kelch des Ichs rein werden lässt, kann die angeborenen Anlagen anderer zur Vollkommenheit führen“ enthält, beendet Hammarskjöld mit der Anmerkung „Tsi Si, nicht Eckhart“, um zu unterstreichen, dass die mittelalterliche Mystik auch Parallelen im Osten findet.67 Letztlich bestätigt das für ihn die Einheit der echten religiösen Erfahrungen, wie die einleitenden Worte zu diesem Zitat von Tsi Si betonen: „Die äußerste Erfahrung ist eine.“68 Hammarskjölds interreligiöse Offenheit kam ihm besonders zugute als er 1957 gemeinsam mit seinem schwedischen Freund und Künstler Bo Beskow einen Meditationsraum für den Frieden im Zentrum der UNO in New York einrichtete, der natürlich für alle religiösen Traditionen offen sein sollte.69 Dieser Raum enthält nur einen großen Block aus Eisenerz in der Mitte, der für Hammarskjöld einen Altar darstellen soll und damit wieder auf das Thema des Opfers hinweist, das ihn zeit seines Lebens begleitete. Mit den folgenden Worten erklärt er die Bedeutung des Gesteinsblocks im Blick auf die vielen religiösen Traditionen: „Der Stein in der Mitte des Raumes hat uns noch mehr zu sagen. Wir können ihn als einen Altar betrachten, leer, nicht weil es keinen Gott gibt, nicht weil es der Altar für 64 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 145; vgl. Aulén, Dag Hammarskjöld’s White Book, S. 99, 119. 65 Ebd., S. 14–16, 49. 66 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 131. 67 Ebd., S. 155, 232; vgl. Aulén, Dag Hammarskjöld’s White Book, S. 47. 68 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 155. 69 Aulén, Dag Hammarskjöld’s White Book, S. 46 f., 49; Erling/Hammarskjöld, A Reader’s Guide, S. 283 f.; Specker, Leben als Opfer?, S. 160 f.

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einen unbekannten Gott ist, sondern weil er dem Gott gewidmet ist, dem die Menschen unter vielen Namen und in vielen Formen dienen.“70 Literatur Aulén, Gustaf: Dag Hammarskjöld’s White Book: An Analysis of Markings, London 1970. Benning, Hermann J.: Dag Hammarskjöld. Leben und Profil, München 2011. Burkert, Walter: Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, München 1998. Eisfeld, Rainer: Joseph de Maistre und L.-G.-A. de Bonald, in: Pipers Handbuch der Politischen Ideen. Band 4: Neuzeit: Von der Französischen Revolution bis zum europäischen Nationalismus, hrsg. von I. Fetscher und H. Münkler, München 1986, S. 103–114. Erling, Bernhard/Hammarskjöld, Dag: A Reader’s Guide to Dag Hammarskjöld’s Waymarks, St. Peter, Minn. 2010. Girard, René: Das Heilige und die Gewalt, übersetzt von E. Mainberger-Ruh, Zürich 1987. – Der Sündenbock, übersetzt von E. Mainberger-Ruh, Zürich 1988. – Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, übersetzt von E. Mainberger-Ruh, München 2002. – Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort, übersetzt von E. Mainberger-Ruh, Freiburg 2009. – Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, übersetzt von E. Mainberger-Ruh (Beiträge zur mimetischen Theorie 8), Münster 2 2012. Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991. – Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt am Main 1998. – Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt am Main 2001. Hammarskjöld, Dag: Servant of Peace: A Selection of the Speeches and Statements of Dag Hammarskjöld, Secretary-General of the United Nations, 1953–1961, New York 1962. – Zeichen am Weg. Das spirituelle Tagebuch des UN-Generalsekretärs, Stuttgart 2011. Hobbes, Thomas: Leviathan. Erster und zweiter Teil, übersetzt von J. P. Mayer, Stuttgart 1980. 70 Zit. nach Specker, Leben als Opfer?, S. 161. Vgl. dazu die auf das Tao-TeKing des Lao-Tse verweisende Aufzeichnung „The Uncarved Block“. Hammarskjöld, Zeichen am Weg, S. 176.

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– Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, übersetzt von W. Euchner, Frankfurt am Main 1984. Huls, Jos: Hammarskjöld’s Interpretation of the Bible, in: HTS Teologiese Studies/ Theological Studies 66, Heft 1, 2010, S. 1–7. Kelsen, Hans: Vergeltung und Kausalität, Wien 1982. Maistre, Joseph de: Die Abende von St. Petersburg oder Gespräche über das zeitliche Walten der Vorsehung, Wien 2008. Münkler, Herfried/Fischer, Karsten: „Nothing to kill or die for . . .“ – Überlegungen zu einer politischen Theorie des Opfers, in: Leviathan 28, Heft 3, 2000, S. 343–362. Palaver, Wolfgang: Politik und Religion bei Thomas Hobbes. Eine Kritik aus der Sicht der Theorie René Girards (Innsbrucker theologische Studien 33), Innsbruck 1991. – René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen (Beiträge zur mimetischen Theorie 6), Münster 32008. – Opferkulte als „geheimnisvoller Mittelpunkt jeder Religion“. Aby Warburgs Religionstheorie aus der Sicht der mimetischen Theorie René Girards, in: Opfer in Leben und Tod. Sacrifice between Life and Death: Ergebnisse und Beiträge des Internationalen Symposiums der Hermann und Marianne Straniak Stiftung, Weingarten 2008, hrsg. von W. Schweidler (West-östliche Denkwege 16), Sankt Augustin 2009, S. 25–47. – Die Frage des Opfers im Spannungsfeld von West und Ost. René Girard, Simone Weil und Mahatma Gandhi über Gewalt und Gewaltfreiheit, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 132, Heft 4, 2010, S. 462–481. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, übersetzt von H. Vetter, Frankfurt am Main 1979. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, Berlin 1987. Sölle, Dorothee: „Du stilles Geschrei“. Wege der Mystik (Gesammelte Werke 6), Stuttgart 2007. Specker, Andreas: Leben als Opfer? Die geistliche Entwicklung Dag Hammarskjölds auf Grundlage seines Tagebuchfragmentes „Zeichen am Weg“, Augsburg 1999. Troy, Jodok: Dag Hammarskjöld: An International Civil Servant Uniting Mystics and Realistic Diplomatic Engagement, in: Diplomacy & Statecraft 21, Heft 3, 2010, S. 434–450. Wallensteen, Peter: Dag Hammarskjöld, übersetzt von G. Kosubek (Schwedische Persönlichkeiten), Stockholm 2005. Weil, Simone: Das Unglück und die Gottesliebe, München 21961. – Cahiers. Aufzeichnungen. Dritter Band, übersetzt von E. Edl und W. Matz, München 1996. – Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber, übersetzt von M. Schneider, Zürich 2011.

Autorenverzeichnis Univ.-Prof. Dr. Manuel Fröhlich, geb. 1972, ist Professor für Internationale Organisationen und Globalisierung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Vereinten Nationen und die Politische Philosophie der Internationalen Beziehungen. Er ist Autor des Buches „Dag Hammarskjöld und die Vereinten Nationen“ (2002; englisch „Political Ethics and the United Nations“ 2008). Weitere Informationen unter www.iog.uni-jena.de. Prof. i. R. Dr. Gerhard Hafner, geb. 1943, Universitätsprofessor für Völkerrecht (Ernennung 1990), Mitglied des „Institut de Droit International“, Mitglied der International Law Commission 1997–2001, Mitglied des Ständigen Schiedshofs, Rechtskonsulent des österreichischen Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten; ehemaliger Vorstand des Instituts für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung der Universität Wien; Professor an der Diplomatischen Akademie in Wien und im M.A.I.S. Programm; Professor an der Evropeska vysoka sˇkola prava in Bratislava, Mitglied des Governing Board des European Studies Institutes in Moskau. Fredrik Löjdquist, seit 2007 Gesandter der Schwedischen Botschaft in Wien. Seine Tätigkeit als Diplomat des schwedischen Außenministeriums nahm er 1994 auf, mit Posten u. a. in Vilnius und Moskau, sowie am Außenministerium in Stockholm mit Osteuropa und Sicherheitspolitik als hauptsächlichem Aufgabenbereich. Im Zuge des schwedischen EU-Ratsvorsitzes 2009 war er Sonderbeauftragter für Georgien mit der Stellung als Botschafter. Fredrik Löjdquist absolvierte seine Studien an der Universität Stockholm und Uppsala sowie an der London School of Economics. Dr. Jelka Mayr-Singer, seit 1985 Assistentin am Institut für Europarecht und Völkerrecht der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkt: Recht der Vereinten Nationen, Internationale Gerichtsbarkeit, Völkerstrafrecht. Dr. habil. Henning Melber ist geschäftsführender Direktor der Dag Hammarskjöld Stiftung in Uppsala/Schweden und Research Associate im Department of Political Sciences der Universität Pretoria. Von 1992 bis 2000 leitete er die Namibian Economic Policy Research Unit (NEPRU) in Windhoek, danach wechselte er als Forschungsdirektor an das Nordic Africa Institute in Uppsala (2000–2006). Er studierte Politische Wissenschaften und Soziologie an der FU Berlin (1972–1977), promovierte (1980) und habilitierte (1992) an der Universität Bremen. Dr. Andreas Th. Müller, LL.M. (Yale), Assistenzprofessor am Institut für Europarecht und Völkerrecht der Universität Innsbruck, 2008/09 Postgraduate-Studium an der Yale Law School, 2009/10 Fellowship am Internationalen Gerichtshof, Den Haag, als Mitarbeiter von Richter Abdul G. Koroma und Bruno Simma.

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Autorenverzeichnis

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Palaver, seit 2002 Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck; seit 2006 Leitung der Arbeitsgemeinschaft „Religion – Politik – Gewalt“ der Österreichischen Forschungsgemeinschaft; 1991/1992 Forschungsaufenthalt am Center for International Security and Arms Control der Stanford University. Univ.-Prof. Dr. Clemens Sedmak, geb. 1971, Inhaber des F.D. Maurice Lehrstuhls für Sozialethik am King’s College London, Präsident des Internationalen Forschungszentrums für soziale und ethische Fragen in Salzburg und Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg; Gastprofessuren in Nairobi, Manila, Notre Dame/Indiana, Mexico City und Jena. Botschafter Dr. Helmut Tichy, LL.M. (Cantab), geb. 1958, 1980–1983 Universitätsassistent am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien, seit 1983 im Bundesministeriums für auswärtige Angelegenheiten (nunmehr für europäische und internationale Angelegenheiten), Auslandsverwendungen in Belgrad (1984), Genf (1985–1988) und Brüssel (1993–2000), 1988–1990 stv. Leiter des Wiener Büros des Flüchtlingshochkommissärs der Vereinten Nationen (UNHCR), seit 2010 Leiter des Völkerrechtsbüros im Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten. Dr. Janos Tisovszky, seit Oktober 1990 bei den Vereinten Nationen tätig, u. a. in verschiedenen hochrangigen Positionen wie etwa als Stellvertretender Direktor des United Nations Regional Information Centre (UNRIC) in Brüssel (2009–2012), Geschäftsführender Direktor des UN Information Centre in Islamabad (2009), Sprecher des Präsidenten der 62. Tagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen (2007–2008) und seit März 2012 als Direktor des UN Information Service (UNIS) in Wien; seit ihrer Gründung 2005 Mitglied der United Nations Counter-Terrorism Implementation Task Force. Dr. Jodok Troy, geb. 1982, Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Affiliated Scholar, National Defense College Stockholm, Schweden. 2007 Forschungsaufenthalt an der Georgetown University, USA. Forschungsschwerpunkte: Religion, Ethik und internationale Politik, Militär und Gesellschaft.