Der vergessene Weltkrieg: Imperien 1912-1916 9783806238334

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German Pages 416 [418] Year 2018

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
I Die Fronten
Kapitel 1 Der Weg zum Krieg
Kapitel 2 Präludium – der Balkan 1912–1913
Kapitel 3 Ehe noch die Blätter fallen …
Kapitel 4 Ermattung
II Das Hinterland
Kapitel 1 Das Hinterland oder Im Rücken der Front
Kapitel 2 Informationshunger
Kapitel 3 Loyalitäten
III Die Besatzung
Kapitel 1 Im ersten Moment
Kapitel 2 Neue Ordnungen
Kapitel 3 Die zivilisatorische Mission
Anhang
Karten
Bibliografischer Kommentar
Verzeichnis der benutzten Literatur
Anmerkungen
Verzeichnis der Exkurse
Abbildungsnachweis
Personenregister
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Der vergessene Weltkrieg: Imperien 1912-1916
 9783806238334

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Włodzimierz Borodziej, Maciej Górny

Der vergessene Weltkrieg Europas Osten 1912–1923 Band I – Imperien 1912–1916 

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann



Die polnische Originalausgabe von Bd. 1 erschien unter dem Titel „Nasza Wojna. Imperia 1912–1916“ im Verlag Grupa Wydawnicza Foksal. © by Grupa Wydawnicza Foksal Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg © 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Dirk Michel, Mannheim Layout und Satz: Verlagsbüro Wais & Partner, Stuttgart Umschlagabbildung: Erster Balkankrieg: Makedonische Rebellen um 1912. Foto: © bpk/Musée Nicéphore Niépce, Ville de Chalon-sur-Saône/adoc-photos Umschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de isbn 978–3-8062–3820–4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3833-4 eBook (epub): 978-3-8062-3834-1



Inhalt Einleitung  ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...    7

I  DIE FRONTEN     

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Kapitel 1 Der Weg zum Krieg      ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . ..  18 Kapitel 2 Präludium – der Balkan 1912–1913  ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . ..  42 Kapitel 3 Ehe noch die Blätter fallen …           ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. .   70 Kapitel 4 Ermattung ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 154

II  DAS HINTERLAND

... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... .

 177

Kapitel 1 Das Hinterland oder Im Rücken der Front  ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . ..   178 Kapitel 2 Informationshunger... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . ..   219 Kapitel 3 Loyalitäten    ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. 240

III  DIE BESATZUNG 

... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . ..

265

Kapitel 1 Im ersten Moment ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. 266 Kapitel 2 Neue Ordnungen... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. 308 Kapitel 3 Die zivilisatorische Mission ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... .   336 ANHANG ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... .   371 Karten   ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . ..   3 72 Bibliografischer Kommentar... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... .   3 75 Verzeichnis der benutzten Literatur      ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . ..   385 Anmerkungen   ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... .  394 Verzeichnis der Exkurse ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... .   413 Abbildungsnachweis ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . ..   413 Personenregister... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . ..  414 5

Einleitung Wer kennt den Ort Przasnysz (dt. Praschnitz)? Wohl nur wenige. 1914 lag die masowische Provinzstadt am südlichen Rand Ostpreußens an einem der Hauptverkehrswege zwischen Warschau und dem ostpreußischen Kernland. Im November/Dezember 1914 sowie im Februar und Juli 1915 trafen hier in drei großen Schlachten Hunderttausende Russen und Deutsche aufeinander. In der Julischlacht gab es auf deutscher Seite 16 000, auf russischer Seite 40 000 Tote und Verwundete. Die Gesamtzahl der Toten, Verwundeten und Vermissten ist nicht bekannt, doch sie liegt sicher bei weit über 100 000. Warum also kennt kaum jemand Przasnysz? Auf diese Frage gibt es drei Antworten und jede von ihnen ist ein Grund für das Entstehen dieses Buches. Anders als es in Mittel- und Südosteuropa oder in Russland den Anschein haben mag, ist der Erste Weltkrieg nur östlich und südöstlich von Deutschland in Vergessenheit geraten. In Deutschland erinnern vielerorts Gedenktafeln an die Gefallenen und Vermissten des jeweiligen Dorfes oder Stadtteils und noch immer sind – wiewohl seltener – entsprechende Symbolwörter, Romantitel oder geografische Namen im Umlauf. Wie so oft in seiner Geschichte bildet Deutschland damit eine Übergangszone zwischen Ost und West, in diesem Fall zwischen dem Vergessen und dem Erinnern des Ersten Weltkriegs, der in Frankreich und Großbritannien als „Großer Krieg“ im kollektiven Gedächtnis bewahrt wird – bis h ­ eute ist der 11. November dort ein wichtiger Feier- und Gedenktag. Wer die Museen in Ypern oder Péronne besucht hat, weiß warum. Dort starben junge Belgier, Briten, Franzosen und Deutsche. Weit entfernt, bei Gallipoli, wurde das australisch-­ neuseeländische Armeekorps aufgerieben. Der Tag seiner Landung – der ­25. April (ANZAC-Day) – ist in beiden ehemaligen britischen Kolonien inoffizieller Nationalfeiertag. Es handelt sich um europäische, eigentlich globale Gedächtnisorte, die nicht durch den Zweiten Weltkrieg verdrängt wurden. Ganz anders – zurück 7

Einleitung

in die Übergangszone – verhält es sich mit dem kleinen Museum im slowenischen Kobarid (dt. Karfreit, it. Caporetto), das an eines der größten Gemetzel des Ersten Weltkriegs erinnert, die zwölf Schlachten am Isonzo, in denen 29 Monate lang fast ununterbrochen gekämpft wurde. Kaum jemand weiß davon, doch immerhin gibt es das Museum. 2013 wurde es von knapp 50 000 Menschen besucht (Tendenz fallend), das Museum in Ypern zählte im selben Jahr fast 300 000 Besucher (Tendenz steigend). Von den größten Schlachten der Ostfront und von den Frontlinien des Graben­ kriegs auf dem heutigen Gebiet Polens, der Ukraine, Weißrusslands, Litauens, Lettlands und der Russländischen Föderation zeugen meist nur die Soldatenfriedhöfe (sofern sie erhalten blieben). Hier zeigt sich ein grundlegender Unterschied: Für die Bewohner Ostmitteleuropas ist der Erste Weltkrieg Vorgeschichte ohne Bezug zur Gegenwart. Für Franzosen und Briten ist er Teil ihrer kollektiven Identität, sie begehen den 11. November, besuchen Museen und lesen einschlägige Bücher. Für einen Ostmitteleuropäer hingegen klingt es wie ein bizarres Missverständnis, wenn der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan den Ersten Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Diese Diskrepanz im kollektiven Gedächtnis spiegelt sich in der Geschichtsschreibung. Wir kommentieren unsere Lektüren am Ende des Bandes, doch schon jetzt ist festzuhalten: Man wusste zwischen 1914 und 1917 in Europa sehr wohl von der Ostfront. Auch in der Zwischenkriegszeit ging dieses Wissen nicht ganz verloren. In Österreich kannte man eine Festung mit dem unaussprechlichen Namen Przemyśl, in Deutschland kannte man den Namen Tannenberg und überall erinnerte man sich an Hunger und Lebensmittelkarten. Erst in der nachfolgenden Generation verschwand der Krieg im Osten aus dem Bewusstsein der Leser und der Historiker. Er wurde zur „unbekannten Front“ in einem entlegenen Teil des Kontinents, wo sich – außer den russischen Revolutionen – nichts Kriegsentscheidendes zugetragen hatte. In der westlichen Geschichtsschreibung spielte die russische Front – ganz zu schweigen von der serbischen, rumänischen oder griechischen – jahrzehntelang keine Rolle. Als in den 1990er Jahren eine Blütezeit der Forschung zum Ersten Weltkrieg anbrach, galt der Osten weiter als etwas Exotisches, Marginales und wurde weitestgehend ignoriert. In den letzten Jahren rückte er ins Interesse einer recht großen Gruppe hauptsächlich amerikanischer und deutscher Historiker, doch noch immer reicht die Dichte der Untersuchungen bei Weitem nicht an die Forschung zum Kriegsverlauf im Westen heran. In Polen, dem nach Russland zweitgrößten Land der Region, lassen sich – wir übertreiben kaum – die am Ersten Weltkrieg interessierten Forscher sowie die in 8

Einleitung

den letzten vierzig Jahren erschienenen Bücher zum Thema jeweils an den Fingern zweier Hände abzählen. Eine signifikante Ausnahme bilden Tagebücher und Erinnerungen, die meist zwischen 1914 und 1939 entstanden, oft in der Zwischenkriegszeit erschienen und dann bis 2014 aus diversen Gründen nicht salonfähig waren. Die Zensur als Instrument der sozialistischen Geschichtspolitik führt uns zu einem weiteren für das Entstehen dieses Buches relevanten Aspekt. Schon in der Zwischenkriegszeit tendierten die Deutungen der jüngsten Vergangenheit in e­ ine ahistorische Richtung. Zwar wurden die Ereignisse bis Herbst 1918 unter anderem von Militärhistorikern beschrieben, doch folgten die Autoren meist der vermeintlichen Logik der Geschichte (und auch dem Glauben an die Unfehlbarkeit ihrer Akteure), die von Beginn an auf den finalen Triumph Rumäniens, auf die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen sowie auf die Erfüllung der nationalstaatlichen Hoffnungen der Finnen, Esten, Letten, Litauer, Polen, Tschechen und Slowaken hinausgelaufen sei. Schon vor 1939 galt also der Erste Weltkrieg in Mitteleuropa als eine Art überlanger Prolog zum ersten Akt der nationalstaatlichen Geschichte. Die Kinder lernten in der Schule die Namen der Unabhängigkeitshelden, obwohl ihnen außerhalb des Klassenzimmers meist nur Veteranen der imperialen Armeen begegneten. Die tschechoslowakischen und polnischen Legionäre hatten als kleine elitäre Gruppe unverhältnismäßig großen Einfluss nicht nur auf die Politik, sondern auch auf die Darstellung der jüngsten Vergangenheit. Mitte der 1930er Jahre waren 80 Prozent der polnischen Kriegsinvaliden ehemalige russische, österreichisch-ungarische und deutsche Soldaten, nur 20 Prozent waren frühere Legionäre oder Teilnehmer des polnisch-­ sowjetischen Krieges. Hinsichtlich der Präsenz beider Gruppen im öffentlichen Raum waren die Proportionen wohl eher umgekehrt.1 Nachdem 1945 die UdSSR – unmittelbar oder mittelbar – die Herrschaft über Ostmitteleuropa und einen großen Teil Südosteuropas übernommen hatte, wurden der Erste Weltkrieg und das Jahr 1918 dem Vergessen anheimgegeben. Dies war eine Aufgabe der institutionalisierten Zensur, die an die Stelle der Selbstzensur der Zwischenkriegszeit getreten war. Der Krieg galt als Episode vor der Ok­ toberrevolution, das Jahr 1918 als Betriebsunfall der Geschichte, weil ja in Bukarest, Riga, Warschau oder – vor allem – Prag schon damals die Kommunisten die Macht hätten übernehmen müssen. Dass es nicht so kam, erklärte man mit dem verderblichen Einfluss nationalistischer Eliten, die das Streben nach Unabhängigkeit geweckt und genutzt hätten, um das Proletariat und dessen Forderungen an den Rand zu drängen. In dieser Sichtweise verengte sich das Bild des Ersten 9

Einleitung

Weltkriegs auf die Geschichte des Verrats der nichtkommunistischen politischen Formationen – reformistischen und klerikalen, faschistischen und nationalistischen, bourgeoisen und bäuerlichen – an der Arbeiterklasse, der den Aufbau des Sozialismus westlich der Sowjetunion auf fatale Weise behindert habe. 1989 gewann das Jahr 1918 die Bedeutung zurück, die es vor dem Zweiten Weltkrieg hatte, doch der Prozess des Wiedererinnerns umfasste – noch offensichtlicher als in der Zwischenkriegszeit – nicht den ganzen Krieg. Im Gegenteil: Je stärker die postkommunistischen Demokratien ihre Identität auf die Tradition der Vorkriegseigenstaatlichkeit gründeten, desto nebensächlicher wurde alles, was nicht zu der Erzählung des heldenhaften Volkes passte, das vier Jahre lang konsequent auf die Wiedererrichtung oder Schaffung eines eigenen Nationalstaats hingearbeitet habe. Doch das Vergessen des Ersten Weltkriegs ist nicht nur durch politische Manipulationen zu erklären. Es wäre kaum denkbar ohne einen weiteren Albtraum: den Zweiten Weltkrieg, der für die meisten Länder der Region ein noch tieferes Trauma darstellte. Angesichts des zwischen 1941 und 1945 im besetzten Jugoslawien vergossenen Bluts verblasste die Ermordung serbischer Bauern in den Jahren 1914 und 1915; der Holocaust verdrängte die Erinnerung an die Pogrome des Ersten Weltkriegs. Den Griechen müssen schon nach dem ersten Besatzungswinter (1941/42) die Erlebnisse der Jahre 1914–18 als ferne Vergangenheit erschienen sein. Es gibt viele Orte wie Przasnysz. Weil niemand sie kennt, kann aus ihnen kein kollektives regionales Gedächtnis erwachsen. Przemyśl und Tannenberg sind heutigen österreichischen oder deutschen Abiturienten kein Begriff mehr, Franzosen und Russen waren sie es nie. Polnische Abiturienten dagegen wissen nicht, dass die wichtigsten Schlachten der Ostfront in den Jahren 1914/15 fast ausschließlich auf dem Gebiet des heutigen Polen stattfanden. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee zu einem Buch, das die Erinnerung an den Albtraum wachruft, den der Erste Weltkrieg von Riga bis Skopje d ­ arstellte. Russen, Deutsche, Finnen, Esten, Letten, Litauer, Juden, Polen, Belarussen und Ukrainer kämpften in Uniformen der zaristischen Armee, Deutsche und Polen in preußischen Uniformen. In den österreichisch-ungarischen Divisionen ­kämpften Slowenen, Kroaten, Bosnier, Serben, Österreicher, Deutschböhmen, Tschechen, Mähren, Schlesier, Polen, Juden, Ukrainer, Slowaken, Ungarn und Rumänen. Es war unser Krieg. Entgegen den Legenden waren die Kämpfe an der Ostfront nicht weniger blutig als im Westen. Hier wurden die meisten Gefangenen gemacht und die Sterb10

Einleitung

lichkeitsrate in den Lagern war die höchste. Die Soldaten der Imperien und Nationalstaaten, die sich hier gegenseitig töteten, unterschieden sich teils nur durch die Uniform, nicht durch Sprache, Religion oder Ethnie. Wir schildern auch Fälle von Heldentum und Tapferkeit, doch vor allem beschreiben wir Situationen und Ereignisse, die in der patriotischen Sichtweise ausgeblendet werden – die Soldaten starben sinnlos, sie glaubten nicht, ihr Leben für eine gerechte Sache zu opfern. Sie zogen in den Kampf, weil Oberleutnant oder Korporal es befahlen (diese hatten übrigens, statistisch gesehen, schlechtere Überlebenschancen als ihre Untergebenen). Unsere Darstellung des Schicksals dieser Männer ist durch Diskussionen inspiriert, die vor zwanzig Jahren insbesondere die französische Geschichtsschreibung prägten. Damals fragten Historiker und Psychologen, wie die Soldaten die Hölle ertragen konnten, in der sie sich ab Herbst 1914 befanden, wie sie den für heutige Europäer unvorstellbaren Stress bewältigten. Die Standardantwort unterstrich die Bedeutung des Nationalstaates und der nationalen Identität: Der Gemeinschaftsgedanke habe das Durchhalten in den Schützengräben ermöglicht. Das erklärte zugleich den Zerfall Russlands, wo die nationale Identität nur punktuell und oberflächlich verwurzelt war, und mehr noch das Auseinanderbrechen Österreich-Ungarns, wo letztlich die Loyalität zur eigenen ethnischen Gruppe das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem transnationalen Imperium übertrumpfte. Dem widersprachen die Revisionisten aus dem Umkreis des Weltkriegsmuseums in Péronne: Auch die französischen Soldaten, die im Dienst eines modernen Nationalstaates standen, hätten sofort die Waffen niedergelegt, wären sie nicht zum Kämpfen gezwungen worden. Dieser Streit dauert bis heute an. Gegenwärtig dominiert die Auffassung, die Wahrheit liege – bisweilen – in der Mitte. Am ehesten trifft wohl der Begriff endurance, auf Deutsch so viel wie ‚Ertragen, Erdulden‘ oder ‚Aushalten‘, die Wirklichkeit der Schützengräben. An allen Fronten gab es begeisterte Soldaten, andere wurden von Vorgesetzten, Gendarmerie und Feldgerichten terrorisiert. Die meisten aber fanden sich einfach mit der neuen Lebenssituation ab, weil sie keine Wahl hatten. Sie taten mehr oder weniger gewissenhaft ihre Pflicht – ohne Begeisterung, aber auch ohne unmittelbaren Zwang.2 Anders als nach 1918 viele Historiker behaupteten, starben, streikten, erkrank­ ten und hungerten auch die Zivilisten nicht für die jeweilige nationale Sache, sondern sie taten es, weil Nahrung, Brennstoffe, Hygienemittel und Medikamente fehlten. Dies war meist keine Folge einer blutsaugerischen Besatzungspolitik, Mangel und Gefahr verteilten sich verblüffend gleichmäßig auf die Bevölkerung 11

Einleitung

der eroberten Gebiete und die Bürger im Hinterland der Front. Auch diese Tatsache geriet in Vergessenheit, als nach Kriegsende die nationalen Geschichtsschreibungen das besondere Ausmaß der eigenen Verluste infolge der zerstörerischen, räuberischen und rücksichtslosen Politik der Besatzer herauszustellen versuchten. Wir operieren vorsichtig mit Zahlen. Die Statistiken sind oft widersprüchlich. Viele in der Literatur anzutreffende Daten sind eindeutig falsch, werden aber immer wieder zitiert, weil den Autoren der Wille oder –seltener – die Möglichkeit zur Überprüfung fehlt. In manchen Fällen sind wir auf Schätzungen angewiesen, weil verlässliche zeitgenössische Angaben fehlen. Andere Zahlen dienten von vornherein nicht der Information, sondern der Propaganda. Wir arbeiten mit den glaubwürdigsten – und wo möglich verifizierten – Daten, die wir in ihrem jeweiligen Kontext präsentieren, ohne den sie oft nicht verständlich wären. Seit einiger Zeit ist es Usus geworden, den Ersten Weltkrieg als totalen Krieg zu bezeichnen. Man hat zuweilen den paradoxen Eindruck, als sollten die Jahre 1914–18 durch den Nachweis ihres „totalen“ Charakters in den Rang einer e­ benso großen Katastrophe wie die Zeit von 1939–45 erhoben werden. Wir halten es nicht für nötig, unseren Untersuchungsgegenstand aufzuwerten. Deshalb beziehen wir uns nicht unmittelbar auf den Begriff des Totalen. Genauso wenig möchten wir aber dem Leser eine allgemein gefasste Definition vorenthalten: Der ­totale Krieg übertrifft in Intensität und geografischer Reichweite alle vorangegangenen Kriege. Die Beteiligten fühlen sich nicht an Moral, Gewohnheits- oder Völkerrecht gebunden; sie folgen ihrem Hass, der ihnen zur Legitimation von Zwangsherrschaft und Verbrechen bis dahin unvorstellbaren Ausmaßes dient. Die Grenze zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung verschwimmt. Die Arbeitskraft der Zivilisten wird rücksichtslos ausgebeutet, sie liefern und produzieren kriegswichtige Rohstoffe und Waren. Nicht nur in dieser Hinsicht gleicht ihr Schicksal dem der Rekruten, die ebenfalls bis aufs Letzte ausgepresst ­werden: Auch die Zivilbevölkerung wird Kriegsgefahren ausgesetzt, wann immer das Militär es für notwendig hält. Ihr drohen Bomben und Artilleriebeschuss, Repressionen bis hin zur Todesstrafe, Hunger und Epidemien. Es kommt zu einer weitgehenden Angleichung des Risikos – anders gesagt: der Überlebenschancen – von Soldaten und Zivilisten. Zudem soll im totalen Krieg der Gegner nicht besiegt, sondern vernichtet werden. Der Leser mag selbst beurteilen, ob dies auf unsere Geschichte der Ostfronten und ihres Hinterlandes in Ost und West zutrifft. Vorab eine Klarstellung: Dieses Buch ist kein klassisches militärhistorisches Werk. Wir suchen einen Mittelweg zwischen – nicht unbedingt traditionell ver12

Einleitung

standener – Militär- und Sozialgeschichte und wollen gleichzeitig die Entwicklung von – in einem weiten Sinne – Kultur und Wissenschaft während der Kriegsjahre nachvollziehen. Die Geschichte der ersten Kriegsjahre erzählen wir weitgehend chronologisch, doch mehr als die Abfolge der Ereignisse interessieren uns Prozesse und Einstellungen. Von ihnen handeln die ersten beiden Kapitel, die von der Geschehenschronologie abweichen. Im Krieg töten und leiden Menschen und jedes Erlebnis verändert sowohl sie selbst als auch ihre Weltsicht. Uns interessiert, wie unsere Urgroßväter und Urgroßmütter den Krieg erlebten und wie der Krieg oder Ereignisse jenseits der Kampfzonen sie prägten. Manchmal hatten wir den Eindruck, über völlig neue – oder besser: vergessene – Dinge zu schreiben. Wo immer es möglich ist, zitieren wir Zeitzeugen und handelnde Personen; diese Stimmen stehen jeweils exemplarisch für die Erfahrung einer Generation, sozialen Gruppe, kulturellen oder nationalen Gemeinschaft. Wir wollen zeigen, dass man den Krieg jahrelang als sinnlos empfand, als Albtraum oder gar Apokalypse. Aus dieser Perspektive spielt es keine Rolle, dass 1918 eine unvorhergesehene Pointe den Leiden und Entsagungen einen Sinn verlieh. Nicht zuletzt diese Pointe führte ja auch zur Verfälschung der Erinnerung an den Krieg, gegen die sich unser Buch richtet. Auch die Schwerpunkte und der Zeitrahmen unserer Erzählung weichen von traditionellen Darstellungen ab. Wir befassen uns nicht mit der Geschichte der internationalen Beziehungen. Warum nicht? Nehmen wir das spektakulärste Beispiel. Es gibt Hunderte Arbeiten über die Julikrise 1914. Die meisten davon führen den Leser in die Irre, indem sie ihm einreden, der Krieg sei unvermeidlich gewesen. Die Marxisten sahen die Ursache in Konflikten, die – angefacht von der Habgier, Selbstsucht und Furcht (vor der Arbeiterbewegung) der imperialen Wirtschafts- und Finanzeliten – den Imperialismus zerrissen. In einer anderen, lange maßgeblichen Deutung war das deutsche Streben nach globaler Hegemonie (dem „Platz an der Sonne“) der entscheidende Faktor. Manche Historiker suchten die Gründe – und damit die Schuld – im ewigen russischen Traum von der Eroberung Konstantinopels oder im Wiener Streben nach der Herrschaft über den Westbalkan. Andere vertraten die Auffassung, Serbien habe den Kriegsausbruch bewusst provoziert. Jede dieser Alleinschuldtheorien lässt sich mit Dutzenden, manchmal auch Tausenden Quellen belegen, darunter solche vom Juli 1914, auf die sich die historischen Darstellungen dieser Wochen stützten. Keine von ihnen hält eingehender Kritik stand. Keine von ihnen versucht auch nur, den Zusammenhang zwischen Vorgeschichte und Verlauf des Krieges zu erklären. Denn ein solcher Zusammenhang existiert nicht und aus diesem Grunde 13

Einleitung

sind die Julikrise und andere diplomatische Ereignisse für unsere Darstellung des Ersten Weltkriegs wenig relevant. Den Zeitrahmen der zwei Bände bilden die Jahre 1912–23, also die Zeit von den Balkankriegen bis zum Vertrag von Lausanne. Das Hauptaugenmerk liegt auf den Jahren 1914–18, doch der Konflikt zwischen Osmanischem Reich, Serbien, Montenegro, Griechenland, Bulgarien und Rumänien ist aus unserer Sicht als Prolog von größerer Bedeutung als das diplomatische Spiel des Jahres 1914. Und natürlich endete der Krieg in Ostmitteleuropa weder mit dem Waffenstillstand vom November 1918 noch mit dem Versailler Vertrag oder den anderen „Vorortverträgen“ der Jahre 1919–20. Unter anderem deshalb ist er in den nationalen Gedächtnissen nicht mehr präsent, weil nach 1918 für Russen, Balten, Ungarn, Ukrainer, Polen, Griechen und Türken Dinge geschahen, die für die Zwischenkriegszeit wesentlich prägender waren als Gorlice-Tarnów oder Gallipoli. Die Einteilung der Bände in die Zeit bis zum Ende des Rumänien-Feldzugs und die Jahre danach ist – wie ihre Betitelung – natürlich bis zu einem gewissen Grad willkürlich, aber keineswegs ganz unbegründet: Bis Ende 1916 erlebten die Imperien schwere Erschütterungen, bleiben aber die bestimmenden Akteure. Die Mittelmächte waren – zumindest im Osten – sogar dem Sieg nahe. 1917 zerfiel das erste östliche Imperium, neue Akteure treten auf die Bildfläche. Einer der Verfasser hält Jaroslav Hašeks Abenteuer des guten Soldaten Švejk für das beste literarische Werk zum Ersten Weltkrieg im Osten, der andere Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit. Diese Vorlieben sind für die Konzeption des vorliegenden Bandes nicht ganz ohne Belang. Švejk und Die letzten Tage entstammen verschiedenen Nationalkulturen, gehören aber beide zum Erbe der Donaumonarchie. Wir bemühen uns, die Imperien im nördlichen Teil Ostmitteleuropas möglichst gleich zu behandeln (hinsichtlich der Hohen Pforte haben wir weder diesen Anspruch noch die Möglichkeiten), doch im Mittelpunkt unseres Interesses steht die Donaumonarchie. Dort kristallisiert sich über Jahrzehnte das Problem eines Vielvölkerstaats, der den Primat der transnationalen imperialen Idee über die wachsenden nationalen Ambitionen seiner Völker wahren will. Hašek und Kraus sind sich dieser Spannung bewusst, wenngleich ihre Werke nicht aus diesem, sondern aus einem entgegengesetzten Grund ins europäische Kulturerbe eingingen. Bei beiden Autoren tragen die Bestialitäten des Ersten Weltkriegs zwar oft ein ethnisches Gesicht, doch geht es ihnen nicht um die Darstellung von nationalen Charakteren. Beide Bücher handeln vom Albtraum unseres Krieges, des vergessenen Weltkriegs im Osten, und die gegensätzlichen Per­ 14

Einleitung

spektiven – die deutsch-österreichische und die tschechische, die Sicht der Hauptstadt des Imperiums und die einer Provinzhauptstadt und der Front – offenbaren die ganze Bandbreite seiner vergessenen Brutalität. Eine terminologische Anmerkung: Wenn wir von „Russen“ schreiben, ist uns natürlich bewusst, dass eine Minderheit der Soldaten in den Uniformen der zaristischen Armee anderen Nationalitäten angehörte. Aus Ermangelung besserer Begriffe und im Bewusstsein der Unzulänglichkeit dieser Lösung verwenden wir „russisch“ und „Russen“ synonym zu „zaristisch“. Mit „Monarchie“ ist durchgängig das österreichisch-ungarische Kaiser- und Königtum gemeint.

*** Die Idee zu diesem Buch entstand im Frühjahr 2012 in Jena, genauer gesagt im Garten des Gästehauses der Friedrich-Schiller-Universität in der Charlotten­ straße 23 in Wenigenjena. Damals saßen dort drei Stipendiaten des Imre-­KertészKollegs beisammen – die Verfasser dieses Buches und ihr jüngerer serbischer ­Kollege Aleksandar Miletić. Aleksandar, ein ausgezeichneter Kenner der Zwischenkriegszeit, konnte nicht glauben, dass sein Land im Ersten Weltkrieg derart große Verluste erlitten hatte. Maciej Górny hatte gerade die erste Fassung seiner Habilitation über die damaligen Haltungen von Intellektuellen im nichtwestlichen Europa fertiggestellt. Włodzimierz Borodziej arbeitete an einem Artikel über die Erfahrung des Ersten Weltkriegs in Mittel- und Südosteuropa. Beim abendlichen Gespräch mit dem serbischen Kollegen wurde uns klar, dass dieses Thema nicht nur in Polen auf einen Autor wartete. Und da wir gerade das Privileg eines Kollegstipendiums genossen, machten wir uns gleich an die Arbeit. Die ersten Abschnitte des Buches entstanden somit in Jena, die weiteren in Warschau. Wir profitierten beide von Gesprächen mit anderen Stipendiaten und Mitarbeitern des Imre-Kertész-Kollegs. Besonderer Dank gebührt Viorel Achim, Jochen Böhler, Stanislav Holubec, Jurek Kochanowski, Ferenc Laczó, Elena Mannová, Lutz Niethammer, Joachim von Puttkamer, Stefan Troebst, Raphael Utz und Theodore Weeks. Während unseres Aufenthalts in Jena kümmerten sich Daniela Gruber und Diana Joseph um alle organisatorischen und technischen Belange. Die jüngsten Kollegmitarbeiter leisteten unschätzbare Dienste bei der Beschaffung von Büchern und Kopien. Überaus hilfreich waren auch die Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen, denen wir dank des Wirkens zweier verdienstvoller Forschungsgesellschaf15

Einleitung

ten zum Ersten Weltkrieg begegnen konnten. Die International Society for First World War Studies und das Forum Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg widmen sich ihrem Thema auch abseits runder Jahrestage. Einen Teil des Materials, insbesondere der Illustrationen, verdanken wir der uneigennützigen Hilfe von Grzegorz Bąbiak und Mariusz Kulik, die den Ertrag ihrer Reisen nach Paris und Moskau mit uns teilten. Die ersten Leser von Manuskriptauszügen waren Joachim von Puttkamer, Timothy Snyder und Philipp Ther. Für die Begutachtung danken wir Piotr Szlanta und Theodor Weeks. Die deutsche Fassung des Buches verdankt ihr Dasein und Ihre Gestalt vor allem zwei Menschen, die nicht unerwähnt bleiben dürfen: Daniel Zimmermann, der uns unendlich viel Vertrauen und Geduld geschenkt hat, und Bernhard Hartmann, der uns so gut versteht. Allen diesen danken wir für Kommentare und Anmerkungen. Für die Schwächen des Buches tragen allein wir die Verantwortung.

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I  DIE FRONTEN

Kapitel 1 Der Weg zum Krieg Die europäischen Imperien hatten das 19. Jahrhundert unterschiedlich gut überstanden, die meisten mehr schlecht als recht. Nur das einzige in dieser Zeit neu entstandene Imperium in Ostmitteleuropa – das Deutsche Reich – konnte die Jahrzehnte vor 1914 als Erfolg betrachten. Die Landkarte Mittel- und Südosteuropas zeigt für das Jahr 1815 vier Großmächte: Preußen, Russland, Österreich und das Osmanische Reich. Wie sich bei Kriegsausbruch fast hundert Jahre später zeigt, waren die damaligen Grenzen verblüffend stabil. Deutschland grenzt auf polnischem Territorium an Russland. Österreich ist zu Österreich-Ungarn geworden, doch seine Nordgrenze hat sich nur minimal verändert, lediglich im Süden hat es sich mit der Annexion von Bosnien-Herzegowina im Jahr 1908 deutlich ausgedehnt. Die größten Veränderungen sind auf dem Balkan zu beobachten: Das Osmanische Reich hat sein europäisches Vorgelände verloren. Die Karte von 1914 zeigt mit Serbien, Montenegro, Griechenland, Bulgarien und dem ein Jahr zuvor entstandenen Albanien insgesamt sechs Nationalstaaten modernen Typs. Entlang ihrer Grenzen leben ethnische und religiöse Minderheiten, es gibt umstrittene Territorien und gegen­seitige Ressentiments. Im Westen gelten die Balkanstaaten als rückständig, ihre Zivilisationsindikatoren – Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit, Alphabetisierung, Industrialisierung und Urbanisierung – liegen weit hinter den entsprechenden Werten etwa der Niederlande oder Dänemarks. Von den Imperien hat nur eines mit vergleichbaren Schwierigkeiten zu kämpfen: Russland. Seit Langem ist es der größte Staat der Welt, es reicht von Lodz, dem „Manchester des Ostens“, bis zum Pazifik. Seit Langem gehört es auch dem exklusiven Club der Großmächte an. Gleichzeitig ringt es mit für die Mitglieder dieses Clubs ungewöhnlichen Problemen: Es gibt keine Schulpflicht, die Frage des Grundeigentums ist ungelöst, die Industrialisierung beschränkt sich auf Inseln im Zentrum, im Süden und im Westen des Landes. Auf dem Papier ist Russ18

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land eine Militärmacht, doch es unterliegt im Kampf mit einem Expeditionskorps der westlichen Großmächte auf eigenem Territorium (Krimkrieg 1854/56). In den Jahren 1904–05 wird es als erste europäische („weiße“) Großmacht von asiatischen („gelben“, das heißt japanischen) Truppen nicht nur besiegt, sondern gedemütigt. 1905 und 1906 erlebt das Land eine Revolution, die das Gebäude der Alleinherrschaft, das heißt der durch keine Verfassung eingeschränkten Macht des Zaren, in den Grundfesten erschüttert. Man weiß, das Problem beginnt an der Spitze – das Staatsoberhaupt ist alles andere als unfehlbar, muss sich aber vor niemandem verantworten –, doch der Krebs der Gleichgültigkeit, Korruption, Inkompetenz und Dummheit metastasiert in der gesamten Staatsverwaltung; erst nach dem verlorenen Krieg gegen Japan und der Niederschlagung der Revolution beginnt eine neue Phase intensiver innerer Reformen. Die gute Wirtschaftskonjunktur täuscht kaum jemanden darüber hinweg, dass der Staat ohnmächtig bleibt, das Parlament bloße Fassade ist und die sozialen ­Spannungen infolge der durch die Industrialisierung bewirkten Transformation eines Teils der ländlichen Gesellschaft in eine städtische zunehmen. Ebenso wächst das Nationalitätenproblem. Nur in einem vergleichsweise kleinen Teil Westrusslands eskalieren die Konflikte zwischen den bis dahin privilegierten Deutsch-Balten, den benachbarten Letten und Esten sowie Litauern, Juden und Ukrainern – nicht nur auf dem Balkan wird die nationale Idee an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zur Inspiration für Priester, Pastoren, Popen, Lehrer oder Referendare, die bis dahin als gefügiges Skelett des Imperiums galten; ganz zu schweigen vom polnischen Problem, das Russland sich mit der Ausdehnung bis an die Weichsel im Zuge der Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts eingehandelt hatte. Ganz anders gestaltet sich die Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Das Reich ist – im Gegensatz zu Russland –Imperium und Nationalstaat zugleich. 90 Prozent der Bevölkerung sind Deutsche. Zwischen Ostpreußen und Badenern gibt es große Unterschiede, doch Königsberger und Freiburger sprechen eine Sprache, lesen dieselben Bücher und teilen ähnliche Werte. Sie sind Angehörige einer Nation, die für viele der Inbegriff der Modernität ist. Die deutschen Universitäten gelten als die besten Europas, ebenso die innovativsten Zweige der Industrie, etwa der chemischen, oder die ausgezeichnete Staats- und Kommunalverwaltung. Die Armee, schon immer als preußische Spezialität angesehen, hat ihre letzten Kriege durchweg gewonnen. Schlechter steht es um die Kolonien: Sie erwirtschaften Verluste, vor allem aber sind sie drittrangig, sie verschaffen ihrem Besitzer weder echtes Prestige noch Befriedigung. Die imperialen Ambitionen konzentrieren sich angesichts dessen eher auf den Südosten Eu19

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ropas als auf die Überseegebiete. Wichtigstes Projekt ist die Schaffung einer Eisenbahnverbindung nach Bagdad, die Deutschland die wirtschaftliche Expansion auf den Balkan und ins Osmanische Reich bis in den Nahen und Mittleren Osten ermöglichen würde. In zweierlei Hinsicht ähneln sich Deutschland und Russland. In beiden Staaten erstarkt am Übergang zum 20. Jahrhundert der Nationalismus. Im Deutschen Reich manifestiert er sich in Armee, rechten Parteien, Gewerkschaften, Zeitungen und – vor allem – in der Person Wilhelms II. Der von ihm 1890 abberufene langjährige Reichskanzler Otto von Bismarck war in Europa als überaus geschickter und erfolgreicher Politiker gefürchtet. Seinen Nachfolgern fehlt dieses Charisma. Zudem befasst sich der Kaiser zunehmend selbst mit der Außenpolitik. Fast überall sorgt er als neurotischer Dilettant für Irritationen. Immer wieder provoziert er, beleidigt seine Umgebung und verursacht Krisen. In die Geschichte des modernen Europa geht er als unfähigster Monarch mit realer Wirkmacht ein. Der ab 1894 in Russland regierende Zar Nikolaus II. ist charakterlich das genaue Gegenteil seines Berliner Cousins: Seine Unfähigkeit resultiert aus Schwäche, der russische Nationalismus erblüht ohne größeres Zutun des Herrschers. Zweitens faszinieren Russland und Deutschland durch ihre Hochkultur, vor allem durch Literatur und Musik, Deutschland zudem durch die bereits erwähnten Universitäten. Als vorbildlich gilt auch die bestens organisierte Vertretung der deutschen Arbeiterklasse: die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die bei den Wahlen 1912 mit fast 35 Prozent der Stimmen die größte Reichstagsfraktion stellt, das dichte Netz von Gewerkschaften, Bildungs- und Selbsthilfevereinen und die in Europa (das hieß damals: in der Welt) führenden linken Denker. Aber auch das Deutsche Reich – Russland ohnehin – besitzt längst nicht die soft power Großbritanniens oder Frankreichs, der deutsche Lebensstil ist kein nachahmenswertes Modell für andere Völker. Auch im Ersten Weltkrieg erkennen sich kultivierte Menschen – etwa der Bürgermeister einer besetzten Stadt und ihr neuer Kommandant – an ihren Französischkenntnissen. Zusätzlich abstoßend wirken der sprichwörtliche deutsche Hochmut und die ebenso sprichwörtliche russische Rückständigkeit. Was die Nationalisten in beiden Ländern nur in ihrer Auffassung bestärkt, ihre Staaten würden von der Öffentlichkeit anderer Länder nicht gebührend geachtet. Am kompliziertesten ist die Lage in Österreich-Ungarn. Die Donaumonarchie wird 1867 zum Doppelstaat mit einem gemeinsamen Herrscher (in Ungarn regiert Franz Joseph als König, im restlichen Teil als Kaiser), gemeinsamer Au20

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ßenpolitik und Armee sowie (partiell) einem gemeinsamen Haushalt. Von den 48 Millionen Einwohnern der Doppelmonarchie stellen Deutsch-Österreicher und Ungarn gemeinsam weniger als die Hälfte (44 Prozent, die verschiedenen slawischen Nationen kommen insgesamt auf 47 Prozent). Die übrigen Nationen genießen theoretisch ein konstitutionell verbrieftes Recht auf Selbstbestimmung sowie auf ein eigenes Schul- und Kulturwesen; die Wirklichkeit sieht anders aus, im ungarischen Transleithanien schlechter als im österreichischen Cisleithanien. In den Parlamenten in Wien und Budapest verschlechtert sich die Stimmung: Konflikte eskalieren, Sitzungen werden vertagt, die Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament erweist sich als Fiktion. Die Linke fordert das allgemeine Wahlrecht, das in Cisleithanien 1907 für Männer eingeführt wird. Die Ungarn bleiben beim tradierten Wahlsystem, das die Staatsnation und die besitzenden Klassen – was mehr oder weniger auf dasselbe hinausläuft – begünstigt. Die deutschen Österreicher in Böhmen und Mähren fühlen sich mit der wachsenden tschechischen Nationalbewegung alleingelassen und blicken immer öfter auf das dynamische Deutsche Reich als potenziellen, im Grunde erträumten Beschützer.

Kakanien Dort, in Kakanien, diesem seither untergegangenen, unverstandenen Staat, der in so vielem ohne Anerkennung vorbildlich gewesen ist, gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo. So oft man in der Fremde an dieses Land dachte, schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohlhabenden Straßen aus der Zeit der Fußmärsche und Extraposten, die es nach allen Richtungen wie Flüsse der Ordnung, wie Bänder aus heilem Soldatenzwillich durchzogen und die Länder mit dem papierweißen Arm der Verwaltung umschlangen. Und was für Länder! Gletscher und Meer, Karst und böhmische Kornfelder gab es dort, Nächte an der Adria, zirpend von Grillenunruhe, und slowakische Dörfer, wo der Rauch aus den Kaminen wie aus aufgestülpten Nasenlöchern stieg und das Dorf zwischen zwei kleinen Hügeln kauerte, als hätte die Erde ein wenig die Lippen geöffnet, um ihr Kind dazwischen zu wärmen. Natürlich rollten auf diesen Straßen auch Automobile; aber nicht zuviel Automobile! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft. Man hatte keinen Weltwirtschafts- und Weltmachtehrgeiz; man saß im Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie und Übersee hörte man an wie etwas noch gänzlich 21

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Unerprobtes und Fernes. Man entfaltete Luxus; aber beileibe nicht so überfeinert wie die Franzosen. Man trieb Sport; aber nicht so närrisch wie die Angelsachsen. Man gab Unsummen für das Heer aus; aber doch nur gerade so viel, daß man sicher die zweitschwächste der Großmächte blieb. Auch die Hauptstadt war um einiges kleiner als alle andern größten Städte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte sind. Und verwaltet wurde dieses Land in einer aufgeklärten, wenig fühlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden Weise von der besten Bürokratie Europas, der man nur einen Fehler nachsagen konnte: sie empfand Genie und geniale Unternehmungssucht an Privatpersonen, die nicht durch hohe Geburt oder einen Staatsauftrag dazu privilegiert waren, als vorlautes Benehmen und Anmaßung. Aber wer ließe sich gerne von Unbefugten dreinreden! Und in Kakanien wurde überdies immer nur ein Genie für einen Lümmel gehalten, aber niemals, wie es anderswo vorkam, schon der Lümmel für ein Genie. Überhaupt, wie vieles Merkwürdige ließe sich über dieses versunkene Kakanien sagen! Es war zum Beispiel kaiserlich-königlich und war kaiserlich und königlich; eines der beiden Zeichen k. k. oder k. u. k. trug dort jede Sache und Person, aber es bedurfte trotzdem einer Geheimwissenschaft, um immer sicher unterscheiden zu können, welche Einrichtungen und Menschen k. k. und welche k. u. k. zu rufen waren. Es nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, daß Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger. Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagrafen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse. Solcher Geschehnisse gab es viele in diesem Staat, und zu ihnen gehörten auch jene nationalen Kämpfe, die mit Recht die Neugierde Europas auf sich zogen und heute ganz falsch dargestellt werden. Sie waren so heftig, daß ihretwegen die Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte und stillstand, aber in den Zwischenzeiten und Staatspausen kam man ausgezeichnet miteinander aus und 22

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tat, als ob nichts gewesen wäre. Und es war auch nichts Wirkliches gewesen. Es hatte sich bloß die Abneigung jedes Menschen gegen die Bestrebungen jedes andern Menschen, in der wir heute alle einig sind, in diesem Staat schon früh, und man kann sagen, zu einem sublimierten Zeremoniell ausgebildet, das noch große Folgen hätte haben können, wenn seine Entwicklung nicht durch eine Katastrophe vor der Zeit unterbrochen worden wäre. Denn nicht nur die Abneigung gegen den Mitbürger war dort bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert, sondern es nahm auch das Mißtrauen gegen die ei­ gene Person und deren Schicksal den Charakter tiefer Selbstgewißheit an. Man handelte in diesem Land – und mitunter bis zu den höchsten Graden der Leidenschaft und ihren Folgen – immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte. Unkundige Beobachter haben das für Liebens­wür­ dig­keit oder gar für Schwäche des ihrer Meinung nach österreichischen Charakters gehalten. Aber das war falsch; und es ist immer falsch, die Erscheinun­ gen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geografischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausge­wa­ sche­ne Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewoh­ ner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte. Dieser, wie man zugeben muß, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders gefärbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andre Farbe und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darin­steht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt. Soweit das nun überhaupt allen Augen sichtbar werden kann, war es in Kakanien geschehen, und darin war Kakanien, ohne daß die Welt es schon wußte, der fortgeschrittenste Staat; es war der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, ständig im Gefühl der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz und von der großen Phantasie des Nichtgeschehenen oder doch nicht unwiderruflich Geschehenen wie von dem 23

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Hauch der Ozeane umspült, denen die Menschheit entstieg. Es ist passiert, sagte man dort, wenn andre Leute anderswo glaubten, es sei wunder was geschehen; das war ein eigenartiges, nirgendwo sonst im Deutschen oder einer ­andern Sprache vorkommendes Wort, in dessen Hauch Tatsachen und Schicksalsschläge so leicht wurden wie Flaumfedern und Gedanken. Ja, es war, trotz vielem, was dagegen spricht, Kakanien vielleicht doch ein Land für Genies; und wahrscheinlich ist es daran auch zugrunde gegangen.1

Die einzelnen Länder der Monarchie entwickeln sich unterschiedlich schnell. Beide Hauptstädte gehören zu den modernsten Städten Europas. In Budapest entsteht der erste U-Bahn-Abschnitt 1896, in Wien zwei Jahre später. Böhmen und Mähren können sich mit den am besten entwickelten Regionen Westeuropas messen, während Galizien und die Bukowina ihren östlichen bzw. südöstlichen Nachbarn näher als der Moderne waren. Der unterschiedliche Entwicklungsstand der einzelnen Regionen hat aber nur geringen Einfluss auf die Stimmungen, die Loyalität gegenüber der Monarchie und das Nationalbewusstsein. In Österreich-Ungarn sind alle Volksgruppen mehr oder weniger unzufrieden. Die Bürger denken zunehmend in nationalen Kategorien und wollen nicht mehr in Gemeinschaft mit ihren anderssprachigen Nachbarn leben. Hannah Arendt wird später schreiben, es sei „dem völkischen Nationalismus eigen, darauf zu bestehen, dass das eigene Volk von ‚einer Welt von Feinden umgeben‘, in einer Situation des ‚einer gegen alle‘ sich befindet, und dass es infolgedessen nur einen Unterschied in der Welt gibt, der zählt, den Unterschied zwischen einem selbst und allen anderen“.2 Vorerst jedoch verläuft die Ethnisierung der Beziehungen innerhalb der Monarchie gewaltfrei, der Staat mag zwar weniger farbig als von Musil beschrieben funktionieren, verwaltet das Vielvölkerreich dennoch halbwegs erfolgreich. Sein Symbol ist Kaiser Franz Joseph I., seit 1867 auch König von Ungarn. Fast niemand erinnert sich an einen anderen Monarchen. Der Glaube an einen gerechten, aus der Ferne regierenden und weit über allen Konflikten und Auseinandersetzungen zwischen Politikern oder Studenten stehenden Herrscher macht Hoffnung: Wenn der Kaiser seit Jahrzehnten Frieden und eine gewisse Stabilität garantiert, dann wird die Monarchie wohl auch die zahlreichen Wirren und Krisen in der europäischen Politik am Beginn des 20. Jahrhunderts überstehen. Imperien wären keine Imperien, wenn sie nicht nach Hegemonie strebten. Die geringsten Chancen in diesem Wettstreit hat Russland, das trotz immenser Fortschritte die schwächste Position behält. Im Fernen Osten hat es verloren, in 24

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Mittelasien kann es Großbritannien nicht mehr herausfordern. Sein schwächster Rivale ist das Osmanische Reich. Petersburg fördert die Zerstückelung des europäischen Vorgeländes der Osmanen. Es schließt Bündnisse mit den Balkanstaaten. Die wichtigste Rolle spielen die engen Beziehungen zu Bulgarien und Serbien, das 1903 aus dem österreichisch-ungarischen ins russische Lager wechselte und als Schutzmacht der Südslawen und der Orthodoxie die russische Balkanpolitik stützte. Die Verbindung zwischen Petersburg und Belgrad irritiert die Politiker der Habsburgermonarchie in höchstem Maß. Erstens bedroht Serbien als Sachwalter einer Vereinigung der Südslawen die südlichen Grenzgebiete Österreich-Ungarns, wo Kroaten, Slowenen, Bosnier und Serben leben. Zweitens findet das Bündnis zwischen Belgrad und Petersburg seine Fortsetzung in der sogenannten Entente, dem Bündnis zwischen Russland, Frankreich und Großbritannien. Die k. u. k. Militärs sehen in den Beziehungen des Zarenreichs zu Serbien eine existenzielle Bedrohung für die Monarchie und drängen auf rasche Klärung der Situation: Der einflussreiche Stabschef Franz Conrad von Hötzendorf fordert ab 1906 einen Krieg gegen Serbien. Allein 1913, so die Zählung von Historikern, plädiert von Hötzendorf fünfundzwanzigmal für einen Angriff auf Belgrad. Im Mai 1914 erneuert er den Vorschlag. Der Kaiser und die Politik hören nicht auf den Feldmarschall. Vorerst.

Die Friedjung-Affäre Als sich Österreich-Ungarn 1908 zur Annexion Bosniens und der Herzegowina entschloss, stand Europa am Rande eines Krieges. Zwar war die Region schon seit 1878 von k. u. k. Truppen besetzt, doch nach dem Übertritt Serbiens in die russische Einflusssphäre war die formelle Eingliederung der Provinz eine poli­ti­sche Manifestation. Russland betrachtete die Annexion als feindlichen Akt und Eingriff in seine Interessen auf dem Balkan. Letztlich lenkte das Zarenreich ein, doch die zuvor freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Großmächten waren dauerhaft getrübt. Unterdessen wuchs der ­ Petersbur­ger Einfluss in Belgrad, was wenige Jahre später zur Bildung einer antitürkischen Koalition führte. Die formale Annexion einer Provinz, in der das österreichisch-ungarische Finanzministerium ohnehin seit mehr als drei Jahrzehnten eine souveräne Politik ausübte, hätte durchaus dezenter vollzogen werden können. Eine Eskalation der Lage lag aber im Interesse des k. u. k. Außenministers Alois Lexa von Aehrenthal, dem Hauptverantwortlichen für die sogenannte Bosnienkrise. 25

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Von Aehrenthal war entschiedener Befürworter einer aggressiven imperialen Politik. Zu seiner Überraschung fand die Annexion nicht die Zustimmung der westeuropäischen Öffentlichkeit. Daher hielt von Aehrenthal es für notwendig, diesen Schritt nachträglich zu legitimieren. Sein Plan schien perfekt, doch er endete für Österreich-Ungarn in einer Blama­ ge. 1909 stellte man ein gutes Dutzend serbischer Politiker aus Kroatien unter dem Vorwurf des Hochverrats vor Gericht, weil sie sich als serbische Agenten gegen die Monarchie verschworen haben sollen. Der Prozess sollte nicht nur Aehrenthals aggressive Politik rechtfertigen, er lag auch im Interesse der ­Ungarn, die die kroatische Autonomie abschaffen wollten. Allerdings waren die vorgelegten Beweise für den angeblichen Verrat höchst zweifelhaft. Der Brite Robert W. Seton-Watson, der die Verhandlung in Zagreb verfolgte, schrieb in einem Bericht für die „Morning Post“: „Der Prozess ist eine Parodie der Gerech­tigkeit, inspiriert und geleitet von etwas, das man nach englischem Sprachgebrauch als Despotie bezeichnen muss.“3 In einem Brief an den späteren „Times“-Chefredakteur ­Henry Wickham Steed ergänzte er, die für diesen Schauprozess ausgewählten Richter machten den Eindruck, als kämen sie selbst frisch aus der Straf­kolo­nie. Seton-­ Watson war nicht der Einzige, der so ­dachte, also gelangte Aeh­renthal zu dem Schluss, es sei Zeit für neue Belastungsbeweise. In diesem Moment betrat der in Mähren in einer jüdischen Familie zur Welt gekommene Historiker und Publizist Heinrich Friedjung die Bühne der großen Politik: Ein Pionier der politischen Zeitgeschichte, zugleich deutscher Nationalist. Sein Ziel war es, zum Anführer der Deutsch-Österreicher zu werden. Mit Aehrenthal verbanden ihn gemeinsame politische Ansichten und eine mehrjährige Zusammenarbeit. Im Herbst 1909 veröffentlichte Friedjung in der liberalen „Neuen Freien Presse“ einen Artikel, der sich auf Dokumente berief, die angeblich der k. u. k. Botschaft in Belgrad zugespielt worden waren. Diese Papiere sollten belegen, dass Serbien einen bewaffneten Überfall auf die Donaumonarchie plane und Politiker der kroatisch-serbischen Koalition bezahle. Wie sich bald herausstellte, war das Material gefälscht. Ende 1909 verklagten mehrere kroatische Politiker Friedjung wegen Verleumdung. Im Wiener Reichsrat ließ Tomáš Garrigue Masaryk kein gutes Haar an den Machenschaften des Außenministers. Die Affäre endete mit der Bloßstellung Friedjungs und der österreichisch-un­ gar­ischen Behörden. Psychologisch reichten die Folgen sehr viel weiter. Erstens geriet der Rechtsstaat, für den man Österreich-Ungarn bis dahin zu Recht 26

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gehalten hatte, unter dem Einfluss des Großmachtstrebens einiger Politiker ins Wanken. Zweitens trieb die hysterische Reaktion der Obrigkeit auf die bis dahin absolut loyale Zusammenarbeit serbischer, kroatischer und slowenischer Politiker innerhalb der Monarchie diese tatsächlich in die Arme Serbiens. Drittens stellte die Friedjung-Affäre Österreich-Ungarns Fähigkeit zur Befriedung der Konflikte zwischen den zerstrittenen Völkern Ostmitteleuropas und des Balkans infrage.

Der Dauerkonflikt zwischen Wien und Petersburg um Serbien hat ein Pendant im Norden. In Galizien regieren die Polen. Die überwältigende Mehrheit von ihnen fühlt sich der Monarchie verbunden, errichtet aber fleißig nationale Institutionen, hilft Emigranten aus dem Königreich Polen und organisiert die ­Jugend in paramilitärischen Verbänden. Anders die Ukrainer, damals meist Ruthenen genannt: Auch sie gründen Verbände und Institutionen, auch sie sind mehrheitlich prohabsburgisch, aber es gibt auch eine aktive prorussische („moskalophile“) Minderheit. Der Unterschied zwischen politisch aktiven Polen und Ukrainern besteht darin, dass die Polen eigene Behörden, Eliten und ein klares nationales Identitätsgefühl besitzen. Die Ukrainer organisieren sich von der Basis her, ihre Eliten sind schwach; manche ukrainische Intellektuelle glauben an die Entstehung einer der Monarchie verbundenen ukrainischen Nation, andere betrachten die Ruthenen als Teil der großen russischen Nation. Petersburg beschuldigt W ­ ien der Unterstützung der Polen und der „nationalen“ Ukrainer, Wien wirft Peters­ burg vor, die „Moskalophilen“ aufzuwiegeln. Es gibt unzählige politische Prozesse und noch mehr Pressedebatten. Serbien ist ungleich wichtiger als Galizien. Über das südliche Grenzgebiet Österreich-Ungarns berichtet die europäische Presse ab 1903 fast ununterbrochen, nicht nur Conrad von Hötzendorf sieht hier die Keimzelle eines künftigen Krieges. Es liegt auf der Hand, dass eine auf diese Region begrenzte Auseinandersetzung zwischen Wien und Belgrad nur eines – und die eindeutig am wenigsten bedrohliche – von mehreren denkbaren Szenarien wäre. Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich sind seit 1879 Verbündete. 1882 tritt Italien – ein unsicherer, unzuverlässiger Partner – der Allianz bei, die seitdem Dreibund heißt. Frankreich und Großbritannien legen 1904 ihre Kolonialstreitigkeiten bei (Entente cordiale), 1907 stößt (das bis dahin nur mit Frankreich verbündete) Russland, der Fürsprecher Serbiens, zu dem entstehenden Bündnis hinzu. Nach dem Scheitern in Fernost 1904–05 kann sich Petersburg eines ganz gewiss nicht leisten: eine Demütigung in den Augen Europas. 27

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Jedes der Imperien ist anders auf einen Krieg vorbereitet. Russland, das seine Grenzen kennt, hat in den Vorjahren mit 30 Prozent seines Haushalts proportional am stärksten in seine Streitkräfte investiert. Innerhalb weniger Jahre sind die Militärausgaben um gut 40 Prozent angestiegen, das Budget der Kriegsmarine hat sich verdreifacht und liegt über dem deutschen; 1917 sollen die Bodenstreitkräfte dreimal so stark wie das Heer des westlichen Nachbarn sein. Doch all das genügt nicht: Die Armee lehrt die Bauern nicht schreiben, sie errichtet keine effiziente Rüstungsindustrie und gleicht den strukturellen Rückstand des Zarenreichs nicht aus. Seit Langem weiß man, dass im modernen Krieg die Eisenbahn eine entscheidende Rolle spielt. Im Oktober 1850, als in den österreichisch-preußischen Beziehungen eine Krise eintrat, transportierte das Habsburgerreich in nicht ganz vier Wochen 75 000 Soldaten und 8000 Pferde an seine Nordgrenze. Preußen gab nach. Sechzehn Jahre später brauchte es nur drei Wochen, um fast 200 000 Soldaten und 55 000 Pferde an die Front zu bringen. Diesmal verlor Österreich. Vier Jahre später vermochten die Franzosen ihr modernes Eisenbahnnetz nicht richtig zu nutzen: Am dreiundzwanzigsten Tag der Mobilmachung standen 270 000 Soldaten unter Waffen, während die Deutschen im selben Zeitraum 460 000 Mann mobilisieren konnten. Alle Generalstäbe studieren die Kriege der Jahre 1866 und 1870. Alle gelangen zur selben Schlussfolgerung: Ohne ein ­dichtes und leistungsfähiges Schienennetz ist in Zukunft kein Krieg mehr zu gewinnen. In den darauffolgenden Jahrzehnten erweitert das Deutsche Reich sein Schienennetz mit aller Macht. Das Land Preußen wird zum größten Arbeitgeber Deutschlands; kurz vor Kriegsbeginn sind rund 700 000 Menschen bei der Bahn beschäftigt. Russland hat das dünnste Eisenbahnnetz. An der Grenze zu Österreich-Ungarn und Deutschland, also im Vergleich mit den Nachbarn, werden die Unterschiede deutlich: Auf einen Einwohner des Königreichs Polen kommen 25 Gleismeter, auf einen Galizier kommt das Doppelte und auf einen Bewohner der Ostprovinzen des Deutschen Reiches das Sechsfache.4 Auch Österreich-Ungarn ist weit von dem Rüstungsniveau entfernt, das die Armee seit Jahren fordert. Das Schienennetz an den Grenzen zu Serbien und Russland ist ausreichend. Doch auf eines ist die Monarchie nicht vorbereitet: Auf eine schnelle, maximale Anstrengung an beiden Fronten zugleich. Obwohl man weiß, dass Russland Serbien zu Hilfe kommen wird, ist dies das ungünstigste Szenario. In einem solchen Fall wäre Wien von Beginn der Kriegshandlungen zu einer engen Zusammenarbeit mit Berlin gezwungen – es kann keinen Zweifrontenkrieg führen, sofern Deutschland nicht einen Teil der russischen Kräfte bindet. Und nur das Deutsche Reich 28

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ist im Osten wirklich bereit für einen Krieg. Der Chef der Obersten Heeresleitung, Helmuth von Moltke, fürchtet allerdings, dass Deutschland seine Übermacht bald verlieren könnte. Gegenüber dem Außenminister plädiert er im Mai 1914 für einen Präventivkrieg – jetzt oder nie. „Später“ könnte seiner Auffassung nach „zu spät“ bedeuten. Nach dem Anlaufen des russischen Rüstungsprogramms würde Deutschland bis 1917 im Osten alle Trümpfe verlieren, die es nun noch erlauben, Russland als zweitrangigen Gegner zu betrachten. Bis heute hält sich die Auffassung, die Entscheidungsträger in Uniform hätten komplett versagt. Tatsächlich versprechen viele von ihnen den Politikern und der Öffentlichkeit einen kurzen und siegreichen Krieg. Ob aus mangelnder Vorstellungskraft oder mangelnder Kompetenz, ist schwer zu sagen. In den Militärakade­ mien lehrt man die Vorbereitung eines bewaffneten Konflikts an Beispielen aus dem 19. Jahrhundert; insofern kann man den späteren Stabsoffizieren schwerlich vorwerfen, dass sie in Kategorien des Krimkriegs oder des Preußisch-Französischen Kriegs von 1870 denken. Man baut weiterhin immer größere und dichter mit Artillerie bestückte Festungsanlagen, die sich 1914 im Osten wie im Westen gleichermaßen als untauglich erweisen. Am künftigen Nordabschnitt der ­Ostfront errichten die Russen mächtige Befestigungsanlagen in Ossowiec (Ossowitz), Modlin (Nowogeorgiewsk), Dęblin (Iwangorod) und Kowno. Die Deutschen befestigen mit hohem Aufwand die Vorstädte von Königsberg. Die Österreicher bauen die uneinnehmbare Festung Przemyśl, auch Krakau wird durch einen breiten Streifen von Forts und Bunkern gesichert. Manche Generäle haben Bedenken, nicht nur wegen der Hunderttausenden Tonnen von Zement und Stahl, die zum Ausbau der Festungen benötigt werden. Die Armee verfügt über fantastische Mittel, den Feind zu töten; das schwere Maschinengewehr war nur das modernste. Doch der Feind verfügt über das gleiche Arsenal. Eine europäische Großmacht kann Millionen Reservisten zu den Waffen rufen; doch, weil die allgemeine Wehrpflicht überall eingeführt wurde, würden Millionen gegen Millionen stehen. Und schließlich: Jeder Staat hat mächtige Verbündete. Jeder. Trotz dieser Zweifel schmieden die Generäle Pläne für den künftigen Krieg. Dass die Eisenbahn eine zentrale Rolle spielen wird, wissen alle, doch auf die Investitionen ins Gleisnetz haben sie nur begrenzten Einfluss. Also fordern sie überall mehr Geld und eine Verlängerung des Wehrdienstes. Im letzten großen Krieg, also im Konflikt zwischen Japan und Russland 1904–05, mangelte es den Russen (neben vielem anderen) an Artilleriemunition – sie waren auf Importe angewiesen, weil die heimischen Fabriken die wachsende Nachfrage nicht be29

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dienen konnten. Die Generalstäbe kalkulieren also mit einem vielfach höheren Bedarf an Munition und lassen riesige Depots zu ihrer Aufbewahrung errichten. Österreich-Ungarn und Russland stationieren einen großen Teil ihrer Artillerie samt Munitionsvorräten in ihren Festungen. Als Deutschland 1915 ohne größere Anstrengung Kowno und Nowogeorgiewsk erobert, erbeutet es 3000 Geschütze und 2 000 000 Artilleriegranaten; die russische Rüstungsindustrie produziert im Jahr zuvor gerade einmal 285 Geschütze und 660 000 Granaten.5 Im Deutschen Reich bringt die Regierung im Sommer 1913 gegen den Widerstand der SPD, das heißt der größten Reichstagsfraktion, einen Gesetzesentwurf durchs Parlament, mit dem die Friedensstärke des Heeres von 754 000 auf 890 000 Soldaten (1,3 Prozent der Bevölkerung) heraufgesetzt wird. Ausländische Beobachter sehen sich in ihrer Sorge vor dem für Europa bedrohlichen „preußischen Militarismus“ bestätigt. Allerdings beträgt der Anteil der unter Waffen ­stehenden Männer in Frankreich zur selben Zeit 2,3 Prozent (in Russland und Öster­reich­-Ungarn schwankt er zwischen 0,8 und 0,85 Prozent). Frankreich und Russ­land geben ca. fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für das Militär aus, Deutschland knapp vier Prozent, Österreich-Ungarn etwas mehr als drei Prozent. Keiner der von den imperialen Generalstäben entwickelten Pläne überdauert die ersten Kampfwochen im August 1914. Denn kein General oder Feldmarschall will öffentlich zugeben, dass er Helmuth von Moltkes schon im Mai 1890 geäußerte Befürchtungen teilt. Der legendäre Architekt der schnellen und siegreichen Feldzüge gegen Österreich und Frankreich hatte mit seiner letzten Rede im Reichstag die Abgeordneten in Erstaunen versetzt: Die Zeit der Kabinettskriege liegt hinter uns, – wir haben jetzt nur noch den Volkskrieg, und einen solchen mit allen seinen unabsehbaren Folgen he­rauf­ zubeschwören, dazu wird eine irgend besonnene Regierung sich sehr schwer entschließen. […] Meine Herren, wenn der Krieg, der jetzt schon mehr als zehn Jahre lang wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt, – wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und ist sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, gerüstet wie nie zuvor, gegen einander in den Kampf treten […]. Meine Herren, es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden, – und wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert.6 Helmuth von Moltke dem Älteren verzieh man angesichts seines Alters den Anflug von Pessimismus, der ganz und gar nicht dem Zeitgeist entsprach. Anderen hätte man solch defätistische Äußerungen nicht durchgehen lassen. Helmuth 30

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von Moltke der Jüngere hegt als Generalstabschef 1914 privat ähnliche Bedenken. Doch weder er noch seine Kollegen in den anderen Hauptstädten wagen es im Sommer dieses Jahres, den verbreiteten Glauben an einen kurzen siegreichen Krieg infrage zu stellen. Das tun nur Minderheiten, darunter als größte die in der Zweiten Internationale zusammengeschlossenen sozialistischen Parteien. Es lohnt sich, dieser heute vergessenen Tradition Aufmerksamkeit zu schenken. Die Sozialisten fürchten den Krieg: Millionen von Arbeitern, die sich gegenseitig umbringen, damit Kapitalisten in Ledersesseln größeren Profit erzielen – das ist eine albtraumhafte Vorstellung. Auf zahlreichen Kongressen debattieren sie das Thema. Die Radikalen plädieren für einen allgemeinen internationalen Präventionsstreik in der Rüstungsindustrie; die Mehrheit hält den Vorschlag für wenig praktikabel und sinnlos, weil sie mit einem weltweiten spontanen Generalstreik rechnet, sobald das Gespenst des Krieges konkrete Gestalt annimmt. Im Juli 1914 stimmen die sozialistischen Abgeordneten aller westeuropäischen Staaten mit der jeweiligen Parlamentsmehrheit für den Krieg. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal siegt der Nationalismus über den marxistischen Traum von der internationalen Solidarität der Proletarier. Eine andere Art von Pazifismus repräsentiert die als Gräfin Kinsky geborene Bertha von Suttner, die den Menschen, seine Würde und sein Leiden in den Mittelpunkt stellt. Das wichtigste Buch der Friedensnobelpreisträgerin von 1905 stammt aus dem Jahr 1899: Die Waffen nieder wird zum Bestseller im deutschsprachigen Raum und in zahlreiche andere Sprachen übersetzt. Der Roman erzählt die Geschichte einer Frau, die in den ständigen Konflikten zwischen den europäischen Großmächten (vom Krieg zwischen Österreich, Piemont und Frankreich 1859 bis zum Preußisch-Französischen Krieg 1870–1871) ihre Angehörigen verliert. Suttners Engagement für den Frieden manifestiert sich in der Teilnahme an internationalen Friedenskonferenzen, unter anderen in Den Haag 1899. Die viel gelesene Schriftstellerin leistet sicher mehr für die pazifistische Sache als der Initiator der Haager Konferenz, Zar Nikolaus II. Auf ganz anderen Wegen gelangt der Warschauer Bankier Jan (auch Johann oder Iwan) von Bloch nach Den Haag. Er beginnt 1893 mit der Veröffentlichung der polnischsprachigen Artikelreihe Przyszła wojna, jej ekonomiczne przyczyny i skutki (Der zukünftige Krieg, seine ökonomischen Ursachen und Folgen). Innerhalb von fünf Jahren entsteht daraus das mehrbändige Werk Der Krieg, das 1898– 1900 zuerst auf Russisch und später – teils in gekürzten Fassungen – auf Polnisch, Englisch, Französisch, Deutsch und Niederländisch erscheint.7 Bloch betreibt 31

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die Wissenschaft als Hobby, doch er kann es sich leisten, für sein Projekt ein Forscherteam zu engagieren. Er betrachtet den Krieg aus der Sicht eines aufgeklärten, um die Zukunft seines Kontinents besorgten Europäers. Die Rückkehr der Gewalt in die internationalen Beziehungen hält er für das absolute Böse, für eine elementare Bedrohung der Zivilisation des zu Ende gehenden Jahrhunderts. In recht langatmigen, mit Statistiken überladenen Ausführungen belegt Bloch auf 3000 Seiten, dass die von den Großmächten angehäuften Waffen ausreichen, um ganz Europa zu vernichten. Dass ein Krieg schon zu Beginn die europäische Wirtschaft ruinieren würde, erscheint aus dieser Perspektive weniger bedeutsam, ist aber für Blochs Bankierskollegen wichtig, die im Juli 1914 vergeblich vor der Apokalypse warnen. Bloch betrachtet die Welt von Warschau aus. Er lebt in einer pulsierenden Stadt, die kurz davor steht, die Schallmauer von einer Million Einwohnern zu durchbrechen. Die frühneuzeitlichen Festungsanlagen sind längst abgetragen, aber – wie in vielen anderen Metropolen der Region – durch neue ersetzt worden. Diese Festungen sind schon bei Fertigstellung veraltet und hemmen die Stadt­ent­ wicklung. Besser lässt sich die Sinnlosigkeit des Wettrüstens kaum illustrieren.8 Zugleich lebt Bloch in einem Staat, in dem – wie fast überall in Europa – allgemeine Wehrpflicht gilt. Als einer von wenigen zieht er eine logische Schlussfolgerung: Ein Krieg zwischen den Imperien bringt nicht nur Hunderttausenden junger Männer den Tod, sondern ist auch für die betroffenen Gesellschaften und Volkswirtschaften eine nicht zu bewältigende Herausforderung. Im „zukünftigen Krieg“ wird es nur Verlierer geben: Die Entwicklung der Tötungstechnologie macht das Schlachtfeld zum Schauplatz von Massakern, aus denen kein moderner Staat als Sieger hervorgehen kann. Jede Seite kann bisher unvorstellbare Massen an Material und Menschen in die vermeintlich letzte Schlacht werfen. Der Krieg ruiniert – materiell, physisch, moralisch – Sieger und Besiegte gleichermaßen. Damit sind beide Kategorien in der Praxis obsolet. Bloch ist an der Jahrhundertwende der bekannteste Vertreter einer kleinen Minderheit innerhalb der Großbourgeoisie (diese Bezeichnung trifft insofern zu, als er einer der reichsten Männer in Russland war), die den „zukünftigen Krieg“ zwischen den Großmächten als Katastrophe für alle Beteiligten betrachten. Die Siegeschancen hält er für gering, die Kosten für unermesslich. Die zeitgenössischen Militärtheoretiker weisen Blochs Thesen angewidert zurück. Sie wissen es besser. Ihre Verachtung für den Warschauer Bankier rührt wohl vor allem daher, dass es im Buch Der Krieg nicht allein um den Krieg geht; im Hintergrund steht der grundlegende Zweifel, ob zivilisierte Gesellschaften ihr Schicksal in die Hän32

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de des Militärs legen sollten. Diese Frage ertragen Generäle nicht, unabhängig von Uniform, Zeit und Ort.

Die Angriffsdoktrin In den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs wurde auf beiden Seiten der Front überraschend Friedrich von Bernhardi zu einem der meistzitierten Schriftsteller. Der Kavalleriegeneral und Militärhistoriker führte zwar keine leichte Feder, doch er bediente exakt die Bedürfnisse des Augenblicks. Die Deutschen und ihre Verbündeten schöpften aus Bernhardis Werk die stärken­ de Überzeugung, dass sie in diesem Krieg eigentlich zum Siegen verurteilt seien. Ihre Gegner sahen in ihm ein Symbol des deutschen Chauvinismus und Militarismus. Nicht ohne Grund, wenn man etwa liest, was Bernhardi über die Auswirkungen des Rüstungswettlaufs auf die Vorkriegsgesellschaft des Deutschen Reichs schrieb: „Wir haben uns gewöhnt, die Waffenrüstung als eine schwere, unwillig getragene Last zu betrachten, und darüber vergessen, daß die Armee der Jungbrunnen ist, aus dem immer von neuem Kraft, Opfermut und Vaterlandsliebe unserem Volke zuströmen.“9 Trotz strenger Mahnungen an die vermeintlich allzu pazifistisch gesinnte deutsche Öffentlichkeit sah Bernhardi dem in seinen Augen unausweichlichen europäischen Konflikt optimistisch entgegen. Seine Zuversicht speiste sich aus dem Glauben an die überlegene Kriegsmoral der Deutschen, als wichtigsten Faktor des künftigen Sieges betrachtete er die Initiative (das „Prinzip des Handelns“). Abgesehen vom großdeutschen Chauvinismus finden sich in Bernhardis Text freilich auch Ansichten, die nicht nur unter deutschen Strategen, sondern in allen europäischen Stäben verbreitet waren und die knapp formuliert lauteten: Geist ist wichtiger als Material, Angriff ist besser als Verteidigung. Bernhardis Siegeshoffnung gründete auf der durchaus nicht falschen Beobachtung, dass die bislang beste Umsetzung der beiden Maximen Preußen im Feldzug gegen Frankreich 1870/71 gelungen war. Auch die unmittelbare Vorkriegszeit lieferte den Befürwortern der Angriffsdoktrin neue Argumente. Im Russisch-Japanischen Krieg setzte der russische Oberbefehlshaber in der Mandschurei, General Alexei Nikolajewitsch Kuropatkin, auf eine defensive Strategie, die von deutschen Ausbildern geschulten Japaner hingegen auf permanente Offensive. Obwohl die russische Niederlage vielschichtige Gründe hatte, konzentrierten sich die Beobachter auf den Unterschied in der strategischen Ausrichtung. Auch Kuropatkin selbst bemühte bei der Suche nach einer Erklärung für sein Scheitern eine der damals gängigen Formeln: 33

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Im jüngsten Krieg […] war unsere moralische Stärke geringer als die der Japaner; und eben diese Unterlegenheit, mehr als Fehler in der Führung, war die Ursache unserer Niederlagen […]. Der Mangel an Kampfgeist, an morali­ scher Begeisterung und an Heldenmut wirkte sich besonders auf unsere Durchhaltevermögen aus. In vielen Fällen fehlte uns im Kampf die Entschlos­ senheit, einen Gegner wie die Japaner zu besiegen.10 Die Militärstrategen blendeten völlig aus, welchen Preis der Sieger gezahlt hatte. Die Verluste der Japaner waren weitaus höher als die der besiegten Russen. Beide Seiten verfügten schon über moderne Artillerie und Maschinen­ gewehre. Bei den ununterbrochenen Bajonettangriffen und zumal beim Sturm auf Port Artur starben daher die japanischen Infanteristen in Massen. Ihr Fanatismus begeisterte die Generalstäbler. Über die Verluste sah man hinweg, der zukünftige Krieg sollte ja schnell vorbei sein. 1911 übernahm Frankreich die auf permanente Offensive ausgerichtete Grandmaison-Doktrin. Sie sah als bevorzugte Taktik die Verlagerung der Kräfte möglichst nah an die feindliche Linie und massierte Bajonettangriffe vor. Die absehbar hohen Verluste fielen dabei weniger ins Gewicht als die erwartete positive Wirkung eines solchen Vorgehens auf die Moral der Armee. 1914 trafen Armeen aufeinander, die strategisch wie taktisch fast ausnahmslos auf Angriff eingestellt waren. Die einzige Lehre, die man aus den Kriegen der Jahre 1904–05 gezogen hatte, war diese: Der Angriff musste massenhaft erfolgen, um erfolgreich zu sein. Die Kosten dieser Doktrin sollten sich als makaber hoch erweisen.

Juli 1914 Mit der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdi­ nand beginnt für die Imperien der Monat der Schande. Vier Wochen lang beraten ununterbrochen die Kabinette, Außenministerien und Generalstäbe verfassen im Gleichschritt Memoranden. In den Monarchien bespricht man sich mit den Herrschern. Im Hintergrund erscheinen hier und da einflussreiche Bankiers, Industrielle und Chefredakteure, mitunter Fraktionsvorsitzende. Die beiden ersten Gruppen spielen keine große Rolle, es geht nicht um Geld, sondern ums Prestige, um den Großmachtstatus. Auch Zeitungsherausgeber und Politiker außerhalb der Regierung haben de facto nicht viel zu sagen, doch sie werden gebraucht, um die Öffentlichkeit auf den Krieg einzustimmen. 34

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In allen Staaten entscheiden Gruppen von einem bis mehreren Dutzend Männern, die meisten im mittleren Alter (wenngleich auch einige Ältere darunter sind). Der Kreis ist aufgrund der Jahreszeit reduziert. Wilhelm II. verbringt die entschei­ denden Wochen auf seiner Jacht. Sein Kriegsminister General Erich von Falkenhayn erholt sich währenddessen auf einer Insel in der Nordsee. Helmuth von Moltke (der Jüngere) trifft am Tag des Attentats zur jährlichen Sommerfrische in Karlsbad ein. Der Tod des Erzherzogs beeindruckt ihn offensichtlich nicht. Erst aufgrund der Nachricht vom österreichisch-ungarischen Ultimatum an Serbien bricht er den Urlaub ab und kehrt am 25. Juli nach Berlin zurück. Die Deutschen sind keine Ausnahme: Serbiens Generalfeldmarschall Radomir Putnik hätte um ein Haar gar nicht am Krieg teilgenommen. Er verbringt den Sommer 1914 in einem Sanatorium im österreichischen Bad Gleichenberg. Auf der Heimreise wird er in Budapest von der ungarischen Gendarmerie festgenommen. Auf persönliche Anordnung Franz Josephs I. kommt er frei; die Verhaftung eines Feindes, der als Kurgast ins Land gekommen ist, passt offenbar nicht ins Weltbild des Kaisers. Den anderen Entscheidungsträgern bleiben vergleichbare Aufregungen erspart. Langsam finden sie sich Ende des Monats in ihren Büros ein. Es kümmert sie wenig, dass die Börsenkurse gerade zum Sturzflug ansetzen. Bloch lebt nicht mehr, seine Kollegen in den Banken erleben die von ihm vorhergesagte Wirtschaftskatastrophe am eigenen Leib; bald werden auch die Kleinsparer betroffen sein. Obwohl die Zeitungen aufgeregt von Krieg schreiben, sind die Militärs nicht sonderlich präsent. Die Politiker – und mehr noch die Öffentlichkeit – glauben ihren Versprechen der letzten Jahre, dass ein Krieg sich schnell gewinnen lasse. Die Entscheider sind in der Regel erbärmlich informiert. Die grundlegenden Nachrichten liefern Pressedepeschen und diplomatische Berichte, das heißt Quellen, die oft einen veralteten Stand der Dinge berichten. Die französische Delegation mit Präsident und Premierminister, von der gleich noch die Rede sein wird, kehrt mit dem Schiff von ihrem Besuch in Russland zurück. Die Reise dauert sechs Tage. Die Deutschen stören erfolgreich die Kommunikation, der Austausch von Depeschen läuft in den entscheidenden Tagen der Krise noch langsamer als sonst. Das Telefon spielt eine untergeordnete Rolle, es dient vor allem für Inlandsgespräche; Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es noch keine gesicherten Verbindungen, doch auch sie hätten wohl kaum etwas geändert. In diesem Spiel glauben nur wenige Teilnehmer, dass sie etwas zu verlieren hätten. Großbritannien hat allenfalls seine Position zu wahren, deren Stützen ohnehin nicht in Europa liegen. London wird erst durch die Provokationen Deutschlands, das seit gut zwanzig Jahren seine Sonderstellung infrage stellt, zur Inter35

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vention gezwungen. Dass die Deutschen eine mächtige Kriegsmarine aufbauen, ist seit Langem ein Streitpunkt – nichts stört die Beziehungen zwischen den beiden Ländern so sehr wie das größenwahnsinnige wilhelminische Projekt, Großbritannien auf See Konkurrenz zu machen. Während des Kriegs schlägt die deutsche Flotte eine große Schlacht gegen die Briten, die sie halb gewinnt, doch auch so sollte sie es nicht aus ihren Häfen an Nord- und Ostsee herausschaffen. Die deutsche Revolution von 1918 beginnt in den Basen der Kriegsmarine. Das Deutsche Reich ist de facto die einzige Großmacht, die den europäischen Status quo infrage stellt. Historiker haben auf Tausenden von Seiten versucht, zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Sichtweisen in Übereinstimmung zu bringen. Einerseits entwickelt sich das Deutsche Reich seit Jahren weitaus dynamischer als Großbritannien. 1913 ist klar: Wenn der Frieden hält, wird sich seine Position als ökonomisch stärkster Staat festigen. Deutschland hat keine Aussicht auf territorialen Zuwachs, aber es braucht ihn auch nicht. Im Westen wäre er nur auf Kosten der Niederlande, Belgiens oder Frankreichs zu erreichen, was sich niemand vorstellen kann. Im Osten nur auf Kosten Russlands, was faktisch die Eingliederung von Millionen Polen ins Reich bedeuten würde. Das ist keine sonderlich verlockende Aussicht. Der liberale Abgeordnete Heinrich zu Schönaich-­ Carolath fragt 1914 im Reichstag: „Und was könnten wir von Rußland haben wollen? Etwa Warschau und Polen? Ich dächte, wir hätten genug davon.“11 Andererseits rasselt gerade das Deutsche Reich – und zwar unabhängig von der streitsüchtigen Persönlichkeit des Kaisers – am häufigsten und am lautesten mit dem Säbel. Damals und später findet man dafür unterschiedliche Erklärungen: Die „verspätete“ Nationsbildung der Deutschen (erst 1871); die Tradition des preußischen Militarismus; die Interessen des Großkapitals (eine absurde Annahme, denn Industrielle und Bankiers wissen auch ohne Kenntnis von Blochs Werk, dass ihnen der Friede mehr als der Krieg nutzt); den Wunsch, mit einem Schlag die vermeintlich wachsenden inneren Spannungen zu lösen; den Nationalismus. All dies spielt eine Rolle, erklärt aber nicht, warum Deutschland im Juli 1914 mehr als die anderen Großmächte eine konfrontative, aggressive Haltung einnimmt. Die Öffentlichkeit glaubt – mit Ausnahme der Sozialdemokraten, die sich der kriegsfreudigen Stimmung nur widerwillig anschließen –, Deutschland sei von einer feindlichen Koalition eingekreist. So scheinen sich etwa die deutschen Studenten noch bereitwilliger als ihre britischen Kommilitonen rekrutieren zu lassen, weil sie meinen, sie müssten als Hüter der einzig wahren europäischen Kultur das Vaterland gegen das Bündnis von barbarischem Osten und materialistischem Westen verteidigen. 36

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Auch Briten, Franzosen und Russen fühlen sich moralisch überlegen: Die einen verteidigen Europa, die anderen ihre slawischen Brüder vor preußischem Militarismus und deutschem Hochmut. Ohne die freudige Erregung der Massen auf den Straßen, vor den Redaktionen und Kirchen, und ohne die Unterstützung der sozialistischen Parteien, die ihre Wähler aufrufen, in der ersten Reihe der Vaterlandsverteidiger mitzuschreiten, ist der schändliche Juli des Jahres 1914 kaum vorstellbar. Zugleich wissen wir, dass Millionen Bauern – in Mittel- und Südosteuropa stellen sie die große Bevölkerungsmehrheit – sich zwar gehorsam rekrutieren und an die Front schicken lassen, doch wenig Begeisterung zeigen. In Russland kommt es bei der Mobilisierung hier und da zu Unruhen, oft in Zusammenhang mit massenhaftem Alkoholkonsum. Maßloses Trinken gehörte zum Ritual der Einberufung, doch nun geht es für die jungen Männer nicht in die Kaserne, sondern an die Front. Das alles scheint vorerst unbedeutsam, ähnlich wie die Tatsache, dass nur in zwei Ländern die Parteien der Sozialistischen Internationale den von den europäischen Sozialisten propagierten Prinzipien treu bleiben und offen gegen den Krieg agitieren – die Bolschewiki und Menschewiki in Russland sowie ihre Genossen in Serbien. Das kollektive Gedächtnis der westeuropäischen Gesellschaften bewahrt die Erinnerung an die fiebrigen, kriegshungrigen Menschenmengen in den Städten. Es kommt zu einer Rückkopplung: Die Massen lassen sich leicht aufbringen und die Politiker wie Journalisten, deren Kriegsrhetorik die Stimmung anheizt, sehen darin einen weiteren Beweis, dass sie im Einklang mit den Interessen und dem Willen des Volkes handeln. Der Schulterschluss der Nation angesichts der Gefahr, das Gefühl der moralischen Überlegenheit über den Feind und der Glaube an einen schnellen Sieg – der Sommer 1914 wirkt schön und erhaben. Entschieden wird freilich in den Kabinetten, nicht auf der Straße. Und man liest diese Geschichte bis heute mit Verwunderung – selten ließen die europäischen Eliten einen solchen Mangel an Verstand erkennen. Am 28. Juni erschießt ein junger österreichisch-ungarischer Bürger serbischer Nationalität eher zufällig den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Gemahlin.

Franz Ferdinand von Österreich-Este Der Neffe Franz Josephs I. war der seit Langem umstrittenste Thronfolger in Wien. Er war bekannt für sein Talent, Menschen zu kränken, für seine A ­ podiktik und seine Arroganz. Zum Thronfolger wurde er 1896 nach dem Tod seines Vaters, dem jüngeren Bruder des Kaisers. Er verfügte über eine solide militäri­ 37

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sche Ausbildung und über Erfahrung als Offizier. Er sah das Potenzial der modernen Militärtechnik und unterstützte die ähnlich denkenden Generalstäb­ ler. Auf zahlreichen exotischen Reisen sammelte er unzählige Jagdtrophäen. Am tschechischen Sitz der Familie in Konopiště ist bis heute eine kleine Auswahl der Überreste seiner schätzungsweise mehr als 250 000 Opfer zu sehen. Gegen den Willen des Hofes heiratete er die schöne Sophie Herzogin von Hohenberg, die als Person niederen Standes (alles ist relativ …) nicht zu offiziellen Feierlichkeiten eingeladen wurde; ihre Kinder wurden von der Thronfolge ausgeschlossen. Der Hof und große Teile des Establishments waren ihm verhasst. Bis zu einem gewissen Grad aber trog der Schein. Franz Ferdinand war mehr als ein arroganter Großherzog, wie es sie in allen Herrscherfamilien zuhauf gab. Er sah den Zustand des Staates kritisch und hielt radikale Reformen für nötig. „Juden, Freimaurer, Sozialisten und Ungarn“12 waren für ihn Feinde der Monarchie. Die Ungarn, die ihre – theoretisch schwächere – Position in der Doppelmonarchie, in der keine Seite ohne die andere existieren konnte, rücksichtslos und effizient ausnutzten, betrachtete er als Schandfleck des Habsburgerreiches. Zudem hatte er eine originelle Idee zur Lösung der südslawischen Frage. Hierbei ging es um das seit 1903 verfeindete Serbien, das 1908 annektierte Bosnien-Herzegowina, die in Cisleithanien lebenden Slowenen sowie das zu Ungarn gehörende Königreich Kroatien. Serbien propagierte die Vereinigung der Brudervölker unter seiner Führung. Franz Ferdinand plädierte für die Schaffung eines südslawischen Königreichs als drittem Glied der Habsburgermonarchie. Die Ungarn wollten davon nichts wissen, ebenso wenig die Deutsch-Österreicher und auch Polen und Tschechen lehnten den Vorschlag ab, denn ihnen schwebte ein Modell vor, in dem sie die Rolle des dritten Gliedes einnehmen wollten. Der Thronfolger spann seine Pläne im schönen Wiener Belvedere ohne Rücksicht auf das zornige Murren fast der gesamten politischen Klasse Österreich-Ungarns. In Europa galt Franz Ferdinand als Anführer der Wiener „Falken“, zu Unrecht, denn er war gegen einen Präventivkrieg. Obwohl er insgesamt den zackigen Stabschef Conrad von Hötzendorf stützte – die zwei verband unter anderem der Glaube an die Armee als Stütze der Monarchie –, stritt er sich unentwegt mit ihm: Der Thronfolger hielt einen militärischen Konflikt für zu riskant. Gegen alle Warnungen reiste er nach Sarajevo. Wir werden nie erfahren, ob am 28. Juni 1914 ein politischer Visionär starb oder ein Hochstapler.

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Europa ist empört. Man weiß, dass es ohne den jahrelangen Konflikt zwischen Österreich und Serbien nicht zu diesem Attentat gekommen wäre. Deshalb ist man überzeugt, dass die Fäden des Komplotts in Belgrad zusammenlaufen. Zwar gibt es keine Beweise, doch mit der bereitwillig dargebrachten Sympathie, Solidarität und Anteilnahme Europas erhält Wien einen erstklassigen Vorwand, um endlich gegen die „Schweinehirten“ jenseits der Südgrenze vorzugehen. Die österreichischen Militärs drängen auf Krieg. Problemlos erhalten sie uneingeschränkte Rückendeckung aus Berlin, wo Conrads Pendant von Moltke seit Langem auf seine Gelegenheit wartet. Niemand stört es, dass Deutschland und Österreich-Ungarn gegensätzliche Kriegspläne verfolgen. Berlin will sieben Achtel seines Heeres gegen Frankreich einsetzen, was eine Verletzung der Neutralität Luxemburgs und Belgiens einschließt. Erst nach der Überwindung des westlichen Nachbarn will es das Gros seiner Landstreitkräfte an die russische Front verlegen. Ein Krieg gegen Russland mit in den ersten Wochen geringer Unterstützung durch Deutschland ist keine verlockende Aussicht, doch Conrad mag das Risiko und verachtet die Russen (von den Serben ganz zu schweigen). In den Berliner Gesprächen eine Woche nach dem Attentat von Sarajevo sichert Deutschland Österreich-Ungarn für den Fall eines Angriffs auf Serbien volle Unterstützung zu. In Wien dauert der komplizierte Entscheidungsprozess an. Der ungarische Premier Graf István Tisza fürchtet einen Angriff auf Serbien. Er argumentiert in Bezug auf die Serben ähnlich wie Prinz Schönaich-Carolath in Bezug auf Polen: Wozu braucht die Monarchie noch mehr Slawen? Nach einwöchiger Diskussion lässt er sich überzeugen. Die Geschichte ist bisweilen grausam: Der einzige mitteleuropäische Politiker, der sich für einige Tage erfolgreich gegen die Katastrophe stemmte, wird im Oktober 1918 von Attentätern als Kriegsverantwortlicher erschossen. Nach Tiszas Kapitulation wartet Wien. Der französische Präsident und Premierminister halten sich zu einem Besuch in Russland auf und man will nicht handeln, solange die potenziellen Gegner sich unmittelbar, ohne Vermittlung von Telegrafen und Diplomaten, beraten können. Am 23. Juli reisen die Franzosen aus St. Petersburg ab. Am selben Tag stellt Wien Belgrad ein Ultimatum. Es ist bewusst so abgefasst, dass ein souveräner Staat es unmöglich akzeptieren kann. Es enthält unter anderem die Forderung nach der Beteiligung von k. u. k. Beamten an den Ermittlungen der serbischen Behörden zum Mord in Sarajevo sowie an der Bekämpfung von Bewegungen gegen die territoriale Einheit Österreich-Ungarns; in beiden Fällen geht es um offizielle Aktivitäten fremder Behör39

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den auf serbischem Hoheitsgebiet, die sich gegen serbische Staatsbürger richten. Die Antwort erwartet Wien binnen 48 Stunden. Am 25. Juli verpflichtet sich Belgrad zur Erfüllung fast aller Forderungen ­Wiens – mit Ausnahme der zwei genannten, die allzu offensichtlich dem Souveränitätsprinzip widersprechen. Mit seiner geschickten Antwort, die unter anderem die Einstellung der antihabsburgischen Propaganda und die Bestrafung der für das Attentat Verantwortlichen verspricht, verblüfft Serbien sogar Wilhelm II.: Belgrad habe sich öffentlich demütigen lassen, sodass es keinen Anlass gebe, einen Krieg zu beginnen, schreibt der Kaiser enttäuscht. Trotzdem nutzt Wien die Gelegenheit – zwei Bedingungen des Ultimatums wurden schließlich nicht erfüllt – und erklärt Serbien am 28. Juli den Krieg. Im Lauf dieses Monats wurden Berlin und Wien oft gewarnt, Russland werde sich keinen erneuten Gesichtsverlust erlauben und Serbien zur Seite springen, der Automatismus des russisch-französischen Bündnisses werde greifen, auf Italien werde man sich nicht verlassen können, wohingegen Großbritannien wohl eher nicht tatenlos zusehen werde. Alles vergebens. Am 30. ruft Russland die Mobilmachung aus, einen Tag später Österreich-Ungarn und Belgien. Am 1. August folgen Deutschland und Frankreich. Deutschland erklärt Russland den Krieg. Tags darauf besetzt Deutschland Luxemburg und stellt Belgien ein Ultimatum. Am 3. August erklärt Deutschland Frankreich den Krieg und erhält ein Ultimatum Großbritanniens. Tags darauf greift Deutschland Belgien an und Großbritannien tritt in den Krieg ein. Am 6. August erklärt Österreich-Ungarn Russland den Krieg. Einen Tag später landen die ersten Einheiten des britischen Expeditionskorps in Frankreich, am 12. August greift die österreichisch-ungarische Armee Serbien an, drei Tage später marschieren die Russen in Ostpreußen ein. Montenegro hat sich schon früher Serbien angeschlossen; das Osmanische Reich tritt im Oktober als Verbündeter der Mittelmächte in den Krieg ein. Auf dem Balkan bleiben Bulgarien, Rumänien und Griechenland vorerst neutral.

*** Die Mitte und der Osten des Alten Kontinents wurden von verblendeten Großmächten in den Krieg gezogen. Am wenigsten gilt dies für Deutschland und die Deutschen. In Mittel- und Osteuropa war nur das Deutsche Reich Großmacht und moderner Nationalstaat, seine Politiker und Militärs dachten imperial und national. Dennoch waren sie ebenso verblendet wie alle anderen, indem sie sich und ihren Landsleuten einredeten, Deutschland sei von Feinden umgeben und 40

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nur ein großer Präventivschlag im Westen und Osten könne den sich zusammenziehenden Kordon der Nachbarn zerschlagen, bevor es zu spät sei. Österreich-Ungarn wollte eigentlich nur Serbien bestrafen, mit zunehmendem Kriegsfieber dann unschädlich machen. Russland zog einzig und allein in den Krieg, um seinen angekratzten Großmachtstatus zu retten. Keine der Großmächte verfolgte eines der traditionellen Kriegsziele – regionale Hegemonie, die Annexion strittiger Provinzen oder die Platzierung eines Verbündeten auf einem fremden Thron. Christopher Clark nennt die imperialen Entscheidungsträger treffend „Schlafwandler“.13 Einige Wochen nachdem der im Juli ausgelöste Dominoeffekt die europäische Ordnung schon unwiderruflich zerstört hatte, bezeichnete der russische Premierminister Sergei Witte den Krieg als schieren Wahnsinn: „Was können wir von ihm erwarten? Territorialen Zuwachs? Das Land seiner Hoheit des Zaren ist doch ohnehin schon groß genug …“14 Hätte auch nur einer der verantwortlichen Politiker im Sommer 1914 geahnt, in was er sein Land hineinführt – er hätte sicher nicht sein Scherflein zum Untergang des Europas des 19. Jahrhunderts und zur Welt der Imperien beigetragen.

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Kapitel 2 Präludium – der Balkan 1912–1913 Im Sommer 1914 lag der letzte große Krieg in Europa mehr als vierzig Jahre zurück. Es war eine Zeit nie da gewesenen ökonomischen und kulturellen Fortschritts. Der lange Frieden begünstigte Wohlstand, technische Entwicklung und sozialen Wandel. Zwischen der französischen Niederlage im Krieg mit Preußen 1871 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden in den europäischen Städten Straßenbahnen eingeführt, in den größeren – London, Paris, Berlin oder Budapest – sogar U-Bahnen. Es entstanden neue Fabriken, deren Arbeiter als Gruppe so stark wurden, dass die Politik sie zu umwerben begann. Die Großmächte führten zwar überseeische Feldzüge, deren Präsenz im Alltag der Europäer sich aber auf die Schlagzeilen der Tageszeitungen beschränkte. Nicht nur in Westeuropa herrschten Frieden und Fortschritt. Auch aus dem Erfahrungshorizont der meisten Bewohner Ostmitteleuropas war der Krieg verschwunden. Wenn er doch darin auftauchte, war er zeitlich und geografisch weit entfernt. Zwischen Warschau und der Mandschurei, wo Anfang 1905 die russische Niederlage im Krieg mit Japan besiegelt wurde, liegen mehr als 8000 Kilometer. Für die Länder südlich der Donau hingegen war dieser Zeitabschnitt eine Abfolge von Kriegen, Aufständen, Rebellionen und Umstürzen. Selbst wenn wir ‚gewöhnliche‘ Staatsstreiche und Königsmorde außer Acht lassen, war die Dynamik gewaltsamer Veränderungen außergewöhnlich stark. 1876 brach der bulgarische Aufstand gegen die Osmanen aus, dem sich auch Serben und Montenegriner anschlossen. Daraus wurde ein zweijähriger Krieg, in dem Russland den unterdrückten „slawischen Brüdern“ zu Hilfe eilte und an dessen Ende die russische Armee vor den Toren Konstantinopels stand. Der Berliner Kongress beruhigte die Lage nur kurz. 1883 erhoben sich die serbischen Bauern gegen ihren Staat. Sie rebellierten gegen die erdrückende Steuerlast, doch unmittelbarer Anlass der Revolte war die Konfiskation von privaten Waffen. Es folgte eine Reihe von Bauernaufständen auf dem Balkan bis hin zum größten 1907 in der rumänischen 42

Präludium – der Balkan 1912–1913

Moldau, wo bei Auseinandersetzungen mit der Armee rund 10 000 Menschen starben, das heißt proportional mehr als während der Russischen Revolution der Jahre 1906–07. 1885 annektierte Bulgarien die autonome osmanische Provinz Ostrumelien, worauf Serbien mit einem unerwarteten Angriff reagierte. Die Bulgaren schlugen die Attacke bei Slivnica zurück. 1893 entstand die Innere Makedonische Revolutionäre Organisation (IMRO), die zunächst politisch, bald aber mit Terrorakten für die Autonomie der makedonischen Vilajets (Provinzen) des Osmanischen Reiches kämpfte. Drei Jahre später führte ein Aufstand der griechisch-orthodoxen Bevölkerungsmehrheit gegen die osmanische Herrschaft auf Kreta zum Türkisch-Griechischen Krieg; trotz der griechischen Niederlage musste der Sultan unter dem Druck der Großmächte der Insel eine weitgehende Autonomie unter Kontrolle westeuropäischer Truppen gewähren. Die ständigen Konflikte waren eine der Ursachen für die schleppende Modernisierung des Balkans. Kriege kosten Geld und die Region litt an chronischem Kapitalmangel. Nur die rumänische Ölindustrie zog schon vor dem Ersten Weltkrieg in nennenswertem Umfang ausländische Investoren an. Abgesehen davon, war Rumänien wie die übrigen Länder auch auf Kredite aus Frankreich, Deutschland oder Österreich-Ungarn angewiesen, um Investitionen zu finanzieren, ohne die ein modernes Staatswesen nicht auskam: Schulen, Krankenhäuser, vor allem aber die Armee. Die Gesellschaften auf dem Balkan waren überwiegend agrarisch geprägt und konservativ. Nur in Griechenland lebten mehr als 20 Prozent der Bevölkerung in Städten. Als größte Stadt der Region hatte Bukarest – das „Paris des Ostens“ – am Ende des ersten Jahrzehnts etwas über 300 000 Einwohner, etwa halb so viel wie Lodz. Die Hauptstadt Serbiens war mit weniger als 100 000 Einwohnern fünfmal kleiner als Riga. Obwohl Europa den jungen Balkanstaaten enteilte, war ihre kurze Geschichte von zivilisatorischen und territorialen Erfolgen geprägt, letztere immer auf Kosten des Osmanischen Reiches. Die ständigen Demütigungen durch die Nachbarstaaten und die sie unterstützenden Großmächte sowie ausbleibende Reformen führten 1908 zu einem Aufstand innerhalb der osmanischen Armee, der den Auftakt zur Jungtürkischen Revolution bildete. Abgesehen von der allgemeinen Forderung nach Reformen, hatte die Bewegung keine festen Strukturen und kein konkretes politisches Programm. Erster Schritt war die Wiedereinführung der liberalen Verfassung aus dem Jahr 1876 (eigentlich handelte es sich um eine Einführung, da sie zuvor nicht in Kraft getreten war), 1909 musste der erzkonservative Sultan Abdülhamid II. abdanken. Anfangs genossen die jungen Offiziere, die das Fundament der Revolution bildeten, die Unterstützung der 43

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nationalen Minderheiten, zumal der Albaner. Bald aber zeigten sich die autoritären Züge des neuen Regimes. Die neu entstandenen Parteien und politischen Organisationen wurden für illegal erklärt. Die Empörung war dort am größten, wo die Revolution die größte gesellschaftliche Energie freigesetzt hatte – in Albanien. Der Widerstand der Albaner mündete in einen Aufstand gegen die erdrückende Steuerlast und die Zentralisierungspolitik. Der Armee gelang es nicht, ihn zu unterdrücken. Das Gelände war bergig, die Bevölkerung kampfbereit. Die Montenegriner lieferten den Aufständischen heimlich Waffen. Die größte Gefahr für die osmanische Herrschaft lag aber woanders. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten neben ethnischen Türken und Kurden die muslimischen Albaner das größte Kontingent der osmanischen Armee gestellt, viele von ihnen hatten militärisch Karriere gemacht. Noch während der Balkankriege sollten sich einige Armee- und Korpskommandeure der osmanischen Truppen auf ihre albanische Abstammung berufen. Die Eruption des albanischen Nationalismus deutete an, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern würde. Unterdessen wurde die Position der Hohen Pforte mit jedem Monat schwächer. Zu allem Überfluss startete im Herbst 1911 Italien eine stark verspätete Aufholjagd im Wettlauf mit den Kolonialmächten. Als Kolonie erkor es sich das osmanische Libyen aus und griff Tripolis an. Die vom Landesinneren abgeschnittenen osmanischen Garnisonen schlugen sich wacker und nichts deutete auf eine schnelle Kapitulation Istanbuls hin. Italienische Aktivitäten abseits der Hauptkriegsschauplätze sorgten aber für eine dramatische Verschlechterung der Situation. Die italienische Flotte blockierte die Dardanellen, legte den Seehandel lahm und beschoss auch Beirut. Und schlimmer noch, sie versorgte die rebellierenden Albaner mit Waffen und Geld.

Die makedonische Frage Auf dem Balkan brodelte es, am heftigsten in den Welajets Manastır, Thessaloni­ ki, Kosovo und Adrianopel, also in den Provinzen Makedonien und Thrakien. In Makedonien lebten Menschen christlichen und muslimischen Glaubens, die sich als Bulgaren, Serben, Albaner oder Griechen fühlten. Thessaloniki, die größte Stadt der Region, war außerdem Heimat der größten Gemeinde sephardischer Juden im Osmanischen Reich. Hinzu kamen ethnische Gruppen, deren Existenz europäische Diplomaten bis heute mitunter in Erstaunen versetzt – etwa die Aromunen (ein Hirtenvolk mit einer dem Rumänischen verwandten Sprache) oder die Pomaken (bulgarischsprachige Muslime) –, und nicht zuletzt Türken: Bauern, Grundbesitzer und zahlreiche Militärs. In der Garnison Thessaloniki formierte 44

Präludium – der Balkan 1912–1913

sich die osmanische Reformbewegung, die in die Jungtürkische Revolution mündete. Die Eliten – sowohl die türkisch-osmanischen als auch die einheimischen slawischen, albanischen und griechischen – legten in ihren Aktivitäten fiebrige Eile an den Tag, sie schmiedeten fantastische Pläne und schrieben dramatische Manifeste. Die jungtürkischen Offiziere, albanischen Journalisten oder bulgarischen Lehrer hatten ihre Gründe: Sie alle fühlten sich isoliert im mühseligen Kampf nicht nur gegen den Feind, sondern vor allem gegen die Gleichgültigkeit ihrer potenziellen Landsleute und Verbündeten, die sich kaum für die Bewegungen der Reformer, Erwecker und Erneuerer interessierten. Die überwiegende Bevölkerungsmehrheit in den zwei Provinzen bestand aus schriftunkundigen Bauern ohne nationales Bewusstsein. Um sie tobte ein Kampf, der im Lauf der Zeit den ganzen Balkan erfasste. Die Eliten wollten aus den amorphen Massen eine Nation formen. Die lokale Identität der „Hiesigen“ sollte durch das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer durch Sprache, Geschichte, Kultur und – im besten Fall bald schon – neue Staatsgrenzen bestimmten Gemeinschaft ersetzt werden. Die Erwecker merkten auf Schritt und Tritt, wie wenig man auf sie wartete. Als einer von ihnen, ein Grieche, makedonische Bauern fragte, ob sie sich eher als Griechen oder als Bulgaren fühlten, bekreuzigten sich diese und antworteten: „Wir sind Christen, aber was meinst du mit Romaioi (Griechen) oder Voulgaroi (Bulgaren)?“ Die Erwecker versuchten zunächst zu überzeugen, dann gingen sie zu Drohungen über; eine Pistole war meist das wirksamste Argument. Wenn Soldaten oder (teils von einem Nachbarstaat gedungene) lokale Guerillas auf orthodoxe Glaubensbrüder trafen – mit Muslimen war es komplizierter –, war es meist nicht nötig, den Anführer zu exekutieren; die Androhung genügte. Die Bauern bekannten sich zu jeder ihnen auf diese Weise angetragenen Nationalität.1 In dieser Situation operierte auch die 1893 gegründete IMRO. Sie hatte kein festes Programm. Offenkundig war das Bestreben, die Herrschaft des Sultans abzuschütteln, der Rest war eine Mischung aus sozialistischen, anarchistischen und föderativen Ideen. Die makedonischen Revolutionäre standen dem sprachlich und kulturell verwandten Bulgarien nahe. Von dort kamen Geld und Waffen, dorthin flüchteten von Verhaftung bedrohte Aktivisten. Diese bildeten freilich nur einen kleinen Teil der zahl- und einflussreichen makedonischen Emigration, die vor allem in Sofia präsent war. Im Jahr 1900 stammte fast ein Viertel der rund 70 000 Einwohner der Stadt aus einem der drei makedonischen Welajets. Der bulgarische Einfluss in der IMRO war ausschlaggebend für den Übergang von 45

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der Dauerguerilla zur offenen Rebellion. Allerdings führte das schlecht geplante Vorgehen der Aufständischen (die je nach Nationalität „komiti“, „komitacı“ oder „komitadschi“ genannt wurden) 1903 in Makedonien und später im benachbarten Thrakien lediglich zu türkischen Repressionen und zur Schwächung der Position Bulgariens in der Region. Die IMRO war nicht die einzige Bewegung, die Anspruch auf die Herrschaft über Makedonien erhob. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts agierten in Makedonien politische und bewaffnete Gruppierungen aus mindestens fünf unterschiedlichen Lagern. Serben und Griechen unterhielten eigene Četas (Partisaneneinheiten). Die osmanische Regierung versorgte die muslimische Bevölkerung mit Waffen und drückte bei Terrorakten gegen die orthodoxen Nachbarn ein Auge zu. In der Regel wurden diese Einheiten von ehemaligen oder beurlaubten Offizieren des regulären Heers angeführt. Die nach Makedonien entsandten Militärs glaubten, sie träfen hier auf Landsleute, die es vor osmanischer Unterdrückung, christlicher Gewalt und in jedem Fall vor den feindlichen Nachbarn zu schützen gelte. Als sie merkten, dass dem nicht so war und sie keineswegs mit offenen Armen empfangen wurden, war die logische, wiewohl irrige Schlussfolgerung, die „Propaganda“ der Gegner sei daran schuld. Die in politischen Debatten ungeübten Partisanen pflegten solche Angelegenheiten mit Messer und Gewehr zu regeln. Opfer des Terrors wurden inbesondere Intellektuelle aller Lager, die man beschuldigte, die Bevölkerung zu ihrem religiösen oder nationalen Glauben „bekehren“ zu wollen. Schließlich hatte auch eine Gruppe innerhalb der IMRO genug von diesem Zustand. Das Scheitern der Aufstände von 1903 und die dadurch ausgelöste Welle neuer Gewalt beschleunigten die Formulierung eines makedonischen Autonomieprogramms. Einige Monate nach Einstellung der Kampfhandlungen schrieb der IMRO-nahe Intellektuelle Krste Petkow Misirkow (notabene in einem in Sofia veröffentlichten Buch): […] ich habe nicht vor, zu bulgarischen Bedingungen in die Politik einzutreten. Ich bin Makedonier und die Bedürfnisse meines Landes ließen mich zu folgenden Schlüssen gelangen: Die Feinde Makedoniens sind nicht Russland und Österreich-Ungarn, sondern Bulgarien, Griechenland und Serbien. Nur der entschiedene Kampf gegen diese drei Staaten kann unsere Heimat vor der Vernichtung bewahren.2 Bulgarien suchte nach dem Scheitern der von ihm unterstützten Aufstände nach anderen Wegen, um die europäischen Provinzen des osmanischen Reiches in seinen Besitz zu bringen. Die Alternative zum selbstständigen Handeln bestand 46

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Demonstration von Befürwortern eines Kriegs gegen die Türkei (Sofia, 1912).

in einem Bündnis mit den übrigen Balkanstaaten, das freilich alles andere als leicht zu verwirklichen war. Das Einzige, was Serbien, Bulgarien und Griechenland einte, war das Streben nach territorialem Zuwachs auf Kosten der Osmanen. Dagegen standen die Erinnerung an die Konflikte der jüngeren Zeit und – natürlich – die makedonische Frage. Zudem stritten selbst so eng verbundene Länder wie Serbien und Montenegro um Gebiete und Ansprüche (sowohl die serbische Karađorđević- als auch die montenegrische Njegoš-Dynastie beanspruchten die Herrschaft über beide Länder). Für eine Zusammenarbeit sprachen hingegen die sich verschärfende Krise des Osmanenstaats, das Chaos in den albanischen Welajets und – zumal aus serbischer Sicht – die immer konkretere Bedrohung durch Österreich-Ungarn, das 1908 Bosnien und die Herzegowina offiziell annektiert hatte. Erst im Frühjahr 1912 kam es unter Mitwirkung der russischen Diplomatie zu einem Abkommen. Die widerstreitenden Interessen der Bündnispartner waren so gravierend, dass man die endgültige Aufteilung der bulgarischen und serbischen Einflusssphären in Makedonien einer zukünftigen Entscheidung Russlands überlassen wollte. Der bulgarisch-griechische Vertrag behandelte erst gar keine Territorialfragen. Beschleunigt wurde der Kriegsausbruch durch die Befürchtung, dass weiteres Abwarten die Annexionspläne zunichtemachen könnte. 47

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In den albanischen Welajets zeichnete sich ein albanisches Staatswesen unter österreichisch-ungarischem Patronat ab und Italien verlagerte die Kriegshandlungen gegen das Osmanische Reich in die Ägäis. Unter den Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts musste man mit einer Intervention der Großmächte rechnen. Die Balkanstaaten fühlten sich zwar stark genug, deren Vorschläge gelegentlich zu ignorieren, waren aber zu schwach, um offenen Widerspruch zu wagen. Also musste man schnellstmöglich herausholen, was herauszuholen war, und später seine Beute verteidigen. Über den endgültigen Angriffstermin entschied zudem ein für die agrarisch geprägten Länder wichtiger Faktor: Die Mobilmachung erfolgte erst nach Abschluss der Ernte. Die Angriffe Bulgariens, Serbiens, Montenegros und Griechenlands waren koordiniert und erfolgten nahezu zeitgleich. Die ersten Kämpfe fanden im Oktober an der türkisch-montenegrinischen Grenze statt.

Der Erste Balkankrieg In diesem Krieg standen sich Armeen in verschiedenen Modernisierungsphasen gegenüber. Am rückständigsten in dieser Hinsicht war Montenegro, das sukzessive seine geringen Streitkräfte reformierte, die ein Mittelding zwischen Stammesmiliz und regulärer Armee bildeten. Das Osmanische Reich befand sich mitten in einer tiefgreifenden Armeereform, deren erste Auswirkung die Desorganisation und Zerschlagung des bisherigen Systems war. Der deutsche General und türkische Marschall Wilhelm Colmar von der Goltz, der sich um den deutschen Waffenexport wie um die Reform der türkischen Armee verdient machte, benannte noch vor dem Krieg ihre Schwachstellen: Der Glanzpunkt der türkischen Armee sei der gemeine Mann. An Aus­dauer, Leistungsfähigkeit und Genügsamkeit habe die Welt diesem prächtigen Material kaum etwas Gleichwertiges gegenüberzustellen. Ich habe Bataillone gesehen, die nach den außerordentlichen Marschleistungen trotz mangelhaf­ tester Verpflegung pünktlich in die vorgeschriebenen Stellungen eingerückt­ seien. Auf diese Genügsamkeit des türkischen Soldaten scheine man aber all­ zu viel zu rechnen, denn der wundeste Punkt des türkischen Heeres sei die Intendanz, der Nachschub von Proviant und auch von Munition. In diesem für den Erfolg im Ernstfall so überaus wichtigen Punkte sei nahezu noch alles zu leisten.3 Trotz der Unterstützung durch deutsche Instruktoren und der Schulung türkischer Offiziere an deutschen Militärakademien kam die Erneuerung der Armee 48

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nur langsam voran. Bei Kriegsbeginn verfügte das stehende Heer – Nizam – über eine gewisse Ausbildung. Ein Krieg neuen Typs erforderte es aber, die Masse der Wehrpflichtigen in den Kampf zu schicken. Die türkische Reserve – Redif – war wesentlich schlechter bewaffnet (und zudem mit Gewehren unterschiedlichen Kalibers, was die Munitionsversorgung deutlich erschwerte), ihre Offiziere waren lokale Beamte, die teils über keinerlei militärisches Wissen verfügten. Wie sich schon bald zeigte, war die Ausstattung mit modernen Gewehren allein zu wenig, um aus der Redif eine schlagkräftige Armee zu machen. In den Kämpfen gegen die Bulgaren wurde klar, dass ein Teil der Reservisten nur mit Waffen älteren Typs zurechtkam und nicht wusste, wie man die Munitionskammer der frisch ausgehändigten Mauser öffnete. Und während sich der Nizam überwiegend aus Soldaten türkischer Nationalität und muslimischen Glaubens zusammensetzte, dienten in der Redif auch Christen und Juden. Viele türkische Militärs stellten deren Loyalität offen infrage, was die Stimmung in der Armee nicht verbesserte. Das geradezu psychotische Misstrauen gegenüber den vermeintlichen Spionen richtete mehr Schaden als mögliche Verschwörungen fremder Agenten an. Die Sorge vor undichten Stellen oder Sabotage manifestierte sich in unterschiedlichen Formen. Noch während der Operationen in Thrakien erhielten die türkischen Telegrafisten den Befehl, auf Deutsch zu telegrafieren. Damit wurden die Botschaften nicht nur für sie, sondern auch für einen Teil des türkischen Offizierskorps unverständlich. Dies wiederum führte dazu, dass zum Empfang eines Teils der Anweisungen und Befehle die wenigen in Deutschland geschulten Offiziere eingesetzt werden mussten. Noch gravierendere Folgen hatte die Entlassung aller christlichen Eisenbahner im Operationsgebiet, die zusammen mit den herbstlichen Regenfällen den Bahntransport fast vollständig lahmlegte. Zu allem Übel saß ein Teil der regulären osmanischen Streitkräfte in Nordafrika fest, wo gerade der Krieg gegen Italien zu Ende war, und das schlecht ausgebaute Schienennetz verhinderte einen schnellen Transport der asiatischen Reserven. Die Aktivitäten der griechischen Kriegsmarine erschwerten zudem den Transport auf dem Seeweg. Der stärkste und am besten organisierte Gegner des Osmanischen Reiches war Bulgarien, das als einziges Land seine höheren Kader nicht nur im Ausland ausbilden ließ, sondern auch eine eigene Offiziersschule in Sofia unterhielt. Als einziges Land nahm es auch die militärische Schulung seiner Wehrpflichtigen ernst. Der zwei- (Infanterie) bzw. dreijährige (Kavallerie) Wehrdienst erfasste im Prinzip alle Männer, eine bezeichnende Ausnahme galt für Muslime, die sich freikaufen konnten. Auch bei den Reserveübungen gab es keine Schlupflöcher. 49

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Ein nicht unwichtiger Faktor für die Qualität der Armee war die allgemeine Bildung. Bulgarien erzielte die vergleichsweise größten Erfolge im Kampf gegen den Analphabetismus. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert konnten 72 Prozent der Einwohner weder lesen noch schreiben (in Rumänien waren es 78 Prozent, in Serbien 80 Prozent). Doch Bulgarien investierte am meisten ins Schulwesen. In Serbien kamen auf 1000 Schüler drei Lehrer, in Bulgarien zehn. 80 Prozent der Kinder gingen zur Schule, ein in den anderen Balkanstaaten unerreichter Wert. Die übrigen Gesellschaften des Balkans waren weder vergleichbar gebildet noch vergleichbar militarisiert. In Griechenland und in Serbien war der Wehrdienst deutlich kürzer als in Bulgarien. Das ständig am Rande des Bankrotts taumelnde Griechenland schulte nur einen Teil der Wehrpflichtigen jedes Jahrgangs, in Serbien war der Wehrdienst semioffiziell gekürzt worden. Vor diesem Hintergrund stellte Bulgarien nicht nur die zahlenmäßig größte und am besten ausgebildete Armee zum Kampf auf, sondern mobilisierte auch die meisten Reservisten, indem es sogar Soldaten im Alter von über 40 Jahren nach Thrakien und Makedonien schickte, während das Gros der dort kämpfenden Serben und Griechen das 30. Lebensjahr nicht überschritt. Hinsichtlich der Ausrüstung gab es keine großen Unterschiede zwischen den Verbündeten. Alle Armeen verfügten im Ersten Balkankrieg über moderne Waffen: Gewehre und Kavalleriekarabiner (Mannlicher oder Mauser), Maschinengewehre (Maxim) sowie deutsche und französische Geschütze (Schneider-Creusot und Krupp). Der Konkurrenzkampf zwischen den größten Rüstungskonzernen Europas wurde von der internationalen Presse aufmerksam beobachtet. Deutsche und französische Journalisten interessierte die Frage, wessen Geschütze besser seien: die von Bulgaren und Serben eingesetzten französischen oder die vom osmanischen Heer eingesetzten deutschen. Die gesamte Ausstattung der regulären Truppen beider Seiten stand in fast nichts hinter der Ausstattung der westeuropäischen Armeen zurück. Schon zwei Jahre später sollte sie an den Fronten des Ersten Weltkriegs weitere Tests durchlaufen. Weitaus schlechter bewaffnet waren die Reserveeinheiten, die teils noch einschüssige Karabiner mit Schwarzpulver verwendeten (dessen Rauch nach dem Schuss die Position des Schützen verriet). Diese hatten aber nur einen vergleichsweise geringen Anteil am Offensivkrieg, der auf dem Territorium des Gegners geführt wurde. Ab dem Frühjahr 1912 verdichtete sich die kämpferische Stimmung. Die bulgarische, serbische und griechische Presse stellten plötzlich die bis dahin verbreitete Kritik an den Verbündeten ein und betonten zunehmend die Einheit der Christen und – in Serbien und Bulgarien – Slawen. Der Konflikt in Makedonien 50

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wurde nun türkischen Intrigen und der Unmenschlichkeit der Albaner zugeschrieben. Die Nachricht vom Krieg gegen den „ewigen Feind“ wurde in Sofia, Belgrad und Athen begeistert aufgenommen. Der griechische König Georg I. verkündete, man verteidige die Zivilisation. Selbst in Istanbul, wo die Nachricht von einem neuen Krieg kaum Euphorie auslösen konnte, war die Stimmung nicht schlecht: Auf den Straßen ein buntes Treiben. Fortdauernd sieht man lange Trupps von Männer vorbeiziehen, die sich zu je zweien an der Hand halten, singend durch die Straßen zur Taxim-Kaserne geführt werden, wo man sie einkleidet. In Stambul, auf dem großen Platz vor dem Kriegsministerium ist ein Heerlager eingerichtet; von dort aus marschieren dann die Truppen zum Bahnhof, wo sie verladen werden, um zur Front abzugehen.4 Der osmanische Generalstabschef Nazım Pascha war kein großer Stratege. Wie die meisten Militärs seiner Zeit glaubte er, dass der Vorteil in jeder Lage aufseiten der Angreifenden liege. Also beschlossen die Osmanen als eigentlich Überfallene selbst anzugreifen, wo immer sich die Möglichkeit bot. Doch aufgrund von Transportproblemen, schlechter Organisation und weiten Entfernungen verfügten sie in Europa über höchstens halb so viele Soldaten wie die Gegner. Zudem bestand die Bevölkerung der europäischen Welajets aus Christen, denen man misstraute und die man nicht als Mitbürger behandelte. Die in feindlich gesinnter Umgebung gegen einen überlegenen und entschlossenen Gegner kämpfende Armee sollte ein tragisches Schicksal erleiden. In Thrakien wurde der Krieg de facto binnen zehn Tagen entschieden. Vom 22. Oktober bis zum 2. November rückten die Bulgaren, nachdem sie einen türkischen Angriffsversuch zurückgeschlagen hatten, auf Istanbul vor und schlugen das osmanische Heer in zwei großen Schlachten bei Kirk Kilisse und Bunarhissar vernichtend. Es fiel Regen, der in Schnee überging, nachts sanken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt. Unter diesen Bedingungen erwies sich von der Goltz’ Diagnose als erschreckend richtig. Die Türken leisteten zunächst erbitterten Widerstand, zumal bei Bunarhissar, wo beide Seiten jeweils rund 20 000 Verwundete, Tote und Gefangene verzeichneten. Überall aber wiederholte sich derselbe Verlauf. Nach Tagen blutiger Kämpfe kam eine Nacht, in der die türkische Redif ausruhte und ihre Absicherung vernachlässigte. Die Bulgaren unternahmen auch in der Dunkelheit bewaffnete Ausfälle, die immer wieder Panik auslösten und dazu führten, dass die Redif-Kämpfer massenhaft vom Schlachtfeld flohen. Gemäß der Lieblingstaktik russischer Militärs, mit denen 51

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viele bulgarische Offiziere persönliche Kontakte pflegten, griffen sie oft mit dem Bajonett an. Im Kampf mit einem besser geschulten und gut eingegrabenen Gegner wäre der Ausgang höchst ungewiss gewesen. Hier aber saßen müde und demoralisierte Reservisten hinter den Stacheldrahtverhauen. Der Fanatismus der angreifenden Bulgaren machte auf sie einen enormen Eindruck. Gustav von Hochwächter, ein deutscher Offizier im Stab des Kommandierenden Generals des III. Korps, Mahmud Muhtar Pasha, der an den Schlachten bei Kirk Kilisse und Bunarhissar teilnahm, war Augenzeuge der blamablen Niederlagen. Er berichtete von einer Armee, die sich im Grunde selbst besiegte. Es fehlte an kompetenten Offizieren und Unteroffizieren, die es gewagt hätten, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Je näher der Feind war, desto weniger Initiative zeigten sie. Zudem beging man einfache, aber kostspielige Fehler. Beobachter verblüffte die Sturheit, mit der die Türken Geschütze in vorgeschobenen Stellungen positionierten. Jede gelungene bulgarische Attacke bedeutete somit den Verlust nicht nur von Menschen und Terrain, sondern auch von wertvollem Gerät. Die Reservisten hatten keine Stiefel, sie hatten nicht gelernt, Schützengräben auszuheben, es waren sogar Invaliden unter ihnen; Hochwächter begegnete Blinden, die aus Familientradition ihren Vätern in die Armee gefolgt waren. Jeder Ausbruch von kollektiver Panik ging mit einer wilden Kanonade einher. Auf diese Weise verschossen die osmanischen Soldaten sinnlos Munition, die am folgenden Tag nicht ersetzt werden konnte. Die Moral war am Boden, die Bereitschaft, für das Vaterland den Hals hinzuhalten, gering – davon zeugten die häufigsten Verwundungen: Schüsse in Hände und Arme, die die Soldaten absichtlich aus den Gräben hielten. Die Trosse versanken im Morast, die Fuhrleute spannten in Panik die Pferde aus und flohen Richtung Istanbul. Die an die vorderste Front marschierenden Einheiten sahen die zurückgelassene Ausrüstung, Munitionskisten, Geschütze. An die Verwundeten dachte man überhaupt nicht: „Auch der Anblick der verfrorenen nassen Verwundeten ist demoralisierend. Ambulanzen fehlen. Verbandplätze sind nicht da. Selbst kein Wasser, um die Wunden zu waschen.“ Der Rückzug wurde ebenfalls zur Katastrophe: „Alles ist voller Soldaten. Die Straßen sind versperrt durch Wagen und Kanonen, die Bewohner (christliche Bauern) schießen aus den Häusern auf Offiziere. Der Lärm und das Durcheinander sind unbeschreiblich.“5 Während des Rückzugs beschoss die türkische Artillerie nicht selten irrtümlich die eigenen Einheiten. Der Kommandeur des III. Korps wollte das Chaos persönlich unter Kontrolle bringen und trieb die flüchtenden Soldaten in die Schützengräben. Vergeblich. In seinen Erinnerungen konstatiert er verbittert: 52

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Bulgarische Soldaten und Freiwillige bewachen die Überreste einer von den zurückweichenden Türken gesprengten sowie eine neue, provisorische Brücke über die Arda.

In der Kriegsgeschichte findet man zum Vergleiche keinen derartigen Rückzug ohne jeden Grund und keine derartige Flucht. Die Bulgaren hatten ohne jeden Kampf einen großen Sieg erlangt. Die Türken haben, ohne vom Feinde gedrängt zu werden, lediglich durch Regen und grundlose Wege so vom Mißgeschicke betroffen, etwa ein Drittel des Kriegsmaterials im Stiche gelassen; sie flüchteten wie nach einer Niederlage.6 Zu den Bulgaren gesellte sich bald ein weiterer Feind: die Cholera, die vermutlich von Reservisten aus Anatolien eingeschleppt wurde. Die Nässe und der Mangel an sauberem Wasser beschleunigten ihre Ausbreitung. Wie Hochwächter schreibt, sahen Mitte November nur die Fronteinheiten noch halbwegs gesund aus. Das Hinterland war voll von Kranken, um die sich niemand kümmerte: Am Bahnhof [Hadimköy] konnte man kaum durchkommen. Tausende von hohlwangigen Menschen, mit stieren, brennenden Augen, schleppten sich zu den zwei langen Zügen, und versuchten die Wagen und Dächer zu ersteigen. Auf diesen lagen schon Tote, die dort gestorben waren, und die Glieder hingen an den Wänden herab; selbst zwischen den Wagen lagen sie. Wer noch nicht krank war, mußte es dort werden. Offiziere und Ärzte sah man kaum, sie müssen wohl auch der Seuche zum Opfer gefallen sein.7 53

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Mit den Soldaten flüchtete die muslimische Zivilbevölkerung. Alle wollten nach Istanbul. Die türkische Schriftstellerin und Politaktivistin Halide Edib beobachtete entsetzt die ausgemergelten Ankömmlinge: Flüchtlinge, die Makedonien in Panik verlassen hatten, füllten die Istanbuler Moscheen. Eine Cholera-Epidemie forderte viele Opfer unter den Immigran­ ten und den Soldaten. Das Elend, das in jenem Winter in Istanbul herrschte, ist unvorstellbar.8 Unterdessen rückten die bulgarischen Truppen auf Istanbul vor. Eine Wiederherstellung des Byzantinischen Reiches unter der Herrschaft des bulgarischen Zaren Ferdinand I. schien mit einem Mal denkbar. Am 6. November wandte sich der Großwesir Kâmil Pascha an die Großmächte und bat um die Entsendung einer Flotte zur Verteidigung Istanbuls gegen die entschlossen „auf Zarigrad“ marschierenden Bulgaren. Die letzte Linie, an der die Türken sie aufhalten konnten, waren die Befestigungen von Çatalca. Sie besetzten den schmalen Streifen zwischen Schwarzem Meer und Marmarameer. Die Bewaffnung folgte den Instruktionen deutscher Experten. Zwar war kurz vor dem Krieg ein Teil der Artillerie in die Festung Edirne verlegt worden, doch auch so war Çatalca eine hervorragende Verteidigungsposition. Dieses Mal war das Schicksal den Türken wohlgesinnt. Je weiter die Bulgaren auf osmanisches Gebiet vordrangen, desto länger wurden ihre Nachschubwege. Der Transport wurde durch dieselben Faktoren behindert, die auch die türkische Armee gelähmt hatten: schlechte Wege, ungünstiges Wetter, Morast. Eine mehrere Hunderttausend Köpfe zählende Armee vor Ort zu verpflegen, war undenkbar. Schon zu Beginn des Feldzugs in Thrakien hatten die Bulgaren ihre Offensive nach jedem Sieg unterbrochen. Statt den fliehenden Türken nachzusetzen, hatten sie gerastet und für Nachschub gesorgt. Die Türken hatten somit nach jeder Niederlage Zeit, ihre zerstreuten Einheiten zu sammeln und zu ordnen. Anfangs konnten die Bulgaren auf ein recht effektives System von Feldlazaretten zurückgreifen, ihre Verwundeten brachten sie in die Krankenhäuser der nächstgelegenen Städte. Große Hilfe leisteten freiwillige Ärzte aus Böhmen und Mähren, die nach einem Appell ihres Berufsverbandes in Národní Politika ihren „slawischen Brüdern“ zu Hilfe geeilt waren. Nach einem Monat Kampf und blitzartigen Fortschritten der Offensive in Thrakien stieß freilich auch das bulgarische Gesundheitssystem an seine Grenzen. Das Fehlen von rascher ärztlicher Hilfe vor Ort war umso bedrohlicher, als die bulgarischen Soldaten kein persönliches Verbandsmaterial besaßen. Das verringerte die Überlebenschancen der Verwundeten, bevor sie ins Lazarett kamen. Den entscheiden­54

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Bulgarischer Sanitätszug am Bahnhof in Stara Sagora kurz vor dem Aufbruch an die Front.

den Schlag versetzte der bulgarischen Offensive aber die Cholera, die sich aus­ gerechnet in den Stellungen vor Çatalca unter den Soldaten epidemieartig ausbreitete. Auf paradoxe Weise profitierten die Türken auch vom unerwarteten Erfolg der bulgarischen Offensive. Die leichten Siege stärkten die bulgarischen Generäle in der Überzeugung, dass ein entschlossener Bajonettangriff jede Schlacht entscheiden könne. Radko Dimitriew, der die Armee bei Çatalca angeführt hatte und vom ungeduldigen Ferdinand I. angetrieben wurde, unterschätzte die Entschlossenheit und die Vorbereitungen der Türken. Der von der französischen Regierung als Beobachter in den bulgarischen Stab entsandte polnische Ingenieur Józef Lipkowski benannte schonungslos die Fehler der Bulgaren: Um die Stellung schnellstmöglich im Sturm zu nehmen, hatte man den Artillerieangriff nicht geplant. Die bulgarische Artillerie beschoss monoton die gesamte türkische Front vom Deskos-See bis zur Bucht von Büyükçekmece. Nicht ein einziges Mal konzentrierte man das Feuer auf ein bestimmtes Ziel. Man ließ die besten Regimenter angreifen. […] Das Ergebnis war, dass diese Regimenter, von beiden Seiten unter Beschuss, sich – nachdem sie die Hälfte der Männer verloren hatten – zurückziehen mussten, weil sie weder von der 55

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Artillerie noch von sonst einer Einheit unterstützt wurden […]. Und als die Reste des Regiments zu den Ihren zurückkehrten, hielt die bulgarische Artillerie sie für Feinde und gab ihnen den Rest. Aus dem ganzen Regiment kamen nicht mehr als ein paar Dutzend Soldaten zurück. Überhaupt kämpfte man vor Çatalca auf der Breite der gesamten Front und unternahm keinen einzigen Versuch, irgendwo die türkische Linie zu durchbrechen.9 Dimitriews Taktik hatte fatale Folgen. Bei den Frontalangriffen wurden mehr als 10 000 Soldaten getötet oder verwundet, darunter besonders viele junge, qualifizierte Offiziere. Um diesen Preis drang man lediglich einige Male kurz in die türkischen Stellungen ein. Nachdem der schnelle Sieg ausblieb, musste selbst ein so offensiv eingestellter Befehlshaber wie Dimitriew seine Niederlage einsehen. Bald überstieg die Anzahl der Cholerakranken die der Verwundeten und Gefallenen um mehr als das Doppelte. Letztlich bewog die drohende Massenepidemie im Heer die Bulgaren dazu, den von der Türkei vorgeschlagenen Waffenstillstand anzunehmen, der schon am 12. November beschlossen wurde. Die Kämpfe in Thrakien wurden Anfang Dezember eingestellt. Während in Thrakien noch die Schlacht um Kirk Kilisse andauerte, entschied sich in Makedonien der Ausgang des Feldzugs. Auch hier versuchten die unterlegenen türkischen Kräfte die Initiative zu übernehmen und attackierten die anrückenden, klar überlegenen Serben. Bei Kumanovo kam es zur Schlacht, deren Verlauf sich kaum vom Geschehen an der Ostfront unterschied. Nach einem langen Regentag mit erbitterten Kämpfen gingen die Serben am 24. Oktober kurz vor Tagesanbruch zum Gegenangriff über und zwangen die überraschten Türken zum Rückzug. Auch hier wurde die osmanische Armee vor allem deshalb nicht vollständig zerschlagen, weil die serbische Artillerie auf den desolaten Wegen nicht schnell genug nachrücken konnte. Nach der Schlacht von Kumanovo besetzten die Invasoren sukzessive den nördlichen Teil Makedoniens. Sie drangen auch auf von Albanern bewohntes Territorium vor und besetzten Pristina, Durrës und Lezha. Außerdem unterstützten sie die vor Shkodra stecken gebliebenen montenegrinischen Truppen. In den eroberten Gebieten wurden sofort alle Moscheen geschlossen und die Muslime zwangsweise zur Orthodoxie bekehrt. Als Folge kämpften Serben bald nicht mehr nur gegen die osmanische Armee, sondern auch gegen eine wachsende Schar albanischer Freiwilliger. Im Ersten Weltkrieg sollten sich die serbischen Grausamkeiten auf tragische Weise rächen. Als 1915 die geschlagene serbische Armee sich in einem fürchterlichen Wintermarsch an die Adria durchzukämpfen versuchte, zeigten die Albaner kein Erbarmen. 56

Präludium – der Balkan 1912–1913

Während das türkische Heer in Makedonien den serbischen und montenegrinischen Angreifern die Stirn bot, zog in deren Rücken die griechische Armee auf. Die westeuropäischen Beobachter der Kämpfe auf dem Balkan waren voller Anerkennung für die griechische Offensivstrategie. Die Griechen vermieden die Fehler der Bulgaren und der Serben, sie verteilten ihre Kräfte nicht und folgten konsequent dem zuvor entworfenen Plan. Ihr Ziel war die Eroberung von Thessaloniki, der größten Stadt der Region, und Ioannina, das sie schnell einkreisten, aber lange nicht erobern konnten. Besonders im ersten Fall war Eile geboten. Griechenland hatte keines der Abkommen zur Verteilung eventueller Eroberungen unterzeichnet, man wollte also möglichst rasch möglichst große Gebiete besetzen, um die eigene Verhandlungsposition nach Kriegsende zu verbessern. Es begann ein Wettlauf der Verbündeten. Zum Glück für Griechenland widersetzte sich der serbische Generalstabschef Radomir Putnik den Plänen einiger Politiker, die auch serbische Kräfte nach Thessaloniki schicken wollten. Allerdings gelang es ihm nicht, die Bulgaren daran zu hindern. Innerhalb der serbischen Armee in Makedonien befand sich eine bulgarische Division, die den Befehl zum unverzüglichen Marsch auf Thessaloniki erhielt. Die Griechen waren jedoch schneller. Am 26. Oktober kapitulierte Tahsin Pasha vor dem griechischen Thronfolger Konstantin. Der griechische Offizier Filippos Dragoumis notierte an diesem Tag: Die Kapitulation Tahsin Paschas und seiner 35 000 Soldaten [in Wirklichkeit waren es rund 10 000 weniger] erfreute mich überhaupt nicht. Eine tiefere Sorge schnürt mir die Brust zusammen und lässt mich pessimistisch in die Zukunft schauen. Die Bulgaren sind anscheinend nahe und ich fürchte, wir werden Schwierigkeiten mit unseren „geliebten Alliierten“ […] bekommen.10 Die „geliebten Alliierten“ waren fest entschlossen. Sie erkannten die türkische Kapitulation vor den Griechen nicht an und setzten ihren Marsch auf Thessaloniki fort. Dort forderten sie von Tahsin Pascha die Übergabe der türkischen Garnison. Er soll geantwortet haben, er habe leider nur über ein Thessaloniki verfügt und dieses schon den Griechen übergeben. Als der Winter heraufzog, konzentrierten sich die Kampfhandlungen an drei Punkten. Die Griechen belagerten Ioannina, Montenegriner und Serben Shkodra und die Bulgaren Edirne, die größte türkische Festung und eine der gewaltigsten Befestigungen Europas, deren besondere Bedeutung darin lag, dass die Türken von dort aus die Bahnstrecke nach Istanbul (dieselbe, auf der seinerzeit der berühmte Orient-Express verkehrte) kontrollierten. Die Belagerung dauerte – mit 57

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einer Pause für einen Waffenstillstand und erfolglose türkisch-serbische und türkisch-bulgarische Verhandlungen im Dezember und Januar – bis ins Frühjahr 1913. Trotz massiver Fluchtbewegungen waren noch viele Zivilisten in der Stadt, darunter die Konsuln der europäischen Großmächte. Der Ausfall des Transportwesens und das Tempo der bulgarischen Offensive hatten eine Evakuierung verhindert. Das hatte fatale Auswirkungen auf die Situation der Verteidiger. Es musste nicht nur das Heer verpflegt werden, sondern auch die Bevölkerung. Als Erstes ging das Salz aus. Eine Zeit lang konnten ansässige Chemiker einen Ersatz von gleichem Geschmack, wenngleich gelblicher Färbung herstellen, doch die zur Herstellung notwendigen Rohstoffe waren bald verbraucht. Schon im Februar 1913 wurden die Rationen der Soldaten auf 450 Gramm schlechten Brots reduziert. Der Schwarzmarkt blühte. Das Belagerungstagebuch des türkischen Offiziers Hafız Rakım Ertür schildert die aussichtslose Lage der Verteidiger am Vortag der Kapitulation: Die armen Soldaten waren zu Skeletten abgemagert. Sie waren buchstäblich zu schwach zum Laufen und hockten in kleinen Gruppen herum, von Schnee bedeckt. Ich glaube nicht, dass ein anderes Volk solche Bedingungen ertragen hätte. Natürlich schwelgten auch die Belagerer nicht im Luxus. Doch die meisten ihrer Soldaten hatten ein warmes Dach über dem Kopf und ordentliche Verpflegung. Unter dem Einfluss des eisigen Winters und der Hunger­ krämpfe bekam die Haut unserer Soldaten einen ungesunden dunklen Ton. Nach Einbruch der Dämmerung gingen manche von Tür zu Tür und baten um ein Stück Brot, freilich vergebens. Die Menschen, bei denen sie anklopften, gingen selbst hungrig zu Bett.11 Erging es den Belagerern wirklich so viel besser? Sicher insofern, als sie nicht von der Außenwelt abgeschnitten waren. Doch das Terrain um Edirne war baumlos, die Dörfer waren während der Kampfhandlungen niedergebrannt worden. Aller Proviant musste aus Bulgarien und Serbien herbeigeschafft werden. Vor Ort mangelte es an Trinkwasser, im Februar wüteten Schneestürme und unter den Soldaten grassierten Typhus und Cholera. Die entschlossenen Bulgaren, wiewohl hungrig und durchgefroren, hielten die einstige Hauptstadt des Osmanischen Reiches unter Dauerbeschuss. Die Serben unterstützten ihre Verbündeten mit einigen Batterien schwerer Artillerie. Dank christlicher Informanten – Deserteuren der türkischen Armee und Flüchtlingen – waren die Belagerer gut über ­­­die Organisation der Verteidigung orientiert. Sie verfügten zudem über Lufter­ken­ nung und flogen sogar Angriffe auf die Stadt. Die von den Piloten per Hand ab­ge­ 58

Präludium – der Balkan 1912–1913

Triumphaler Einzug der bulgarischen Kavallerie ins eroberte Edirne.

worfenen Bomben richteten keine großen Schäden an, entscheidend war die psy­chologische Wirkung. Die Modernität der bulgarischen Armee musste umso größeren Eindruck machen, als die Bombardierung Edirnes der erste Luftangriff in der Geschichte Europas war. Im Februar musste eines der bulgarischen Flugzeuge auf dem Stadtgebiet notlanden. Die Bevölkerung hieß den merkwürdigen Vogel begeistert willkommen, weil sie ihn für eine türkische Maschine hielt. Die Aufklärung des Irrtums wirkte sicher zutiefst demoralisierend auf die Belagerten. Für die unbarmherzig geschlagenen Türken gewann die heroische Verteidigung von Edirne große psychologische Bedeutung. Im Juni führten die Jungtürken einen weiteren erfolgreichen Staatsstreich aus. Sein einziger Programmpunkt war die Zurückweisung der bulgarischen Territorialforderungen, das heißt der Abtretung Edirnes. Nach dem Bruch des Waffenstillstands unternahm man einen Befreiungsversuch. Wieder griffen die Türken frontal an. Während des Sturms auf die bulgarischen Schützengräben bei Çatalca erlitten sie ungeheure Verluste, ohne nennenswerte Erfolge zu erringen. In derselben Zeit attackierten die Bulgaren Edirne, wobei sie über 10 000 Soldaten verloren, die Stadt aber endgültig er59

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oberten. Am 26. März kapitulierte Edirne, das alle Lebensmittel aufgebraucht und durch einen bulgarischen Treffer ein Waffen- und Munitionslager verloren hatte. Kurz darauf kapitulierte Ioannina, einen Monat später auch Shkodra.

Der Zweite Balkankrieg Unter dem Druck der Großmächte kehrten die Kriegsparteien in London an den Verhandlungstisch zurück. Ende Mai unterzeichneten sie einen Vertrag, der aber niemanden zufriedenstellte. Die Türken verloren fast alle europäischen Besitzungen des Sultans – mehr als vier Fünftel des Territoriums und über zwei Drittel der dortigen Bevölkerung. Das von den Großmächten geschaffene Albanien erhielt Gebiete, auf die Montenegro, Serbien und Griechenland Anspruch erhoben, jedoch nicht alle Gebiete, die von Albanern bewohnt wurden. Serbien und Griechenland vertraten die Auffassung, ihnen stünden als Ausgleich für einen Teil Albaniens entsprechende Territorien in Makedonien zu, die sie de facto besetzt hatten. Das wiederum war für Bulgarien inakzeptabel, das eben wegen Makedonien einen neuen Krieg begann. Sofia forderte einen Anteil an der Kriegsbeute, der der Kampfbeteiligung und den erlittenen Verlusten entsprach. Unterdessen mischte sich ein neuer Akteur in den Streit der Verbündeten ein. Rumänien beanspruchte ein territoriales Äquivalent in der Dobrudscha. Das Land hatte sich zwar nicht am Krieg gegen das Osmanische Reich beteiligt, doch es sah im übermäßigen Zuwachs Bulgariens eine Gefahr für das Gleichgewicht auf dem Balkan. In der bitteren Satire Caracterul naţional al măgarilor (Der Nationalcharakter der Esel) verhöhnt der liberale rumänische Ökonom Ștefan Zeletin die damalige Haltung vieler seiner Landsleute – eine Figur im Eselsparlament stimmt dieses Lied an: Höre gut zu, schmutziger Bulgare, Wage nicht länger, uns zu verlachen! Für das, was du mit dem Schwert erobert, Während wir hinter dem Ofen schliefen, Indes du große Schlachten schlugest, Sollst du uns ein Trinkgeld geben! Unsere Faulheit – dein Profit, Als du dem Schicksal die Stirn botest, Die Wut der Heiden besiegtest. Und jetzt, da wir einen Knochen wollen, Trittst du uns, statt uns zu danken? Du sollst uns ein Trinkgeld geben!12 60

Präludium – der Balkan 1912–1913

Damit artikulierte Zeletin nicht nur seinen Standpunkt in dieser Frage, sondern traf offenbar auch die Position der bulgarischen Regierung, die über die Dreistigkeit der Nachbarn empört war. Die multilateralen Verhandlungen stockten nicht nur wegen Rumänien. Die Bulgaren waren zu keinerlei Zugeständnissen bereit, die Verbündeten verzögerten den Abzug aus Gebieten, die Sofia als seinen Teil Makedoniens ansah. Griechenland und Serbien betrachteten die Provinz schon als dauerhaften Besitz. Die Politik des nationalen „Proselytismus“ war in voller Fahrt. Die bulgarischen Lehrer in Makedonien mussten sich entscheiden: Entweder künftig in serbischer oder griechischer Sprache unterrichten oder – im besten Fall – nach Bulgarien übersiedeln. Ansonsten drohten ihnen die überfüllten Gefängnisse von Skopje oder Thessaloniki. Es kam vor, dass lokale Funktionäre und Geistliche „spurlos verschwanden“. Meist aber zwang man die Einheimischen zur „freiwilligen“ Annahme der dominierenden Nationalität. Die Experten des Carnegie Endowment for International Peace, die nach Kriegsende eine Untersuchung zu den Kriegsverbrechen aller Parteien durchführten, zitieren in ihrem Bericht folgende Schilderung aus dem griechischen Teil Makedoniens: Die griechischen Soldaten und Offiziere stellen zuerst fest, ob die Bevölkerung griechisch oder bulgarisch war. Wenn es sich um Bulgaren handelte, befahlen sie den Bauern, wieder Griechen zu werden und in Frieden weiterzuleben.13 Die bulgarische Presse empörte sich über die tatsächlichen und imaginierten Grausamkeiten der einstigen Verbündeten. Man schrieb über makedonische Kinder, die angeblich von griechischen und serbischen Soldaten ermordet wurden, weil sie auf die Frage: „Wer bist du?“ geantwortet hätten: „Ein kleiner Bulgare.“ Mitte des Jahres war das Land von einer regelrechten Makedonien-Obsession befallen. Im Juni hieß es in der Sofiaer Tageszeitung Mir: Sich mit dem Bruder aus dem einzigen Grunde verbünden, ihn zu betrügen, zu bestehlen und ihm zu nehmen, was der eigentliche Gegenstand des Bundes war […], nachdem er die schwersten Verluste erlitt und die blutigsten Schlachten gewann – das ist ein unter den Völkern unerhörtes Verbrechen, und mit eben diesem Verbrechen hat sich nun Serbien befleckt.14 Ein neuer Krieg, wenngleich noch unausgesprochen, hing in der Luft. Der Ausbruch erfolgte unter einigermaßen verblüffenden Umständen. Noch im Mai hatten Griechenland und Serbien ein gegen Sofia gerichtetes Geheimabkommen unterzeichnet. Doch in der Nacht vom 29. auf den 30. Juni 1913 atta61

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ckierte Bulgarien serbische und griechische Einheiten in Makedonien. Der Befehl kam vom Zaren, Teile der Regierung und des Militärs waren nicht informiert. Es kam zu einem Führungschaos, infolge dessen die Offensive nach ersten Erfolgen gestoppt wurde, was den Gegnern Zeit zur Neuordnung und zum Gegenschlag gab. Die bulgarische Regierung wollte den Konflikt mit den einstigen Verbündeten abwenden. Doch Serben und Griechen warteten den Ausgang des innerbulgarischen Machtkampfs nicht ab. Der Krieg kam ihnen gelegen, sie waren vorbereitet und, weil die Bulgaren ihn begonnen hatten, trugen nicht sie die Verantwortung für den Bruch des Bündnisses. Der serbische König Peter I. konnte in der Kriegserklärung guten Gewissens verkünden: Die Bulgaren, unsere bluts- und glaubensverwandten Brüder, unsere Bun­des­ genossen, haben in unmenschlicher Weise Verwundete ermordet, den Ver­ trag mit dem Schwerte zerstört, Freundschaft und Brüderlichkeit vernichtet. Die Bulgaren haben der serbischen Hilfe vergessen und dem Slawentum und der ganzen Welt ein Beispiel von Undankbarkeit und Habsucht gegeben. Dieser traurige Krieg ist mir aufgezwungen worden.15 Die zurückweichenden Bulgaren wurden mit Artillerie beschossen, die gut ausgestatteten gegnerischen Truppen setzten ihnen nach. Rasch verlagerten sich die Kampfhandlungen von Makedonien auf bulgarisches Kerngebiet. Sofia drohte von den Serben besetzt zu werden. Doch die bulgarische Armee fing sich und bewies, dass sie im Ersten Balkankrieg nicht zu Unrecht als leistungsfähigste Armee der Region gegolten hatte. Anfang Juli attackierten von Sofia kontrollierte Partisaneneinheiten der IMRO im Rücken der serbischen Armee. Mitte des Monats schlug General Michail Sawow, einer der brillantesten Generäle des vorigen Kriegs, bei Kalimantsi eine serbische Offensive zurück, anschließend verlagerte er seine Truppen nach Süden, wo er Ende des Monats bei Kresna Gorge die griechische Armee fast komplett einkreiste. Unter den Eingekesselten befand sich auch der Oberkommandierende König Konstantin, der seinem wenige Monate zuvor ermordeten Vater auf den Thron gefolgt war. Die Diplomatie rettete die Griechen vor der völligen Katastrophe. Die neue bulgarische Regierung, die nicht an einen militärischen Sieg glaubte, bat um einen Waffenstillstand. Zwei Ereignisse brachten Bulgarien dazu, die Kampfhandlungen einzustellen. Am 10. Juli beschloss Rumänien, sich auf eigene Faust das ihm zustehende „Trinkgeld“ zu sichern. Ein Heer von mehreren Hunderttausend Soldaten überschritt die Grenze und marschierte ungehindert von den schwachen bulgari62

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schen Einheiten auf Sofia zu. Es gab so gut wie keine Kämpfe und die mehreren Tausend Opfer auf rumänischer Seite starben nicht durch Kugeln, sondern an Krankheiten. Die Rumänen erwiesen sich überdies als vergleichsweise zivilisierte Besatzer, zumal im Vergleich mit den übrigen Beteiligten der Balkankriege. Rumänische Flugzeuge flogen zwar Angriffe auf Sofia, warfen aber nur Flugblätter ab. Trotz des drohenden Verlusts der Hauptstadt gingen die Kämpfe in Makedonien weiter. Entschieden wurden sie erst mit dem Kriegseintritt des Osmanischen Reiches. Der jungtürkische Anführer Enver Pascha besetzte mit einer mehr als 200 000 Mann starken Armee fast widerstandslos zunächst die bulgarischen Stellungen bei Çatalca und anschließend Edirne. Es war der erste türkische Erfolg nach einer langen Reihe militärischer Blamagen und diplomatischer Fehlschläge. Der Zweite Balkankrieg dauerte nur einen Monat, doch er war blutiger als der Erste. Vor allem die bulgarischen Verluste waren hoch – dieses Mal waren die Gegner zahlenmäßig überlegen. Auch die Friedensverhandlungen fanden unter anderen Bedingungen statt. Die Delegierten der Balkanstaaten trafen sich in Bukarest. Der Einfluss der Großmächte wurde auf ein Minimum begrenzt. Bulgarien musste einen großen Teil seiner jüngsten Eroberungen abtreten und darüber hinaus Rumänien einen Teil der Dobrudscha und die Festung Tutrakan überlassen. Die bulgarisch-türkischen Verhandlungen fanden nicht in Bukarest, sondern in Istanbul statt. Im Herbst erhielt das Osmanische Reich den größeren Teil Ostthrakiens mit den blutigsten Schlachtfeldern des Ersten Balkankriegs sowie Edirne zurück. Der Friede auf dem Balkan sollte ein Jahr halten.

*** Richard C. Hall bezeichnet die Balkankriege als „Präludium des Ersten Weltkriegs“. Aus heutiger Sicht kann man dieser Sicht kaum widersprechen. Die Kriege der Jahre 1912 und 1913 waren Konflikte desselben Typs wie der Erste Weltkrieg. Man benutzte ähnliche Waffen (auf dem Balkan gab es fast keine Rüstungsindustrie, die Kriegsparteien bezogen ihre Waffen von denselben Produzenten wie die Armeen der Großmächte). Die Kommandierenden wandten die gleiche Taktik an, die 1914 im Westen und im Osten scheitern sollte. Die Türken wurden Opfer ihrer Doktrin der Offensive um jeden Preis. Die Serie ihrer Niederlagen endete erst, als sie zur verzweifelten Verteidigung der letzten Stellungen vor Istanbul gezwungen waren. Ihr Versuch, „die Initiative zurückzugewinnen“, endete im Februar 1913 in einem erfolglosen Blutbad. Die Kämpfe in 63

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Thrakien, wo auf recht ebenem Terrain große Massen von Infanterie aufeinandertrafen, wiesen auf die bevorstehenden Ereignisse in Flandern voraus. Die wellenartigen Bajonettangriffe der bulgarischen Fußtruppen „im japanischen Stil“ (das heißt nicht verstreut, sondern in kompakter Formation) verpufften bei Çatalca im Feuer der türkischen Maschinengewehre und Kanonen. Der Sanitätsdienst aller Parteien erwies sich als völlig unzureichend, was im Fall des osmanischen Heeres nicht überraschte, weil er dort praktisch überhaupt nicht existierte. Doch selbst die bulgarischen Lazarette, die in der europäischen Presse gelobt wurden und die auf die Unterstützung freiwilliger Ärzte aus dem Ausland zurückgreifen konnten, waren mit der Versorgung einer derart großen Anzahl von Verwundeten überfordert. Die Kämpfe auf dem Balkan hätten auch Zweifel am Nutzen großer Festungen wie Edirne wecken können. Sie erwiesen sich als zu groß und schwer zu halten, zumal dort neben Tausenden Verteidigern auch Zivilisten lebten. In den entscheidenden Schlachten fehlten den Türken die Soldaten und Geschütze, die an Orten wie Edirne, Ioannina oder Shkodra gebunden waren. Trotzdem hielt letztlich keine dieser Festungen der Belagerung stand. Die Balkankriege waren „modern“ auch in Hinsicht auf das Schicksal der Zivilbevölkerung, die auf allen Seiten Gewalt und Kriegsverbrechen ausgesetzt war. Zudem waren alle Kriegsparteien, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß, mit dem Problem der Unterbringung und Versorgung ziviler Kriegsflüchtlinge konfrontiert; von medizinischer Hilfe war praktisch nicht die Rede. Bis 1914 wuchs die Anzahl der muslimischen Flüchtlinge in Anatolien auf über 400 000. 170 000 Griechen flohen aus Kleinasien und Bulgarien. Nach Bulgarien kamen 150 000 Menschen ohne Dach über dem Kopf und Lebensunterhalt. Die Gesamtzahl der Entwurzelten wird auf rund 900 000 geschätzt.16 Um das durch die erste massenhafte Zwangsmigration im Europa des 20. Jahrhunderts ausgelöste politische, soziale und ökonomische Drama zu verstehen, muss man diese Zahl in den Kontext anderer Kennziffern der Region stellen: In Uniform nahmen an beiden Kriegen rund 750 000 Menschen teil. Griechenland hatte nach zwei Siegen knapp fünf Millionen Einwohner, Bulgarien 4,7 Millionen und Serbien 4,5 Millionen. Keiner der Staaten war darauf vorbereitet, die Integration von Hunderttausenden Flüchtlingen zu finanzieren und zu organisieren, ihnen Wohnungen und Arbeit zu beschaffen. So verhalfen diese sich mitunter selbst zu ihrem Recht, indem sie an ihren provisorischen Aufenthaltsorten die jeweils „anderen“ attackierten: In Griechenland kam es zu Pogromen orthodoxer Christen gegen Muslime, in Ostthrakien zu Pogromen von Muslimen gegen Orthodoxe. Die örtliche Polizei half dabei mitunter ebenso mit wie die „alten“ Einwohner 64

Präludium – der Balkan 1912–1913

der jeweiligen Orte, die auf diese Weise ohne großen Aufwand die traditionelle Konkurrenz in Handel oder Handwerk ausschalteten. Knapp zwei Jahre nach dem Bukarester Friedensschluss sollten sich noch größere Massen von Polen, Juden, Deutschen, Weißrussen, Letten, Litauern, Ukrainern und Russen in Bewegung setzten – auf der Flucht vor der deutsch-österreichisch-ungarischen Offensive oder infolge von Zwangsevakuierungen. Die Millionen von Obdachlosen, Hungernden, Arbeitslosen und Verzweifelten gelten zu Recht als eine der Ursachen der russischen Revolutionen des Jahres 1917. Doch zurück ins Rumelien der Jahre 1912 und 1913. Obwohl die europäische Presse ausführlich über die Balkankriege berichtete, zogen weder Politiker noch Militärs die entsprechenden Schlussfolgerungen. Sie begriffen nicht, dass Infektionskrankheiten für ihre Armeen fast ebenso gefährlich waren wie die Kugeln des Feindes. Sie begriffen nicht, dass es sinnlos war, Massen von Infanteristen ins Maschinengewehrfeuer zu schicken. Die Strategen beharrten darauf, es zählten „Initiative“ und „Moral“, die am schönsten bei einem Bajonettangriff aufblühten. Man baute und rüstete mächtige Festungen mit großen Besatzungen. Man unterschätzte sowohl die zu erwartenden Verluste als auch den Bedarf an medizinischer Versorgung. Man tat kaum etwas zum Schutz der Zivilbevölkerung in den Kampfgebieten. Was war die Ursache dieser schockierenden Kurzsichtigkeit? Immerhin zogen einige Personen durchaus die richtigen Schlüsse aus den Lehren der Balkankriege. Das Problem war nur, dass diese Personen keinen Einfluss auf das Militär hatten. Die Experten von Carnegie Endowment erreichten das Gewissen eines Teils der westeuropäischen Öffentlichkeit, drangen aber – wie Bloch ein Jahrzehnt zuvor – nicht zur Generalität durch. Auch der große polnische Linguist Jan Baudouin de Courtenay zweifelte ebenso wenig wie der Warschauer Bankier daran, dass der moderne Krieg zu einem wilden Gemetzel geworden sei und sich am Horizont eine Neuauflage in bedeutend größerem Maßstab abzeichne. Anhand eines Vergleichs der Bevölkerungszahlen der kriegführenden Staaten und der Anzahl der Gefallenen und Verwundeten rechnete er vor, welche Verluste die europäischen Großmächte in einem künftigen Krieg erleiden würden. Er kam den tatsächlichen Zahlen recht nahe.17 Die Antwort der Militärexperten auf derartige Prognosen war simpel: Die Greueltaten, deren sich die Parteien während des Krieges gegenseitig be­ schuldigten, erklären sich aus den erbitterten nationalen Gegensätzen, aus der lang verhaltenden Abneigung, zum Teil aber auch aus der Halbkultur, unter deren Wirkung manche Stämme der Balkanhalbinsel auch bei milder 65

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Beurteilung dieser Frage noch heute stehen. Aber keine Tatsache hat erwie­ sen, daß der Zukunftskrieg blutiger und vernichtender als der Krieg der jüngs­ ten Vergangenheit sein wird. Es ist daher ein verwerfliches Unterfangen, wenn aus dem Balkankrieg gefolgert wird, daß der Zukunftskrieg der Ver­ nichtungs­kampf alles Bestehenden sein wird. Bei hoher Achtung vor den Friedensbestre­bungen zeigt uns gerade der Balkankrieg die eiserne Notwen­ dig­keit, daß ein Volk nur dann daseinberechtigt bleibt, wenn es die kriegerischen Eigenschaf­ten pflegt.18 Die Militärs ignorierten die Erfahrungen der Balkankriege vor allem deshalb, weil es sich um den Balkan handelte. Diese Geringschätzung sollte die Armeen der Großmächte teuer zu stehen kommen. Ein knappes Jahr später fügten die „halbwilden“ Serben der deutlich besser ausgerüsteten Armee Österreich-Ungarns eine blamable Niederlage bei. Wenig später zwangen die in den Jahren 1912 und 1913 gedemütigten Türken die Briten zur Einstellung ihrer Operation in Gallipoli. Die Bulgaren wiederum stoppten fast im Alleingang mehrere Angriffsversuche der Alliierten an der Saloniki-Front. Die Balkankriege waren für Europa noch aus einem anderen Grund wichtig, der bisher unerwähnt blieb, weil er in den Jahren des Ersten Weltkriegs kaum eine Rolle spielte (auf dem Balkan wurde er erst nach 1918 wieder aktuell, ab 1939 beeinflusste er die gesamte europäische Politik). Die Hauptakteure der Balkankriege waren davon überzeugt, dass die neuen Staatsgrenzen eine Umsiedlung der Menschen erforderten, die plötzlich zu Minderheiten geworden waren. Diese religiösen, ethnischen oder auch zugleich religiösen und ethnischen „Minderheiten“ hatten seit Jahrhunderten am selben Ort gelebt; das Osmanische Reich hatte viele Formen des Zusammenlebens entwickelt und wäre nie auf die Idee gekommen, Fremde aus seinen Grenzen auszusiedeln, die schon seit der Eroberung Konstantinopels und des Balkans Untertanen der Hohen Pforte waren. Die Jungtürken sahen das völlig anders – ähnlich wie die zeitgenössischen Bulgaren, Serben und Griechen. Der moderne Nationalismus des 20. Jahrhunderts betrachtete die infolge der Grenzverschiebungen entstandenen Minderheiten als Ballast auf dem Weg zur Errichtung eines normalen Staats – wie etwa Deutschland oder Großbritannien, wo niemand sich (allzu sehr) den Kopf über Polen oder Iren zerbrach. Auf dem Balkan gab es freilich im Verhältnis ein Vielfaches an „Fremden“, das heißt Angehörigen einer anderen als der erträumten Staatsnation. Selbst wenn viele von ihnen im Verlauf des Krieges bereits geflüchtet waren, war das Problem längst 66

Präludium – der Balkan 1912–1913

nicht gelöst und verlangte nach modernen Ansätzen jenseits der Tradition, des tief verwurzelten Gewohnheits- und des im Entstehen begriffenen Völkerrechts, die alle den Begriff der grenzüberschreitenden Umsiedlungen nicht kannten. 1913 begannen Bulgarien und das Osmanische Reich mit Verhandlungen über einen „Bevölkerungsaustausch“. Im September 1913 wurde in Istanbul ein Abkommen unterzeichnet, das den Austausch der Bevölkerung entlang eines 15 Kilometer langen Grenzstreifens vorsah und somit de facto die Flucht von Zehntausenden Menschen in den vergangenen zwei Jahren sanktionierte. Außerdem garantierte es – sechs Jahre vor dem Versailler Minderheitenschutzvertrag – den vollständigen Schutz der Rechte der auf dem Territorium des anderen Staates verbleibenden Minderheiten. Ein halbes Jahr später begannen griechische und türkische Diplomaten mit den Verhandlungen. Zu dem Ergebnis schreibt Philipp Ther treffend: Für die griechische und osmanische Staatsführung war der Bevölkerungs­ austausch ein technisches Problem, kein menschliches oder moralisches. [­…] Überhaupt fällt bei den Verhandlungen von 1914 der rationale Duktus auf, während das Leid der Betroffenen allenfalls am Rand erwähnt wurde. Auch wenn ein äußerlich emotionsloser Zugang zu den Grundlagen der Diplomatie gehört, erzeugten die Verhandlungen in Kombination mit bevölkerungstechnischen Utopien eine aus heutiger Sicht erschreckende Dynamik. Während am Anfang der griechisch-türkischen Konsultationen nur Thrakien und überschaubare Gruppen behandelt wurden, betrafen die Gespräche einige Monate später etwa die Hälfte Griechenlands und den gesamten Westen der heutigen Türkei. Es ging damit um das Schicksal von weit über einer Million Menschen. Sie waren jedoch nicht geflohen, sondern lebten noch größtenteils in ihrer Heimat. Es handelte sich mithin nicht um eine Bestätigung eines kriegsbedingten Status quo, sondern um eine zukunftsgerichtete Maßnahme.19 Der fundamentale Wandel im Verständnis der Regeln des Zusammenlebens von menschlichen Gruppen und der individuellen Menschenrechte fand im „zivilisierten Europa“ vorerst wenig Beachtung. Für die Völker und Staaten der Balkanhalbinsel indes prägten die Lösung des Konflikts und die Akzeptanz der Idee des Bevölkerungsaustauschs die Politik der nächsten Jahre. Die Leichtigkeit, mit der man 1913 und 1914 die Umsiedlungen ausgehandelt hatte, weckte die Hoffnung, dass sich nach einem siegreichen neuen Krieg die eroberten Territorien wieder leicht würden säubern lassen. Serbien, dem man einen Zugang zur Adria in Albanien verweigert hatte, verlegte sein Expansionsstreben zunehmend auf Öster67

I  Die Fronten

Bulgarische Witwe mit Kind in Thrakien.

reich-Ungarn. Griechenlands territorialer Appetit, der in Makedonien mehr als gestillt worden war, richtete sich nun auf Kleinasien, wo man die Megali Idea verwirklichen wollte. Das „gekreuzigte“ und von ausnahmslos allen Nachbarn „verratene“ Bulgarien lauerte auf eine Gelegenheit zur Veränderung des Status quo. Die tiefgreifendsten Veränderungen bewirkte der Krieg freilich im Osmanischen Reich. Bei Kriegsausbruch war es ein multiethnisches Gebilde auf der Suche nach einer die heterogenen Provinzen einenden Idee, es reichte vom heutigen Albanien bis zum heutigen Israel, Jordanien und Irak. Bei Kriegsende zeichnete sich schon der türkische Nationalstaat ab, in dem nur drei „Fragen“ zu lösen waren: die arabische, die armenische und die griechische (die kurdische spielte noch keine Rolle). Ömer Seyfeddins Erzählzyklus Primo, der türkische Junge dokumentiert auf faszinierende Weise den mentalen Wandel, den die Türkei in dieser Zeit durchlief. Der erste, unter dem Eindruck der italienischen Invasion in Libyen entstandene Teil schildert das Zerbrechen der Ehe eines aufgeklärten türkischen Ingenieurs und einer Italienerin in Thessaloniki. Ihr Sohn Primo weigert sich, mit der Mutter nach Italien zu gehen, und entdeckt seine türkische Identität. Nach der Besetzung Thessalonikis durch die Griechen beschließt der 68

Präludium – der Balkan 1912–1913

Junge, der die Demütigung seines Vaterlandes nicht erträgt, sich das Leben zu nehmen. In der Nacht zuvor träumt er einen Traum, in dem sich die Hoffnungen der türkischen Nationalisten manifestieren: Er ging durch weite Täler, die voll waren von heißem roten Blut und den Leibern von Millionen getöteter Feinde […]. Da erstrahlte von Osten, von Turan her, ein leuchtender Halbmond am blauen Himmel … Zwischen seinen Spitzen flackerte ein kleiner Stern … Primo schaute, von Entsetzen gepackt … Seine Füße waren nass … er beugte sich vor und sah, dass er bis zu den Knien in Blut stand … Es war das Blut der Feinde der Türkei … Das Blut bildete einen großen See … Eine endlose, karminrote Fläche … die Mond und Stern spie­ gelte … Ach, unser Banner wird geboren; unsere wahre Flagge, die Ver­kör­ perung unserer heiligen Flagge.20 Als Seyfeddin seine nationalistischen Parabeln veröffentlichte, waren die „blutigen Täler“ auf dem Balkan längst mehr als bloße Fantasie. Bald sollten ähnliche Bilder für ganz Europa Wirklichkeit werden.

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Kapitel 3 Ehe noch die Blätter fallen … Aufklärung im Gefecht Im Sommer 1914 zogen im Osten Armeen in den Kampf, die nach ähnlichen ­Kriterien aufgestellt worden waren und ähnlichen Taktiken folgten. Alle waren Einberufungs- und Massenarmeen. Man dachte, je größer das Bevölkerungs­ reservoir, desto größer die Chance auf den Sieg. In dieser Hinsicht erlaubte die Statistik keine Illusionen – der mit Abstand bevölkerungsreichste Staat war Russland. Schon die Friedensstärke der russischen Armee betrug das Dreifache der deutschen und das Zehnfache der österreichisch-ungarischen. Man hätte versuchen können, die zahlenmäßige Unterlegenheit durch Material und Ausbildung auszugleichen. Das taten die Mittelmächte auch – allerdings erst während des Kriegs. Bei Kriegsbeginn war die Bewaffnung aller Parteien – Russland, Deutschland, Österreich-Ungarn und Serbien – vergleichbar und entsprach mehr ­oder weniger dem auf den Schlachtfeldern in Thrakien und Makedonien erprobten Arsenal. Alle Armeen verfügten über mehrschüssige Gewehre und Kavalleriekarabiner, MG-Einheiten, verschiedene Arten von Artillerie, e­in­heit­liche Uniformen für die Infanterie. Unterschiede gab es vor allem bei ­Fabrikaten und Modellen. In allen bei Kriegsbeginn involvierten Armeen trugen die Kavalleristen teils noch archaische bunte Uniformen, alle Soldaten zogen mit mehr oder weniger fantasievollen Mützen oder Tschakos ins Feld und die Stabsoffiziere zählten die Truppenstärke noch immer in „Säbeln“ und „Bajonetten“. Natürlich gab es nationale Besonderheiten. Russland etwa hatte traditionell mehr Artillerie, obwohl dieser Vorteil dadurch nivelliert wurde, dass ein Teil in Festungen stationiert war. In der zaristischen Armee dominierten leichte ­Geschütze. Österreich-Ungarn wiederum verfügte über die meisten und besten schweren Haubitzen. Diese Waffe sollte den Mittelmächten bald wertvolle Dienste leisten. Vor allem die von Škoda produzierten 305-mm-Haubitzen ­erwiesen sich als so gut, dass sie sowohl von Deutschland für die Westfront als 70

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auch vom Osmanischen Reich für die Mesopotamienfront „ausgeliehen“ ­wurden. Diese im Grunde minimalen Unterschiede im Ausstattungskonzept wurden kaum wahrgenommen, und falls doch, führten sie nicht zu weiter reichenden Schlussfolgerungen. Man setzte auf die Macht der Massen von Infanterie und Kavallerie und rechnete angesichts dessen eher mit einem Sieg Russlands, zumal für den Fall (der dann auch eintrat), dass die Mittelmächte an zwei oder drei Fronten kämpfen müssten. Deshalb gingen die österreichisch-ungarischen und die deutschen Generäle davon aus, dass sie bis zu einem Sieg über Frankreich Russland nur gemeinsam würden in Schach halten können. Sie glaubten, solange die deutschen Haupttruppen im Westen kämpften, könne man die russische „Dampfwalze“ allenfalls bremsen, nicht aufhalten. Anhand der Prämissen war klar, dass die Zeit in den ersten Kriegswochen der entscheidende Faktor sein würde. Die Rechnung konnte nämlich nur aufgehen, wenn (womit nicht nur die Mittelmächte rechneten) der Krieg im Westen nicht lange dauern würde. Wilhelm II. versprach seinen Soldaten, ehe noch die Blätter fielen, seien sie wieder zu Hause; bevor Russland die Mobilmachung abschließe, sei der Krieg im Westen entschieden und man könne sich mit einem guten Blatt auf der Hand an den Verhandlungstisch setzen. All diese Annahmen erwiesen sich als völlig falsch. Erstens verlief die russische Mobilmachung deutlich schneller, als die deutschen und österreichisch-­ ungarischen Generalstäbler dachten. Es gab zwar in mehreren Dutzend(!) Gouvernements Zwischenfälle mit rebellierenden Wehrpflichtigen und bei der Unterdrückung von Unruhen im ganzen Land starben einige Hundert Menschen, doch angesichts des Umfangs der Mobilisierung waren dies vernachlässigbare Größen. Zweitens entschied sich Russland auf Drängen Frankreichs ebenfalls zu einer schnellen Offensive, statt die Komplettierung aller Einheiten abzuwarten. Deshalb änderten die russischen Generäle ihren Angriffsplan. Ursprünglich hatten sie die Habsburgermonarchie als Hauptgegner angesehen. Nun aber sollte der Schlag nicht nur gegen Österreich-Ungarn, sondern auch gegen Deutschland geführt werden. In den Stabsplänen waren die Varianten mit den Buchstaben A (Avstrija) und G (Germania) markiert. Nach der Schaffung einer Ausgangsbasis für eine weitere Offensive sollten die Truppen Richtung Berlin weitermarschieren. Vorerst ging man jedoch davon aus, dass Österreich-Ungarn die Hauptlast des Kampfes gegen Russland tragen würde, solange Deutschland mit Frankreich beschäftigt war. Die russische Armee war der habsburgischen zahlenmäßig klar 71

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überlegen. Ganz im Sinn der Angriffsdoktrin plante Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf dennoch eine Offensive. Ziel der Attacke sollte das ­Königreich Polen sein. Conrad rechnete damit, dass Deutschland einen Teil der feindlichen Kräfte auf sich ziehen würde. Einige Jahre vor dem Krieg hatte er dem deutschen Stabschef Helmuth von Moltke das Versprechen abgerungen, dass Deutschland, sofern die Russen nicht von sich aus einen Teil ihrer Truppen nach Ostpreußen schicken sollten, ins Königreich Polen einmarschieren und in Richtung Narew vorrücken würde. Diese recht fragile Absicherung – Conrad und Moltke hatten nicht einmal den Umfang der Entlastungsoffensive besprochen – ermöglichte es dem österreichisch-ungarischen Stabschef, seiner Lieblingsbeschäftigung zu frönen und eine Operation zu planen, zu deren Umsetzung er nicht genügend Kräfte besaß. Österreich-Ungarns Strategiedenken war verknöchert und zugleich voller Fantasie; es war ein getreues Abbild der komplizierten Persönlichkeit des Stabs­ chefs. Franz Conrad von Hötzendorf war ein hervorragender Theoretiker, Ausbilder einer ganzen Generation von Offizieren der habsburgischen Armee und eine international anerkannte Autorität. Sein Mangel an praktischer Erfahrung machte sich in der österreichisch-ungarischen Strategie deutlich bemerkbar. In Hötzendorf verband sich die Vorliebe für große und blitzartige Operationen mit dem übermächtigen Wunsch, die serbischen „Königsmörder“ zu demütigen. Darum forderte er beharrlich und ohne Berücksichtigung der Umstände einen Angriff auf Serbien, in den Operationsplänen mit dem Buchstaben B (für Balkan) markiert. Davon wich er auch nicht ab, als klar wurde, dass Russland in den Krieg eintreten und somit die Monarchie gezwungen sein würde, Plan R zu aktivieren. Ein serbischer Angriff auf Österreich-Ungarn war sehr unwahrscheinlich, eine russische Attacke hingegen sicher. Trotzdem beschloss man, die Kräfte zu teilen, und stellte gegen Serbien eine Armee, die unwesentlich stärker als die gegnerische war, gegen Russland indes eine deutlich schwächere. Conrad verwarf die Idee, sich sofort auf die Karpatenlinie zurückzuziehen, Galizien vorübergehend den Russen zu überlassen und Zeit zu gewinnen. Er wollte an keiner der beiden Fronten die Initiative abgeben. Im Notfall sollte ein überaus kompliziertes und ambitioniertes Manöver die Situation retten, bei dem die strategische Reserve mit der Eisenbahn in den Süden beziehungsweise im Fall einer notwendigen Rettung Galiziens nach Norden transportiert werden sollte. Das Problem lag darin, dass eine derart große Operation eine entsprechende Logistik erforderte und spontane Planänderungen ausschloss. Jede der erforderlichen Prozeduren musste von Anfang bis Ende durchgeführt werden, die an die serbische Grenze ge72

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schickte Reserve musste erst dort ankommen, bevor man sie nach Norden schicken konnte, wo die Russen die Grenze überschritten. Letztlich kamen die vorgesehenen Einheiten an keiner der beiden Fronten rechtzeitig an. Sie saßen in Zügen irgendwo zwischen Belgrad und Stanislau. Trotz seiner Schwäche wollte Österreich-Ungarn an allen Fronten offensiv agieren. Weil Russland dieselbe Absicht hatte, entwickelte sich eine überaus interessante Situation. Mit Ausnahme des kleinen Serbien begannen alle Beteiligten den Krieg im Osten mit einer Offensive oder – wie die Deutschen in Ostpreußen – entsprechenden Plänen, als sie selbst angegriffen wurden. Alle Parteien hatten auch vage Vorstellungen von den Plänen des Gegners, doch sie besaßen keine Informationen über seine aktuellen Aktivitäten. Die Luftaufklärung war bei Kriegsbeginn noch recht unzuverlässig, zudem standen die konservativeren Befehlshaber Flugzeugen grundsätzlich skeptisch gegenüber. Es blieb nur das traditionelle Mittel der Kavallerieaufklärung. Diese erste Kriegsphase entsprach in größtem Maße den Vorstellungen von Kommandeuren und Soldaten darüber, wie ein Krieg auszusehen habe, nämlich wie in einem Abenteuerroman. Der junge Posener Franciszek Bratek-Kozłowski wurde zufällig zum Augenzeugen eines der ersten Gefechte an der deutsch-russischen Grenze: Plötzlich sahen wir Deutsche auf großen braunen Pferden, die mit gezückten Säbeln in den großen Obstgarten an der Straße zum Szczytniki-Gut [im Kreis Kalisz] eindrangen, und hinter ihnen Kosaken auf kleinen Pferden, die ihnen nachjagten. Es kam zu seinem Säbelkampf, zwei Deutsche fielen, sechs wurden verletzt, der Rest floh.1 Beide Seiten entsandten gleichzeitig zig Schwadronen oder sogar ganze Kavalleriedivisionen zur Aufklärung. Die anschließenden Ereignisse verliefen überall gleich, doch Ausmaß und Opferzahlen waren oft weit größer als im Fall des deutsch-kosakischen Scharmützels in dem großpolnischen Obstgarten. So kam es etwa am Sbrutsch zu erbitterten Auseinandersetzungen zwischen großen Einheiten von Honved-Husaren und Kosaken. Nachdem die Ungarn den Fluss überquert hatten, trafen sie auf ein starkes russisches Reiterregiment, das offensichtlich ebenfalls als Spähtrupp ausgesandt worden war. Sie zerschlugen es und verfolgten es bis an einen Wald, in dem russische MG-Nester versteckt waren. Unter Beschuss kehrten sie auf die galizische Seite zurück und berichteten ihrer Führung, „daß die russischen Grenzkorps schon versammelt waren und sich von der Weichsel bis zum Dnjestr scharf an die Grenzen herangelegt hatten“.2 Außer 73

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den Grenztruppen waren keine anderen Einheiten beobachtet worden. Die Verluste des Spähtrupps waren beträchtlich, zumal im Vergleich zum Nutzen – um zu erfahren, dass die russische Armee zwei Wochen nach der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an das Zarenreich kampfbereit war, hätte man sich nicht auf die andere Seite der Grenze begeben müssen. Insgesamt waren die Aufklärungsmissionen absolut nutzlos. Im Sommer 1914 besaß keine Seite sichere Informationen über die Vorbereitungen des Gegners. Noch im Frühjahr 1915 klagte ein österreichischer General, die Aufklärung der russischen Kavallerie sei „glänzend, da […] ins kleinste Detail über alles orientiert“, die Resultate der eigenen Spähtrupps hingegen „gleich Null“. Ihre Informationen verdankten die habsburgischen Einheiten der miserablen Verschlüsselungstechnik der Russen: Der k. u. k. Heeresstab konnte den Funkverkehr des Zarenheers problemlos abhören.3 Der Instinkt hätte in dieser Situation geraten, die Entwicklung der Ereignisse abzuwarten. An den Militärakademien hatte man die Offiziere aber etwas anderes gelehrt, nämlich dass man versuchen müsse, die Initiative zu gewinnen und dem Gegner den eigenen Kriegsplan aufzuzwingen. Zudem hielten die Strategen von Anfang an Offensivaktionen für die Ideallösung. In den ersten Kriegswochen gab es daher vier große Offensiven, an denen jedes Mal mehrere Hunderttausend Soldaten beider Seiten beteiligt waren. Die Österreicher griffen Serbien von Nordwesten in Richtung Kragujevac an, wo sich das Hauptquartier und die Versorgungszentrale der Serben befanden. Gleichzeitig marschierten sie mit Ziel Lublin ins Königreich Polen ein. Zur selben Zeit attackierten zwei russische Armeen in Ostpreußen. Ein paar Tage später überschritten die Russen auch den Sbrutsch und marschierten mit Hunderttausenden Soldaten in Galizien ein. Die von den Honved-Husaren unter großen Opfern eingeholten Informationen waren offensichtlich nicht viel wert gewesen.

Die ersten Offensiven Wie schon erwähnt, hätte um ein Haar der wenig später zu Recht gerühmte serbische Generalstabschef Radomir Putnik gar nicht am Krieg teilgenommen. Als er nach dem Abenteuer mit der ungarischen Gendarmerie endlich in Serbien ankam, war die serbische Armee schon mobilisiert und von Makedonien, wo sie die jüngsten Eroberungen geschützt hatte, nach Norden verlegt worden. Am 12. August, als die 5. und 6. k. u. k. Armee den Grenzfluss Drina überschritten, gruppierte Putnik seine Truppen um und trat den Invasoren bei Cer entgegen. Die Serben wendeten ein zwei Jahre zuvor im Krieg gegen die Türken erprobtes Manöver an: 74

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den Nachtangriff. Die Wirkung war durchschlagend. In den gegnerischen Reihen brach Chaos aus. Die Serben griffen unverzüglich noch einmal an, um dem Gegner keine Zeit zur Erholung und Neuformierung zu lassen. Der Kommandeur von Cer, General Stepa Stepanović, spornte seine Untergebenen geschickt zum Kampf an. Vor der Schlacht ließ er vor den Soldaten folgenden Befehl verlesen: Helden, ich bin zu euch gekommen, ich weiß, ihr seid abgehetzt von zwei Kriegen, ich weiß, eure Wunden sind noch nicht verheilt, und darum befreie ich jeden vom Eid, der wünscht nach Hause zu gehen, aber jener, der es wünscht, bleibt mit mir im Schützengraben, damit wir die Ehre des Vaterlandes verteidigen.4 Obwohl jedem klar sein musste, dass es sich um leere Worte handelte, erfüllte er seinen Zweck. Die Serben litten wie ihre Gegner unter Müdigkeit und mangelhafter Versorgung, doch sie waren ihnen an Erfahrung und Kampfeslust überlegen. Außerdem machte der Kommandierende der Invasion, General Oskar Potiorek, den Fehler, dass er seine Kräfte zu sehr streute. Im entscheidenden Moment kam daher die 6. Armee der kämpfenden 5. Armee nicht rechtzeitig zu Hilfe. Am 16. August scheiterte der Versuch, die Serben südlich von Šabac aufzuhalten (der Ort sollte bald grausige Berühmtheit erlangen). Unter den dort kämpfenden k. u. k. Soldaten brach Panik aus. Knapp eine Woche später war Serbien befreit. Als in Serbien die Entente ihren ersten Sieg errang, lief im fernen Ostpreußen eine nahezu identische, wenngleich weitaus größer dimensionierte Operation. Zwei russische Armeen, kommandiert von den Generälen Paul von Rennenkampf und Aleksander Samsonow, die einander seit dem Krieg gegen Japan hassten, griffen von Nordosten und Süden her an. Ihre Kommunikation wurde nicht nur durch die Deutschen, sondern auch durch natürliche Hindernisse – die Masurischen Seen – gestört. Gute Organisation und moderne Technik hätten Abhilfe schaffen können, doch beides versagte auf ganzer Linie. Schon kurz nach dem Aufbruch erhielt Samsonow keine Telegramme aus dem Hauptstab mehr. Erst nach einigen Tagen entdeckte ein Offizier, der sich aus anderen Gründen in Warschau aufhielt, im dortigen Telegrafenamt einen ganzen Stapel nicht gesendeter Nachrichten. Man erklärte ihm, es gebe keine direkte Verbindung zu Samsonows Stab und die übrigen Leitungen seien überlastet. Vor Ort in Ostpreußen sah es keineswegs besser aus. Die russischen Divisionen verfügten zwar über moderne Funktechnik, doch sie verschlüsselten ihre Nachrichten nicht, sodass der Inhalt schnell zu den Deutschen durchsickerte. Diese wiederum bewegten sich auf – naturgemäß kürzeren – Bahnlinien im Landesinneren, auf denen Eisen­ 75

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Das bei deutsch-russischen Kämpfen zerstörte Lyck (heute Ełk) (1914).

bahner arbeiteten, die zahlreiche Manöver durchlaufen hatten. Das Schienennetz war das einzige Infrastrukturelement im armen, agrarisch geprägten Ostpreußen, das europäischen Standards entsprach. Vom in der tiefsten Provinz gelegenen Allenstein gingen sechs Bahnstrecken aus. Von Warschau, einer Stadt mit fast einer Million Einwohnern, nach Norden nur drei, von denen eine in Ostrołęka endete, von wo es immer noch 50 Kilometer bis zur Grenze waren. Doch Samsonows Truppen wurden ohnehin zig Kilometer vor der Grenze abgesetzt, ein Teil nutzte die Bahn gar nicht. Zu den ersten Kämpfen mit der 1. Armee von General Rennenkampf kam es am 17. August bei Stallupönen und Gumbinnen. In beiden Schlachten fügten die unterlegenen Deutschen den Russen bedeutende Verluste zu. Trotzdem hielt der Oberbefehlshaber in Ostpreußen, Generaloberst Maximilian von Prittwitz, die russische Übermacht für zu groß und wollte den Rückzug hinter die Weichsel anordnen. Das widersprach den deutschen Plänen und bedeutete zudem den Bruch der Vereinbarung mit Österreich-Ungarn, denn ein solcher Rückzug hätte eine deutsche Entlastungsoffensive im Königreich Polen ausgeschlossen. Durch die Räumung Ostpreußens hätte Österreich-Ungarn also keine Unterstützung von 76

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Nachruf auf General Alexander Samsonsow ­(Razwiedtschik, ­Ende August 1914). Die russische ­Presse verschwieg die Umstände seines Todes und meldete nur knapp, er sei bei Kämpfen in Ost­ preußen gefallen.

deutscher Seite erhalten. Es kam aber anders. Nachdem von Prittwitz dem Generalstab sein Vorhaben mitgeteilt hatte, dauerte es nur vier Tage, bis man seine sofortige Abberufung beschloss. Der Oberbefehlshaber in Ostpreußen und sein Stabschef wurden durch die Generäle Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff ersetzt. Der Rückzug wurde gestoppt. Weil Rennenkampfs Armee im Schneckentempo nach Westen zog, versammelten Hindenburg und Ludendorff alle verfügbaren Kräfte, um Samsonows 2. Armee zu attackieren. Diese rückte, ohne auf großen Widerstand zu treffen, nach Norden vor und besetzte vorübergehend sogar Allenstein. Die Russen wunderten sich nicht über das plötzliche Ausbleiben von Gegenwehr, sie vernachlässigten auch die Aufklärung. Bald war Samsonows Armee fast komplett eingekreist. Der General erkannte zu spät, dass er in die von Hindenburg und Ludendorff gestellte Falle getappt war. Die Kämpfe dauerten eine Woche und endeten am 31. August. 100 000 russische Soldaten gerieten in Gefangenschaft, die Gesamtzahl der Verwundeten, Toten und Ver­ missten war in etwa so hoch wie die österreichisch-ungarischen Verluste in Ser­ bien – über 30 000 Soldaten. General Samsonow und ein Teil seiner Offiziere versuchten, auf eigene Faust aus der Umzinglung zu entkommen. Auf dem 77

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Marsch durch die masurischen Wälder nahm sich der unglückliche Befehlshaber das Leben. Ein Teilnehmer der Flucht e­ rinnert sich: „Keiner von den Stabsoffizieren hat ein Bedürfnis verspürt, vor seiner Leiche nie­derzu­knien, um sich von General Samsonow zu verabschieden und zu sagen: Nicht du bist schuld, sondern wir!“5 In der Tat war Samsonow nicht allein für die Niederlage verantwortlich. Auch sein Rivale versagte, weil er ihm im entscheidenden Moment nicht zur Hilfe kam. Rennenkampf erwies sich im weiteren Verlauf des Ostpreußenfeldzugs als so indolent, dass viele Beobachter ihn der Sabotage verdächtigten (umso mehr, als er Russlanddeutscher war). Als sich bei Tannenberg das Schicksal der 2. Armee entschied, wartete Rennenkampf ruhig auf das Eintreffen der Deutschen. In der einwöchigen Schlacht an den Masurischen Seen konnte er zwar eine Ein­ kreisung verhindern, erlitt während des Rückzugs aber riesige Verluste. Mitte September war Ostpreußen schon fast völlig frei von russischen Truppen und Hindenburgs Siege wurden zu solch gigantischen Ausmaßen aufgebläht, dass sie noch Jahrzehnte später deutsche Nationalisten beflügelten. Erich Ludendorff kam auf die Idee, die erste der siegreichen Auseinandersetzungen Schlacht bei Tannenberg zu nennen. Seine Begründung: „Wird der Deutsche es jetzt wie damals zulassen, daß Litauer und namentlich der Pole aus unserer Ohnmacht ­Nutzen ziehen und uns vergewaltigen? Soll Jahrhunderte alte deutsche Kultur verloren gehen?“6 Der schlaue General imitierte damit – vermutlich unbewusst – die stilistische Figur, die etwa auch der Polenclub, das heißt die Polnische Fraktion in der Duma, nach Kriegsausbruch in seiner Treueerklärung gegenüber dem Zaren ­gebraucht hatte. Es gab freilich einen grundlegenden Unterschied: Der deutsche Chauvinist erfand seine „Schlacht bei Tannenberg“, nachdem sie gewonnen ­war. Die Tatsache, dass der Gegner bei der „Revanche“ für die gleichnamige Schlacht des Jahres 1410 ein ganz anderer war, störte ihn nicht. Warum auch? Luden-dorff hatte ein exzellentes Gespür für moderne Propaganda und die Presse übernahm sogleich den schiefen historischen Vergleich, der so wunderbar zur gän­gigen Vorstellung vom Mittelalter als Wiege des modernen Nationalismus ­passte. Zeitgleich mit den Offensiven in Serbien und Ostpreußen begann der österreichisch-ungarische Angriff auf Lublin. Vorausgegangen waren Operationen einer kleineren deutschen Formation, die Kalisz erobert und niedergebrannt hatte, sowie der Einmarsch polnischer Schützeneinheiten in Kielce. Am 21. August überschritt die 1. Armee unter General Viktor Dankl den Grenzfluss Tanew und 78

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Patriotische Postkarte aus Neidenburg. Sie zeigt sowohl die großen Zerstörungen durch den russischen Überfall als auch das durch die Anzahl der Kriegsgefangenen belegte ­Ausmaß des deutschen Triumphs. Im Mittelpunkt steht aber der siegreiche Befehlshaber des Ostpreußenfeldzugs.

schlug anschließend in der blutigen dreitägigen Schlacht von Kraśnik die russische 4. Armee zurück. Östlich von Dankls Truppen drang die 4. Armee unter General Moritz Auffenberg auf russisches Gebiet vor und besiegte in der Schlacht von Komarów (26. August bis 2. September) die 5. russische Armee. Aus diesen Siegen zog man aber keinen Nutzen. Noch bevor die Schlacht von Komarów zu Ende war, erreichte die russische Offensive in Ostgalizien die Hauptstadt der Provinz – in der Nacht vom 2. auf den 3. September wurde Lemberg evakuiert. Die Niederlage in Galizien machte den bis dahin erfolgreichen österreichisch-ungarischen Feldzug nach Lublin zur Extremerfahrung. Stanisław ­Kawczak, Soldat im 20. Infanterieregiment des 1. Krakauer Korps in Dankls ­Armee, beschreibt, wie sich die Offensive in einen albtraumhaften Rückzug verkehrte: Wir springen auf und rennen los. […] Die Russen setzen uns nach. Ich laufe wie ein Hase, mir scheint, ich flöge durch die Luft, weil ich die Erde nicht spüre. Noch hundert Schritte und ich werfe mich halbtot in einen Graben. 79

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Überall sind hier Soldaten aus unserem Regiment. Alle zusammengekauert. […] Wir ziehen von einem Ort zum andern. Jedes Gefühl für Zeit und Raum geht verloren. Nachts Märsche, tagsüber Granaten, Gewehre. […] Auf einer Flussinsel fallen ein paar Dutzend zusammengepferchte Menschen übereinander her; ein „Slowake“ reißt sich die Kleider vom Leib, winkt mit einem entsetzlichen Lachen, von dem es mir kalt den Rücken hinunterläuft, zu mir hinüber und ruft: ‚Pódź sem kamrat!‘ [komm her, Kamerad]. Vor meinen Augen schießt sich der Hauptmann des 100. Regiments mit dem Revolver in den Kopf.7 In der Nachhut der zurückweichenden österreichisch-ungarischen Truppen kämpften Józef Piłsudskis Legionäre, zum Großteil junge Männer aus Akademikerfamilien, die einen reichen Schatz an Erinnerungen hinterließen. Viele von ihnen erwarteten vom Krieg weniger Ruhm als Abenteuer, und zwar umso bunter und literarischer, als in den ersten Kriegswochen die Gegner meist Kosaken waren. Als die Legionäre Anfang August ins Königreich Polen einmarschiert waren, hatte es keinen größeren Widerstand von russischer Seite gegeben. Der Rückzug vor der Übermacht der starken russischen Truppen war für sie die erste wirkliche Erfahrung des modernen Kriegs, und sei es der Folgen eines Beschusses mit Maschinengewehren: Einige konvulsivisch zuckende Körper fielen zu Boden. Die Gesichter verzerrt, leichengrün … – Erlöschende Augen … Köpfe mit abgerissener Schädeldecke, – wie mit einer Klinge durchschnittene Kehlen … Die Leichen fielen eine auf die andere. Jeden Moment rutschte ein Soldat mit ausgebreiteten Armen von der Aufschüttung ab und fiel konvulsivisch zu Boden. Wer sich nur etwas zu weit aus der Deckung wagte, war tot. Die Schreie der Verwundeten, das Röcheln der Sterbenden im Todeskampf tönten durcheinander. Das Blut floss sich in Strömen über die Erde und verwandelte den Boden des Grabens in einen rostigen Sumpf, und die Maschinengewehre feuerten noch immer. Gut fünf Minuten dauerte dieses Feuer und sein Ergebnis waren sieben schreckliche, kalte Leichen.8 Ende September gelangten auch die Legionäre schließlich auf die galizische Seite der Grenze. Hier trafen sie auf frische österreichisch-ungarische Divisionen, die sich auf einen neuen Angriff vorbereiteten. Der Krieg, den sie erst einige Tage zuvor in seiner ganzen Grausamkeit kennengelernt hatten, zeigte ihnen hier seine Wucht: 80

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Um 6 Uhr morgens brechen wir alle auf – aber wohin wir gehen, wissen wir nicht. Jetzt erst sehen wir die Macht des Krieges – auf parallelen Flächen, soweit das Auge reicht, sieht man überall Soldaten, Infanterie, Kavallerie, Artillerie. Gegen 10 Uhr morgens rasten wir im Feld – wir sind Tausende.9 Ohne den russischen Überfall auf Ostgalizien wäre der Rückzug aus dem Königreich Polen weniger chaotisch verlaufen. Er war die einzige gelungene Sommeroffensive an der Ostfront. Die österreichisch-ungarische Kavallerieaufklärung hatte nicht feststellen können, dass die russischen Hauptstreitkräfte am Sbrutsch standen und zum Marsch auf Lemberg bereit waren. Doch selbst, wenn Conrad von Hötzendorf davon gewusst hätte, bleibt unklar, ob es seine Pläne beeinflusst hätte. Die Anhänger seiner militärischen Begabung betonten die Kühnheit seiner Manöver und den Mut, mit dem er die immer zu kleinen Truppen führte. Auf dem Vorgelände vor Lemberg war die Übermacht der Russen erdrückend und die einzige, letztlich unerfüllte Hoffnung der Verteidiger bestand im raschen Eintreffen der 2. Armee von der serbischen Front. Unterdessen stopfte man die Löcher, so gut es irgend ging. Schon Anfang September verlegte der österreichisch-ungarische Stabschef einen Teil der aus dem Königreich zurückgezogenen Truppen nach Ostgalizien und startete eine Gegenoffensive. Wieder waren die Truppen der Monarchie deutlich schwächer als die Russen und wieder erlitten sie eine Niederlage. Am 11. September befahl Conrad von Hötzendorf seinen erschöpften Einheiten den blitzartigen Rückzug hinter den San. Dieser erneute Eilmarsch verwandelte sich in eine wilde Flucht. Ein Teil der zurückweichenden österreichisch-ungarischen Truppen verfehlte die vorgesehenen Positionen und hielt erst zig Kilometer weiter westlich. Die endgültige österreichisch-russische Front verlief ab Anfang der zweiten Septemberhälfte auf einer Linie von Radomsko im Nordwesten über Tarnów bis zum nordöstlichen Teil des Komitats Máramaros (heute die Gegend um Sighetu Marmației an der rumänisch-ukrainischen Grenze). Krakau drohte eine Belagerung. Der Krakauer Historiker Jan Dąbrowski notierte unter dem Datum 21. September: „Die Leute sind zunehmend pessimistisch; man rechnet schon mit einer möglichen russischen Regierung. Die Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt, denn die nächsten Tage werden eine Entscheidung bringen.“ 10 In den von Russland kontrollierten Gebieten lag auch die moderne und stark besetzte Festung Przemyśl, auf die sich in den folgenden Monaten alle Aufmerksamkeit und Hoffnungen der österreichisch-ungarischen Öffentlichkeit richteten.

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Die Bilanz der vier Sommeroffensiven war verheerend. Vor allem die österreichischen und russischen Verluste überstiegen alle Vorstellungen, die man sich vom bevorstehenden Krieg gemacht hatte. Die 400 000 Toten, Verwundeten und Kriegsgefangenen aufseiten der Donaumonarchie bedeuteten rund ein Drittel der gesamten Kriegsverluste. Die russischen Verluste erreichten ein ähnliches Ausmaß. Zum Vergleich: Die Anzahl der in der Schlacht von Tannenberg gefangen genommenen russischen Soldaten war ähnlich hoch wie die Anzahl der deutschen Kriegsgefangenen vor Stalingrad im Winter 1943. Beide Seiten verloren ungeheuer viel Material – die Russen infolge der Niederlage in Ostpreußen, die Österreicher bei ihrem Rückzug aus Ostgalizien und Serbien. Auf ein derartiges Gemetzel waren selbst die Berufssoldaten nicht vorbereitet. Stanisław Kawczak beschreibt die Inspektion der Reste des 20. Infanterieregiments nach der gescheiterten Expedition ins Königreich Polen: Er zählte uns. Mit Trainfahrern, Ärzten und Kanzlisten waren wir 108, in Worten: einhundertacht. Von dreitausend Soldaten nach nicht ganz einem Monat Krieg […]. Ich sah, wie Oberst Puchalski zu Seite trat und … sich mit einem Tuch die Augen wischte.11 In der Überzeugung, der Krieg werde nicht lange dauern, hatten die Stabsoffiziere das Beste, was ihre Armeen zu bieten hatten, in die Sommeroffensiven geworfen. Die Rechnung war nicht aufgegangen und nun mussten die dezimierten Armeen und Korps neu aufgebaut werden. Die menschlichen Verluste konnten ausgeglichen werden, sofern die Rekrutierungsstellen effektiv arbeiteten. Dabei sank freilich das Ausbildungsniveau der Armee und auch das soziale Profil änderte sich (in den Vorkriegsjahren hatte man vor allem Bauern eingezogen, Arbeiter und Akademiker waren zurückgestellt worden). Man konnte nicht auf die Schnelle neue Offiziere ausbilden. So machte sich schon im Herbst 1914 ein Mangel an Berufssoldaten bemerkbar. Bei einer Inspektion des 28. Prager Infanterieregiments Anfang September stellte sich heraus, dass nur noch neunzehn aktive Offiziere dienstfähig waren. Schon im ersten Kriegswinter begann man, Berufsoffiziere durch Reservisten – Zivilisten – zu ersetzen. Für die k. u. k. Armee ergab sich daraus ein Problem, das andere Streitkräfte nicht hatten. Generell war Deutsch die Dienstsprache, in einer kleineren Anzahl von Einheiten – den Regimentern der Territorialverteidigung des Königreichs – Ungarisch. Angesichts der Vielsprachigkeit der Rekruten wurden für die niederen Ränge zusätzliche Regelungen eingeführt: In den Fußtruppen umfasste die Kommandosprache rund 80 Wendungen, die alle Offiziere und Unteroffiziere 82

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kennen sollten, um ihre Einheiten kommandieren zu können. Hinzu kam die Regimentssprache, das heißt rund 400 Wörter in einer anderen Sprache als Deutsch, die alle Offiziere und Unteroffiziere der Regimenter kennen sollten, wenn sie von mehr als zwanzig Prozent der Soldaten gesprochen wurde. In der Praxis sah das oft so aus, dass die Befehlshaber die Sprache ihrer Untergebenen unbarmherzig entstellten: „Die nichtdeutschen Soldaten erzielten ihrerseits nur sporadische Erfolge beim Erlernen der Kommandosprache, die in ihren Mündern ein Eigenleben entwickelte, indem sie ganz unerwartet Klang und Form eines Slangs annahm – der ebenso wenig zur Verständigung taugte wie die Regimentssprache der meisten Offiziere.“12 Mit dem massenhaften Tod von Offizieren und Unteroffizieren – deren Nachfolger Kommando- und Regimentssprache oft nicht mehr beherrschten, selbst wenn sie sie vor langer Zeit im Rahmen von Reserveübungen mehr oder weniger gelernt hatten – reduzierte sich die Kommunikation in den Streitkräften auf Handzeichen und Schreie. Es gibt unzählige Anekdoten zu diesem Thema. Ein österreichischer Unteroffizier, der einen vierköpfigen Nachrichtentrupp kommandierte, erklärte einem deutschen Kameraden die Spezifik seiner Aufgabe wie folgt: „Diese drei Kerle da“, sagt er und deutet auf seine Mannschaft, „hat man mir beigegeben, dass ich mit denen die Telefonleitungen legen soll. Der erste ein Bosniak, der zweite ein Tscheche und der dritte ein Ungar. Keiner versteht Deutsch. Nicht einmal untereinander können sie sich verständigen. Ich kann ihnen nur durch Gesten Befehle geben. Manchmal möchte ich sie alle drei an die Telegrafenpfähle hängen.“13 In Russland war die Situation aus anderen Gründen angespannt. Hier waren Studenten vom Wehrdienst befreit. Um das natürliche Reservoir an Reserveoffizieren ausschöpfen zu können, musste man sie erst entsprechend schulen. In der Zwischenzeit verschlechterte sich die Qualität der Führung drastisch. Und nicht nur das. Beide Mächte betrachteten das Offizierskorps zu Recht als Stütze der Staatsmacht. Mit dem Dienstantritt der Reservisten begann sich dies sukzessive zu ändern.

Die zweite Welle Unbeeindruckt von den Verlusten, planten Russen, Deutsche und Österreicher neue Offensiven. Conrad von Hötzendorfs Hauptziel bestand nun im Entsatz der belagerten Festung Przemyśl und in der Rückeroberung Lembergs. Die Mittelmächte wollten dieses Ziel durch einen Zweifrontenangriff erreichen: Im Königreich rückten deutsche und österreichisch-ungarische Truppen in Richtung Warschau und Dęblin vor. In Ostgalizien erreichte die österreichisch-ungarische 83

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Offensive den San und befreite vorübergehend Przemyśl. Im Königreich besetzten deutsche Einheiten unter Führung von General August von Mackensen am 6. Dezember Lodz. Das waren jedoch schon alle Erfolge. Die doppelt so starken russischen Truppen schlugen die Angreifer in beiden Abschnitten zurück und fügten ihnen hohe Verluste zu. Spätestens jetzt war klar, dass der Krieg sich in ein stumpfsinniges Gemetzel verwandeln würde. Zu den entsetzlichsten Ereignissen der ersten Monate gehören sicher die mehrtätigen Versuche der 4. k. u. k. ­Armee, den San zu überqueren. Der Offensive „um jeden Preis“ folgte bald wieder ein „Lösen vom Feind“. Auch dieser Rückzug war nicht sonderlich gut organisiert: In die Trosse, die unter Schreien und Flüchen in allen möglichen Sprachen dahinzogen, drängten nun Artillerie und Munitionsparks, die sich durch ihr Gewicht und Dreistigkeit den Weg bahnten. Zwischen Trosse und Artillerie mischten sich Fußvolk und Maschinengewehre. Kurzum, nachdem die Armee einmal auf ihre eigenen Trosse gestoßen war, nahm der Rückzug den Charakter einer ungeordneten Flucht an, wo jeder der Erste sein wollte, um dem Feind möglichst weit zu entkommen.14 Der Feldzug fand fast exakt zwei Jahre nach der bulgarischen Offensive in ­Ost­­thrakien statt – unter ähnlichen Wetterverhältnissen und mit kaum besserer medizinischer Versorgung. Zu allem Übel brachen im österreich-ungarischen Heer Cholera und Typhus aus. Während der ständigen Märsche war die Ver­sorgung von Verwundeten und Kranken besonders schwierig. Felicjan Sławoj Składkowski, Feldarzt der Legionäre und 20 Jahre später polnischer Ministerpräsident, schildert diesen zweiten Rückzug aus dem Königreich Polen als eine der tragischsten Erfahrungen des ersten Kriegsjahrs: Als wir eine Scheune passierten, entdeckten wir eine von den Österreichern liegen gelassene Rotkreuzflagge. Wir beschlossen, sie auf den Wagen zu nehmen. Kaum hatten wir angefangen, sie zusammenzurollen, hörten wir aus der Scheune Stöhnen und unterdrückte Stimmen. Wir liefen hin. Janek leuchtete mit seiner Laterne hinein … wir erstarrten. Die ganze große, mit Stroh ausgelegte Scheune war voll mit Schwerstverwundeten, die die Österreicher hier zurückgelassen hatten. Plötzlich ertönten Rufe in verschiedenen Sprachen: Polnisch, Deutsch, Tschechisch, Ungarisch. „Hilfe, Wasser, Erbarmen“, scholl es uns aus diesem Grab noch lebender Opfer entgegen. Manche kamen durch das Stroh auf uns zu gekrochen. Es waren hundert, vielleicht mehr Verwundete. Unmöglich, sie mitzunehmen.15 84

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An eine ähnliche Situation erinnert sich ein Ungar, der in vorderster Linie kämpfte und mit seiner Einheit wortwörtlich über Leichen und Verwundete gehen musste: Und im Nachhinein kann ich mir meine Herzlosigkeit nicht verzeihen, mit der ich, während ich im schmalen Graben dahinlief, über die dort befind­ lichen Verletzten trampelte. Während wir so dahinliefen, erduldeten die Verstor­benen, die unabhängig von den Uniformen ihrer Nation auf dem Boden der Schanze auf dem Bauch, auf dem Rücken oder auf der Seite lagen, stumm, dass wir ihnen gleichsam die letzte Ehre für ihren Heldentod erwiesen, indem wir mit unseren Stiefeln auf ihren warmen, weichen, verstümmelten und blutigen Kadavern herumtrampelten. Die Verwundeten aber, sowohl Russen als auch unsere Leute, die am Boden zwischen den Toten ­lagen oder auf diesen saßen […] und sich mit der Versorgung ihrer Wunden beschäftigten, blickten uns entsetzt an; uns, die Barbaren, die gnadenlos über sie hinwegfegten. Jammernd flehten sie uns an, nicht auf ihren hilflosen Körpern herumzutrampeln. Wir aber mussten rücksichtslos weiterrennen, und zwar selbst auf die Gefahr hin, sie dabei zu zertrampeln, weil wir noch nicht am Ziel waren.16 Den Rest der Schilderung ersparen wir dem Leser. Im November und Dezember wurde an den Fronten in Galizien und im ­Königreich ununterbrochen gekämpft. Die Russen rückten einige Male bis Krakau vor. Am 5. Dezember standen sie zwölf Kilometer vom Hauptmarkt entfernt. Die Stadt bereitete sich auf die Verteidigung vor: Rund um die Stadt wurden in einem Umkreis von einigen Kilometer Dörfer niedergebrannt, um dem Feind die Deckung zu nehmen, die Bevölkerung wurde evakuiert. Die ganze Umgebung ist wie mit Spitzen mit neuen Forts, Schanzen usw. überzogen. Jeder, der nicht Proviant für drei Monate hat, wird aus der Stadt evakuiert. Seit einigen Tagen sind die Lebensmittelgeschäfte geschlossen, um die nicht versorgten Einwohner zum Verlassen der Stadt zu zwingen und andererseits zu verhindern, dass die Vorräte von den tausenden Soldaten, die durch Krakau ziehen, aufgekauft werden. Cafés und Restaurants sind nur wenige Stunden am Tag geöffnet und schließen abends um neun. In die Häuser werden Soldaten einquartiert.17 Wie kurz zuvor an der Marne verkehrten auch in Westgalizien Hotelomnibusse zwischen Front und Hinterland, die Schwerverletzte von der Front wegbrachten 85

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und die Kämpfenden mit Material und Munition versorgten. Die Russen waren weiterhin zahlenmäßig überlegen, zumal Conrad von Hötzendorfs ehrgeizige Operationen die Reihen stark gelichtet hatten. Die Verteidiger hatten aber einen räumlichen Vorteil. Im Rücken hatten sie eine große, befestigte Stadt mit guter Verkehrsanbindung. Die Versorgungsprobleme waren gelöst, was nicht nur ein Verdienst der Intendanz war. Die Soldaten genossen die Unterstützung der Zivilisten. Die Bevölkerung Westgaliziens und des Karpatenvorlands war der Armee gegenüber freundlich eingestellt. Im Dezember startete von Krakau aus die österreichisch-ungarische Gegenoffensive. Die Kämpfe dauerten bis Weihnachten. Erst in der letzten Woche des Jahres 1914 glich sich der Krieg in Galizien kurz den Kämpfen an der Westfront an. Beide Seiten gruben sich auf einer langen, leicht nach Westen hin gewölbten Linie ein, die sich von Przasnysz im Norden bis nach Vatra Dornei in der Bukowina im Südosten erstreckte.

Der Gaskrieg Bei Kriegsausbruch verfügten sowohl Deutschland als auch Frankreich über Chemiewaffen. Ihr Einsatz war zwar gemäß dem II. Haager Abkommen verboten, doch keine der beiden Seiten hatte diesbezüglich große Skrupel. Das Problem lag eher in der geringen Effektivität der verfügbaren Mittel. Die Substanzen, die schon 1914 an der Front zum Einsatz kamen, waren Tränengas­ derivate. Die Franzosen setzten sie erstmals im August 1914 ein, die Deutschen wenig später. In beiden Fällen entsprach die Wirkung der chemischen Waffen nicht den Erwartungen der Gaskriegbefürworter. Vom ersten deutschen Gas­angriff an der Westfront erfuhr der Gegner sogar erst nach Kriegsende. Trotz der Misserfolge experimentierte man weiter mit Gasgeschossen. An der Ostfront kamen sie erstmals Ende Januar 1915 bei Bolimów (Kreis Skierniewice) zum Einsatz. Die Deutschen beschossen die russischen Stellungen mit Granaten, die Xylyl- und Benzylbromide, das heißt ein starkes Tränengas, enthielten. Der von Ludendorff geplante Angriff scheiterte aber, weil sich das Gas bei niedrigen Temperaturen nur schlecht ausbreitete und die russische Artillerie nicht lahmlegte. Statt leicht in die Stellungen des vorübergehend geblendeten Gegners einzudringen, erlitten die Deutsche hohe Verluste und mussten sich nach dem russischen Gegenangriff zurückziehen. Der Reporter der „New York Times“ berichtete, die verwundeten Russen, die im Krankenhaus von Żyrardów versorgt wurden, hätten noch so viele Chemiedämpfe ausgeströmt, dass die Ärzte ihre Arbeit immer wieder unterbrochen hätten, um frische Luft zu schnappen.18 86

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Obwohl die ersten Erfahrungen wenig ermutigend waren, intensivierte man die Arbeit an neuen Waffen. Treibende Kraft in Deutschland, das über die am besten entwickelte chemische Industrie verfügte, war der spätere Nobelpreisträger Fritz Haber, ein hervorragender Wissenschaftler und Leiter der Chemie­ abteilung im Kriegsministerium. Mit seinen Mitarbeitern arbeitete er sowohl an neuen Giftgasen als auch am Schutz der eigenen Soldaten vor feindlichen Gasangriffen. Die ersten Gasmasken führte die Wehrmacht zwar erst im September 1915 ein, doch immer noch deutlich früher als die übrigen am Krieg beteiligten Armeen. Insgesamt kamen in den Jahren 1914–18 in über 400 Gas­angriffen mehr als zwanzig verschiedene Substanzen und eine noch größere Anzahl auf ihnen basierender Gemische zum Einsatz. Die Einwick­lungs­ richtung der neuen Waffen war eindeutig: von Substanzen, die den Gegner vorübergehend außer Gefecht setzten, hin zu starken, todbringenden Giften. Haber selbst war ein großer Freund von Gift- und Stickgasen. Wie die deutsche Heeresleitung hoffte er, mit ihrer Hilfe ließe sich die Front durchbrechen. Fast hätte sich diese Hoffnung schon im April 1915 bei Ypern erfüllt. Haber überwachte persönlich den Einsatz der Flaschen mit Chlorgas, das bei günstigem Wind auf die feindlichen Stellen freigesetzt wurde. Trotz hoher Ver-

1917 verfügten die bulgarischen ­Soldaten an der Saloniki-Front bereits über deutsche Gasmasken.

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luste und Panik in den französischen Gräben gelang den Deutschen der Durchbruch allerdings nicht. Die Kämpfe in dieser Region dauerten mit wechselnder Intensität bis Kriegsende an. Ende April schickte die deutsche Heeresleitung Fritz Haber und im Umgang mit Chlorgas geschulte Pioniere an die Ostfront. Experimentierfeld war wieder die Umgebung von Żyrardów und Sochaczew. Ende Mai, im Juni sowie Anfang Juli wurden hier einige Chlorgasangriffe durchgeführt. Die Kämpfe an Bzura und Rawka zeigten der deutschen Führung erneut, wie sehr die Wirksamkeit der neuen Waffen vom Wetter abhing. Einer der ersten Angriffe scheiterte, weil der Wind die Giftgaswolke über die erste Linie der russischen Stellungen hinwegtrieb und die russischen Soldaten erfolgreiche Gegenwehr leisteten. Der Juliangriff endete in einer Katastrophe. Der Wind drehte, die Gaswolke traf die deutschen Stellungen und tötete dort die unzureichend geschützten Soldaten. Die Gefechte in der Umgebung von Żyrardów und Sochaczew waren die größten Tests chemischer Waffen an der Ostfront. In kleinerem Umfang kamen sie in Rumänien, Wolhynien und an der Saloniki-Front zum Einsatz. Von 1916 an waren Chemie-Trupps Teil des österreichisch-ungarischen Heeres. Die Meinungen zu den neuen Waffen waren geteilt. Viele Militärs, zumal aus der ­älteren Generation, lehnten sie als unritterlich und unmoralisch ab. Der ehemalige preußische Kriegsminister Karl von Einem schrieb in einem Brief an seine Frau: Aber ich bin wütend über das Gas und seine Verwendung, die mir widerlich gewesen ist von Anfang an. Wir verdanken die Einführung dieses so unritterlichen, nur von Schuften und Verbrechern sonst gebrauchten Mittels in die Kriegführung natürlich Falkenhayn, dessen Abenteuerlichkeit glaubte, mit diesem Mittel im Handumdrehen den Krieg zu gewinnen. Jetzt haben es unsere Feinde auch.19 Wie effektiv waren die Kampfgase? Die Anzahl der auf ihren Einsatz zurückzuführenden Toten, Verwundeten und Kranken lag sicher niedriger als bei konventionellen Waffen: Am Ende des Krieges enthielt jedes dritte deutsche Geschoss eine chemische Ladung, doch der Anteil der durch sie verursachten Toten und Verwundeten lag unter vier Prozent aller Opfer an der Westfront. Die Technologie konnte nur bei günstigem Wetter und auf begrenztem Gebiet eingesetzt werden. Der Wind, der in Europa meist von West nach Ost weht, erleichterte den Mittelmächten die Anwendung der neuen Waffe in Polen 88

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Russische Artilleristen mit provisorischen Gasmasken während der Brussilow-Offensive.

oder in der Ukraine, doch er erschwerte den Einsatz an der Westfront. Die Schutzmittel gegen Chemiewaffen entwickelten sich parallel, sodass die Effektivität des Giftgases mit der Zeit sank. Es hatte aber aus Sicht der Generalstäbe einen anderen großen Vorteil. Die Gaswolken lösten in den gegnerischen Reihen Panik aus, zumal dort, wo die Soldaten unzureichend geschützt waren. Das galt vor allem für das russische Heer, das mit großer Verspätung ins chemische Wettrüsten eingetreten war. Der britische Attaché Knox erinnert sich, dass während des Juniangriffs an der Rawka die russischen Soldaten nicht mit prototypischen Gasmasken ausgestattet waren, obwohl sie schon in recht großer Menge verfügbar waren: In der Presse hieß es über diesen Angriff, die „Russen hatten Zeit zur Anwendung entsprechender Schutzmittel“. Wie sich später zeigte, bestanden die „Schutzmittel“ darin, dass die Soldaten auf ein Taschentuch urinierten und sich damit das Gesicht bedeckten, weil die aus Petrograd geschickten Sauerstoffgeräte noch in Warschau auf die Verteilung an die Einheiten warteten. Über tausend Männer starben durch das Gas.20 Das genaue Ausmaß der russischen Verluste durch deutsche und österreichisch-ungarische Giftgasangriffe ist nicht bekannt. Nicht alle Verwundeten 89

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und Toten wurden in der Kriegsstatistik erfasst, zumal während des Rückzugs aus dem Königreich Polen im Frühjahr und Sommer 1915 ein solches Chaos herrschte, dass kaum jemand an solcherart Buchführung dachte. Die Historiker sind sich aber mehr oder weniger über die Anzahl der russischen Verluste im Verhältnis zur Anzahl der Toten und Verwundeten an der Westfront einig. Diversen Nachkriegsschätzungen zufolge können sie die Hälfte, womöglich sogar zwei Drittel aller im Ersten Weltkrieg durch Giftgas getöteten oder verletzten Soldaten betragen haben.21 Fügt man die deutschen und österreichisch-ungarischen Opfer in Ostmitteleuropa hinzu, wird endgültig klar, an welcher Front der Gaskrieg in wirklich großem Ausmaß geführt wurde. Dass nicht Bolimów, sondern Ypern zu seinem Symbol wurde, sagt wenig über den wahren Charakter des Ersten Weltkriegs, umso mehr aber über die dominante Stellung der Westfront in der europäischen Erinnerungskultur.

Der Winter Während nach der Einnahme von Lodz durch die Deutschen der Jahreswechsel im Norden einigermaßen ruhig verlief, begann im Karpatenabschnitt ein blutiger Stellungskrieg, auf den beide Seiten nicht vorbereitet waren (und nicht sein konnten): Das Eisenbahnnetz war dort dünn, es mangelte an Verpflegung und Brennmaterial; unterdessen zog ein strenger, kontinentaler Winter heran. Das österreichisch-ungarische Heer versuchte mit geringer deutscher Verstärkung, zum belagerten Przemyśl vorzudringen. Wie zwei Monate zuvor fiel auch diese Operation mit einer russischen Offensive zusammen, deren Ziel darin bestand, nach Ungarn vorzustoßen. Die Kämpfe dauerten den ganzen Winter. Die Soldaten kämpften unter unvorstellbar harten Bedingungen bei Temperaturen von bis zu –30 Grad in teils hüfthohem oder noch höherem Schnee und in großen Höhen. Angreifer waren im Schnee ein leichtes Ziel. Die Soldaten beider Seiten hatten noch immer keine Helme erhalten, Felssplitter vergrößerten daher die ohnehin nicht geringen Verluste. Eine Neuheit waren indessen die Handgranaten, die von den Russen eingesetzt wurden. Ein Teilnehmer der Kämpfe in den Bieszczady schreibt: Am 1. März herrschte Nebel und Schneetreiben. Jede Orientierung war unmöglich, ganze Regimenter irrten umher, die Verluste waren enorm; am 6. März neue Wetteränderung: wolkenloser Himmel, tagsüber Tauwetter, nachts Kälte bis –20 Grad. Dadurch vereisen die Berghänge, sodass jeder Angriff, selbst ohne Gegenwehr des Feindes, zur touristischen Heraus­ forderung wird. Hat man das alles überstanden, verschwindet die Sonne, die 90

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am Tag die Kämpfenden wenigstens etwas wärmt, und der eisige Nordwest­ wind nimmt den Männern die letzte Wärme. Im ganzen Kampfgebiet gibt es kein Quartier, tage- und wochenlang steigt niemand aus seinen Kleidern, die sich bei vielen in einen fest anliegenden Eispanzer verwandelt haben. Die zu Stein gefrorene Erde macht es den Angreifenden unmöglich, sich vor dem feindlichen Feuer einzugraben. Die Verluste steigen enorm; die Verwundeten, deren Abtransport verteufelt schwer ist, sterben in Massen. Die von wochenlangen Kämpfen und Mangel erschöpften Männer können nicht einmal nachts an Schlaf denken, denn das würde den sofortigen Tod durch Erfrieren bedeuten. Am 10. März gab es einen Schneesturm: Der Angriff stockte, auf ganze Reihen von Tirailleuren legte sich für immer ein Leichentuch aus Schnee.22 Wetterberichte illustrieren den Hintergrund des Tagebuchs. Am 4. Februar betrug die Temperatur auf den Karpatenpässen –25° C, es wehte ein starker Wind und es schneite. Drei Tage später waren es 0° C, am 12. Februar +6° C. Wege, Stellungen und Erdhütten versanken unter Lawinen tauenden Schnees. Am 7. März wiederum sank die Temperatur auf –13° C, alles gefror zu Eis. Ähnliche Eindrücke notierte am 1. Februar 1915 der deutsche Aristokrat in Uniform Harry Graf Kessler: „Den ganzen Tag ziehen abenteuerlich aussehende Kolonnen im Schneetreiben auf der Strasse vor unserer Hütte vorüber: Tragtiere mit tiefverschneiten Lasten, Ochsenkarren (gleich fünfzig bis hundert hintereinander), Schlitten mit Munition oder Proviant, österreichische Infanteristen, die sich kaum schleppen können; oder in umgekehrter Richtung Trupps dumpfer stuhr blickender russischer Gefangener, auf die der Schnee wie ein Schicksal niederfällt. Man sitzt wie im Kino und sieht dem Karpathenübergange zu …“23 Den Luxus eines warmen Quartiers wurde auf beiden Seiten der Front nur wenigen Kämpfenden zuteil. Beide Armeen waren erschöpft, schlecht ausgerüstet, nicht vorbereitet auf den Winter in der Gebirgseinöde. Je kälter es wurde, desto unsicherer wurde die Versorgung mit überlebenswichtigen Gütern. Die österreichisch-ungarischen Truppen versuchten immer wieder anzugreifen, obwohl ihnen ständig die Waffen einfroren. Auf den Karpatenpässen brauchte niemand schweres Artilleriefeuer, um den Gegner zu dezimieren. Die mehrwöchigen Strapazen, Hunger und Kälte waren ebenso mörderisch. Die 2. k. u. k. Armee meldete am 14. März den Verlust von 40 000 der ursprünglich 95 000 Soldaten – 6000 wurden im Kampf getötet oder verwundet, der Rest fiel Krankheiten und dem Frost zum Opfer. Jede Woche er91

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Österreichisch-ungarische Soldaten in den Karpaten.

froren Hunderte Soldaten, Hunderte Verwundete starben infolge mangelhafter medizinischer Versorgung in den Schützengräben. Mit einsetzendem Tauwetter gingen von den Bergen Lawinen ab und rissen die im Schnee begrabenen Leichen von Österreichern und Russen mit sich ins Tal.24 Statistisch überstand ein k. u. k. Soldat in diesem Winter in den Karpaten sechs Wochen ohne Schäden an Leib und Leben; auf russischer Seite standen die Chancen sicher ähnlich. Die österreichisch-ungarischen Verluste in den namenlosen Schlachten auf den Pässen werden auf die gigantische Anzahl von 600 000 Kranken, Verwundeten, Vermissten und Toten geschätzt. Die angestrebten Ziele erreichte keine Partei. Weder gelangte Hilfe nach Przemyśl noch hielten sich die Russen länger auf der anderen Seite des Gebirges. Anfang November erneuerte Österreich-Ungarn auch den Generalangriff auf Serbien. An dieser Front war eigentlich seit August ununterbrochen gekämpft worden, doch nun erfolgte ein weiterer massiver Schlag. Den Serben gingen langsam die Reserven aus. Radomir Putnik hatte Ministerpräsident Pašić gebeten, er solle Friedensverhandlungen aufnehmen. Die Regierung hatte jedoch beschlossen, den Abwehrkampf fortzusetzen. Abgesehen davon, machten schlechtes Wetter, die fatalen territorialen Gegebenheiten und Schwierigkeiten mit dem 92

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Nachschub beiden Seiten zu schaffen. Es schneite, während es in beiden k. u. k. Armeen an warmer Kleidung fehlte; viele Soldaten hatten auch keine Schuhe mehr. Die Moral war auf dem Tiefpunkt. Doch der Gegner war keineswegs in besserer Verfassung. Im November wurden Desertionen in der serbischen ­Armee zu einem so ernsten Problem, dass die Fahnenflüchtigen nicht mehr nur erschossen wurden, sondern der Staat auch ihr Vermögen konfiszierte und ihre Familien Repressalien aussetzte. Nicht einmal theoretisch war die Rede davon, Soldaten von ihrem Eid zu befreien. Wer nicht desertierte, wusste oft nicht, w ­ omit er kämpfen sollte. Nach dem Einmarsch des Gegners in Valjevo und Obrenovac wandten sich die Serben mit einer dramatischen Bitte um sofortige Munitionslieferungen an ihre Verbündeten. Anfang Dezember konnte es scheinen, als habe General Potiorek endlich den von Wien ersehnten Erfolg errungen. Am Namenstag des Kaisers nahm die­ 5. öster­reichisch-ungarische Armee Belgrad ein. Die Verteidiger verließen die Stadt freiwillig, ähnlich wie drei Monate zuvor die Österreicher Lemberg. Es war kein triumphaler Einmarsch: Als wir in Belgrad einzogen, war auf allen Strassen, die wir passierten oder überblicken konnten, kein einziger Mensch zu sehen. Unheimliche Grabestille herrschte in der ganzen Stadt. Sie war, von der Beschiessung stark hergenommen, wie ausgestorben.25 Trotz der Eroberung der Hauptstadt des Feindes verlor die Offensive an Schwung. Die morastigen schmalen Straßen hemmten den Vormarsch der Österreicher. Artillerie und Trosse kamen nur mühsam voran, während sich die Fußtruppen durch unwegsames Gelände schlagen mussten. Die Invasoren wurden zudem Opfer ihrer eigenen Brutalität. Noch während der Invasion im August hatte die serbische Zivilbevölkerung das Erscheinen der österreichisch-ungarischen Armee recht gelassen aufgenommen. Die Repressionen und die willkürliche Gewalt, die sie anschließend erlebten, hatten sich tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Als die Österreicher im Herbst zurückkehrten, folgten viele Bauern lieber mit ihren Familien den zurückweichenden eigenen Truppen, als unter k. u. k. ‚Obhut‘ zu bleiben. Die ohnehin schon verstopften Straßen wurden von einer Flüchtlingswelle überrollt. Hinzu kam der Ausbruch von Cholera und ­Typhus, die in Serbien seit 1912 grassierten und nun an den Österreichern Vergeltung ­übten. Die Eroberung Belgrads löste in Wien wie auch in Berlin Begeisterung aus, doch die Zeit spielte für die Serben. Auf ihrem Rückzug nach Süden kamen sie 93

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ihrem Versorgungszentrum Kragujevac näher. Die nachrückenden Österreicher hingegen entfernten sich von ihren Materialbasen und die schmalspurige Eisenbahn taugte nicht zum Transport von Nachschub. Inzwischen war auch die von Serbien erbetene Munitionslieferung auf dem Weg über Saloniki an der Front eingetroffen. Nun fehlten der österreichisch-ungarischen Artillerie Geschosse, während die Serben gut versorgt waren. Anfang Dezember starteten sie eine Gegenoffensive, die innerhalb von zehn Tagen die Reste beider k. u. k. Armeen aus dem Land drängte. Das Tempo der Operation war der Hauptgrund für die spekta­ kuläre Niederlage der Doppelmonarchie. Der Befehlshaber des Feldzugs, General Potiorek, verlor zum wiederholten Mal die Kontrolle über die Situation. Aus seinem Stab gelangten statt sinnvoller Befehle nur Kampfparolen zu den untergeordneten Einheiten: „Unbedingt ausharren. Dem Feind geht es auch nicht besser, der Zähere wird Recht behalten.“26 Das Chaos, das die 5. und 6. Armee erfasste, war noch größer als während der beiden österreichisch-ungarischen Rückzüge im Norden. Eine verblüffend realistische Beschreibung der Zustände findet sich bei Jaroslav Hašek, der ein halbes Jahr später an die Ostfront kommen sollte: Wenn ich nur daran denke, wie bei Belgrad die Ungarn auf unser zweites Marschbataillon geschossen haben, und die nicht gewusst haben, dass das Ungarn sind, die auf sie schießen und angefangen haben, auf die Deutsch­ meister auf dem rechten Flügel zu schießen. Die Deutschmeister wiederum haben das durcheinandergebracht und haben das Feuer auf ein bosnisches Regiment eröffnet, das nebenan lag. Das war eine ganz schöne Situation damals! […] Die Serben müssen gedacht haben, dass bei uns eine Meuterei ausgebrochen sei, so dass sie angefangen haben, von allen Seiten auf uns einzudreschen, und über den Fluss setzen wollten. […] Die Telefonzentrale der Brigade meldet, man könne nirgendwo jemanden erreichen, nur der Stab des 75. Regiments meldet, man habe gerade von der benachbarten Division den Befehl ‚Ausharren‘ erhalten, man könne unsere Division nicht erreichen, die Serben hätten die Kote 212, 226 und 327 besetzt […]. Wir haben die Leitung auf die Division umgelenkt, die Verbindung aber war schon unterbrochen, weil die Serben uns inzwischen auf beiden Flügeln in den Rücken gefallen waren und unser Zentrum zu einem Dreieck zusammengedrängt hatten, in dem dann alles verblieben ist, die Regimenter, die Artillerie und der Train mitsamt der ganzen Autokolonne, die Magazine und das Feldlazarett. Zwei Tage habe ich im Sattel gesessen, und der Divisionär ist zusammen mit unserem Brigadier in Gefangenschaft geraten.27 94

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Mitte Dezember verließen die österreichisch-ungarischen Truppen das serbische Staatsgebiet. Der Angriff, der das Prestige der Monarchie auf dem Balkan hatte steigern und vielleicht sogar Bulgarien dazu bewegen sollen, sich den Mittelmächten anzuschließen, endete in einer schmerzlichen Blamage. Gegen die Serben waren fast 500 000 Soldaten eingesetzt worden, deren Fehlen sich in Ostgalizien bemerkbar machte. Man verzeichnete 150 000 Tote und Verwundete, 80 000 waren in Kriegsgefangenschaft geraten. Nur wenige von ihnen kehrten in die Heimat zurück. Demgegenüber waren die Verluste der Serben deutlich geringer, aber schwerer zu ersetzen. Im ganzen Land wüteten Typhus, Cholera und Ruhr, das serbische Gesundheitswesen war nicht in der Lage, die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Für Österreich-Ungarn hatte der Krieg gerade erst begonnen, die Serben kämpften schon im dritten Jahr.

Das Leben an der Front Die Monate zwischen Kriegsausbruch und der vorübergehenden Beruhigung an den Fronten zum Jahresende waren für alle Kriegsparteien eine harte Schule. Nicht nur vom Feind drohte ständige Gefahr, sondern, wie Wolfram Dornik schreibt, auch von der Natur: Denn egal welche Front, die klimatischen Bedingungen stellten für die Sol­ daten eine direkte, körperliche Bedrohung dar. Eine nur schwer zu beziffernde Zahl von Verlusten ging auf wetter- und jahreszeitenbedingte körperliche Herausforderungen zurück: Ob dies nun die explosions­verstärkende Wirkung des Karstgesteins insbesondere bei Trockenheit oder Frost an der Isonzofront, die Lawinen in den Alpen, die kalten Stürme und Schneemassen in den Karpaten, der Schlamm und Morast im Herbst und Frühjahr oder die Über­ schwemmungen der Schützengräben in Ostgalizien und Wolhynien waren; Dehydrierung, Frostverletzungen, Erkältungen, dauerhafte Feuchtigkeit am Körper und damit verbundene Erkrankungen stellten für die Soldaten oft direktere Bedrohungen dar, als jene von den ihnen gegenüberliegenden feindlichen Truppen.28 Die Soldaten, die lange genug überlebten, um Erfahrungen zu sammeln, fanden die mannigfaltigsten Wege, um dem Tod zu entgehen und sich den Alltag an der Front leichter zu machen. Eine der ersten Maßnahmen bei langen Märschen ­bestand darin, unnütze Ausrüstungsgegenstände abzuwerfen. Auf jeden Infanteristen kamen etwa 30 Kilogramm Gepäck, am meisten in der österreichisch-­ ungarischen Armee, etwas weniger in der russischen. Kein Wunder also, dass 95

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nach 50-Kilometer-Märschen die Strecke von in den Graben geworfenen Ersatzmagazinen gesäumt war. Zu den ungern getragenen Lasten gehörten auch die massiven Schutzschilde, die auf die Maschinengewehre montiert wurden. Trotz des Übermaßes an Gepäck fehlten den Soldaten manche Dinge, etwa Helme. Es sollte ein Jahr dauern, bis sie zum festen Ausrüstungsbestandteil deutscher Soldaten wurden, und noch länger, bis die Russen französische und die Österreicher deutsche Helme erhielten. Bis dahin trugen die Soldaten Mützen, Tschakos, Kalpaks, lederne Pickelhauben oder Pelzmützen, die keinerlei Schutz vor Geschoss- und Gesteinssplittern boten. Rettung bot der überladene Tornister, den sich die Soldaten im Liegen über den Kopf warfen. Stanisław Kawczak zählte schon in der zweiten Kampfwoche sieben Schrapnellsplitter in der vorschriftsmäßigen Decke und in der Ersatzunterwäsche. Die Soldaten erkannten auch schnell den Vorteil der Tarnung. Schon zu Beginn des Krieges hatte man bei Erkundungsritten festgestellt, dass die bunt uniformierten Kavalleristen auf ihren weißen Pferden ein gutes Ziel abgaben. Die langfristige Lösung konnte also nur darin bestehen, dass man die Kavallerieuniformen denen der Infanterie anglich. In Rennenkampfs Armee ging man sogar so weit, die Pferde grün anzumalen. Die Soldaten klagten oft über die zu umfangreiche Ausstattung. Umgekehrt verhielt es sich mit der Verpflegung. Nur die deutsche Armee versorgte ihre Soldaten meist ordentlich. In den russischen und österreichischen Truppen stahlen die Soldaten einander regelmäßig Proviant, manchmal auch fehlende Ausrüstungsgegenstände, weshalb es oft beinahe zu Kämpfen innerhalb der eigenen Reihen kam. Besonders starke Spannungen entstanden in der multiethnischen österreichisch-ungarischen Armee. Die – nach eigener Auffassung – elitären Einheiten der polnischen Legionäre und der ukrainischen Sitscher Schützen waren zu Beginn des Krieges dramatisch schlecht ausgerüstet. Formal waren sie Teil des österreichischen Landsturms, das heißt der tiefsten, am wenigsten geschulten und am schlechtesten ausgestatteten Reserve. Diese Einheiten waren mit alten einschüssigen Werndl-Gewehren bewaffnet, sie hatten keine Maschinen­ gewehre, ihre Uniformierung war mangelhaft. Der 118 Soldaten zählenden 1. Kompanie des 1. Bataillons der Polnischen Legion etwa fehlten im September 1914 110 Mäntel, 107 Hemden, 108 Hosen, 96 Paar Stiefel und 85 warme Hemden. Diese Zahlen bedeuteten, dass zerschlissene Kleidungsstücke nicht ersetzt werden konnten, weshalb Ende September die Mehrzahl der Soldaten keine Stiefel mehr hatte. Es fehlte auch an Tornistern, Taschenlampen, Regenmänteln oder Decken. In den Erinnerungen von Soldaten dieser Einheiten finden sich im96

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mer wieder Anekdoten darüber, wie man den benachbarten österreichisch-ungarischen Einheiten Pferde, Ausrüstung und sogar Waffen stahl. In großem Maß geraubt wurde freilich andernorts. Zu den Eigenheiten des Bewegungskriegs gehörte es, dass meist der Nachschub versagte, sobald sich die Truppen vom eigenen Hinterland entfernten. Dabei hatte alles so gut angefangen. Die Transporte an die Front waren mit Geschenken überhäuft worden. Im August, als die Armeen in den Kampf zogen, verhielt man sich noch zivilisiert. Der litauische Gutsherr Eugeniusz Romer staunte über die Haltung der nach Ostpreußen ziehenden Russen: […] die Offiziere machten bei uns halt, um zu frühstücken oder Milch zu trinken, die Soldaten kauften alle Vorräte an Speck, Butter, Brot und Äpfeln auf. Alles verlief außerordentlich gesittet und freundlich, ein auf der Brücke nach Gryżów stationiertes Regiment spielte sogar eigens für uns einen Krakowiak. Es gab keine Dummheiten oder Diebstähle.29 Auch die von der Intendantur getätigten Einkäufe führten anfangs nicht zu größeren Konflikten zwischen Militär und Zivilisten. Bald jedoch zeigte sich, dass Geschäfte mit einem bewaffneten Partner nicht immer zu beiderseitigem Nutzen verlaufen. Schon nach wenigen Monaten klagte Romer: Seit dem Abzug der Deutschen sorgen unsere Truppen wieder für Unruhe; sie wollen alles: Hafer, Gerste, Kühe, und auch wenn sie scheinbar für alles bezahlen, ist zum einen der Preis willkürlich und entspricht nicht dem realen, zum anderen zahlen sie ihn oft nicht ganz.30 Die in Russland praktizierte Art der Requisition lud zum Missbrauch ein, bei dem Offiziere der Intendantur mit findigen Gutsbesitzern Hand in Hand arbeiteten. Gegenstand einträglicher Transaktionen waren Entschädigungen für zerstörte Felder oder das Weiden der Armeetiere, was der Fiskus dem Besitzer entgalt. Schlechter erging es den Bauern, die gezwungen waren, zu Spottpreisen zu verkaufen, wie der k. u. k. Soldat Kawczak sich erinnert: „Der Bauer verlangt für ein Schwein 50 Kronen, der Requirant bietet ihm 5 Kronen und kauft es für 15.“31 Längst nicht alle Einkäufe dienten zur Verpflegung der Soldaten. Ein großer Teil wurde sofort weiterverkauft, den Profit strichen die Intendanturoffiziere ein. Diese Praxis wurde später noch beliebter, als die Armee nicht mehr bar zahlte, sondern den Bauern nur noch Requisitionsscheine ausstellte. Theoretisch sollten diese unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen auf dem betroffenen Gebiet abgelöst werden (was, wovon noch die Rede sein wird, manchmal auch 97

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wirklich geschah). In Gegenden, in denen innerhalb weniger Monate die Front drei- oder viermal durchzog, gab es nichts mehr zu requirieren. Die österreichisch-ungarischen Soldaten bekamen auf die Frage nach Lebensmitteln so oft zu hören: „Die Russen haben’s genommen“, dass einer von ihnen den Satz sogar zum Refrain eines selbst gedichteten Lieds machte.32 Selbst wenn diese Behauptung nicht stimmte, waren die Bauern immer weniger bereit, Lebensmittel zu teilen. Selbst in Galizien: Also eine Bauernfamilie, wie Kraniche auf Wache. Der Vater passt auf Pferd und Kühe auf, die Mutter bewacht den Stall, ein Kind das Federvieh, ein anderes die Kartoffeln, das dritte Korn oder Kraut im Fass und der Großvater die Habe in der Stube. Natürlich gibt es in der Stube nichts zu essen; meistens sagt man uns: „Die Russen haben uns alles weggenommen“ – selbst wenn sie gar nicht dort waren.33 Immer häufiger hungerten die Soldaten. Składkowski erinnert sich an einen Aufenthalt in Russisch-Polen: […] wir hatten solchen Hunger, dass wir dem Mütterchen die winzigen Kartoffeln ‚wegnahmen‘, die sie schon den Schweinen in den Trog geschüttet hatte. Die Alte war so verblüfft, dass sie die Kartoffeln gar nicht verteidigte, sondern nur schrie: „Um Gottes Willen, jetzt fressen schon die Soldaten den Schweinen die Kartoffeln weg!“34 In diesem Fall kam es nicht zum Konflikt. Das war während des Kriegs aber nicht die Regel. Soldaten und Zivilisten einigten sich oft nur unter größten Schwierigkeiten, manchmal auch nicht – das belegen die Requisitionsscheine, die etwas über den Grad der Ehrlichkeit und den Witz der Soldaten aussagen. Nicht selten finden sich dort alberne Gedichte oder fromme Sprüche, oft wurde auch ohne Quittung geraubt. Die nächsten Trupps wunderten sich dann über das Verhalten der Bauern, die vor den Soldaten in den Wald flohen oder, wenn sie blieben, ­völlig verängstigt waren. Bei der Lektüre von Feldtagebüchern oder Erinnerungen sind entsprechende Berichte freilich kritisch zu betrachten. Etwa die im amerikanischen Exil auf Englisch erschienenen Erinnerungen Fritz Nagels, eines Unteroffiziers der Luftabwehr. Nagel war sicher keine Ausnahme, wenn er die Bauern, bei denen er einquartiert war, noch für Leibeigene hielt. Außerdem war er überzeugt, es mit Russen zu tun zu haben, obwohl der Ort des Geschehens eher weißrussische oder polnische Bauern hätte vermuten lassen. Doch die Bauern benahmen sich so, wie Nagel sich den an die Scholle gebundenen „russischen 98

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Polnische Bauern in Kongresspolen verneigen sich vor den zeitweiligen neuen Herren – ­ ngarischen Honveds (1915). u

Landmann“ vorstellte. Während er und seine Kameraden den Bauern das Essen wegnahmen (und als Andenken auch den Samowar), rechtfertigte Nagel sich mit der Überlegung, es handele sich um Eigentum nicht der Bauern, sondern eines polnischen Adligen, mit dem er kein Mitleid empfand. Auch den Umstand, dass niemand in der Lage war, die Quittung zu unterschreiben, die er für den Samowar ausstellte, hielt Nagel für einen Beweis der Rückständigkeit des Dorfes. Man kann diese Geschichte – eine von vielen vergleichbaren – für bare Münze nehmen. Der Unwille, die Quittung zu unterschreiben, lässt sich aber ebenso gut mit früheren schlechten Erfahrungen der Dorfbewohner erklären. Während des Kriegs wurden auf beiden Seiten gelegentlich Personen, bei denen man gegnerische Dokumente gleich welcher Art fand, „für alle Fälle“ gehängt. Auch missgünstige Nachbarn konnten jederzeit vermeintliche krumme Geschäfte mit dem Feind anzeigen. Neben den tatsächlichen gab es daher immer auch Gelegenheitsanalphabeten, denen der gesunde Menschenverstand riet, ihre Fähigkeiten nicht öffentlich zu zeigen. Die Willkür gegenüber der Zivilbevölkerung blieb längst nicht immer ungestraft. In den ersten Kriegsmonaten gab es sowohl eine enorme Anzahl von Ver99

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stößen gegen das Reglement (Desertion, gewöhnliche Verbrechen, Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung) als auch zahlreiche Exekutionen. Ein weiterer Anstieg der Kriminalität in der Armee war in Russland ab Mitte 1915, in Deutschland und Österreich-Ungarn ab Ende 1916 zu beobachten. Bezeichnenderweise verzeichneten die Armeeärzte zu dieser Zeit jeweils auch einen Anstieg der Hand- und Fußverletzungen. Offensichtlich versuchten die Soldaten des Ersten Weltkriegs, ihren Frontaufenthalt auf dieselbe Weise zu verkürzen, wie einige Jahre zuvor die Soldaten der osmanischen Redif. Eine vergleichsweise häufige Art der Selbstverstümmelung, die meist ins Lazarett statt vors Kriegsgericht führte, waren Schüsse ins Bein. Die Gründe für diese zweite Welle von Desertionen und Selbstverletzungen sind nachvollziehbar: Niederlagen an der Front, Kriegsmüdigkeit, allgemeine Zerrüttung. Die erste ist weniger leicht zu erklären. Im Herbst 1914 war die Stimmung insgesamt noch gut, es handelte sich also nicht um kollektiven Protest. Die Gründe lagen wohl in der Psyche der Kämpfenden. Für viele Soldaten wich die Wirklichkeit des modernen Kriegs allzu weit von ihren früheren Vorstellungen ab. Die Reaktion war Schock, bisweilen Verweigerung. Auch ihren Vorgesetzten fehlte meist jegliche Erfahrung. Den Maßstab für korrektes soldatisches Verhalten bildeten das Reglement und der Kasernendienst in Friedenszeiten. Je weiter Frieden und Kaserne in die Ferne rückten, desto stärker veränderten sich die Welt und die an die neuen Umstände angepassten Verhaltensweisen der Soldaten. Verstöße gegen das Reglement wurden zur Norm. Infolgedessen blieben Vergehen, die noch im August mit sofortiger Erschießung geahndet wurden, im Chaos der ständigen Offensiven und Gegenoffensiven zunehmend ungestraft. Ein gutes Beispiel für diese Entwicklung war die künftige 2. Brigade der Polnischen Legionen. In den ersten Kriegswochen wurden dort einige Todesurteile vollstreckt. Während der für die Legionäre unglücklich verlaufenen Schlacht von Mołotków im Oktober kam es zu einem nicht alltäglichen Ereignis. Der Rittmeister der Gendarmerie erschoss an Ort und Stelle einen Legionär, der die Rückkehr aufs Schlachtfeld verweigerte. Einige Tage darauf erschoss ein Kamerad des Getöteten den Gendarmen. Ab diesem Zeitpunkt wurden bis Anfang 1915 keine Exekutionen mehr durchgeführt, obwohl in dieser Zeit unter anderem zehn Fälle von Desertion und siebzehn Fälle von Befehlsverweigerung vor dem Feldgericht verhandelt wurden.35 Die Brigade nahm sogar Deserteure aus anderen k. u. k. Einheiten unter falschen Namen in ihre Reihen auf. Einen ganz eigenen Umgang mit disziplinarischen Problemen pflegte die russische Armee. Es ist schwer, zu sagen, ob hierbei ihre Kampferfahrung aus 100

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dem Krieg mit Japan eine Rolle spielte oder ob es andere Gründe gab. Jedenfalls reagierte die russische Führung recht gelassen auf die rund eine halbe Million Desertionen allein im ersten Kriegsjahr. Gefasste Deserteure wurden einfach zu ihren Muttereinheiten zurückgeschickt. Viele Vergehen, für die deutsche oder österreichische Soldaten wahrscheinlich vor dem Feldgericht gelandet wären, blieben bei russischen Soldaten ungestraft. Das betraf vor allem Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten. Mitunter wurde Gewalt stillschweigend erlaubt. Niemand erweckte auch nur den Anschein, als hätten die Anstifter und Beteiligten der antijüdischen Pogrome, die es fast überall gab, wo russische Soldaten auf Juden trafen, Konsequenzen zu befürchten. Paradoxerweise waren für Soldaten aus Finnland, Mittelasien oder Sibirien der Wehrdienst und die Invasion in Galizien die erste Schule des praktischen Antisemitismus. Pogrome und andere Formen von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung waren untrennbare Begleiterscheinungen des Kriegs im Osten. Keine Partei war frei von Schuld, doch die Menschen, die mit den verschiedenen Armeen in Kontakt kamen, hatten bald eine bestimmte Meinung von ihnen. Den schlechtesten Ruf hatten die Russen – bezeichnenderweise nicht nur in Galizien, wo sie als Aggressoren auftraten, sondern auch im Königreich Polen, das ja zu Russland gehörte. Der Prälat des Domkapitels von Sandomierz, Józef Rokoszny, notierte in seinem Kriegstagebuch viele Gespräche mit Bewohnern Radoms und der umliegenden Orte, das heißt des russischen Teilungsgebiets. Aus ihnen ergibt sich folgendes Unheils-‚Ranking‘: die Russen, deren Verhalten nur bis zu einem gewissen Grad vorsehbar war, doch man wusste, sie würden die Juden schlagen, also sollten die christlichen Einwohner ihre Türen mit einem Kreuz markieren oder Heiligenbilder in die Fenster stellen, um Leben und Besitz zu schützen; die Ungarn, denen man sinnlose Zerstörung, Grausamkeit und Vergewaltigungen vorwarf; die Deutschen, die ihre strengen Vorschriften brutal durchsetzten und nebenbei stahlen; schließlich die Österreicher, gegenüber denen die Bevölkerung die wenigsten Vorbehalte, aber auch den geringsten Respekt hatte. Gelegentlich scheiterten aber alle Versuche der Rationalisierung des Verhaltens der momentanen Besatzer. Die Kontakte zwischen Soldaten und Zivilisten waren so eng und die nervliche Anspannung so groß, dass es auch in anscheinend völlig harmlosen Situationen zu Ausbrüchen von Gewalt kommen konnte. Ein junger Ulan erinnert sich an ein „lustiges“ Abenteuer im November 1914. Auf der Suche nach Brot für sich und seine Kameraden kam er zu einer Bäckerei im gerade von den Österreichern besetzten Wolbrom. Der Besitzer, ein Jude, sagte ihm, die Fußtruppen, die 101

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vor ihm durch die Stadt gekommen seien, hätten alles Brot requiriert. Der wachsame Soldat ließ sich freilich nicht hinters Licht führen: Der Geruch von frischem Brot lässt mich an den Worten des Juden zweifeln und siehe da, ich habe recht, denn oben auf dem breiten Bäckerofen liegen ein ganzer Stapel von Brotlaiben und ein paar Bleche mit Weißbrot. Nachdem ich dem Juden einige harsche Worte gesagt habe, stecke ich mir zwei Laib Brot in die Tasche, klemme mir zwei Stangen Weißbrot unter den Arm und gehe zu meinem Pferd zurück, während ich vom Weißbrot, das unter meinen Achseln hervorsteht, einige Bissen abbeiße.36 Sławoj Felicjan Składkowski schildert dieselbe Anekdote in etwas ernsterem Ton: Unsere Kavallerie hat heute Nacht auf Patrouille in Wolbrom frisches, schmack­ ­haftes Brot requiriert. Die Kosaken hatten dort einige Hundert Stück Weißbrot backen lassen und waren mit dem feierlichen Versprechen abge­rückt, sie würden es zu einer bestimmten Zeit abholen. Die verängstigten Einwohner hatten sich an die Arbeit gemacht und, als die Bäcker das frische Brot aus dem Ofen holten, kamen unsere Ulanen und nahmen es als Kriegs­beute mit … So haben wir Brot. Die armen Einwohner von Wolbrom mussten nach dem Abzug der Ulanen ihre „Kriegsleistungen“ in Gestalt von Brot noch einmal erbringen, denn sicher sind die Kosaken wiedergekommen.37 Selbst eine solch banale Sache konnte einen Ausbruch von unkontrollierter Gewalt gegen die Zivilbevölkerung auslösen. Nicht nur, weil die Kosaken kaum eine Gelegenheit ausließen, Juden zu schlagen, sondern auch wegen der Furcht auf beiden Seiten.

Spionagewahn Wohl nie zuvor hatten derart hochgerüstete Armeen solche Angst vor Zivilisten. Auf Schritt und Tritt witterte man Verrat. Alle Kriegsparteien glaubten, jede ihrer Bewegungen werde von Hunderten Spionen des Feindes beobachtet. Die russischen Generäle deutscher Abstammung wurden des Verrats verdächtigt, zumal, wenn sie so ungeschickt agierten wie Rennenkampf während des Ostpreußenfeldzugs. An der Front und im unmittelbaren Hinterland drohte die größte Gefahr seitens der Russen allerdings nicht den livländischen Baronen, sondern den Juden. Mit den bereits erwähnten Pogromen ging eine Verleumdungskampagne gegen die jüdischen Untertanen des Zaren einher. Schon im August 1914 befahl die Armee aus „Sicherheitsgründen“ die Evakuierung der jüdischen Einwohner 102

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der Gouvernements Radom, Łomża und Lublin, kurz darauf auch des Gouvernements Warschau. Nach dem Einmarsch in Galizien wimmelte es in den russischen Frontberichten von absurden Verschwörungstheorien, die sich nicht allein mit dem tief in der Armee verwurzelten Antisemitismus erklären lassen. Manche Kommandanten berichteten der Stawka (der russischen Obersten Heeresleitung) von jüdischen Geheimorganisationen, die kilometerlange Tunnel bis zu den österreichischen Stellungen grüben, andere von jüdischen Agenten, die aus Ballons das feindliche Feuer lenkten, den Österreichern geheime Informationen lieferten, russische Einheiten in Hinterhalte lockten, vor der Flucht nach Westen die eigenen Häuser in Brand setzten und Telefonleitungen zerstörten.38 Doch, obwohl manche dieser Anschuldigungen eher an schlechte Scherze erinnerten, wurden sie absolut ernst genommen. In den ersten Kriegsmonaten glaubten die Militärs noch, dass Kavallerietrupps die Frontaufklärung leisten könnten und ein möglichst weites Spionagenetzwerk in der Lage wäre, den größten Teil der für einen erfolgreichen Feldzug notwendigen Informationen zu beschaffen. Schon im August war klar, dass beide Annahmen falsch waren, doch beide Seiten brauchten einige Zeit, um diese Erkenntnis zu verarbeiten. Ein österreichischer Offizier vermutete Verrat hinter jede Ecke: Es mußten Schulen, ja förmliche Hochschulen eingerichtet worden sein, um die Bevölkerung von Galizien und des anschließenden russischen Grenzlandes in allen Systemen der Signalisierung und über das Wesen der Spionage zu ­unterweisen. Jeder Mensch signalisierte, Kinder, Greise und Frauen, und mit allen Mitteln wurde gearbeitet: mit verborgenen unterirdischen Telefon­ leitungen, mit Windflügeln, mit aufgehängten Wäschestücken, mit weidendem Vieh, mit offenen und geschlossenen Fensterläden […].39 Könnte man diese Vorstellung noch als Ausgeburt eines kranken Gehirns ab­tun – wobei es sich um eine erstaunlich ansteckende Krankheit gehandelt haben müsste –, so gilt dies sicher kaum für eine Studie der österreichisch-ungarischen Armeeführung über den russischen Kundschaftsdienst. Auch ihre Autoren waren von der Allgegenwart zaristischer Spione überzeugt. Die jüngsten von ihnen seien „Kinderspione“, „moralisch total verdorbene Buben und Mädchen (11-jährige Prostituierte!), meist Waisenkinder; stets ärmlich gekleidet“, die „sich durchbetteln u. versuchen insbesonders bei Trains unterzukommen“.40 Selbst der Chef des Militärgeheimdienstes Max Ronge schreibt in seinen Memoiren mit der ganzen Autorität des emeritierten Oberspions, die Bevölkerung habe dem 103

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Gegner durch kodierte Glockensignale Informationen über Truppenbewegungen übermittelt und ukrainische Spione hätten den Russen über eine geheime Telefonleitung Nachrichten übermittelt (obwohl die russische Armee schon mit der Kommunikation zwischen größeren Einheiten riesige Probleme hatte): Es waren für die Signale die Fensterläden als einfaches und unverdächtiges Mittel bestimmt, wobei jedes der drei Fenster für je einen Abschnitt unserer Front galt. […] und es ist begreiflich, daß sich die Truppen angesichts des Einschlagens von Artilleriegeschossen nach dem Drehen von Windmühlen­ flügeln, des Zeigers von Turmuhren und dergleichen wie verraten und verkauft fühlten.41 Ronge war keine Ausnahme. Die österreichisch-ungarische Führung ging von Beginn an davon aus, dass ein bedeutender Teil der k. u. k. Untertanen zum Verrat bereit sei. Besonders verdächtig waren Serben, Tschechen und die galizischen Ruthenen. Es gab präventive Internierungen von Politikern und Kulturschaffenden, Priestern und regionalen Funktionären. Bis 1914 befanden sich fast 1000 Personen unter Spionageverdacht in Arrest. Von den vor Gericht gestellten Beschuldigten wurde jeder zehnte verurteilt, drei Viertel davon zum Tod. Nicht alle Todesurteile wurden vollstreckt, sondern nach einer gewissen Zeit aufgehoben. Vielleicht ein Prozent der Festgenommenen hatte tatsächlich Staatsverrat im Sinne des Gesetzes begangen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man mit der Verhaftung von Tausenden beliebigen Spaziergängern im Wiener Prater auf eine ähnliche Quote gekommen wäre. Obwohl sie nicht den Tatsachen entsprach, hielt sich die Vorstellung von der Allgegenwart von Spionen und Verrätern hartnäckig. Wer von der Gendarmerie weitab der Kriegsschauplätze verhaftet und inhaftiert wurde, konnte sich noch glücklich schätzen. Unmittelbar hinter der Front war der Spionagevorwurf sehr viel gefährlicher. Dort drohte das Feldgericht oder die Hinrichtung ohne Verfahren. Beide Optionen wurden von der Armee gern genutzt. Als im Mai 1917 nach dreijähriger Pause der österreichische Reichsrat zusammenkam, übertrafen sich die ukrainischen, polnischen und südslawischen Abgeordneten gegenseitig in ­ihren Klagen über eine zügellose Soldateska, die im Osten und Süden Slawen morde. Aus unbekannten Gründen nannten sie die runde, bis heute magische Zahl von 30 000 Toten in Galizien (der sozialistische Volkstribun Ignacy Daszyń­ ski fügte hinzu: „Andere sagen, es seien zwei Mal so viele“) und Serbien. Tatsächlich gab es in diesen Gebieten die meisten Verbrechen, wenngleich genaue und glaubwürdige Schätzungen der Opferzahlen kaum zu finden sind. In Serbien 104

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Als Nonnen verkleidete Spione auf der Titelseite des Ilustrowany Kuryer Codzienny.

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­ atten die Österreicher nicht mit derart entschlossenem Widerstand gerechnet, h also suchten sie gleichsam reflexartig nach zusätzlichen Gründen für ihr Scheitern. Die Vorstellung vom „Verrat“ serbischer Zivilisten bediente dieses Bedürfnis perfekt. Untermauert wurden die Anschuldigungen dadurch, dass die serbische Armee, die auf die letzten Reserven zurückgreifen musste, nicht für alle Rekruten Uniformen hatte. Die Einheiten der sogenannten zweiten Linie waren nur teilweise uniformiert, in der dritten Linie dienten die Männer in Zivil. Das verlieh der Legende vom hinterhältigen und widerrechtlichen Kampf des serbischen Volkes, Frauen und Kinder eingeschlossen, gegen Österreich-Ungarn eine gewisse Glaubwürdigkeit. Als „Antwort“ töteten die k. u. k. Soldaten alle Verdächtigen. Jonathan Gumz und Marc Biondich schätzen die Anzahl der Opfer bis zum Rückzug der österreichisch-ungarischen Armee im Dezember 1914 auf 3500 bis 4000.42 Ähnlich war die Situation 1914 und 1915 in Ostgalizien. Die österreichisch-ungarischen Truppen rächten sich schon während ihres Rückzugs in den ersten Kriegsmonaten an den moskalophilen Ukrainern, das heißt an den – tatsächlichen oder vermeintlichen – Anhängern Russlands. Die größte von Repressionen betroffene Gruppe bildeten die 10 000 Ukrainer, die ins berüchtigte Konzentrationslager Thalerhof bei Graz oder an andere, weniger bekannte Gefängnisorte deportiert wurden.43 Es kam auch zu Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren oder nach Prozessen, die diesen Namen nicht verdienten – die ratlosen Militärs der Donaumonarchie versuchten so, die Abfolge von Niederlagen zu rechtfertigen. Schon Ende 1914 erklärte der Kommandant der Festung Przemyśl, die richtige Anwendung des Kriegsrechts zur Selbstverteidigung bedeute die Erschießung aller Verdächtigen, nicht ihre Verhaftung. In Westgalizien hatten die Repressionen ein etwas geringes Ausmaß, aber auch hier wurden Zivilisten nicht mit Samthandschuhen angefasst. Es fehlte die Zeit, abzuwägen, ob vermeintliche Verräter wirklich dem Feind geholfen hatten oder nur den Nachbarn lästig waren. Sławoj Felicjan Składkowski schildert die Exekution eines dieser Pechvögel, dessen Tod er als Arzt zu bestätigen hatte: Heute haben wir hinter dem Dorf einen Goralen erschossen. Die Einwohner hatten gemeldet, er habe gegen Geld die Russen über Gebirgspfade hinter unsere Linien geführt, weshalb wir uns hatten zurückziehen müssen. Das Feldgericht hatte ihn zum Tode verurteilt. […] Dort war schon eine frische Grube ausgehoben. Unterwegs wollte der Gorale rauchen. Dem Soldaten, der ihm Feuer gab, zitterten die Hände wie im Fieber. Endlich kamen wir an. Der Offizier befahl dem Delinquenten die Augen zu verbinden. Darauf dieser: 106

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„Lasst mich beten, bevor ich sterbe.“ Er kniete sich hin und legte die Binde vor sich auf die Erde. Der Offizier nickte den Soldaten zu, die nahmen die Gewehre von den Schultern und legten an. Der Offizier winkte mit einem Tuch, und eine Salve donnerte. Der Delinquent wand sich schreiend im Gras. „Oh Jesus!“ Er zitterte, schrie und röchelte. Der Offizier lief mit dem Revolver zu ihm hin, aber der Browning klemmte. Unterdessen lebte der Delinquent noch immer. Die Sekunden schienen wie eine Ewigkeit. Ich nahm meinen Revolver, legte ihn an seine Schläfe und drückte ab. Er verstummte und war sofort tot.44 Beim Thema Kriegsverbrechen besteht allerdings die Gefahr, in Übertreibungen zu verfallen. In Galizien sind für die Jahre 1914 und 1915 620 Todesopfer bestätigt. Selbst wenn man annimmt, dass die Armee ihre Verbrechen verbarg, so gut es ging, dass die Abgeordneten im Reichsrat 1917 nicht die Möglichkeit zu gründlichen Nachforschungen hatten und die Historiker in den folgenden hundert Jahren wenig Neues zutage förderten – selbst wenn man also annimmt, dass es weit mehr Opfer als die bekannten 620 gab, so reichen die Schätzungen doch allenfalls bis zu einigen Tausend, keineswegs einigen Zehntausend Menschen, die von der k. u. k. Armee getötet wurden. Sicher ist auch, dass sich sowohl der Kaiser als auch der österreichische Generalstab schon nach einigen Kriegswochen gegen übertriebene Repressionen aussprachen. Das österreichisch-ungarische Innenministerium intervenierte im September 1914 gegen entsprechende Praktiken gegenüber Slowenen. Im April 1915 warnte das Innenministerium vor Beginn der Rückeroberung Galiziens und der Bukowina die Armee vor Maßnahmen gegen die Zivilbevölkerung: Drakonische Urteile einer unvollkommenen Justiz verletzten sowohl die Bürgerrechte als auch das Interesse des Staates, in dessen Namen sie gefällt würden: „Es ist elementare Pflicht der Menschlichkeit, aber auch höchstes Interesse der Staats- und Rechtsordnung, den Gefahrenkoeffizienten irreparablen Unrechts soweit als nur irgend möglich herabzumindern.“45 Wie viele Menschen von anderen Armeen erschossen oder gehenkt wurden, ist nicht bekannt. Sicher ist aber, dass die Angst vor Zivilisten, die derartige Verbrechen begünstigte, paradoxerweise bei allen Kriegsparteien vorhanden war, auch in der deutschen Armee. Als Anfang August die Deutschen ins an der Westgrenze Kongresspolens gelegene Kalisz einmarschierten, fielen unter ungeklärten Umständen einige Schüsse. Höchstwahrscheinlich beschossen deutsche Soldaten irrtümlich Kameraden aus anderen Einheiten. Die Verantwortung wurde jedoch auf die Bewohner der Stadt abgewälzt, die zur Vergeltung beschossen und 107

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niedergebrannt wurde. Ein Teil der Bevölkerung wurde ermordet. Ähnliche Vorfälle – verursacht durch das Chaos des Bewegungskriegs, vor allem während nächtlicher Märsche, friendly fire, die Beschuldigung von Zivilisten und Repressionen – gab es später in Belgien und Nordfrankreich. Der Unterschied zwischen Ost- und Westfront bestand in der Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwurde. Die Provinzstädte des Königreichs Polen, Galiziens und Serbiens interessierten die Weltöffentlichkeit in weit geringerem Maß.

Šabac und Kalisz Eines der bekanntesten und bewegendsten Symbole für die Grausamkeit des Krieges ist die belgische Universitätsstadt Leuven (Louvain), die in der zweiten Augusthälfte 1914 von deutschen Truppen besetzt wurde. Ohne dass eine konkrete Bedrohung bestanden hätte, nahmen die Deutschen Vertreter der städtischen Eliten als Geiseln. Das war seit Kriegsbeginn fast schon ein Ritual. Einige Tage später, am Abend des 25. August, brach unter den deutschen Soldaten in Leuven eine Panik aus. Wie immer in diesen Fällen lässt sich kaum bestimmen, wer den ersten Schuss abgab und wer zu schreien begann, dass die Engländer angriffen. Hinzu kam, dass sich in den deutschen Reihen blitzschnell das Gerücht verbreitete, die Bewohner Leuven schössen aus den Fenstern und von Dächern auf die Besatzer. Das war absurd, selbst wenn sich einige Verzweifelte gefunden hätten – nach ihrem Einmarsch hatten die Deutschen die gesamte Bevölkerung entwaffnet. Trotzdem zerrten die Soldaten mehrere Hundert Einwohner aus den Häusern, einige wurden an Ort und Stelle erschossen, andere inhaftiert, die Häuser wurden niedergebrannt. Dann zerstörten die Deutschen die historische Universitätsbibliothek mit ihren wertvollen Sammlungen. Tags darauf setzten sie ihr Werk fort: Sie plünderten Häuser und Ämter, töteten über 200 Zivilisten und malträtierten die obdachlos gewordenen Einwohner der Stadt. Mehr als 1000 Menschen wurden nach Deutschland deportiert. Am dritten Tag vollendete die Artillerie die Zerstörung, indem sie das Stadtzentrum beschoss. Die Vorfälle in Leuven wurden umgehend zum Hauptthema der Zeitungen in den neutralen Staaten sowie zum Gegenstand der antideutschen Propaganda. Die „Schändung von Belgien“ wurde zu einer massiven Kampagne gegen die deutschen „Hunnen“. Die deutschen Kriegsverbrechen in Belgien waren jedoch weder eine Ausnahme noch die blutigsten ihrer Art. Während in Leuven deutsche Artilleriegranaten explodierten, waren in einigen serbischen Orten sowie in Kalisz die Trümmer schon abgekühlt und man begrub die Opfer der Kriegsrepressionen. Am 108

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Warschauer Straße: Zerstörungen im Stadtzentrum von Kalisz 1914/15.

grausamsten agierten die österreichisch-ungarischen Truppen bei der ersten Invasion in Serbien. Bis Mitte August kam es in Krupanj, Loznica und Lešnica zu Hinrichtungen von serbischen Zivilisten. Doch zum lokalen Symbol der Bestialität der k. u. k. Soldateska wurde die Stadt Šabac, die Mitte August von den Österreichern eingenommen und komplett geplündert wurde. Etwa 100 Einwohner wurden in einer orthodoxen Kirche zusammengetrieben, wo man sie misshandelte, schlug und die Frauen vergewaltigte. Am 17. August wurden die Gefangenen auf den Platz vor der Kirche gebracht. Es ist unklar, wer den Befehl „Feuer“ gab, sicher ist aber, dass unter den Opfern auch Frauen und Kinder waren. Zwei Wochen vor dem Massaker von Šabac hatte die deutsche Armee die 25 000-Einwohner-Stadt Kalisz besetzt. Die Szenen, die sich hier abspielten, glichen den späteren Ereignissen in Leuven bis ins Detail. Anfangs deutete nichts auf eine Tragödie hin, obwohl auch hier Geiseln genommen wurden. Am 2. August kam es aus bis heute ungeklärten Gründen zu einer Schießerei. Die deutschen Soldaten glaubten, sie seien von Zivilisten angegriffen worden. Sie zerrten die Einwohner aus ihren Häusern und erschossen ausgeloste ­Opfer. Dann wurde die Innenstadt von Kalisz bombardiert. Der Befehlshaber der deutschen Einheiten, Major Hans Preusker (er starb 1918 an Verletzun109

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Das zerstörte Stadtzentrum von Kalisz.

gen, die er sich an der Westfront zugezogen hatte), machte die Bürger von Kalisz für den Angriff auf seine Truppen verantwortlich, erlegte der Stadt Kontributionen auf und verschärfte das Versammlungsverbot. Nach einigen Tagen kam es zu einem weiteren Massaker. Opfer waren die Besucher des wöchentlichen Markts. Wieder waren Schüsse ungeklärter Herkunft der Auslöser. Preusker befahl Massenverhaftungen und die Bombardierung der Stadt. Mehrere ­Hundert Stadtbewohner wurden nach Deutschland deportiert, der Rest ­flüchtete.46 Šabac und Kalisz wurden zwar nie so bekannt wie Leuven, doch auch sie wurden von der Entente-Propaganda aufgegriffen. Vor allem russische Zeitungen nutzten die Ereignisse, um den deutschen Vorwurf von Grausamkeiten bei der Invasion in Ostpreußen zu entkräften. Nach Ansicht von Historikern lag allen derartigen Vorfällen derselbe Mechanismus zugrunde. Die Deutschen fürchteten eine Wiederholung der Situation von 1871, als sie neben der regulären französischen Armee auch gegen die Francs-tireurs, das heißt nicht uniformierte Partisanentrupps, kämpfen mussten. Die österreichisch-ungarische Armee wiederum misstraute der s­ erbischen Minderheit im eigenen Staat und fürchtete die serbischen Zivilisten, von d ­ enen es hieß, sie kämpften gemeinsam mit der eigenen Armee. Ein weiterer Faktor war wohl auch das unbezwingbare Bedürfnis der Militärs, ihr Gesicht zu wah110

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ren. Die von Preusker nach den Massakern in Kalisz angeordneten R ­ epressionen waren ein Versuch, die Verantwortung für Chaos, Panik und irrtümlichen Beschuss der eigenen Leute von den deutschen Truppen abzuwälzen. Die Österreicher mordeten umso bereitwilliger serbische Zivilisten, je weniger Erfolge ihre regulären Truppen im Kampf zu verzeichnen hatten.

Viele der Verbrechen, ungerechtfertigten Repressionen und Grausamkeiten entziehen sich einer rationalen Erklärung, man findet kaum eine wirkliche Begründung. Die Repressionsmaßnahmen waren meist entweder der Bedrohung nicht angemessen oder aber überhaupt durch nichts gerechtfertigt. Sie belegen weniger die Allgegenwart von Spionage und Verrat als vielmehr die Angst und Nervosität der Soldaten.

Kranke und Verwundete Für die überwiegende Mehrheit der Soldaten war der Erste Weltkrieg auch der erste Krieg, den sie selbst erlebten. Artillerie- und Maschinengewehrfeuer oder der Anblick sterbender Kameraden waren für die Betroffenen zutiefst schockierende Erfahrungen. Nicht alle kamen damit zurecht. Ein Feldarzt beschreibt das Verhalten junger Soldaten nach langem Beschuss: „Psychisch krank hockten sie entweder apathisch im Graben oder sie brannten darauf, den Tod der Kameraden zu rächen, und man musste sie davon abhalten, sofort loszustürmen.“47 Während eines Rückzugs musste ein „Irrer“ zurückgelassen werden, der sich auf dem Wagen hin und her warf und die anderen Patienten schlug: „Was sollen wir mit ihm machen? […] Ich stoße mithilfe von zwei Sanitätern den Irren in einen Verschlag ohne Fenster, verriegele die Tür mit dem Haken und schreibe mit Kreide auf Russisch ‚umopomeschanyj‘, Irrer, darauf. Vielleicht rettet ihn das vor der ersten Wut der Moskalen.“48 Den Hintergrund vieler Frontpsychosen bildete insbesondere die Angst vor körperlichen Schädigungen. Davon wussten die österreichischen und ungarischen Psychoanalytiker, die sich nach 1914 auf Patienten in Uniform konzentrierten, einiges zu berichten. Einer der herausragendsten Schüler Sigmund Freuds, Sándor Ferenczi, kümmerte sich um die Reste des Honved-Husarenregiments, das zu Beginn des Kriegs die Aufklärung am Sbrutsch übernommen hatte. Am 8. Juli 1915 schrieb er an Freund: 41 Offiziere und etwa 1000 Mann sind getötet oder gefangen. […] Einem jungen Kadetten haben die Tscherkessen […] den Penis abgeschnitten und in den Mund gesteckt. Ich denke mir: dieser merkwürdige und sehr verbreitete 111

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Racheakt ist auf die Ambivalenz zurückzuführen. Das Bewußtsein ist nur vom Haß erfüllt, das verdrängte Mitleid äußert sich in der Wahl der Strafmittel (so etwa wie im Fluche: Vögle deine Mutter etc.).49 Ähnliche Ängste gab es überall, obwohl nicht alle Beobachter ein so feines Gespür für ihre sexuellen Konnotationen hatten wie die Psychoanalytiker. Meist manifestierten sie sich in Form von Geschichten darüber, dass Gefangenen die Augen ausgestochen oder die Hände abgeschnitten wurden. Der deutsche Pazifist Hellmut von Gerlach beobachtete eine regionale Besonderheit derartiger Anschuldigungen: Den Russen wurde vor allem vorgeworfen, daß sie den Männern Arme und Beine abschnitten, den Frauen die Brüste. Die Franzosen und Belgier wurden beschuldigt, die Augen auszustechen. Es gab Varianten und Kombinationen. Aber das Leitmotiv blieb immer: im Osten wird gehackt und geschnitten, im Westen gestochen.50 Ähnlich wertete auch Składkowski derartige Berichte: „Irgendwo in der Umgebung soll ein Dorfweib einem verwundeten österreichischen Soldaten im Feld den Gnadenstoß verpasst haben (man muss schon Österreicher sein, um sich von einem Weib töten zu lassen!).“51 Doch was externen Beobachter absurd scheinen mochte, war für Zivilisten und Kriegsgefangene, die derartiger Taten beschuldigt wurden, von existenzieller Bedeutung. Die Nervosität und Angst der Soldaten gefährdete nicht nur ihr Leben. Bei Kriegsbeginn hatte nur Russland Erfahrung in der psychiatrischen Betreuung von Frontsoldaten. Der Krieg in der Mandschurei hatte gezeigt, wie anfällig die menschliche Psyche für Erschütterungen infolge physischer Traumata oder Schocks war. In den Jahren 1905–07 war man deshalb im Zarenreich von der Überzeugung abgerückt, dass der Krieg für junge Männer die beste Schule des Lebens sei. Man erkannte die Angst als medizinisches Problem. Die anderen kriegführenden Staaten hatten keine vergleichbaren Erfahrungen. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich herrschten unter den Psychiatern zwei gegensätzliche Auffassungen. Die eine lautete, an der Front komme es zu Unfällen in der Art von Eisenbahnunglücken oder Arbeitsunfällen. Unter dem Einfluss der physischen Verletzung leide nicht nur der Körper, sondern auch die Psyche. Das Trauma sei also unmittelbare Ursache der psychischen Erkrankung, die man behandeln müsse; wo Heilung nicht möglich sei, müsse man den Betroffenen eine Rente zahlen. Das andere Lager war der Ansicht, der Krieg stärke die Psyche des 112

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Soldaten. Daher betrachtete man die an der Front auftretenden psychischen Störungen nicht als Folge von Kriegserlebnissen, sondern als Symptome bereits vorhandener hysterischer Neigungen. Daraus folgte, dass der Krieg nicht Ursache der Erkrankung sein könne und ergo der Staat nicht zur Zahlung von Renten oder Entschädigungen verpflichtet sei. Aufgrund ihrer Vorteile für die Militärführung und die überlastete Staatskasse setzte sich diese Auffassung letztlich durch – mit dramatischen Folgen für Tausende Soldaten, die Opfer dessen wurden, was man an der Westfront als Granatschock bezeichnete.

Das Faradisieren Eines der interessantesten Abenteuer des guten Soldaten Švejk ist sein Aufenthalt im Garnisonsspital, wo er als „Simulant“ behandelt wird. Hašek beschreibt die Einrichtung wie folgt: In dieser großen Zeit gaben sich die Militärärzte ungewöhnlich große Mühe, den Simulanten den Teufel der Sabotage auszutreiben, um sie wieder in den Schoß der Armee zurückkehren zu lassen. Es wurden einige Stufen des Quälens von Simulanten und von Leuten, die im Verdacht standen, dass sie Simulanten seien, eingeführt, als da waren: Schwindsüchtler, Rheumatiker, Menschen mit Leistenbruch, Nierenkranke, Leute mit Typhus, mit Zucker, Lungenentzündung und anderen Erkrankungen. Die Qualen, denen die Simulanten unterworfen wurden, waren streng systematisiert, und die Quälstufen waren folgende: 1. Absolute Diät, morgens und abends nur eine Tasse Tee, und das drei Tage lang, wobei allen ohne Rücksicht darauf, woran sie litten, Aspirin zur Förderung des Schwitzens verabreicht wurde. 2. Es wird, damit keiner auf den Gedanken kommt, das Militär sei ein Zucker­ schlecken, Chinin in Pulverform und reichlicher Dosierung verabreicht, sogenanntes Chininlecken. 3. Magenausspülungen zweimal am Tag mit 1 Liter warmem Wasser. 4. Klistiere unter Anwendung von Seifenwasser und Glyzerin. 5. Einwickeln in ein Laken, welches in kaltem Wasser getränkt wurde. 113

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Es gab tapfere Menschen, die alle fünf Quälstufen ertrugen und sich dann in einem einfachen Sarg auf den Soldatenfriedhof fahren ließen. Es gab aller­dings auch kleingläubige Menschen, die, als es zum Klistier kam, erklärten, dass es ihnen wieder gut gehe und dass sie sich nichts anderes wünschten, als mit dem nächsten Marschbataillon in die Schützengräben zu fahren.52 Die Literatur hat ihre eigenen Gesetze und muss nicht auf historische Exaktheit achten. Außerdem suggeriert Hašeks leichter, ironischer Ton, dass es sich um ein überzeichnetes Bild der Wirklichkeit handele. Dabei gehört diese ­Passage zu den realistischsten des gesamten Romans. Nicht nur Nachkriegsberichte von Patienten der Militärkrankenhäuser, sondern auch Fachpublikationen und Erinnerungen von Ärzten bestätigen Hašeks Darstellung. Die Schützlinge von Hašeks Doktor Grünstein wurden fast exakt derselben ­„Therapie“ unterzogen wie Tausende Soldaten deutscher, österreichisch-ungarischer und sonstiger Staatsangehörigkeit, die dem Dienst an der Front entgehen wollten, indem sie Krankheiten vortäuschten, die schwerer zu diagnostizieren waren als der Verlust von Gliedmaßen. Zu den typischen Schikanen, denen sie ausgesetzt waren, gehörten Zwangsisolation, Rauchverbot, Nahrungsentzug, Verabreichung bitterer Arzneien (nicht Chinin, das an der Balkanfront im Kampf gegen die Malaria eingesetzt wurde, sondern Asafoetida, ein ähnlich unangenehm schmeckender Extrakt aus Asant, regional auch als Teufelsdreck oder Stinkasant bezeichnet). Bisweilen wurde die „Therapie“ auch abgekürzt, indem man den „Simulanten“ mit Denunziation drohte, sofern sie sich nicht freiwillig wieder zur Front meldeten. Das Repertoire an „Therapien“ und psychologischen Kniffen war beliebig erweiterbar. Findige Ärzte fügten ihm eigene Methoden hinzu, um „den Simulanten den Teufel der Sabotage auszutreiben“. 1916 publizierte der am Krankenhaus in Rózsahegy (heute Ružomberok in der Slowakei) tätige junge ungarische Arzt Viktor Gonda einen Artikel von enormer Bedeutung für das Schicksal der Patienten der Militärkrankenhäuser. Gonda beschrieb die großartigen Ergebnisse der Behandlung nervenkranker Soldaten mit einer Kombinationstherapie aus Suggestion und Elektroschocks.53 Die österreichisch-ungarische Militärführung war begeistert, die euphemistisch Faradisieren genannte Therapie wurde unverzüglich in allen Krankenhäusern der Monarchie eingeführt. Im Deutschen Reich verbreitete sich eine ähnliche Therapie, die auf den klinischen Erfahrungen des Hambur114

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ger Psychiaters Max Nonne basierte. Gonda und Nonne arbeiteten mit ähnlichen Methoden: An den empfindlichsten Körperstellen – unter den Achseln, zwischen Fingern und Zehen, an Genitalien und Brustwarzen – befestigte man Elektroden. Ziel dieser „Therapie“ war es nämlich, dem Patienten größtmöglichen Schmerz zuzufügen. Wie der spätere Nobelpreisträger Julius Wagner-­ Jauregg berichtete, genügte es in manchen Fällen, dem Patienten zu zeigen, was ihn erwartete, damit er seine Bemühungen um eine Befreiung vom Kriegsdienst aufgab.54 Obwohl das Faradisieren an Patienten aller Nationalitäten durchgeführt wurde, bildeten sich in der Praxis regionale Besonderheiten heraus. Max Nonne und viele andere Psychiater betonten den Zusammenhang der beiden Therapiebestandteile: Elektroschocks und Suggestion. In ihrer Vorstellung sollte der Patient nicht nur gefoltert, sondern auch von einer tatsächlichen Besserung seines Gesundheitszustands überzeugt werden. Er sollte sich nicht nur fürchten, sondern auch an seine Heilung glauben. Die Umsetzung dieser ­Prämissen stieß in der Praxis des Kriegs im Osten freilich auf eine unüberwindliche Barriere. Wie Wagner-Jauregg bemerkte: „Es ist nicht möglich, ­Hypnose und hypnotische Suggestion mittels Dolmetsch durchzuführen. Unsere psychogenen Erkrankungen betrafen aber entsprechend der Zusammensetzung unserer Armee überwiegend fremdsprachige Soldaten.“55 Vor diesem Hintergrund hielt man in österreichisch-ungarischen Krankenhäusern das Gespräch mit den Patienten für verzichtbar und beschränkte sich auf das Faradisieren. Bald stellte sich heraus, dass die neue Methode zur Disziplinierung der Soldaten unerwünschte Nebenwirkungen haben konnte. Man wusste erst wenig über die Auswirkungen von Elektrizität auf den menschlichen Körper. Manche Ärzte, allen voran auch Gonda, arbeiteten im Übereifer mit zu hohen Spannungen. Immer mehr „unbeugsame Patienten“ verließen das Krankenhaus im Sarg. 1916 und 1917 verzeichnete man eine Welle von Selbstmorden unter den hospitalisierten „Simulanten“. Schließlich kam es zu offenen Protesten. Patienten wehrten sich gegen die Anstellung von „Medizinelektrikern“, wie man die Befürworter der neuen Methode nannte. Die Militärführung erhielt immer mehr Protestbriefe. Unterdessen tobte in psychiatrischen Kreisen ein Kampf zwischen den Anhängern des Faradisierens und den sie mit aller Kraft bekämpfenden Psychoanalytikern. Dies alles führte dazu, dass ab Anfang 1917 zunächst in Deutschland und einige Monate später in Österreich-Ungarn die Anwendung von Elektroschocks eingeschränkt wurde. 115

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Die stürmische Zeit nach der Kapitulation der Mittelmächte fügte der Geschichte des Faradisierens ein Postskriptum hinzu. In Deutschland versuchten revolutionäre Soldaten, Nonne zu lynchen. Der Arzt konnte in letzter Sekunde fliehen, die wütenden Angreifer demolierten seine Praxis. In Österreich musste sich Wagner-Jauregg gegen öffentliche Anschuldigungen eines ehemaligen Patienten verteidigen, was freilich seiner rasanten Karriere keinen Abbruch tat. Nur Gonda blieb von Unannehmlichkeiten verschont. Unmittelbar nach Kriegsende praktizierte er in Rumänien, später emigrierte er in die USA. Dort erwiesen sich seine Erfahrungen aus der Kriegszeit als überaus nützlich, Gonda wurde einer der Pioniere der Elektroschocktherapie in den Vereinigten Staaten.

Überwiegend litten die an der Front geschädigten Soldaten jedoch nicht unter Psychosen, sondern unter Verwundungen und Krankheiten. Während des Kriegs behaupten Militärs wie Mediziner immer wieder, die Verluste durch Geschlechtskrankheiten, Typhus, Ruhr, Cholera oder auch Grippe seien zwanzigfach höher als die Verluste im Kampf. In Wirklichkeit waren nur zehn Prozent der Todesfälle in der deutschen Armee auf Krankheiten zurückzuführen, im österreichisch-ungarischen Heer etwas mehr. Der Erste Weltkrieg war der erste Krieg, in dem die Anzahl der Krankheitsopfer unter der Anzahl der im Kampf Verwundeten oder Getöteten lag. Die Kranken waren vergleichsweise privilegiert, weil zu ihrer Rettung mehr Zeit blieb. Weder Typhus noch Cholera töteten so schnell wie Blutverlust. In Hinsicht auf die Hygiene waren die russischen Soldaten im schlechtesten Zustand und vermutlich trugen sie wesentlich zur Verbreitung einiger der an der Front grassierenden Krankheiten, zumal der Cholera, bei. Auf österreichisch-ungarischer und deutscher Seite wurden Epidemien entschieden bekämpft, für Typhus- und Cholerakranke wurden Stationen in eigenen Baracken eingerichtet. Der Dienst auf diesen Stationen bedeutete für die Militärärzte wegen der Ansteckungsgefahr eine enorme psychische Belastung, weshalb man ihre Einsatzzeiten in der Regel strikt begrenzte. Wenn Soldaten in der Schlacht verwundet wurden, war es nicht immer möglich, sie schnell hinter die Linien zu bringen. Relativ oft kam es zu Infektionen, da man damals weder Antibiotika oder Transfusionen verabreichte. Trotzdem war die medizinische Versorgung unvergleichlich besser als während der Balkankriege und der späteren Auseinandersetzungen in Ostmitteleuropa. Die eigentlichen Katastrophen ereigneten sich erst 1918 mit der großen Grippeepidemie und anschließend in den Jahren 1919–20 während des 116

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Die militärische Rangordnung galt auch im Hinterland. Verwundete Offiziere wurden in der Regel besser versorgt als einfache Soldaten. Das Foto zeigt verwundete russische Offiziere in einem Militärkrankenhaus im russischen Landesinneren.

Polnisch-Sowjetischen und Polnisch-Ukrainischen Krieges, als letztlich das Fleckfieber die ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen zum Scheitern verurteilte. In der schlimmsten Lage waren in den ersten Kriegsmonaten die serbischen Verwundeten und Kranken sowie die in serbische Gefangenschaft geratenen österreichisch-ungarischen Soldaten. Das hatte mehrere Gründe. Serbien befand sich seit 1912 im Kriegszustand. Die Bevölkerung war verarmt und der Feldzug im Sommer 1914 hatte die Ernte beeinträchtigt. Es herrschte Hunger, der die Verbreitung der vom Militär eingeschleppten Krankheiten begünstigte. Cholera und Typhus waren mit den Siegern im Ersten Balkankrieg ins Land gekommen. Noch schlimmer wog, dass in den von den Serben im Zweiten Balkankrieg eroberten Gebieten Cholera und Malaria endemisch waren. Das arme und zerstörte Land hatte zu wenig Mittel zur effektiven Bekämpfung von Krankheiten und zur Versorgung der Verwundeten. Robert W. Seton-Watson beschreibt eines der improvisierten serbischen Kranken- oder eher Sterbehäuser: Es herrscht entsetzliches Elend. Das Krankenhaus in Skopje, das wir besichtigten, war ein typisches Beispiel. Eine umfunktionierte Tabakfabrik. Auf ­jeder Etage befinden sich große Räume, die sich über die Länge des Gebäudes 117

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erstrecken, und in jedem dieser Räume liegen 250 Verwundete in ihren Kleidern auf Betten und Matratzen ohne Bezüge oder Decken. Es gibt kein Licht, keine Krankenschwestern, keine angemessene Versorgung.56 Vor allem mangelte es an Ärzten. Die Regierung von Ministerpräsident Pašić machte daraus kein Geheimnis, die Serben baten offiziell um internationale Hilfe. Dem Gesuch folgten Dutzende mutiger Ärzte und Krankenschwestern. Manche von ihnen halfen nicht nur Serbien, sondern machten große Karriere. Dazu gehörte Ludwik Hirschfeld, der zusammen mit seiner Frau Hanna die Arbeit im serbischen Lazarett für serologische und bakteriologische Forschungen nutzte. Den größten Umfang hatte die Hilfe britischer Nichtregierungsorganisationen. Die Serbian Relief Foundation und private Spender organisierten den Betrieb eigener Krankenhäuser. In den serbischen Lazaretten dienten auch britische (meist schottische) Ärztinnen und Krankenschwestern, von denen ein Teil mit seinem Leben bezahlte. Trotz der Unterstützung forderte die Epidemie in dem ausgezehrten Land zahlreiche Opfer: Die Anzahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung wird für das Frühjahr 1915 auf rund 100 000 geschätzt, darüber hinaus starben 30 000 von 70 000 Kriegsgefangenen und 30 000 von 250 000 Soldaten. Serbien war kein typischer Fall – die anderen Länder wurden stärker vom Krieg als von Epidemien heimgesucht und die Anzahl der Opfer verharrte dort nicht nur im ersten Halbjahr auf proportional deutlich niedrigerem Niveau –, doch hier zeigte sich wie in einem Brennglas die bis dahin unvorstellbare todbringende Kraft des Ersten Weltkriegs.

Der Stellungskrieg Während in Serbien Cholera und Typhus Armeen und Zivilbevölkerung dezimierten, dauerte in den Karpaten der Stellungskrieg an. Unterbrochen wurde er von Operationen auf begrenztem Territorium und mit begrenzten Zielen. Das war für die monatelang von einem Ort zum anderen getriebenen Soldaten eine völlig neue Situation. Der Anpassungsprozess verlief wie an der Westfront. Dazu gehörten die zahlreichen kleinen, alltäglichen Kompromisse mit dem Feind, ­dessen Stellungen einige Dutzend oder Hunderte Meter entfernt lagen. Składkowski beschreibt die Ankunft der polnischen Legionäre an der österreichisch-­ ungarischen Verteidigungslinie an der Nida. Die dort zuvor stationierten Soldaten hatten mit den Russen vereinbart, dass man nicht auf Wasserträger schießen werde. Die Polen erfuhren davon entweder zu spät oder ignorierten diese Verein118

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Zuteilung von Rotwein am ersten Tag des othodoxen Weihnachtsfests.

barung und erschossen einige Russen, die mit vollen Wassereimern in ihre ­Gräben zurückkehrten. Als Reaktion beschossen die Gegner die Stellung der ­Legionäre, von denen einige verwundet wurden. Am Tag darauf überbrachten „Parlamentäre“ im „Niemandsland“ den Polen eine schlichte Botschaft: „Začem strelali wčera? Lučše ne strelat’!“ (Warum habt ihr gestern geschossen? Besser nicht schießen!) Die Abmachung wurde bestätigt und hielt wohl bis zur nächsten Ablösung auf einer der beiden Seiten.57 An einigen Abschnitten der Ostfront kam es im Winter und Frühjahr zu spektakulären Verbrüderungsakten zwischen russischen und österreichisch-ungarischen Soldaten. Die Anfänge zum katholischen Weihnachten 1914 waren noch zurückhaltend – wo die Schützengräben nahe beieinanderlagen, sangen die Polen auf beiden Seiten gemeinsam polnische Weihnachtslieder. Das Osterfest an der Nida machte schon wesentlich mehr her: Die Russen stehen an der Nida, schaut nur! Ohne richtig zu verstehen, was das bedeuten soll, gehen wir hinaus und ich sehe, dass […] die Russen in einer Reihe an der Nida stehen, und auf unserer Seite die Unsrigen, unbewaffnet, und sie unterhalten sich, dass es bis hierher zu hören ist. Das ungewöhnliche 119

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An allen Fronten versuchten die Soldaten sich den Alltag erträglich zu machen. Das Foto zeigt die Weihnachtsfeier des 1. Sofiaer Infanterieregiments (1916).

Ereignis macht alle neugierig, auf beiden Seiten kommen die Soldaten aus den Gräben und laufen über das von der Sonne beschienene Vorfeld der Gräben und die Uferwiese […] zum Fluss. […] Auf der ganzen Linie ist kein einziger Gewehr- oder Kanonenschuss zu vernehmen. Die ganze Front ist von festlicher Stimmung erfasst. Ostern!58 Andere Übereinkünfte zwischen den Soldaten auf mittlerer und unterer Ebene waren weniger spektakulär. Składkowski berichtet etwa, er habe im Bataillonskommando einen Scheinwerfer gesehen, der freilich nicht zum Ausleuchten der feindlichen Positionen, sondern nur als „Hocker“ benutzt worden sei: „Wir schalten ihn in den Gräben nicht ein, weil die Russen dann ihren anwerfen, der auf dem Berg hinter Pińczów steht und unser Licht komplett unterdrückt, und uns über die Nida hinweg auslachen. Warum sollten wir uns also zum Gespött machen?“59 Manche Abmachungen mit dem Feind erforderten detailliertere Festlegungen. Das betraf vor allem den Austausch von Proviant. Das Tauschgut wurde von Patrouillen an verabredeten Orten abgelegt. Die Russen waren zwar 120

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generell besser versorgt, doch das Brot, das sie erhielten, war nicht sonderlich beliebt. Auch fehlte es ihnen mitunter an Tabak, von dem die Mittelmächte dank des Imports aus Bulgarien und Albanien mehr als genug besaßen. Größte Mangelware in den russischen Stellungen war aber Alkohol. Die Kriegsprohibition in Russland hatte zeitweise erschütternde Folgen. An der Front und im Hinterland tranken Offiziere und Soldaten Brennspiritus, es gab auch Todesfälle nach dem Verzehr etwa von Trockenspiritus, der für die Küchenöfen bestimmt war. Eine weitaus sicherere Bezugsquelle für Alkohol bot der Tauschhandel mit den Österreichern: Wurst und Brot für Rum, Zwieback und Tabak. All diese Versuche der Soldaten, sich den Frontalltag zu erleichtern, wurden von der Führung bekämpft. Handel und Kontakte mit dem Feind wurden ver­ boten, freilich ohne großen Erfolg. Der längere Aufenthalt in relativem Frieden führte dazu, dass die Soldaten die Nachbarn auf der anderen Seite nicht mehr als Feinde sahen. Als wirkungsvollstes Mittel zur Aufrechterhaltung von Disziplin und zur Mobilisierung erwies sich auf längere Sicht die Offensive. Das lieferte den Befürwortern einer aggressiven Taktik ein weiteres Argument: Die Truppen in ständiger Bewegung zu halten, sei nicht nur notwendig, um die Initiative ergreifen zu können, sondern auch, um die Truppendisziplin aufrechtzuerhalten. Wenn die Soldaten anfingen, über die Verpflegung zu klagen, müsse man einen Angriff befehlen, erklärt in den Letzten Tagen der Menschheit ein Oberleutnant ­einem anderen – schon damit sie nicht aus der Übung kämen. Ein Angriff, auch in aussichtslosen Situationen, habe viele Vorteile. Zudem möge der Oberst es nicht, wenn zu viele Männer bei einem Rückzug am Leben blieben. Der Oberleutnant spricht vom „System Pflanzer Baldhin“,60 eine Anspielung auf Karl von Pflanzer-Baltin, den Befehlshaber einer der österreichisch-ungarischen Armeen an der russischen Front, dem der Satz zugeschrieben wird: „Ich werde schon meinen Leuten das Sterben lehren!“61 Pflanzer-Baltin hätte sicher die Auffassung geteilt, dass eine Armee, die nicht kämpfe, genauso gut nach Hause gehen könne. Der Alltag in den Schützengräben wurde von ganz banalen Dingen ausgefüllt. Wegen der Kälte verblieb nur ein kleiner Teil der Soldaten in den vorgeschobenen Stellungen. Der Rest saß in mehr oder weniger beheizten Erdhütten. Die Sanitätsdienste nutzten die ruhigeren Momente, um die Soldaten zu impfen und zu entlausen. Der Kampf gegen die Läuse war ein wichtiger Punkt des Tagesprogramms in den Schützengräben: Die Läuse, die zahlreich in den Kleidernähten heranwachsen, fischt man ­heraus, die größeren mit den Fingern, die kleineren, die nicht eigens der Mühe wert sind, und die Nissen schabt man mit dem Taschenmesser auf ein 121

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Blatt Papier und verbrennt sie im Kamin. Man inspiziert auch die saubere Wäsche, denn auch hier findet man oft einen wohlgenährten Bock. Die schmutzige Wäsche trägt man nach draußen und wirft sie weg, denn von Waschen ist keine Rede.62 Eine der originellsten Methoden der Läusebekämpfung an der Ostfront bestand darin, dass man die Kleidung für eine bestimmte Zeit in einen Ameisenhaufen legte. Ende März setzte Tauwetter ein und die Gräben wurden zu Schlammlöchern. Das Wasser brachte die Latrinen zum Überlaufen. Die Soldaten bezogen deshalb die von der Artillerie verschonten Häuser. Ein Teil von ihnen war noch bewohnt, weil nicht alle Zivilisten dem Evakuierungsbefehl gefolgt waren. Mit dem Frühjahr kamen die Einheimischen wieder zum Vorschein und die entschlossensten Bauern machten sich an die Feldarbeit. Trotz der Gefahr verlagerte sich das ­Leben ins Freie: „Ein seltsames Bild: Auf den Stellungen spielen Kinder im Sand – sie wohnen in Häusern hinter den Gräben, die von den Bewohnern nicht ver­ lassen wurden.“63

Die Festung Przemyśl In der größten belagerten Festung der Ostfront gab es im März 1915 keine ­„seltsamen Bilder“ zu sehen. Nachdem die Russen Przemyśl nicht im Sturm hatten nehmen können, hatten sie die Stadt eingeschlossen. Die Initiative übernahmen die Verteidiger, die insgesamt sechs sehr verlustreiche, aber erfolglose Ausfälle unternahmen. Die Befestigungsanlagen der Stadt erstreckten sich über einen Umkreis von 45 Kilometern, sie umfassten zwei Befestigungsringe mit mehr als einem Dutzend Forts und Artilleriestellungen. Diese umgaben nicht nur die Stadt, sondern auch die umliegenden Dörfer, die man im Herbst 1914 niedergebrannt hatte, um freies Feld für die Artillerie zu schaffen. Schon nach der ersten russischen Offensive in Ostgalizien Mitte September war Przemyśl eingekreist worden. Das größte Problem in der recht gut versorgten Festung ­waren die vielen zivilen Flüchtlinge aus den nahen Dörfern. Das Tempo der russischen Offensive hatte die geplante Aussiedlung der Zivilbevölkerung verhindert. Nachrichten von russischen Pogromen hatten viele Juden in Przemyśl ­Zuflucht suchen lassen. Auch ein Teil der Bevölkerung der vom Militär niedergebrannten Dörfer war auf Festungsterritorium geblieben. Ohne festes Dach über dem Kopf kampierten sie auf Feldern oder hausten in Erdhöhlen. Das Vorfeld bot einen traurigen Anblick: 122

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„Häuslich eingerichteter“ Bunker ­bulgarischer Telefonisten an der ­Saloniki-Front.

Österreichischer Schützengraben in einem Dorf im Bezirk Stryj. Front und ziviles Hinterland waren oft nicht eindeutig getrennt.

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In den verlassenen Dörfern verwildern die Katzen. Man soll nachts schon von weitem das Glühen ihrer Augen sehen, wenn sie durch die Trümmer der verbrannten Häuser irren. Wie oft bringen Offiziere, in ihren Mantel geschlagen, verloren gegangene Kinder aus den Dörfern herein. Da saß mitten im Schrapnellregen ein dreijähriger Junge mutterseelenallein, lachend und spielend im Feld. Die Soldaten, die ihn fanden, konnten nichts weiter aus ihm herausbringen als: „Babbo, Amerika!“64 Der erste Sturm unter dem Kommando von Ratko Dimitriew (der schon die Bulgaren vor Çatalca angeführt hatte) war gescheitert, weil er scheitern musste. Die Russen hatten keine schwere Artillerie und der Versuch, eine gut ausgebaute und mit mehr als 100 000 Soldaten besetzte Festung aus dem Marsch heraus zu erobern, entsprang dem übertriebenen Ehrgeiz des bulgarischen Generals im zaristischen Dienst. Die Operation erwies sich als äußerst blutig und absolut erfolglos. Sie dauerte eine Woche und endete am 9. Oktober nach dem Eintreffen der Entsatztruppen der 3. österreichisch-ungarischen Armee. Der Festungskommandant, General Hermann Kusmanek, befahl ebenfalls einen Angriff und die von zwei Seiten unter Beschuss genommenen Russen mussten die Operation aufgeben. Ein ungarischer Offizier aus der Festungsbesatzung beschreibt den erschütternden Anblick des Schlachtfeldes: Als es hell wird, sieht man auf der ganzen Länge und Breite des Vorfelds ­russische Leichen liegen. Von der anderen Seite fallen nicht einmal vereinzelte Schüsse. […] Hunderte in einer Linie eingegrabene Russen – tot. Manche regen sich noch, Sanitäter tragen sie fort. Man sieht einzelne Soldaten mit Drahtscheren. Ein toter Offizier in einer Schützenmulde hält einen genauen Plan des Werks I/3 und des Verteidigungspunkts Byków in der Hand. Hinter ihm eine eingegrabene schmale Linie von Schützen. Alle tot! Ein schreck­ licher Anblick. Vor dem Stacheldraht liegen Hunderte, und weiter dahinter Tausende Leichen. Wir haben gewissenhaft gearbeitet. Ich werde diesen Anblick nie vergessen.65 Einer der tschechischen Verteidiger von Przemyśl, Jan Vit, hat eine andere Erinnerung an diesen Tag. Seine Aufmerksamkeit galt mehr den Lebenden als den Toten. Die Russen, die überlebt hatten und sich noch immer in Schützengräben und Geländefurchen versteckten, fielen den das Vorfeld durchkämmenden ungarischen Sanitätern geradezu um den Hals. Diese waren je zur Hälfte mit dem Versorgen der Verwundeten und dem Bestehlen der Toten beschäftigt.66 124

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Przemyśl: Kinder begrüßen die Soldaten der 3. österreichisch-ungarischen Armee mit ­Blumen. Die Freude über die Befreiung der Stadt währte nur kurz.

Obwohl die erste Belagerung von Przemyśl aus Sicht der Verteidiger erfolgreich endete, barg sie in sich doch den Keim der künftigen Niederlage. Die 3. Armee, die zur Unterstützung eingetroffen war, war erschöpft und hungrig, viele Soldaten waren verwundet oder krank. Es ist unklar, ob österreichisch-ungarische Soldaten oder russische Kriegsgefangenen die Cholera in die Festung brachten, jedenfalls mussten schon Anfang Oktober isolierte Baracken für die Erkrankten eingerichtet werden. Das war jedoch nicht das einzige Problem. Die 3. Armee musste verpflegt werden und die einzigen halbwegs vollen Lager befanden sich in Przemyśl. Weil die Festung vorübergehend nicht bedroht war, entschied man, der 3. Armee einen Teil der Besatzung und der Ausrüstung, darunter vor allem schwere Artillerie, zu überlassen. Ohne das rasche Scheitern der österreich-ungarischen Offensive und den chaotischen Rückzug hinter den San hätte sich das Minus an Nahrungsmitteln, Ausrüstung und Menschen ausgleichen lassen. So aber war Przemyśl schon Anfang November wieder eingekreist, diesmal für länger. 125

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Die Russen hatten aus dem gescheiterten ersten Angriff gelernt. Sie beschränkten sich nun darauf, die Festung von der Außenwelt abzuschneiden und mit Artillerie zu beschießen. Es flogen auch russische Flugzeuge über Przemyśl, die versuchten, wenn auch ohne Erfolg, die Lebensmittellager zu bombardieren. Doch auch so wurde die Verpflegung bald zum grundlegenden Problem der ­Festungsbesatzung und der verbliebenen Zivilisten. Auf dem freien Markt stiegen die Preise rapid an. Im November kostete ein Laib Brot bereits doppelt so viel wie vor Kriegsbeginn, Salz war fünfmal so teuer, manche Produkte (etwa Butter) gab es gar nicht mehr. Im Januar notiert die Przemyśler Hausbesitzerin Helena ­Seifert-Jabłońska: Unerhörter Hunger, diese Massen, die wer weiß woher und auf welchen Wegen in die Stadt gekommen sind, überwiegend Juden aus der Lemberger Umgebung. […] Auf der Straße ganz unbekannte Gesichter, manche leiden schon furchtbaren Hunger, sind schon ganz schwarz und ausgezehrt.67 Im Februar war bereits nicht mehr die Teuerung das Problem, sondern der ­Mangel. Die hungernden Soldaten und Zivilisten schlugen sich um die Pferdeknochen aus den Feldküchen. Ein Ei kostete mehr als eine Krone, das 20-fache des Vorkriegspreises. Die an die Besatzung und ab Ende Januar auch an die hungernden Zivilisten ausgegebenen Lebensmittelrationen schrumpften zusehends. Ab Dezember wurde ein Tag festgelegt, an dem gar kein Brot ausgegeben wurde. Die Menschen begannen Katzen und Krähen zu jagen und die um die Stadt herum postierten Offiziere nutzten den Patrouillendienst zur Jagd auf Rehe und Hasen. Schließlich befahl General Kusmanek die Schlachtung des größeren Teils der Pferde, von denen sich beim Beginn der Belagerung rund 20 000 in der Festung befanden. Das war ein verzweifelter Schritt, der die Chance auf einen Durchbruch zu den eigenen Truppen erheblich schmälerte. Ohne Pferde konnte man überdies ­weder Proviant oder Artillerie noch Verwundete und Kranke transportieren. Die Versorgungslage besserte sich, allerdings nur für kurze Zeit. Es mangelte nicht nur an Nahrung. Der strenge Winter 1914/15 war für die Festungsbesatzung eine große Herausforderung, zumal er die Soldaten unvor­ bereitet traf. Die meisten hatten ihre Uniformen noch bei der Mobilisierung vor der Augustoffensive erhalten und die wärmeren Mäntel erreichten sie nun nicht mehr. Man versuchte sich zu helfen, so gut es ging: Was sieht man jetzt für heitere Adjustierungen in den Straßen. Wie fern sind die Tage, wo der inspizierende Vorgesetzte eine halbe Stunde Zeit fand, sei­ 126

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ner Empörung über eine unvorschriftsmäßig hohe Kappe, über einen unvor­ schriftsmäßigen Halsstreifen, freien Lauf zu lassen! […] Alle warme Winter­ wäsche in der Festung ist längst aufgekauft. […] Die Offiziere, die von den Werken hereinkommen, sitzen auf den galizischen Bauernwagen in karierte Damentücher gewickelt. Andere […] haben das weiße, schwarz­marmorierte Wachstuch, das man als Waschtischeinlage benützt, aufgekauft und sich Wettermäntel daraus machen lassen.68 Die Kommandantur richtete Werkstätten ein, in denen aus dem verfügbaren ­Material die am schmerzlichsten vermissten Produkte hergestellt wurden. Man propagierte nachdrücklich das Sammeln von Sekundärrohstoffen. Die Tornister der Landsturmrekruten wurden zu warmen Westen verarbeitet, aus Holz und präparierten Stofflappen machte man Schuhsohlen, es kamen ganz unvorschrifts­ mäßige Strohschuhe in Umlauf. Während der ganzen Belagerung arbeiteten Seifenküchen und Schnapsbrennereien auf Hochtouren. Rum und Wodka gab es bis zuletzt. Die Führung versuchte, die Stimmung der Besatzung hoch­zuhalten. So wurde etwa triumphal verkündet, die verbliebenen Pferde könnten mit den speziell präparierten Spänen ernährt werden, die auch dem Brot bei­gemischt wurden. In ähnlichem Tonfall wurde auch der Ersatz der Gemüserationen durch Zuckerrüben bekannt gegeben. Beide Verfügungen mussten stillschweigend zurückgezogen werden. Der einzige (relativ) positive Effekt war, dass durch Schlachtungen von Pferden, die das neue Futter nicht vertrugen, die Fleischvorräte aufgefüllt werden konnten. Die Lasten der Belagerungen waren ungleich verteilt. In der Festung bildete sich eine starre soziale Hierarchie heraus. Auf der untersten Stufe standen die Zivilisten: ruthenische Bauern aus den Dörfern um Przemyśl. Sie litten nicht nur Hunger, sondern wurden auch Opfer des Spionagewahns. Schon während der ­ersten Belagerung kam es zu Fällen von Lynchjustiz gegen angebliche „Moskalophile“, darunter einige Frauen. Späterer landeten Angehörige dieser Gruppe vor dem Feldgericht, das nicht nur Spionage, sondern auch „Defätismus“ mit dem Tod bestrafte. Das Scheitern der schlecht vorbereiteten Ausfälle aus der Festung wurde jedes Mal mit Verrat erklärt. Gerüchte, denen zufolge bei getöteten russischen Offizieren Pläne der Befestigungsanlagen gefunden worden sein sollten, bekräftigten diese Vermutung und niemand fragte nach, wie ein einfacher ukrainischer Bauer in den Besitz solcher Dokumente hätte kommen können. Die ausgemergelten, hungernden Zivilisten besaßen kein militärisch relevantes Wissen, das sie andernfalls sicher gern gegen Nahrung und ein warmes Obdach verkauft 127

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hätten. Tatsächlich pendelten manche der hungernden Flüchtlinge zwischen russischen und österreichischen Stellungen hin und her und boten – teils erfundene – Informationen über die jeweils andere Seite feil, für die sie im Gegenzug etwas zu essen verlangten. Der Wert dieser „Informanten“ war direkt proportional zu ihrer Entlohnung. In einer ähnlich schlechten Lage wie die Ruthenen befanden sich die jüdischen Flüchtlinge. Wie viele es waren, zeigt sich daran, dass sie die größte Opfergruppe der russischen Luftangriffe darstellten. Für viele religiöse Juden bedeutete die Nahrungsfrage ein existenzielles Problem. Nach und nach wurde – das nicht als koscher geltende – Pferdefleisch zur Grundlage der Verpflegung in der Festung. Die Entscheidung, entweder gegen die religiösen Gebote zu verstoßen oder zu hungern, war für viele gläubige Juden ein großes Dilemma. Dafür standen sie ausnahmsweise einmal nicht unter argwöhnischer Beobachtung der österreichisch-ungarischen Obrigkeit, die ihnen in diesem Fall pauschal eine loyale Haltung unterstellte. Für den Fall der Einnahme der Festung durch die russische Armee fürchteten die Juden jedoch Schlimmes. Diese Sorge sollte sich bald nach dem Einmarsch der Russen in Przemyśl bestätigen: Das Judenpogrom ist seit heute im Gange, eigentlich schon seit gestern Abend. Man hat gewartet, bis sie sich in den Gebetshäusern versammeln. Dort sind Kosaken mit Knuten über sie hergefallen und haben sie ohne Rücksicht auf das Alter aus Gebets- und Gemeindehäusern, aber auch von der Straße und aus den Häusern zu den großen Kasernen in Richtung Bakończyce getrieben. […] Manche Älteren und Schwächeren kamen nicht hinterher, die wurden mit Knuten geprügelt. […] Welche Klage, welche Verzweiflung! Einige verstecken sich in Kellern, doch auch dort wird man nach ihnen suchen.69 Vorerst aber dauerte die Belagerung von Przemyśl an. In kaum besserer Lage als die jüdischen Flüchtlinge befanden sich die Soldaten. Sie erhielten zwar während der gesamten Belagerungszeit Lebensmittelrationen, doch diese reichten nicht zum satt werden. „Marodeure“, Verwundete und Kranke wurden so erbärmlich verpflegt, dass sie zu ständigem Betteln gezwungen waren. Etwas besser, wiewohl immer noch unzureichend, wurden die Truppen in den Stellungen versorgt. Die unterernährten und geschwächten Soldaten litten unter der Kälte, sie hatten Erfrierungen an Händen und Füßen und fielen regelmäßig während des Diensts in Ohnmacht. Die Ruthenen des Landsturms, die sich am leichtesten mit den Belagerern verständigen konnten, desertierten vor Hunger in Scharen. Den in der Festung verbliebenen Zivilisten ging es je nach ihrem Vermögen, ihren Bezie128

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hungen zum Militär und dem Umfang ihrer Lebensmittelvorräte unterschiedlich gut. In dem Maß, in dem Vermögen und Vorräte schrumpften, stieg die Anzahl der Prostituierten in der Festung. Sichere Aussichten auf karge, aber ­regelmäßige Mahlzeiten bot die Beschäftigung als Krankenschwester in einem Militärkranken­ haus. In manchen Erinnerungen heißt es, in einigen Krankenhäusern in ­Przemyśl habe es so viele Schwestern gegeben, dass ein Teil von ihnen selbst bei bestem Willen nichts zu tun gehabt hätte. Ein typisches Merkmal der k. u. k. Armee bestand darin, dass selbst in den dramatischsten Situationen die dienstliche Hierarchie aufrechterhalten wurde. So auch in Przemyśl. Während die Rekruten auf ihren Wachposten hungerten und die Patrouillen von Feldwebeln angeführt wurden, standen den Offizieren eigene Kantinen zur Verfügung. Sie bildeten die soziale „Mittelschicht“ der ­belagerten Festung. Sie klagten zwar auch über die immer schmaleren Portionen und mehr noch über die Eintönigkeit des Speiseplans, auf dem sich Pferdefilet, Pferde­zunge und Pferdebraten abwechselten, aber sie hungerten nicht. Doch auch sie empörten sich über das Gebaren des Festungskommandanten Kusmanek. Ein namentlich nicht bekannter Honved-Offizier, dessen Tagebuch erst in den 1960er Jahren bei einer Haussanierung in Przemyśl entdeckt wurde, klagte: Kusmaneks Verhalten gegenüber der Armee ist absolut unangemessen, denn statt die Einheiten zu inspizieren, spaziert er über den Korso und prüft, ob man ihm die gebührende Reverenz erweist. Er hat bis jetzt kein einziges Kran­ kenhaus besucht, obwohl er dort etwas zu sehen gehabt hätte, denn es gibt unglaublich viele Tote infolge nachlässiger Wundversorgung oder schlampig durchgeführter Operationen, man achtet nicht auf die erforderliche Hygiene, sodass jeder dritte Operierte an Blutvergiftung stirbt. […] Es kam die Nach­ richt, dass in der Division nur dreißig Pferde übrig bleiben sollen, seine eigenen behält seine Exzellenz natürlich, und mehr noch, er kauft zwei Pferde dazu, damit seine Hure in der Kutsche ausfahren kann, während unsere Pferde als Proviant geschlachtet werden.70 Die Kritik am Oberbefehlshaber wäre sicher milder ausgefallen, hätte er nicht immer wieder ebenso sinnlose wie blutige Ausfälle aus der Festung befohlen. Nur einer von ihnen hatte zum Ziel, den Belagerungsring zu durchbrechen und eine Verbindung zu den als Unterstützung nach Przemyśl anrückenden Truppen zu schaffen. Die übrigen waren strategisch motiviert, sie sollten zunächst russische Truppen binden, damit diese nicht an einen anderen Frontabschnitt verlegt 129

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werden konnten, und zuletzt nur noch den „Kampfgeist“ der Verteidiger aufrechterhalten. Der letzte Ausfall fand am 19. März statt. Kusmanek beschloss, nicht nach Westen oder Süden zu attackieren, sondern nach Osten, in Richtung der russischen Lebensmittellager in Mościska. Die ausgehungerten Soldaten erhielten Proviant für mehrere Tage. Sie sollten im Schutz der Nacht einen Bajonett­ angriff starten, also nahm man ihnen die Munition ab, damit kein ­versehentlicher Schuss dem Feind den bevorstehenden Angriff verraten konnte. Das Resultat war katastrophal. Die Soldaten, die bis zu den russischen Stellungen vordrangen, wurden vorzeitig entdeckt und dezimiert. Viele Soldaten kamen gar nicht erst so weit. Diejenigen, die befehlsgemäß den Proviant nicht anrührten, fielen vor Hunger in Ohnmacht. Andere, die sich nicht an den Befehl hielten, bekamen vom Pferdefleisch aus der Konserve Durchfall. Die Rückkehr in die Festung war umso trauriger, als die Quartiere der Soldaten ausgeraubt worden waren. Der tschechische Offizier Jan Vit erinnert sich: „Die Zivilisten, die dachten, wir ­kämen nicht wieder zurück, hatten alles geplündert. Sie hatten weggetragen, was nicht niet- und nagelfest war: Bettwäsche, Strohsäcke, Öfen und auch Dinge, die wir in den Magazinen zurückgelassen hatten.“ 71 Nun hielt auch Kusmanek die weitere Verteidigung für sinnlos. Am Tag des kalendarischen Frühlingsanfangs befahl er, Forts, Geschütze und Munitionsvorräte zu vernichten. Es war wahrscheinlich das größte Feuerwerk in der Geschichte Galiziens: Um 3 Uhr wurde die Polizei in alle Viertel der Stadt geschickt, um die Schla­ fenden zu wecken und vor der Erschütterung und dem Knall zu warnen, denn um 5 Uhr sollten beide Pulverdepots und drei Brücken sowie die Eisen­bahn­ werkstätten gesprengt werden. Wir gingen vors Tor, eine Menschen­menge mit Koffern, Bündeln und Kindern flüchtete durch unsere Straße und die Słowackistraße, die Augen vor Angst und Entsetzen weit aufgerissen. […] Zitternd vor Kälte warteten wir, bis es 5 Uhr wurde. […] Da flog mit einem entsetzlichen Knall das erste Pulverdepot in die Luft, die Erde bebte, viele Scheiben sprangen aus ihren Rahmen. Aus den Kaminen der Öfen quollen Rauch und Asche, von den Wänden löste sich der Staub, Putz bröckelte von den Decken. Kurz darauf ein zweiter Knall, dieselben Wirkungen. […] Auf den Balkonen knieten Soldaten und beteten.72 Przemyśl kapitulierte am 22. März 1915. Über 100 000 Verteidiger gingen in russische Gefangenschaft, die Russen erbeuteten 900 Geschütze – darunter die größten Kaliber, die sie bis dahin nicht besaßen – und zahlreiches anderes Gerät. Österreich-Ungarn verlor die größte Festung an der Grenze zu Russland, das nun 130

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Zerbombtes Fort bei Siedlisko nach der Rückeroberung von Przemyśl durch deutsche und österreichisch-ungarische Truppen.

die 11. Armee auf die blutigen Schlachtfelder in den Karpaten verlegen konnte. Die Niederlage der Monarchie schien besiegelt.

Das 28. Infanterieregiment vor Stebnícka Huta Der Essayist und Ethnograf Antoni Kroh schildert in einem seiner Bücher folgende Anekdote: Ein Lehrer hebt eine Hand mit gespreizten Fingern und fragt Hans: Wie viel ist das? Fünf, antwortet Hans. Und das?, fragt der Lehrer und hebt auch die andere Hand. Achtundzwanzig, antwortet Hans wie aus der Pistole geschos­ sen.73 Dieser Witz, den heute niemand mehr versteht, entstand nach dem Winterfeldzug in den Karpaten. Ende März 1915 wurde die österreichisch-ungarische Verteidigungslinie in der Gegend von Stebnícka Huta (in der Nord­ slowakei unmittelbar an der Grenze zu Polen, ungarisch Esztebnekhuta) durch­brochen. Anfang April geriet ein Teil des 28. Infanterieregiments, dessen Rekruten größtenteils aus Prag stammten, in russische Gefangenschaft. Schon in den Wochen zuvor hatte es Fälle von Desertion oder Ungehorsam 131

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tschechischer Soldaten gegeben. Mitte Februar wurde František Boubelík, ein Gefreiter des 102. Infanterieregiments, im Schützengraben mit einer weißen Flagge in der Hand ertappt. Ein Regimentsoffizier erschoss ihn an Ort und Stelle. Im März fehlten einige Züge des 11. und des 91. Infanterieregiments. Kurz vor der Schlacht bei Stebnícka Huta kamen dem 8. Regiment der 21. Landwehrdivision im Kampf zwei Drittel der Soldaten abhanden. Der Führung entging weder, dass viele Tschechen darunter waren, noch die angebliche Feigheit der 20. Brigade der 10. Infanterie-Division. Als im Chaos der Kämpfe in den noch immer verschneiten Karpaten 1500 Männer des 28. Infanterieregiments „verschwanden“, zogen nicht wenige Militärs und zivile Beobachter daraus weitreichende Schlussfolgerungen. Schnell kam das Gerücht auf, ein Teil des ­Regiments sei zu den Russen übergelaufen – in Marschordnung und mit einem Orchester vorweg. Die Tatsache, dass es sich um ein Prager Regiment handelte, passte nur zu gut in die Verschwörungstheorie: Statt für den Kaiser zu kämpfen, ließen die Truppen aus der tschechischen Hauptstadt („Prager Kinder“ wurde das Regiment inoffiziell genannt) ihren panslawistischen Neigungen freien Lauf und begingen schändlichen Verrat. Die Militärführung reagierte nervös. Fast umgehend, ohne die Berichte von Zeugen des Vorfalls abzuwarten, löste man das Regiment wegen „Schändung der Standarte“ auf. Franz Joseph I. unterschrieb den entsprechenden Befehl ohne langes Nachdenken. Die Entscheidung wurde der Armee bekannt gegeben, sollte ansonsten aber geheim bleiben. Doch die Zensur war dieser Aufgabe nicht gewachsen. In der ganzen Monarchie gab es bald Gerüchte um das 28. Infanterie-Regiment. Der von Kroh zitierte Witz ist nur ein Beleg dafür. Die Geschichte existierte in verschiedenen Versionen mit unterschiedlicher emotionaler Färbung. Die deutschen Nationalisten sahen in ihr ein weiteres Beispiel tschechischen Verrats. Auch die anderen Völker der Monarchie waren den Tschechen nicht wohlgesinnt. Gelegentlich hoben Zivilisten bei ihrem Anblick demonstrativ beide Hände in die Höhe, die Kampfgefährten misstrauten ihnen. Allgemein rechnete man mit weiteren Massendesertionen tschechischer Regimenter und „sah“ sie sogar, und zwar unter Beibehaltung des bei Stebnícka Huta geborenen Rituals. Ein polnischer Legionär etwa will im Mai an der Nida eine ähnliche Szene beobachtet haben: Da hörte man von rechts einen fernen Schrei, der aber so durchdringend war, dass wir jedes Wort verstanden: „Nicht schießen! Nicht schießen!“, und kurz darauf erklangen von dort Orchesterklänge, die sich entfernten und schließlich verstummten. […] Nach einem langen und beunruhigenden Mo132

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ment ging die Nachricht von Mund zu Mund: „Das 8. Regiment ist zu den Russen übergelaufen.“ […] Manch deftiges Wort wurde den tschechischen Brüdern nachgerufen.74 Die Führung beunruhigten vor allem die in Böhmen und Mähren kursierenden Gerüchte über die Ereignisse vor Stebnícka Huta. Im Mai 1915 schilderte das Prager Militärkommando in einem Bericht die Stimmung in der Bevölkerung: Die Auflösung des IR 28 wird in verschiedener, zumeist aber in einer für die Armee gehässigen Weise besprochen. Die Version, dass das IR 28, von anderen Truppen im Stich gelassen und von deutschen Maschinengewehren vorangetrieben, sich ergeben musste, ist die geläufigste. Es wäre gut, darüber eine kurze, offizielle Darstellung zu publizieren!75 Was vor Stebnícka Huta wirklich geschah, wird sich wohl nicht mehr aufklären lassen. Neueste Forschungen zeigen, dass die Tschechen nicht schlechter kämpften als andere k. u. k. Regimenter und dass das schlecht geführte und von den benachbarten Einheiten nicht unterstützte Regiment der „Prager Kinder“ sich – wie viele andere tschechische und nichttschechische Trupps – von den Russen überrumpeln ließ. Die Ermittlungen zum Fall des 28. Infanterie-Regiments dauerten bis zum Ende der Monarchie an, mit dem die ganze Angelegenheit bedeutungslos wurde.

Gegen Ende April erloschen die Kämpfe in den Karpaten. Es war ein besonders schwerer Moment für die Mittelmächte. An der Westfront waren sie in der ­Defensive, in den Dardanellen waren britische Truppen gelandet. Österreich-­ Ungarn hatte bei den ständigen, ohne Rücksicht auf Verluste durchgeführten ­Offensiven den am besten qualifizierten Teil seiner Streitkräfte verloren. Die 600 000 Toten, Verwundeten, Kranken und Gefangenen in der Zeit von Januar bis Ende März 1915 ließen sich nicht ersetzen. Die im Dienst verbliebenen österreichisch-ungarischen Soldaten wurden weder von den Verbündeten noch von der Zivilbevölkerung geachtet. Im von ihnen besetzten Teil des Königreichs ­Polen hatten die Österreicher den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Lumpen“ bekommen, den auch die Legionäre gebrauchten. Das Ansehen der Monarchie war so tief gesunken, dass man zur Absicherung gegen einen eventuellen Angriff der Serben ein deutsches Bataillon nach Banat holte. Seine einzige Auf­gabe bestand darin, bei den Serben den Eindruck zu erwecken, ihnen stünde ­neben den Österreichern, die sie schon zweimal geschlagen hatten, auch ein ernsthafter Gegner 133

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gegenüber. Von diesem Fall sollte sich die Monarchie nicht mehr erholen. Bei den folgenden größeren Operationen lag die Initiative immer in der Hand deutscher Generäle und deutsche Soldaten bildeten das Rückgrat der k. u. k. Einheiten. Als im April der preußische Befehlshaber Georg von der Markwitz verlangte, den unfähigen Kommandeur des X. österreichisch-ungarischen Korps abzulösen, erfüllte Conrad von Hötzendorf diesen Wunsch binnen 24 Stunden. Es bestand kein Zweifel daran, wer in diesem Bündnis das Sagen hatte. Die Kämpfe in Galizien und Ostpreußen hatten auch die Russen erschöpft. Trotz der weitaus größeren Bevölkerungsbasis und des größeren Reservekontingents wurden auch in Russland zunehmend ungenügend qualifizierte Rekruten eingezogen. Außerdem hatte die russische Armee mit einem Problem zu kämpfen, das die Mittelmächte weniger betraf: Es fehlte an Waffen und an Munition. Letztere wurde großenteils vor Ort hergestellt, nicht zuletzt dank ganzer Fertigungslinien, die man aus Großbritannien und Frankreich importiert hatte. Trotzdem mussten Artillerie und Gewehre großenteils von den Verbündeten bezogen werden. Das lag nicht nur an der Schwäche der russischen Rüstungsindustrie, sondern auch an der großen Anzahl der in Gefangenschaft geratenen Soldaten, deren Waffen abgeschrieben werden mussten. Die Kämpfe der Jahre 1914 und 1915 drückten auf die Moral der Truppe. Der britische Militärattaché in Russland, Alfred Knox, beobachtete, dass die russischen Offiziere (von den normalen Soldaten ganz zu schweigen) mit größtem Respekt von den Fähigkeiten der deutschen Generäle und der Initiative der Soldaten sprachen: „Der Deutsche war zu allem fähig.“ 76 Mit dieser Einstellung konnte man schwerlich große Triumphe in der Zukunft erwarten.

Gorlice-Tarnów In der Tat schickte „der Deutsche“ sich zu etwas Großem an. Im Frühjahr rückte man mit einer gemischten deutsch-österreichisch-ungarischen Armee unter dem Kommando des alten Kavallerieoffiziers August von Mackensen gegen die russischen Stellungen in Galizien vor. Mackensen war nicht nur wegen seiner Professionalität, sondern auch wegen seiner Art zum Befehlshaber auserkoren worden. Im Gegensatz zu den rüpelhaften und arroganten preußischen Generälen besaß er Fingerspitzengefühl, was die Zusammenarbeit mit den Verbündeten sehr erleichterte. Die Vorbereitung dieser Operation erinnerte in nichts an die bisherigen chaotischen Aktivitäten an der Ostfront. Die deutsche Luftaufklärung lieferte detaillierte und – noch wichtiger – verlässliche Informationen über Stärke und Positionierung des Feindes. Die Radioaufklärung arbeitete effektiv. Zwar 134

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hatten die Russen begonnen, ihre Depeschen zu chiffrieren, doch die österreichisch-ungarische Aufklärung konnte die Codes immer wieder entschlüsseln. Auch in der Organisation der deutschen Streitkräfte hatte es Verbesserungen gegeben. Im Februar war die Wehrmacht umstrukturiert worden, vor allem um die Feuerkraft zu erhöhen und den Verlust erfahrener Kader zu minimieren. Die von vier auf drei Regimenter verkleinerten Divisionen verfügten nun über stärkere Artillerie und mehr Maschinengewehre. In den Regimentern wurden „alte“ und „neue“ Soldaten gemischt. Mackensen erhielt zusätzliche Artillerie, die er einzelnen Korps zuwies, sowie große und vor allem mobile Munitionsvorräte. Die österreichisch-ungarischen Verbündeten lieferten hervorragende Stabskarten (die bis in die 1990er Jahre in den östlichen und rumänischen Karpaten von Touristen genutzt wurden). Die deutschen Truppen stiegen zudem auf österreichisch-ungarische Transportmittel um, die besser für die nicht sonderlich guten galizischen Straßen geeignet waren: leichte Lkws und Pferdefuhrwerke. Der Bahntransport lief hervorragend, Ende April wurden rund 100 Züge mit Soldaten, Geschützen und Munition in die Gegend von Tarnów und Gorlice geschickt. Man dachte sogar an zusätzliche Ausdauerübungen für die Fußtruppen, denen lange Märsche auf schwerem Terrain bevorstanden. Die Russen waren einigermaßen gut vorbereitet, solide eingegraben und gut bewaffnet, obwohl es ihrer Artillerie chronisch an Munition mangelte. Dieses Mal waren sie aber mit einer völlig anderen Art der Kriegsführung konfrontiert. Die Offensive bei Gorlice war der erste Frontalangriff in diesem Krieg, der zu einem Durchbruch durch die gegnerischen Linien führte. Vorbereitet wurde sie durch mehrstündiges massives Artilleriefeuer, das einen Teil der russischen Stellungen vernichtete. Der Kommandeur der k. u. k. Artilleriebatterie notierte, dass ihm zum ersten Mal mehr als genug Munition zur Verfügung stand: „Die Befehle, die ich an diesem Vormittag von meinen Vorgesetzten erhielt, waren sehr einfach. Sie hießen abwechselnd: ‚Schneller schießen‘ und ‚noch schneller schießen‘. Sonst befahl man ja immer das Gegenteil: ‚Munition sparen!‘“ Demgegenüber konnten die russischen Artilleristen „nur fünf bis zehn Geschosse je Tag und Geschütz abfeuern“.77 Von der Bombardierung war auch Gorlice betroffen, wo einige Hundert Zivilisten starben, die sich in Kellern versteckt hatten. Der schockierte Bürgermeister der Stadt, Bronisław Świeykowski, überlebte wie durch ein Wunder in seiner Wohnung, später brauchte er für die 100 Schritte bis zum Rathaus im Hagel der Granaten („deren an jenem Tag abgeworfene Anzahl sich niemand vorstellen kann, der diesen Tag nicht in der Stadt erlebte“) mehr als eine Viertelstunde. Vor 135

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seinen Augen versank die Stadt in Schutt und Asche: Auf dem Marktplatz „standen außer zwei Häusern und dem Rathaus alle Gebäude in Flammen“, Hunderte Einwohner beteten im Rathaus um Rettung. „Dantesche Hölle“, „entsetzliche Panik“ – so beschreibt Świeykowski (Geistlicher, Intellektueller und Original in einer Person) diesen Tag; glücklicherweise wurde das Rathaus von keinem einzigen Geschoss getroffen, ein „durch Funkenflug“ verursachtes Feuer konnte dank der Geistesgegenwart eines Polizeihauptmanns rasch gelöscht werden. Świeykowskis Schilderung der Ereignisse des 2. Mai 1915 endet mit den Worten: „Schon das Atmen fiel schwer, dichter Rauch biss in den Augen, auf dem Markt sah man vom Rathaus kaum ein paar Schritte weit […] sicher die schwersten Stunden, die mir die Vorsehung in meinem Leben bestimmte.“ Am Nachmittag erschien die erste deutsche Patrouille in Gorlice; die Einwohner der brennenden Stadt begrüßten die Bayern wie Befreier.78 Bis zum Abend des ersten Tages der Offensive war Mackensen schon rund acht Kilometer hinter die russischen Linien vorgedrungen. In der Nacht erneuerten die Einheiten der ersten Linie die Munitionsvorräte, während die Artillerie weiter vorrückte. Nicht unwichtig war auch, dass die Feldküchen rechtzeitig angekommen waren. Statt Appellen an Patriotismus und Soldatenehre erhielten die müden Soldaten ein warmes Abendbrot. Diejenigen von ihnen, die kurz zuvor noch in den Karpaten gekämpft hatten, wussten diese Veränderung sicher zu schätzen. Die deutsche Walze drang in die russischen Linien ein wie in einen Teig. Wo es Widerstand gab, unterbrach man den Vormarsch und nahm den Artilleriebeschuss wieder auf. Die Luftaufklärung entdeckte russische Gegenangriffe, bevor die Truppen das Schlachtfeld erreichten, man wehrte sie mit massiertem und gezieltem Artilleriefeuer ab. In den folgenden Tagen setzte Mackensen seinen Plan um, der auf der Annahme beruhte, ein Frontdurchbruch sei nur dann sinnvoll, wenn er dem Feind keine Gelegenheit biete, sich vom ersten Schock zu erholen. Am 5. Mai stand seine 11. Armee schon 25 Kilometer hinter der ersten Linie russischer Stellungen. Die Stawka musste eilig ihre Truppen aus den Bergen zurückziehen; eine verspätete Division geriet bei Dukla in Gefangenschaft. Unterdessen behielten die Deutschen ihr Tempo bei. Erst am San machten sie einige Tage halt, um ihre Reihen aufzufüllen und die Armee umzugruppieren. Vom San aus stießen sie nach Przemyśl vor, in das zum Missfallen Wiens als Erste nicht die Österreicher, sondern die Bayern einmarschierten. Nach der schnellen Einnahme der Festung rückte Mackensen nach Lemberg vor, das die Deutschen am 22. Juni einnahmen. Einen Monat später reiste die uns schon bekannte Hausbe136

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Zug russischer Kriegsgefangener durch die Ulica Piotrkowska in Lodz.

sitzerin Helena Seifert-Jabłońska nach Sanok. Aus dem Zugfenster beobachtete sie die noch frischen Spuren des Frontdurchbruchs: Das entsetzlichste Bild der Zerstörung bietet Ustrzyki. Die Kirche ist unbeschädigt und einige wenige Häuser haben noch Dächer. Die großen Erdöltanks, sämtliche Sägewerke, Raffinerien und überhaupt alle Fabriken sind vernichtet. Die Hügel um Ustrzyki bieten einen interessanten Anblick. Dort gab es die heftigsten Kämpfe. Auf den Gipfeln sieht man Schützengräben und in die kahlen Hänge haben großkalibrige Geschosse riesige Krater geschlagen. Die Wege und kleinen Täler sind mit mehrere Meter breitem Stacheldraht versperrt, an denen Dosen hängen, die an Konservenbüchsen erinnern. […] In diesem Stacheldraht sollen zahlreiche Menschen gestorben sein und unter entsetzlichsten Qualen teils mehrere Tage gezuckt haben. In den Tälern stapelten die Leichen sich meterhoch. Von Weitem schon waren riesige schwarze Vogelschwärme zu sehen. Als der Zug näher kam, sahen wir eine lange, sehr lange Aufschüttung mit glatten Seiten und darauf einige unserer und schismatischer Kreuze. Das war ein Grab, in dem Tausende Leichen lagen, und es war so dünn bedeckt, dass hier und da Arme und Beine oder von Raben und Krähen zerhackte Schädel herausragten. Die Erde war abgerutscht, der Regen hatte sie abgewaschen! […] Der Wind wehte einen schrecklichen Geruch heran.79 137

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Deutsche Soldaten vor der eroberten Festung Iwangorod (Dęblin).

Die Katastrophe in Galizien hatte große Auswirkungen auf die Situation der Russen im Königreich Polen. Plötzlich bestand die Gefahr, dass sie von Süden her umgangen würden. Ein Rückzug war unumgänglich, anfangs verlief er auch einigermaßen geordnet. Trotz des permanenten Mangels an Munition für Geschütze und bald auch Gewehre leisteten die Russen den angreifenden Deutschen und Österreichern Widerstand. Dabei konnten sie punktuelle Erfolge verzeichnen. Am 23. Juli versuchten die Deutschen, den Narew zu überqueren. Der Hauptmann Hans Tröbst war Zeuge ihrer Rückkehr in die Stellungen: Eine halbe Stunde später begannen die Kompanien ihre bisherigen Stellungen zu räumen und kamen truppweise oder einzeln, müde zerschlagen, mehr einer willenlosen Herde als Menschen ähnlich, zurück. […] Kramme befahl als Erstes die Verluste festzustellen. Sie beliefen sich an Toten, Verwundeten und Ver­missten auf drei Offiziere und 261 Unteroffiziere und Mannschaften. Das heißt mit nüchternen Worten: Über die Hälfte des Bataillons hatte der Teufel geholt.80 Immer häufiger aber mussten die russischen Artilleristen untätig zusehen, wie die eigenen Fußtruppen im feindlichen Feuer fielen. Ihre Munitionsbestände 138

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Die Trasse des russischen Rückzugs wurde durch brennende Dörfer markiert.

­ aren auf die eiserne Reserve zusammengeschmolzen oder ganz aufgebraucht. w Die Stawka schickte Ergänzungstruppen ohne Waffen oder mit Knüppeln statt Gewehren an die Front. Die Soldaten sollten die Gewehre ihrer getöteten Kameraden benutzen, doch viele starben, ehe sie eine Waffe in die Hand bekamen. Kein Wunder also, dass die Moral schlecht war. Anfang August wurde Warschau evakuiert. Der Historiker Aleksander Kraushar beobachtete: Unter den nach Praga abziehenden Russen herrschte solche Panik, dass die Fuhrwerke gar nicht alle Flüchtenden aufnehmen konnten. Neben Gerichts­ beamten, oft ohne Hut auf dem Kopf, saßen ihre Diener, unbewaffnete Soldaten und die Frauen von Tschinowniks mit ihren Kindern. Nicht selten erblickte man auf den Fuhren Schweine, gestapeltes Vollkornbrot, Hausrat oder Heiligenbilder in den Händen von Popen. All das ergab das groteske Bild einer verschreckten, ängstlichen Schar, die vor einem bedrohlichen, rachsüchtigen und beutehungrigen Feind davonlief.81 In der zweiten Augusthälfte fiel die Festung Modlin (damals Nowogeorgiewsk). Der russische Widerstand wurde schwächer. Alfred Knox notiert ein Gespräch, das er damals mit einem jungen russischen Flieger führte. Dieser meinte, 139

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­ ussland werde niemals wieder ins Königreich zurückkehren, weil die Armee R nicht mehr kampffähig sei. Es gebe so wenige Berufsoffiziere, dass man nur die Stellen der Bataillonsführer besetzen könne. Die Kompanien würden schon von schlecht ausgebildeten Reservisten geleitet, die nicht einmal Karten lesen könnten.82 Veranschaulicht wurde das absolute Debakel durch Flüchtlingsmassen und brennende Dörfer. Den zurückweichenden Russen wurde befohlen, sie sollten verbrannte Erde zurückzulassen. Auch wenn dieser Befehl natürlich nicht immer umgesetzt wurde, waren materielle Verluste unvermeidlich. Ein Einwohner des Kreises Mława, Józef Dominik Kłoczowski, schildert die wiederholten Besuche russischer Militärs, die sein Dorf niederbrennen wollten. Jedes Mal ließ sich das Problem durch Bestechung lösen. Schließlich „kam ein Offizier vorbei, er sagte, wenigstens die Schober müssten abgefackelt werden, doch zum Glück blieb es bei der Ankündigung“.83 Im Sommer 1915 ergab sich im Königreich Polen eine paradoxe Situation. Die russische Armee betrieb eine Politik der rücksichtslosen Gewalt gegen die eigene Bevölkerung, während die angreifenden Soldaten der Mittelmächte zu Verbündeten der Einheimischen wurden. Österreichisch-ungarische und deutsche Gendarmen erschossen gefasste Brandstifter. Bisweilen setzten sich auch die Betroffenen selbst zur Wehr: Gestern Morgen haben die Einwohner der Stadt einen Russen getötet, der sich in der Dämmerung angeschlichen hatte, um ein Haus anzuzünden. Unsere Soldaten sagen, die Stadtbevölkerung habe österreichische Gewehre von den vor einigen Tagen von den Russen getöteten Soldaten und verteidige damit nun ihre Häuser gegen russische Brandstifter. Die Gewehre halten sie sowohl vor den Russen als auch vor den Österreichern sorgfältig versteckt. […] Einen vor einigen Tagen gefassten Mann im Russenhemd, der im Fuhr­ dienst unterwegs war, haben sie an einer Weide in der Vorstadt von Urzędowo aufgehängt.84 Doch auch, wenn die Russen nicht in der Lage waren, die gesamte Zivilbevölkerung zu evakuieren, ließen die Umstände den Menschen oft keine Wahl. Das Militär requirierte schlicht den gesamten Besitz derer, die blieben. Der britische Attaché passierte auf dem Weg nach Bielsk Podlaski eine zwanzig Meilen lange Schlange von Fuhrwerken mit Familien und deren Habseligkeiten. Der polnische Ökonom Stanisław Dzierzbicki äußerte in seinem Tagebuch die Wut auf die russische Obrigkeit, die diese Katastrophe herbeiführte:

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Die russischen Evakuierungen im ländlichen Raum betrafen einen großen Teil der Bevölkerung. In den Städten begnügte man sich meist mit dem Abtransport von Vermögenswerten.

Die Lage ist furchtbar – Zehntausende, die aus ihren Häusern in den niedergebrannten Dörfern vertrieben wurden, blockieren die Straßen und behindern die Truppenbewegungen. Gestern erhielt der Warschauer Gouverneur die Nachricht, bei Jabłonna hätten sich an die 30 000 Flüchtlinge versammelt, die man nicht nach Warschau hineinlassen will und die weder zu essen haben noch wissen, wo sie hinsollen.85 Manche dieser Flüchtlinge kehrten schnell zurück, ein Teil allerdings blieb länger tief im russischen Landesinneren. In nicht ganz vier Monaten wurde die russische Armee durch die Offensive der Mittelmächte mehr als 500 Kilometer nach Osten zurückgedrängt. Die Marschroute einiger deutscher und österreichisch-ungarischer Einheiten war sogar mehr als doppelt so lang. Den Schlüssel zum Erfolg bildeten die perfekte Organisation des Angriffs und das kontinuierliche Vorgehen der verbündeten Armeen. Anders als zuvor erlaubte man dem Gegner keine Atempause, sondern setzte die Offensive fort, bis den Angreifern die Kraft ausging. Berlin und Wien eroberten nicht nur alle Gebiete zurück, die zuvor in Feindeshand gefallen waren, sondern besetzten auch den gesamten bislang russischen Teil Polens. Für die polnischen Legionäre, die in den siegreichen Armeen kämpften, war es ein 141

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Kampf zur Verteidigung des Vaterlandes. Das änderte sich erst gegen Ende ­August, als die Offensive das polnische Siedlungsgebiet hinter sich ließ. Ein Kongresspole in österreichischer Uniform notierte in sein Tagebuch: „Die landeskundliche Reise ist zu Ende, der Krieg beginnt wieder. Wir stehen in einem orthodoxen ruthenischen Dorf und von den einheimischen Bauern schlägt uns stille und demütige Abneigung entgegen.“86

Wiederholung auf dem Balkan Mackensens Offensive war ein so durchschlagender Erfolg, dass es ein Fehler gewesen wäre, die bei Gorlice gesammelten taktischen und technischen Erfahrungen nicht an anderen Fronten zu nutzen. Im österreichisch-ungarischen Generalstab hatte man die Pläne zu einer endgültigen Abrechnung mit Serbien nie aufgegeben. Die beiden gescheiterten Feldzüge hatten aber bewiesen, dass ein Angriff gut vorbereitet und die Überlegenheit der eigenen Truppen deutlich sein musste. Seit Italien im Mai 1915 aufseiten der Entente in den Krieg eingetreten war, war eine alleinige österreichisch-ungarische Offensive praktisch ausgeschlossen. Man hatte den größten Teil der knappen Kräfte, die seit Ende 1914 die Südgrenze schützten, an die neue Front am Isonzo verlegt. Von entscheidender Bedeutung war es nun, neue Verbündete zu gewinnen. Die Bemühungen dauerten lange. Schon im Herbst 1914 hatte man sich in Wien daran erinnert, dass der bulgarische Zar Ferdinand formal österreichisch-ungarischer Offizier war. Man übersandte ihm daher regelmäßig Frontberichte. Letztlich ging es aber ums ­Konkrete. Die Verhandlungen zogen sich bis Herbst 1915 hin und die Frage lau­ tete: Wer bot Bulgarien mehr und wessen Angebot hielt Sofia für das Glaubwürdigste. Großbritannien und Frankreich hatten von Anfang an eine schwächere Position, weil die Erfüllung der bulgarischen Territorialforderungen einen großen Teil des serbischen Makedoniens betroffen hätte. Österreich-Ungarn konnte sich großzügiger geben, zumal es Bulgarien Territorien anbot, die seinem Feind gehörten. Die Verhandlungen beeinträchtigten die serbischen Verteidigungspläne. ­Ursprünglich hatte Generalstabschef Putnik präventiv den in seinen Augen schwächsten Gegner – Bulgarien – angreifen wollen. Diesen Plan konnte er vor allem wegen des heftigen Einspruchs seiner Verbündeten, die das Land auf ihre Seite zu ziehen hofften, nicht in die Tat umsetzen. Stattdessen zogen die Serben das Gros ihrer Streitkräfte an Donau und Save zusammen, kleinere und schwächere Formationen indes an der Grenze zu Bulgarien und an der Drina. Mackensen griff tatsächlich im Norden an, wo er eine der bis dahin größten Landeopera142

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Kampfbereite Balkanstaaten in der Karikatur des Kuryer Codzienny.

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Österreichisch-ungarische Soldaten im eroberten Belgrad.

tionen durchführte. Im Schutz der Nacht und der österreichisch-ungarischen Donauflottille fuhren Hunderte Boote und Schlauchboote auf der Save nach Belgrad. Vom Nordufer aus wurden sie durch schwere Artillerie unterstützt. Die Serben waren erst überrascht, begriffen aber schnell den Ernst der Lage. Sie bestrahlten den Fluss mit Scheinwerfern, um das Feuer der am Ufer stationierten Artillerie zu lenken. Die Angreifer erlitten ernste Verluste, konnten aber einen Brückenkopf in Belgrad errichten. Einen ganzen Tag lang wehrten Deutsche und Österreicher die serbischen Gegenangriffe ab, wobei sie in Ermangelung anderer Deckung hinter getöteten Kameraden und Feinden Schutz suchten. In der folgenden Nacht kam Verstärkung vom Nordufer und am nächsten Tag drängten die Angreifer die Verteidiger nach Süden zurück. Die serbische Hauptstadt fiel in österreichische Hand, doch nach der einige Monate zuvor in Galizien erprobten Methode veranstaltete man keine Festparaden, sondern setzte die Offensive fort. Die Serben zogen sich in Richtung ihres Produktions- und Versorgungszentrums in Kragujevac zurück. Hierher kamen Waffen, Munition und Lebensmittel, die von Engländern und Franzosen über den Hafen von Saloniki geliefert wurden. Während des letzten Feldzugs im Winter hatten die Serben die Invasoren 144

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nicht zuletzt dank dieser Unterstützung zurückschlagen können. Dieses Mal durchkreuzte der Einmarsch der Bulgaren diesen Plan. Die Verbindung nach Saloniki wurde unterbrochen. Am 20. Oktober marschierten die Bulgaren in Skopje ein und besetzten sukzessive den ganzen serbischen Teil Makedoniens. Nur eine entschiedene Intervention aus Berlin hielt sie davon ab, die offenen Rechnungen mit den anderen Gegnern des Zweiten Balkankriegs zu begleichen und das offiziell noch neutrale Griechenland anzugreifen. Damit begann eines der tragischsten Kapitel in der Geschichte der Kriege auf dem Balkan. Die zwei vorangegangenen österreichisch-ungarischen Invasionen waren für die serbische Zivilbevölkerung eine traumatische Erfahrung. Daher wollte nun niemand unter Besatzungsherrschaft geraten. Wer konnte, floh. Der zurückweichenden Armee folgten daher Massen von serbischen Zivilisten. Immer mehr Städte erlebten einen wahren Einfall von hungernden und durchgefrorenen, immer häufiger auch kranken Flüchtlingen. Der serbische Sozialist Dragiša Lapčević begegnete ihnen in Jagodina: Seit Kriegsbeginn war Jagodina voll von Flüchtlingen, vor allem aus Belgrad. Nun, da der Gegner von allen Seiten vorzudringen begann, kamen pausenlos neue Flüchtlinge hinzu, Tag und Nacht, mit Zügen, Fuhrwerken und zu Fuß, und dann zogen sie weiter […]. Viele hatten kein Dach über dem Kopf und nichts zu essen. Arm, barfuß und in Lumpen gekleidet, sind sie der Oktober­ kälte schutzlos ausgesetzt.87 Schon im Oktober gab es den ersten leichten Frost. Im November überquerten die noch immer zurückweichenden Serben die Morava und zogen sich in immer höheres Bergland zurück. Die Chancen auf einen Sieg schwanden mit jedem Tag. Die österreichische Aufklärung fing eine Depesche des montenegrinischen Kronprinzen Danilo ab. Ihr Inhalt sagte alles über die Stimmung im gegnerischen Lager: „Rette sich, wer kann!“88 Ende des Monats wurde nach hitzigen Debatten zwischen Politik und Generalität beschlossen, die Armee solle das Land verlassen und sich über Montenegro und Albanien an die Adriaküste zurückziehen. Dort sollte sie auf Hilfe der Verbündeten warten, um dann zum Gegenschlag auszuholen. Dies war aus mindestens drei Gründen ein dramatischer Entschluss. Erstens waren sowohl die Armee als auch die Flüchtlinge in ihrem Gefolge nach jahrelangen ununterbrochenen Kämpfen geschwächt, die Vorräte waren aufgebraucht. Zweitens setzte in den Bergen der Winter ein und die überwältigende Mehrheit der Beteiligten dieser Völkerwanderung musste den Weg barfuß absolvieren. 145

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Die Herbst-Winter-Offensive in Serbien bescherte den österreichisch-ungarischen Soldaten völlig neue Erfahrungen. Erstmals ergaben die Serben sich kampflos und in großer Anzahl.

Drittens hatten Serben und Montenegriner bei der Besetzung Nordalbaniens fatale Erinnerungen bei den Einheimischen hinterlassen. Man durfte also unterwegs nicht auf Unterstützung hoffen, sondern musste im Gegenteil mit aktivem Widerstand rechnen, umso mehr, als Wien in Albanien großen Einfluss hatte. Angesichts dessen entschied sich ein Teil der Flüchtenden umzukehren und auf die Gnade des Feindes zu vertrauen. Im November begannen die serbischen Soldaten in ganzen Einheiten zu desertieren. Es kam zu Scharmützeln zwischen Deserteuren und Einheiten, die sich ihnen in den Weg stellten. Geschlossene Gruppen zogen nach Norden, weil sie lieber in deutsche als in österreichische oder bulgarische Gefangenschaft kommen wollten. Auch Massen von Flüchtlingen zogen in diese Richtung. In Kruševac begegnete ihnen der deutsche Journalist Wilhelm Hegeler; der Korrespondent des Berliner Tageblatts war entsetzt über das Chaos und Elend, das sich ihm darbot: Zu Tausenden sah ich die Flüchtlinge auf freiem Feld kampieren. Der Sack mit ihren Habseligkeiten war ihr Kopfkissen, ein wenig Stroh ihr Lager. Glücklich die, welche ein Obdach haben. Sie hausen zu zehn, zu zwanzig in den kleinen Hütten. Tagsüber wogen sie in dichten Haufen die Straßen auf 146

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Serbische Dorffrauen auf dem Rückweg in ihr Dorf (Herbst 1915).

und nieder, stehen müde herum, laufen bei irgendeinem blöden Gerücht aufgeregt zusammen, umlagern die Ortskommandantur und bringen mit ihren Fragen, Bitten und hysterischem Weinen die Offiziere zur Verzweiflung. Man kann sie beim besten Willen noch nicht nach Hause lassen, da ihr Strom den entgegenkommenden Kolonnen die Straße verstopfen würde. Armes, von der Scholle losgerissenes Volk! Einzig die zahlreichen Zigeuner fühlen sich in ihrem Element, sie laufen mit großen Säcken umher, machen gute Ernte und blicken auf die unfreiwilligen Nomaden herab wie Künstler auf ihre dilettantischen Nachahmer.89 König, Regierung, große Teile der Armee und Tausende Zivilisten entschlossen sich dennoch zum Marsch durchs Gebirge, der unter dem teils unzutreffenden Namen „serbisches Golgatha“ bekannt wurde. Teils unzutreffend nicht, weil die Tatsachen den Vergleich mit der biblischen Richtstätte nicht gerechtfertigt hätten – die Anzahl der Opfer von Hunger, Kälte und Krankheiten sowie der Deserteure wird auf mindestens 70 000 geschätzt, von manchen Autoren auf weit über 100 000 –, sondern weil auch viele Nichtserben von den tragischen Ereignissen 147

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Der serbische Rückzug verlangte den erschöpften Soldaten übermenschliche Anstrengungen ab. Das Foto zeigt die Überquerung eines Flusses auf albanischem Gebiet.

betroffen waren. Mit der serbischen Armee waren gezwungenermaßen 40 000 österreichisch-ungarische Kriegsgefangene unterwegs – gewöhnliche Rekruten zu Fuß, die Offiziere anfangs auf Wagen. Die Gefangenen, die der serbischen Kolonne den Weg bahnen mussten, waren bereits beim Aufbruch in der erbärmlichsten gesundheitlichen Verfassung, ihre Versorgung war noch schlechter als die der Serben. Der zweiwöchige Marsch kostete vermutlich rund 15 000 von ihnen das Leben. Der Zustand der 24 000 Gefangenen, die trotz allem die albanische Küste erreichten, überstieg jede Vorstellung von Elend, Schmutz und Erschöpfung. Die entsprechenden Schilderungen verdanken wir den Italienern, die die Evakuierung der Serben und ihrer Gefangenen übernahmen. Sie mochten weder ihren slawischen Verbündeten noch die Donaumonarchie. Umso glaubwürdiger klingen ihre Berichte über den Zustand der Überlebenden des Marsches. Als Erste trafen die gefangenen Offiziere der k. u. k. Armee ein, die von den Serben deutlich besser als die einfachen Soldaten behandelt wurden. Die Italiener hatten sich schon über den Zustand der zuerst angekommenen und von den Serben nach Möglichkeit anständig behandelten Offiziere gewundert: „Fast alle ohne Schuhe, mit nackten, geschwollenen Füßen, die mancher in schlammige, blutge148

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tränkte Lumpen gewickelt hatte. Was früher einmal die Uniform gewesen sein musste, zeigte sich jetzt als eine Ansammlung zerrissener, schmutziger Fetzen, die mühsam die Nacktheit verdeckten.“ Die Kurzbeschreibung der als Nächstes eintreffenden gefangenen Soldaten klang nicht viel anders: „barfuß, ausgehungert, halbnackt, verletzt, krank“, eine „schweigende Prozession der lebendigen Skelette […] ein Zug von Schatten, die mit gleichmäßigem Rhythmus den Boden berührten, mit Grabesstille, ohne einen Laut“. Als kurz darauf die serbischen Soldaten eintrafen, fiel dem italienischen General auf, das „Schauspiel“ sei „der Ankunft der österreichischen Gefangenen nicht unähnlich“: „Fast alle waren ohne Schuhe, die sie durch Lappen aus Decken ersetzten. Mit zerrissener Kleidung, bedeckt von Insekten, von Krankheiten befallen, schleppten sie sich mühsam vorwärts.“ Die überlebenden Kriegsgefangenen, ausgezehrt und krank, wurden auf italienische und französische Schiffe verladen, wo innerhalb von einigen Tagen mindestens 2000 an Cholera starben; weitere 5000 erlagen den Krankheiten nach der Ausladung auf der Insel Asinara.90 Wie gesagt: Weder mochten die Italiener die verbündeten Serben noch hatten sie für Österreich-Ungarn viel Sympathie übrig. Ihre höchstwahrscheinlich glaubhaften Aussagen belegen, dass der Umgang mit den k. u. k. Kriegsgefangenen in Serbien das vermutliche größte der heute bekannten Kriegsverbrechen an der Ostfront darstellt. Andererseits zeigen die Berichte auch, dass man dem serbischen Militär keinen Vernichtungswillen vorwerfen kann – es nahm den Massentod der Gefangenen in Kauf, ähnlich wie im Fall der eigenen Zivilisten und Soldaten. Das von Großbritannien und Frankreich nach Brindisi geschickte Material verließ Italien mit großer Verspätung. Nachdem die italienischen Konvois schon nach Albanien aufgebrochen waren, stellte sich heraus, dass der Weg ins nordalbanische Shkodra (nur fünf Kilometer vom griechischen Korfu entfernt) wegen der Angriffe österreichisch-ungarischer U-Boote zu gefährlich war. Letztlich landete der dringend benötigte Nachschub nicht dort, sondern weiter südlich in Durrës (100 Kilometer entfernt) und Vlora (mehr als 200 Kilometer entfernt). Doch selbst die Ankunft in den Hafenstädten, in denen die von den Alliierten gesandten Lebensmittel und Medikamente gelandet waren, bedeutete nicht für alle das Ende des Leidenswegs. Die Flüchtenden wurden nämlich verfolgt. Die deutsch-österreichisch-ungarische Armee durchquerte ebenfalls das Gebirge (wobei sie mit Nachschubproblemen und Frost zu kämpfen hatte). Gleichzeitig attackierte ein Teil der Heeresgruppe Mackensen Montenegro. Ein zu schneller Durchbruch durch die montenegrinischen Verteidigungslinien hätte bedeutet, 149

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dass die Serben noch an der albanischen Küste eingeholt und vernichtend geschlagen worden wären. Der Widerstand der Montenegriner hielt bis zum 25. Januar. Bis zum 19. Februar, noch vor dem Eintreffen der Österreicher, wurde der größte Teil der serbischen Flüchtlinge eingeschifft. Wie zwischen den Verbündeten vereinbart, sollten die Serben nach Korfu gebracht werden, wo die französische Mission mit der Einrichtung von Auffanglagern begann (ohne Rücksprache mit Griechenland, zu dem die Insel gehörte). Nach französischen Angaben – die italienischen weichen deutlich ab – wurden letztlich 170 000 Serben (überwiegend Soldaten) und 20 000 Kriegsgefangene evakuiert. Letztere waren in fataler Verfassung, mit den oben geschilderten Folgen. Jeder zwölfte Gefangene starb auf dem Schiff. Weitere 5000 Todesfälle wurden bei der Landung auf der Insel Asinara verzeichnet, wo die Gefangenen den Rest des Kriegs verbringen sollten. Auch die Serben starben weiter zu Tausenden. Über 5000 von ihnen kehrten nicht von der Insel Vido unweit von Korfu zurück, wohin Kranke in Quarantäne gebracht wurden.91 Die Flüchtlinge brauchten bis zur Genesung länger als die Optimisten geglaubt hatten. Unter militärischem Aspekt resultierte der Serbienfeldzug in der Kompromittierung Österreich-Ungarns, im Kriegseintritt Bulgariens sowie in der Besetzung Serbiens und Montenegros. In Albanien kämpfte die Donaumonarchie nun mit albanischen Freiwilligen gegen Italien sowie bald auch gegen Frankreich und ein kleines serbisches Kontingent, das sich zu den Verbündeten hatte durchschlagen können. Als wichtiger erwies sich aber mit der Zeit der moralische Aspekt. Die Serben wurden in der öffentlichen Meinung der alliierten Staaten zu Helden. Dieses Heldenepos brauchte keine weiteren Heroen. Für das Schicksal der Kriegsgefangenen war darin kein Raum. Und auch nicht für den Stoßseufzer des alten Königs Peter I.: „Ich fürchte, selbst wenn Serbien überlebt, wird es bald an Serben mangeln.“92 Kein anderes Land erlitt im Ersten Weltkrieg vergleichbare Verluste. Im Jahr 1918 erwies sich das serbische Golgatha als ausgezeichnetes Argument für die Errichtung eines südslawischen Staates um Serbien und mit Belgrad als Hauptstadt.

Kranke Franzosen auf dem Balkan Selbst die am besten ausgestatteten Armeen litten unter Krankheiten und Epidemien, mitunter sogar ebenso sehr wie unter Kriegshandlungen. In der von 1915 bis 1918 in Griechenland stationierten französischen Ostarmee dienten insgesamt rund 378 000 Soldaten. 357 000 von ihnen, also fast 95 Prozent, erkrankten an unterschiedlichen Krankheiten. 102 000 Franzosen 150

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mussten von der Peloponnesischen Halbinsel evakuiert werden. Wie viele von ihnen krank waren, ist unbekannt, doch war dies sicher kein seltener Evakuierungsgrund. Die französische Armee war aufgrund ihrer jahrzehntelangen Kolonialerfahrung gewiss mit am besten auf schwierige klimatische und hygienische Bedingungen eingestellt. Doch auch sie hatte natürlich kein Mittel gegen die Spanische Grippe, die 1918 die Reihen der Ostarmee dezimierte. Von den 242 000 Soldaten des letzten Kriegsjahrs erkrankten 124 000, die meisten an der Spanischen Grippe. Es starben fast 6000 Menschen, mehr als die Hälfte davon an Grippeinfektionen. Das eigentlich Erstaunliche sind aber die Zahlen der Vorjahre: In den Jahren 1916 und 1917 erkrankten 96 Prozent der 120 000 hospitalisierten Franzosen an der in den Kolonien gut bekannten Malaria. Seine Armee sei in Krankenhäusern gebunden, klagte General Maurice Sarrail, der Oberbefehlshaber an der Saloniki-Front, angesichts der sanitären Katastrophe des Jahres 1916.93 Das Chinin wirkte Wunder, selbst in den schlimmsten Phasen lag die Sterberate bei unter drei Prozent, ansonsten meist wesentlich niedriger. Dennoch waren die krankheitsbedingten Verluste der Armee, die eigentlich erst im September 1918 richtig in den Kampf zog, letztlich kaum geringer als die auf dem Schlachtfeld erlittenen. Im Kampf starben rund 13 000 Soldaten (einschließlich der Verwundeten, die nicht gerettet werden konnten), infolge von Krankheiten mehr als 9000, darunter 1125 an Malaria und 3224 an der Spanischen Grippe.

Im Februar 1916 hatte es noch den Anschein, als stehe der Krieg im Osten kurz vor der Entscheidung. Der durchschlagende Erfolg der Operation bei Tarnów-­ Gorlice kam gerade rechtzeitig, um die von Misserfolgen erschütterte Moral der österreichisch-ungarischen Generalität zu retten. Ein deutscher Verbindungsoffizier im Stab von Conrad von Hötzendorf beschrieb den psychologischen Effekt: Nur wer die tiefe Depression nach der Karpathenschlacht miterlebt hat, kann so recht aus Herzensgrund empfinden, was Gorlice bedeutete: die Befreiung von schier unerträglichem Druck, ein Aufatmen nach schwersten Sorgen, wiedererwachte Zuversicht und lockende Siegesaussicht.94 Deutschland, Österreich-Ungarn und ihr neuer Verbündeter Bulgarien kontrollierten die Situation an allen Fronten. Das Osmanische Reich hatte in der Schlacht von Gallipoli gesiegt, die feindlichen Truppen aus der Umgebung der Hauptstadt 151

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Die deutsch-österreichisch-ungarische Offensive wurde durch den katastrophalen Zustand der Straßen behindert. Das Foto zeigt eine Landstraße in Polesien bei Tauwetter im Frühjahr 1916.

zurückgedrängt und die Kontrolle über die wichtigste Seeverbindung zwischen Russland und dessen westlichen Verbündeten gewonnen. Die britische Nieder­ lage an den Dardanellen hatte zur Folge, dass die Waffen- und Rohstofflieferungen an Russland weiter auf dem gefährlicheren und strapaziöseren Weg über Murmansk erfolgten. Die Deutschen strotzten trotz schwerer Verluste vor Selbstbewusstsein. Einer der populärsten Propagandisten der Mittelmächte, der schwedische Geograf Sven Hedin, verlieh diesem Gefühl in seiner Schilderung der Feiern zum ersten Jahrestag der siegreichen Schlacht bei Tannenberg Ausdruck: Auf dem Hintergrund der flammenden Fackeln hob sich Hindenburgs Riesen­ gestalt mächtig ab; er stand da wie ein Urbild germanischen Willens und germanischer Kraft, wie die Verkörperung des ganzen kämpfenden Deutschlands. Den Mantel offen, die Hände auf dem Rücken, schaute er auf den brausenden Strom von Jugend, der sich mit Hurrarufen vorüberdrängte und in die Nacht hinauszog. Wie eine alte kernfeste Eiche erhob er sich über dem jungen Holz. 152

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Deutschlands Hoffnung und Zukunft sah er vor sich; Ernst, Stolz und Zuver­ sicht las man aus seinen Zügen, aber sein Auge war feucht geworden.95 Das freudige Bild des Triumphs der Mittelmächte hatte nur einen winzigen Makel: Die Parade der starken und geschlossenen Reihen deutscher Helden unter den Augen des großen Anführers fand nicht auf den Champs Elysées statt, sondern auf dem Markt von Ostrołęka …

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Kapitel 4 Ermattung Im März 1916 wurde General Aleksei Aleksejewitsch Brussilow zum Oberkommandierenden der russischen Südwestfront ernannt. Im Sommer 1914 hatte er große Erfolge errungen, seine Armee hatte im September Lemberg erobert. Auch während des „großen Rückzugs“ im Frühjahr 1915 hatte Brussilow sich durch Umsicht und Effektivität ausgezeichnet. Im Jahr darauf sollte er entscheidend dazu beitragen, dass sich das Kriegsgeschick an der Ostfront wendete. Die russische Generalität hatte im ersten Kriegsjahr begriffen, dass das Zarenreich ohne eine enorme Steigerung seiner Rüstungsproduktion den Krieg verlieren würde. Der Armee fehlte es an allem. Nur zehn Prozent der 1915 einberufenen Rekruten hatten Gewehre erhalten. Im März 1915 meldete Brussilow nach den Kämpfen in den Karpaten, seine Regimenter besäßen gerade einmal 25 bis 50 Prozent der Ausgangsstärke, doch als Ersatz erhalte er ausschließlich Soldaten ohne Waffen, die auch in seiner Armee knapp seien. Der General warnte, nach ein oder zwei Tagen nicht allzu heftiger Kämpfe werde ihm die Gewehrmunition ausgehen. Im Mai 1915 zerstörten Deutschland und Österreich-Ungarn die russischen Stellungen durch Trommelfeuer, während der russischen Artillerie immer wieder die Munition ausging. Im Frühjahr 1916 begann das russische Rüstungsprogramm Früchte zu tragen. Experten hatten berechnet, dass 400 Stück schwerer oder 2500 Stück leichter Munition erforderlich seien, um die 50 Meter breite, dreifach gestaffelte deutsche Verteidigungslinie zu durchbrechen. Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn konnte die russische Rüstungsindustrie die Forderungen des Militärs erfüllen. In Österreich-Ungarn war die Produktion von Artilleriemunition innerhalb von zwei Jahren um das Siebenfache (von 300 000 auf zwei Millionen Stück pro Monat) gewachsen, in Russland im selben Zeitraum um das Fünfzigfache (von 660 000 auf mehr als 33 Millionen Stück pro Jahr). Hinzu kamen Waffen- und Munitionslieferungen aus dem Westen. Nun mangelte es nicht mehr an Geweh154

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ren. Zwischen Sommer 1915 und März 1916 wurden zwei Millionen Rekruten in die Armee eingezogen – jeder von ihnen erhielt eine Waffe. Die in Verdun ums Überleben kämpfenden Franzosen verlangten von Russland Entlastung an der Westfront. Mitte März griffen die Russen am weißrussischen Naratsch-See an. Trotz mehrfacher zahlenmäßiger Überlegenheit über die Deutschen, die diesen Abschnitt verteidigten, trugen sie eine neue Niederlage davon. Von Falkenhayn notierte fast schon mitfühlend, dass die russischen Operationen mehr an Blutopfer als an Angriffe erinnerten. Angesichts des leichten Siegs wiegten sich die Mittelmächte in Sicherheit. Österreich-Ungarn verlegte seine besten Einheiten und Offiziere an die italienische Front. Die Ostfront, zumal der südliche Abschnitt, schien stabil, die Anzahl der Geschütze und Soldaten war auf beiden Seiten annähernd gleich. Unterdessen plante Brussilow seine nächste Offensive nicht nur sorgfältig, sondern auch auf gänzlich neue Art. Er wollte nicht auf einem engen Frontabschnitt Überlegenheit herstellen (diese Taktik war am Naratsch-See zum wiederholten Male gescheitert), sondern mit gut vorbereiteten Vorstößen auf einem mehrere Hundert Kilometer langen Abschnitt der Südwestfront angreifen. Dadurch sollte der Gegner an einer raschen und gezielten Verteilung seiner Reserven gehindert werden. Der neuen Strategie entsprach eine neue, von den Franzosen übernommene Taktik. Die russischen Soldaten gruben sich nun möglichst nah an die feindlichen Verteidigungslinien heran, damit sie am Tag des Angriffs eine möglichst kurze Strecke zu überwinden hatten. Die Distanz sollte höchstens 400 Meter betragen. Der Angriff sollte nach einem kurzen Artilleriefeuer erfolgen. In den Befehlen an die Artillerie betonte Brussilow, der Beschuss dürfe nicht flächendeckend, sondern nur gezielt erfolgen, er müsse während des Gefechts angepasst werden und vor allem mit der stürmenden Infanterie vorrücken. Außerdem waren erstmals in diesem Krieg mehr russische Flugzeuge in der Luft. Die Brussilow-Offensive begann am 4. Juni. Sie erfasste tatsächlich die gesamte Südwestfront von Pinsk im Norden bis Tschernowitz im Süden. Verschiedene Tagebuchschreiber berichten einhellig, sie hätten sich weder zuvor noch später einer solch ungeheuren Masse von Feinden gegenübergesehen: Ich sah ein gewaltiges, unvergessliches Bild, wie es Wojciech Kossak gemalt haben könnte. Russische Schwadronen im vollen Galopp, eine nach der anderen in breiter Formation, ihre Säbel und Lanzen blitzten zwischen den dicht einschlagenden Schrapnellen unserer Artillerie, die Major Brzoza mit eigenem Feuer von einem Punkt in unserer Verteidigungslinie aus lenkte. Unsere Tirailleure rasten, unsere entfesselten Soldaten schossen wie von Sinnen, die 155

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Kommandeure mussten sie bremsen. Beim Dorf Wołczeck ein Gewühl von Menschen und Pferden. Auf dem ganzen Vorfeld galoppierten Pferde ohne Reiter, liefen Reiter ohne Pferde umher. Sie kommen nicht durch! Sie fallen auseinander! Sie ziehen sich zurück! Sie rennen wieder an!1 Die Russen „rannten an“, vor allem gegen die Infanterie, und waren überaus erfolgreich. Innerhalb von fünf Tagen zerschlugen sie zwei österreichisch-ungarische Armeen. Die 4. k. u. k. Armee verlor in dieser Zeit mehr als zwei Drittel ihrer ursprünglichen Truppenstärke (von 118 000 Soldaten blieben 36 000 übrig). Die Verluste der 7. Armee lagen in den ersten Tagen bei rund 40 Prozent (76 000 von 194 000 Soldaten), am 16. Juni waren es schon 57 Prozent. Innerhalb eines Monats drangen die Russen bis in die Nähe von Kowel vor, einem der wenigen Eisenbahnknotenpunkte in der Region. Sie besetzten einen großen Teil Wolhyniens und der Bukowina, in Ostgalizien unter anderem die Stadt Stanislau. Die Verluste der Habsburgermonarchie beliefen sich im Juni und Juli auf 400 000 Gefangene, Verwundete und Tote, weitere 70 000 Soldaten waren wegen Krankheit kampfunfähig. Gleichzeitig konnten die Russen an keinem der von Deutschland gehaltenen Frontabschnitte einen Durchbruch erzielen. Im Norden verloren sie – bei fünffacher Überlegenheit – bei einem Angriff auf die Heeresgruppe Woyrsch 7000 Soldaten, die Deutschen nur 150. Es war längst ein offenes Geheimnis, wer an der Ostfront Statist und wer Hauptakteur war. Unter den österreichisch-ungarischen Offizieren kursierten hartnäckige Gerüchte über eine Standpauke, die der jüdischstämmige deutsche General Alexander von Linsingen Erzherzog Josef Ferdinand nach dem Verlust von Luzk gehalten habe. „Das ist kein Fehler, das ist ein Verbrechen“, habe von Linsingen gesagt und auf die rhetorische Frage des Erzherzogs, ob er wisse, mit wem er rede, habe er geantwortet: „Mit einem österreichischen General, der meinem Kommando untersteht.“2 Die Österreicher mussten selbst solche Kränkungen schlucken, denn ohne die deutsche Hilfe hätte ihnen die völlige Niederlage gedroht. Der Erzherzog wurde abberufen – er war nicht der erste und nicht der letzte Angehörige des Herrscherhauses, dessen Unfähigkeit Tausende Soldaten das Leben kostete. Schon am 12. Juni trafen die ersten Trupps von insgesamt vier deutschen Divisionen in Galizien ein, die zur Rettung des habsburgischen Verbündeten herangezogen wurden. Die Niederlage Österreich-Ungarns im Sommer 1916 besiegelte das Schicksal des Bündnisses. Die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) residierte seit April 1915 in Pszczyna (Pless), zwischen Februar und August 1916 in Frankreich und 156

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danach bis Januar 1917 wieder im oberschlesischen Sitz der Fürsten von Hochberg. Das österreichische Armeeoberkommando (AOK) befand sich bis Ende November 1916 in Cieszyn (Teschen), fast genau 50 Kilometer von Pless entfernt. Mit dem Auto war diese Strecke schon damals in einer Stunde zu bewäl­ tigen. Beiderseits der Straße gab es zahlreiche Kneipen, das Brauereinetz war ­sicher dichter als heute und unterschied sich in nichts von Niederösterreich oder Württemberg. Doch die beiden Generalstäbe verhielten sich so, als säße der eine in Hamburg und der andere in Zagreb; es gab keine gesellschaftlichen Kontakte. Die Österreicher fürchteten die Deutschen, die ihrerseits die Österreicher verachteten. Der moderne von Falkenhayn tauchte gelegentlich in Cieszyn auf, im Auto, mit Sportbrille, unkonventionellem Schal und einer Zigarre im Mund. Er dominierte den ein Jahrzehnt älteren von Hötzendorf von Anfang an und wusste immer alles genauer und besser. Es hätte wohl kaum Themen für ein Gespräch beim Bier unter Verbündeten gegeben. Erst recht nicht nach der Brussilow-­ Offensive. In der Nachhut der unter dem russischen Ansturm zurückweichenden österreichisch-ungarischen Armee kämpften die polnischen Legionen. Zu den schwersten Kämpfen kam es Anfang Juli bei Kostiuchówka. Während der intensiven Kämpfe der letzten Junitage hatte die II. Brigade fast 360 Tote, Verwundete und Vermisste verzeichnet. Die Hölle begann für die Polen am 4. Juli. Von Sonnenaufgang bis um sechs Uhr am Nachmittag bombardierten die Russen systematisch – offenbar gut vorbereitet – die Stellungen des 5. Regiments. Als sie über den Flügel angriffen, wo die Verteidigung des benachbarten ungarischen Regiments zusammengebrochen war, ergriffen die Soldaten verzweifelt die Flucht. Der Feldwebel Roman Starzyński erinnert sich: Alles leer, keine Menschenseele. Ich will auf eigene Faust die Verteidigung organisieren. Bei mir sind zehn, vielleicht 15 Soldaten. Ich rufe mit letzter Kraft: „Stehenbleiben!“ Keiner hört mich, alle laufen weiter. Wohin, wissen sie selbst nicht. Ich rufe ihnen nach, aber mir schwinden die Kräfte. Sie gelangen zum Regimentskommando. Dort stoppt sie der Regimentskommandeur Oberstleutnant Berbecki mit dem Revolver in der Hand. Er befiehlt ihnen, umgehend ihre Positionen zu beziehen. Dieselben Soldaten, die kurz zuvor nicht hörten, als ich sie zum Stehenbleiben aufforderte, kommen beim Anblick von Oberstleutnant Berbeckis Steyer wieder zu sich. Sie kehren um, ich führe sie in die Stellungen am Waldrand […]. Heute Morgen waren wir 109 Männer, jetzt sind wir 13.3 157

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Das Schicksal der polnischen Legionäre unterschied sich kaum von anderen k. u. k. Einheiten in Wolhynien. Starzyńskis Regiment verlor wohl 50 Prozent seiner Männer, doch es fiel nicht auseinander. Die Niederlage der österreichisch-­ ungarischen Armee hatte zwei Gesichter: Auf der einen Seite hatte sich nach ­einmonatigem Kampf die Front deutlich nach Westen verschoben, aber die öster­­reichisch-­ungarischen Truppen waren nicht vernichtend geschlagen worden. Auf der anderen Seite hatte die russische Armee über eine halbe Million Soldaten verloren. Der Glanz des Zarenreichs, die elitäre Gardearmee, war praktisch ausgelöscht – sie hatte 54 000 Soldaten und 500 Offiziere verloren. Ursache war die inkompetente Führung, auf die Brussilow keinen Einfluss hatte; die obersten Positionen in den Gardeeinheiten besetzte der Zar. Die Mehrzahl der russischen Offiziere hatte die Lektion des ersten Kriegsjahrs noch immer nicht verinnerlicht. Was Brussilow mit guter Aufklärung und präzisen Angriffen versuchte, wollten sie durch schiere Masse erreichen, ohne Rücksicht auf Verluste. Auf diese Art kämpften inzwischen nicht einmal mehr die Österreicher, die zuvor ebenfalls verschwenderisch mit dem Leben ihrer Soldaten umgegangen waren. In Felicjan Składkowskis Augen nahm die russische Offensive mitunter absurde Formen an: Die Jungs feuern aus ihren Gewehren, sie stehen etwa 30 Schritte von den Russen entfernt […]. Gegen den schmalen blauen Streifen unserer Kompanie rückt – oder tut vielmehr so – das braune Gewimmel der Russen an. Ihre Gesichter sind nicht grausam, eher erstaunt und müde. Sie treten auf der Stelle, um jede allzu heftige Vorwärtsbewegung zu vermeiden, und rufen mit traurigen, gedehnten Stimmen: „Urraaa! Urraaa!“ […] Die Jungs lachen und feuern auf die Russkis. […] Aber auch jenseits des Stacheldrahts erscheinen immer mehr Russen. […] Das ganze Gewimmel bewegt sich schon unbeholfen durch den Draht. Von hinten werden sie durch neue Massen von braunen Soldaten vorwärtsgeschoben. Ein Rothaariger zieht den Mantel aus, legt ihn auf den Stacheldraht, dann schleppt er einen Kameraden fort, während er halb ernst, halb im Scherz ruft: „Nie strjelaj pan!“ [Schieße nicht, Herr]. Die Unsrigen ignorieren solche Bitten und feuern auf sie wie auf Enten.4 Im Sommer hatte der größte russische Sieg im Ersten Weltkrieg seinen Glanz verloren. Zwar hatte die österreichisch-ungarische Armee nur knapp die Brussilow-Offensive überstanden. Sie verlor im 1916 fast zwei Millionen Soldaten und musste ihre Angriffe an der italienischen Front einstellen, aber sie war nicht zerschlagen worden. Deutschland überstand die Niederlage des Verbündeten ohne 158

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größere eigene Verluste. Russland verlor zwei Millionen Soldaten – das war der Preis für die Verschiebung der Front um ca. 50 Kilometer im Norden und um ca. 125 Kilometer im Süden. Besonders schmerzlich waren die Verluste im Offizierskorps, das 1914 einschließlich der Reserveoffiziere 80 000 Mann gezählt hatte. In den Feldzügen der Jahre 1914 und 1915 verlor es ca. 66 000 Kommandeure. Im Jahr 1916 beliefen sich die Verluste, in erster Linie infolge der Brussilow-Offensive, auf ca. 26 500 Mann. Es überlebten die Obersten und Generäle. Die neuen – in Schnellkursen ausgebildeten – Kompanie- und Bataillonsführer gehörten nicht dem alten Offizierskorps an. Doch vorerst waren sie loyal. Anders die Rekruten: Die Anzahl der Deserteure im zaristischen Heer wurde schon 1915 auf eine halbe Million geschätzt, später stieg sie weiter an. Die russischen Feldpostzensoren machten eine interessante Beobachtung: Die Soldaten waren dem Feind gegenüber meist gleichgültig eingestellt. Sie kämpften ohne große Begeisterung für den Zaren. Sie glaubten nicht recht an die Bedrohung des Vaterlandes durch die Teutonen. Wirklichen Hass gegenüber den Deutschen empfanden diejenigen, die sie kannten, das heißt Polen und Letten. Das Zarenreich zahlte einen hohen Preis für die Erfüllung seiner Bündnispflichten. Die neuen Rekruten, die ab Herbst 1916 die Lücken in den Offiziersreihen schlossen, kamen aus einem hungernden, müden und verminten Land. Auch an den Zaren glaubten sie immer weniger. Gegen Ende des Jahres häuften sich die Fälle von Ungehorsam, im Dezember revoltierten zwölf Regimenter. Selbst unter den Soldaten der Spezialarmee, das hießt der Reste der einstigen Gardearmee, schwand der Glaube an einen erfolgreichen Kriegsverlauf. Der letzte Sieg der zaristischen Armee erwies sich als wirkungslos: Er brachte den Frieden nicht näher. Und von einem Sieg in diesem Krieg, der seit einem Jahr auf dem Gebiet Kurlands, Litauens, Weißrusslands und der Ukraine tobte, träumte inzwischen wohl niemand mehr.

Der Rumänienfeldzug Gleichzeitig bewirkte die Brussilow-Offensive radikale Veränderungen im Südosten Europas. Um das Drama zu begreifen, das sich im Sommer 1916 abspielte, müssen wir in der Zeit zurückgehen. Nach dem bulgarischen Angriff auf Serbien im Oktober 1915 und der Besetzung Serbiens, Montenegros und Albaniens durch die Truppen der Koalition waren auf dem Balkan nur Griechenland und Rumänien noch neutral. Die Situation in Athen und Bukarest war ähnlich – der König aus einem deutschen Herrscherhaus, die politischen Eliten in seinem Umfeld tief gespalten. Die einen sahen die 159

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größten Siegesaussichten in einem Bündnis mit den Mittelmächten, die anderen in einem Bündnis mit der Entente. Vereinzelte Stimmen der Vernunft mahnten, man solle sich von keiner der beiden Seiten in den Krieg hineinziehen lassen, den Handelsverkehr mit beiden aufrechterhalten und abwarten. Das schien eine sichere Option, vergleichbar einer gut verzinsten Einlage bei einer guten Bank, die aber den Ehrgeiz der Politiker nicht befriedigte, die von einem Erfolg nach Art einer Rennwette träumten und alles auf ein Pferd setzen wollten. In Griechenland verlief die Konfliktlinie zwischen dem germanophilen Konstantin I. und dem prowestlichen Premierminister Eleftherios Venizelos. Venizelos wollte, vor allem auf Kosten des Osmanischen Reiches, ein „Großgriechenland“ (Megali Idea) errichten. Und er ging zu Recht davon aus, dass dieses Ziel nur mit der Entente zu verwirklichen wäre. Der Krieg auf dem Balkan bot in seinen Augen die Chance, das 1912 begonnene „Vereinigungswerk“ zu vollenden – sie verstreichen zu lassen, könne für Griechenland fatale Folgen haben. In einer Parlamentsrede mahnte Venizelos die Anhänger Konstantins: […] auf so unvernünftige wie unvermeidliche Weise führt ihr Griechenland in die Katastrophe, denn wegen euch wird unser Land gezwungenermaßen in den Krieg eintreten müssen, und zwar zu den ungünstigsten Bedingungen und unter den gefährlichsten Umständen. Ihr verspielt die Chance, ein größeres und mächtigeres Griechenland zu schaffen, eine Chance, die eine Nation alle tausend Jahre nur einmal bekommt.5 Am 7. Oktober entließ der König seinen ehrgeizigen und populären Premier zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres (nach dem Wahlsieg der liberalen Partei im Mai 1915 war Venizelos ins Amt zurückgekehrt). Doch dieser Schritt kam zu spät. Am 5. Oktober hatte in Thessaloniki die Landung des britisch-französischen Expeditionskorps begonnen. Venizelos’ Vorhersage schien sich zu bestätigen: Wenn Griechenland nicht von sich aus in den Krieg eintrete, komme der Krieg nach Griechenland. Eigentlich war das Vorgehen Frankreichs und Großbritanniens ein Skandal, sie verletzten die Souveränität eines neutralen Staates. Von nun an befand sich Griechenland – der König und die Unterstützer der Mittelmächte eingeschlossen – in der Situation eines zur Hälfte besetzten Landes. Im November 1916 brach ein kurzer Bürgerkrieg zwischen Royalisten und dem Venizelos-Lager aus; die alliierte Flotte beschoss Athen. Im Juni 1917 zwangen die Alliierten Konstantin zur Abdankung, Venizelos kehrte ins Amt des Premierministers zurück, Athen erklärte den Mittelmächten den Krieg.

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Griechenland blieb keine andere Wahl. Die Eliten des Landes waren zerstritten, doch sie wurden durch die Alliierten zum Kriegseintritt gezwungen. In Rumänien gab es ganz ähnliche Konflikte, doch die Alliierten konnten kein Expeditionskorps in Konstanza absetzen. Hier entschieden König, Politiker und Militärs. Ferdinand I. (von Hohenzollern-Sigmaringen) entstammte wie Konstantin I. (aus dem Haus Schleswig-Holstein) dem deutschen Hochadel. Ähnlich wie der griechische König befand er sich im ständigen Konflikt mit dem prowestlichen Premierminister Ion Brătianu. Der liberale Brătianu hatte aber in den ersten anderthalb Kriegsjahren eine stärkere Position als Venizelos. Wie im Fall Griechenlands machten die Mittelmächte und die Entente auch Rumänien große Versprechungen. Der Unterschied bestand im größtmöglichen Gewinn: Die Megali Idea war nur bei einer Niederlage des Osmanischen Reiches realisierbar, das ähnliche Konzept Romania Mare entweder auf Kosten Russlands (Bessarabien) oder Österreich-Ungarns (Siebenbürgen). Aus griechischer Sicht war ein Krieg in Anatolien, also an der Westküste der heutigen Türkei, nicht zu gewinnen, falls die britische Marine eingreifen würde. In einem Krieg gegen Russland konnten die Mittelmächte Rumänien helfen. Bei einem Angriff auf Siebenbürgen konnte man höchstens auf Unterstützung durch russische Bodentruppen hoffen, doch war ungewiss, wie Russland sich verhalten würde. Davon abgesehen, fühlte sich Rumänien nach dem Zweiten Balkankrieg fast als Großmacht. Ganze zwei Jahre, von 1914 bis 1916, diskutierte man in Bukarest. Brussilows Erfolge im Juni und Juli 1916 ließen den baldigen Zerfall der österreichisch-ungarischen Armee erwarten. Zudem erhöhten am 17. August 1916 die Alliierten ihr Angebot und garantierten Rumänien das Recht auf Siebenbürgen und die Bukowina, ein kleines österreichisches Fürstentum an der Nordgrenze, sofern Rumänien an der Seite der Entente in den Krieg eintrete. Zehn Tage später stimmte der Kronrat dem Antrag des Königs zu, Kriegshandlungen gegen Österreich-Ungarn aufzunehmen. Brătianu erklärte später, es sei ein historischer Moment gewesen, die beste Gelegenheit zur Wiedervereinigung des Vaterlandes seit Jahrhunderten. Ferdinand I. fachte in einer Rede die Kriegsbegeisterung seiner Untertanen an und versprach, die „Rumänen beiderseits der Karpaten“ zu vereinigen. Der König und zahlreiche Intellektuelle beriefen sich in ihren Reden und flammenden Artikeln auf Michael den Tapferen, den legendären Woiwoden der Walachei, der an der Schwelle zum 16. Jahrhundert tatsächlich für vier Monate die Fürstentümer Walachei, Moldau und Siebenbürgen vereinigte. Er wurde 1601 im Auftrag eines politischen Rivalen ermordet, seine zügellose Soldateska war bei den Untertanen verhasst, doch dies alles spielte für die Nationalmythologie keine Rolle: 161

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Ferdinand I. machte sich auf, um endlich das Werk seines großen Vorgängers zu vollenden. Am 27. August 1916 feierte Bukarest, ähnlich wie zwei Jahre zuvor Berlin oder Petersburg. Der Konservative Constantin Argetoianu fühlte sich an die Stimmung in Karlsbad und Prag im Sommer 1914 erinnert – auch dort waren die ersten Kriegstage schön. Die allgemeine Begeisterung hielt er in beiden Fällen für kindisch, doch nun hatte er als Rumäne Gründe, sich mitreißen zu lassen. Als böser Geist erscheint ihm rückblickend der Premierminister: „Brătianu hatte fast alle davon überzeugt, dass seine Diplomatie unseren Kriegseintritt hinausgezögert habe, bis der Krieg in die letzte Phase eingetreten sei, und unser Eingreifen 1916 wie schon 1913 eher eine Machtdemonstration würde als ein wirklicher Krieg […]. Ich war ebenso verblendet wie der Rest.“6 Die rumänische Armee zählte gut über eine halbe Million Soldaten. Obwohl die zwei Jahre der Neutralität dem Generalstab reichlich Zeit zur Vorbereitung auf einen Krieg neuen Typs gegeben hatten, waren die Streitkräfte keineswegs modern aufgestellt. Die Militärführung war dafür nur zum Teil verantwortlich. Seit sich alle Nachbarstaaten Rumäniens im Kriegszustand befanden, waren die Grenzen für Rüstungstransporte jeder Art geschlossen. Die einzige rumänische Bezugsquelle für Waffen zwischen 1914 und 1916 war Russland, das selbst mit enormen Problemen zu kämpfen hatte. Rumäniens Stärke resultierte demnach weniger aus militärischer Macht als aus seiner strategischen Lage, die etwa Hindenburg für absolut ungewöhnlich hielt: Wahrlich, noch niemals war einem verhältnismäßig so kleinen Staatswesen wie Rumänien eine weltgeschichtliche Entscheidungsrolle von gleicher Größe in einem ebenso günstigen Augenblicke in die Hände gelegt. Noch niemals waren starke Großmächte wie Deutschland und Österreich in gleicher Gebundenheit der Kraftentfaltung eines Landes ausgeliefert, das kaum ein Zwanzigstel der Bevölkerung der beiden Großstaaten zählte, wie im jetzt vorliegenden Falle. Auf Grund der Kriegslage hätte man annehmen können, daß Rumänien nur zu marschieren brauchte, wohin es wolle, um den Weltkampf zugunsten derjenigen Staaten zu entscheiden, die seit Jahren vergeblich gegen uns anstürmten. Alles schien davon abzuhängen, ob Rumänien gewillt war, von seiner augenblicklichen Stärke einigermaßen Gebrauch zu machen.7 Um den rumänischen Angriff zu unterstützen, starteten die Verbündeten eine Offensive an allen Fronten, selbst in Makedonien. Dann griffen auch die Rumänen an. Das Gros der Truppen rückte nach Westen vor, marschierte in Siebenbür162

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gen ein und erreichte Brașov (Kronstadt) und Sibiu (Hermannstadt); die schwachen ungarischen Einheiten konnten keinen effektiven Widerstand leisten. Österreich-Ungarn wartete auf Verstärkung. Deutschland erklärte nach dem Angriff auf den Verbündeten Rumänien den Krieg und zog Kräfte für den Gegenangriff zusammen, den in Siebenbürgen der kurz zuvor als Generalstabschef abgesetzte Erich von Falkenhayn als Kommandeur der neu geschaffenen 9. Armee befehligen sollte. Die Rumänen gingen davon aus, dass der Angriff auf Ungarn den Kriegs­ eintritt Bulgariens provozieren würde, was sich am 1. September bestätigte. Sie erwarteten, dass sie ihre Südgrenze lange und erfolgreich würden verteidigen können. Am südlichen Donauufer hielten sie am nordwestlichen Rand der Süddobrudscha die Festung Turtucaia (bulgarisch Tutrakan), die oft mit P ­ rzemyśl oder Nowogeorgiewsk (Modlin) verglichen wurde. Das Kommando über die sich dort zusammenziehenden bulgarischen Truppen (deutsche und türkische Einheiten gab es nur sehr wenige) übernahm der in Polen und Serbien siegreiche Feldmarschall August von Mackensen. Er amtierte überaus modern in einem ­Salonwagen, was dem Stab „meiner gemischten Gesellschaft“ (wie er seine Einheiten zu nennen pflegte) eine große Mobilität ermöglichte. Es gab in der Gegend nicht allzu viele Bahnstrecken, doch die vorhandenen genügten. Zum Vergleich: Der Oberbefehlshaber der rumänischen Südfront steckte in der ersten Kriegswoche seine Nase nicht aus Bukarest hinaus. Der Rumäne hatte auch ein anderes Problem nicht, das von Mackensen viel Zeit und Nerven kostete. Die „gemischte Gesellschaft“ erforderte pausenlose und konsequente Arbeit. Das Problem waren weniger die mangelnden Französischkenntnisse als die tiefe Verachtung, die ein recht großer Teil der deutschen Verbindungsoffiziere gegen den balkanischen Verbündeten hegte. „Der bulgarische Soldat an sich gehört zu den besten der Welt“, schrieb von Mackensen im Dezember 1915. „Mit Recht nennt man in dieser Beziehung die Bulgaren die ‚Preußen des Balkans‘.“ Seine Untergebenen waren überwiegend anderer Meinung und ließen die Verbündeten das oft spüren. Brutal, unberechenbar, disziplinlos, raubgierig und unzuverlässig – das waren die wesentlichen Merkmale des deutschen Bildes von den Barbaren, die – leider – zu Waffenbrüdern geworden waren. „Das geraubte Vieh war für das bulgarische Regiment, was uns die Fahne war“, lautete eine verbreitete Meinung.8 Die balkanischen Verbündeten blieben die Antwort nicht schuldig: In seiner Beschreibung der „Besonderheiten der deutschen Mentalität“ schrieb der bulgarische Staabschef von „stark ausgeprägtem Stereotypendenken, leblosem klischeehaften Handeln und fehlender gedanklicher Flexibiliät“. Sie hörten un163

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Von bulgarischen Truppen in der Festung Tutrakan erbeutete Waffen und Kriegsgerät.

gern fremde Meinungen und seien auch nicht wirklich korrekt.9 Angesichts dieser emotionalen Spannungen hing viel von den diplomatischen Fähigkeiten des Oberbefehlshabers der Südfront ab. Die Bulgaren attackierten Tutrakan am 2. September und eroberten schon am ersten Tag die äußere Verteidigungslinie. Am 5. September verdrängten sie die Rumänen von der Hauptlinie, am Tag darauf stand ihr Sieg fest: Von den fast 40 000 Verteidigern der Festung setzten ca. zehn Prozent auf das nördliche Donauufer über, mehr als 28 000 gerieten in Gefangenschaft, die Übrigen wurden getötet oder verwundet. Die zum Entsatz anrückenden Einheiten von General Basarabescu wurden zerschlagen, der Befehlshaber ertrank beim Rückzug über die Donau. Die Bulgaren verzeichneten fast 10 000 Verwundete, Tote und Vermisste, doch im Vergleich zur psychologischen Wirkung des Siegs fiel das kaum ins Gewicht. Nicht ganz eine Woche nach Beginn der Operation Mackensens war die größte Festung der Region gefallen. Die rumänische Südfront war ein großes Loch. Den Weg nach Bukarest schnitt vorerst die Donau ab, doch die Schwarzmeerküste, also die Dobrudscha, wurde durch keine natürliche Barriere geschützt. Die Rumänen mussten hastig Truppen aus Siebenbürgen abziehen, die bulgarisch-türkisch-deutschen Einheiten drängten sie aber nach Norden ab. In der Dobrudscha brach Panik aus. Die Bevölkerung fürchtete die Bulgaren. Inner164

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halb weniger Wochen flohen zwei Drittel der Einwohner, von rund 235 000 Menschen blieben 82 000 vor Ort. In der größten Stadt der Region, Konstanza, entschied sich nur jeder fünfte Einwohner, zu bleiben. Aus Bukarest floh vorerst niemand, doch der Schock saß tief. Zeitgenossen erinnern sich, dass sowohl der König und als auch Brătianu zwei Wochen brauchten, um zu begreifen, dass die zwei Jahr lang diskutierten raffinierten Pläne innerhalb von nur zehn Tagen gescheitert waren. Statt einer Siegesparade tauchten deutsche Zeppeline über der Stadt auf. Die britische Krankenschwester Dorothy Kennard war Augenzeugin der nahenden Katastrophe: Als das Signal kam, läuteten die Kirchenglocken Sturm und die wie besessen feuernden Geschütze machten einen infernalischen Lärm. Ich zählte zwölf Suchscheinwerfer und versuchte, zu begreifen, dass es wirklich geschah, doch wäre ich damals nicht im Dunkeln schmerzhaft gegen eine Metallkiste gestoßen, so würde ich heute glauben, ich hätte alles nur geträumt. Eine Sache aber beeindruckte mich sehr, ein amüsantes Detail, an das ich mich bis zu meinem Tod erinnern werde: In dieser ruhigen Stadt, die friedlich unter dem Sternen­ himmel dalag, in der kein Verkehr die Stille störte, betäubte uns nicht der Geschützdonner, sondern die Hunde!! Sie bellten zu Tausenden, jedes Alters und jeder Größe, in allen möglichen Registern, und in meiner Vorstellung sah ich sie alle mit steif hochgereckten Nasen, wütend und hilflos. […] Letzte Nacht fielen nur fünf Bomben und ich habe das Gefühl, sie führen etwas wirklich Scheußliches im Schilde.10 Schon bald stellte Schwester Kennard fest, dass das wirkliche Problem nicht die deutschen Bombenangriffe ware, sondern die dramatisch wachsenden Mengen von Verletzten in den überfüllten Krankenhäusern und provisorisch eingerichteten Versorgungspunkten: Ich hatte gedacht, unser eigenes Krankenhaus sei primitiv, aber, ach, im Ver­ gleich zu anderen, die ich gesehen habe, ist es geradezu luxuriös und gut ausgestattet. Die zwei besten und größten Krankenhäuser waren dreifach überbelegt, wirkten aber wenigstens steril […]; alle anderen waren erbärmlich. Die Männer lagen auf dem mit Holzbrettern bedeckten Boden. Manche teilten sich mit fünf oder sechs anderen eine Matratze, der Rest hatte nicht einmal ein Kopfkissen. Es war offensichtlich, dass sie seit Stunden nicht versorgt worden waren – nicht aus Nachlässigkeit, sondern weil die Ärzte Tag und Nacht durcharbeiten, um wenigstens verspätet Schritt zu halten mit den Verwun­de­ ten, die in Transporten von mehreren Hundert eintreffen. Ich höre von allen 165

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Ein vor der Festung Tutrakan gefallener rumänischer Soldat.

Seiten, dass das Chloroform bald ausgeht, obwohl man es äußerst sparsam einsetzt. Was die normale Krankenhausausstattung angeht – sie existiert nicht! […] Aus Sicht der unglücklichen Verwundeten […] wäre es ein Gottes­ geschenk, wenn die Deutschen die Stadt einnähmen. Das ist ihre einzige Chance auf Versorgung.11 Sowohl von der Nord- als auch von der Südfront kamen Verwundete in die Hauptstadt. Das größte Ungemach braute sich gleichwohl in Siebenbürgen zusammen. Bislang waren die Rumänen vorgerückt, weil sie es mit zahlenmäßig deutlich unterlegenen ungarischen Reserveeinheiten zu tun hatten. Dank des guten ungarischen Eisenbahnnetzes hatte von Falkenhayn seine 9. Armee binnen einer Woche komplettieren können und war zum Gegenangriff übergegangen. Ende September erlitten die Rumänen in der mehrtätigen Schlacht bei Hermannstadt die erste Niederlage. Mitte Oktober drängten die Deutschen den Gegner hinter die ungarisch-rumänische Grenze (also an den Ausgangspunkt) zurück, kurz darauf überquerten sie die Karpaten und setzten ihre Offensive fort. Aleksander Majkowski, der als Militärarzt am Rumänienfeldzug teilnahm, schildert ihn als mühseligen Marsch durch Schlamm und Morast. Unterwegs sah er tote rumänische und russische Soldaten sowie Schwerverwundete, die den Rückzug aufgehalten hatten: 166

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Im Nebenzimmer sah ich einen auf dem Bauch liegenden toten russischen Soldaten. Einen Schritt daneben lag ein lebender mit einer Wunde am Bein. In einem großen dritten Zimmer lagen zwei, neben einem eine große Lache warmen Bluts, auf einer dünnen Strohschicht. Etwa zwei Schritte entfernt von den Toten stand ein Schaf und starrte reglos auf die Leichen, ein Schaf in einem Kinderkleid aus Damast, das an den Seiten und hinten herabhing. Das Schaf stand so unbeweglich da, dass ich erst dachte, es sei eine Holzfigur, bis ich näher heranging. Die komische Aufmachung des Tiers und das Grauen des Todes […] machten auf mich, obwohl ich mich schon an so manchen Anblick des Kriegs gewöhnt hatte, einen solchen Eindruck, dass ich dieses Bild bis heute nicht vergessen habe.12 Am 18. Oktober begann es zu schneien. Es wurde kalt und glatt. Die Zugtiere konnten auf den Karpatenpässen nicht mehr eingesetzt werden, Soldaten und Einwohner der umliegenden Dörfer mussten den Transportdienst übernehmen. Trotzdem setzten die deutschen und österreichischen Gebirgsjäger den Angriff fort. Am 14. November kontrollierten sie die Pässe, der Weg in die rumänische Hauptstadt stand offen. Kürzer war der Weg nach Bukarest allerdings von Süden. Am 23. November setzte Mackensens Armee in einem Überraschungsmanöver über die Donau und marschierte in Richtung der Hauptstadt. Zwei Jahre zuvor war der Feldmarschall an seinem 65. Geburtstag in Lodz einmarschiert. Zu seinem 67. Geburtstag am 6. Dezember 1916 arrangierte er eine fast filmreife Szene: Er stieg mit drei Offizieren in ein Auto, überholte die auf Bukarest zumarschierenden Einheiten seiner Armee und fuhr in die Hauptstadt des bezwungenen Feindes. Vor dem Königspalast empfing ihn eine Patrouille der 9. Armee, die am selben Tag von Westen her in die Stadt einmarschiert war. All das spielte sich in einer merkwürdigen Szenerie ab. Wie viele andere Städte Osteuropas war Bukarest in den 1880er und 1890er Jahren mit einem mächtigen Festungsring umbaut worden. Dieser war 1916 veraltet. Die rumänischen Militärs zogen angesichts dessen eine logische Schlussfolgerung: Vor dem deutschen Angriff auf Siebenbürgen demontierten sie die Festungsartillerie. Bukarest wurde zur offenen Stadt erklärt und tatsächlich von niemandem verteidigt. Mehr noch, der Stadtpräfekt forderte die Einwohner auf, die Besatzer freundlich zu empfangen: Die Läden sollten geöffnet bleiben, die Polizeistunde erst um 22 Uhr beginnen. Die überraschten Deutschen rückten in eine Stadt ein, in der die Straßenbahnen ganz normal fuhren, die Menschen in Cafés und Wirtshäusern saßen 167

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und die Straßen voller Passanten waren. Interessanterweise begrüßte ein nicht geringer Teil von ihnen die Deutschen ebenso begeistert wie man Ende August die eigenen Truppen an die Front verabschiedet hatte. Gute drei Monate später, nach der raschen Niederlage der rumänischen Streitkräfte und der Flucht des Königs nach Iaşi, vermerkte von Mackensen entrüstet: „Ich skandalisiere mich wirklich an diesem Enthusiasmus, denn es jubelte uns doch die gleiche Bande zu, welche früher nach Krieg gegen uns geschrien hatte. […] so etwas könnte man sich allenfalls im Freundesland gefallen lassen, aber im Feindesland ekelt es förmlich an.“13 Der Feldmarschall fühlte sich in seiner Überzeugung bestätigt, dass die Rumänen Verräter seien, typische Balkanbewohner, Pöbel. Er vermutete nicht zu Unrecht, dass die Einwohner Bukarests ihren König Ferdinand, der sich gerade mit dem Rest seiner Armee in den Nordosten nach Moldau zurückzog, im Fall eines Sieges mit gleicher Begeisterung empfangen hätten. Er verstand allerdings nicht, warum die Bukarester keinen Anlass sahen, den Sturz eines Königs und einer politischen Klasse zu betrauern, die sich nach zweijähriger Diskussion für die denkbar schlechteste der bestehenden Optionen entschieden und damit Niederlage wie Besatzung über das Land gebracht hatten. Aus Berliner und Wiener Sicht konnte sich die Bilanz des Rumänienfeldzugs mehr als sehen lassen. Die Zentralmächte – de facto Deutschland – hatten innerhalb von nicht ganz vier Monaten einen wichtigen Sieg errungen, der den Vorstellungen entsprach, die man sich 1914 vom gesamten Krieg gemacht hatte. Dieses Mal hatte alles gestimmt, von der Koordination der multiethnischen Einheiten und der Effektivität des Eisenbahnnetzes über die Kompetenz der Kommandierenden bis hin zur Disziplin der Soldaten, die unter schwierigen Wetterbedingungen sowohl die Donau als auch die verschneiten Karpatenpässe überquert hatten. Die durchschnittliche Marschgeschwindigkeit im Flachland – 20 Kilometer – bedeutete, dass die besten Einheiten in diesem Feldzug an einem Tag bis zu 40 Kilometer in voller Ausrüstung zurückgelegt hatten. Die Verluste waren unvergleichlich niedriger als an den bisherigen Fronten im Osten. Infolge des Siegs über Rumänien kontrollierten die Mittelmächte im Dezember 1916 mit Ausnahme des Peloponnes den gesamten Balkan. Dadurch wurde Russland zur Eröffnung einer neuen Front in Moldau gezwungen, wohin sich die Reste der rumänischen Armee gerettet hatten (von den 560 000 Soldaten, die 1916 mobilisiert worden waren, waren 73 000 getötet oder verwundet worden, 147 000 in Gefangenschaft geraten, 90 000 galten als vermisst). Andererseits unterstützten die Russen damit endlich ihre Verbündeten, Rumänien kapitulierte nicht und wollte den Kampf fortsetzen. 168

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Feldgottesdienst für gefallene bulgarische Soldaten.

Die Mittelmächte kontrollierten nun eine der Kornkammern Europas. Die Ölindustrie – der zweite rumänische Trumpf – war durch die Kämpfe stark in Mitleidenschaft gezogen worden (englische Ingenieure hatten angesichts der Niederlage des Bündnispartners möglichst viele Bohrlöcher und Raffinerien zu sprengen versucht), doch die Zerstörungen ließen sich einigermaßen schnell reparieren. Die Euphorie der Deutschen war daher durchaus berechtigt und kaum jemand stellte sie ernsthaft infrage. Zu den wenigen, die es taten, gehörte Bogislav Tilka, ein Jurist aus Jena. Vermutlich aus Gesundheitsgründen hatte er anders als seine Studienkameraden keinen Offizierskurs absolviert und war 1916 zum Landsturm eingezogen worden. Als er nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Dezember 1916 in Bukarest ankam, freute er sich über das billige und üppige Essen, das in Deutschland längst der Vergangenheit angehörte. Über den Besuch in einer bekannten Bukarester Konditorei notierte er damals: „[…] Auch unsere Gesellschaft haut tüchtig ein, denn bei deutscher Gründlichkeit ist anzunehmen, dass auch an diesen Wänden die Verordnungen über die Einschränkungen des Fett- und Zuckerverbrauchs bald prangen werden.“14 Tilka und seine Kameraden schlugen sich in Rumänien während der ersten Besatzungsmonate den Bauch 169

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voll, bevor die Behörden das Land mit „deutscher Gründlichkeit“ in einen riesigen Schwarzmarkt verwandelten, auf dem nur noch die Besatzer, Bauern und wohlhabende Städter satt wurden.

*** An den Fronten im Osten war der Krieg im Dezember 1916 praktisch zu Ende, weil alle Kräfte erschöpft waren. Weder Russland noch Österreich-Ungarn waren mehr in der Lage, größere Offensiven zu starten. Russland hatte im Westen Provinzen von der Größe Frankreichs verloren. Österreich-Ungarns Gebietsverluste waren minimal (die Bukowina und ein Teil Galiziens), doch die k. u. k. Armee war im Osten ebenso dezimiert worden wie die russische. Der große Sieger – Deutschland – hatte nicht vor, die Offensive in Richtung Petrograd oder Moskau fortzusetzen, sondern suchte die Entscheidung im Westen. Und nur die Deutschen glaubten noch, dass sie den gesamten Krieg gewinnen könnten.

Kriegsgefangene Im Spätsommer 1914 glaubten alle noch, der Krieg könne schnell entschieden werden: Man träumte von Paraden in der Hauptstadt des besiegten Feindes und der Rückkehr in die Heimat noch vor Winterbeginn. Nach zwei Jahren mit Massakern von bis dahin ungekanntem Ausmaß mussten selbst die größten Optimisten ihre Erwartungen dämpfen. Der Krieg war nicht länger eine Art Fest, eine kurze Unterbrechung des Alltags. Er war Normalität geworden, man musste lernen, mit ihm zu leben, und Lösungen für Probleme finden, die man anfangs für vorübergehende Schwierigkeiten gehalten hatte. Eines dieser Probleme waren die Kriegsgefangenen. Keine Kriegspartei war auf derartige Menschenmassen vorbereitet, die gleichzeitig ernährt und isoliert werden mussten. Die kaum exakt zu bestimmende Anzahl der Kriegsgefangenen in allen beteiligten Staaten lag bei 8,5 bis neun Millionen, davon die große Mehrheit – etwas unter sieben Millionen – in Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn. Im ersten Kriegshalbjahr waren es an die 1,5 Millionen. Die meisten Gefangenen wurden an der Ostfront gemacht, fast 3,5 Millionen waren russische Soldaten. Die ersten Kriegsgefangenen brachte man in Kasernen und anderen Militärgebäuden unter, die aber bald hoffnungslos überbelegt waren. Ab Herbst 1914 entstanden Lager aus mit Stacheldraht umzäunten Baracken. Der Ausbruch von Epidemien war unter diesen Umständen nur eine Frage der Zeit. 170

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Österreichisch-ungarische Kriegsgefangene beim Mittagessen. 1915 war die Versorgungslage auf russischer Seite besser als in Österreich-Ungarn.

Die Überlebenschancen kranker Kriegsgefangener hingen von mehreren Faktoren ab. Der wichtigste war die Hilfe von Zuhause. Die Kriegsgefangenen der Westfront erhielten Pakete aus der Heimat. Die Belgier, Briten und Franzosen in deutschen Lagern hatten im Vergleich die niedrigste Sterblichkeitsrate. Keine Pakete erhielten Russen, Rumänen und Serben, längere Zeit auch die Italiener, und diese Gefangenen starben mancherorts massenhaft. Der zweite wichtige Faktor war das Wohlwollen der Lagerbesatzung. Wo es fehlte, etwa im deutschen Lager Czersk (Pommern), gab es hohe Sterberaten. Während die übrigen Kriegsgefangenenlager in Pommern keine auffällig hohe Sterblichkeit aufwiesen, gab es in Czersk täglich bis zu mehrere Dutzend Tote, die Gefangenen wurden geschlagen und ausgehungert. Unter normalen Bedingungen wurden Cholera-, Ruhr- oder Typhusepidemien in deutschen und österreichisch-ungarischen Gefangenenlagern dank des Einsatzes der Lagerärzte schnell unter Kontrolle gebracht. In Czersk fehlte dieses Engagement völlig. Ähnlich war es im österreichischen Mauthausen, wo Anfang 1915 mindestens einige Tausend Serben an Typhus starben. Der österreichische Jurist, Intellektuelle und Politiker Josef Redlich sprach nicht ohne Grund von einer „systematischen Ausrottungspolitik“15 gegen die serbischen Gefangenen. Die Situation der gefangenen Entente-Solda171

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ten verbesserte sich ab dem Frühjahr 1915, als sie zur Feldarbeit eingesetzt wurden. Diese Tätigkeit bedeutete meist regelmäßige Verpflegung, außerdem entspannte sich die Lage in den überfüllten Lagern. Wie entscheidend dieser Faktor sein konnte, zeigt wiederum das Beispiel der deutschen Gefangenenlager in Pommern. Nach dem siegreichen Rumänienfeldzug stieg die Sterblichkeit dort plötzlich an. Betroffen waren aber nicht wie zuvor die russischen Gefangenen, sondern die Rumänen. Die Ursache war eine prosaische: Für die rumänischen Gefangenen gab es in der Umgebung keine Arbeit mehr, sie blieben also im Lager und waren auf die kargen Lagerrationen angewiesen. Weitere Faktoren trugen zur hohen Sterberate unter den Rumänen (in deutscher Gefangenschaft jährlich ca. zehn Prozent) bei. Ein Teil von ihnen kam in Gefangenenlager in den besetzten rumänischen Gebieten, wo noch schlechtere Bedingungen als im Deutschen Reich herrschten. Hunger herrschte zwar hier wie dort, doch resultierten die meisten Todesfälle aus mangelnder Hygiene und fehlender ärztlicher Versorgung. Die rumänischen Gefangenen erkrankten und starben massenweise an Typhus und Fleckfieber. Die Deutschen „beurlaubten“ angesichts dieser Situation über 20 000 Gefangene zur Feldarbeit in ihren Heimatdörfern. Im Fall der russischen oder italienischen Kriegsgefangenen gab es diese Option nicht. Die Sterberate unter den Italienern lag mit über acht Prozent ähnlich hoch wie unter den rumänischen Gefangenen.

Anthropologie Weder Militär- noch Zivilbehörden hatten mit solchen Massen von Kriegsgefangenen gerechnet, deren Versorgung eine Herausforderung und ein bisweilen großes Problem darstellte. Manche sahen in dieser Situation aber auch eine Chance. Die kurioseste Gruppe von Kriegsgewinnlern waren wohl die physischen Anthropologen. Bis dahin hatten sie mitunter lange und kostspielige Reisen unternehmen müssen, um Material für ihre Forschungen (Fotos, Messergebnisse, Abgüsse von Körperteilen der Angehörigen unterschied­ licher „Rassen“) zu beschaffen. Mit den Kriegsgefangenen kam das „Material“ nun gleichsam von selbst zu den Forschern, zudem noch in großer Zahl, an wenigen gut bewachten Orten konzentriert und militärisch diszipliniert. Die Wissenschaftler mussten für ihre Vorhaben nur die erforderlichen Genehmigungen einholen. Schon nach wenigen Monaten beantragte der bekannte ­österreichische Anthropologe Rudolf Pöch bei der Wiener Akademie der Wissenschaften Geld für groß angelegte Untersuchungen russischer Kriegsge­ fangener. Im Antrag hieß es: 172

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Seit Beginn des Krieges sind Hunderttausende russischer Soldaten in österreichischen Gefangenenlagern interniert worden; Vertreter der verschiedensten Völkerschaften […] sind an einigen wenigen Orten der Monarchie konzentriert. Diese eigentümlichen, durch den Krieg geschaffenen Verhältnisse bieten für die Wissenschaft eine noch nie dagewesene und kaum wiederkehrende Gelegenheit, die anthropologischen Kenntnisse über diese Völker zu erweitern16 Die von Pöch initiierten Untersuchungen betrafen letztlich weit über 10 000 Menschen. Das Beispiel der k. u. k. Anthropologen machte Schule und bald wurden auch ihre deutschen Kollegen aktiv. Die Forscher beider Länder tauschten ihre Daten aus und ermöglichten sich gegenseitig den Zugang zu exotischeren Gefangenen (auf dem Gebiet Österreich-Ungarns dominierten russische Untertanen, in den deutschen Lagern hingegen gab es zahlreiche Angehörige afrikanischer und asiatischer Völker, die in der französischen und britischen Armee gekämpft hatten). Die Untersuchungen verliefen folgendermaßen: Zunächst führten die Anthropologen ein kurzes Interview mit dem Gefangenen und registrierten seine persönlichen Daten, insbesondere die ethnische Herkunft und den Glauben (die Fragen wurden übersetzt). Dann musste sich der Untersuchte entkleiden und auf ein kleines Podest stellen, wo er von mehreren Personen vermessen und fotografiert wurde. Das wichtigste Arbeitsgerät der Anthropologen war der sogenannte Anthropometer (ähnlich dem, den man heute in Arztpraxen antrifft), hinzu kamen Musterkataloge, die bei der Bestimmung von Augen-, Haar- und Hautfarbe halfen. In manchen Fällen nahm man Gipsabgüsse des Gesichts (damit sie während der Prozedur atmen konnten, steckte man den Gefangenen Strohhalme in die Nasenlöcher). Bei besonders „exotischen“ Ethnien machten die in das Projekt involvierten Budapester Linguisten Tonaufnahmen von kurzen Erzählungen und Volksliedern. Es entstanden auch Filme, die Kriegsgefangene beim Schnitzen, bei Volkstänzen und auch beim muslimischen Gebet zeigen. Die Objekte (die untersuchten Gefangenen) wie auch die Subjekte (die ausführenden Anthropologen) dieser Forschungen stammten überwiegend aus Ostmitteleuropa und vom Balkan. In den Staaten der Entente gab es keine derartigen Projekte, deutsche und österreichisch-ungarische Anthropologen wiederum interessierten sich nicht sonderlich für Briten und Franzosen. Das Hauptinteresse der Anthropologen galt den Angehörigen „exotischer“ außereuropäischer Völker in britischer oder französischer Uniform. Mit der Zeit 173

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Es dauerte oft lange, bis die Kriegsgefangenen heimkehrten. Das Foto zeigt französische Soldaten (aus den Kolonien) mit ihren bulgarischen Bewachern (1919).

stieß man auch an anderer Stelle auf Exotisches, was zur Erweiterung der Gruppe der Untersuchten führte. Nach den asiatischen Untertanen des Za­ren – Turkmenen, Burjaten, Tataren, Georgiern und Armeniern – kamen Russen, Ukrainer, Serben und Polen an die Reihe. Schon während des Kriegs waren auch ukrainische, polnische, serbische und ungarische Wissenschaftler an diesen Forschungen beteiligt, teils wurden Vermessungen auch in Kriegs­ gefangenenlagern auf polnischem, serbischem oder rumänischem Gebiet durch­geführt. Nach 1918 bildeten die gesammelten Erfahrungen das Fundament der physischen Anthropologie in den neu entstandenen Staaten der Region. Die nationalen Anthropologieschulen stützten sich auf das während des Kriegs erworbene Know-how. Anders als in Pöchs Projekt richtete sich ihr ­Interesse jedoch nicht auf die Suche nach Exotischem, sondern – im Gegenteil – auf die rassische Bestimmung der eigenen Nation. Durch den Ersten Weltkrieg wurde auch die physische Anthropologie zu einem Instrument der Konstruktion nationaler Identitäten.

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Ermattung

Das Schicksal der Kriegsgefangenen in Russland hing vor allem davon ab, auf welche Weise ihre Arbeitskraft genutzt wurde. Bis 1918 befanden sich rund 2,5 Millionen österreichisch-ungarische, fast 200 000 deutsche und mehr als 50 000 osmanische Soldaten in russischer Gefangenschaft. Diejenigen von ihnen, die in provisorische Lager kamen, waren der Gefahr von Epidemien ausgesetzt. Die Situation eines Teils dieser Gefangenen verschlechterte sich 1915, als die russischen Behörden anfingen, österreichisch-ungarische Gefangene massenhaft beim Gleisbau einzusetzen, vor allem an der strategisch wichtigen Verbindung zum Hafen von Murmansk. Die Arbeit unter schwierigen Bedingungen, Unterernährung und Krankheiten kosteten mehrere Zehntausend Kriegsgefangene das Leben. Die besten Überlebenschancen hatten die vielen Gefangenen, die zur Feldarbeit abgestellt wurden. Sie genossen ein vergleichsweise hohes ­soziales Ansehen, weil sie über Fachwissen oder andere Kompetenzen verfügten, die den Einheimischen fehlten. Einer dieser „privilegierten“ Gefangenen, Roman Dyboski, im Zivilberuf Anglistikprofessor an der Krakauer Jagiellonen-­ Universität und ab 1914 in russischer Gefangenschaft, erinnert sich: Die Soldaten, die das Glück hatten, gleich zu Beginn ihrer Gefangenschaft zur Landarbeit bei reichen Dörflern in verschiedenen Gegenden Russlands und Sibiriens verschickt zu werden, lernten dort einen materiellen Wohlstand kennen, von dem so mancher unserer Bauern nicht zu träumen wagte.17 Brot, ein warmer Ofen und Medikamente waren im Krankheitsfall natürlich das, was die Kriegsgefangenen am dringendsten benötigten. Doch spätestens ab dem Winter 1916/17 stellten sie sich zunehmend die Frage: Warum bin ich hier gefangen? Wem nützt dieser Krieg? Was verbindet mich mit den Herren Offizieren, die auch hier ein so viel besseres Leben haben? Die Nachrichten von der Front beantworteten keine dieser Fragen.

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II  DAS HINTERLAND

Kapitel 1  Das Hinterland oder

Im Rücken der Front

Einem Fremden, der im vorletzten Kriegsjahr durch Wien, Belgrad, Berlin oder Bukarest spazierte, bot sich in all diesen Städten mehr oder minder dasselbe Bild: Männer in zu weiten Anzügen oder Uniformen und Frauen in Kleidern, die nach ihrem Maß vergangener Jahre geschneidert waren. Überall fielen ihm auch die Obst- und Gemüsebeete ins Auge, die selbst vor dem Schwarzenberg-Palais in Wien angelegt worden waren. Der Unterschied zwischen Hinterland und ­besetzten Gebieten: Im Hinterland gehörten die Minigärten den Stadtbewohnern, im besetzten Belgrad oder Bukarest waren sie teils im Besitz der Einwohner, teils gehörten sie den unweit stationierten Einheiten der Besatzer. Im „eigenen“ Hinterland war das Leben im Krieg keineswegs besser als in den besetzten Gebieten. Die Mehrzahl der Zivilisten im Rücken der Ostfront wusste nicht, dass sie den Krieg im Hinterland verbrachten. In der Geschichtsschreibung ist der Begriff hingegen etabliert: Er bezeichnet die eigenen, nicht vom Feind besetzten Territorien von den an die Front grenzenden Gebieten bis zur gegenüberliegenden Staatsgrenze. Hinterland waren also sowohl Ostpreußen als auch Dalmatien, Thessaloniki, Krakau, Jassy und Prag sowie bis 1918 auch Kiew und Tallinn. Der Kriegsbeginn verlief überall ähnlich: Menschenmassen vor den Zeitungsredaktionen, Bekanntgabe der Mobilmachung, Treuebekundungen gegenüber dem Kaiser, Sitzungen, Reden, Versammlungen und Resolutionen. Hier und da kam es zu spontanen oder organisierten Ausbrüchen von Hass gegen den Feind: Banden zogen durch Berlin, um die fremdländischen Aufschriften auszurotten. ‚The Continental Bodega‘ strich das ‚The‘ vor ihrem Namen und galt nun als genuegend eingedeutscht. ‚Cafe Windsor‘ wurde kurz entschlossen 178

Das Hinterland oder Im Rücken der Front

‚Kaffee Winzer‘. […] Die Englische Strasse in Charlottenburg wurde in Deutsche Strasse umgetauft.1 In anderen Orten ging den Patrioten nicht nur der Mut, sondern auch der ­Enthusiasmus ab, der einige Berliner ergriffen hatte. Den russischen Behörden gelang es anfangs nicht, die Warschauer zu begeistern. Der Journalist Czesław Jankowski notierte Ende Juli 1914: Also formierte sich am Abend des 30. Juli in den Aleje Jerozolimskie ein Marsch und durch das Knattern der Straße und den sonstigen Lärm drang ein chorartiger Gesang, die Leute stürzten an die Fenster und auf die Balkone, sie bildeten auf den Trottoirs ein Spalier, um zu sehen, was denn dort zum Teufel los war. Es waren 200 vorwiegend russische Studenten auf dem Weg zu einer Kundgebung vor dem österreichischen Konsulat. […] Die Demonstranten, ­deren Zahl nach und nach auf gut tausend anwuchs (der „Warschawskij Dnjewnik“ zählte 5000 Personen), zogen vor den Bezirksstab, wo sie ein Porträt des Zaren bekamen, und weiter durch die Ulica Wierzbowa und Senatorska vor das serbische Konsulat. […] Insgesamt machte die Demonstra­tion keinen großen Eindruck, vor allem wirkte sie wenig ernst. Hauptsache die Petersburger Agentur konnte nach ganz Russland tele­ grafieren, auch in Warschau habe eine patriotische Kundgebung stattge­ funden.2 Gleichzeitig platzten die Bahnhöfe aus allen Nähten, aber keineswegs nur wegen der Militärtransporte: Urlauber kehrten plötzlich in ihre Heimat zurück, Ausländer aus verfeindeten Staaten verließen in Panik ihre bisherigen Wohnsitze, in den Grenzstädten tauchten die ersten Flüchtlinge auf. Auch in den Straßen wimmelte es von Menschen: Soldaten wurden verabschiedet, es regnete Blumen, die Rekruten erhielten Zigaretten und Süßigkeiten. Während der Verladung in die Züge spielte oft ein örtliches Orchester, doch auf den Bahnhöfen war weit mehr zu hören als Hymnen und Märsche: „Der Zug fuhr um 14:15 Uhr los“, notierte der 20-jährige Rekrut Andor Kertész, später ein berühmter Fotograf. „Das Weinen und Abschiednehmen übertönte die Kapelle, die ja eigentlich Begeisterung in uns anfachen sollte […] Ich sah eine verzweifelt schreiende Mutter, die man gerade noch daran hindern konnte, der Bahn hinterherzurennen. Ein Hauptmann sprang vom Zug, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, um noch einmal zu seiner 179

II  Das Hinterland

Frau zurückzukehren […] und er gab diesem unglücklichen Geschöpf, das ihn nicht ziehen lassen wollte, einen letzten Abschiedskuss.“3 Der Glaube an einen schnellen, siegreichen Krieg und eine rasche Rückkehr der Soldaten mischte sich mit Angst und Unsicherheit. Die Emotionen explodierten wie Petarden und hinterließen einen Rauch aus oft ganz gegensätzlichen Erinnerungen und Gefühlen. Ein Teenager erinnert sich an eine vom Anblick der zahlreichen Armeetrains auf dem Weg an die Front ausgelöste Diskussion im Zug von Wien nach Budapest: Einige unserer Mitreisenden […] bemerkten meinen Eltern gegenüber, wie herzerfrischend sie die allgemeine Begeisterung empfangen; und ich weiß noch, wie ich darauf sagte, ich sähe eher Betrunkenheit statt Begeisterung.4

Schwarze Autos voller Gold Der deutsche Pazifist Hellmut von Gerlach notierte während des Kriegs in seinem Tagebuch vor allem interessante Ereignisse, aber auch die absurdesten Propagandaparolen und -geschichten. Eine dieser Geschichten handelte von geheimnisvollen Autos, die angeblich im August 1914 durch Europa fuhren. Es hieß, sie seien randvoll mit französischem Gold beladen gewesen, das nach Russland gebracht werden sollte. Dieses Gerücht machte eine geradezu aberwitzige Karriere, es ging durch die gesamte deutsche Lokalpresse. Mit der Zeit wuchs das Ausmaß der geheimnisvollen Transporte. Erst war von zwölf Autos die Rede, dann von vierundzwanzig und schließlich von sechsunddreißig. Auf den Straßen patrouillierten eigene Polizeistreifen und Freiwillige. Als Urheber des Gerüchts nannte Gerlach den Präsidenten des Regierungsbezirks Düsseldorf (seinerzeit Francis Kruse). Selbst wenn die Geschichte einen wahren Kern gehabt hätte, so entzog sie sich bald jeglicher Kontrolle. Es kam zu grundlosen Verhaftungen oder gar zum Beschuss von Autos, deren Fahrer nicht auf Aufforderung anhielten. Gerlach zufolge dementierte die Regierung das Gerücht erst, als reisende Offiziere und Aristokraten zu Opfern des staatsbürgerlichen Übereifers wurden.5 Allerdings erwies sich auch in diesem Fall, dass sich Gerüchte leichter ­streuen als aufhalten lassen. Der zu seiner Einheit nach Przemyśl eilende österreichische Reserveoffizier August Krasicki notierte in seinem Tagebuch folgende Beobachtung:

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Das Hinterland oder Im Rücken der Front

An der Auffahrt zur Landstraße nach Jaroslawl sah ich, dass Brücke und Landstraße von Soldaten umstellt waren, als Begründung sagte man mir, man habe eine vertrauliche Nachricht abgefangen, laut der die Franzosen Autos mit großen Geldsummen in Gold, mehr als zehn Millionen, nach Russland schickten. Die Automobile mit diesen Millionen würden sich durch ganz Europa schleichen, also sei der Befehl ergangen, alle Straßen nach Osten zu überwachen, um diese Millionen abzufangen. Das klang nach einem Aprilscherz, aber Befehl ist Befehl und sie kontrollierten mit aufgesetzten Bajonetten.6 Dass es sich mitnichten um einen Scherz handelte, erfuhr Helena Jabłońska am eigenen Leib. Am 4. August fuhr sie mit ihrer Mutter nach Przemyśl. Zum ersten Mal wurden die beiden in Olszanica angehalten: Sie schreien den Chauffeur an, er sei durch Zäune und Felder geflohen, als er sich erklären will – darf er nicht sprechen, sonst wollen sie schießen. Ich versuche es. „Ruhe oder ich stoße zu“, schreit einer der Söldner und zielt mit dem Bajonett zwei Zoll unter meine Rippen. Mutter weint vor Angst. […] So stehen wir eine Stunde und zehn Minuten. […] Es zeigt sich, dass unsere Passierscheine wertlos sind gegen das Telegramm, demzufolge alle Autos angehalten werden müssen, weil angeblich zwei Frauen viele Millionen in Gold von Frankreich nach Russland transportieren sollen.7 Bei einem weiteren Zwangsstopp in Krościenko warteten bereits andere Autos, deren Insassen gleichfalls des Transports von Gold und Silber verdächtigt wurden. Darunter waren auch Offiziere, die man jedoch freundlicher als die zwei Frauen behandelte: Endlich lassen sie die Militärs fahren, uns halten sie fest, sogar ein paar Bonbons, die verdächtigt werden, Cholerabazillen zu enthalten [sic]. Schweres Silber?, fragt einer auf Französisch. Ich antworte. Sie sind so gut wie sicher, dass ich die Millionen schmuggle. Mutter kann nicht mehr, sie weint wie ein Kind und drängt, wir sollten umkehren. Umkehren ist ver­ boten. Jetzt fragt er nach Bekanntschaften und Beziehungen in Sanok. […] Ich berufe mich auf Dr. Jaremkiewicz. In der Nacht lassen sie uns weiter­ fahren.8 Auf der anderen Seite der Karpaten wurde die ungarische Gendarmerie in Bereitschaft versetzt. In Trenčín (damals Trencsén) fingen sie sogar den 181

II  Das Hinterland

­ agen ab, der Franz Josephs I. Proklamation an die Polen von Wien nach KraW kau bringen sollte. Nach der Durchsuchung durfte der Fahrer weiterfahren, doch schon nach wenigen Kilometern fiel er einem braven Gendarmerieposten in die Hände, der sich nicht überzeugen ließ. Schon saß der freiwillige Automobilist unter starker Eskorte auf einer Bahnstation, um an das nächste Gericht abgeliefert zu werden, als zum Glück ein Aufmarschtransport durchkam, bei dem sich einige Offiziere befanden, die im vermeintlichen Spion und Goldtransporteur einen Kameraden der Reserve erkannten, der mit ihnen zusammen gedient hatte.9 In der Steiermark erschoss eine Streife irrtümlich eine Rotkreuzschwester, deren Wagen nicht schnell genug anhielt. „Dem Knecht ist Gewalt gegeben“, kommentierte ein verschreckter Wiener Intellektueller. „Das wird seine Natur nicht vertragen.“10 Schließlich dementierten auch die k. u. k. Behörden das Gerücht von den geheimnisvollen Transporten. Bald schon sollte das französische Gold ohnehin niemanden mehr interessieren. Mit Beginn der tatsächlichen Kampfhandlungen fanden Spionagewahn und kollektive Hysterie andere Ziele. Das Gerücht von den französischen Autos zeigt höchst anschaulich, wie leicht und wie schnell sich derartige Geschichten verbreiteten. Die komplett aus den Fingern gesogene Meldung brauchte nicht Tage, sondern nur Stunden, um von der deutsch-französischen Grenze nach Ostgalizien und Oberungarn zu gelangen, wobei sie überall Verwirrung und Angst auslöste. Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal in diesem Krieg, dass die Verbreitungsgeschwindigkeit und die Reichweite von Informationen die Vorstellungskraft der Führung überstiegen.

Nach dem Abmarsch der Soldaten fanden die Zivilisten selten in den bisherigen Lebensrhythmus zurück. Am gründlichsten änderte sich die Situation in Serbien mit seinen 4,5 Millionen Einwohnern. Dort wurden in der letzten Juliwoche eine halbe Million Soldaten mobilisiert, im Herbst weitere 50 000, das heißt insgesamt mehr als zwölf Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: Polen rief Ende August 1939 eine Million Männer zu den Waffen, das heißt 3–3,5 Prozent. Bulgarien, Deutschland und Frankreich mobilisierten während des gesamten Ersten Weltkriegs ca. 20 Prozent, Österreich-Ungarn ungefähr ein Sechstel und Russland deutlich weniger als ein Zehntel der Bevölkerung. Zum Umfang der Mobilmachung kam in Serbien noch die spezifische Sozialstruktur. Fast 90 Prozent der 182

Das Hinterland oder Im Rücken der Front

Einwohner waren Bauern. Die Mobilisierung von mehr als einer halben Million Männern bedeutete in der Praxis, dass vielen Bauernhöfen mitten in der Erntezeit der Eigentümer, die zentrale Figur, abhandenkam. Seine Rolle übernahmen entweder der Vater (sofern dieser noch lebte und nicht selbst im wehrpflichtigen Alter war) oder – weit häufiger – die Ehefrau. Nicht nur in Serbien dominierten plötzlich in allen Lebensbereichen die Frauen; der Alltag im Hinterland änderte sein Geschlecht. Darauf werden wir noch zu sprechen kommen.

Kontrolle und Reglementierung Mit Kriegsbeginn griff der Staat in viele Bereiche ein, in denen bis dahin kommunale Institutionen, Wirtschaftsbetriebe, Privatpersonen oder soziale Organisationen die bestimmenden Akteure waren. Aus Bekanntmachungen erfuhren die Untertanen über immer neue Einschränkungen ihrer Bürgerrechte. Die Regierungen führten Zensurmaßnahmen ein, setzten Versammlungs- und Meinungsfreiheit außer Kraft, beschränkten den Zugriff auf Spareinlagen, setzten die Rückzahlung von Verbindlichkeiten ein und hoben das Streikrecht auf. Mancherorts wurde die Prohibition eingeführt, in Grenzstädten eine Sperrstunde. In weiteren Schritten wurden die Reisefreiheit und die Eisenbahnnutzung eingeschränkt, öffentliche Gebäude für militärische Zwecke requiriert sowie bald auch Waren und Dienstleistungen jeder Art reglementiert. Ein Warschauer Journalist schreibt in der ersten Kriegswoche: Etwas Großes kommt auf uns zu, ungeheuerlich grauenvoll und entsetzlich und doch unausweichlich und notwendig […]. Noch schweigen die Geschütze. Noch läuft die Mobilmachung, doch wir bemerken schon die zahlreichen Veränderungen, die dieser plötzliche und unerwartete Stillstand des Lebens mit sich bringt. Der moderne Industrialismus hat die ökonomische Seite unseres Daseins derart verkompliziert, derart alles miteinander verzahnt und verflochten, dass schon jetzt die Welt aus dem Gleis geraten ist und am Rand einer wirtschaftlichen Katastrophe steht.11 Der Verfasser dieser Worte erfasste schon im August 1914 das zentrale Problem des neuen Krieges, in dem das Streben nach maximaler Mobilisierung von Rekru­ ten strukturell mit den Plänen zur Vervielfachung der Produktion kollidierte. In der nordböhmischen Metallindustrie schrumpfte die Anzahl der Facharbeiter binnen einem Monat um 60 Prozent; einige Monate später begannen die k. u. k. Behörden damit, für die Rüstungsindustrie unverzichtbare Arbeiter vom Armeedienst freizustellen, und schickten insgesamt 1,3 Millionen Männer in die Fabri183

II  Das Hinterland

ken zurück. Ansonsten hätte Österreich-Ungarn die ersten drei Kriegsjahre wohl nicht überstanden. Für große Veränderungen, die von der Bevölkerung als großes Chaos empfun­ den wurden, sorgten Anordnungen der kommunalen Behörden, die eigentlich dem Chaos vorbeugen sollten. Aus Königsberg, der mit 250 000-Einwohnern größten Stadt an der russischen Grenze, flohen in den letzten Augusttagen 12 000 Menschen nach Danzig. Gleichzeitig strömten große Flüchtlingsmassen aus den von Russland besetzten Kreisen an der östlichen Grenze in die ostpreußische Hauptstadt. Die städtischen Behörden verfügten die Einrichtung von 50 000 Übernachtungsplätzen für Flüchtlinge. Am meisten werden sich darüber die Kinder gefreut haben, denn am einfachsten ließen sich Schulen in Notquartiere umwandeln. Doch die Veränderungen in Königsberg waren sicher für jedermann spürbar. Ebenso in Lemberg, wo die Stadtverwaltung weniger ehrgeizige Verordnungen erlassen hatte und sich plötzlich mit einem enormen Zustrom konfrontiert sah: In der etwas mehr als 200 000 Einwohner zählenden Hauptstadt Galiziens mussten im August angeblich an die 100 000 Flüchtlinge versorgt werden. Im kleineren Wilna waren es ein Jahr später 50 000.

Munitionsproduktion (1915).

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Das Hinterland oder Im Rücken der Front

Die Anordnungen zur Unterbringung von Flüchtlingen (in Königsberg waren es letztlich nicht ganz so viele wie anfangs gedacht) waren nur ein Vorgeschmack auf den Alltag in Kriegszeiten. Schon am 5. September – kurz vor Beginn der deutschen Gegenoffensive, die binnen einer Woche die Russen aus Ostpreußen zurückdrängen sollte – führte die Königsberger Stadtverwaltung zum ersten Mal seit undenklichen Zeiten amtliche Höchstpreise für 48 Lebensmittelprodukte ein. Es half nicht viel. In Königsberg wuchsen wie in anderen Städten des Hinterlands die Schlangen vor den Läden weiter an. Am 15. März 1915 wurden die ­ersten Lebensmittelkarten eingeführt: für Brot. Niemand hatte vorhersehen können, dass die Preise in diesem einen Jahr stärker steigen würden als in den 45 Jahren zuvor (seit der Reichsgründung 1871). Die Schüler hatten auch in den folgenden Jahren Grund zur Freude; der Unterricht fiel immer häufiger aus, denn im Sommer wurden die älteren Jungen als Erntehelfer aufs Land geschickt und im Winter blieben die Schulen wegen mangelnden Heizmaterials immer ­öfter geschlossen. In den Folgejahren waren die Bürger – vor allem die Bürgerinnen – von weiteren Maßnahmen betroffen. Dazu gehörten Kochkurse zur Zubereitung von Speisen aus Abfällen und Unkraut (in Deutschland und Österreich sprach man von „Wildgemüse“) und Sammelaktionen für bestimmte Sekundärrohstoffe. Gesammelt wurden insbesondere auch Metalle – aus den Wirtshäusern verschwanden bald die Zinkdeckel der Bierkrüge und sogar die Kupferrohre zu den Bierfässern, von den Wohnhäusern die Blitzableiter, von Kirchen und alten Gebäuden die Kupferdächer (über Letzteres schreiben wir ausführlicher im Teil Besatzung). Die Schüler wurden in all diese Aktionen eingespannt, sie halfen beim Sammeln von Altpapier, Laub, Brennnesseln, Gummi, Konservendosen, Kaffeesatz, Eicheln, Kastanien, Obstkernen und anderen Materialien, die angesichts der drohenden Nahrungskrise und des Mangels an Importrohstoffen plötzlich unentbehrlich waren. Sofern diese Sammlungen behördlich organisiert wurden, ging die eingangs erwähnte Umwandlung von Blumenbeeten, Rabatten und anderen öffentlichen Grünflächen zu Gemüsegärten von der Bevölkerung aus. Der Gemüseanbau auf Grünflächen und die Sammelaktionen waren freilich allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Von Berlin bis Budapest kamen die Ministerialbeamten bei ihren Berechnungen immer zu demselben Ergebnis. Weil die einberufenen Bauern und Arbeiter als Produktionskräfte fehlten, der Rohstoffimport gestoppt war und die Dienstleistungen ausländischer Partner ausblieben, würde das bisherige Versorgungsniveau nicht mehr lange zu halten sein. Die logischen Schlussfolgerungen aus dieser Bestandsaufnahme lauteten: 185

II  Das Hinterland

Nur der Staat könne die Krise bewältigen, die aus der drastischen und lang­ fristigen Reduktion des Angebots resultiere, und die Hauptaufgabe bestehe ­darin, die von Monat zu Monat knapper werdenden Ressourcen vernünftig zu verteilen.

Ersatz Es begann mit schlechten Ernten, in deren Folge Mehl für die Brotherstellung fehlte. Ab Dezember 1914 waren die Bäcker in der k. u. k. Monarchie verpflichtet, ihrem Teig verschiedene Zusätze beizugeben, u. a. Gerstenmehl, Kartoffelbrei, Kartoffel- und Maismehl. Einen Monat später tauchte im Deutschen Reich das sogenannte K-Brot auf, K wie Krieg oder Kartoffeln. Außer Kartoffelmehl wurden dem K-Brot mit der Zeit auch gemahlener Hafer, Gerste, Bohnen oder Erbsen beigemischt. Im Oktober 1916 verfügten die österreichisch-ungarischen Behörden, dass Weizen- oder Roggenmehl nicht mehr als 60 Prozent eines Backprodukts ausmachen durften; aufgestockt wurde das Gewicht durch die genannten Zutaten. Der Hunger, unter dem Österreich-Ungarn (vor allem Cisleithanien) 1916 litt, erreichte Deutschland etwas später, im Winter. Die Kartoffelernte sank von 122 Millionen Doppelzentnern (1913) auf 50 Millionen, die Getreideernte auf ca. 60 Prozent des Vorkriegs­ niveaus. In der k. u. k. Monarchie wurden zwei fleischlose Tage eingeführt, außerdem ein „fettloser“ am Samstag. Die erste Regelung war klar: An fleischlosen T ­ agen durfte in Läden und Gastronomiebetrieben kein Fleisch und keine Wurst verkauft werden. Wesentlich komplexer war hingegen die vom Wiener Innen­ ministerium im Oktober 1916 veröffentlichte Definition des „fettlosen“ Tages: An den fettlosen Tagen ist es verboten, in zerlassenem Fett oder Öl gebratene Speisen (z. B. gebratene Schnitzel oder Brathähnchen) zu servieren; erlaubt sind hingegen Süßspeisen, zu deren Herstellung Fett verwendet wird, die aber fettfrei gebacken werden. Verboten ist es weiterhin, Fisch zu servieren, zu dessen Zubereitung Butter oder Öl verwendet wird. Erlaubt ist aber Fisch, der schon in der Fabrik mit Öl zubereitet wurde (z. B. Sardinen). Unzulässig ist es, an fettlosen Tagen Kartoffeln mit Fett oder Butter, Bratkartoffeln sowie Brot mit Butter zu servieren. Erlaubt sind schließlich Fleischspeisen wie Rostbraten oder Beefsteak, die im eigenen Fett gebraten werden. Verboten ist dagegen der Verkauf von gebratenem (gefülltem) Fleisch, das aus Innereien zubereitet wurde.12

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Das Hinterland oder Im Rücken der Front

Im Herbst 1916 aßen nur wenige Untertanen Franz Josephs I. Schnitzel (die wöchentliche Fleischration reichte für eines) oder Backhendl, von Roastbeef oder Beefsteak ganz zu schweigen. Echte Butter wurde ebenfalls zu einer Erinnerung aus der Vorkriegszeit. Vermutlich wollte das k. u. k. Innenministerium die Speisepläne der Armen wie auch der Reichen reglementieren; das Resultat fiel vermutlich aus wie immer. Angesichts des allgemeinen Mangels wurde für fast alle Lebens- und Genussmittel vermehrt sogenannter Ersatz (das heißt Imitate fehlender Rohstoffe) eingeführt: Eicheln, Zichorien und Bucheckern ersetzten Kaffee; ­später mischte man sogar Rübenextrakt bei. Statt Tee gab es eine Mischung aus Gerste und Gras, diverse wilde Blüten sorgten für das Aroma. Weizenund Roggenmehl wurde mit gemahlenem Stroh versetzt. Als Butterersatz ­fungierte eine Mischung aus Milch, Zucker und Lebensmittelfarben. Wurst bestand hauptsächlich aus – bis dahin als ungenießbar geltenden – Resten von gemahlenen Fleischfasern und Tiersehnen, Wasser und pflanzlichen ­Zusätzen. Österreich-Ungarn und vor allem Deutschland erwiesen sich 1916 als durch und durch moderne Zivilisationen. Die Chemiker produzierten nicht nur immer neue tödliche Kampfgase, sondern bestimmten auch zunehmend den Speiseplan ihrer Mituntertanen. Sie sorgten für Geschmäcker und Gerüche, die an die ursprünglichen Produkte erinnerten, und fügten den von Monat zu Monat schwindenden natürlichen Rohstoffen neue Erfindungen hinzu. Eine englische Fürstin, die im März 1916 in Berlin mit Grippe das Bett hüten musste, hielt sich wohl zu Recht für ein Opfer der „Ersatz illness“: „Jedermann fühlt sich elend wegen des Übermaßes an Chemie im Hotelessen. Ich glaube nicht, dass man die Deutschen aushungern kann; eher vergiften sie sich durch all diese Arten von Ersatzstoffen.“ Der Ersatz trat tatsächlich an die Stelle der Vorkriegswirklichkeit. Holger Herwig zufolge wurden allein im Deutschen Reich 11 000 Patente für diverse Arten von Ersatzprodukten angemeldet, darunter über 800 für Kriegswurst und über 500 für Kriegskaffee.13

Auf den wachsenden Mangel an fast allem (außer an patriotischer Dichtung) reagierten die Behörden mit immer neuen Einschränkungen, „Verbesserungen“, Geboten und Verboten. Das System der Reglementierung von Wirtschaft und Gesellschaft beschränkte sich natürlich nicht aufs Hinterland der Ostfront, sondern wurde auch im Westen praktiziert. Besonders effektiv war es in Großbritannien, wo die Sorge um die Gesundheit der unverzichtbaren Produktivkräfte für 187

II  Das Hinterland

die Bürger segensreiche Folgen hatte: Trotz der Verluste an der Front stieg die durchschnittliche Lebenserwartung sowohl der Frauen als – noch überraschender – auch der Männer. Zugleich sanken die Säuglingssterblichkeit und die Fälle klassischer Unterschichtkrankheiten, die Kaufkraft der Löhne stieg, die Ernährung der ärmsten Schichten verbesserte sich. Im Gegensatz zu den Mittelmächten war Großbritannien – ähnlich wie Frankreich – nicht von der Versorgung mit Lebensmitteln abgeschnitten, es bezog sie aus Nord- und Südamerika. Außerdem produzierte das Vereinigte Königreich, dessen Territorium vom Krieg unberührt blieb, 1918 mehr Lebensmittel als vor Kriegsbeginn, weshalb die Rationierung von Lebensmitteln erst 1918 begann. In Frankreich gab es mehr oder weniger schmerzliche Mängel, doch Lebensmittelkarten wurden erst 1917 eingeführt, bevor im Jahr darauf ein System allgemeiner Beschränkungen entstand. Ganz anders war die Situation in Deutschland und Österreich-Ungarn. Die deutsche Landwirtschaft produzierte während des Kriegs ca. ein Drittel weniger als 1913. In der Donaumonarchie herrschte vor 1914 eine klare Arbeitsteilung: In Cisleithanien erntete man 72 kg Getreide pro Einwohner, in Transleithanien 203 kg. Ungarn lebte vom Export seiner Feldfrüchte in den österreichischen Teil des Imperiums. 1914 beschloss man, das Königreich Ungarn solle mit seinen Überschüssen die Armee ernähren. So kam es auch. Außerdem reduzierte die Budapester Regierung die Lieferungen nach Cisleithanien im ersten Kriegsjahr auf ein Sechstel; die restlichen Überschüsse verkaufte sie an Deutschland. Im Gegenzug erhielt sie Stahl und andere Rohstoffe für die heimische Rüstungsindustrie. Während der harten Verhandlungen schreckten weder Ungarn noch das Deutsche Reich vor Erpressungen zurück. Wie an der Front hatte Berlin die besseren Karten. Der Handel wurde in Reichsmark abgewickelt, deren Kurs lang­ samer fiel als der Kurs der Krone. Letztlich mussten Budapest und Wien Kredite aufnehmen, um die negative Zahlungsbilanz auszugleichen. Nicht ganz grundlos fühlte sich die Habsburgermonarchie zunehmend vom Bündnispartner ausgenutzt.14 Es war deshalb nicht verwunderlich, dass die Lebensmittelzufuhr aus Ungarn nach Cisleithanien mit der Zeit versiegte. Wegen der Kriegshandlungen entfiel auch der Binnenimport aus Galizien und der Bukowina. Das eigentliche Österreich, Böhmen und Mähren kämpften überdies mit einem Mangel an Dünge­mitteln und Pferden. 1917 soll die Getreideernte in Cisleithanien – nach vielleicht zu niedrig angesetzten Schätzungen – gerade einmal zwölf Prozent der Vorkriegserträge erreicht haben. Die Katastrophe traf insbesondere die Städte, 188

Das Hinterland oder Im Rücken der Front

die schon im Herbst 1914 mehrere Hunderttausend Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina aufgenommen hatten. Der Mangel an Nahrungsmitteln wurde bald zum grundlegenden Problem. Im Herbst 1914 verzeichnete die Polizei in Wien die ersten Schlangen für Brot und Mehl; Milch und Kaffee wurden Anfang des Folgejahres knapp, Öl im Herbst 1915, Kaffee im März 1916, Zucker im April, Eier im Mai, Seife im Juli, Bier, ­Zigaretten, Zwetschgen und Kraut im September 1916. Mit der Zeit wurde es ­üblich, die Kinder zum Schlangestehen zu schicken. Die Väter waren an der Front, die Mütter – vor dem Krieg Arbeiterinnen in der Leichtindustrie oder ­Angestellte im Dienstleistungssektor – arbeiteten zwölf Stunden am Tag in den Rüstungsfabriken. Auf dem Schwarzmarkt, auf dem alles zu haben war, stiegen die Preise in dieser Zeit auf das Sechsfache des Vorkriegsniveaus. Als eine Tuberkuloseepidemie ausbrach, sprach man von der „Wiener Krankheit“. In Ungarn war die Lage etwas besser: Die Arbeitslöhne stiegen bis 1916 um etwa die Hälfte, die Lebensmittelpreise „nur“ um das Dreifache, die Kosten für den Lebensunterhalt einer fünfköpfigen Familie um etwas mehr als das Doppelte. Am stärksten stiegen hier die Preise für Kleidung – bis Anfang 1917 um mehr als das Zwölf­fache.

Die Karte „So groß war die Furcht vor dem Unbekannten: der seit Anbeginn der Welt nie praktizierten Brotkarte“ – so kommentierte der Ilustrowany Kuryer Codzienny (Illustrierter Tageskurier) eine Sensation: Über Nacht gab es in den Krakauer Bäckereien genug Backwaren.15 Die Geschichte war in der Tat ungewöhnlich. Im Herbst 1915 war in Krakau das Brot knapp geworden, die Schlangen vor den Bäckereien wuchsen. Die Menschen waren empört. Die Obrigkeit setzte rasch auf eine Lösung, die damals im ganzen vom Krieg erfassten Europa populär war: Lebensmittelkarten. Der Ilustrowany Kuryer Codzienny hatte recht – nicht einmal die Ältesten erinnerten sich an etwas derart Merkwürdiges. Die Idee war einfach: Wenn etwas zur Mangelware wird, wird es teurer. Die Reichen können jeden Preis bezahlen, die Armen müssen hungern. In einer solchen Situation schreitet die Obrigkeit ein. Sie weist jedem die ihm zustehende Ration zu – in Krakau waren es fast ein Kilo Brot oder 700 Gramm Mehl pro Woche –, legt einen halbwegs bezahlbaren Preis fest und zwingt die Produzenten, die Ware zu diesem Preis und maximal im Umfang einer individuellen Ration zu verkaufen. Ein im Grunde gerechtes System. Das nicht vorhandene Angebot wird auf die Anzahl der Einwohner umgerechnet, jeder (oder wenigs189

II  Das Hinterland

tens: jeder Arbeitende) kann seinen Anteil kaufen, denn der Preis ist deutlich niedriger als zuvor auf dem freien Markt. Die Praxis sieht natürlich anders aus, die Rationen unterscheiden sich je nach Arbeitsbelastung oder Alter – dennoch ist der Ansatz einer einigermaßen gleichen Verteilung keineswegs dumm oder nur theoretisch gerecht. Das Problem liegt darin, dass amtlich festgesetzte Preise einen Eingriff in den Markt bedeuten, der auf seine Art reagiert: Wenn ein Produzent dasselbe Produkt teurer verkaufen kann, wird er versuchen, einen möglichst großen Teil seiner Rohstoffe für die Produktion für den freien Markt zu nutzen. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Betrug an den Behörden und am „Karten“-Kunden, dem man die Ware vorenthält oder minderwertige Ware verkauft. Fast jedes Kartensystem hat dieselben Begleiterscheinungen: Erstens werden mit der Zeit die Rohstoffe knapper, das Angebot sinkt, die Rationen werden immer kleiner und immer unsicherer. Es bilden sich wieder Schlangen – niemand weiß, wie lange die Rationen im konkreten Geschäft ausreichen, also stellen sich alle früh an, um später nicht mit leeren Händen auszugehen. Zweitens führt jede Rationierung zur Entstehung eines Schwarzmarkts, auf dem dasselbe Produkt (oder ein qualitativ besseres) halb- oder illegal zu ­einem deutlich höheren Preis, dafür aber ohne Schlangen und Mengenbeschränkung erhältlich ist. Drittens versucht die Obrigkeit die entstehenden Schlupflöcher durch immer detailliertere Vorschriften zu stopfen, die aber­ der – auf die Umgehung der Regeln und möglichst großen Profit ausgerich­ teten – menschlichen Erfindungsgabe immer einen Schritt hinterherhinken. In Wien bewegten sich Ämter, Produzenten, Zwischenhändler und Verkäufer gegen Kriegsende in einem Geflecht von 24 Bestimmungen zum Einkauf, Vertrieb und Verkauf von Mehl, 23 Bestimmungen betrafen Brot, 14 Milch, 13 Zucker und acht Alkohol. Zwischen 1915 und 1918 erlebten alle Städte in Ostmittel- und Südosteuropa den Einbruch der Lieferungen, den Mangel an Lebensmitteln, die kurze Verbesserung der Lage nach Einführung von Bezugskarten, die Ausweitung des Kartensystems auf eine immer größere Anzahl von Produkten, das Aufblühen des Schwarzmarkts, auf dem die Preise in keinem Verhältnis mehr zu den Löhnen von Arbeitern und Angestellten standen, die Aggression gegen B ­ au­ern – und mehr noch gegen jüdische Zwischenhändler –, die für ein Ferkel ein Klavier bekommen konnten, und schließlich den Hunger, die Kälte und die Verelendung.

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Das Hinterland oder Im Rücken der Front

Lebensmittelkarten waren überall etwas Neues, Furchterregendes. In Krakau resultierte die Verbesserung der Versorgungslage nach ihrer Einführung im Herbst 1915 daraus, dass in der Woche zuvor die Menschen Brot gekauft hatten, wo es nur welches zu kaufen gab. Sie hatten Angst vor dem Neuen. Das Kartensystem erwies sich vorübergehend als Rettung, das rationierte Brot füllte die Regale der Bäckereien. Dann ging es wie überall und wie mit (fast) allem: Die Mehllieferungen schrumpften, ein Schwarzmarkt entstand. Die Menschen lernten, mit dem Kartensystem zu leben, aber in Wirklichkeit bogen sie es sich zurecht, indem sie die Kriegsbestimmungen umgingen oder brachen.

Im Deutschen Reich wurde ab dem 1. Februar 1915 ein Kartensystem eingeführt. Wie in Österreich-Ungarn landeten im Lauf dieses Jahres nach und nach alle wichtigeren Lebensmittel auf der Liste der rationierten Produkte; das System erlebte eine scheinbare Blüte. Im vergleichsweise gut versorgten Ungarn wurde erst Milch rationiert (November 1915), dann Brot (Januar 1916) und Seife (März 1917), ab April 1917 schließlich auch Kartoffeln. Auch hier erwies sich das Kartensystem immer wieder als löchrig und wirkungslos gegen die menschliche Schlitzohrigkeit und Umtriebigkeit. Die Beamten erließen immer neue Verordnungen, sie produzierten unzählige Erlasse und Vorschriften zum Verkauf, Kauf und Verzehr bestimmter Produkte. Maureen Healy schrieb über die Lage in ­Wien: „Die Versorgungskrise erinnerte an einen Tanz, in dem die Obrigkeit, die nicht in der Lage war, ein ausreichendes Angebot an Lebensmitteln zu gewährleisten, immer einen Schritt hinter der Bevölkerung zurückblieb, die sich nicht an die Regeln hielt und auf verbotenen Wegen versuchte, ihren Bedarf zu decken. ‚Regieren‘ wurde zum Synonym der Ohnmacht und der Verhängung leerer Dekrete.“ 16 Der Regulierungswahn war freilich keine Domäne der k. u. k. oder der deutschen Behörden. In einer von Wien weit entfernten Ostseestadt notierte ein zweifellos intelligenter und boshafter deutscher Beobachter zwei ähnliche Beispiele: „Der livländische Gouverneur setzt durch Straßenanschlag den Verkaufspreis für Zucker auf 19 Kopeken pro Pfund fest und bedroht Händler für Mehr­forderung mit einer Geldstrafe bis 3000 Rubel. Infolge dieser Verordnung steigt der Zuckerpreis in Riga von 80 Kopeken auf 1 Rubel 50 Kopeken.“ Ebenso lakonisch klingt eine Notiz über die Versuche eines örtlichen Polizeimeisters, die Wirklichkeit zu reglementieren: „Über 1000 Dirnen hat er sistiert, zu hunderten Freudenhäuser und Branntweinfabriken aufgestöbert, 191

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mehr als 10 000 Protokolle über Alkoholhandel und Völlerei gesammelt, und muß am Jahresende erkennen, daß Riga noch nie so unmoralisch gelebt hat wie im Jahre 1916.“ 17 Das „Regieren“ erforderte auch eine vielfache Verstärkung der Kontrollen. Bevorzugtes Objekt professioneller und ehrenamtlicher Kontrolleure waren zunächst die Bäckereien; Bäcker galten als ebenso suspekt wie „Spekulanten“. Als sich dann der halb marktwirtschaftliche Teil des Lebensmittelhandels in großem Umfang von den Läden auf die Marktplätze verlagerte, sandten Staat und Lokalverwaltungen Tausende Kontrolleure zur Prüfung von Legalität, Redlichkeit und Hygiene aus. Ihren Handlungsspielraum belegt eine Meldung aus dem Lokalteil des Ilustrowany Kuryer Codzienny: Einen so stürmischen Markttag wie gestern hat Krakau noch nicht gesehen. Seit sechs Uhr früh versammelten sich immer mehr Damen in Erwartung der Dorffrauen, die in kleiner Zahl eintrafen und nur Gänse, Hühner, Pilze und Obst mitbrachten, von zehn Frauen hatte allenfalls eine Eier und Butter dabei. Diese Frauen wurden von den Damen und Köchinnen regelrecht belagert. Der Tumult wuchs. Immer wieder waren der Marktinspektor Hr. Zagórski, die Marktgehilfen und die Militärpolizei zum Einschreiten gezwungen. Die Frauen sahen, wie groß die Nachfrage nach Butter war, und wollten sie nicht zum amtlichen Höchstpreis von 5,40 Kr. pro Kilogramm verkaufen. Die Verhandlungen ergaben bald einen Preis von 10 Kr. per Kilo und diesen Preis musste der Marktkommissar akzeptieren – andernfalls wären die Frauen vom Markt abgezogen und hätten ihre Butter in den Seitenstraßen zu noch höheren Preisen verkauft.18 Dieser besonders „stürmische“ Markttag ereignete sich im Oktober 1915 und der Krieg sollte noch drei Jahre andauern. Die meisten der „Damen und Köchinnen“ werden sich beim Zusammenbruch der Monarchie sicher mit ­ ­einem nostalgischen Seufzer an die idyllischen Zustände des Jahres 1915 erinnert haben. Von Einschränkungen, Kontrollen, Obergrenzen und Verboten waren natürlich keineswegs nur Lebensmittel betroffen. Den zweiten Platz auf der Liste der Mangelwaren belegte die Kohle, der Hauptenergieträger, auf den Stromkraftwerke und Industriebetriebe ebenso angewiesen waren wie Heizbetriebe und Privathaushalte. Darüber hinaus mangelte es an Gas, Erdöl, Baumwolle, Pa­pier – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Schon bald gab es Obergrenzen und Verbote für fast alles: Der Energieverbrauch, zumal in puncto Beleuchtung, wur192

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de zunehmend restriktiv reglementiert. Die Folge waren unter anderem kürzere Öffnungszeiten von Läden, Theatern, Cafés und Kneipen sowie dunkle Straßen und Treppenhäuser. Schulen, Ämter und Theater blieben ungeheizt; in größeren Wohnungen wurde es später zur Regel, dass nur ein Ofen befeuert wurde, in den übrigen Räumen sank die Temperatur auf wenige Grad. Von den öffentlichen Dienstleistungen waren als Erstes der städtische Nahverkehr – Straßenbahnen – und die Bahn betroffen; Erstere kursierten immer seltener und auf immer kür­ zeren Strecken. Dann ersann man eine neue Sparmaßnahme: 1916 stellte die Straßenbahn in Wien um 21.00 Uhr den Betrieb ein. Der Baumbestand des Wienerwalds, der im Rahmen privater Raubzüge von den Wienern unbarmherzig abgeholzt wurde, fiel dem Brennstoffmangel zum Opfer. Es fuhren immer weniger Züge, die zudem immer langsamer unterwegs ­waren. Im Juli 1915 dauerte die Fahrt von Krakau ins 77 km entfernte Dąbrowa ­Górnicza 6 Stunden und 16 Minuten. Schneller ging es bisweilen auf Strecken, die für die Armee wichtig und deshalb besser instand gehalten worden waren: Die wieder in Betrieb genommene Strecke Warschau–Brest (ca. 200 km) legte der Zug einige Monate lang in „nur“ 5,5–6 Stunden zurück. Infolge des Krieges erhielten auch Orte direkten Anschluss an die Hauptstädte der Mittelmächte, die weder vorher noch nachher dieses Privileg genossen. Vom Spätsommer 1915 an verkehrten etwa Züge auf der Linie Kowel–Wien. Die Schnellzüge zwischen Krakau und Wien waren nicht langsamer als in den 1980er Jahren, sie brauchten nur zehn Stunden. Von Warschau nach Berlin gelangte man in 13 Stunden.19 Es gab aber keine festen Regeln: Auf der für das Militär ebenso wichtigen Strecke Wien– Lemberg (je nach Streckenführung zwischen 600 und 700 km) benötigten die Züge mit den nach Galizien zurückkehrenden Flüchtlingen ein halbes Jahr nach der Wiedereroberung der Provinzhauptstadt ungefähr 48 Stunden. Seit dem Herbst mahnten die Zeitungen Bahnreisende, sie sollten sich warm genug kleiden, weil die Züge immer häufiger unbeheizt blieben. In Russland, das weit mehr unter der Transport- als unter der Nahrungsmittelkrise litt, wurden schon im Sommer 1915 Zugreisen zu einer Art Lotterie. Man wusste nie, wann und wohin man fahren konnte. Ungefähr um diese Zeit versuchte Eugeniusz Romer mit einigen litauischen Gutsbesitzern von Drissa (heute Werchnjadswinsk in Weißrussland) nach Witebsk zu gelangen. Die Fahrkartenschalter am Bahnhof waren geschlossen, es gab keine Informationen. Als nach einiger Zeit ein Zug einfuhr, fehlten die Passagierwaggons, stattdessen wurden Plätze auf der Ladefläche offener Güterwaggons angeboten. Auf der Strecke, die vor dem Krieg vier Stunden beanspruchte, sammelte der Zug eine Verspätung von 13 Stunden an. Doch selbst 193

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unter solch widrigen Bedingungen gelangt es dem Schaffner, die Fahrkarten zu kontrollieren und Fahrgästen, die es nicht geschafft hatten, vor der Abfahrt ein Ticket zu erwerben, eine Strafe aufzubrummen.20

Die Frauen Der allgemeine, umfassende Mangel prägte den Alltag aller Menschen – Männer, Kinder und Frauen. Letztere mussten immer häufiger ihre berufliche Tätigkeit (fast immer schlechter bezahlt als die Arbeit der Männer) mit Schlangestehen, Hamsterfahrten aufs Land (oder umgekehrt in die Stadt, um Lebensmittel zu verkaufen), illegalem Handel (oft in Form von Tauschgeschäften) und später auch mit dem Diebstahl von Brennmaterial oder Gemüse vereinbaren. Die Situation der Arbeiterinnen verschlechterte sich, zumal in den großen Städten, von Monat zu Monat. Die Beschäftigte einer Munitionsfabrik in Berlin erinnert sich: Hier wurden wir Frauen und Mädchen wie Tiere angetrieben. Neben dem Kohldampf regierten Schmutz, unsägliche Rohheit und barbarische Antrei­ be­rei. Arbeiterschutz gab es nicht oder, wo kleine Ansätze vorhanden waren, wurden sie illusorisch gemacht durch die wilde Arbeitshetze. Allein in einer Woche haben sich im Hülsenwerk an den Zugmaschinen drei Arbeiterinnen die Finger der rechten Hand vollständig abgestanzt. Das war aber nur die Ursache zu Brüllereien des Meisters; weder wurde das Arbeitstempo gemäßigt noch ein Schutz angebracht. […] Die Arbeitszeit: von sechs bis sechs Uhr, mit einer halben Stunde Mittagspause und einer Viertelstunde Frühstücks­ pause. Eine Woche Tag- oder eine Woche Nachtschicht.21 Außerdem musste ja der Rest der Familie ernährt werden. Auch in dieser Hinsicht entsprachen die Bedingungen immer weniger der Vorkriegsnormalität. Der dänische Filmstar Asta Nielsen beobachtete 1916 in Berlin folgende Straßen­ szene: Eines Tages sah ich ein klapperdürres Pferd auf der Straße tot umstürzen. Im Nu, als hätte man darauf gelauert, stürmten die Frauen, mit langen Küchen­ messern bewaffnet, aus den umliegenden Häusern auf den Kadaver. Man schrie und schlug sich um die besten Stücke, das dampfende Blut spritzte ­ihnen über Gesicht und Kleider. Andere ausgehungerte Gestalten kamen vorüber und fingen in Näpfen und Tassen das warme Blut auf, von dem das Pflaster rot gefärbt war. Erst als das Pferd wie ein Skelett in der Wüste abge­ nagt dalag, zerstreute sich die Menge rasch, die eroberten Fleischklumpen ängstlich an die platten Brüste gepreßt.22 194

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Je mehr Zeit man für das Schlangestehen aufwenden musste, desto unsicherer wurde das Resultat. Am 16. Februar 1915 kam es im westböhmischen Kraslice (Graslitz) zur vermutlich ersten Rebellion von „Schlangesteherinnen“. Trotzdem besserte sich die Versorgungslage in der Stadt nicht. Im März drohten die Frauen dem Landrat öffentlich und bewarfen seinen Amtssitz mit Steinen. Im genauso weit von der Front entfernten Triest brach am 20. April eine mehrtätige Hungerrevolte aus, in Wien gab es im Mai erstmals massenhafte Angriffe von Frauen auf Geschäfte. Im Oktober spielten sich in Berlin vergleichbare Szenen ab. Allein in Böhmen und Mähren verzeichnete man bis Jahresende 31 Demonstrationen gegen den Hunger. In den folgenden Jahren kam es immer öfter zu gewaltsamen Ausbrüchen. Den Höhepunkt erreichten sie unmittelbar vor Kriegsende. Anfang 1918 wurde Österreich-Ungarn von einer Welle von Streiks und Demonstrationen von Fabrikbelegschaften – die zu einem großen Teil aus Frauen bestanden – erschüttert. Gegen Ende des Jahres strömten rund 30 000 Menschen in die Landgemeinden im Norden von Wien, um bei den Bauern Kartoffeln zu kaufen. Doch die Bauern wollten nicht verkaufen, sie verwiesen darauf, dass die Regierung derartige Verkäufe verboten habe. Daraufhin zog die hauptsächlich aus Frauen und Kindern bestehende Menge in die Felder, um sich zu nehmen, was ihnen die Bauern verweigerten. Uniformierte Soldaten auf Heimaturlaub versuchten, die Frauen und Kinder vor Angriffen der Bauern und der Polizei zu schützen. Schließlich wurde die Menge mithilfe der Armee und einiger Gendarmerieeinheiten zerstreut.23 In Russland zeitigten andere Ursachen ähnliche Folgen. Bis 1916 blieb die Lebensmittelversorgung auf einem recht akzeptablen Niveau. Das war vor allem in Frontnähe zu spüren, wo sich die Bevölkerung der Gefahr von Armut und Hunger bewusst war. Der Reichtum des Zarenreichs kontrastierte mit der Sparpolitik der Mittelmächte. Cezary Jellenta notierte um die Jahreswende 1914/15: „Wir merken heute mehr denn je, dass Russland uns nährt und sättigt, dass es ein unerschöpflicher Speicher ist.“24 Russlands Problem lag an anderer Stelle. Seit Kriegsbeginn verschärften sich die Transport- und Brennstoffkrise. In der Folge verteuerten sich auch die Lebensmittel, obwohl sie in ausreichender Menge vorhanden waren. Der Transport in die Städte funktionierte nicht. Schon im März 1915 kam es in Moskau zu Unruhen. Frauen belagerten den Hauptmarkt, bis die Verkäufer die Kartoffelpreise senkten. Ein Jahr später gab es am selben Ort regelmäßig Tumulte, bei denen Verkäufer und intervenierende Polizisten tätlich an195

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gegriffen wurden.25 1916 erfasste die Krise alle größeren Städte des Imperiums, das Land wurde von einer Welle sogenannter Weiberrevolten überrollt.26 Parallel zur amtlichen Verwaltung von Hunger, Energie und Transport bemühte sich der Staat um die Mobilisierung der Arbeitskräfte. Im Deutschen Reich und in der k. u. k. Monarchie wurde schon zu Kriegsbeginn der Sonntag zum Arbeitstag erklärt (vorerst nur in kriegswichtigen Industriebetrieben), die Frauen mussten auch nachts und an Feiertagen zur Arbeit erscheinen. In Russland wurde die Nachtarbeit für Frauen und auch für Kinder legalisiert. Überall wurden die Schichtzeiten verlängert: Die 85-Stunden-Woche war bald ebenso normal wie eine tägliche Arbeitszeit von 11 Stunden. In der Stadt übernahmen die Frauen meist nicht die bisherigen Arbeitsplätze ihrer Ehemänner, sondern die Stellen anderer an die Front geschickter Männer: Sie wurden Verkäuferinnen, Kellnerinnen und Schaffnerinnen, sie übernahmen scharenweise Beamtenposten in der Kommunalverwaltung (in geringerem Ausmaß auch im Rücken der Armee) – überall dort, wo es nach der Einberufung an Arbeitskräften fehlte. Die Beschäftigungszahlen stiegen auch in einigen ­„typisch“ weiblichen Berufen. Ein unmittelbar mit dem Krieg verbundenes Berufsfeld war die Krankenpflege. Viele öffentliche Gebäude in der Etappe wurden in provisorische Krankenhäuser umgewandelt, von denen jedes nicht nur Ärzte und medizinisches Fachpersonal, sondern auch Hilfskräfte für die Krankenpflege benötigte. In Serbien erfreuten sich britische Krankenschwestern, die den Verbündeten aufopferungsvoll Hilfe leisteten, der größten Achtung der zivilen und militärischen Führung. Fernab der Front weckten Krankenschwestern eher gemischte G ­ efühle. Im belagerten Przemyśl beschuldigte man sie der Prostitution. Aus dem Mund der uns schon bekannten bissigen Kommentatorin Helena Seifert-Jabłońska ist dieser Vorwurf mit großer Vorsicht zu genießen. Andere Zeitzeugen äußerten sich freilich ähnlich. Ein in Przemyśl stationierter ungarischer Arzt notierte: […] man rekrutiert Teenagerinnen als Krankenschwestern, an manchen Stellen bis zu 50! Sie bekommen 120 Kronen im Monat und kostenlose Verpflegung. Das ergibt 17 000 Kronen pro Monat! Mit wenigen Ausnahmen sind sie kom­ plett untauglich. Ihre Hauptaufgabe ist es, das Begehren der Herren Offiziere und – es ist beschämend, das sagen zu müssen – auch einiger Ärzte zu befrie­ digen.27 Mit der Entfernung zur Front wuchs die Abneigung gegen die selbstständigen jungen Frauen, die aufgrund ihres Berufs ständigen Kontakt zu Soldaten und Ärzten hatten. Eugeniusz Romer schildert empört eine zünftige Feier, die der 196

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Frisch ausgebildete russische Krankenschwestern (Herbst 1916).

Leiter des Militärkrankenhauses in Polozk, Dr. Iwanowski, im November 1915 ausrichtete: In den Fluren und leeren Krankenzimmern, die entweder völlig dunkel oder von einigen wenigen Lampen mit grünen Schirmen beleuchtet waren, lagen paarweise Offiziere und Schwestern und, weil das Orchester eine Mazurka spielte, tanzte ein fröhlicher Oberst mit einer Schwester durch die Gänge; das gefiel einigen anderen und umgehend wurde einer der großen Krankensäle zu einer Art Ballsaal umfunktioniert; Betten wurden zur Seite geschoben, übereinandergestapelt, manche auch in den Gang geschoben, und in diesem halbdunklen Saal tanzten nun unter lautem Lachen und trivialen Scherzen die barmherzigen Schwestern mit den Offizieren. Ich erstarrte bei diesem Anblick. Obwohl […] der Ruf der Schwesterchen allseits bekannt ist, wollte es mir nicht in den Kopf, dass sich etwas Derartiges in Anwesenheit höherer Militärs und der vermeintlich seriösen Leiterinnen der Einrichtung abspielen konnte. […] Die schwerer Verwundeten sollen jemanden geschickt haben, der um Ruhe bat, doch er erntete nur Empörung über derlei Launen und Unverschämtheit. Der Oberarzt selbst schwang das Tanzbein und war sehr 197

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zufrieden über die gelungene Festivität, die, wie er sagte, den Geist der Krieger stärke.28 Obwohl sicher nicht alle Klagen über das unmoralische Verhalten von Krankenschwestern aus den Fingern gesogen waren, erfüllten viele von ihnen wohl eine Placebofunktion. Die allenthalben sichtbare Veränderung in der Stellung der Frauen resultierte aus den strategischen Bedürfnissen des Staates. Die Empörung über die Präsenz von Frauen in bisher Männern vorbehaltenen Berufen musste zurückgehalten werden, weil diese patriotisch legitimiert war. Die ­„Moralisten“ kühlten ihr Mütchen daher dort, wo sie es konnten. In Preußen, dem größten Bundesstaat des Deutschen Reiches, sank die Anzahl der in der Produktion beschäftigten Männer um ein Viertel, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene eingerechnet. Die Anzahl der Fließbandarbeiterinnen stieg um drei Viertel. Für die gleiche Arbeit erhielten Frauen ein Drittel oder sogar die Hälfte weniger Lohn als Männer. In Hannover konnten Frauen 1916 für ein Tagesgehalt weniger als ein halbes Hähnchen kaufen. Wenn man den Berichten männlicher Lokaljournalisten glauben darf, machten die Frauen ihre Sache mehr als gut: In den heutigen Kriegszeiten ist alles möglich und eigentlich vermag uns kaum noch etwas zu überraschen. Noch vor einigen Jahren wäre eine Frau auf dem Kutschbock in Krakau eine Sensation gewesen, sie hätte Spott, bissige Kommentare und Scherze ertragen müssen. Heute sehen wir angesichts des Mangels an männlicher Arbeitskraft in fast allen Berufen Frauen, die sich – wie man zugeben muss – untadelig bewähren, die solide und vor allem ergiebig arbeiten. An Schaffnerinnen in den Straßenbahnen haben wir uns längst gewöhnt, in den Büros sitzen derzeit fast mehr Frauen als Männer und selbst in den Fabriken, bei den schwersten Tätigkeiten, findet man junge Fräuleins und Frauen, die mit großem Eifer und großer Energie arbeiten.29 In Krakau, wo es kaum Rüstungsbetriebe gab, standen relativ wenige Frauen am Fließband; die meisten arbeiteten in einer lokalen Tabakfabrik. In die imperialen Zentren von Petersburg (Petrograd) und Moskau bis Wien und das Ruhrgebiet strömten sie zu Hunderttausenden. Wenn sie nicht in der jeweiligen Stadt wohnten, spotteten die Unterkünfte mitunter jeglicher Vorstellung von Hygiene: ­doppelt belegte Strohsäcke (wenn eine Frau arbeitete, schlief die andere), das Fehlen von Seife, Duschen und Toiletten waren ebenso an der Tagesordnung wie Läuse. 198

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In der Metallindustrie des böhmischen Kreises Pilsen, wo mit den Škoda-Werken der größte Industriebetrieb Österreich-Ungarns seinen Sitz hatte, stieg der Anteil der Frauen unter den Beschäftigten von 2,4 Prozent bei Kriegsbeginn auf 20 Prozent im Jahr 1916. Paradoxerweise genossen sie gewisse Privilegien: Das österreichische Gesetz über Kriegsleistungen aus dem Jahr 1912 sah drakonische Strafen für mögliche Arbeiterproteste vor, doch es galt nur für Männer; der Gesetzgeber hatte sich nicht vorstellen können, dass in der Rüstungsindustrie Frauen arbeiten würden. Und eben hier, an der Drehbank oder am fordschen Fließband, entstanden für die Zeitgenossen schockierende Bilder: Eva glich sich äußerlich an Adam an. Weil es in den Fabriken immer wieder zu Unfällen kam, zwang man die Frauen, männliche Arbeitskleidung zu tragen (einschließlich der bis dahin nur von Feministinnen genutzten Hosen) und ihre Frisuren unter einem Tuch oder einer anderen Bedeckung zu verbergen. Weil die Brüste infolge der permanenten Unterernährung schrumpften, waren Frauen und Männer in Arbeitsmontur kaum noch zu unterscheiden.30 Ob das auch für die Frauen vom Land galt, kann bezweifelt werden. Sie mussten weder die Arbeitsanzüge der Schwerindustrie tragen noch litten sie Hunger. Doch auch in der Provinz führte die Emanzipation der Frauen zu einer nicht minder grundlegenden Veränderung der Verhältnisse. Wincenty Witos schrieb: […] das Dorf entvölkerte sich auf unerhörte Weise. Es gab kaum ein Haus, aus dem nicht wenigstens ein Familienmitglied in den Krieg zog. Nicht selten wurden Vater und Sohn, mitunter auch mehrere Söhne eingezogen, womit die Höfe in der Obhut der Alten, Frauen und Kinder verblieben. Es war eine Zeit schwerer Prüfungen. Die Landfrauen, beladen mit häuslichen Pflichten, hatten sich nie mit Pferden, Fuhrwerken, Pflügen und Säen befasst, das war Sache der Männer gewesen. Manche von ihnen wussten nicht nur nicht, wie man ein Pferd anspannt, sondern liefen ängstlich vor ihm weg. Die harte Notwendigkeit aber tat das Ihre und so erfolgte auch hier fast unerwartet der Wandel. Die auf den Höfen zurückgelassenen Frauen weinten und klagten, sie suchten, wo möglich, Hilfe und Fürsorge, doch als das alles nichts half, machten sie sich selbst an die Arbeit, wobei sie oft große Schwierigkeiten zu überwinden hatten, aber unerhörte Willenskraft und Ausdauer bewiesen. Ich sah mehrmals, wie ein Pflug eine Frau umstieß, die sich weder mit ihm noch mit dem harten, vernachlässigten Boden zu helfen wusste. Gezeichnet, verschwitzt und verdreckt ließen sie sich durch nichts abschrecken und kamen schließlich kaum schlechter zurecht als die Männer. Dank ihrer oft übermenschlichen Arbeit konnten viele Höfe vor dem völligen Verfall gerettet werden.31 199

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Sowohl die in Industrie, im Dienstleistungsgewerbe, Verkehrswesen oder am Schreibtisch arbeitende Stadtfrau als auch die tüchtige Bäuerin wurden in den ersten Kriegsjahren zu einem ebenso festen Bestandteil der Alltagswirklichkeit des Hinterlandes wie die um Lebensmittel für ihre Kinder schlangestehende Mutter. Auch in den besetzten Gebieten gab es sie zu Millionen.

Ecaterina Teodoroiu Die drei Imperien, deren Armeen bereits seit dem Sommer 1914 Ostmitteleuropa systematisch niedertrampelten, waren Bollwerke des gesellschaftlichen Konservativismus. Die überkommene Geschlechterordnung gehörte ebenso zu ihren Grundfesten wie die Institution der Monarchie. Niemand bezweifelte, dass der Krieg eine Sphäre sei, zu der Frauen keinen Zutritt haben sollten, eine mögliche Wehrpflicht für Frauen hielt man allenfalls für einen schlechten Scherz. Für einen der wenigen deutschen Publizisten, die diese Frage ernsthaft erörterten, war die Menstruation ein „störender“ Faktor in disziplinarischer Hinsicht, denn auf sie seien „viele Fälle von Ungehorsam, Gereiztheit und Verstimmung, die zum Konflikt mit Vorgesetzten usw. führen können“, zurückzuführen; zudem litten viele Frauen unter „Aufregungszuständen“ und „Menstrualpsychosen“.32 Die Realität war vielschichtiger als die Ideologie. Vor allem in der russischen Armee und zumal in Kosakenregimentern kam es vor, dass Frauen in männlicher Verkleidung nicht nur als Rekruten dienten, sondern auch Offiziersgrade erwarben. Nach der Februarrevolution von 1917 wurden sogar einige rein weibliche Sturmtrupps geschaffen. Deutschland und Österreich-Ungarn zeigten sich in der Frage des Frauenwehrdienstes zurückhaltender. Erst die gigantischen Verluste zwangen beide Staaten, auch auf diesen Bevölkerungsteil zurückzugreifen. Ab Ende 1916 wurden uniformierte Frauen als Hilfskräfte hinter der Front, als Büroangestellte, Technikerinnen, Telefonistinnen und Telegrafistinnen eingesetzt. Selbst ernannte Moralapostel empörten sich zwar über die angebliche Libertinage der sogenannten Etappenhelferinnen, doch ohne ihre Hilfe hätten die Generalstäbe nicht Tausende männliche Kanzlisten und andere Angestellte an die Front schicken können. Die kleineren Teilnehmer am Krieg im Osten hatten von Anfang an eine ­liberalere Einstellung zur Kriegsbeteiligung von Frauen. Österreich-Ungarn lieferte ihnen diesbezüglich ausgezeichnete Vorbilder. Während man in der deutschsprachigen Presse noch verbissen über Hilfsdienst von Frauen diskutierte, wurde ihre Präsenz in den polnischen und ukrainischen Freiwilligenre200

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Eine bulgarische Propaganda­ post­karte zeigt die Obergefreite Donka ­Bogdanowa aus dem 60.  Infanterie­regiment, eine ­Veteranin der Kämpfe in Make­ donien, der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs.

gimentern toleriert, teils rühmte man sich ihrer sogar. Die Ukrainerinnen ­Olena Stepanivna und Sofija Haletschko kommandierten Untereinheiten der Sitscher Schützen, die Polin Wanda Gertz zeichnete sich in den Kämpfen der Legionen am Styr und am Stochod aus. In der serbischen Armee verdiente sich die Britin Flora Sandes den Hauptmannsrang. In Bulgarien wurden die Infanterierekrutinnen Donka Bogdanowa und Donka Uschlinowa zu Berühmtheiten. Die Propagandisten vervielfältigten Fotos der beiden mit Schilderungen ihrer Heldentaten. Keine dieser tapferen Frauen wurde aber zum Gegenstand eines nationalen Kults.) Anders die junge Rumänin Ecaterina Teodoroiu. Wie die polnischen und ­ukra­inischen Soldatinnen war sie vor dem Krieg Pfadfinderin gewesen. 1916 meldete sie sich freiwillig zum Dienst in einem Feldlazarett, doch auf die Nachricht vom Tod ihrer beiden Brüder bat sie darum, in deren Bataillon versetzt zu werden. Nach einigen Wochen geriet sie in deutsche Gefangenschaft, 201

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aus der sie floh. Dann wurde sie verwundet. Nach ihrer Genesung kehrte sie an die Front zurück und nahm an der Schlacht von Mărășești teil, bei der rumänische Einheiten gegen deutsche und österreichisch-ungarische Truppen kämpften. Dort wurde sie zum Unterleutnant befördert. Sie fiel bei Kämpfen unmittelbar im Anschluss an diese für die Rumänen siegreiche Schlacht. Fast umgehend wurde sie zur – bis heute kultisch verehrten – Nationalheldin. Teodoroiu ist Hauptfigur zahlreicher Gedichte, Romane und eines Spielfilms, mehrere Denkmäler erinnern an sie und in ihrer Heimatstadt Târgu Jiu errichtete man ein monumentales Grabmal mit der Inschrift „Fecioara eroina“ (Jungfrau und Heldin). Die Jungfräulichkeit der rumänischen Heldin ist natürlich eine Anknüpfung an Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orleans. Ob Ecaterina Teodoroiu wirklich als Jungfrau starb, ist unbekannt. Die amerikanische Historikerin Maria Bucur schreibt, es handele sich eher um eine Frage der Symbolik: die Hervorhebung einer Nationalheldin aus der Masse der Frauen und ihre Eingliederung ins nationale Pantheon. Diesem Zweck diente auch die permanente Betonung von Teodoroius männlichen Charaktereigenschaften. In einer Erklärung der rumänischen Armee hieß es etwa: „Ecaterina Teodoroiu war den tapfersten Verteidigern des Vaterlands ebenbürtig, die sie insofern noch übertraf, als sie die Kraft besaß, ihre weibliche Schwäche zu überwinden. Sie hat bewiesen, dass sie in Körper und Geist ein echter Mann war.“33 Einerseits äußert sich hier die höchste Anerkennung für Teodoroius Heldenmut, andererseits bezeugt die Erklärung die Geringschätzung des Schicksals anderer, gewöhnlicher Frauen.

Einen Bereich der Verwaltung des permanenten Mangels überließ der Staat gern und konsequent den Kommunen und zivilgesellschaftlichen Organisationen: die Sozialfürsorge. Es entstanden unzählige Gesellschaften und Vereine, die Nacht­ asyle, Suppenküchen und Teestuben einrichteten oder Arbeitslose, Kinder und Flüchtlinge mit Lebensmitteln unterstützten. Enormen Anteil daran hatten ehrenamtliche Frauenorganisationen. Im Deutschen Reich wurde schon am 4. August 1914 der Nationale Frauendienst gegründet. Die deutschen Frauen wollten den Bedürftigsten ein Dach über dem Kopf, einen Teller Suppe oder eine Tasse Tee gewährleisten. Der Frauendienst übernahm auch strukturelle Aufgaben: Er vermittelte bei der Anwerbung von Freiwilligen für die Landarbeit, half Flüchtlingen bei der Anmietung von Wohnungen und er betrieb Häuser für Wöchnerinnen und Kindergärten. Der Vaterländische Frauenverein wiederum kümmerte 202

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sich um durchreisende Soldaten und unterhielt sanitäre Einrichtungen und Suppenküchen an Bahnhöfen. In der Habsburgermonarchie waren Frauenorganisationen auf ähnliche Weise aktiv. Im ersten Jahr nach ihrer Gründung im Frühjahr 1915 organisierte etwa die polnische Frauenliga des Obersten Nationalkomitees in Galizien mehr als 12 000 Frauen in über 100 Regionalverbänden. Die Stadtverbände zählten mehrere Hundert Mitglieder und hatten Zweigstellen in der Umgebung. Wie viele andere Organisationen auf dem Gebiet der k. u. k. Monarchie diente sie nur Angehörigen der eigenen Volksgruppe. Ihre Besonderheit bestand darin, dass sich ihr Hilfsangebot vor allem an einen – zahlenmäßig nicht besonders starken – Teil dieser Volksgruppe richtete: an die Legionäre, die als Freiwillige für die polnische Unabhängigkeit kämpften.

Ethnisierung Das Beispiel der galizischen Frauenliga verweist auf eine in unterschiedlicher Form und Intensität im gesamten Hinterland zu beobachtende Erscheinung, die von Historikern als Ethnisierung bezeichnet wird. Vor dem Krieg musste man nicht der Mehrheitsethnie angehören, um loyaler Untertan des Königs oder ­Zaren zu sein, die Nationalität war für soziale Stellung und Berufsaussichten nicht von Belang. Ein Ukrainer konnte sich als Angestellter der k. u. k. Eisenbahn ebenso auf seinen Lohn verlassen wie ein Kroate. Ein polnischer Bauer in Preußen erhielt für sein Getreide ebenso viel wie sein deutscher Nachbar, ein lettischer Arbeiter in Riga verdiente dasselbe wie der Jude an der Werkbank ­nebenan. Der Krieg der Imperien, den beide Seiten von Beginn an als historischen Kampf zwischen Deutschtum und Slawentum darstellten, löste rasch eine Lawine von Veränderungen aus, die alle bis 1914 geltenden Regeln unter sich begrub. Die Mechanismen waren überall anders, die Resultate ähnlich. Ins wirtschaftlich blühende Triest waren um die Jahrhundertwende massenweise Slowenen aus den umliegenden Dörfern gekommen. Trotzdem stellten die Italiener weiter die klare Mehrheit der 230 000 Einwohner. Die im Frühjahr 1915 wachsenden Spannungen zwischen Italien und Österreich-Ungarn führten zum Exodus nicht nur italienischer Staatsbürger, sondern auch der führenden Repräsentanten der einheimischen Italiener, Untertanen Franz Josephs I. Am 22. Mai erklärte Rom der k. u. k. Monarchie den Krieg. Am Nachmittag dieses Tages verhinderte die Triester Polizei nur mit Mühe einen Angriff auf das italienische Konsulat. Am Abend attackierte die Menge alles Italienische – Zeitungsredaktionen, Vereins­ 203

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sitze, ­Läden und Cafés. Am nächsten Tag wurde anstelle des bisherigen Triester Stadtrats ein Kommissar eingesetzt, die Polizei begann mit massenhaften Festnahmen und Internierungen. Italienische Vereine und Verbände wurden verboten, Beamte italienischer Nationalität scharenweise entlassen. Parallel dazu löste die Obrigkeit die kommunalen Selbstverwaltungsorgane der umliegenden Gemeinden auf und änderte Straßennamen, die an die Idee des italienischen Nationalstaats erinnerten. Das gründlich von Eliten und sichtbaren Symbolen des Feindes gesäuberte, anscheinend entitalianisierte Triest wurde damit zu einer weiteren habsburgischen Stadt im Rücken der Front. Ähnlich entwickelte sich die Situation am anderen Ende Mitteleuropas. Die Deutschen hatten in den russischen Ostseeprovinzen eine sehr viel exponiertere Stellung als die Italiener in Istrien. Nicht, weil es in absoluten Zahlen oder proportional an der Ostsee mehr Deutsche gegeben hätte als Italiener an der österreichischen Adriaküste. Die Deutschen im Baltikum waren bis in die 1880er Jahre nicht nur treue, sondern auch privilegierte Untertanen des Zaren, sie besetzten wichtige Posten in den Petersburger Ministerien und übten faktisch die Macht in den Küstengouvernements aus. In den folgenden fünfundzwanzig Jahren verloren sie viel von ihrem Einfluss, doch im Sommer 1914 bekundeten sie wie alle anderen Untertanen ihre Treue zum Zaren. Doch die Welle des russischen Nationalismus erreichte rasch auch die Ostsee. Schon im Herbst untersagten die Behörden den Gebrauch der deutschen Sprache an öffentlichen Orten. Kontrolliert wurde das Verbot weniger von der Polizei als von den Nachbarn, die bei Zuwiderhandlung bereitwillig Anzeige erstatteten. „Das Spitzeltum als Nebenberuf blüht auf “, notierte im November ein Rigaer Deutscher resigniert. Das Verbot der deutschen Sprache auf der Straße und in den Parks, bei Versammlungen, in Ämtern, Anwaltskanzleien und vor Gericht war nur ein Teil der Russifizierungskampagne, an die sich die Deutschen als „Zeit des Maulkorbs“ erinnerten: Schulen (manche unterrichteten auf Russisch weiter) und Bibliotheken wurden geschlossen. Der Deutsche Club wurde aufgelöst, die Post verweigerte die Annahme von Briefen in deutscher Sprache und untersagte den Gebrauch des Deutschen an ihren Telefonen, deutschsprachige Geschäftsnamen verschwanden. Letzte Zuflucht der Deutschen war die Kirche, das heißt die lutherische Gemeinde. Zu den Sonntagsgottesdiensten kamen nun mehr Gläubige als vor dem Krieg; sie beteten sicher nicht nur für ihre Söhne und Brüder, die in russischen Uniformen an der Front starben, sondern auch für ein baldiges Ende der „russischen Zeiten“, die sie zu Ausländern auf dem eigenen Grund und Boden machten. 204

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Mit dem Machtverlust der Deutsch-Balten korrespondierte die soziale Degradierung der Juden, die an vielen Orten zu beobachten war. Die Juden wurden überall (auch in Großbritannien und Frankreich) zum Symbol für die Entartungen des Krieges: kriminellen Profit, Verweigerung des Diensts für das Vaterland oder den Missbrauch des Sozialsystems. In Riga spiegelte sich ihre Sonderstellung im Bußgeldkatalog, den die Polizei offensichtlich auch als willkommene zusätzliche Einkommensquelle nutzte. Ein Zeitgenosse notierte die Geldbußen für „ungenügenden Lichtabschluss“, das heißt nicht ordnungsgemäß verdunkelte Fenster: „Die Bestrafung dafür wird völkisch abgestuft. Juden haben 100–200 Rubel zu zahlen bzw. erhalten einen Monat Gefängnisarrest. Für Deutsche wird die Buße auf die Hälfte, für Letten und Russen auf ein Viertel des jüdischen ­Maßes herabgesetzt.“34 Riga war ein ebenso anschauliches Beispiel für die Ethnisierung wie Wilna, Tschernowitz, Wien oder Triest, es hatte aber auch seine Besonderheiten: Im Oktober 1915 wurden drei lettische Freiwillige (Schützen) feierlich zu Grabe getragen – die ersten Helden, die gleichzeitig für das imperiale und das nationale Vaterland gefallen waren. Die Zeremonie unterstrich die Nationalität der Soldaten: Die Letten waren sowohl für den Zaren als auch für ihr Land gestorben; wäre Letzteres nicht wichtiger gewesen, hätte man sie nicht getrennt von ihren russischen Waffenbrüdern bestattet. Exakt zur selben Zeit entstand in Polen eine Idee, die sich formal am deutschen Gedenken für die im Krieg von 1870 Gefallenen orientierte: In jeder Pfarrkirche soll nach ausländischem Vorbild eine Marmortafel angebracht werden. Auf ihr sollen an erster Stelle die Namen aller Legionäre genannt werden, die im Krieg fielen oder ihren Verwundungen erlagen […]. Nach den Legionären werden alle anderen polnischen Soldaten aufgelistet, die aus dem jeweiligen Ort stammen und im Armeedienst fielen oder ihren Verwundungen erlagen.35 Auch auf polnischem Boden ging die Ethnisierung über den Stand von Herbst 1915 hinaus. Wie die lettischen Freiwilligen waren auch die Legionäre als Helden plötzlich wichtiger als ihre Landsleute, die in anderen Einheiten kämpften und ausschließlich für Nikolaus II. oder Franz Joseph I. starben. Das Zurechtschnitzen des symbolischen Raums der nationalen Gemeinschaft konnte unterschiedliche Formen annehmen; die Stigmatisierung von Nationalitäten war ebenso klar wie die Sakralisierung ihrer opfermutigsten Angehörigen.

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II  Das Hinterland

Wenden wir uns noch einmal kurz den Deutsch-Balten zu. Ihr Schicksal war insofern untypisch, weil sie bereits in den ersten Kriegsmonaten zu suspekten Individuen wurden. Die Behörden nutzten den Ausbruch des Konflikts zur Verwirklichung schon lange existierender Pläne. Ansatzweise ähnlich war die Situation der Armenier im nordöstlichen Teil des Osmanischen Reichs, deren Aussiedelung im Frühjahr 1915 begann. Auch dort ging es um die Abschiebung einer unerwünschten Minderheit, ansonsten waren die Umstände aber völlig andere: Ein Teil der Armenier hatte sich im April am antiosmanischen Aufstand in Van beteiligt, der den Behörden den Vorwand für den Start der Deportationen lieferte. Die Deutsch-Balten wurden diskriminiert, doch nur selten wurde dabei Gewalt ausgeübt, und wenn, dann war sie – wie auch immer – rechtlich legitimiert (etwa durch ein Gerichtsurteil gegen vermeintliche Spitzel oder Spekulanten). Die Armenier wurden massenhaft ermordet und die Zwangsmärsche durch ganz Anatolien ans andere Ende des Osmanischen Reichs bis zum heutigen Syrien hatten noch schlimmere Folgen. Die Schätzungen zur Anzahl der Opfer von Kämpfen, Exekutionen, Hunger, Wassermangel, Krankheiten und Erschöpfung schwanken zwischen 500 000 und einer Million. Je nachdem, ob man der osmanischen Regierung eine Absicht zur systematischen Ermordung der Armenier unterstellt oder die Vernichtung eines großen Teils dieser Volksgruppe gleichsam als Nebenwirkung einer durch den Krieg motivierten ethnischen Säuberung betrachtet, bezeichnet man das Massaker an den Armeniern als Völkermord oder als Kriegsverbrechen. Der nach dem Zweiten Weltkrieg ins Völker- und Strafrecht eingeführte Begriff des Völkermords verdankt sich zu großen Teilen den Reaktionen der Öffentlichkeit auf die schon während des Ersten Weltkriegs nach Europa und in die USA gelangenden Nachrichten von den Ereignissen in Anatolien.

Das Massaker an den Armeniern Während sich in den Balkan-Vilajets des Osmanischen Reichs der ethnische Konflikt zuspitzte und die IMRO ein neues Kapitel in der Geschichte des politischen Terrors aufschlug, verfolgten auch die Armenier das makedonische Beispiel mit größter Aufmerksamkeit. Die im nordöstlichen Randgebiet der Türkei lebende Minderheit erkannte nicht zu Unrecht Parallelen zwischen sich und den Bulgaren oder auch Serben. Auch die Armenier waren orthodoxe Christen, auch sie rechneten mit der Unterstützung Russlands, auch sie ­lebten in einer ethnisch fremden Umgebung. Schon Ende des 19. Jahrhunderts waren die Vilajets, in denen sie lebten, Schauplätze ununterbrochener 206

Das Hinterland oder Im Rücken der Front

Kämpfe, Pogrome und Scharmützel bewaffneter Milizen. Die Hauptkonflikt­ linie verlief zwischen der auf armenischem Gebiet dominierenden sozialdemokratischen Partei Daschnak und den regionalen Kurdenstämmen. Russland und das Osmanische Reich unterstützten mal die Kurden, mal die Armenier. Die jungtürkische Revolution beruhigte die Lage nicht, allenfalls änderten sich die lokalen Bündniskonstellationen. Die Daschnaken, die anfangs mit den Jungtürken sympathisierten, standen gegen die von kurdischen Stämmen unterstützten osmanischen „Konterrevolutionäre“. 1913 halfen arme­nische Milizen den jungtürkischen Regierungstruppen bei der Niederschlagung einer Kurdenrebellion. Das Zarenreich heizte den schwelenden ethnischen Konflikt an. Während der Balkankriege wurde das türkische Arme­ nien mit russischen Waffenlieferungen geradezu überschüttet. Bei Ausbruch des Russisch-Türkischen Kriegs war die gesamte Region bereits ein Pulverfass. Türken wie Russen rechneten mit der Unterstützung der Minderheiten auf der jeweils anderen Seite der Grenze. Das Osmanische Reich unterstützte die ­Irredenta der Moslems im Kaukasus, Russland organisierte eine armenische Legion mit einigen Tausend Freiwilligen osmanischer Staatsangehörigkeit und versuchte die Kontrolle über die armenische Untergrundbewegung in Anatolien zu gewinnen. Auf beiden Seiten kam es schon 1914 zu Massakern an der Zivilbevölkerung – der muslimischen in Russland und der christlichen im Osmanischen Reich. Ende des Jahres entschloss sich Enver Pascha zur Offensive gegen Sarıkamış. Die Idee erwies sich als ebenso fatal wie die zur selben Zeit durchgeführte österreichisch-ungarische Offensive in den Karpaten. Ganze türkische Regimenter erfroren im ungewöhnlich strengen Winter im Hochgebirge. Die Soldaten, die bis zu den russischen Stellungen vordrangen, waren nicht mehr in der Lage, effektiv zu kämpfen. Die Türken mussten sich zurückziehen. Zum Frühjahrsbeginn stand eine russische Offensive zu erwarten. Noch vor dem Beginn dieser Offensive brachen in den von Armeniern bewohnten Städten in der Osttürkei bewaffnete Aufstände aus, der größte in der Stadt Van. Dort verteidigten sich die Bewohner mehr als einen Monat lang gegen die Angriffe der osmanischen Armee, bevor russische Truppen unter General Nikolai Judenitsch die Stadt Ende Mai befreite. Zu diesem Zeitpunkt war Van schon eine monoethnische Stadt, die verbliebene Bevölkerung bestand aus ansässigen Armeniern und armenischen Flüchtlingen aus den umliegenden Dörfern. Die muslimischen Einwohner waren entweder ums Leben 207

II  Das Hinterland

gekommen oder vertrieben worden. Nach zwei Monaten russischer Besatzung drang im August 1915 die türkische Gegenoffensive nach Van vor. Die Mehrheit der armenischen Einwohner floh in Panik aus der Stadt, wer blieb, fiel der Vergeltung zum Opfer. Der Aufstand von Van veranlasste die türkische Regierung zu schnellem und radikalem Handeln. Ende April 1915 beschloss man die Internierung armenischer Politiker und Beamter, einen Monat später verfügte Talât Pascha die Aussiedlung der Armenier aus den Provinzen, in denen es Aufstände gegeben hatte, und damit nicht nur aus dem Frontgebiet, sondern auch aus Zentral­ anatolien. Bis heute ist umstritten, ob Talât von Anfang an einen Genozid plante. Doch selbst wenn nicht, hatte die „Evakuierung“ in Richtung Syrien schreckliche Folgen. Schon während des Kriegs berichtete die Presse der ­Entente-Staaten über das Leid der armenischen Bevölkerung: Viele Menschen wurden gezwungen, zu Fuß loszumarschieren, ohne Geld und nur mit dem, was sie in ihren Häusern zusammenraffen und auf dem Rücken tragen konnten. Diese Personen waren bald so schwach, dass sie zurückfielen und bajonettiert und in den Fluss geworfen wurden. Ihre Leichen trieben hinab ins Meer oder blieben im seichten Wasser an Steinen hängen, wo sie zehn oder zwölf Tage liegen blieben und verwesten. Die hungrigen und ausgemergelten Armenier fielen Überfällen von kurdischen Stämmen, Gendarmen und gewöhnlichen Banditen zum Opfer. Ihren Besitz übernahmen die muslimischen Nachbarn, oft ebenfalls kürzlich eingetroffene „Repatrianten“, die aus ihren Balkan-Dörfern vertrieben worden waren. Junge und gesunde „Evakuierte“, zumal Frauen, wurden als Ware betrachtet: „Die Karawanen der Frauen und Kinder werden in jeder Stadt und jedem Dorf, durch das sie ziehen, vor Regierungsgebäuden ausgestellt, damit die Moslems auswählen können.“ Mit zunehmender Dauer der Aktion wurde klar, dass auf die „Evakuierten“ am Ende des Weges der Tod wartete: Es waren nur wenige Männer darunter, weil die meisten unterwegs getötet worden waren. Alle erzählten dieselbe Geschichte: Dass sie von Kurden überfallen und ausgeraubt wurden. Die meisten von ihnen wurden wieder und wieder überfallen und sehr viele von ihnen, vor allem Männer, wurden getötet. Auch Frauen und Kinder wurden getötet. Viele starben unterwegs an Krankheit und Erschöpfung und an jedem Tag, den sie hier verbrachten, gab es neue Todesfälle.36

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Das Hinterland oder Im Rücken der Front

Die meisten Opfer verhungerten oder verdursteten. Jüngste Schätzungen sprechen von insgesamt 660 000 Menschen.37 Ihr Schicksal war der europäischen Öffentlichkeit durchaus bekannt. Die angeführten Schilderungen erschienen in der westeuropäischen Presse und in Broschüren mit hohen Auflagen, sie wurden auch von führenden Politikern zitiert. Selbst im Deutschen Reich, einem Verbündeten der Hohen Pforte, protestierte Karl Liebknecht im Reichstag gegen die Auslöschung der Armenier. Die Schuld an dem Massaker tragen natürlich die Entscheidungsträger – die Angehörigen des jungtürkischen Regimes, die lokalen Gouverneure, vor allem aber Talât Pascha. Ende 1918 wurde dies unter dem Druck der westeuropäischen Besatzungsmächte offiziell durch das türkische Parlament bestätigt, türkische Gerichte verurteilten die Haupttäter. Weitaus komplexer ist die Frage nach der politischen Verantwortung. Vielleicht wurden die Armenier Opfer der Schwäche zweier taumelnder Imperien: Russlands, das sie zur Rebellion ermutigte, sie aber nicht wirksam unterstützten konnte, und der Türkei, die ihre Misserfolge an der Front mit dem vermeintlichen Verrat ihrer christlichen Staatsbürger rechtfertigen wollte. Der zum Tod verurteilte Talât floh aus dem Land, wurde aber 1921 im Berliner Exil von einem armenischen Studenten ermordet. Der Täter, dessen Identität zweifellos feststand, wurde nach gerade einmal zweitägigem Prozess freigesprochen. Das Gericht war der Auffassung, er sei während der Tat nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewesen. Tatsächlich ging es in diesem Prozess von Anfang an um Talâts Verbrechen und der Verteidigung gelang es – unter Mitwirkung des lebendig reagierenden Publikums –, den Mord als Akt der Gerechtigkeit darzustellen.

Für die damaligen Opfer spielte die rechtliche Einordnung keine Rolle. Für die heutigen Armenier und Türken ist sie eine Schlüsselfrage. In unserem Kontext genügt die Feststellung, dass erstens diese Form der Ethnisierung vor dem Hintergrund des gesamten Kriegs einen Sonderfall darstellt; mit Ausnahme Russlands nach 1917 gab es nirgendwo ein vergleichbares Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Zweitens wurde es nicht auf besetztem Gebiet, sondern im Rücken der eigenen Front und an eigenen Staatsbürgern begangen. Sehr viel sanftere Formen der Ethnisierung resultierten aus den großen Migrationsbewegungen, Massenfluchten und Deportationen. Im August 1915 lockte der Ilustrowany Kuryer Codzienny die Leser mit der Schlagzeile „Der Krieg erschuf den polnischen Kleinhandel“. Die Zeitung verschwieg die 209

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­ rsache – die Massenflucht der Juden vor der russischen Armee –, doch insgeU samt erklärte sie die Vervielfachung der Anzahl polnischer Geschäfte halbwegs korrekt: Nach der Flucht der bisherigen Ladeninhaber „hungerten ganze Viertel, weil es nirgends etwas zu kaufen gab. Doch Not macht erfinderisch. Frauen, ­deren Männer an der Front waren, brotlose Professoren, Bankiers, brotlose Handwerker und Bauern stürzten sich in die Gründung von Geschäften.“38 Die Perspektiven dieser „echten Pioniere des polnischen Handels“ waren vorerst ­vage, fehlender Kredit konnte sich schnell als tödlich erweisen. Kleinunternehmen in anderen Provinzen wird es während des Kriegs ähnlich gegangen sein. Trotzdem waren Christen oder Christinnen als Verkäufer oder Ladenbesitzer in Gegenden, wo der Dienstleistungssektor bis dahin von Juden dominiert wurde, etwas Neues.

Militärverwaltung und Selbstverwaltung An der russischen Front wurden zahlreiche große Städte – von Lodz, Riga und Königsberg über Warschau bis Krakau, Lemberg und Tschernowitz – für einige oder mehrere Monate zum unmittelbaren Hinterland der Front. Hier waren die Einschränkungen jeglicher Freiheiten, Requisitionen, Kontrollen und Verbote besonders umfangreich. Es wurde kompliziert, den eigenen Wohnort zu verlassen: Der Bahnverkehr kam zum Erliegen, andere Transportmittel waren kaum zu finden und außerdem erforderten Reisen eine Menge zusätzlicher Dokumente, deren Ausstellung von der gnädigen (und sicher seltenen) Genehmigung der Behörden abhing. Vor Ort wurde alles dem Militär untergeordnet. Der zivilisatorische Rückschritt war unübersehbar – in manchen Städten hinter der Front wurde aus ­Sicherheitsgründen sogar das Telefonnetz stillgelegt. Der Mangel an Gas und Kohle verursachte Produktionsausfälle in den örtlichen Fabriken. Die Straßenbahnen fuhren immer seltener oder überhaupt nicht mehr, leuchtende Straßenlaternen wurden mit der Zeit zur positiven Ausnahmeerscheinung im Bild der ersterbenden Stadt. Mit den zivilisatorischen sanken die kulturellen Standards, gesunder Menschenverstand und Anstand galten nichts mehr. Es kursierten Gerüchte über als Nonnen verkleidete Spione oder über Juden, die durch ihr Gebet der feindlichen Luftwaffe Angriffsziele zeigten – als Rothaarige und damit notorische Lügner ­waren sie ohnehin des Staatsverrats verdächtig, weil sie eine eigene Sprache benutzten. Nicht nur an den Fronten im Osten wurde krankhaftes Misstrauen zur akzeptierten Norm. In Frankreich und Deutschland herrschte ein ähnliches 210

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­ lima des Argwohns, wie etwa die Verbreitung des albernen Gerüchts über die K heimlichen Goldtransporte von Frankreich nach Russland zeigt. Und sicher ­fänden sich auch in Westeuropa Äquivalente zur 1915 von der Militärverwaltung in Riga erlassenen Anordnung, alle Tauben zu töten. Als Beweis – sofern man dem Chronisten Glauben schenkt – waren der Polizei die abgeschnittenen Köpfe der Vögel abzuliefern.39 Ein nationenübergreifendes Kriterium zur Klassifizierung der Erfahrungen der Menschen im Hinterland war die Entfernung von den Kampfplätzen. Die k. u. k. Verwaltung unterteilte das Territorium in drei Zonen. Die erste Zone umfasste die Gebiete in unmittelbarer Frontnähe, die allein dem Militär unterstanden. In der Etappe war die Militärführung staatlichen und kommunalen Behörden übergeordnet. In der Friedenszone blieben Behörden und Verwaltung in zivilen Händen, führten aber die Bestimmungen des Kriegsrechts aus. In Österreich-Ungarn, wo die Selbstbestimmung auf gutem europäischen Niveau war, wurde die Verwaltung unter den Bedingungen der Mangelwirtschaft für die kommunalen Behörden zur unlösbaren Aufgabe. Die Bürger, die gewohnt waren, ihre Angelegenheiten auf kommunaler – und nicht staatlicher – Ebene zu regeln, warfen ihren Gemeindevertretern Unfähigkeit, bösen Willen und mangelnde Empathie vor. Der Bürgermeister von Wien klagte 1916 nicht ohne Grund, dass die Gemeindeverwaltung noch nie für die Lebensmittelversorgung zuständig ­gewesen sei: Es ist merkwürdig, im Frieden hat niemand von mir verlangt, ich soll ihm Kartoffeln beschaffen. Niemanden [sic!] ist es eingefallen, ich soll Mehl oder Fleisch herbeischaffen; es bestand auch nie eine gesetzliche Verpflichtung dazu seitens der Gemeinde. […] Eine Pflicht der Gemeinde, für Lebensmittel zu sorgen, ist weder im Statut noch in sonst einem Gesetze begründet.40 Zwischen dem Hammer der hungernden Bürger und dem Amboss der Staatsmacht, der die Bedürfnisse der Front meist wichtiger als die Verpflegung der Zivilisten waren, konnte die Kommunalverwaltung nur verlieren. Was aus Sicht der wütenden Bittsteller freilich keine Rolle spielte. Anders gestalteten sich die Verhältnisse in Russland. In Gestalt der Semstwos strebten die städtische und ländliche Selbstverwaltung schon lange nach einer Repräsentation auf Staatsebene. Angesichts der Kriegsherausforderungen erlaubte Petersburg schon im August die Gründung des Allrussischen Semstwobundes zur Fürsorge für kranke und verwundete Soldaten und des Allrussischen Stadtbundes, die ein knappes Jahr darauf ein gemeinsames Komitee gründeten 211

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(Semgor). Damit wurde plötzlich die Selbstverwaltung zur tragenden Institution des Zarenreichs; naturgemäß verwandelte sie sich schnell in ein Forum für die Kritik an der staatlichen Administration. Zugleich entzog der Zar schon im Juli 1914 die westlichen Gouvernements in Europa der Zivilverwaltung und unterstellte das Gebiet westlich der Linie St. Petersburg–Smolensk–Dnjepr dem Militär (dessen Oberbefehlshaber er ab 1915 war). Bei Kriegsausbruch regierte die Armee damit theoretisch auf einem Gebiet, das größer als Deutschland und Österreich-Ungarn zusammen war. Die Praxis gestaltete sich unterschiedlich. In den weiten, oft schwer zugänglichen ländlichen Gebieten fehlten der Armee die Mittel zur Herrschaftsausübung, sodass das Leben eher in den alten Bahnen weiterlief. In den Städten wiederum war das Militär in Zeiten explodierender Arbeitslosigkeit, allgemeinen Mangels und großer Flüchtlingsströme mit der Verwaltung überfordert. Eine gewisse Rolle spielte sicher auch der Wunsch, sich die Loyalität der nicht russischsprachigen Untertanen zu sichern, denen die zaristischen Behörden bis dahin selbst die Illusion einer Selbstverwaltung verweigert hatten. Und so legitimierte in Warschau (der beliebteste Stadtpräsident im 19. Jahrhundert, Sokrates Starynkiewicz, war General und ausschließlich seinem russischen Vorgesetzten gegenüber verantwortlich gewesen) der Generalgouverneur innerhalb von 48 Stunden das am 1. August 1914 gegründete Bürgerkomitee (Komitet Obywatelski), das rasch zu einer Art polnischer Stadtverwaltung wurde. Es übernahm von den Staatsbehörden unter anderem die Verteilung von Lebensmitteln und die Sozialfürsorge im weitesten Sinne, es engagierte sich in der Arbeitsvermittlung und in der Gesundheitsfürsorge. Die Übertragung dieser Kompetenzen an die „Staatsbürger“, das heißt an die Zivilgesellschaft, war eine Sensation, doch längst noch nicht alles: Parallel zu den acht männlichen Sektionen des Komitees entstanden auch acht weibliche Abteilungen mit mehr oder weniger denselben Aufgaben, die zusätzlich für die Kinder- und Jugendfürsorge (von Kinderkrippen über Horte und Schulen bis hin zu Ausbildungswerkstätten) verantwortlich waren. Die Ehefrauen und Töchter ehrbarer „Staatsbürger“ betraten den öffentlichen Raum, vorerst zwar noch in klassischen weiblichen Domänen, doch schon als organisierte, eigenständige Gruppe. Das Modell des Bürgerkomitees, das vor allem aus russischen Quellen finanziert wurde (Regierungszuschüsse machten in den Jahren 1914/15 fast 70 Prozent des Haushaltes aus, weitere 17 Prozent stammten aus Mitteln des Peters­ burger Komitees der Großfürstin Tatjana41), ist aus einem weiteren Grund inte­res­sant. Anfang 1915 umfasste die Organisation das gesamte Königreich Po212

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len, es existierten über 550 Abteilungen, die vom Zentralen Bürgerkomitee in Warschau koordiniert wurden. Allein in der Hauptstadt wurden monatlich drei Millionen Mittagessen ausgegeben.42 Das bedeutete, dass die russische Staatsmacht die heikelsten Kompetenzbereiche in ihrem Hinterland an die polnischen Eliten abtrat, denen es bis 1914 jeden Ansatz von Selbstbestimmung verweigert hatte. Unter anderen politischen Umständen war eine ähnliche Erscheinung in Böhmen und Mähren zu beobachten, wo bereits Strukturen der Selbstbestimmung existierten. Auch hier übertrug der Staat bereitwillig einen Teil seiner bisherigen Kompetenzen an die mehrheitlich von Tschechen dominierte regionale Selbstverwaltung. Selbstverwaltung und gesellschaftliche Organisationen kämpften überall mit ähnlichen Schwierigkeiten. Dazu zählten der Hunger, das Problem der zumindest oberflächlichen Integration von Flüchtlingen, die wachsende Armut, der Verfall der Infrastruktur und die schwindende gesellschaftliche Disziplin. Eine Hauptursache dieser Schwierigkeiten war die Arbeitslosigkeit. Auf dem Land machte sie sich wegen des Exodus der Rekruten und dem daraus resultierenden Arbeitskräftemangel allenfalls sanft, oft aber gar nicht bemerkbar. In den Städten, zumal den modernen Industriezentren, war das Bild differenzierter. Einerseits wuchs in allen Imperien während des Kriegs die Rüstungsproduktion um ein Vielfaches, auch in Bergbau und Hüttenwesen stiegen die Beschäftigtenzahlen (wenn auch nicht unbedingt die Produktion). Am effizientesten war auf kurze Sicht der russische Staat: Russland produzierte 1916 zigfach mehr Waffen als 1913. Während der ersten beiden Kriegsjahre stieg die Industrieproduktion um 17 Prozent. Bis Ende 1916 wuchs die Beschäftigung in der Metallindustrie um 66 Prozent und in der Chemieindustrie um 14 Prozent. Deutschland hingegen verzeichnete schon 1915 einen Rückgang der Produktion auf vier Fünftel des Vorkriegsniveaus, in Österreich-Ungarn war es ähnlich.

Der Niedergang der Städte Nahezu alle nicht kriegsrelevanten Industriezweige erlebten ab 1914 einen Rückgang von vielerorts katastrophalem Ausmaß. Dabei spielten unmittelbare Kriegsereignisse wie Bombardierungen oder Gefechte (die meisten Städte waren wie gesagt offen) die geringste Rolle. Die mittelbaren Auswirkungen reichten aus: Ganz wie Bloch prophezeit hatte, schnitt der Krieg, auch wenn er weit entfernt war, die zivile Produktion von Rohstoffen und Exportmärkten ab, rief die Arbeiter und Meister an die Front und zerstörte das Fundament – den Binnen- und Finanzmarkt. 213

II  Das Hinterland

Lodz erlebte die Katastrophe der – wie man heute sagt – Deindustrialisierung schon in den ersten Kriegsmonaten. Als mächtiger Industriestandort verfügte die Stadt über ansehnliche Rohstoffvorräte. Ab August wurden die Geschäfte in bar abgewickelt, zu Recht glaubten weder Produzenten noch Zwischenhändler noch an Kredite. Nach einigen Monaten kam das von Rohstoffen, Kapital- und Absatzmärkten abgeschnittene „Manchester des Ostens“ zum Stillstand, die Tex­ til­fabriken schlossen ihre Tore. Die Einheimischen hielten es für eine vorübergehende Ausnahmesituation. Während der Kämpfe um Lodz gelangte fünf Wochen lang (angeblich) kein einziger Lebensmitteltransport in die Stadt. In den Krankenhäusern und Lazaretten lagen je nach Quelle 35 000–50 000 Verwundete. Eher zufällig – obwohl die unmittelbar Geschädigten sicher einen ­kausalen Zusammenhang sahen – fiel der endgültige Zusammenbruch der Stadt fast genau mit dem Einmarsch deutscher Truppen Anfang Dezember 1914 ­zusammen. Zugleich schnellte Ende 1914 die Anzahl der Arbeitslosen in die H ­ öhe. Ein halbes Jahr später sollte sie den Stand von 250 000 Männern und Frauen erreichen. Lodz litt lange unter den Kriegsfolgen. Die Einwohnerzahl des Jahres 1913 erreichte die Stadt erst wieder gut fünfzehn Jahre später. In anderen Städten verlief das Industriesterben langsamer, doch die Auswirkungen waren nicht minder katastrophal. Im Industriebezirk Warschau arbeiteten beim Einmarsch der deutschen Truppen im Vergleich nur noch halb so viele Arbeiter wie ein Jahr zuvor. Der Zugang zum Rigaer Hafen wurde schon im Oktober 1914 vermint und mit dem Hafen verlor die Stadt einen wichtigen Arbeitgeber. Ein Jahr später war die Anzahl der Industriebeschäftigten um ein Drittel gesunken. Die wahre Katastrophe ereignete sich im Sommer 1915, als die wichtigsten Produktionsmittel wie auch die Arbeiter aus der Stadt abtransportiert wurden. Den anderen Ostseestädten erging es kaum besser. Im vom Krieg kaum bedrohten Königsberg sank der Seehandel 1917 im Import auf zwölf und im Export auf fünf Prozent des Vorkriegsniveaus. Das preußische Elbing, das sich zu keinem Zeitpunkt in Frontnähe befand, wurde 1915 von einem einzigen beladenen Hochseefrachter angelaufen (1913 fertigte der Hafen 93 Schiffe ab). Der wirtschaftliche Niedergang beeinflusste die Löhne und den Lebensstandard selbst in Regionen, in denen relativ viele Fabriken kriegswichtige Güter produzierten: In Böhmen und Mähren betrugen die Reallöhne der Arbeiter schon 1915 nur noch ca. drei Fünftel des Vorkriegsniveaus. Einen Lichtblick in der Misere der ostmitteleuropäischen Städte boten bis 1917 die Industriezentren des Großfürstentums Finnland. Dort war die Arbeitslosigkeit im Sommer 1914 nur zeitweilig angestiegen. Finnland war führend im Ein214

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werben von staatlichen Aufträgen zur Herstellung von Waffen und strategischen Produkten. Das Land nutzte seine geografische Lage. Es lag ausreichend entfernt von der Front und zugleich in unmittelbarer Nachbarschaft zur nimmersatten Hauptstadt des Zarenreichs, Sankt Petersburg, das bald in Petrograd umbenannt werden sollte. Der Wert der ins russische Kernland gelieferten Waren stieg 1915 um mehr als das Zweifache und 1916 noch einmal um 100 Prozent. Neben der Waffenproduktion exportierte Finnland Waren nach Schweden. Auch die traditionellen Zweige der finnischen Industrie prosperierten. Bis 1917 wurden so gut wie alle russischen Zeitungen auf Papier aus Finnland gedruckt. Der wirtschaftliche Zusammenbruch erfolgte erst mit der Ankündigung der Unabhängigkeit.43 Die Bewohner des Hinterlandes erlebten ständig neue Überraschungen. Die erste waren die Scharen von – mit Ausnahme des Deutschen Reichs meist ­eth­nisch fremden – Flüchtlingen, die als Mitbürger Kost und Logis forderten. Weitere Spannungen resultierten aus der Verschlechterung der Beschäftigungslage an den bisherigen Arbeitsplätzen, dem Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung und der wachsenden Zukunftsungewissheit. Unerwartet kamen auch die ebenfalls realen Konflikte im eigenen Haus: Die bisher gehorsame Dienerschaft begann plötzlich zu klagen und Ansprüche zu stellen. Heimlich wurden Anzeigen gegen die Arbeitgeber geschrieben; inwieweit es sich um ein allge­meines Phänomen handelte und ob dabei eher persönliche Motive oder der Klassenkampf ausschlaggebend waren, werden wir nie erfahren. Jedenfalls hatte die Blüte des Denunziantentums keinesfalls nur – wie im schon erwähnten Riga – ethnische Gründe. Die Polizei nutzte ohnehin wohl lieber die traditionellen Informationsquel­len wie Hauswarte oder deren Frauen, die glaubwürdiger als Anzeigen von Bediensteten oder Nachbarn waren. Diese wurden mit der Zeit zu einer wahren Plage für die Verwaltung, die mit dem Abarbeiten schlicht nicht mehr hinterherkam. Im Kurjer Lwowski erschien im Juni 1915, fünf Tage nach der Rückholung Lembergs in den Schoß der k. u. k. Monarchie, als es vor allem um die Loyalität der Ukrainer ging, die Paraphrase eines Befehls, in dem Erzherzog Friedrich mahnte, es sei 1. […] unbedingt falsch, jeden Ruthenen für einen Verräter zu halten. 2. Ebenso ungerechtfertigt ist es, alle Verhafteten für Verräter zu halten, denn viele von ihnen wurden aufgrund von falschen Beschuldigungen verhaftet. 3. Die falschen Beschuldigungen werden aufhören, wenn mit dem Verhafteten auch (sofern dies möglich ist) der Beschuldigende festgenommen wird.44 Wir wissen nicht, ob das Denunziantentum auf dem Land ebenso blühte wie in den Städten. 215

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Wandel auf dem Land: vom Bauern zum Herrn Zugleich offenbarten sich weitere Unterschiede zwischen Stadt und Land, die ­zumindest für die Dauer des Kriegs die zivilisatorische Überlegenheit der Ersteren aufhoben. Die Preise für Lebensmittel stiegen schneller als alle anderen. „Heutzutage ist der Bauer Gott […], nie ging es uns so gut wie in diesem Krieg“, verkündete in einem böhmischen Wirtshaus eine Bäuerin, während sie demonstrativ ein gebratenes Huhn und Weißbrot auspackte.45 Der bereits zitierte Krakauer Feuilletonist notierte ein anderes, die böhmische Wirtshausszene ergänzendes Bild: Wenn man morgens in die Stadt geht, sieht man in fast allen Straßen Bauern­ fuhrwerke mit Milch und Gemüse, die fast ausnahmslos von Frauen gelenkt werden. Selbst auf den Böcken der speziellen Flachwagen, die Milch von den Gutshöfen und größeren Gehöften der Umgebung in die Stadt bringen, sitzen mit der Peitsche in der Hand die Frauen der Stallknechte, die zum Armeedienst eingezogen wurden. Geht man an Markttagen über die für den Aufenthalt der Hiesigen vorgesehenen Plätze, sieht man nur hier und da Buben oder ältere Bauern; alles wird von den Frauen gelenkt, die ihr Geschäft schon ausgezeichnet beherrschen.46 Der Einzug der Bäuerinnen in die Stadt war ein Symptom des parallelen Aufstiegs des Dorfs und der Frauen. Immer häufiger sah man sie „mit einer Ziga­rette im Mund“47, damals ein Beleg für die Gleichberechtigung. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Übernahme einer aktiven, öffentlich sichtbaren Berufsrolle durch die Frauen den Widerstand der Zeitgenossen hervorgerufen hätte. Gegen die plötzliche Überlegenheit des Dorfs über die Stadt hingegen regte sich zahlreicher Protest. Das Gespenst der satten Dörfler, die zu Spottpreisen Möbel, Klaviere und andere bürgerliche Accessoires kauften, ging im gesamten Hinterland um. Der Gast einer Teestunde an der einstigen deutsch-russischen Grenze räsonierte: „[…] während wir Intelligenzler allesamt auf den Hund kommen, wird der Bauer zum Herrn. Wer trinkt heute Sekt? Der Bauer. Wer raucht teure Zigarren? Der Bauer. Kürzlich las ich sogar, dass eine Dörflerin ihren Mann, der in Warschau im Krankenhaus gestorben war, mit großem Pomp begraben ließ.“ Die Intelligenzler trauten ihren Augen und Ohren nicht, doch als fortschrittliche Geister betrachteten sie den materiellen Aufstieg des Dorfes nicht nur als Spiegelbild des eigenen Abstiegs, sondern als gutes Zeichen für die Zukunft: Dass die polnische Bauernschaft reicher wird, ist keine Plage, die der Zukunft unsers Landes schaden würde. Der Wohlstand wird unsere Bauern nämlich 216

Das Hinterland oder Im Rücken der Front

kulturell und wirtschaftlich emporheben. […] Schlimmer ist die städtische Spekulation, die wie ein bösartiger Krebs den sozialen Organismus unserer Großstädte zerfrisst, zur allgemeinen Demoralisierung beiträgt und die Schicht jener städtischen Angestellten plagt, deren Einkommen exakt durch Monatslöhne bestimmt wird, also etwa Lehrer, Beamter, Angestellte in Industrie und Handel usw.48 In solchen Äußerungen schwang viel Sympathie für das Volk mit, doch verbarg sich dahinter auch ein gewisses politisches Kalkül. Der Prozess der Ethnisierung verlangte, dass man in den unteren sozialen Schichten ein Nationalbewusstsein weckte. Der Konflikt zwischen Stadt und Land nutzte den Nationalaktivisten nur, wenn eines von beiden ethnisch fremd war. Niemand wollte etwa Spannungen zwischen böhmischen Bauern und böhmischen Stadtbürgern schüren. Das war der politische Hintergrund der vor allem auf böhmischem Boden aktiven Initiativen zur Annäherung von Stadt- und Landbevölkerung: Bildungsaktionen für Dorfleute, organisierte Ausflüge nach Prag und in andere größere Städte, Ferienlager für Landkinder. Umgekehrt beweisen diese Anstrengungen zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Stadt und Land, dass es ein Problem gab und dass die Frustration der hungernden Städter nicht einfach mit ethnischen Kategorien erklärt werden kann. In Wien herrschte eine vergleichbare Stimmung: Die Bewohner der Hauptstadt sahen die Verantwortung für den Hunger bei der vermeintlich unfähigen Stadtverwaltung, den in der Stadt kasernierten Flüchtlingen aus Galizien und der Bukowina, den verräterischen Ungarn, die keine Lebensmittel mehr lieferten, sowie – keineswegs zuletzt – bei den niederösterreichischen Landsleuten aus dem Umland, die sich ihre Produkte immer teurer bezahlen ließen. Am meisten hassten sie freilich die Spekulanten aus ihrer Nachbarschaft. Die dörflichen Regionen im Hinterland litten vergleichsweise wenig unter dem Krieg, was nicht heißt, dass es den Landarbeitern nun besser gegangen wäre. Den lebensmittelproduzierenden Bauern hingegen ersetzten wohl überall Markt- und Schwarzmarktgewinne die durch Ernteausfälle verursachten Verlus­ te. Joseph Held konstatiert, auf dem ungarischen Land habe man erst 1917 wütendes Murren vernehmen können, insgesamt aber habe man die „Fassade der Normalität“ bis zum Kriegsende aufrechterhalten.49 Ähnlich – was noch mehr überrascht – bewerten Historiker die Stimmung im russischen ländlichen Raum. Bis 1917 seien die Mühen (aber auch die Freuden) des Alltags für die Bauern wichtiger gewesen als der Krieg: Ernten, Hochzeiten und die Feldarbeit hätten 217

II  Das Hinterland

für die Bauern selbst im Revolutionsjahr größere Bedeutung gehabt als das ­jenseits ihrer Lebenswelt ablaufende Kriegsgeschehen.50 Dies mag auf den ersten Blick paradox anmuten, doch scheint die damals in einer Zeitung zu lesende Erklärung der wachsenden Gegensätze zwischen Stadt und Land nicht ganz falsch: Fleisch und Fett „GIBT ES AUF DEM LAND GENUG“, doch die Bauern wollten nicht verkaufen. Man müsse den „Polnischen Verband der Rinder- und Schweinehändler“ einschalten, Mittler, deren Gesichter und Namen den B ­ auern bekannt waren, man müsse „die Psychologie des polnischen Bauern ansprechen, der keine Einschränkung und keinen Zwang erträgt und der lieber an seinen früheren Abnehmer verkauft (wenngleich nun illegal) als einem amtlichen Agenten, der mit Unterschriften ausgestattet ist und in Begleitung eines Gendarmen agiert“.51 Aus dieser Bewertung spricht einiger Optimismus, eine leicht gezwungene nationale Solidarität und vielleicht sogar eine gewisse I­ dealisierung des Landlebens, doch sie verweist auf den schwächsten Punkt des Versorgungssystems in Kriegszeiten: Der Zwang ersetzte schnell und brutal einen Markt, auf dem das Vertrauen in den Geschäftspartner die Grundlage des Handels bildete. Abgesehen von den Gegenden, die unter Besatzung gerieten, überstand das mittel- und südosteuropäische Dorf die Jahre 1914–16 offensichtlich einiger­ma­ ßen ruhig. Gewalttätige Ausbrüche gab es erst im Jahr der russischen Revolutionen, wiewohl nicht unbedingt als deren unmittelbare Folge. Die Folgen der Ethnisierung bleiben so gut wie unsichtbar – abgesehen von der Stigmatisierung der Juden, die aber eher in den Städten und Kleinstädten stattfand. Und natürlich abgesehen von den ideologischen Deklarationen nationalbewusster Intelligenzler. Auf dem Land sind keine ethnisch bedingten Trennlinien zu erkennen. Die böhmische Bäuerin im Wirtshaus versetzte ihre Landsleute in Rage. Die Wiener fühlten sich von den Ungarn betrogen, doch nicht minderen Groll hegten sie gegen die Bauern aus der Umgebung. Die slowakischen Bauern erhoben sich nicht gegen den König in Budapest, die lettischen Bauern taten sich in der zaristischen Armee hervor. Die Ruthenen/Ukrainer wurden von den jeweiligen Militärbehör­ den verfolgt, nicht von ihren Nachbarn. Die polnischen Bauern in den Ostprovinzen des Deutschen Reichs oder in Galizien dachten nicht daran, sich anders zu verhalten als ihre Nachbarn. Am wenigsten wissen wir über die böhmischen und mährischen Bauern, doch auch hier siegte die Nationalität erst sehr viel später über die staatsbürgerliche Loyalität.

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Kapitel 2 Informationshunger Der Spionagewahn, der die Regierungen aller kriegführenden Mächte erfasste, gründete auf der Überzeugung, bestimmte Gruppen von Zivilisten hätten Zugang zu Geheiminformationen, die sie bereitwillig dem Feind übermittelten. Dies mochte in wenigen Fällen zutreffen, der Generalverdacht gegen die gesamte Zivilbevölkerung oder selbst gegen gewisse Teile war absurd. In allen am Krieg beteiligten Staaten lechzte die Bevölkerung geradezu nach aktuellen Nachrichten. Zivilisten besaßen in der Regel keine kriegsrelevanten Informationen, die sie an den Feind hätten weitergeben können, sondern versuchten im Gegenteil verzweifelt, ihre Neugier zu stillen. Davon zeugen die immense Popularität der Zeitungen, der sogenannte Kriegstourismus und die unzähligen Gerüchte. Auch relativ neue Medien – Kino und modernes Museumswesen – wurden zu Informations- und Propagandazwecken genutzt.

Die Presse Das Verhältnis von Krieg und Medien unterliegt bekanntlich einfachen Gesetzen. Erstes Opfer des Kriegs ist die Wahrheit, erster Sieger die Auflage. So auch in diesem Fall. Die Metamorphose der europäischen Presse war umso augenfälliger, als sie quasi über Nacht erfolgte. Der Krieg, den doch so viele erwartet hatten, überraschte die Redaktionen, die sich mehr mit anderen Problemen befasst hatten als mit der eskalierenden diplomatischen Krise. So hatte in Russland die Nachricht vom Attentat in Sarajevo anfangs keine größeren Reaktionen ausgelöst. Die Presse interessierte sich mehr für die Streikwelle, die im Sommer 1914 durch das Zarenreich rollte. Umso heftiger war die Erschütterung des Augusts. Mit Beginn der Kampfhandlungen waren die Zeitungen nicht mehr wiederzuerkennen. Vor allem wurden es deutlich mehr. In kürzester Zeit stieg die Anzahl der Ausgaben, es erschienen Sonderbeilagen, Abend- und sogar Nachmittagsausgaben. Trotz der Einschränkungen durch die Zensur, dem „Kassieren“ ein219

II  Das Hinterland

zelner Artikel oder mitunter ganzer Nummern, waren es goldene Zeiten für die Presse. Während des Kriegs wuchs die Anzahl der nicht von traditionellen Verlagen, sondern von Pressekonzernen publizierten Bücher und Broschüren rasant. Das Informationsbedürfnis war so groß, dass ein völlig neuer Typ von Kriminalität auftauchte: Findige Zeitungsverkäufer verkauften den Kunden alte Zeitungen als neue. Angesichts dieser erstaunlichen Dynamik im Medienbereich bringt die Lektüre der Zeitungen aus den ersten Kriegswochen eine gewisse Enttäuschung. Die Ähnlichkeit der Berichterstattung erweckt den Eindruck, die Redaktionen der verfeindeten Staaten hätten alle dasselbe Muster benutzt. Nach der Kappung des Überseekabels war die Presse der Mittelmächte von den internationalen Telegrafendiensten abgeschnitten und für Nachrichten aus der Welt auf die Zeitun­ gen und Magazine der neutralen Staaten angewiesen. Glücklicherweise interessierten sich die Leser aber ohnehin am meisten für Meldungen von der Front und aus dem Inland. Die Tageszeitungen waren zunächst voll von Berichten über ­patriotische Kundgebungen, Verabschiedungen der an die Front ausrückenden Einheiten sowie Meldungen über Kämpfe und Truppenbewegungen. Später kamen Listen internierter Landsleute und Informationen für durch die Front getrennte Familien hinzu. Von besonderer Bedeutung für die Leser in der Etappe waren die in der Lokalpresse veröffentlichten Verlustlisten. Aleksander ­Majkow­­ski erinnert sich an die Scharen von Reservisten, die sich täglich vor der Culmer Zeitung versammelten, wo man diese Listen noch vor Erscheinen des Blattes lesen konnte. Identische Szenen spielten sich in Hunderten anderer Städte ab. Auch Inserate und Reklame entsprachen den Bedürfnissen des Moments. Die Leser wurden zum Kauf von Dingen ermuntert, die den Verwandten an der Front nützlich sein konnten: Zigaretten, Presseabonnements, Bücher in „Schützengrabeneditionen“, Medikamente. Einige österreichisch-ungarische Firmen offerierten neuartige Lebensversicherungen, die Gesundheitsschäden an der Front einschlossen. Die Mischung aus nüchternen und sachlichen Mitteilungen und hurrapatriotischen Erklärungen stillte aber nicht den Appetit der Leserschaft. Die Menschen wollten wissen, was wirklich geschah. Die Frontberichte waren so formuliert, dass sie keine Militärgeheimnisse verrieten. Der Zugang zur westeuropäischen Presse war praktisch unmöglich. In Russland existierte er zwar, doch die von den russischen Zeitungen übermittelten Informationen waren selektiv, von der Zensur bearbeitet und vor allem nicht aktuell. Manche Leser perfektionierten daher die Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Der Geistliche Józef Rokoszny ver220

Informationshunger

merkte am Vorabend der Einnahme Warschaus durch die Deutschen: „In Warschau muss Panik herrschen, denn alle Zeitungen rufen zur Ruhe auf.“ 1 Ein Meister auf diesem Gebiet war Majkowski. In den Tagen des Zusammenbruchs der ersten österreichisch-ungarischen Invasion in Serbien kommentierte er: „Vom österreichisch-ungarischen Kriegsschauplatz kommen nicht die geringsten Nachrichten. Ich schließe daraus, dass es beim deutschen Bündnispartner nicht gut läuft.“2 In der Zeit, als eine weitere Offensive des Feldmarschalls Potiorek und der Versuch der Befreiung Przemyśls scheiterten, notierte er: Es fällt allgemein auf, dass bei der Beflaggung der Städte und dem großen Pressejubel über den Sieg nichts von konkreten Eroberungen zu hören war. Früher hätte man Gefangene und erbeutetes Kriegsgerät gezählt und ange­ geben, wohin sich der Feind zurückzog. Der ganze Jubel wirkt künstlich. Vielleicht soll er eine Niederlage an anderer Stelle überdecken. Geht es am Ende um Przemyśl?3 Das Lesen zwischen den Zeilen war zwar intellektuell anregend, doch auf die Dauer anstrengend. Man suchte also nach alternativen Informationsquellen. In Frontnähe waren es meist die Zeitungen des Gegners. In den Erinnerungen von Einwohnern des Königreichs Polen werden oft Kriegsmeldungen aus der galizischen Nowa Reforma, der Wiener Neuen Freien Presse und sogar der deutschen Kattowitzer Zeitung erwähnt. Die Galizier wiederum lasen mit großem Interesse die im russisch besetzten Lemberg erscheinenden Zeitungen Słowo Polskie, Wiek Nowy, Gazeta Wieczorna oder Gazeta Narodowa. Nachdem das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn Besatzungszonen im ­Königreich Polen eingerichtet hatten, griffen wissbegierige Leser regelmäßig zu Titeln aus den anderen Teilungsgebieten. Im österreichisch-ungarischen Besatzungsgebiet war etwa das Posener Blatt Dziennik Poznański sehr beliebt. Die Bürger der Mittelmächte hatten zwar keinen Zugang zur französischen oder britischen Presse, doch sie konnten Zeitschriften aus neutralen Staaten abonnieren. In Deutschland und Österreich-Ungarn erreichte die Neue Zürcher Zeitung große Popularität, sie wurde auch von Polen deutscher Staatsangehörigkeit gekauft. Die Behörden fürchteten, zumal in als unsicher geltenden Gebieten wie Kongresspolen, Galizien oder Serbien, den unerwünschten Zufluss von Zeitungen. Deshalb war in den besetzten Gebieten die Pressekontrolle besonders restriktiv, auch wenn schon mit Kriegsbeginn überall die Zensur eingeführt worden war. Sowohl im Inland als auch in den besetzten Gebieten konzentrierte sie sich auf die Wahrung kriegsrelevanter Militärgeheimnisse sowie auf die Vorbeugung ge221

II  Das Hinterland

gen jegliche Form von „Defätismus“ in der Zivilbevölkerung. In der Praxis hing viel von der Person des Zensors und den lokalen Umständen ab. In Deutschland half die Presse in der Regel bereitwillig mit, die Kriegsbegeisterung hochzuhalten, weshalb keine besondere Notwendigkeit zur Disziplinierung von Journalisten bestand. Wenn die Zensur eingriff, dann meist im Verborgenen. Die weißen Flecken, wie sie in österreichischen Zeitungen oft vorkamen, waren in Deutschland weitaus seltener zu sehen. Besonders deutlich wurden die Unterschiede in der Politik der beiden Verbündeten in einem für die Donaumonarchie kritischen Moment: Als während der Brussilow-Offensive die völlige Zerschlagung der k. u. k. Armee drohte, stoppten die österreichisch-ungarischen Besatzer in Kongresspolen den Vertrieb aller Zeitungen aus dem Deutschen Reich. Die deutschen Journalisten informierten sehr viel öfter, umfassender und objektiver über Misserfolge der Habsburgermonarchie als über die Niederlagen der eigenen Armee. Interessanterweise gab es auch deutliche Unterschiede zwischen österreichischer und ungarischer Presse. In den ersten zwei, drei Kriegsjahren war der Ton der ungarischen Berichte von der Front im Vergleich zur deutschsprachigen Presse ruhig und sachlich. Der Feind wurde nicht dämonisiert und, mehr noch, man berichtete offen über deutsche und österreichisch-ungarische Niederlagen und über die sich verschärfende Krise im Hinterland.4 Ungarische Journalisten schrieben mitfühlend über die schrecklichen Folgen und vor allem die zivilen Opfer der deutschen Luftangriffe auf Großbritannien. Das war weniger Ausdruck eines spezifischen ungarischen Liberalismus als vielmehr Folge einer Verflechtung anderer Faktoren, von denen drei besonders relevant scheinen. Erstens konzentrierten sich die ungarischen Behörden auch während des Kriegs darauf, die wachsende soziale Unzufriedenheit im Zaum zu halten. ­Anders als in Österreich galt in Transleithanien vor dem Krieg noch ein undemokratisches Wahlrecht, das nicht nur die nichtmagyarischen Minderheiten, sondern auch die unteren Schichten der dominierenden Volksgruppe ausschloss. Zweitens betonte Ungarn auch während des Kriegs deutlich seine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Österreich – eine eigene Informationspolitik war dazu hervorragend geeignet. Und drittens erforderte die innere Situation Transleithaniens keine Verschärfung der Pressekontrolle. Es tobte zwar ein Krieg, in dem auch Ungarn starben, doch das Land profitierte wirtschaftlich und die Versorgungslage war weit besser als in Österreich. In der schwierigsten Lage war die Presse in den besetzten Gebieten. Hier hatten die Zensoren eindeutig weniger Sinn für Humor als in den Metropolen. Während satirische Zeitschriften in Städten wie Berlin, Wien, Prag, Budapest, Mos222

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kau und Petrograd mitunter als Sicherheitsventil gesehen wurden und etwa Versorgungsprobleme, innenpolitische Verhältnisse oder auch kriegsbedingte Missstände kritisieren durften, gab es diese Freiheiten in Warschau nicht. Anschauliches Beispiel dafür ist der Umgang mit Witzen in drei verschiedenen Zeitungen. 1916 nahmen die Redaktionen von Humoristické Listy, Nowyj Satirikon und Mucha ungefähr zeitgleich die Probleme der Kriegswirtschaft aufs Korn. In der russischen Zeitschrift erlaubte die Zensur den Witz von einer Frau, deren Schwangerschaft immer weiter voranschreitet. Auf die Frage, ob sie nicht die Reaktion ihres Mannes fürchte, wenn dieser zurückkomme, antwortet sie: „Er wird nichts davon erfahren; wenn er zurückkommt, wird schon alles vorbei sein. Ich habe ihn Zucker holen geschickt.“5 In Prag fragte Humoristické Listy, warum die Schuhe so teuer seien, und antwortete: „Der Papierpreis ist schon wieder gestiegen.“6 In Warschau wurde unterdessen die Zeitschrift Mucha geschlossen – angeblich wegen eines Witzes über eine Metallsammelaktion. Laut Anordnung des Generalgouverneurs sollten die Warschauer unter Androhung hoher Strafen Kugeln, Ketten, Schilder, Treppenstangen, Kleiderständer, Wasserhähne, Rohre, Rinnen und Klinken bei den Behörden abliefern. Mucha erlaubte sich die scherzhafte Frage: „Was macht man, wenn man aus dem Haus geht? Man greift nach der Klinke!“ 7 Die Pressepolitik der Deutschen in Warschau war beileibe nicht das Schlimms­ te, was Journalisten widerfahren konnte. Teilweise beschränkten oder liquidierten die Besatzungsmächte bewusst den gesamten Pressemarkt in den okku­pier­ten Gebieten. Nach der endgültigen Einnahme Belgrads ließen die öster­reichischungarischen Behörden alle serbischen Zeitungen schließen. Ein halbes Jahr lang erschienen nur die Belgrader Nachrichten, danach dann auch die serbokroatische Version Beogradske Novine. Das Blatt, das amtliche Bekanntmachungen, Kleinanzeigen und Annoncen von Menschen auf der Suche nach ver­missten Familienangehörigen enthielt, erreichte in den beiden Sprachfas­sungen eine Gesamtauflage von 150 000 Exemplaren. Die Zulassung anderer Zeitungen in Belgrad erwog man erst kurz vor Kriegsende. Die russische Besatzung in Ostgalizien hatte, obwohl sie nicht lange währte, für die ukrainischsprachige Presse noch katastrophalere Auswirkungen. Die wichtigste Tageszeitung Dilo wurde gleich nach der Einnahme Lembergs verboten. Von der Zulassung anderer Zeitungen war keine Rede, weil nach der offiziellen russischen Doktrin das Ukrainische k ­ eine Existenzberechtigung hatte. Die „Kleinrussen“ galten als russischer „Stamm“ und sollten die russische Presse lesen. Auf mittlere Sicht unterlag die russische 223

II  Das Hinterland

Nationalitätenpolitik im Kampf mit der ukrainischen Kultur Galiziens. Wie man aus der Erinnerungsliteratur herauslesen kann, wurde für viele Militärs aus dem russischen Teil der Ukraine der Aufenthalt im besetzten Lemberg zum Wendepunkt. Im Kontakt mit der Literatur und dem gut entwickelten, wenn auch zeitweilig stark eingeschränkten ukrainischen Kulturleben in Galizien entdeckten sie ihre ukrainische Identität neu. Unterdessen wurden freilich ukrainische Redaktionen, Buchläden, Vereine, Bibliotheken und Schulen geschlossen. Etwas anders gestaltete sich die russische Politik gegenüber der polnischen Presse in Lemberg. Man ließ sie erscheinen, unterzog sie aber einer strengen, wiewohl wenig konsequenten Zensur (die Zensoren wechselten alle paar ­Wochen). Diese war allerdings nicht das größte Problem der Berufsjournalisten. Józef Białynia Chołodecki schildert den Beginn eines neuen Kapitels in der ­Geschichte der Lemberger Tagespresse: Die […] polnischen Tageszeitungen mussten von einem Tag auf den anderen ihren Umfang reduzieren, nicht nur wegen der Probleme und Kosten bei der Herausgabe, sondern auch wegen des Mangels an Material und aktuellen Themen. Quelle aller Neuigkeiten war vorläufig das Rathaus, es gab Anzei­ chen alltäglichen Lebens in der Stadt, ihre neuen Herren waren­unter Kanonendonner frisch eingezogen. Um den Lesern wenigstens rudimentäre Nachrichten über den Kriegsverlauf bieten zu können, griffen die Zeitungen zu verschiedenen Mitteln, privaten Informationen russischer Offiziere und Interviews mit ausgewählten Persönlichkeiten. Bald bezogen die Lemberger Blätter ihre Informationen zum Geschehen außerhalb der Stadt aus russischen Tageszeitungen und Zeitschriften, die den Redakteuren von höherrangigen Offizieren oder – natürlich nicht uneigennützig – ihren Ordonanzen ­gezeigt oder nach der Lektüre überlassen wurden. Man kaufte auch Hotel­ bedienste­ten jegliche Art von Druckerzeugnis ab, das von einzelnen Offizieren als unnütz zurückgelassen worden war. Manchmal gelang es auch, während des Wartens im Zensurbüro ein paar Meldungen aus russischen Zeitungen durchzusehen oder abzuschreiben. Ab Anfang Oktober tauchten Tageszei­ tungen aus Russland auf. Ein findiger Itzig hatte sie aufgetan und ließ sie gegen ein saftiges Entgelt von Jungen herumtragen. Auf ähnliche Weise erschienen auch Wiener Titel, für deren Lektüre der Besitzer jeweils eine oder zwei Kronen verlangte …8 Die Vermittlung von Information war also nicht nur ein Feld behördlicher Re­ gulierung, sondern auch ein Geschäft. Leser wie Journalisten gierten nach fri224

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schen Neuigkeiten. Der Krieg bewirkte einen deutlichen Anstieg der Anzahl der Zeitungsleser, außerdem beschleunigte er ihre visuelle Entwicklung. Das zeigt die Durchsicht der beliebten Illustrierten, die ausschließlich dem Geschehen an der Front gewidmet waren. Zu ihnen gehörte das Budapester Wochenmagazin A világháború képes krónikája (Illustrierte Weltkriegschronik). In den Aus­ gaben von 1914 dominieren noch die Zeichner. Nach einigen Monaten steigt ­kontinuierlich die Anzahl der abgedruckten Fotografien, die schon 1915 das ­Magazin dominieren. Der Grafiker wird nur dort aktiv, wo die Redaktion keinen Zugang zu fotografischem Material hat. Mit der Bildsprache verändert sich auch der Charakter der vermittelten Informationen. Die bunten Heldengeschichten weichen nach und nach konkreten Angaben, nach denen das Publikum verlangt.

Schaulustige und Gerüchte Die Menschen suchten auch auf eigene Faust nach Informationen. In Orten unweit der Schlachtfelder kam ein neues Phänomen auf: der Kriegstourismus. Im Herbst 1914 wurden die deutschen Truppen vor Warschau zurückgeschlagen. Gefechte mit den Russen gab es unter anderem in Brwinów, das von Warschau aus mit der Schmalspurbahn zu erreichen war. Das nutzten Hobbyisten, die Kriegssouvenirs sammelten – Geschosshülsen, Knöpfe, Bajonette und Pickelhauben –, aber auch Leichenfledderer, die gefallene Soldaten ausplünderten. Nebeneffekt dieser Interessen war ein veränderter Blick auf den Krieg. Der bekannte Warschauer Literaturkritiker Cezary Jellenta, der ebenfalls einen Ausflug nach Brwinów unternahm, war überrascht von der „Weite“ des Schlachtfelds im Vergleich zur „Dichte“ (der Intensität) der Schilderungen der Kämpfe in der Presse. Was er mit eigenen Augen sah, war weniger imposant als die Frontberichte der russischen Zeitungen.9 Neugier leitete auch die Tausenden Schaulustigen, die das Kriegsgeschehen aus der Nähe beobachteten. Einfache Warnungen nutzten nichts, erst solider Artille­riebeschuss brachte die Zuschauer dazu, sich an sichere Orte zurückzuziehen. Weder in Belgrad, das von den ersten Kriegstagen an vom österreichisch-­ ungarischen Save-Ufer aus beschossen wurde, noch in Gorlice in den ersten ­Tagen der deutschen Maioffensive gab es Schaulustige. In großer Anzahl sah man sie hingegen in den aus der Luft bombardierten Städten, etwa im Frühjahr 1915 in Warschau: Das Café Niespodzianka auf der Terrasse im achten Stock des Hauses am Rondo Mokotowskie [heute Plac Unii Lubelskiej] war immer voll. Abends spähte man nach den Blitzen der Kanonenschüsse und am Tag hätte man den 225

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Bulgarischer Pilot vor seinem Flugzeug, einer Albatros B. I aus deutscher Produktion (1916).

Piloten der relativ niedrig vorüberfliegenden Flugzeuge fast eine Tasse Kaffee anbieten können.10 Die Luftangriffe waren natürlich längst nicht so zerstörerisch wie einige Jahrzehnte später. Im Sommer 1915 fiel im Lauf eines Tages gerade einmal eine Handvoll Bomben auf Warschau oder, etwas später, auf Bukarest. Alle wussten, wo sie einschlugen, zumal, wenn es sich um einen so bekannten und frequentierten Ort wie das Café Cristal an der Ecke Aleje Jerozolimskie und Ulica Bracka handelte, in dessen Nähe es im Januar 1915 zu einer Detonation kam. Die Todesopfer dieser Angriffe waren meist Schaulustige, die das herannahende Flugzeug beobachteten. Die schnelle russische Evakuierung und der Einmarsch der Deutschen im August desselben Jahres weckten ebenfalls ungeheure Neugier. Stanisław Dzierzbicki hielt fest: „In den Straßen von Warschau gibt es rund 150 Verletzte und einige von verirrten Kugeln getroffene Tote. Das schreckt aber das neugierige und erlebnishungrige Warschauer Publikum nicht ab.“11 Ganz anders reagierten die wenigen in der Stadt verbliebenen Einwohner Belgrads. Die einrückenden Deutschen marschierten durch leere Straßen. Nur vereinzelt begegneten sie ausgezehrten, in schwarze Tücher gehüllten Frauen.12 226

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Weder der Kriegstourismus noch die Schwärme der Schaulustigen bildeten eine echte Konkurrenz für die sich dynamisch entwickelnde Presse. Anders war es mit Gerüchten, die auch dorthin gelangten, wo es keine Zeitungen gab. An dieser Kommunikationsgemeinschaft beteiligten sich eigentlich alle, Zivilisten wie Militärs, selbst die Regierungen der kriegführenden Staaten. Wie immer basierten die Gerüchte auf Fakten, die aber verdreht und aufgebauscht wurden und damit einen völlig neuen Sinn erhielten. So wurden aufgrund von ungeprüften Gerüchten tschechische Regimenter des Staatsverrats oder ukrainische Bauern der Informationsübermittlung über geheime Telefonverbindungen an – je nachdem – Russen oder Österreicher beschuldigt. Die Wirkung solcher Informationen war mitunter enorm. Die Kunde von dem tschechischen Regiment, das geschlossen und unter Musikbegleitung auf die russische Seite übergelaufen sei, wurde von „Augenzeugen“ weitergetragen und ging durch die ganze k. u. k. Monarchie. Sie erwies sich überdies als beständig: Noch bis vor Kurzem nahmen auch Historiker sie für bare Münze. Dass in Wirklichkeit nichts dergleichen geschehen war, spielte kaum eine Rolle. Ebenso üppig blühten die Schauergeschichten über die Grausamkeit der Kriegsparteien. Interessanterweise bedauerte man in Russland weniger das Schicksal der eigenen Untertanen, sondern vielmehr die unglücklichen belgischen Kinder, denen die Preußen angeblich die Hände abschnitten. Im belagerten Przemyśl vermerkte im September 1914 sogar die ansonsten sehr bodenständige Helena Seifert-Jabłońska entsetzt: „Damit bestätigte sich das Gerücht, dass in der Jackentasche eines gefangen genommenen Moskowiters zehn Augen gefunden wurden.“13 Die Topoi des Verrats in den eigenen Reihen und der Brutalität der Feinde waren im inoffiziellen wie im offiziellen Informationsumlauf präsent. Die Menschen wiederholten und modifizierten die Hervorbringungen der Kriegspropa­ ganda. Den Regierungen konnten das nur recht sein. Wenn sich allgemein die Überzeugung festigte, der Gegner morde und foltere Kriegsgefangene, sank die Lust, die Waffen niederzulegen. Die gekonnt geschürte Angst stärkte die Armee und die Zivilbevölkerung. Das war wichtig, zumal in unmittelbarer Frontnähe. Eine belagerte Festung wie Przemyśl war ein ideales Laboratorium für die Funktionsweise von Gerüchten. Auch die russischen Beamten bewiesen einiges Geschick, indem sie den Bauern der Gouvernements Radom und Kielce einredeten, Ziel der anrückenden Österreicher sei die Wiedereinführung der Leibeigenschaft oder ein weiterer polnischer Aufstand. Allerdings war das Gerücht eine zweischneidige Waffe. Der „Defätismus“ und die „Verbreitung ungeprüfter Nachrichten“, für die mancher Zivilist am Gal227

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gen landete, waren letztlich nichts anderes als Gerüchte, die von der Obrigkeit nicht goutiert wurden. In diesem Fall erwiesen sich Repressionen als wirkungsloses Mittel. Zu gern wiederholte man die fantastischen Berichte über die Stärke des Feindes, über die unerhört moderne Militärtechnik in seinen Händen und bauschte die eigenen Verluste und Kriegsschäden auf. Es kursierten unglaubliche Geschichten über echte und imaginierte „exotische“ Truppen – über asiatische Nomaden in der russischen Kavallerie, über türkische Divisionen (oft wurden die Bosnier in der österreichisch-ungarischen Armee für Türken gehalten), über Kolonialregimenter, die angeblich Frankreich und Großbritannien Russland zur Unterstützung gesandt hatten, und schließlich über Japaner, die angeblich schon den Waggons der Transsibirischen Eisenbahn entstiegen seien und auf Wien, Budapest und Berlin zumarschierten. Je länger der Krieg dauerte, desto eher glaubte man, der Gegner sei besser ausgerüstet, gekleidet und versorgt. Diese Erzählungen spiegelten die Stimmung des Moments. In der zweiten Augustwoche bewunderte August Krasicki die österreichisch-ungarischen Einheiten, die Richtung Przemyśl marschierten: […] wie Gardesoldaten sehen sie aus […]. Die Uniformen frisch aus dem Lager, grau wie die der Landwehr, grüne Aufschläge. Makellose neue Stiefel, vollständige Wäsche, ganz neu, mit einem Wort alles einwandfrei. Wenn in Österreich alles so gut für den Krieg vorbereitet ist, müssen wir uns um den Ausgang keine Gedanken machen.14 Ganz andere Beobachtungen machte kaum einen Monat später S ­ eifert-Jabłońska, die als Pflegehilfe in einem Krankenhaus aushalf. Sie war begeistert vom Aussehen und der Kleidung der verwundeten russischen Gefangenen: […] ich komme aus dem Staunen und Bedauern nicht heraus, dass die Unsrigen nicht so sind. Sie alle sind besser adjustiert, irgendwie reicher als die Unsrigen, das Hemd fest – sauberer – wärmer, alles weicher, sie sind weniger beladen. Ihre Kleidung ist fest genäht, unsere schwere, vertrocknete kratzt, lässt Wasser durch und geht auseinander. Jeder hat genug zu essen bei sich, Wodka in der Feldflasche. Sie sind rüstig, rotwangig, gut gebaut und auf den ersten Blick ist ihre Kleidung besser, als bei uns die Chargen erwarten können.15 Genügte ein Monat, in dem beide Armeen in Bewegung waren, um die russische Überlegenheit zu beweisen – von Wuchs und Gesichtsfarbe bis hin zum Schuh­ werk? Solche Einschätzungen waren wohl eher Folge der ersten Niederlagen, der Belagerungssituation in der eingeschlossenen Stadt und der ersten Versorgungs228

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engpässe. Und eine Manifestation des banalen psychologischen Mechanismus, der suggerierte, „den anderen geht es sicher besser“. Dieser Mechanismus wirkte bei Zivilisten ebenso wie bei Militärs. Ein ungarischer Offizier war von der Überlegenheit der Russen überzeugt: Sie hatten angeblich bessere Mäntel, die Offiziersuniformen waren von Weitem nicht von den Uniformen der einfachen Soldaten zu unterscheiden, außerdem marschierten die russischen Offiziere nicht vor, sondern hinter ihren Einheiten.16 Langfristig waren aus Sicht der Armee und des Staates jene Gerüchte be­ sonders schädlich, die sich auf die ökonomischen Entscheidungen der Zivil­ bevölkerung auswirkten. Für die Kriegswirtschaft konnten sogar kleine Dinge fatale Folgen haben. Etwa das in allen kriegführenden Staaten zu beobachtende Verschwinden des Kleingelds. Es resultierte aus einer für schwere Wirtschaftskrisen allgemein typischen Erscheinung, nämlich der Thesaurierung jeder Art von Metall. Die Auswirkungen auf das Funktionieren des Marktes waren aber zerstörerisch. Umso mehr, als manche Geschäftsleute schon ab den ersten Kriegstagen keine Banknoten mit höheren Nennwerten mehr annahmen, weil sie kein Wechselgeld hatten. Ein Feuilletonist spottete: Der Mangel an Kleingeld hat freilich auch sein Gutes. In den letzten beiden Tagen habe ich in Cafés Kaffee auf Kredit getrunken und Zigaretten auf Kredit gekauft, indem ich überall meinen Fünf-Rubel-Schein vorzeigte. Und jeder wollte mich lieber kreditieren und mir vertrauen, als ihn zu wechseln. Das weckte in mir die Hoffnung auf eine rosige Zukunft. Ich dachte mir, wenn ich mit einem ungewechselten Fünferschein während des Kriegs all meine Bedürfnisse stillen kann, dann ist die Wirtschaftskrise doch gar nicht so bedrohlich.17 Das Verschwinden des Münzgelds war allerdings kein gutes Thema für Satiren, die Sache war zu ernst. Schon am 1. August 1914 drohten die deutschen Behörden via Berliner Lokal-Anzeiger: Jedermann möge sich vor Augen halten, daß die Zurückweisung unserer Bank­noten nicht nur gesetzwidrig und unberechtigt, sondern auch schon desweilen verwerflich ist, weil derjenige, der so handelt, dem Kredit des Deut­schen Reiches, das hinter der Reichsbank steht, mißtraut und sich hierdurch eines Mangels an Patriotismus schuldig macht.18 In den österreichischen Städten gab es ähnliche Probleme. Die Einwohner behalfen sich, indem sie etwa Zweikronenscheine in Hälften oder Viertel zer229

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schnitten. Im Herbst 1915 legalisierte die k. u. k. Zentralbank die gesellschaftliche Praxis. Im Königreich Polen und in Serbien trug die eilige Evakuierung der Banken zur Geldknappheit bei. In Warschau bediente die Staatsbank (Gosudarstwenny Bank Rossiskoj Imperii) ab Anfang August gar keine Zivilisten mehr. Das durch diese Entscheidung ausgelöste Chaos konnte erst nach zwei, drei Wochen unter Kontrolle gebracht werden. Mit der Rückkehr der evakuierten russischen Beamten warf man mehr Silberrubel auf den Markt, was die Lage für eine gewisse Zeit beruhigte. Langfristig gelang es aber nicht, zur Vorkriegsnormalität zurückzukehren. Nachrichten von Veränderungen an der Front lösten immer wieder massenhafte Hamsterkäufe aus. Während nationalistische Studenten singend Unter den Linden marschierten, musste ein Teil der Berliner Geschäfte schließen, weil die Kunden in Panik alle Waren aufgekauft hatten. Die Preise schossen in die Höhe, Presse und lokale Behörden starteten eine Kampagne gegen Masseneinkäufe und Spekulation. Die Festlegung von Höchstpreisen, die in der Tagespresse bekannt gegeben wurden, konnte die Teuerung auf Dauer nicht bremsen. In Warschau kursierten unterdessen Anfang August Gerüchte über einen Ausfall der Wasserversorgung: Das Wasser wird abgestellt! Keiner weiß, woher die Nachricht kommt, doch schon nach zehn Minuten ist die ganze Stadt informiert. Wasser fassen! Alle stürzen zu den Wasserhähnen und füllen, was sie in der Wohnung haben: Schüsseln, Krüge, Karaffen, alte Flaschen, leere Tintenfässer. Nach einer Stunde Wasserfassen kommt das Wasser schon in einem etwas schwächeren Strahl aus dem Hahn. – Na, was denn?!… Tags darauf wird das gesammelte Wasser ausgegossen. Doch schon gibt es einen neuen Alarm. Was für einen, spielt keine Rolle.19 Allerdings eignete sich auch dieses Thema nicht sonderlich für Satiren: Der Druck im Wassernetz sank so stark, dass die Stadt von der Wasserzufuhr abgeschnitten wurde. Zur gleichen Zeit fiel das überlastete Telefonnetz aus. Das Informationschaos überforderte die Menschen genauso wie die Technik. Es überforderte auch den Staat.

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Informationshunger

Propaganda Bei Kriegsausbruch verfügte keiner der beteiligten Staaten über geeignete Strukturen, die das Informationsbedürfnis hätten befriedigen und gleichzeitig die öffentliche Meinung hätten beeinflussen können. Das zeigt etwa die Arbeit des Anfang 1915 geschaffenen deutschen Kriegspresseamts. Das Amt, das die deutschen Zeitungen mit Informationen versorgte, war Zensurstelle und Nachrichtenagentur in einem. Sein Schwerpunkt lag allerdings auf der Verhinderung unerwünschter Meldungen. Neuigkeiten, die für die Leser wirklich interessant gewesen wären, sickerten nur sporadisch durch. Die Apparate zur Produktion von inhaltlich und visuell attraktiver Propaganda entstanden unter großen Geburtswehen. Wie schwer die Anfänge waren, belegen die recht langweiligen und vor allem realitätsfernen belletrisierten Berichte von den Schlachten der ersten Kriegsmonate. Die meisten dieser Texte entstanden am Schreibtisch, die Verfasser wussten oft kaum etwas über das Terrain, auf dem die Kämpfe stattfanden. Einer der bekanntesten Autoren dieser Richtung, der Schweizer Journalist Hermann Stegemann, quälte seine Leser mit abgedroschenen Phrasen über „verbissene Kämpfe“ die meist „unter schweren Verlusten“ geführt wurden. Die Buch­ ausgabe dieser regelmäßig in der Zeitschrift Der Bund erschienenen Berichte umfasst vier dicke Bände. Und dabei war Stegemann, wenngleich er mit den Mittelmächten sympathisierte, Bürger eines neutralen Staates und kam ohne das unerträgliche patriotische Pathos aus. Die Lektüre der Berichte seiner Kollegen aus den kriegführenden Staaten war meist noch schmerzhafter. Cezary Jellenta hatte schon im Oktober genug davon: Der Tod beeindruckt längst nicht mehr, die Verwundeten werden längst nicht mehr mit Blumen beworfen. […] Die Tageszeitungen bringen jeden Tag Dutzende Geschichten von wunderbaren Heldentaten – doch niemand liest sie, das Heldentum ist schrecklich billig geworden.20 Um die fade Routine zu überwinden, um das Publikum anzuziehen und für seine Sache zu gewinnen, musste man der Kriegsberichterstattung neues Leben einhauchen. Gefordert waren neue Erzählweisen und Ausdrucksformen. Vorreiter auf diesem Gebiet war Österreich-Ungarn, wo die Vorschriften zur Mobilmachung ab 1909 für den Ernstfall die Einrichtung eines Kriegspressequartiers (KPQ) vorsahen, das sich aus Journalisten zusammensetzte, die von ihren Redaktionen zur Arbeit in unmittelbarer Nähe des Generalstabs und der Stäbe der einzelnen Armeen abgestellt wurden. Natürlich mussten sich die am KPQ akkreditierten Journalisten ordentlich abrackern, um überhaupt an militärische Infor231

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mationen zu kommen. Der Korrespondent der Neuen Freien Presse und unbestrittene Star unter den Kriegsreportern Alexander Roda Roda (eigentlich Sándor Friedrich Rosenfeld) klagte seinen Lesern: Während draußen die aufregendsten Dinge vorgehen, ist im Kriegspresse­quar­ tier die Idylle wie am ersten Tag. Noch immer dürfen nur karge Nachrichten von uns ausgehen, damit dem Feind so wenig wie möglich über unser Heer verraten werde. Wir möchten manches gerne sagen, weil es auch die Öffent­ lichkeit erfreute; aber die Zensur zäumt uns scharf. Wir möchten all das, wovon uns die Herzen überquellen, in die Welt rufen und müssen schweigen.21 Das KPQ löste auch nicht das Problem, wie man über die immer neuen Niederlagen berichten sollte. Die Meldungen des Quartiers, oft sicher mit der heißen Nadel gestrickt, vielleicht nach einem abendlichen Festmahl, grenzten an Sabotage. Als die russische Armee sich Ende August 1914 mit großen Schritten der Hauptstadt der Bukowina näherte, musste die Czernowitzer Allgemeine Zeitung ihren Lesern folgenden amtliche Meldung verkaufen: „Die seit 26. August tobende große Schlacht dauert fort. Die Lage unserer Truppen ist günstig, das Wetter warm und sonnig.“ Der verzweifelte Redakteur fühlte sich gegenüber den Einwohnern der Stadt, die sich unerwartet an der vordersten Frontlinie befand, zu einer Erklärung verpflichtet: Man rümpfe über diesen Zusatz nicht die Nase. Sonniges und warmes Wetter ist eine Waffe, eine starke Waffe, die für die die Heimat verteidigenden Truppen ebenso viel wert ist wie reichliche Nahrung und eine gute Position. Diese haben wir, und wenn wir mitten aus diesem furchtbaren Ringen, das alle Nerven zum Schwingen bringt, das auch die nicht in der Schlachtreihe Stehenden im Tiefsten aufwühlt, ruhelos macht und ihnen den Schlaf raubt, wenn also aus diesem Ringen heraus der ganz u. gar nicht gesprächige Draht hinzufügt, das Wetter sei warm und sonnig, so fällt auch ein Sonnenstrahl auf unser Gemüt, das so heftigen Bewegungen ausgesetzt ist und der Erfrischung bedarf.22 Einige Berichterstatter – wie Roda Roda – arbeiteten tatsächlich als Kriegsreporter und berichteten von Orten, die sie selbst gesehen hatten. Andere schrieben über mehrere Frontabschnitte gleichzeitig, während sie in Wirklichkeit in der KPQ-Zentrale saßen (ab 1916 in einem bequemen kleinen Hotel in Rodaun bei Wien). Das System war aber auch offen für einen neuen Reportertyp, der bereit war, die Mühen des Soldatenlebens zu teilen. Und sogar für Frauen wie Alice 232

Informationshunger

Schalek (für Karl Kraus der Inbegriff aller Übel des Kriegs), die sich mit Reportagen von der italienischen Front Anerkennung erwarb. Die Modernisierung des journalistischen Handwerks sollte nicht nur den Informationshunger stillen, sondern auch die Propaganda effektiver machen. Auch das war eine Aufgabe des KPQ, dessen neuer Leiter 1917 konstatierte: „Pressedienst ist Propagandadienst.“23 Reportagen und literarisierte Kriegsgeschichten wurden in Buchform publiziert, zusätzlich zu den unzähligen Broschüren zu den unterschiedlichsten Aspekten des Kriegs. Alle hatten das Ziel, den Kampfgeist, den Durchhaltewillen und die Opferbereitschaft der Bevölkerungen der kriegführenden Staaten zu stärken. Spitzenreiter auf diesem Gebiet waren – nicht nur in Mitteleuropa, sondern weltweit – Deutschland und Österreich-­ Ungarn. Die Mehrzahl der Publikationen erschien natürlich in deutscher Sprache, teils aber auch auf Ungarisch, Tschechisch, Polnisch, Kroatisch oder Rumänisch. Den Duktus dieser Broschüren gibt Jaroslav Hašek wieder, der im Švejk den Kadetten und Möchtegernkriegsschriftsteller Biegler eine Liste mit Werken erstellen lässt, die er nach siegreichem Abschluss des Feldzuges zu schreiben gedenkt: Die Charaktere der Kämpfer des Großen Krieges – Wer begann den Krieg? – Die Politik Österreich-Ungarns und die Geburt des Weltkrieges – Kriegs­­­­be­ trachtungen – Österreich-Ungarn und der Weltkrieg – Lehren aus dem Krie­­ge – Populärer Vortrag über den Kriegsausbruch – Kriegspolitische Be­trach­­tun­gen – Ein feierlicher Tag für Österreich-Ungarn – Der slawische Imperia­lismus und der Weltkrieg – Dokumente aus dem Kriege – Dokumente zur Geschichte des Weltkrieges – Tagebuch aus dem Weltkriege – Der Welt­krieg Tag für Tag in Übersicht – Der Erste Weltkrieg – Unsere Dynastie im Weltkriege – Die Na­tio­ nen der österreichisch-ungarischen Monarchie in Waffen – Das Weltrin­gen um ­die Macht – Meine Erfahrungen im Weltkriege – Chronik meines Feldzuges – Wie kämpfen die Gegner Österreich-Ungarns? – Wessen ist der Sieg? – Unsere Offiziere und unsere Soldaten – Denkwürdige Taten meiner Soldaten – Aus der Zeit des Großen Krieges – Im Kampfgetümmel – Österrei­chisch-Ungarisches Heldenbuch – Die Eiserne Brigade – Sammlung meiner Front­briefe – Die Helden unseres Marschbataillons – Handbuch für den Sol­da­ten im Felde – Tage des Kampfes, Tage des Sieges – Was ich im Felde sah, was ich im Felde ­litt – Im Schützengraben – Ein Offizier erzählt – Mit den Söhnen Ös­ter­reichUngarns vorwärts! – Feindliche Aeroplane und unsere Infan­terie – Nach der Schlacht – Unsere Artilleristen: treue Söhne des Vaterlandes – Und wenn die Welt voll Teufel wär … – Der Verteidigungskrieg und der Angriffskrieg – Blut und Eisen – Sieg oder Tod – Unsere Helden in der Gefangenschaft.24 233

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Man publizierte auch mit dem Gedanken ans Ausland, vor allem an die neutralen Staaten. Im Deutschen Reich war die Auslandspropaganda das erste Feld der Informationspolitik, das der Kontrolle einer staatlichen Institution (Zentralstelle für den Auslandsdienst) unterstellt wurde. Ihren Schwerpunkt bildeten Berichte über von den Gegnern begangene Grausamkeiten und die Beteuerung der eigenen friedlichen Absichten. Die nach innen, das heißt an die Gesellschaften der kriegführenden Staaten, gerichteten Botschaften waren natürlich sehr viel kämpferischer. Viele Propagandapublikationen enthielten Fotografien. Obwohl die Fotografie kein ganz neues Medium mehr war, bildeten sich erst während des Kriegs bestimmte kompositorische Techniken heraus. Die Fotos entwickelten zudem ein Eigenleben: Sie wurden tausendfach reproduziert, mit und ohne Text, oft als Postkarten. Zu den populärsten Motiven der Ostfront gehörten Aufnahmen von Kriegsgefangenen und Einwohnern der besetzten Länder. Im Ersten Weltkrieg entstanden die fortan typischen Formen der Darstellung besiegter Gegner als undisziplinierte, schmutzige und verwahrloste Massen, aus denen der Fotograf besonders fremde, unheimliche, abstoßende oder gar degenerierte „Typen“ herauspräparierte. Oder auch exotische, denn das deutsche und österreichische Publikum war fasziniert von der ethnischen Vielfalt im russischen Heer. Mit dem gleichen Blick betrachtete man die Bewohner des Balkans. Beliebte Souvenirs von dort waren ethnografische Fotografien, die bewaffnete albanische oder makedonische „Eingeborene“ sowie ihre Frauen und Kinder in exotischen ­ Trachten zeigten. Der Leiter einer österreichisch-ungarischen Balkanexpedition, Arthur Haberlandt, sammelte neben Exponaten, die das Alltagsleben und die Kultur der Region illustrieren sollten, auch zahlreiche derartige Fotos. Die Wiener konnten die exotische Sammlung 1917 in der Aula der Universität bewundern.25 Das Erkenntnisinteresse der österreichischen Ethnografen erhielt in diesem Fall eine zusätzliche Bedeutung, es wurde zum Instrument der visuellen Propaganda. Das größte Publikumsinteresse weckte aber eine andere Art der Kriegsfotografie: Darstellungen von Kampfszenen und kriegsbedingten Zerstörungen. Die Konkurrenz zwischen Grafik und Fotografie hatte nicht nur eine technische, sondern auch eine ideologische Dimension. Die Wahl des Ausdrucksmittels begünstigte jeweils die eine oder die andere Konfliktpartei. Maria Bucur verweist auf die charakteristische Auswahl von Illustrationen in Kultur- und Politikzeitschriften im bis 1916 neutralen Rumänien. Die meisten Blätter vertraten eine profranzösische Haltung und druckten vor allem Fotos von den an der Westfront durch die 234

Informationshunger

deutsche Artillerie verursachten Zerstörungen. Fast immer handelte es sich um zerstörte Denkmäler, Kirchen und Schlösser. Diese Auswahl authentischer fotografischer Zeugnisse illustrierte die These von der deutschen Barbarei. Interessanterweise betraf das Streben nach einer möglichst realistischen Darstellung der Kriegsfolgen nicht die Opfer. Leichen, Schlachtfelder, Schützengräben – das alles wurde in der profranzösischen rumänischen Presse nicht fotografisch, sondern in gezeichneter Form dargestellt. Das war kein Zufall. Es ging nicht darum, pazifistische Einstellungen zu fördern, indem man ihnen das Grauen des Krieges im Bild präsentierte, vielmehr sollten die Rumänen ermuntert werden, aufseiten der Entente in diesen Krieg einzutreten.26 Das Bild sollte mobilisieren, nicht abschrecken. Nach ähnlichen Grundsätzen handelten alle Kriegsparteien. Fotos, die gefallene eigene Soldaten zeigten, wurden meist nicht zugelassen, umso lieber zeigte man getötete Feinde. Fotos von Kriegszerstörungen auf eigenem Gebiet zeigten keine militärischen, sondern ausschließlich zivile Einrichtungen und Gebäude. Infolgedessen sah man als Betroffene auch nur Zivilisten, bevorzugt Frauen und Kinder. Der Krieg hielt auch Einzug ins Kino. Für Ostmitteleuropa und den Balkan ist sein Einfluss auf die Filmkunst nicht exakt zu bestimmen. Trotz der Zerstörungen, der Verarmung der Gesellschaft und des Fehlens der an die Front einberufenen Künstler entwickelte sich die Kinematografie so dynamisch wie nie zuvor. In manchen Ländern – etwa in Bulgarien – waren Kriegswochenschauen die ersten einheimischen Filmproduktionen. Doch auch dort, wo schon vor dem Krieg eine entwickelte Filmindustrie existierte, beschleunigte die Isolation von Westeuropa die Entwicklung des eigenen Filmschaffens. In Russland gab es in den Kriegsjahren einen großen Zuwachs an Filmproduktionen, doch der Zugang zu russischen Filmen endete im Sommer 1915, als die erfolgreiche Offensive bei Gorlice und weitere deutsch-österreichisch-ungarische Offensiven die Einwohner der westlichen Gouvernements auch von der einheimischen Produktion abschnitten. In Ostmitteleuropa und auf dem Balkan dominierten zunehmend deutsche und österreichisch-ungarische Produktionen. Neben Spielfilmen zeigten die Kinos mit den Kriegswochenschauen eine ganz neue Gattung dokumentarischer Kurzfilme. In den ersten Kriegsjahren wurden sie ausschließlich von Privatfirmen erstellt, erst Ende 1916 wurde in Deutschland die Produktion zentralisiert; das Ergebnis war die Deutsche Kriegswochenschau. Produziert wurde sie vom staatlichen Bild- und Filmamt (Bufa), das später in UFA (Universum Film AG) umbenannt wurde. In Österreich-Ungarn dominierte die Sascha-Filmindustrie des böhmischen Aristokraten Alexander Kolowrat-Krakowský, die ab 1917 der Kontrolle 235

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Das Interesse an exotischen „Typen“ wurde bedient, so gut es die zuweilen recht begrenzten Möglichkeiten erlaubten. Die ungarische Illustrierte Világháború Képes Kronikája druckte ethno­grafische Postkarten aus der Zeit der Jahrhundertwende, die chassidische Juden ­zeig­ten, und versah sie mit Unterschriften, die nahelegten, es handele sich um jüdische Kriegsflüchtlinge aus dem russischen Teilungsgebiet.

des KPQ unterstand. Ihr Sascha-Kriegswochenbericht konkurrierte insbesondere in den neutralen und mit Österreich-Ungarn verbündeten Staaten, etwa der Türkei, erfolgreich mit der deutschen Wochenschau. Die Kriegswochenschauen erfreuten sich großer Beliebtheit. Man musste die Kinos nicht verpflichten, sie zu zeigen, die Betreiber fragten von sich aus danach. Das Jahr 1917 markierte eine Zäsur in der Kriegsgeschichte des Films – nicht nur in Bezug auf die Organisation der Produktionsfirmen, sondern auch hinsichtlich der Inhalte. Vor 1917 konzentrierten sich die Wochenschauen auf die Prä­ sentation der neuesten Errungenschaften der Rüstungsindustrie. Das war ein Ausdruck der Faszination für Moderne und Fortschritt, aber auch schlichte Notwendigkeit. Die Arbeit der Kameramänner unter Frontbedingungen war schon aus technischen Gründen enorm schwierig – die Ausrüstung war schwer und anspruchsvoll, die Lichtbedingungen oft ungünstig. Zudem war die Militärführung 236

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gegen die Anwesenheit von Filmemachern, in einigen Fällen wurden allzu eifrige unter dem Vorwurf der Spionage festgenommen. Angesichts dessen dokumentierten die Filme die Momente vor und nach der Schlacht, die Mahlzeiten der Soldaten und – vor allem – die moderne Ausrüstung, die den Sieg garantieren sollte. Ab einem bestimmten Moment wandelte sich aber der Charakter der Kriegswochenschauen. Nicht ganz unschuldig daran waren die kritischen, oft ironischen Reaktionen der Zuschauer in Uniform. Sie wussten inzwischen aus Erfahrung, dass die Ausrüstung, über die sie verfügten, keineswegs so perfekt und der Gegner keineswegs so schwach war, wie man zu Kriegsbeginn vielleicht dachte. Auch die Militärführung wünschte Änderungen. Statt der Technik sollten Opferwille und Heldentum der Soldaten sowie die Kompetenz der Befehlshaber ins Zentrum gerückt werden. Zum letzten großen Star der österreichisch-ungarischen Wochen­ schauen wurde der junge und fotogene Kaiser Karl, der nach dem Tod seines Vorgängers im November 1916 in der gesamten Monarchie fast nicht mehr von den Leinwänden verschwand. Wort und Bild wurden 1914 zu Instrumenten der Staatspropaganda. Der Balkan und Ostmitteleuropa waren zwar keine Produktionszentren, doch als Gegenstand und Verbreitungsgebiet von Nachrichten überaus wichtig. Zugleich kursier­ ten hier, unmittelbar hinter der Front, besonders viele Gerüchte, das heißt Nachrichten, die sich der Kontrolle der Regierenden entzogen. Ziel der Regierun­ gen war die Kontrolle des Informationsflusses sowie die gesellschaftliche Mobilisierung. Mobilisiert wurde zu fast allem: zur Suche nach Spionen, zu Wintersammlungen für die frierenden Soldaten, zum Sammeln von Sekundärrohstoffen, zum Kauf von Kriegsanleihen, zur Pflege von Verwundeten, zur Unterstützung von Rotem Kreuz und Rotem Halbmond, zur Wahrung der öffentlichen und individuellen Moral und natürlich vor allem zum Eintritt in die Armee. Dazu nutzte man bewährte Mittel: Presse und Plakate. Aber auch neue, die sich als echte Marketingvolltreffer erwiesen. Eines der interessantesten, wiewohl später vergessenen Mittel war das moderne Museumswesen. Das offizielle Gründungsdatum des Londoner Imperial War Museum fällt zwar ins Jahr 1917, doch seine Pforten öffnete das größte Kriegsmuseum der Welt erst 1920. Zu diesem Zeitpunkt war die kurze Geschichte des Ausstellungswesens zum großen Krieg in Ostmitteleuropa eigentlich schon wieder zu Ende. Den ersten Impuls lieferte die Sammelleidenschaft, eine zivilisierte Form des Kriegstourismus. Man sammelte Zeitungen, Plakate und Aushänge, Broschüren zu Kriegsthemen, Waffen- und Uniformteile, Pläne, Postkarten, Fotos. Neben privaten Sammlern, die in Deutschland und Österreich eigene Zeitschriften hat237

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ten, beteiligten sich auch staatliche Institutionen an dieser Bewegung. In Wien und Berlin begannen die Zentralbibliotheken internationale Sammlungen aufzubauen. Die Sammlung der Berliner Staatsbibliothek zum „Krieg 1914“ ist bis heute eine der vollständigsten und faszinierendsten Kollektionen zu dieser Zeit. Dieses neue Phänomen zeugte von der Nachfrage nach einer neuen Art von ­Information. Es entstand ein mächtiger und hungriger Markt mit einem lebhaften Interesse an einer möglichst realistischen (wenngleich natürlich nicht nach dem Prinzip der teilnehmenden Beobachtung) Nachbildung der Wirklichkeit des Schlachtfelds. Die Paraden mit erbeutetem Gerät und die Durchmärsche von Kriegsgefangenen stillten dieses Bedürfnis nicht. Viel besser gelang dies den Kriegsausstellungen, deren größte 1916 im Wiener Prater eröffnet wurde.

Die Faszination für den Krieg war generationen­ übergreifend. Das Foto zeigt Kinder im bulgarischen Teil ­Thrakiens (1916).

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Informationshunger

Im ersten Jahr zählte die Wiener Ausstellung rund eine Million Besucher, die nicht nur einen Saal mit Kriegstrophäen zu sehen bekamen, sondern auch eine Ausstellung zu Kriegsgräbern, zur medizinischen Versorgung und zur sich dynamisch entwickelnden Prothetik sowie zu den Spenden der Gesellschaft für die kämpfende Armee. Man zeigte Wochenschauen sowie einen von Mitarbeitern Rudolf Pöchs gedrehten Dokumentarfilm über die anthropologischen Untersuchungen an russischen Gefangenen. Ein Höhepunkt der Ausstellung waren die Rekonstruktionen von Frontabschnitten. Die Wiener Schau stach durch ihren Umfang hervor, doch inhaltlich war sie nicht revolutionär. Allein in Wien waren ihr mindestens fünfzig kleinere Ausstellungen vorausgegangen, in den übrigen Städten der Monarchie gab es ähnliche Präsentationen. Ungarn, das die Mitwirkung an der Wiener Ausstellung verweigert hatte, zeigte eigene Ausstellungen, die den ungarischen Beitrag zum gemeinsamen Kriegswerk betonten. Deutschland wurde von einer noch breiteren Welle der neuen musealen Form überrollt. In fast jedem Heimatmuseum wurden Ausstellungen eröffnet. Die in Deutschland und Österreich-Ungarn ausgearbeiteten Konzepte schickte man in die besetzten Gebiete und in die verbündeten Staaten. So wurden etwa in Istanbul und Warschau deutsche Ausstellungen gezeigt. Wo die Umstände dies verhinderten, organisierte man kleinere Präsentationen von Fotos, Bildern und Kriegspost­ karten. Insbesondere die Kriegsausstellungen kamen wohl dem Ideal einer sowohl interessanten als auch der Propaganda dienlichen Information ziemlich nahe. Die Besuchermassen belegen anschaulich, wie groß das gesellschaftliche Bedürf­ nis nach Informationen von der Front war. In Wien und zig anderen Städten lief eine groß angelegte Kampagne, an der Zeitungsleser, Schaulustige, Kriegstouristen und Kinogänger beteiligt waren. Vor dem Hintergrund der Erfahrung der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts mit ihrer massierten, allgegenwärtigen Propaganda tendierten spätere Historiker dazu, dieses Spiel falsch zu deuten. Sie verwechselten Aktion mit Reaktion. Unterdessen wurde im Ersten Weltkrieg noch niemand von einem Übermaß an aufdringlichen Informationen erdrückt. Der Staat musste niemandem seine Version der Kriegsereignisse aufzwingen. Die Menschen hungerten nach Neuigkeiten und waren bereit, sie in jeder Gestalt aufzunehmen, auch in der Bearbeitung der Regierungspropagandisten. Die Zivil- und noch viel mehr die Militärbehörden passten sich der neuen Situation mit einiger Verspätung an. Am Anfang stand die Nachfrage nach Information, die das Entstehen einer modernen staatlichen Informationspolitik erzwang.

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Kapitel 3 Loyalitäten Noch bis vor Kurzem waren sich die Historiker darin einig, dass die europäischen Gesellschaften den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit fast schon ekstatischer Begeisterung begrüßten. Diese Überzeugung stützte sich auf die Lektüre von Zeitungsberichten sowie auf die Fotos von festlich gestimmten Mengen in den Hauptstädten der beteiligten Staaten. Gefestigt wurde sie auch durch die Erinnerungen von Politikern, die den August 1914 als Abfolge spontaner patriotischer Manifestationen darstellten, die ein entschiedenes militärisches Handeln geradezu erzwungen hätten.

Der Geist von 1914 Tatsächlich zogen in Paris, London, Petersburg und Berlin jubelnde Menschenmengen durch die Straßen, ließen die Regierenden hochleben und verdammten die Feinde, und die jungen Männer meldeten sich bei den Rekrutierungsstellen. Singende Studenten marschierten in geschlossenen Reihen Unter den Linden. Teilnehmern und Beobachtern dieser Ereignisse vermittelte sich das Gefühl einer die ganze Nation umfassenden Einheit des Denkens und des Willens: An jenem Samstagabend, als die Ablehnung der österreichischen Note durch Serbien bekanntgeworden war, und die Berliner vor die österreichische Bot­ schaft zogen, das Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“ auf den Lippen, an jenem Abend war ein in Klassenentfremdung, Parteizerklüftung, selbstischem Streben und Genußsucht zersplittertes Volk wieder zu einer plötzlichen Einheit zusammengeschweißt. […] Darin liegt unsere Wiedergeburt durch den Krieg […].1 Die österreichische Hauptstadt schwelgte ebenfalls in Begeisterung. Auch hier vereinte sich die Gesellschaft im patriotischen Überschwang. Ilka Künigl-Ehrenburg notiert am 15. August 1914: 240

Loyalitäten

Noch nie habe ich Wien so schön gesehen, wie in diesen großen Tagen. Der Bausch der Begeisterung flammt durch die ganze Stadt und trägt alles mit sich fort, alt und jung, arm und reich, hoch und niedrig. Man kennt keine Rangund Klassenunterschiede mehr, jeder ist Volk und verlangt nichts Besseres zu sein. Alle Straßen sind beflaggt. Jeden Abend drängen sich unabsehbare Menschenmengen vor der Hofburg, die dem Kaiser zujubeln wollen. Erz­ herzoge mischen sich in Zivil unter die Volksmenge, werden erkannt und stürmisch gefeiert. Fremde Menschen […] schütteln sich die Hände, Freudentränen in den Augen. Jeder brennt darauf, sein Scherflein beizusteuern, Geld und alle möglichen und unmöglichen Spenden fließen in Strömen. Die alten Weiblein aus dem Versorgungshaus bringen ihre letzten kostbar gehüteten Schätze, ein paar zarte Kaffeeschalen aus Alt-Wiener Porzellan. Und wir sehen überrascht und gerührt, wie reich wir sind, wie reich an Gut und wie reich an goldenen Herzen.2 Auch Kriegsskeptiker erinnern sich an ähnliche Szenen, nur dass die jubelnden Mengen in ihnen eher Entsetzen als Begeisterung weckten. Zu ihnen gehörte Stefan Zweig, in späteren Jahren eine Ikone des Pazifismus und Antifaschismus. Zweig erinnert sich an die ersten Kriegswochen als Zeit der wachsenden sozialen Entfremdung: Allmählich wurde es […] unmöglich, mit irgend jemandem ein vernünftiges Gespräch zu führen. Die Friedlichsten, die Gutmütigsten waren von dem Blutdurst wie betrunken. Freunde, die ich immer als entschiedene Individua­ listen und sogar als geistige Anarchisten gekannt, hatten sich über Nacht in fanatische Patrioten verwandelt und aus Patrioten in unersättliche Annexio­ nisten. Jedes Gespräch endete in dummen Phrasen wie „Wer nicht hassen kann, der kann auch nicht richtig lieben“ oder in groben Verdächtigungen. Kameraden, mit denen ich seit Jahren nie einen Streit gehabt, beschuldigten mich ganz grob, ich sei kein Österreicher mehr; ich solle hinübergehen nach Frankreich oder Belgien.3 Allgemeine Euphorie und einige wenige isolierte, von den früheren Kameraden verstoßene Außenseiter – diese Deutung der gesellschaftlichen Reaktion auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs hat viele Vorteile. Sie wird nicht nur durch die Quellen gestützt – Schilderungen wie die zitierten gibt es zu Hunderten –, sondern auch durch trivialpsychologische Mechanismen. Was soll man von der Men241

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ge erwarten, wenn nicht Herdentrieb und kritiklose Hingabe an die Stimmung des Moments? Sind Zivilcourage und Treue zu den eigenen Überzeugungen nicht Eigenschaften außergewöhnlicher Individuen, wahrer Intellektueller? Bei genauerer Betrachtung erweisen sich die Haltungen von „Massen“ und Eliten allerdings als keineswegs eindeutig. Der „Geist von 1914“, wie der kollektive Begeisterungsausbruch im Deutschen Reich genannt wurde, war mehr frommer Wunsch der Regierungen und eines Teils der gesellschaftlichen Eliten als harte Tatsache. Die laute Minderheit fiel natürlich ins Auge, zumal, wenn sie so demonstrativ wie die Studenten in Berlin agierte. Es wäre aber falsch, sie als repräsentativ für die Stimmung der Mehrheit zu betrachten. Die Massen formierten sich aus Schaulustigen, die nach den frischen Informationen gierten und an einem historischen Ereignis teilnehmen wollten. Beginnen wir mit einer nachrangigen, aber keinesfalls belanglosen Frage: Wie typisch war das Verhalten der Stadtbevölkerung? Im Jahr 1914 lag zwischen der Zweimillionenstadt Berlin und dem nur etwas kleineren Moskau lediglich eine Stadt mit über einer Million Einwohnern. Das war Wien, das fast so bevölkerungsreich wie Berlin war. Budapest als weitere Regionalmetropole war nicht einmal halb so groß und kaum größer als Warschau. Breslau, Lodz und Odessa hatten je um die 500 000 Einwohner. Die übrigen Großstädte Ostmitteleuropas und des Balkans – Prag, Triest, Lemberg oder Bukarest – waren Zentren mit 200 000 bis 300 000 Einwohnern. Wie reagierte man dort auf den Kriegsbeginn? Jeffrey Verhey verglich die Berliner Ereignisse im August 1914 mit denen in anderen deutschen Städten. Nirgends erreichten die Reaktionen ein vergleichbares Ausmaß, in einigen Großstädten – Königsberg, Danzig oder Saarbrücken – gab es überhaupt keine größeren Kundgebungen. Wo sie stattfanden, handelte es sich selten um patriotische Manifestationen. Meist wurden diese von Studenten organisiert (deshalb gab es kämpferische Versammlungen in kleineren Universitätsstädten wie Heidelberg oder Jena, fast gar keine hingegen in den Industriezentren des Ruhrgebiets). Weitaus häufiger aber warteten Schaulustige in Gruppen vor den Zeitungsredaktionen auf die neuesten Nachrichten und gingen nach Hause, sobald sie sie bekommen hatten.4 Sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien wurde unterdessen der Ausmarsch der lokalen Armeeeinheiten mit großem Applaus bedacht, wobei vor allem Verwandte und Bekannte jubelten und Vivat riefen. Die Presse ihrerseits deutete alle Manifestationen von Begeisterung, Approbation oder auch nur wohlwollendem Interesse als Zeichen der Unterstützung der Regierungspolitik. So war es auch in der Habsburgermonarchie. 242

Loyalitäten

Am 2. August berichteten die österreichisch-ungarischen Zeitungen über einen zehntausendköpfigen Fackelzug in Budapest, der mit Ovationen für die Armee und Erzherzog Karl (den späteren Kaiser) endete, der mit seiner Gattin gerade die Stadt besuchte. Nach der Rückkehr des erzherzoglichen Paares nach Wien spannten euphorische Studenten der Militärakademie die Pferde seiner Kutsche aus und zogen sie selbst zum Bahnhof, von wo das Paar zu einer Reise durch das Land aufbrechen wollte. Als Freiwillige meldeten sich eher Intelligenzler als Arbeiter. Im August stellte sich sogar Stefan Zweig der Rekrutierungskommission vor – eine biografische Episode, an die er später nur selten erinnerte. In Böhmen und Mähren wurden die ausrückenden Einheiten mit Ovationen verabschiedet. Národní Politika berichtete über zahlreiche Feierlichkeiten, die alle nach demselben Schema abliefen: Während das Militärorchester spielte, brachte ein ortsansässiger Advokat ­einen Hochruf auf die Armee aus. Zahlreiche Anwesende stimmten ein, worauf eine Ovation auf Seine Majestät den Kaiser folgte. Die Versammelten ­sangen mehrfach die Nationalhymne der Monarchie sowie „Kde domov můj“. Unaufhörlich erschollen „Sláva!“- und „Hoch!“-Rufe zu Ehren Seiner Majest­ät und der Armee. Auch in der Nacht ließen die Einwohner von Hradec Králové den Kaiser und das Heer hochleben. Die Demonstranten zogen vor das Rathaus und das Landratsamt, wo unter „Sláva“- und „Hoch“-Rufen auf Seine Majestät wieder die Hymne der österreichischen Völker gesungen ­wurde.5 Über dieselben Ereignisse lässt sich ganz unterschiedlich schreiben, zumal in einer multiethnischen Monarchie, in der die Loyalitätsfrage komplizierter als in Paris, London oder Berlin war. Franz Kafka beobachtete Anfang August die Kundgebungen in den Straßen von Prag: Patriotischer Umzug. Rede des Bürgermeisters. Dann Verschwinden, dann Hervorkommen und der deutsche Ausruf: „Es lebe unser geliebter Monarch, hoch!“ Ich stehe dabei mit meinem bösen Blick. Diese Umzüge sind eine der widerlichsten Begleiterscheinungen des Krieges. Ausgehend von jüdischen Handelsleuten, die einmal deutsch, einmal tschechisch sind, es sich zwar eingestehen, niemals aber es so laut herausschreien dürfen wie jetzt. Natürlich reißen sie manchen mit. Organisiert war es gut. Es soll sich jeden Abend wiederholen, morgen Sonntag zweimal.6 243

II  Das Hinterland

Kafkas Schilderung ist ein Beleg dafür, dass der sogenannte Augenzeuge meist nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit sieht, den er gemäß seinem Wissensstand, seinen Ansichten und seiner Stimmung kommentiert. Gerade in Prag erwiesen sich die begeisterten Massen nämlich bald als nicht geringes Problem für die Obrigkeit: Bei den Kundgebungen dominierte das Deutsche, die Porträts von Franz Joseph I. konnten nicht die „Heil Kaiser Wilhelm“-Rufe überdecken. Die Umzüge führten regelmäßig an deutschen Einrichtungen vorbei: am deutschen Konsulat, am Deutschen Casino und an den Redaktionssitzen der deutschsprachigen Zeitungen. Die deutschen Lieder „Die Wacht am Rhein“ und „Ich hatt’ einen Kameraden“ wurden offensichtlich lieber gesungen als der habsburgische „Prinz-­ Eugen-Marsch“, während das tschechische Pendant „Hej Slované“ angesichts der Kriegserklärung gegen das slawische Serbien und Russland als Symbol des Staatsverrats galt. Der österreichische Statthalter Franz von Thun und Hohenstein hatte keine große Wahl: Nach einer Woche dankte er den „lieben Prager Mitbürgern tschechischer und deutscher Zunge“ für ihre überaus patriotische Haltung – und bat sie die Kundgebungen einzustellen, um den bis dahin so starken Eindruck der Einheit nicht zu schwächen; privat äußerte der Statthalter die Sorge, Tschechen und Deutsche könnten jeden Moment aufeinander losgehen.7 Ähnlich agierte – auf den ersten Blick kurioserweise – zur selben Zeit der russische Gouverneur im Gouvernement Livland. Dabei ging es nicht um die deutsche Minderheit, der man schwerlich mangelnde Loyalität vorwerfen konnte. Vielmehr fürchtete man, die örtlichen Sozialisten könnten Kundgebungen für ihre staatsfeindlichen Zwecke missbrauchen und die Verabschiedung der Soldaten zur Agitation gegen den Krieg nutzen. Zu den Regionen, in denen sich die Untertanen nicht selbstverständlich mit ihrem Staat identifizierten, gehörte das russische Teilungsgebiet. Eine Welle der Begeisterung entfachte das Manifest des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch vom 14. August, das den Polen die Wiedervereinigung unter dem Zepter des Zaren verhieß: „Unter diesem Zepter wird Polen neu geboren, frei in Glaube, Sprache und Selbstverwaltung.“ Der Sozialist Tadeusz Hołówko befand sich zu dieser Zeit mit seiner Frau im Zentrum von Warschau. Es schien ein schöner Tag zu werden. Meine Frau hatte gleich einen Strauß Gladiolen gekauft und so näherten wir uns der Ecke Aleje Jerozolimskie und Nowy Świat. Plötzlich hörten wir die Klänge eines Militärorchesters und Schreie. Wir gingen schneller. Das Bild, das sich uns darbot, werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen. Durch die Nowy Świat zog ein Kosakenregiment mit einem Orchester an der Spitze. Und drum herum eine begeisterte polnische Menge, die schrie: „Es lebe 244

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­ nsere Armee“, „Es leben unsere Verteidiger“. Fiebernde Damen mit leuch­ u tenden Augen kauften eilig Blumen und liefen zwischen die Berittenen, um sie den Offizieren zu überreichen, die Herren leerten ihre Zigarettenetuis und steckten den Kosaken Zigaretten zu, die diese Zeichen der Begeisterung von oben herab mit einem milden Lächeln annahmen. Als hätte mir jemand einen Dolch ins Herz gestoßen. Wir suchten Halt an einer Häuserwand, wären am liebsten mit ihr verschmolzen, um möglichst weit von dieser Menge fortzukommen. Mir wurde schwarz vor Augen. Meine Frau war kreidebleich, sie presste die riesigen Gladiolen an sich, als wollte sie sich vor dem schrecklichen Anblick verbergen. Das Kosakenregiment zog vorbei. Die Straße sah wieder aus wie sonst. Doch wir standen noch immer da und schauten uns schweigend an.8 Als Patriot und Sozialist gehörte Hołówko zu einer kleinen Minderheit, für die das offensichtliche Kriegsziel darin bestand, den Unterdrücker der Polen und der Arbeiter, also den Zaren, zu besiegen. Ein anderer Beobachter sah in den Warschauer Straßen im August 1914 eher Zurückhaltung als Begeisterung: Ich erinnere mich nicht, je eine solche Stimmung einer in den Straßen lagernden Menge gesehen zu haben wie das ganztätige Verharren der veritablen Schar von Verwandten und Freunden der Rekruten, für die ein „Sammelpunkt“ im Innenhof der Universität eingerichtet worden war, auf der Krakowskie Przedmieście vom „Bristol“ bis zur Heilig-Kreuz-Kirche am 1. August. Beide Trottoirs waren verstopft, es spielten sich – im Stil der Reporter gesagt – „herzzerreißende Szenen“ ab und es herrschte eine Ruhe, ja Ordnung, die nicht durch den kleinsten Ausbruch gestört wurde! Doch damit nicht genug. Christliche und jüdische Familien verbrüderten sich angesichts des gemeinsamen Schicksals. […] Vor der Universität, wo das größte Gedränge herrschte, sorgten sechs berittene Gendarmen für Ordnung, indem sie in der Fahr­ bahnmitte eine Spur freihielten, um Straßenbahnen, Kutschen und Auto­ mobilen die Durchfahrt zu erleichtern. Ich stand in der Menge, schaute und – wischte mir die Augen. Diese Berittenen lenkten die Menge auf schier unfassbar zärtliche Weise, mit den Händen, mit der Stimme … Sie baten, man solle zur Seite oder zurücktreten; sie argumentierten, sie sparten nicht mit freundlichen, väterlich wohlwollenden Worten, keine Spur von dem uns so gut bekannten Fauchen, kein Treten oder Schlagen. Aufmerksam, langsam lenkte ein Gendarm sein Pferd vor die aufgehaltene, auf die Straße drängende Menge und rief halblaut: „Zur Seite, die Herren, zur Seite!“9 245

II  Das Hinterland

Die Berichte aus Prag und Warschau geben die im August 1914 in den multiethnischen Imperien herrschende Stimmung treffend wieder. Das vorherrschende Gefühl im mobilmachenden Europa war nicht Kriegsbegeisterung, sondern Unsicherheit und Sorge um Angehörige und Freunde. Das galt selbst für die Hauptstädte der kämpfenden Mächte: London, Berlin und Paris. Umso mehr Anlass zur Besorgnis hatten diejenigen unter ihren Bewohnern, die sich nicht voll und ganz mit ihrem Staat identifizierten. War ein möglicher Sieg Österreich-Ungarns und Deutschlands über Russland und Serbien in einem zum Kampf zwischen Germanen und Slawen stilisierten Krieg für die slawischen Völker in den Monarchien der Habsburger und Hohenzollern eine Chance oder eine Bedrohung? Was hätten die nichtrussischen Untertanen der Romanows im Falle eines russischen Sieges zu erwarten? Diese Fragen stellten sich die Polen, die auf die drei kriegführenden Imperien verteilt waren, ebenso wie Tschechen, Litauer, Letten, Esten, Ukrainer, Siebenbürger Rumänen, ungarische Serben, Bosnier, österreichische Italiener, russische Deutsche oder Juden. In den letzten Wochen des Jahres 1914 verhielten sich all diese Gruppen verblüffend ähnlich. Selbst wenn sie keinen großen Enthusiasmus an den Tag legten, demonstrierten sie absolute Loyalität. Und hofften, der Krieg möge ihre Situation wenigstens etwas verbessern. Die von Theodor Herzl gegründete zionistische Wochenzeitung Die Welt äußerte sich in einem Kommentar zur österreichisch-ungarischen Mobilmachung im Namen der Juden in der k. u. k. Monarchie: Die ehernen Stimmen der Feldschlacht sprechen, und die giftigen Stimmen der Judenhasser, der berufsmäßigen antisemitischen Demagogen im Osten und Westen des Reiches müssen schweigen. Jetzt gilt der Mann, der waffentragende Staatsbürger, jetzt, in der Feuerlinie, sind alle gleichberechtigt – auch die Juden.10 Ähnliche Standpunkte äußerten auch die Vertreter anderer Nationalitäten. Wenn es in Mitteleuropa und auf dem Balkan regionale Unterschiede in der Reaktion auf den Kriegsausbruch gab, dann weniger im Verhalten der Menge, sondern in der Tatsache, dass jede Nationalität ihre Loyalität separat erklärte. Schon in dieser frühen Phase zeichnet sich somit die schon angesprochene Ethnisierung der Imperien ab. Die einzelnen Volksgruppen bezogen recht zurückhaltende Positionen, selbst wenn das (vorerst weit entfernte) Ziel mancher politischer Bewegungen die Unabhängigkeit war. Ambitionierter gaben sich zu Beginn des Kriegs nur zwei marginale, wenngleich lautstarke Gruppen: die russischen Panslawisten und die deutschen Pangermanisten. Erstere hofften auf die Errichtung einer all246

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gemeinslawischen, bestenfalls homogen orthodoxen und russischsprachigen Monarchie unter dem Zepter des Zaren. Die Zeit ihrer intensivsten Tätigkeit fiel in die ersten Kriegsmonate, als für kurze Zeit auch aus höchsten russischen Regierungskreisen panslawistische Parolen zu hören waren. Die Besetzung Ostgaliziens, aus russischer Sicht ein Anschluss ans Mutterland, schien den Triumph des Panslawismus anzukündigen. Im Frühjahr 1915 zerschlugen sich freilich die noch recht vagen Pläne und statt über die „Befreiung“ der übrigen Slawen dachten die politischen Eliten Russland nun darüber nach, wie sich der Status quo bewahren ließe. Weitaus ernst zu nehmender wirkte die pangermanistische Bewegung. Zwar wurde die Idee der deutschen Einheit unterschiedlich aufgefasst, doch in ihrer maximalistischen Ausprägung schloss sie fast ganz Ostmitteleuropa ein. Den Kern bildete die Vereinigung der Reichsdeutschen mit den deutschsprachigen Österreichern. 1914 war diese Idee vor allem in Cisleithanien sehr populär. Sie wurde nicht nur von Nationalisten, sondern auch von zahlreichen liberalen Intellektuellen propagiert. Auch Robert Musil und Stefan Zweig begrüßten den Ausbruch des Kriegs, den sie als notwendige Voraussetzung für eine Zusammenführung der beiden Zweige des Deutschtums ansahen. Die Realisierung dieser Idee hätte das Ende oder bestenfalls den umfassenden Umbau der k. u. k. Monarchie bedeutet. Zudem war sie eine ernste Bedrohung für fast alle in ihr lebenden Nationalitäten, denn in der gesamten Region gab es Enklaven mit deutschstämmiger Bevölkerung. Wo die Grenzen des vereinten Deutschland verlaufen sollten, war unklar. Wenn sie aber alle oder auch nur die meisten eindeutig deutschen Siedlungsgebiete hätten umfassen sollen, hätten sie tatsächlich weit im Norden und im Osten liegen müssen. So beschränkte sich die im November 1918 von der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich ausgerufene Republik nicht nur auf das damalige Territorium der Österreichischen Republik, sondern schloss Nord-, West- und Südböhmen, Nord- und Südmähren, große Teile des österreichischen Schlesien sowie Czernowitz und andere Städte (darunter Brünn, Olmütz und Iglau) mit einem signifikanten deutschen Bevölkerungsanteil ein. Und dieses Projekt kam nicht aus der radikalen Rechten, sondern wurde von einem breiten Spektrum der sozialdemokratisch dominierten deutsch-österreichischen Politik mitgetragen. Noch düsterer waren die Aussichten für die Polen als deutsche Untertanen, aber auch als Bewohner der westlichen Grenzgebiete des Zarenreichs. Der Kriegsausbruch hatte in Deutschland eine recht große Gruppe von Anhängern einer territorialen Expansion auf den Plan gerufen. Ihre weitestgehenden Pläne 247

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umfassten sogar die baltischen Staaten als Siedlungsgebiet für künftige deutsche Landwirte. Gemäßigte Annexionisten beließen es bei der Forderung, das Deutsche Reich um einen breiten Streifen entlang seiner Ostgrenzen zu erweitern und die dort lebenden Polen nach Osten umzusiedeln. Die Regierung versuchte aus Propagandagründen, die annexionistische Agitation etwas zu dämpfen. Im Herbst 1914 wurde die Verbreitung einer Denkschrift des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claas, untersagt. Niemand beschnitt aber das Recht, derartige Ideen auf öffentlichen Versammlungen zu äußern, über die dann in der Tagespresse berichtet wurde. Der Ausbruch des deutschen Chauvinismus – den wir am Beispiel Prags gezeigt haben – drückte zweifellos die Stimmung der nichtdeutschen Untertanen Franz Josephs I. und Wilhelms II. Kein Wunder also, dass sie den Verlauf der Ereignisse des Sommers 1914 sehr reserviert betrachteten. Der kaschubische Schriftsteller und Arzt Aleksander Majkowski, der bald als Rekrut zur Eroberung Rumäniens und später an die Westfront ausgesandt wurde, hielt sich Anfang August 1914 in Zoppot auf: […] während der ganzen Woche vor der deutschen Kriegserklärung an Russland herrschte eine ungeheure Erregung der Geister. Kaum hatte sich nämlich die Kunde von der österreichischen Kriegserklärung an Serbien verbreitet, wogten, künstlich oder nicht künstlich, deutsche patriotische Gefühle auf. Halbwüchsige organisierten im Kurgarten Märsche mit Gesängen durch die Badestraße. Die Badekapelle änderte ihr Programm und spielte Soldaten­ lieder, in die sie immer wieder die Nationalhymnen einflocht: „Ich bin ein Preuße!“, „Deutschland über alles!“ etc. Nicht anders in den Cafés und Restaurants. Nur bei Heese spielte man gelegentlich polnische Volks­wei­sen, Moniuszko, Chopin. Besonderen Patriotismus bewies das Café Central, aus dem die Gesänge und Rufe alkoholisierter Menschen tönten und mich nicht schlafen ließen …11 Offenbar blieb den einheimischen Patrioten Majkowskis skeptische Haltung nicht verborgen, denn schon einen Tag später wurde er unter Spionageverdacht verhaftet. Seine polnischsprachigen Aufzeichnungen schienen den Behörden höchst suspekt und erst der am Folgetag gerufene amtliche Übersetzer konnte das Missverständnis aufklären. Fazit: Die allgemeine Reaktion auf den Kriegsausbruch waren Treuebekundungen, die in der Praxis rasch durch eine reibungslose Mobilmachung bestätigt wurden. Die Regierungen erhielten auch die Unterstützung ethnischer und kon248

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fessioneller Minderheiten. Selbst wenn gefällige Journalisten in ihren Berichten die Begeisterung übertrieben, so gab es doch keinen Anlass, am Patriotismus der Untertanen der drei Imperien zu zweifeln. Nichts deutete auf eine politische Krise hin, im Gegenteil: Wo vor dem Krieg die Lage angespannt war, kam es nun zu einer Verbesserung, die bedeutend länger anhielt als der Überschwang des Augusts, der das Ehepaar Hołówko so schockiert hatte. Die Szenen, die sich im Oktober 1914 in Warschau abspielten, versetzten den ansonsten gegenüber Russland absolut loyalen Kardinal Aleksander Kakowski in großes Erstaunen: Die Theater, Fest- und Tanzsäle, Spiel- und Freudenhäuser waren voll von russischen Offizieren. Polnische Patrioten empfingen sie in ihren Häusern, Aristokratinnen und Bürgerinnen, selbst ehrbare, tanzten auf privaten und ­öffentlichen Bällen mit russischen Offizieren; eine unerhörte Neuheit, denn kein Offizier in russischer Uniform, selbst ein polnischer, wäre vor dem Krieg in ein polnisches Haus eingelassen worden. Die herzlichen Beziehungen der polnischen Intelligenz und der höheren Schichten zu den Russen, die Verbrüderung des polnischen Volks mit „unseren slawischen Brüdern“ und mit „unserem“ Heer, die Trauungen junger Polinnen mit Russen und sogar Kosaken in den orthodoxen Kirchen, […] als hätte man die mehr als jahrtausendlange [sic!] Unterdrückung, die Misshandlung der katholischen Religion und der polnischen Nationalität durch die Russen für immer vergessen […] – nach der Abwehr der Deutschen vor den Mauern Warschaus kannte die Begeisterung der Polen für die russische Sache keine Grenzen.12

Loyalität im Alltag Ein paradoxer Beweis für die rechtmäßige Haltung der Polen im russischen Teilungsgebiet waren die gesellschaftlichen Reaktionen in Zeiten der Prüfung, das heißt bei Angriffen gegnerischer Truppen. Besonders schmerzlich erfuhren dies die polnischen Legionäre. Im Sommer 1914 zogen sie mit der Hoffnung ins ­Königreich Polen ein, ihr Erscheinen werde einen landesweiten Aufstand gegen die russische Teilungsmacht auslösen. Unterdessen lieferten die polnischen Bauern unzählige Beweise ihrer Treue – zu Russland. Die russische Armee war für sie die „unsere“, die Legionäre hingegen mieden sie, so gut es nur ging. Im August verbreitete sich im südlichen Teil des Königreichs das Gerücht, die „Falken“ hätten einen neuen Aufstand ausgerufen und würden mit Gewalt Bauern rekrutieren. Die Stimmung beruhigte sich durch das Eintreffen regulärer österreichisch-ungarischer Einheiten, die zwar auch keine Sympathien, aber doch 249

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­ twas mehr Vertrauen weckten. Die Angst vor dem Unglück, dass die „Aufstäne dischen“ über die Bauern bringen könnten, verflog aber nicht so bald. Noch in der zweiten Septemberhälfte wurde Felicjan Składkowski Zeuge, wie eine resolute Einwohnerin von Grotniki Małe Legionäre aus ihrer Kate vertrieb, die dort ­einen Schützenstand errichten wollten. Den Rauswurf begleiteten Rufe: „Was tut’s ihr, oh Jesu, in der Kate wollt’s schießen. Geht’s in den Wald, wenn’s einen Aufstand machen wollt, ihr verschwindet, und hinterher zünden unsere mir die Kate an“ oder „wegen der Falken geht die Kate in Rauch auf “.13 Viele Kongresspolen mussten zu einer patriotischen Haltung gezwungen werden. Im von den Legionen besetzten Kielce verlangte man, dass alle russischen Schilder entfernt würden. Die Ladenbesitzer folgten der Anordnung, für alle Fälle aber nur provisorisch. Als sich im Herbst die k. u. k. Truppen aus dem Königreich Polen zurückzogen, kamen die russischen Schriftzüge sofort wieder zum Vorschein. „Der Regen hat den Kalk abgewaschen“, erklärten die Einheimischen. Auf dem Land verdächtigte man die Legionäre, sie wollten die Leibeigenschaft wieder einführen. Die Stimmung erinnerte bedrohlich an den Galizischen Bauernaufstand 1846. Noch im Sommer 1916 berichtete ein Rekrutierungsoffizier der Legionäre, die Bauern im Umland von Sandomierz seien überzeugt, „dass ihr ganzes heutiges Elend von den Intelligenzlern, den Priestern und den Höfen verursacht wurde, die sie an die Österreicher verkaufen und die Leibeigenschaft einführen wollen“.14 Die Rettung sahen sie in Russland. Unsichtbare Hände schrieben auf österreichische Plakate: „Es lebe Zar Nikolai.“ Der Priester Rokoszny notierte noch erstaunlichere Zeichen der Verbundenheit mit dem Herrscher. In den Gebieten, durch die in den ersten Kriegsmonaten häufig Truppen zogen, grassierte auch das Banditentum. Ermuntert durch die österreichisch-ungarische Militärführung, begannen sich die lokalen Gemeinschaften deshalb zu organisieren. Freilich nicht alle. Als sich Bauern, Bürger und Priester in Sachen Sicherung der Ordnung und Verteidigung gegen das Banditentum in der Gemeinde treffen sollten, sagten die Bauern aus Świniary: Wir komm’ nicht. Wenn wer Angst hat, soll er sich schützen. Wir brauchen kein’ Schutz, unser Kaiser hat genug Armee, soll’s nehmen, dann kann er die Österreicher rauswerfen und uns schützen.15 Für die Offiziere der Legionen war die Haltung der polnischen Bauern eine solche Enttäuschung, dass sie zuweilen von ihr auf die völlige Degeneration der Einwohner des Königreichs schlossen. Ein Bericht über das Gouvernement Piotrków spricht von der sprachlichen und „moralischen“ Russifizierung der dortigen Be250

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völkerung. Sie zeige sich etwa in einer Verunstaltung der Sprache. „Der Bauer hat seinen Dialekt aufgegeben und spricht jetzt einen russisch-makkaronischen Jargon. Die Bauern bestellen angeblich Messen für den Erfolg der russischen Armee. Die Einquartierung von Soldaten in ihren Katen betrachten sie als Ehre und sollen ihnen sogar ihre Frauen und Töchter für die Nacht überlassen haben.“ 16 Selbst wenn diese dramatische Schilderung mehr über die mentale Verfassung des Berichtenden aussagt als über die tatsächliche Haltung der Bauern, so hatte sie doch einen wahren Kern. Der ländliche Konservatismus begünstigte den Glauben an den guten Zaren ebenso wie zuvor in Galizien den Glauben an den gerechten Kaiser. Hinsichtlich der Verbundenheit der nationalen Minderheiten mit der rechtmäßigen Regierung bildeten die polnischen Gebiete keineswegs eine Ausnahme. In Serbien zwang die Grausamkeit der österreichisch-ungarischen Truppen die Bevölkerung geradezu zur Loyalität gegenüber der serbischen Regierung. Die ­litauisch- und polnischsprachigen Masuren bewiesen ihre Treue zum deutschen Vaterland. Der litauische Gutsbesitzer und russische Untertan Eugeniusz Romer war von ihrer Haltung beeindruckt: Einen scheußlichen Eindruck machen auch die in Scharen nach Russland ­deportierten preußischen Familien aus dem von russischen Truppen besetzten Teil; wegen Spionage und ihrer feindseligen Einstellung dürfen sie nicht bleiben, wo russische Truppen stehen […]. Männer im besten Alter sind nicht darunter, auch keine Heranwachsenden, nur Alte, Frauen und Kinder; durchgefroren, ausgehungert fahren sie auf der Straße nach Šiauliai; unterwegs sterben Kinder, es gibt viel Armut und Elend, aber auch große Arroganz, denn statt für die Hilfe und die Nahrung zu danken, die sie von unserer Bevölkerung erhalten, drohen sie noch, wenn der Kaiser käme, würde es uns noch schlimmer ergehen, er würde uns zu Fuß davonjagen. Wirklich seltsam, diese Ver­ bun­denheit der überwiegend litauischen Bevölkerung zur preußischen Regie­ rung, der man wegen des Kriegs alles genommen hat und der man das Recht verweigerte, an sicherere Orte zu fliehen.17 Die Loyalität der Zivilbevölkerung manifestierte sich noch auf andere, überaus abstoßende Weise. In vielen Orten äußerte sich in spontanen oder organisierten Kundgebungen weniger die Unterstützung für die Regierenden als vielmehr der Hass gegen die Mituntertanen anderer Nationalität, Religion oder Standeszugehörigkeit. In Zagreb und anderen kroatischen Städten skandierte die in den Straßen versammelte Menge „Dole Srbija!“ (Nieder mit Serbien). Ähnliche Szenen 251

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gab es in Sarajevo. In Kroatien und Bosnien wurden Geschäfte serbischstämmiger Bürger der k. u. k. Monarchie geplündert. Einen großen Teil der Demonstranten stellten betrunkene Rekruten, die schon wenige Tage später an der gescheiterten Invasion in Serbien teilnehmen sollten. In manchen Einheiten von General Potioreks Armee stellten Kroaten die Hälfte der Soldaten, die österreichischen Serben ein Viertel.18 Im Gedächtnis der serbischen Untertanen der Monarchie hinterließen die Militärs den denkbar schlechtesten Eindruck, nicht nur als betrunkene Rekruten, sondern auch als bereitwillige Vollstrecker des Kriegsrechts. Die lokale bosnische und kroatische Bevölkerung verfiel dem Spionagewahn, in dem jeder Serbe und jede Serbin als Verräter galt (auch Frauen wurden wegen „Schüssen ums Eck“ angeklagt und gehängt). Doch nicht immer standen die Treuebekundungen im Kontext eines ethnischen Konflikts. Mitunter wurden auch einzelne soziale Gruppen zu Feinden und Verrätern erklärt. So denunzierten in den mehrheitlich von Polen bewohnten Gebieten Kongresspolens polnische Bauern Gutsbesitzer und Priester wegen deren vermeintlicher Unterstützung Österreich-Ungarns. Fast immer beteiligten sich Zivilisten in Städten und Kleinstädten aktiv an den von der russischen Armee organisierten Pogromen. In diesen Fällen verschwamm die Grenze zwischen tätiger Unterstützung der Regierungspolitik und Banditentum vollends. Im Frühjahr 1915 schwappte die Welle der Gewalt gegen Mitbürger von den Frontgebieten nach Moskau und Petrograd über. Unter dem Eindruck der Niederlage bei Gorlice kam es zu einer Reihe von Pogromen, die sich anfangs gegen in Russland lebende österreichisch-ungarische und deutsche Staatsbürger richteten, später auch gegen Menschen mit deutsch klingenden Namen und ganz beliebige Personen. Während des größten Pogroms in Moskau zerstörte der Mob am 8. und 9. Juni 1915 einige Hundert ­Geschäfte und Wohnungen, mehr als 700 Menschen wurden tätlich angegriffen.19 Auch aufseiten der Mittelmächte herrschte Pogromstimmung. In kleinerem ­Ausmaß betroffen war eine Gruppe polnischer Untertanen des Zaren, die als Saisonarbeiter im Deutschen Reich vom Kriegsausbruch überrascht wurden. Sie wurden interniert und mit der Bahn über den Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof ) abtransportiert, das heißt über die Haupttrasse, auf der bis heute die S-Bahn verkehrt. Ein Augenzeuge berichtete: „Als dieser Zug, mehrere Hundert Menschen, in ihrer armseligen Kleidung und mit ihrem Gerümpel, über den ­Alexanderplatz kam, wurden die Polen von der Berliner Bevölkerung – darunter auch von Arbeitern – bespuckt und mit allem möglichen Unrat beworfen.“20 Die Loyalität dem Staat gegenüber äußerte sich also auf vielfältige Weise und umfasste alle sozialen Schichten. Von allgemeiner Kriegsbegeisterung hingegen 252

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kann weder für Ostmitteleuropa noch für den Balkan gesprochen werden. In ­Euphorie verfielen eher die Eliten als das Volk. Nach einer gewissen Zeit wandte sich ein Teil dieser Eliten ebenso vehement gegen den Krieg. Stefan Zweig war keineswegs ein Einzelfall. Gedichte, Artikel oder Gemälde aus den ersten Mo­ naten des Ersten Weltkriegs belegen, dass die Ernüchterung erst nach einiger Zeit einsetzte. Meist erst dann, wenn auch die Loyalität der Massen zu bröckeln begann.

Repressionen Zu den am wenigsten verständlichen und zugleich faszinierendsten Aspekten der Geschichte dieses Kriegs gehört es, dass die Regierungen der kriegführenden Staaten – warum auch immer – überhaupt nicht bemerkten, welch große Unterstützung ihnen zuteilwurde. Statt sie zu festigen und die eigene Popularität zu steigern, taten sie vieles, um nicht nur die ethnischen und religiösen Minderheiten, sondern auch die „herrschenden“ Volksgruppen gegen sich aufzubringen. Hier sei an den Fall Aleksander Majkowskis erinnert. Seine Verhaftung aus dem einzigen Grund, dass er nicht in den patriotischen Jubel einstimmte und seine Eindrücke auf Polnisch notierte, ist ein typisches Beispiel für die Gedankenlosigkeit der Obrigkeit und die kollektive Hysterie der mobilisierten Gesellschaft. Wie der Blick über den Einzelfall hinaus zeigt, handelte es sich um eine allgemeine Erscheinung. Majkowski selbst schreibt über präventive Verhaftungen deutscher Untertanen polnischer Nationalität und über die Schließung polnischsprachiger Zeitungen. Letztere durften bald wieder erscheinen, freilich nur in deutscher Sprache. Auch dem unglücklichen Memoirenschreiber riet man, seine Notizen künftig auf Deutsch abzufassen. Die Repressionen gegen Minderheiten waren meist unbegründet und vor allem kontraproduktiv. Statt die Macht zu festigen und die Kontrolle über die Gesellschaft auszuweiten, untergruben sie das Vertrauen in den Staat. V ­ ergleichbare Mechanismen wirkten auch in der Donaumonarchie, selbst in Gebieten, die nie von einer russischen Invasion bedroht waren. Am gespanntesten war die Situation in Böhmen und Mähren, an der Grenze zu Serbien und in Ostgalizien. Im Herbst 1914, als die erste Welle patriotischer Manifestationen verebbt war und erste Hiobsbotschaften und Verwundetentransporte von der Front eintrafen, verabschiedete die Bevölkerung die immer neuen Marschbataillone in zunehmend schlechter Stimmung. Man winkte vieldeutig mit weißen Tüchern, mitunter zogen die Rekruten mit schwarzen Armbinden zum Bahnhof. Im mittelböhmischen Beraun marschierte eine Kompanie unter einem Banner mit der 253

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Inschrift „Česká krev“ (Tschechisches Blut). Trotz des Eingreifens der Offiziere schaffte es der „Trauermarsch“ bis zum Bahnhof.21 Derartige Vorfälle häuften sich. Sie beeinflussten zwar nicht die Haltung der Truppen auf dem Schlachtfeld, doch zweifellos lieferten sie den deutschen Nationalisten Argumente. Gerade diese trugen am meisten zur Entstehung des Stereotyps von den illoyalen tschechischen Untertanen der Monarchie bei. Der tschechische Historiker Ivan Šedivý gelangt in einer Analyse von Pressedebatten zu dem Schluss, dass die österreichisch-ungarische Politik gegenüber den Tschechen sich immer weiter von der Realität entfernte. Der imaginierte Verrat tschechischer Regimenter und das Fehlen jeglicher offensichtlichen Kriegsbegeisterung schufen eine bequeme Illusion, die die deutschen Chauvinisten in ihren Überzeugungen bestärkte. Tragisch war nur, dass auf der Basis dieser Illusion reale politische Entscheidungen getroffen wurden.22 Die vermeintliche Illoyalität der tschechischen (und nicht nur der tschechischen) Gesellschaft wurde zum Argument im Konflikt zwischen ziviler und militärischer Führung, der die gesamte Doppelmonarchie betraf. Weil die Monarchie faktisch aus zwei eigenständigen Staatsgebilden bestand, lässt sich die Dynamik dieses Konflikts im Vergleich der Politiken Cisleithaniens und Transleithaniens nachvollziehen. In Cisleithanien forderte das Militär schon im Herbst 1914 die Verhängung des Ausnahmezustands. Ein gewichtiges Argument waren Vorfälle auf tschechischem Gebiet. Im November und Dezember wurden in Mährisch Ostrau drei tschechische Zivilisten gehängt, die man der Verbreitung prorussischer Flugblätter verdächtigte. Die Sache schlug hohe Wellen, zumal in der deutschsprachigen Presse. Noch größeren Eindruck machte wohl die Verhaftung führender tschechischer Politiker: Schon im September 1914 wurde Václav Klofáč festgenommen, im Frühjahr 1915 Karel Kramář und Alois Rašín. Wahrscheinlich hatte sich nur Kramář, ein eingefleischter Russophiler, wirklich des – so die Anklage – Staatsverrats schuldig gemacht (er wurde nach einem Jahr zum Tod verurteilt, entging aber dank einer Amnestie Karls I. der Hinrichtung). Doch selbst, wenn sich ein großer Teil der Verratsvorwürfe als unbegründet erwies, so führte jede weitere „Affäre“ zu einer Verschärfung der Politik gegenüber den tschechischen Gebieten. In ganz Cisleithanien wurden sukzessive die Bürgerrechte eingeschränkt, bis im Frühjahr 1915 schließlich der Ausnahmezustand ausgerufen wurde. In Böhmen und Mähren kamen Beschlüsse hinzu, die auf die Position der Tschechen innerhalb des Staatswesens zielten. Symbolcharakter hatte die Änderung des Staatswappens und des offiziellen Staatsnamens. Statt wie bisher von den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern sprach 254

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man nun offiziell von den Österreichischen Ländern. Im neuen Staatswappen fehlten die Symbole der Böhmischen Krone. Schon 1915 wurde das Tschechische aus Ämtern und Theatern verbannt, man schloss sogar Schulbibliotheken. Österreich-Ungarn tat alles, um sich einen Feind zu schaffen, wo es zuvor keinen gab. Noch weit umfangreicher waren die Repressionen in Ostgalizien. Die Gewalt des Militärs gegen die Zivilbevölkerung war dabei nur ein Teil des Problems, obwohl sie so verbreitet war, dass sie mit der Zeit von äußeren Beobachtern nicht mehr wahrgenommen wurde. Der Bayer Friedrich von Friedeburg, der mit den k. u. k. Verbündeten in den Karpaten kämpfte, kommt nur einmal am Rand einer Schilderung der Evakuierung einiger Dörfer darauf zu sprechen: „Im Dorfe Komarniki im Stryitale hängten sie den Geistlichen, der vom Kirchturm den Russen Zeichen gegeben hatte, mit seinem Küster kurzerhand auf. Schon der Besitz von russischen Rubeln genügte, um Verdacht zu erregen.“23 Das klingt, als habe es sich um eine ganz normale Sache gehandelt. Das war es auch. Hinter vielen dieser Geschichten steckte mehr, als von außen zu erkennen war. Oft waren das Standgericht oder einfach ein Soldat mit einem Gewehr nur ein drastisches Mittel zur Lösung eines Nationalitätenkonflikts oder auch nur Nachbarschaftsstreits. Den Mechanismus beschreibt Jaroslav Hašek: Hinter der Schule im Schulgarten befand sich ein großes trichterförmiges Loch, das durch die Explosion einer großkalibrigen Granate hervorgerufen worden war. In der Ecke des Gartens stand ein starker Birnbaum. Auf einem seiner Zweige hing ein Stück abgeschnittenen Seils. An diesem hatte vor Kurzem noch der griechisch-katholische Pfarrer gehangen, der vom örtlichen polnischen Schulrektor angezeigt worden war, dass er Mitglied einer Gruppe von Altrussen gewesen sei und in der Kirche Messen für den Sieg der Waffen des orthodoxen russischen Zaren abgehalten habe. Das war zwar nicht wahr, weil der Angeschuldigte zu dieser Zeit gar nicht im Ort gewesen war, da er sich zu einer Behandlung von Gallensteinen in dem kleinen, vom Krieg unberührten Kurbad Bochnie Zamurowane befunden hatte. Beim Erhängen des griechisch-katholischen Pfarrers hatten mehrere Fakto­ ren eine Rolle gespielt: Nationalität, Religionskonflikt und Hühner. Der unglückliche Pfarrer hatte nämlich kurz vor Ausbruch des Krieges in seinem Garten eines der Hühner des Lehrers erschlagen, weil diese ihm immer die eingepflanzten Melonenkerne auspickten.24 In der Tat verflochten sich in Ostgalizien polnisch-ukrainisch-jüdische Konflikte mit dem Spionagewahn der Militärs zu einem Knoten, der bisweilen schwer zu 255

II  Das Hinterland

lösen war. Die Armee nutzte die Dienste selbst ernannter Informanten, die ohne Skrupel ihre Nachbarn in den Verdacht der Kollaboration mit dem Feind rückten. Die Verhafteten wurden unter provisorischen Bedingungen festgehalten und transportiert. Die Schaulustigen, denen sie unterwegs begegneten, waren den „Vaterlandsverrätern“ gegenüber meist feindselig eingestellt und verliehen dem auch Ausdruck. Einer der tragischsten Transporte von mutmaßlichen Moskalophilen endete im September 1914 in Przemyśl. Helena Seifert-Jabłońska berichtet in ihren Aufzeichnungen aus zweiter Hand: Gegen 5 Uhr nachmittags trieb man einen Transport von Moskalophilen zur Bahn: 46 Menschen, darunter sieben Frauen aus der Halbintelligenz. […] Eine von ihnen zog einen Revolver und erschoss einen Dragoner. Man stürzte sich auf sie alle. Mit Säbeln, Äxten, Knüppeln und Fäusten schlug man auf sie ein. Holzhacker mit Kloben kamen dazu und man zermalmte sie so, dass Passanten von Gehirnfetzen getroffen wurden und das Blut auf Mauern und Zuschauer spritzte. Übrig blieben zuckende Klumpen dampfenden Fleischs.25 Wenn auch die makabre Drastik der Darstellung Zweifel aufkommen lässt, ob sich das Ereignis tatsächlich so zutrug, kommt Seifert-Jabłońskas Erzählung der Wirklichkeit wohl recht nahe. Der proösterreichische Allgemeine Ukrainische Nationalrat (Holowna Ukrains’ka Rada, HUR), dem die Sitscher Schützen unterstanden, bezog sich in einer Denkschrift an das Armeeoberkommando auf eben diesen Vorfall. Statt theatralischer Grausamkeit lieferte das Dokument nüchterne Fakten. Demzufolge waren 45 Personen aus dem Dorf Wolicja, darunter die Tochter des griechisch-katholischen Priesters, unter dem Vorwurf der „Moskalophilie“ festgenommen worden. Als man sie durch die Straßen von Przemyśl ­führte, wurden sie von einer aus Einwohnern der Stadt bestehenden Menge ­angegriffen. Irgendwann kam ein sich in der Nähe aufhaltender Trupp von ­Honvéd-Husaren hinzu. In der Ulica Bociania fielen sie über die Gefangenen her und metzelten sie mit ihren Säbeln nieder. Nur drei Personen überlebten, die Tochter des Priesters nicht.26 Die ukrainischen Aktivisten in Österreich meinten, Angehörige ihrer Volksgruppe würden überdurchschnittlich oft zu Opfern unbegründeter Anschuldigungen von Polen und Juden. Diese Behauptung entbehrte nicht einer gewissen Grundlage, obwohl die in Anfragen von Abgeordneten und politischen Broschüren genannte Anzahl der Geschädigten um ein Vielfaches zu hoch war. Die lokalen Behörden und die Polizei in Ostgalizien waren überwiegend in der Hand von Polen, der galizische Statthalter Witold Korytowski machte aus seiner Abneigung 256

Loyalitäten

gegen die ukrainische Nationalbewegung keinen Hehl. Podolaken – konservative ostgalizische Grundbesitzer – und Nationaldemokraten hatten die ukrainische Nationalbewegung schon vor dem Krieg bekämpft. Die Zusammenarbeit mit der Armee bot eine Gelegenheit zur raschen und gründlichen Lösung des Konflikts. Daher waren unter den des Staatsverrats Beschuldigten zahlreiche antirussische ukrainische Aktivisten, deren einzige Schuld in der Abneigung gegen die polnischen Behörden bestand. Typische Opfer waren die griechisch-katholischen Priester. Doch geschah nicht nur Ukrainern Unrecht und nicht immer waren Polen die Denunzianten, Zuschauer und Täter. In den vorübergehend von Russland besetzten Gebieten kam es regelmäßig zu Judenpogromen. Treibende Kraft waren russische Soldaten, doch beteiligten sich auch ukrainische Bauern. Nach der Wiederkehr der österreichisch-ukrainischen Truppen häuften sich daher Anschuldigungen von Juden gegen Ukrainer. Die ukrainischen Politiker argumentierten, es handele sich lediglich um einen Versuch, sich der ruthenischen Konkurrenz im Handel zu entledigen. Die Juden revanchierten sich auch an den Polen, die sie der Kollaboration mit den Russen bezichtigten. Diese Vorwürfe waren bis zu einem gewissen Grad begründet. Die Lemberger Nationaldemokraten und Podolaken arbeiteten tatsächlich mit der russischen Obrigkeit zusammen, die im Gegenzug polnische Kultureinrichtungen vergleichsweise besser als jüdische oder ukrainische behandelte. Es entging den k. u. k. Beamten auch nicht, dass die russische Armee auf ihrem Rückzug nach Osten vor allem jüdische und ukrainische Aktivisten als Geiseln verschleppte, die polnischen meist aber verschonte.27 Die österreichisch-ungarischen Militärs standen den ethnischen Konflikten und gegenseitigen Anschuldigungen hilflos gegenüber. Oft wussten sie auch einfach nichts über Ostmitteleuropa. Zu diesem Schluss gelangten häufig die Einheimischen, die mit Kameraden aus Wien oder Berlin zusammenarbeiteten. Im Herbst 1914 empörte sich Józef Piłsudski über die Ignoranz österreichischer Offiziere, die glaubten, unmittelbar hinter der Nordgrenze Galiziens lebten orthodoxe Russen.28 Das östliche Grenzland der k. u. k. Monarchie war für sie wohl kaum weniger rätselhaft. Die Nervosität und die Angst der Armee vor der Zivilbevölkerung wurden schon erwähnt. Die gegenseitigen Denunziationen verstärkten diesen Zustand noch. Weil nicht klar war, wer recht hatte, sorgte man vor allem dafür, dass kein Verdächtigter frei herumlief. Wenn die Zeit oder die Möglichkeit fehlte, die Festgenommenen in die Etappe zu schaffen, wurden sie an Ort und Stelle exekutiert. Letztlich hatte die Verstrickung der Armee in den ostgalizi257

II  Das Hinterland

schen Nationalitätenkonflikt für alle Parteien katastrophale Folgen. Schon ab Herbst 1914 übernahmen die Militärs sukzessive die Macht. Die polnischen Zivilbeamten verloren die Kontrolle über die Provinz. Die Standgerichte fällten fleißig Todesurteile gegen Angehörige aller Volksgruppen. Verdächtig waren auch Flüchtlinge, insbesondere Juden und Ukrainer. Unter ihnen vermutete die österreichisch-ungarische Aufklärung besonders viele russische Spione.29 Letztlich musste – nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal – der Kaiser intervenieren. Im Herbst 1914 sagte er: „Ich will nicht, daß durch unberechtigte Verhaftungen auch loyale Elemente in eine staatsgefährliche Richtung getrieben werden.“30 Den Beweis, dass zur Aufrechterhaltung der Loyalität der Untertanen derartige Repressionen gar nicht nötig waren, lieferte die Innenpolitik im ungarischen Teil der Doppelmonarchie. In den ersten Kriegsmonaten herrschte dort eine ebenso kämpferische Stimmung wie in den anderen Landesteilen. Noch im Juli gab es so viele präventive Festnahmen von potenziell illoyalen Personen, vor allem Serben und Ukrainern, dass der Platz in Gefängnissen und Lagern nicht ausreichte und man einen Teil der Verhafteten bald wieder freilassen musste. Anfang September ereignete sich in der kleinen Stadt Zombor in der Wojwodina ein tragischer Zwischenfall. Eine Menge demonstrierender Rekruten und Zivilisten forderte die Entfernung von kyrillisch beschriebenen Schildern. Ein Händler serbischer Nationalität weigerte sich und versteckte sich vor der andrängenden Menge in seinem Haus. Als er sich umzingelt sah, schoss er einige Male auf die Angreifer. Anschließend wurde er von den Zivilbehörden verhaftet. Unterdessen forderte die Armee die Herausgabe des Kaufmanns und drohte, ansonsten Staatsanwalt und Polizeikommissar festzunehmen. Als der ungarische Ministerpräsident István Tisza davon erfuhr, protestierte er erbost gegen die Einmischung des Militärs in die inneren Angelegenheiten Ungarns. Das rettete zwar dem serbischen Kaufmann nicht das Leben, doch es bestärkte die ungarischen Behörden im Kampf um die Wahrung ihrer Unabhängigkeit. Bis zum Ende des Krieges gab es in Transleithanien außer im unmittelbaren Rücken der Front keine Standgerichte und keine Militärverwaltung. Es gibt keine Indizien dafür, dass sich ihr Fehlen negativ bemerkbar gemacht hätte. Die Politik der russischen Regierung ähnelte mehr der österreichischen als der ungarischen. Misstrauen gegen die eigenen Untertanen, zumal die Juden, war die Regel. Befeuert wurde es durch den endemischen Antisemitismus der russischen Militärs und – ähnlich wie in Ostgalizien – durch Nationalitätenkonflikte. Auch ökonomische Interessen spielten eine wichtige Rolle. In Kongresspolen setzte die Nationaldemokratie ihren schon vor dem Krieg begonnenen Boy258

Loyalitäten

kott jüdischer Geschäfte fort. Manche Kaufleute bedienten sich der Armee, um die jüdische Konkurrenz loszuwerden. Mit Erfolg. Die russischen Bekanntmachungen, die harte Strafen für das Vergiften von Brunnen, die Zerstörung von Telefonverbindungen und die Verbreitung von Defätismus androhten, waren oft so formuliert, als richte sich der Verdacht ausschließlich gegen die jüdische Bevölkerung. Auch die Vertreibung der Juden aus frontnahen Gebieten erweckte den Eindruck einer antisemitischen Hetzjagd. Im Mai 1915 wurden rund 15 000 Juden aus den Gouvernements Kielce und Radomsko ins Gouvernement Lublin zwangsevakuiert. Die fliehenden oder evakuierten Juden wurden von Bauern und Kosaken überfallen. Als Rechtfertigung der Repressionen diente die Behauptung, die Juden unterstützten Österreicher und Deutsche. Im Oktober 1914 setzte der Befehlshaber der russischen 2. Armee eine Belohnung auf den Kopf des Rabbiners von Tomaszów Mazowiecki aus, der bezichtigt wurde, den Deutschen Schwachstellen in der russischen Verteidigung gezeigt zu haben. Im März 1915 wurde den Juden sogar untersagt, sich am Finnischen Meerbusen anzusiedeln, weil dies die Hauptstadt des Imperiums bedrohe. Sie gefährdeten angeblich nicht nur die Verteidigungsfähigkeit des Landes, sondern auch die übrigen Einwohner. Man beschuldigte sie der Kollaboration während der kurzen österreichisch-ungarischen Besatzung eines Teils des Königreichs Polen. Als der Oberbefehlshaber Nikolai Nikolajewitsch die rücksichtslose Entfernung aller Juden aus den Frontgebieten anordnete und befahl, Rabbiner als Geiseln zu nehmen, begründete er dies mit dem Schaden, den die Juden den Christen zugefügt hätten, indem sie die treuesten Untertanen Nikolaus II. bei den Österreichern denunzierten. Rechtfertigte die Haltung der jüdischen Zivilbevölkerung des Zarenreichs diese Repressionen? Das fragten sich und ihre jüdischen Bekannten auch die Augenzeugen des Vorgehens der russischen Obrigkeit. Einer der befragten kongresspolnischen Juden antwortete mit einer Anekdote: […] und ihr, zu wem haltet ihr? Der Jude antwortet: Wir haben Schnupfen. Der Priester fragt: Was heißt das? Also erklärt der Jude es ihm: Bei uns gibt es eine Geschichte von einem Löwen. Eines Tages kommt ein Pferd zu dem Löwen und der Löwe fragt: Sag mir, riecht es aus meinem Rachen oder riecht es nicht? Das Pferd antwortet, es rieche nicht aus seinem Rachen, und der Löwe frisst es auf. Am nächsten Tag kommt ein Esel, der Löwe stellt ihm dieselbe Frage. Der Esel antwortet, es rieche schön aus seinem Rachen. Der Löwe frisst auch ihn. Am dritten Tag kommt ein Ochse, der Löwe stellt auch ihm die Frage nach dem Geruch. Da antwortete der Ochse: Verehrter Herr Löwe, ich rieche nichts, ich habe Schnupfen. Der Ochse kehrt heil nach Hause zurück. 259

II  Das Hinterland

Darum sage ich Ihnen, in solch stürmischen Zeiten sollte jeder Schnupfen haben.31 Ein Tropfen in diesem Ozean der Repressionen und Schikanen war das Schicksal der Ausländer, die sich bei Kriegsausbruch seit Längerem oder Kürzerem im Land des Gegners aufhielten. Von den polnischen Saisonarbeitern in Berlin war schon die Rede. Interniert wurden auch eine recht große Gruppe von Touristen sowie Geschäftsleute. Ihre Situation war keineswegs beneidenswert. Weil die deutschen Banken die Kooperation mit russischen Banken einstellten, kamen sie weder an ihr Erspartes noch konnten sie mit Kredit rechnen. Sie ersuchten um die Erlaubnis zur Rückkehr in die Heimat, sie standen Schlange an Fahrkartenschaltern und warteten auf eine Entscheidung der Behörden. Diese wiederum agierten chaotisch. Im Herbst 1914 gab es im Deutschen Reich auf lokaler Ebene vorübergehend eine Doppelherrschaft. Die Zivilbehörden arbeiteten noch, während schon die Militärverwaltung errichtet wurde. Im Endeffekt erhielten die Touristen – Kurgäste russischer Staatsangehörigkeit – zunächst die Erlaubnis zur Abreise nach Berlin, von dort dann über Schweden und Finnland nach Petrograd und schließlich ins Königreich Polen. Unterwegs wurde aber die erste größere Reisegruppe in Sassnitz auf der Insel Rügen festgesetzt. Nach langen Verhandlungen mit der Stettiner Kommandantur durften sie weiterreisen, die wehrfähigen Männer blieben aber in Internierungslagern auf deutschem Reichsgebiet.32 Die Abenteuer der russischen Untertanen in Deutschland lösten höchst unterschiedliche Reaktionen aus. Die russische Presse nutzte sie zur Propaganda und veröffentlichte schockierende Texte über die „deutschen Bestialitäten“. Im Sommer 1914 konnte – vor allem den Angehörigen der unglücklichen Urlauber – das deutsche Vorgehen tatsächlich noch als bestialisch erscheinen. Auch Józef Rokoszny war entsetzt: Aus Gurren besuchte mich Pfarrer Ekiert und berichtete von Meldungen Warschauer Zeitungen, wonach die Preußen die aus den Badeorten abgeholten Personen auf Schiffe gebracht hätten, Männer und Frauen getrennt. Eine Frau habe eine Herzattacke erlitten. Ihre Gefährtinnen hätten nach Hilfe verlangt, man habe ihnen nicht geöffnet. Die Kranke sei gestorben und die anderen Passagiere hätten sechs Stunden mit ihr verbringen müssen. Bei Gott, ich habe schreckliche Angst, ob es nicht meine Mutter war, die Seereisen nicht erträgt. Welche unerhörte Brutalität und unbegreifliche Bestialität. Wozu diese Quälerei? Wie niederträchtig kann der Mensch doch sein!33 260

Loyalitäten

Anders reagierten die mit der Nationaldemokratie sympathisierenden polnischen Zeitungen. Weil unter den Urlaubern aus Kongresspolen zahlreiche ­Juden waren, schrieb man ironisch von „Russen“ aus Grzybów und Nalewki, von „mutmaßlichen Serbenfreunden“ und von „Kurgästen mosaischen Glaubens“.34 Man darf allerdings nicht vergessen, dass die Schikanen sich gegen fremde Untertanen richteten, die eine potenzielle Bedrohung darstellten. Darin unterschied sich die deutsche Politik vom Vorgehen der beiden anderen Imperien – nicht, weil Berlin seinen Minderheiten mehr vertraut hätte, sondern schlicht deshalb, weil diese Minderheiten zahlenmäßig kleiner waren. Als Österreich-Ungarn und Russland ihre Staatsbürger in mehr oder weniger vertrauenswürdige Gruppen einteilten, wurde ein bedeutender Prozentsatz als unzuverlässig eingestuft. Einige Gruppen wurden stigmatisiert, weil man ihnen von vornherein Verrat ­unterstellte. Der Begriff des Verrats wiederum wurde sehr weit gefasst. Die russische Armee verteilte vor der Besetzung Ostgaliziens eine Broschüre über die ­lokalen politischen Verhältnisse an ihre Offiziere. Manche ostgalizischen Politiker wurden dort als prorussisch eingestuft und man empfahl, sie nach der Einnahme Galiziens zur Zusammenarbeit einzuladen. Als die Broschüre in die Hände des österreichisch-ungarischen Geheimdienstes gelangte, galt sie als ausreichender Beweis für den Staatsverrat der in ihr erwähnten Namen. Diese Politiker waren, wie man es nannte, „kompromittiert“. Bei einer Rückkehr der Österreicher nach Lemberg hätte sie bestenfalls ein Prozess erwartet. Somit blieb ihnen nun, selbst wenn sie ursprünglich keine derartigen Absichten hatten, nichts anderes übrig, als ihr Land tatsächlich zu verraten und es mit den abziehenden Russen zu verlassen. Damit bestätigten sie ex post die Richtigkeit der Anschuldigungen. Eine tragikomische Dimension erhält diese Episode dadurch, dass – wie Historiker später feststellten – die unglückselige Broschüre in der russischen Armee kaum bekannt war. Der Vertrieb funktionierte nicht und die Offiziere, die sie in die Hände bekamen, hatten weder Zeit noch Lust zu dieser landeskundlichen Lektüre.35 In Österreich-Ungarn fand sie hingegen zahlreiche interessierte Leser. Die Geschichte dieser Broschüre wirft ein bezeichnendes Licht nicht nur auf die vom Spionagewahn erfasste österreichisch-­ ungarische ­Öffentlichkeit, sondern auch auf die Profis, die Offiziere der k. u. k. Gegenauf­klärung. Deren Chef Max Ronge wandte eine ähnlich entwaffnende Logik auf die griechisch-katholischen Priester in Ostgalizien an: Man stand einer Feindseligkeit gegenüber, von der sich selbst Pessimisten nichts träumen ließen. 261

II  Das Hinterland

Man mußte zu gleich strengen Mitteln greifen wie die bosnisch-hercegovinische Regierung, Geiseln – namentlich Ortsvorsteher und griechisch-katholische Geistliche – ausheben. Bezeichnend für die Einstellung der letzteren ist, daß bis anfangs 1916 deren 71 sich den abziehenden Russen anschlossen, 125 interniert, 128 konfiniert und 25 gerichtlich verfolgt werden mußten, so daß mehr als ein Siebentel der Seelsorger der Diözesen Lemberg, Przemyśl und Stanislau kompromittiert war.36 Zählt man zu den „kompromittierten“ Personen noch die echten Moskalophilen sowie die nur aufgrund vager Indizien oder falscher Anschuldigungen präventiv verhafteten (und schnell wieder freigelassenen) Personen hinzu, so verliert der Begriff des Staatsverrats jegliche Kontur. Staatsverräter wurden Menschen, die man des Verrats verdächtigte – es gibt wohl kaum ein besseres Beispiel für eine selbsterfüllende Prophezeiung. Ronge vergaß in seiner Rechnung nur die griechisch-katholischen Geistlichen, die sich endgültig „kompromittierten“ – am Galgen. All diese Maßnahmen schadeten den kriegführenden Staaten sowohl innenals auch außenpolitisch. Repressionen gegen Untertanen feindlicher Staaten sorgten insofern für weniger Empörung, als sie auch in Großbritannien und Frankreich gang und gäbe waren. Der brutale Umgang mit eigenen Untertanen hingegen war kein Zeichen von Stärke, sondern ein Symptom der Schwäche. Mit der Unterdrückung, Schikanierung und mitunter Ermordung von Ukrainern, Juden, Deutschen oder Polen offenbarten die multiethnischen Imperien, dass sie nicht in der Lage waren, die Loyalität ihrer Minderheiten auf zivilisierte Weise zu gewinnen. Die Regierenden glaubten offenbar, die Gesellschaft ließe sich am besten durch Terror mobilisieren und Angst sichere ihnen die Loyalität der Untertanen. Das war ein tragischer Irrtum. Ungeachtet ihrer Nationalität und ihres Glaubens, waren die meisten deutschen und österreichisch-ungarischen Untertanen ihren Monarchen treu ergeben. Die Grausamkeit der eigenen Armee und die Unfähigkeit der zivilen Behörden untergruben diese Treue und lieferten der feindlichen Propaganda Argumente. Angesichts dessen war bis 1917 die Lage in den drei Imperien erstaunlich stabil. Auch im Hinblick auf die internationale Stellung der kriegführenden Staaten waren die Repressionen sinnlos. Das erkannten gemäßigte, liberale russische Politiker. Vergeblich versuchten sie, hochrangige Offiziere zur Einstellung der antisemitischen Hetze zu bewegen. Auch die westlichen Verbündeten mahnten an, dass sich Russland auf diese Weise nur Feinde schaffe. 262

Loyalitäten

Russische und österreichisch-ungarische Offiziere erlagen der Illusion, die Bevölkerung ihrer Staaten sei von perfekt organisierten, zu effektivem Widerstand gegen die rechtmäßige Regierung fähigen und bereiten Spionagenetzen durchdrungen und bilde daher eine Gefahr für die erfolgreiche Kriegsführung. Die Wirklichkeit war anders, doch die massenhaften Repressionen wirkten letztlich wie eine sich selbst erfüllende Vorhersage. Gesellschaftliche Gruppen, die man notorisch des Staatsverrats verdächtigte, entwickelten mit der Zeit tatsächlich eine entsprechende Bereitschaft. Destruktiv war nicht allein der Mechanismus als solcher, sondern auch seine schreiende Ungerechtigkeit. In der Frage des Staatsverrats glaubten die Behörden anscheinend an ethnische und soziale Prädestination. Ungeachtet der Realitäten, unterstellte man bestimmten Nationa­ litäten oder gesellschaftlichen Gruppen pauschal die Neigung zum Verrat, während man andere ebenso pauschal von jeglichem Verdacht freisprach. Die Mehrheit stand irgendwo dazwischen wie etwa die polnischen Legionäre, die keine Untertanen Österreich-Ungarns waren. Im September 1914 vereidigten ­österreichische Offiziere neue Freiwillige – russische Staatsbürger. Einer von ­ihnen erinnert sich, dass niemand den in der Eidesformel enthaltenen Treueschwur auf Franz Joseph I. nachgesprochen habe. Die ersten Reihen hätten etwas Unverständliches genuschelt, die hinteren Reihen nicht einmal das. Bald kursierte unter den Soldaten ein Lied über diese Zeremonie: Vollzog ein päpstlicher General einst das Gelöbnisritual. Fast platzte die Truppe vor Freude, Hob Arme und Beine beide. Ob sie stehen oder sitzen, ob sie frieren oder schwitzen, Öst’reich halten sie die Treue, hilf, Jesu, dass sie’s nicht gereue.37 Hätten die k. u. k. Offiziere die jungen Freiwilligen aus dem Königreich Polen so behandelt wie ihre Mituntertanen im Grenzgebiet zu Serbien oder die ukrai­ nischen Bauern, so hätte diese Manifestation des Ungehorsams sicher unerfreulichen Widerhall gefunden. In diesem Fall aber ließ der „päpstliche General“ niemanden hängen oder erschießen, sondern entschied sich dazu, den Vorfall zu ignorieren. Völlig zu Recht. Trotz der mangelnden Begeisterung für den ­„ehrwürdigen Monarchen“ opferten viele der in Kielce vereidigten Soldaten ihr Leben für die Verteidigung Österreich-Ungarns. 263

III  DIE BESATZUNG

Kapitel 1 Im ersten Moment Der Begriff „Besatzung“ war 1914 ebenso unbekannt wie „Gasmaske“, „Lebensmittelkarte“ oder „Fliegerbombe“. In der Geschichte Europas waren immer wieder Gebiete von Truppen eines feindlichen Staates eingenommen und nach Been­digung der Kriegshandlungen annektiert oder dem besiegten Staat zurückgegeben worden. Die längste Episode dieser Art begann 1878, als Österreich-­ Ungarn Bosnien und die Herzegowina besetzte – mit Zustimmung der internationalen Gemeinschaft sprach man damals von „Verwaltung“. Das Provisorium dauerte dreißig Jahre, bis sich die Habsburgermonarchie 1908 unter stürmischen Protesten Sarajevo und die umliegenden Gebiete einverleibte. Juristen versuchten seit Langem, den Begriff und mit ihm die Pflichten der neuen Obrigkeit (die nach dem Völkerrecht keinen Anspruch auf die betroffenen Territorien besaß) gegenüber der Bevölkerung des von ihr verwalteten Gebiets zu definieren. Ein weiteres Problem war der Krieg – wie viel Anstand war realistischerweise von einem Staat zu erwarten, für den das besetzte und meist f­ eindliche Territorium zugleich Frontgebiet war? Der 1899 in Den Haag zu Papier gebrachte Kompromiss verpflichtete die Siegermacht (den Besatzer), Zivilisten und ­neutrale Institutionen – so gut es eben möglich war – zu schützen. Sie musste die öffentliche Ordnung aufrechterhalten, durfte keinen Privatbesitz konfiszieren, keine Plünde­rungen gestatten und nicht nach dem Prinzip der Kollektivverantwortung agieren. Die Regeln waren also einfach. Freilich konnte niemand ahnen, dass kaum zwei Jahrzehnte später Besatzer Gebiete verwalten würden, die größer als die meisten damals existierenden Staaten waren. Und dies während eines langen Krieges, in dem die Bevölkerung des vorerst siegreichen Staates Hunger litt. Im Hinterland der Ostfronten waren Millionen Menschen von Besatzung betroffen, also unvergleichlich mehr als im Westen, im Rücken der italienischen Front oder im türkisch-russischen Grenzgebiet. 266

Im ersten Moment

Ostpreußen: zerstörte Eisenbahnbrücke in Darkehmen (heute Osjorks in der Oblast ­Kaliningrad).

Doch auch, wenn fast jede Einnahme eines Gebietes durch eine feindliche Armee als Besatzung bezeichnet wird, ist nicht jede militärische Landnahme eine Besatzung im engeren Sinne. So etwa, wenn das Eindringen auf fremdes Territorium nur von kurzer Dauer ist, weil der Eindringling wieder hinter die ursprüngliche Staatsgrenze zurückgedrängt wird. Ein gutes Beispiel dafür ist die serbische Front im ersten Kriegsjahr: Es gelang den österreichisch-ungarischen Truppen nicht, das Land des Gegners dauerhaft zu besetzen, sie drangen nur zeitweilig in begrenzte Gebiete ein. Den größten Erfolg erzielten sie im Dezember 1914, als sie sich für ganze zwei Wochen in Belgrad hielten – de facto einer Frontstadt unmittelbar an der Grenze. Ein wenig anders verlief das Geschehen im Norden. Im August 1914 eroberte Russland für knapp drei Wochen große Teile Ostpreußens – es war das einzige größere Gebiet des Deutschen Reichs, in das im Verlauf des Kriegs feindliche Truppen eindrangen. Im Süden der Provinz verbrannten während der Kriegshand­ lungen unter anderen Städten Ortelsburg, Hohenstein und Neidenburg. Auch im Norden und Osten okkupierten die Russen einige Landkreise. Nach mehrwöchigen Kämpfen zogen sich die Invasoren zurück. Von einer „normalen“ Bestatzung konnte auch im Süden und Norden von Ostpreußen nicht die Rede sein; die sogenannte Winterschlacht in den Masuren 267

III  Die Besatzung

im Februar 1915 war das letzte Frontkapitel in der Geschichte der deutschen Ostgebiete im Ersten Weltkrieg. Zu keinem Zeitpunkt wurden die von den Russen besetzten Gebieten einer zivilen Verwaltung unterstellt, überall blieben sie unmittelbares Frontgebiet. Die Bewohner Ostpreußens hatten es deshalb mit einer Militärverwaltung zu tun, sie erlebten den Zustrom von Flüchtlingsmassen, die Nähe der Front sowie die damit verbundenen Zerstörungen, Unglück und Angst. Die deutsche Propaganda verwandelte die Präsenz der russischen Truppen im Nordosten des Landes 1914 in einen großen Trumpf: Geschichten über die Grausamkeit der „Asiaten“, über verbrannte Städte, vergewaltigte Frauen und nach Osten deportierte Zivilisten wurden zum festen Bestandteil der nationalen Kriegserzählung. Abgesehen von den bei Kämpfen zerstörten Städten vor allem südlich von Allenstein, hatten diese Schreckensgeschichten mit der Realität wenig gemein. 1914 wurden etwas mehr als 100 gewaltsame Tode von Zivilisten bestätigt. Diese Anzahl wurde später von deutschen Journalisten und Publizisten um den Faktor 15 vermehrt. Doch selbst bei einer angenommenen Anzahl von 1500 oder 1600 Toten als Folge wochenlanger Kämpfe unter Beteiligung Hunderttausender Soldaten lässt sich schwerlich behaupten, die russische Besatzung Ostpreußen habe genozidale Züge getragen. Die Einheimischen gaben im privaten Kreis übrigens zu, dass zwar auch die Russen geraubt (vor allem Uhren) und Zerstörungen angerichtet hätten, mehr noch aber die eigenen Landsleute, Flüchtlinge aus anderen ostpreußischen Landkreisen. Eine „normale“ Besatzung dauerte im Osten eher Jahre als Monate: Lemberg war von Anfang September 1914 bis Ende Juni 1915 von den Russen besetzt, Lodz fast vier Jahre von den Deutschen, Warschau und Lublin von August 1915 bis Kriegsende, Wilna ebenfalls über drei Jahre, Belgrad etwas kürzer, Bukarest zwei Jahre, Riga das ganze letzte Kriegsjahr. In den Städten bedeutete die Besatzung einen weitaus größeren Einschnitt als auf dem Land, wo das Auftauchen „des Russen“, „des Deutschen“ oder „des Österreichers“ meist keine größeren Veränderungen mit sich brachte.

Der Rückzug Der britische Menschenrechtsexperte Hugo Slim unterscheidet sieben Formen von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Kriegszeiten: 1. Tötungen, Verwundun­ gen und Folter, 2. Vergewaltigungen, 3. Deportation und Zwangsarbeit, 4. Pauperisierung, 5. Hunger und Krankheiten, 6. emotionale Verluste, 7. Spätfolgen, ­Verluste und Vertreibungen.1 Der Erste Weltkrieg ersparte den Menschen in Ost268

Im ersten Moment

Jahrmarkt im von den Russen verlassenen Ortelsburg (Szczytno).

mitteleuropa und auf dem Balkan keine dieser Erfahrungen, die oft komplizierte und ganz verschiedene Gestalt annahmen. Betrachten wir etwa das Leid der Bevölkerung, die der Krieg zu Hause heimsuchte, und ihre Versuche, diesem Leid zu entgehen oder wenigstens seine Folgen zu mindern. Was geschah zwischen dem Abzug der eigenen Truppen und der Errichtung einer neuen (bzw. der Restitution der alten) Ordnung? Als Leitfaden dienen uns Tagebücher und Erinnerungen, die den kurzen, aber intensiven Zeitabschnitt des Vorbeizugs der Front und des Beginns der Besatzung dokumentieren. Dem Eintreffen des Krieges gingen dunkle Ankündigungen und Zeichen v­ o­­ran: Als ich in Myślenice […] einen besonders hartnäckigen Propheten fragte, worauf er seine Behauptungen stütze, sagte er, seit zwei Wochen heulten alle Dorfhunde in Richtung Osten, das sei ein deutlicher Vorbote des Krieges. Ein anderer sagte, seit Tagen sehe man am östlichen Nachthimmel einen roten Streifen, der zuvor nicht da gewesen sei. Einen solchen Streifen hätten die Menschen wenige Wochen vor Ausbruch des preußischen Krieges gesehen. Im Landkreis Dąbrowa sagte der alte und sehr vernünftige Bauer Mleczko voller Überzeugung, schon seit einem Monat ginge nachts ein ungeheures Weib in roten Gewändern auf dem Friedhof um, das sei das Vorzeichen eines großen und blutigen Krieges.2 269

III  Die Besatzung

Die erste Bestätigung all dieser Vorahnungen lieferten die Aushänge und Zeitungssonderausgaben mit der Nachricht von der Mobilmachung. Bald kündeten weitere, weitaus erdverbundenere Erscheinungen vom Nahen der Front. Die Leute hörten von in der Nähe geschlagenen Schlachten. Derlei Nachrichten waren fast immer in amtlich-optimistischem Ton gehalten, doch jeder halbwegs gescheite Leser konnte auf der Landkarte feststellen, dass die Front sich nicht entfernte, sondern näher rückte. Die Czernowitzer Allgemeine Zeitung druckte noch am 29. August 1914 Frontberichte unter dem Titel „Siege über Siege“. Zwei Tage später verließ der Statthalter der Bukowina die Stadt und die österreichisch-ungarische Armee begann mit der Sprengung der Brücken über den Prut. Anfang September waren die Einwohner von Czernowitz allein in der Stadt, die österreich-ungarischen Soldaten waren abgezogen, die russischen noch nicht eingetroffen. Um Czernowitz herum erhob sich der Rauch brennender Dörfer. Das Sprengen von Brücken, Niederbrennen von Bahnhöfen und Zerstören von Bahnlinien war fester Bestandteil eines jeden Rückzugs. Für die Pioniere war dies sicher eine leichtere Arbeit als das Errichten von Brücken, Straßen oder Feldbahnen. Bisweilen auch eine freudigere. Harry Graf Kessler beobachtete Ende Oktober 1914, wie Soldaten die Gebäude des Güterbahnhofs von Piotrków Trybunalski sprengten: „Bemerkenswert der Genuß, den es jedem einzelnen Pionier zu bereiten schien, Scheiben, Bogenlampen, Uhren u. s. w. zu zertrümmern. Etwas vom Kind kam heraus.“3 Umgekehrt gehörten die provisorische Reparatur von Gleisanlagen und die Wiederherstellung von Bahnverbindungen zu den ersten Maßnahmen der Eroberer. In Gegenden, die mehrfach besetzt und befreit wurden, sicherten diese Arbeiten – die anders als das Ausheben von Schützengraben zumindest in den ersten Kriegsmonaten bezahlt wurden – Einwohnern und Spezialisten Beschäftigung und Einkommen. Aus Sandomierz zogen sich die Russen im August 1914 so schnell zurück, dass sie nicht mehr dazu kamen, Gleise und Brücken zu zerstören. Das taten dann die Österreicher am Ende der ersten, mehrwöchigen Besatzung. Am 22. September gelang es den Russen, die in der Zwischenzeit Sandomierz zurückerobert hatten, die Brücke zu reparieren und mit der Instandsetzung der Bahnlinie zu beginnen. Sie errichteten eine weitere Brücke aus Pontons. Kurz darauf zerstörten sie beide wieder, um den Vormarsch der zurückkehrenden deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen aufzuhalten. Mitte Oktober hatten österreichische Ingenieure die Gleise provisorisch repariert und nahmen die Bahnlinie in Betrieb. Eine Woche später, als wieder Kosakeneinheiten auf Sandomierz vorrückten, begannen die Österreicher mit der systematischen Zerstörung der eben erst reparierten Gleise 270

Im ersten Moment

Bahnhof in Piotrków (1916).

und Anlagen. Am 28. Oktober sprengten sie, kurz bevor sie die Stadt verließen, die Bahnwerkstätten und rissen die Brücken ab. Tags darauf machte sich der Geistliche Józef Rokoszny auf, um die neuesten Zerstörungen zu begutachten. Am Bahnhof traf er schon wieder auf Bahnarbeiter, die von den Russen aus Dęblin herbeigeholt worden waren. Sie brauchten kaum eine Woche, um die Bahnverbindung nach Radom wiederherzustellen.4 Irgendwann zog dann die Front durch die Dörfer und Städte Galiziens, Kongresspolens, Serbiens oder Rumäniens. Augenzeugenberichte vermitteln den Eindruck einer allumfassenden Zerstörung. Doch so brutal der Krieg auch war – er gelangte nicht überall hin. Aus verständlichen Gründen zogen die Schlachtfelder größere Aufmerksamkeit auf sich als die von Kämpfen und Bombardements verschont gebliebenen Gebiete. Um die Proportionen richtig zu gewichten, muss man zwischen den Zeilen lesen und auf Details jenseits der apokalyptischen Visionen achten. So notierte Harry Graf Kessler, der vom Rücken seines Armee­ pferds aus das verlassene Kongresspolen betrachtete, ganz Polen sei, „wie es scheint, eine wüste Stätte, apokalyptisch verwüstet von den beiden feindlichen Mächtegruppen“.5 Trotzdem fand er für die Nachtruhe so gut wie immer ein heil 271

III  Die Besatzung

gebliebenes Dach über dem Kopf. Ein gutes Beispiel einer sehr emotionalen Schilderung ist Kardinal Kakowskis Bericht über eine Bahnfahrt nach Einnahme des Königreichs Polen durch die Deutschen im Frühjahr 1915. Bei der Lektüre sollte man im Hinterkopf behalten, dass die Umgebung zu den am schlimmsten verwüsteten Gebieten gehörte: Alle Bahnhöfe und Bahngebäude […] zerstört. Die Eisenbahnwerkstätten in Warschau und Pruszków, desgleichen die Fabrikgebäude in Żyrardów verbrannt. Die Wälder des Grafen Sobański hinter Żyrardów teils gefällt, teils beschädigt. […] Je näher die Kampflinie, desto größer die Verwüstung. Das Getreide am Halm schwarz vom Giftgas. Die Kapelle in Radziwiłłów bombardiert. Dicht an den Gleisen von Schrapnellen abgerissene Kiefernkronen, die Kiefern in der Mitte gebrochen, ohne Rinde. Die Erde aufgewühlt von Geschossen, alle paar Schritte ein tiefer Krater. Der Wald der Länge und der Breite nach von Schützengräben durchschnitten. Unmittelbar an der Bzura tiefere, zum Schutz vor Geschossen überdachte Stellungen. Am gegenüberliegenden Ufer einige Hundert Meter zurückgesetzt deutsche Stellungen. Auf den Feldern mannshohes Unkraut und Gras. Hier und da Ruinen von gesprengten Behausungen und Wirtschaftsgebäuden. Ein wahrlich wüstes Land! Wer die Steppe nicht kannte, hätte sich bei diesem Anblick eine Vorstellung machen können. […] von unter der Erde, über der Raben und Krähenschwärme kreisten, stieg Leichengeruch auf. Je weiter wir uns von der Bzura entfernten, desto weniger Zerstörungen sahen wir. Ab Skierniewice waren wieder bestellte Felder zu sehen. Skierniewice hatte trotz Bombarde­ ments sein altes Aussehen bewahrt. Łowicz hatte wenig gelitten. Das Kolle­ giat­­stift war heil geblieben. Hinter Łowicz einige verbrannte Dörfer. Entlang der Bahnstrecke einzelne Gräber oder Massengräber. Die wunderschönen Kirchen in Zduny und Złaków mit ihren hoch aufragenden Türmen waren teilweise zerstört. Das von Kugeln beschädigte Dach war mit Stroh gedeckt. Erst in Krośniewice sah man Menschen arbeiten. Ein wunderbares Land, doch es bietet einen traurigen Anblick.6 Am meisten betroffen waren die Orte, die an Straßen lagen, auf denen sich die Armee bewegte. Extremfälle waren unmittelbar an der Frontlinie gelegene Dörfer und Städte, die ins Artilleriefeuer gerieten. Die größte von ihnen war Belgrad, die wohl am schlimmsten zerstörte Gorlice (von den Folgen des deutschen Dauerbeschusses war schon die Rede). Schwere Schäden erlitten die Hafenstädte Bulgariens (das damals nicht nur ans Schwarze Meer, sondern auch an die Ägäis 272

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grenzte), die aus der Luft und vom Wasser von Russen, Franzosen und Briten bombardiert wurden. Die Einwohner dieser Städte waren nicht Beobachter der heraufziehenden Katastrophe, sondern ihre Opfer. Wer konnte, suchte sein Heil in der Flucht, die aber bisweilen in noch größeren Schwierigkeiten endete. In Kriegstagebüchern und Erinnerungen sind Zivilisten, die mit der Armee flohen, gleichsam Statisten, die nicht aktiv an den Kämpfen teilnehmen, aber durch ihre Anwesenheit der Situation zusätzliche Dramatik verleihen. Der russische Kavallerist Andrej Lobanov-Rostovskij schildert die panische Flucht polnischer Bauern während der Schlacht bei Opatów im Herbst 1914: Die Verwirrung unter den Bauern war unbeschreiblich. Frauen und Kinder schrien vor Angst, Männer versuchten, ihre in Panik geratenen Zugtiere zu halten, und eine hysterische Frau klammerte sich an mein Pferd und rief: „Herr Offizier, wie kommt man am sichersten hier heraus?“, was ich aus naheliegenden Gründen nicht anders beantworten konnte, als sehr allgemein in eine Richtung zu weisen. Ein Mann, der drei störrische Kühe vor sich hertrieb, konnte sie gerade rechtzeitig auf einen Nebenweg führen, um zu erleben, wie auch dort Granaten einschlugen. Er machte kehrt, nahm einen anderen Weg, der aber genauso unter Beschuss lag, woraufhin er schließlich ganz die Fassung verlor und in sein brennendes Dorf zurückeilte.7 Das Schicksal der Flüchtlinge, die aus ihren zerstörten Häusern unmittelbar in die Wirren der tobenden Schlacht gerieten, war tragisch, aber es war nicht die Norm. Szenen wie die von Lobanov geschilderten gab es in den Gegenden, in denen die heftigsten Kämpfe stattfanden. Jenseits davon hatte der Krieg weit weniger gravierende Folgen für die Zivilbevölkerung, zumal angesichts der Verwüstung der Region im nächsten Weltkrieg. Zwar gab es zahlreiche Zerstörungen, doch außer Belgrad und Czernowitz war in den Jahren 1914–18 keine ­größere Stadt Ostmitteleuropas Ziel von systematischem und dauerhaftem Artilleriebeschuss. Die serbische Hauptstadt wurde nach Kriegsausbruch mehr als ein Jahr lang immer wieder bombardiert, sie war vorübergehend vom Feind besetzt, Zehntausende Kriegsgefangene, Kranke und Verwundete vegetierten dort vor sich hin. Als die k. u. k. Truppen im Oktober 1915 zum zweiten Mal in die Stadt einrückten, waren von den 90 000 Vorkriegseinwohnern noch 7000– 12 000 übrig. Aber Belgrad war eine Ausnahme. Im Ersten Weltkrieg übergaben die Besiegten größere Städte in der Regel kampflos. Für die Militärs war es vorerst noch unvorstellbar, Zivilisten, Frauen und Kinder einer Belagerung, Bombardierungen, Hunger oder Straßenkämpfen auszusetzen. Als es im Juni 1915 273

III  Die Besatzung

bei der Rückeroberung Lembergs durch die österreichisch-ungarische Armee im Stadtzentrum zu einem zufälligen Schusswechsel zwischen der russischen Nachhut und einer k. u. k. Patrouille kam, waren die Zeitungen empört: Wie konnte es zu einer für Unbeteiligte so gefährlichen Situation kommen? In den meisten Städten verlief der Durchzug der Front anders und die Gefahren für ­Leben und Besitz ihrer Einwohner waren nicht immer eine unmittelbare Folge von Kampfhandlungen. Als der Geschützdonner nicht mehr zu überhören war und die ersten Soldaten zerschlagener Einheiten und Deserteure in den Straßen auftauchten, wurde es immer schwerer, den Glauben an einen günstigen Kriegsverlauf aufrechtzuerhalten. Die Nervosität wuchs, die geringsten Anlässe lösten Panik aus. So auch am 27. August 1914 in Lemberg. Auf den Ruf: „Die Russen kommen!“ strömten von Jałowiec und dem Łyczakowska-Tor Massen ins Stadtinnere. Rekruten und Reservisten stürzten aus den Kasernen, Lastkutschen, Fuhr­ werke und andere Gefährte setzten sich in Bewegung. Die Frauen packten ihre Kinder und liefen unter dem Einfluss der Massenpsychologie blindlings und ohne groß nachzudenken unbekleidet und barfuß zum Bernhardiner­ klos­ter und verbreiteten unterwegs Panik und Entsetzen. Das Klappern der hastig heruntergelassen Rollläden verstärkte den Lärm und das Durch­ein­ ander. Von der Antonius-Kirche bis zum Plac Cłowy sammelten und drängten sich unzählige Männer, Frauen und Kinder, Soldaten mit und ohne Waffen, Fuhr­werke, Automobile, Straßenbahnen und freigelassene Pferde zu einem dichten, durch den eigenen Druck gelähmten Ganzen.8 In diesem Fall handelte es sich um einen falschen Alarm. Erst einige Tage später zogen die geschlagenen und müden österreichisch-ungarischen Truppen auf ihrem hastigen Rückzug durch Lemberg. Unterdessen verließen zahlreiche Staatsbeamte und Teile der lokalen Eliten die Stadt, darunter die Hälfte der 100 Mitglieder des Stadtrats. Aus der fünfzehnköpfigen jüdischen Fraktion blieben nur drei Ratsherren. So war es in fast allen Großstädten. Je vermögender die Bürger waren, desto weniger waren sie bereit, die Gefahren der Besatzung mit ihren Landsleuten zu teilen. Im Sommer 1915 etwa verließen zusammen mit den Russen viele polnische Großgrundbesitzer aus bedeutenden Familien – Włodzimierz und Seweryn Czetwertyński, Maurycy Zamoyski, Ksawery Branicki, Józef ­Poto­cki – und andere vermögende Warschauer wie der Bankier Leopold Julian Kronenberg die Stadt. Der Warschauer Kurier Narodowy vermerkte kritisch: „Es blieben die weniger Vermögenden und Ruinierten.“9 274

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Zu den Dingen, auf die man bei der Evakuierung von Ämtern besonders achtete, gehörte die Sicherung von staatlichen und privaten Bankeinlagen sowie von Dokumenten. Dieser Teil der Evakuierung verlief anfangs recht ruhig und vorschriftsmäßig. So etwa im Sommer 1915 in Warschau: [D]ie Evakuierung, wenngleich nicht allzu eilig, […] schreitet doch stetig und recht systematisch voran. Als Erstes wurden unsere Krankenhäuser evakuiert, dann die Frauen der Beamten, jetzt nach und nach oder teilweise einige Ämter, die Gerichte, der Zoll, das Finanzamt usw. Privatbanken und Kredit­ gesellschaften wurde vorgeschlagen, sie sollten die nicht im Zahlungsverkehr erforderlichen Mittel in Sicherheit bringen – das lehnten jedoch alle ab.10 Als letzte Amtshandlung verbrannten die abziehenden Beamten alle Dokumente und zahlten sich das Gehalt für einige Monate im Voraus aus. Andere ausstehende Rechnungen wurden meist nicht mehr beglichen. In Lemberg erhielten die Staatsbeamten Ende August kein Gehalt, auch Alters- sowie Witwen- und Waisenrenten wurden nicht mehr ausgezahlt. Auch in den Teilen Kongresspolens, aus denen sich die Russen im August 1914 vorübergehend zurückziehen mussten, dachte man nur an vier Monatsgehälter für die Militärs und drei für die Staatsbeamten. Lehrer und Priester erhielten keinen Groschen.11 Die Evakuierung der Beamten (darunter auch Eisenbahner und Postler) war für die Zivilbevölkerung ein untrügliches Zeichen, dass die Dinge schlechter standen, als die Zeitungen verkündeten. Der Maler Tadeusz Dowgird (Tadas Daugirdas) beobachtete im Sommer 1915 den Machtwechsel in seiner Heimatstadt Kowno. Am 15. August schlugen dort die ersten deutschen Geschosse ein. Die russische Artillerie in der Festung Kowno erwiderte das Feuer und nichts deutete darauf hin, dass die Verteidiger an Rückzug dachten. Doch schon am nächsten Tag eilten Ärzte, Postbeamte, Staats- und Stadtpolizisten mit gepackten Koffern zum Zug nach Wilna. Nach einigen Stunden stieß der Festungskommandant hinzu. Als der Stadtrat verzweifelt bei der Kommandantur nachfragte, wie man sich beim Einmarsch der Deutschen zu verhalten hätte, war in Kowno schon niemand mehr, der es ihnen hätte sagen können. Als Dowgird am darauffolgenden Morgen durch die Stadt spazierte, um die Zerstörungen zu betrachten, fiel ihm etwas Ungewöhnliches auf: Auf dem Weg zur Iwanowstraße wurde ich vor dem städtischen Garten von der Feuerwehr eingeholt, die in Richtung griechisch-orthodoxe Kathedrale fuhr. Ich vermutete, daß sie einen Brand in der Nähe des Petersberges löschen wollte; dort brannte nämlich die Dragonerkaserne. Die Wehr fuhr jedoch nur 275

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zum Gasthof Lewinsohn, kehrte hier um und begab sich zur WilkomirChaussee. Als sie an mir wieder vorbeifuhr, bemerkte ich, daß sämtliche Gerätewagen und Spritzen mit allerlei Hausgerät beladen waren, und daß zwischen den Feuerwehrleuten Frauen und Kinder saßen. Auf dem ersten Wagen fuhr, neben dem Fahrer stehend, der Brandmeister.12 Sobald ihnen klar wurde, dass der Feind nahte, flohen auch die Bevölkerungsgruppen, die am ehesten Repressionen und Willkür der Eroberer befürchten mussten. Von den mehr als 200 000 Einwohnern Lembergs floh in den ersten vier Kriegswochen rund ein Viertel. Die meiste Angst hatten die Juden – von 57 000 blieben 40 000. Von noch größerem Ausmaß war die Flucht vor den Besatzern im letzten Quartal 1916 in Rumänien. Durch Rekrutierung und Flucht verringerte sich die Anzahl der Einwohner im besetzten Teil des Landes von mehr als 4,2 Millionen auf nicht ganz 3,5 Millionen. In Österreich-Ungarn gab es proportional weitaus weniger Flüchtlinge – vor allem aus Galizien und der Bukowina –, die Schätzungen schwanken zwischen 500 000 und 1 300 000. Nicht ohne Grund waren viele der Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina, die 1914 Wien und andere Städte des österreichischen Hinterlands überschwemmten, Juden. Sie fürchteten Pogrome der Kosaken. Weniger rational waren die Ängste der Einwohner Ostpreußens. Die Anzahl von angeblich 800 000 Menschen, die vor dem „Kosakenterror“ flohen, scheint angesichts der wenigen bestätigten Fälle von russischen Kriegsverbrechen unverhältnismäßig hoch. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Teil der Bevölkerung sicherer gewesen wäre, wenn er zu Hause geblieben wäre. Auch auf der anderen Seite der Front ging die Angst um. Auf die Kunde vom Herannahen der Österreicher traten in Chełm und Umgebung ganze russisch-orthodoxe Gemeinden die Flucht an. Während der zweiten österreichisch-ungarischen Invasion in Serbien floh die Zivilbevölkerung in Massen, weil sie ähnlich brutale Repressionen wie einige Monate zuvor befürchtete. Was brachte die Menschen dazu, freiwillig zu fliehen oder sich in Wäldern zu verstecken, bis die Situation sich beruhigte? Zum einen waren es die natürliche Vorsicht und die Berichte über Verbrechen des Feindes, zum anderen war es aber auch Panik. Zudem gab es konkrete Ängste, die in den Quellen freilich nicht direkt angesprochen werden. Unabhängig von der jeweiligen Front fällt die häufige Abwesenheit von Männern und jungen Frauen ins Auge. In den Bauernhäusern, aus denen man die nötigsten Vorräte und den wertvollsten Besitz entfernt hatte, blieben meist nur ältere Bäuerinnen und Greisinnen zurück. Das war natürlich 276

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Flüchtlinge aus Maramureș im nordöstlichen Grenzland Ungarns auf der Rückkehr nach ­Beendigung der kurzen russischen Besatzung.

kein Zufall. Den an Ort und Stelle gebliebenen Bauern drohten beim geringsten wirklichen oder eingebildeten Ungehorsam der Tod durch Erschießen oder den Strang. Wincenty Witos, der seinen Besitz gegen Kosaken verteidigte, entging diesem Schicksal: „Um ein Haar hätten mich die Soldaten mit ihren Säbeln totgeschlagen, aus Rache dafür, dass ich ihnen nicht mein Pferd geben wollte und während des Gerangels um das Tier einem Kosaken so ins Gesicht geschlagen hatte, dass er zu Boden ging. Weil ich weitere Vergeltung fürchtete, machte ich mich gleich auf Richtung Tarnów.“ 13 Den Hof ließ er in der Obhut seiner Frau zurück. Was sich weiter dort abspielte, wissen wir nicht – die Gattin des künftigen Ministerpräsidenten führte kein Tagebuch. Die häufige Abwesenheit junger Frauen beim Durchmarsch von Truppen war indessen durch die Gefahr von Vergewaltigungen begründet. Wie oft es dazu kam, ist schwer zu sagen, weil weder Täter noch Opfer wollten, dass entsprechende Vorfälle bekannt wurden. Charakteristisch scheint in diesem Kontext ein Tagebucheintrag von Helena Seifert-Jabłońska. Im Oktober 1914 spricht sie mit einer älteren Bäuerin, die mit ihrer Schwiegertochter und den Enkeln aus der Gegend von Medyka evakuiert worden war. Die Bäuerin erzählt von dem Leid, das 277

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der Familie von Russen wie von k. u. k. Gendarmen angetan wurde. An einer Stelle ihrer Erzählung erwähnt sie kurz, dass die „Russen“, als sie ins Dorf gekommen seien, nicht nur das Haus geplündert, sondern auch „die Schwiegertochter malträtiert“ hätten.14 Stanisław Srokowski erwähnt einen Fall aus der Zeit der ersten russischen Besetzung Galiziens: Eine Horde von Dagestaner Kosaken und Tschetschenen mordete und ver­ wun­dete die ruhigen Einwohner und vergewaltigte auf schändliche Weise Frauen und minderjährige Mädchen. Allein in Mielec vergewaltigten die Russen 16 Gymnasiastinnen. Sie schossen auch auf Frauen, die sich ihnen nicht hingeben wollten, und sogar auf Kinder, wenn sie schrien.15 In einem anderen Bericht über die Gegend von Tarnów in der Zeit der russischen Invasion lesen wir: Die Frauen und Kinder in den Dörfern waren während der ganzen Zeit […] vielen Gefahren ausgesetzt, den meisten aber ganz zu Beginn, als die Kosaken zu grassieren begannen. Sie versteckten sich in fremden Häusern, wo mehr Menschen waren, sie flüchteten in die Stadt, verbargen sich in den Kellern – im Falle eines Überfalls leisteten sie Widerstand wie die heiligen Jungfrauen oder Matronen in den ersten Jahrhunderten der Kirche. Es gab Tausende, die alles in Kauf genommen hätten, selbst den Tod, um Gott nicht zu beleidigen, ihre Seele nicht zu beflecken.16 Auf der Grundlage ähnlicher, oft lediglich andeutender Schilderungen vermuten Historiker, dass im russisch besetzten Galizien Vergewaltigungen an der Tagesordnung waren und dass Jüdinnen zu den am schlimmsten betroffenen Opfern zählten.17 Ihre Tragödie steht in Erinnerungen und amtlichen Berichten oft im Hintergrund, weil nicht sie als Opfer russischer Willkür galten, sondern ihre Ehemänner, Söhne und Brüder, die sie verteidigten und von den Kosaken getötet wurden. Nicht zuletzt deshalb drängten jüdische Flüchtlinge in die größeren Städte, die sie – zu Recht – für sicherer hielten als ihre heimischen Schtetl. Man schätzt, dass sich allein in den beiden größten Zufluchtsorten jüdischer Flüchtlinge, Wien und Warschau, 1916 jeweils 80 000 Menschen aufhielten.18 Weil Ungarn nur einen kleinen Teil der Flüchtlinge aufnahm, konzentrierte sich das Problem der „anderen“ auf die cisleithanischen Länder und die tschechischen Gebiete. Anfang Juni 1915 erhielten in Cisleithanien mehr als 500 000 Flüchtlinge und Evakuierte (170 000 Polen, 266 000 Juden und 72 000 Ruthenen) staatliche Hilfen.19 In den österreichischen, böhmischen und mährischen 278

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Städten mischten sich Angst vor durch die Fremden eingeschleppten Krankheiten mit Neid, weil die Neuankömmlinge aus dem Osten untätig herumsaßen, während die Einheimischen nicht nur für sie arbeiten, sondern auch die immer knapperen Vorräte mit ihnen teilen mussten. Im Frühjahr 1915 meldete die Wiener Polizei: „Man sagt, die jüdischen Flüchtlinge tun nichts, als die übrige Bevölkerung aussaugen, sich vom Staate unterstützen lassen und ansonsten ein behagliches Leben zu führen.“ Zur Erklärung: Die Flüchtlinge erhielten damals vom Staat 21 Kronen im Monat. Unqualifizierte Arbeiterinnen – die niedrigste soziale Stufe – verdienten 50 Kronen pro Monat. Im Juli 1917, als der Satz inflationsbedingt auf 10,50 Kronen pro Woche angestiegen war, kostete ein Kilo Mehl 22 Kronen.20 Zwischen Hinterland und besetzten Gebieten herrschte in dieser Hinsicht Gleichheit: Überall unterschied man zwischen den „Seinen“, das heißt kranken oder auf Sozialhilfe angewiesenen Stadtbewohnern, und den oft als „Ausreißern“ bezeichneten Flüchtlingen. Im besetzten Lemberg wurden im Frühjahr 1915 die „Huzulen“ zum Symbol für das – in Gestalt ansteckender Krankheiten – von außen eingeschleppte Leid. Der Kurjer Lwowski veröffentlichte regelmäßig Statistiken, die unwiderlegbar den Zusammenhang zwischen Flüchtlingszustrom und Epidemiegefahr in der Stadt aufzeigten.21 Anfang 1917 untersagte die Prager Stadtverwaltung Flüchtlingen aus Galizien und der Bukowina aus, wie es hieß, Sorge vor der Ausbreitung von Typhus die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Die Verfügung wurde erst auf Druck staatlicher Stellen und Protesten jüdischer Organisationen wieder aufgehoben.22 In Warschau und Wien baten Bürger um die Verlegung der Flüchtlinge, weil diese nicht nur Krankheiten, sondern auch Unmoral verbreiteten. Als Antwort auf eine dieser Petitionen soll Franz Joseph I. gesagt haben, wenn es seinen geliebten Wienern zu eng werde, stelle er den galizischen Flüchtlingen gern Schloss Schönbrunn zur Verfügung. Doch auch diese Intervention beruhigte die Lage nur kurz. Die Konsequenzen der Umsiedlungen des Ersten Weltkriegs konnten zunächst als vorübergehende Kriegsfolge erscheinen. In Wirklichkeit schrumpfte durch Flucht und Deportationen nicht nur die Bevölkerung, sondern es kam auch zu einem Wandel in der Bevölkerungsstruktur: In Warschau sank die Anzahl der Einwohner um rund 20 Prozent. Weil weitaus mehr Christen – überwiegend römisch-­katholisch – flohen als Juden, stieg deren Anteil an der Bevölkerung von 38 Prozent (1914) auf 45 Prozent (1917). Im polnisch-weißrussischen und pol­nisch-­ ­­ukrainischen Grenzgebiet betraf die „Völkerwanderung“ eher russisch-­orthodoxe Christen als Katholiken. Infolgedessen war der Anteil polnischer Einwohner in 279

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den künftigen deutschen und österreichisch-ungarischen Besatzungsgebieten unerwartet hoch. Nicht alle Umsiedlungen waren freiwillig. So wurden Häftlinge oder der Begünstigung des anrückenden Gegners verdächtigte Internierte zusammen mit den Beamtenkadern in die Etappe verbracht. Auf Befehl des russischen Stabs­ chefs und notorischen Antisemiten Nikolai Nikolajewitsch Januschkewitsch wurden aber auch die Juden aus dem unmittelbaren Frontgebiet ausgesiedelt. Ab 1915 nahmen diese Aktionen mitunter massenhafte Ausmaße an. Nach der Niederlage bei Gorlice beschleunigten die russischen Behörden die Zwangsumsiedlung der deutschen Kolonisten aus dem Chełmer Land, betroffen waren insgesamt mehrere Zehntausend Menschen. Damals versuchten die Russen auch, wie schon erwähnt, fast die gesamte Bevölkerung der Gebiete, aus denen sie abzogen, zur freiwilligen Evakuierung zu bewegen. Resultat war eine wahre Völkerwanderung, die umso tragischer ausfiel, als die Häuser der Flüchtlinge meist von russischen Soldaten niedergebrannt wurden. Der Abtransport der Juden bedeutete ein zusätzliches Problem, weil das sogenannte Siedlungsgebiet, in dem die jüdische Bevölkerung leben durfte, auf die (einst zur Republik Polen gehörigen) westlichen und südwestlichen Gouvernements begrenzt war. Mit dem Vorrücken der Deutschen gerieten immer größere Teile dieses Gebiets unter Besatzung und die Territorien, in denen rechtmäßig Juden angesiedelt werden konnten, schmolzen rasch zusammen. Im Mai 1915 meldeten die Gouverneure aus Mogilew, Polta­wa und Jekaterinoslaw, es gebe keinen Platz mehr, während über Nebenstrecken in Güterwaggons gepferchte Juden aus dem Gouvernement Kowno eintrafen. Bald brach unter den Ausgesiedelten Typhus aus. Letztlich beugte sich das Militär dem Druck der Zivilverwaltung und beendete die Aussiedlung „verdächtiger“ Juden.23 Insgesamt deportierte die abrückende zaristische Armee mindestens 750 000 Polen, 300 000 Litauer, 250 000 Letten, 500 000 Juden und weit über 100 000 Deutsche ins russische Landesinnere. Kurland verlor zwei Drittel seiner Bevölkerung, das künftige Litauen proportional, das künftige Estland sowie das Königreich Polen deutlich weniger.

Die Stunde der Selbstverwaltung Die Bevölkerung der Städte und Kleinstädte blieb weitestgehend von Evakuierungen verschont. Dafür sollte vor allem sie am eigenen Leib erfahren, was der plötzliche Wechsel der Staatsangehörigkeit bedeutete. Die Verwandlung des Hinterlands in besetztes Gebiet verband sich fast immer mit einer Übergangszeit. Zwischen dem Abrücken der Verteidiger und dem Einmarsch der künftigen 280

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Besatzer vergingen oft viele Stunden, mitunter Tage. Das war die gefährlichste Zeit für Besitz und Gesundheit der Einwohner. Auf dem Land kannten die Menschen einander, Raub und Vergewaltigung hatten Gesicht und Namen. In der Stadt musste man nur ein paar Straßen weitergehen, um zur anonymen Gestalt zu werden. So kam es in so gut wie allen größeren Städten mit dem Abzug der alten Herrschaft zur abrupten Zunahme von Diebstählen, Einbrüchen und Gewalttaten. Banden von jungen Männern oder Heranwachsenden raubten, was sie konnten. Wer etwas zu verlieren hatte, bemühte sich, wenigstens ansatzweise Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten. Manchmal benannten die mit der eigenen Armee abrückenden Vertreter der Kommunalverwaltung Nachfolger, manchmal blieb die bisherige Polizei vor Ort zurück, manchmal organisierten Bürger auf die Schnelle „Milizen“ oder andere Wachdienste, um die Stadt vor Anarchie zu bewahren. Das verbreitete Gerücht von einer Explosion der Gewalt war sicher übertrieben, der Anstieg der Kriminalität nahm keineswegs apokalyptische Ausmaße an, gleichwohl war das Gefühl der Bedrohung allgegenwärtig. In Kongresspolen schlug die Stunde der Bürgerkomitees, deren Aufgabe bis dahin die Fürsorge für Bedürftige und der Betrieb von Suppenküchen gewesen waren. Sie waren das einzige von der Obrigkeit gestattete Surrogat kommunaler Selbstverwaltung gewesen. In den größeren Städten Galiziens, Serbiens und Rumäniens sowie in den Westgouvernements des russischen Imperiums hatten Bürgermeister und Stadtpräsidenten diese Aufgabe erfüllt. Dabei waren sie keiner geringen Gefahr ausgesetzt gewesen. So wurden die Präsidenten von Czernowitz und Lemberg – den größten 1914 von russischen Truppen eroberten Städten – von den Russen nach Osten verschleppt und kehrten erst 1917 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs in die Heimat zurück. Die beiden Stadtoberhäupter – Salo Weisselberger aus Czernowitz und Tadeusz Rutkowski aus Lemberg (der das Amt als Stellvertreter des abwesenden Józef Neumann ausübte) – gehörten zu den ersten Kommunalpolitikern, die ihre Städte halbwegs geordnet aus der Herrschaft eines Monarchen in die Hände des nächsten überführten. Dabei regierten die Städte sich für kürzer oder länger praktisch selbst, ohne übergeordnete staatliche Instanz. Diese Zeit der „Bürgergesellschaft“ barg viele Gefahren, denen die Selbstverwaltung vorzubeugen versuchte. Weisselberger und Rutkowski konzentrierten sich zunächst jeweils darauf, das Chaos und die Panik unter Kontrolle zu bringen, die nach der Flucht von Armee und Beamtenschaft ausgebrochen waren. Sie schufen Bürgerwehren, die meist unbewaffnet oder nur mit Hiebwaffen ausgestattet waren. Diese Wehren wachten über die öffentliche Ordnung sowie über die Einhaltung der amtlich 281

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festgesetzten Höchstpreise. Diesem Vorbild folgten mit leichter Verzögerung auch andere Städte in vergleichbarer Situation. In Warschau verhandelte nach dem Abzug der Russen das Bürgerkomitee mit den Deutschen über die Modalitäten der Machtübergabe, während die dem Komitee unterstellte Bürgerwehr für Ordnung sorgte. In Piotrków, Sandomierz und anderen kleineren Städten übernahmen Feuerwehrleute (die anders als ihre Kollegen aus Kowno vor Ort geblieben waren) polizeiliche Aufgaben. Auf dem Land war die Schaffung derartiger Formationen eine Frage der Initiative der lokalen Eliten. Von Glück reden konnten die Bewohner von Wierzchosławice, deren Ortsvorsteher nach dem Einmarsch der Russen und in Absprache mit der russischen Führung eine Bürgerwehr aufstellte. Ihre Präsenz half, die Exzesse der Militärs in Grenzen zu halten.24 Im an der Frontlinie gelegenen Belgrad wurde hingegen keine Übergangsverwaltung eingerichtet. Wie erwähnt, war die Stadt von schwerem Artilleriebeschuss betroffen (insbesondere die unmittelbar an Save und Donau gelegenen Viertel), von den 90 000 Vorkriegseinwohnern war nicht einmal ein Fünftel geblieben. Die einrückenden Deutschen und Österreicher fanden kein Selbstverwaltungsorgan vor, das sie zur Kommunikation mit der einheimischen Bevölkerung hätten nutzen können. Der meist kurze Zeitraum zwischen dem Abrücken der einen Armee und dem Einmarsch der nächsten strapazierte die Nerven selbst der gelassensten Einwohner. Zwischen dem Beginn einer Besatzung und der Befreiung bestand aus Sicht der Zivilisten kaum ein Unterschied. Beides verband sich mit dem Gefühl der Bedrohung und der Ohnmacht, das in den Tagen des Umbruchs über andere Gefühle dominierte. Vor diesem Hintergrund empfanden viele Menschen das Einrücken auch feindlicher Truppen als Erleichterung: Ein Besatzungsregime schien ihnen besser als das Fehlen jeglicher Herrschaft. Die Erwartungen waren umso düsterer, je mehr ihnen wahre oder erfundene Nachrichten über Niederlagen, Katastrophen oder die Grausamkeit des nahenden Feindes vorangingen: Plötzlich verbreitet sich die Nachricht, sie seien schon in Włostów, sie kämen von Opatów. Die Leute fragen: Warum rückt hier niemand ein? Die meisten wünschten, es möge endlich jemand einmarschieren, damit es endlich geschehe. Einer sagt sogar: Und wenn’s der Teufel wäre, soll er nur endlich einmarschieren. Andere fragen ironisch: Wie, keiner will Sandomierz erobern? Welche Schande! In so vielen Kriegen spielte Sandomierz eine wichtige Rolle und in diesem gar keine? Sie annektieren sie einfach so wie alle anderen? Wie peinlich! Wir müssen sie provozieren.25 282

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Nicht nur das Warten auf die gegnerische Armee sorgte für Unruhe. Auch vor Ort mangelte es nicht an Gefahren. In Sandomierz plünderten Bauern am Tag nach dem Abzug der Russen die Kasernen. Die Ordnungshüter (also Angehörige der neu geschaffenen Bürgerwehr) fassten nur einen Teil der Täter. Gleiches geschah unmittelbar nach dem Einrücken der Österreicher. Plünderungen unter Beteiligung der örtlichen Bauern und des städtischen Mobs waren die Regel. So auch in Lemberg: Nach dem Abmarsch der österreichischen Truppen, dem Abtransport der Arrestierten und Verwundeten, nach der Evakuierung der Zivilbevölkerung und dem Durchzug der Trosse der mit ihrem Vieh und ihrer Habe fliehenden Dörfler aus der Gegend um Winniki begannen Diebes- und Räuberbanden, Privatwohnungen, Läden, Kasernen und Bahnlager zu plündern. Hier und da brachen kleinere oder größere Brände aus. Die Horden der Plünderer wurden beträchtlich verstärkt durch Scharen vermeintlich „anständiger“ Arbeiter, Wach­leute, Hausmeister, Zuhälter und viertel- bis halbintelligenter Freunde leichter Beute.26 Im nahezu völlig entvölkerten Belgrad plünderten Diebesbanden in einem gefährlichen Wettlauf mit den einrückenden österreichisch-ungarischen Soldaten die verlassenen Wohnungen der Mittelschicht. Als die Besitzer nach einigen Tagen zurückkehrten, bot sich ihnen ein trauriger Anblick: Alle Möbel lagen auf der Straße. […] Im Schlafzimmer herrschte Chaos – alles wild durcheinandergeworfen. Nikolas Bücher waren über das ganze Haus und die Straße verstreut. […] Der Anblick der Verwüstungen schmerzte. Sie hatten schmutzige Unterwäsche in einer Porzellanschüssel zurückgelassen. Sie hatten alle Vitrinen aufgebrochen […]. Sie hatten alles Silber mitgenommen und alles, was irgendeinen Wert hatte, selbst das Besteck und die Gläser.27 Derartige Szenen gab es zuhauf und ihre Schilderungen folgen einem identischen Schema. Im Chaos des Übergangs gingen einheimische, teils frisch aus den evakuierten Gefängnissen entlassene Diebe auf Beutezüge. Ihnen schloss sich ein Teil der Stadtbewohner und Bauern aus der Umgebung an. Das erste Ziel waren die Alkohollager. Der betrunkene Mob warf nach und nach alle Hemmungen ab, es kam zu Brandstiftungen, Schlägereien und Morden. Die Bürgerwehr war der Situation nicht immer gewachsen. Oft wiederholte sich das Ganze beim nächsten Machtwechsel. Am Vortag der Befreiung Lembergs aus russischer Hand plünderte der einheimische Pöbel gemeinsam mit russischen Marodeuren 283

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vor allem jüdische Häuser. Am Tag nach der Einnahme der Stadt durch deutsche und österreichisch-ungarische Truppen schrieb der Kurjer Lwowski: Die vergangenen Tage waren wie ein schwerer, entsetzlicher Albtraum, den niemand vergessen wird, der sie in Lemberg erlebte. Es war, als sterbe die Stadt. In einer späten Juninacht hüllte sie sich in absolutes Schwarz wie in einen gespenstischen Trauerflor. Seit einigen Tagen schon wurden die zur Straße hin gelegenen Zimmer nicht mehr beleuchtet. Am sichersten fühlte man sich im Schutz des Dämmerlichts, zumal dies der Anordnung des Militärs entsprach. Hier und da brannten einzelne Laternen, deren kärgliches Licht aber mehr an schwache Öllampen erinnerte. Es war, als hätte der Hauch des Todes selbst die belebtesten Verkehrsadern umfasst. In dieser Grabesstille stieg im Gefühl der sicheren Straflosigkeit wie aus dem Erdboden die schlimmste aller Bestien auf, das Diebesgesindel. Läden und Wohnungen wurden geplündert, insbesondere in den jüdischen Vierteln; es floss sogar Blut … Unterdessen […] schürten feige Gerüchte mit immer neuen kranken Fantasien die Angst […] man prophezeite ein Massaker, Kämpfe und Plünderungen durch die Nachhut der fliehenden russischen Armee, obwohl alles darauf hindeutete, dass sie nicht durch die Stadt ziehen, sondern einen anderen Weg nehmen würde.28 Auf der anderen Seite bedeutete auch der Einmarsch von Truppen eine Bedrohung, selbst wenn es keine Gegenwehr mehr gab. Die Soldaten fühlten sich unsicher in der neuen Umgebung, hier und da eröffneten sie vorsichtshalber das Feuer, nicht selten auch auf eigene Kameraden, die sie irrtümlich für Feinde hielten. Die Zivilisten waren der Gefahr von zufälligen Schussverletzungen ausgesetzt, zumal, wenn ihr Beruf oder die Umstände sie zwangen, das Haus zu verlassen. Ein Legionär schildert seine Feuertaufe im August 1914 in Kielce: „[…] plötzlich überraschte uns der Ausfall eines russischen Wagens, in dem einige Offiziere saßen. Sie beschossen den Bahnhof und töteten einen völlig unschuldigen Juden – einen Kutscher – und zogen sich, verfolgt von den Kugeln unserer Mannlicher, hastig wieder zurück.“29 Große zivile Verluste gab es in Belgrad, wo verspätete Flüchtlinge mehrfach in österreichisch-ungarisches Artilleriefeuer gerieten. Doch trotz aller Gefahren, Unsicherheiten und Zwischenfälle verlief der Truppeneinmarsch in den meisten Fällen gewaltfrei. So auch in Czernowitz. Der Redakteur und Eigentümer der Czernowitzer Allgemeinen Zeitung ­Philipp Menczel, ein zionistischer Aktivist und Mitglied des provisorischen Stadtrats, er284

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innert sich, dass die russischen Einheiten einige Tage lang die jüdischen Dörfer und Schtetl auf der anderen Seite des Prut plünderten, bevor sie in die von den Österreichern verlassene Stadt einrückten. Der erste Kosake, der den Fluss überquerte, fand – geleitet von einem untrügerischen Instinkt – eine Schenke, wo er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrank. So wurde der Czernowitzer Bürgerwehr die seltene Ehre zuteil, einen Soldaten der regulären Streitkräfte festzunehmen. Erst tags darauf überbrachte ein Parlamentär die Aufforderung zur sofortigen Kapitulation. Um sie zu unterzeichnen, begab sich eine Delegation des Stadtrats über die Reste der zerstörten Brücke auf die andere Seite des Flusses. Ein junger Offizier, der von jüdischen Soldaten umgeben war, die wahrschein­ lich wegen ihrer deutschen Sprachkenntnisse die Dolmetscher abgeben sollten, kam uns bei der Zuckerfabrik entgegen. Der junge Mann hatte offen­bar auf langwierige und hochdiplomatische Verhandlungen gerechnet und spreizte sich ein wenig. Wir strichen ihm jedoch die Szene zusammen. Auf die von einem Soldaten deutsch gestellte Frage, ob wir die Stadt gutwillig übergeben wollen, erwiderte ich, zum Offizier gewandt, russisch: „Unsere Truppen haben sich zurückgezogen, die Stadt ist in Ihrer Gewalt; eine feierliche Übergabe halten wir für überflüssig.“ Dann fügte der Bürgermeister in deutscher Sprache hinzu: „Wir hoffen, daß Ihre Truppen, wenn sie in unsere Stadt einziehen, die Zivilbevölkerung, die friedlich und nicht aggressiv ist, gut behandeln werden.“ Noch ein paar nichtssagende Höflichkeitsphrasen wurden gewechselt, worauf wir uns nach fünf Minuten verabschiedeten. Der Adjutant erklärte, alles wortgetreu seinem General übermitteln zu wollen. Wir fuhren in die Stadt zurück, die Bevölkerung füllte in lautloser Erregung in dichten Gruppen die Hauptstraße.30 Sobald die Waffen schwiegen, standen die Repräsentanten der lokalen Bürgerschaft vor einer neuen, wohl ihrer wichtigsten Aufgabe: die Bürger vor der Willkür des Militärs zu schützen. Von bewaffnetem Widerstand gegen die Soldaten war nicht die Rede, vielmehr ging es darum, zu zeigen, dass Städte und Dörfer auch nach Abzug der Beamten nicht herrenlos waren, dass es eine Obrigkeit gab, deren Existenz die Besatzer berücksichtigen mussten. Umgekehrt mussten sie übereifrige Patrioten zügeln, die bereit waren, ihre Mitbürger ins Unglück zu stürzen. In Lemberg gelang es der Bürgerwehr, polnische Jugendliche von Anschlägen auf die einrückenden Russen abzuhalten. Der Versuch, das Leben und den Besitz der Mitbürger zu schützen, stieß nicht immer auf Dankbarkeit. Während der letzten Offensive der Mittelmächte gegen 285

III  Die Besatzung

Serbien bereiteten sich in Kragujevac die Reste der zurückweichenden irregulären Truppen auf einen aussichtslosen Widerstandskampf vor. Weil sich in der Stadt große Mengen an Sprengstoff befanden, war abzusehen, dass es zivile Opfer geben würde. In dieser Situation übernahm der frühere serbische Finanzminister Vukašin Petrović, der dort eine provisorische Zivilverwaltung aufgebaut hatte, die Rolle des Vermittlers zwischen den anrückenden Deutschen und seinen abziehenden Landsleuten. Kragujevac blieb verschont, Petrović aber galt fortan als österreichischer Lakai und Volksverräter. Ähnlich erging es den Mitgliedern der Selbstverwaltung im russisch besetzten Tarnów. Der Vizebürgermeister Herman Mütz, ein jüdischer Anwalt, war aus Angst um sein Leben vor der russischen Besatzung geflohen. Seinen Posten nahm der Stadtarchitekt Janusz Rypuszyński ein, der zusammen mit Bürgermeister Tadeusz Tertil die Interessen der Stadt gegenüber der zaristischen Armee vertrat. Nach der Rückkehr der österreichisch-ungarischen Truppen musste Rypuszyński zurücktreten, weil man ihm vorwarf, er habe zu eng mit den Russen kooperiert und den Besitz der jüdischen Mitbürger nicht energisch genug verteidigt; auch Tertil musste sich vor der k. u. k. Staatsanwaltschaft verantworten. Mütz, der die Besatzungszeit in sicherer Entfernung von Tarnów verbracht hatte, schien der Führung weitaus vertrauenswürdiger. Aus Protest gegen diese offensichtliche Ungerechtigkeit legten mehrere Stadträte ihr Mandat nieder. Der unter den Militärs grassierende Spionagewahn machte die Mitarbeit in der provisorischen Selbstverwaltung zu einer riskanten Angelegenheit. In Städten, die mehrfach von einer Hand in die andere übergingen, blickten die Angehörigen der Selbstverwaltung und der Bürgerwehren nicht nur dem Einmarsch der Besatzer, sondern auch der Rückkehr der Verteidiger ängstlich entgegen. Denn, wie sich mehrfach zeigte, drohte den lokalen Eliten von dieser Seite die größte Gefahr. In Kongresspolen sprach man ironisch von „Papas Heimkehr“, die etwa für sechzehn Mitglieder der Bürgerwehr in Zamość ein tragisches Ende nahm. Als nach einem kurzen österreichisch-ungarischen Intermezzo die Russen zurückkehrten, wurden sie ohne viel Federlesens erschossen. Auf der anderen Seite der Front war es keineswegs sicherer. Hier wüteten die österreichisch-ungarischen Feldgerichte, die großzügig Todesurteile aussprachen. Die Einheimischen bemühten sich deshalb, ihre Freude über die Restitution der rechtmäßigen Herrschaft kundzutun, so gut sie konnten. August Krasicki schildert die Rückkehr seiner Einheit in den Ort Horodenka in der Huzulei: Als wir uns Horodenka nähern, sehen wir Reiter und eine Menschenmenge auf uns zukommen. An der Spitze auf einem Fiakergaul ein Itzig im Smoking 286

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und mit einer riesigen weiß-blauen Flagge (angeblich die Farben Zions). Er reitet zum General und beginnt eine Begrüßungsrede, doch vor Rührung und wohl auch vor Aufregung bricht er in Tränen aus und bringt sie nicht zu Ende. Der Zug der Juden und Bauern führt uns in die Stadt, wo wir gegen 3 Uhr nachmittags halten. […] Es kommen verschiedene Delegationen mit Flaggen und Kaiserbildern. Ruthenen mit gelb-blauen Flaggen, Bildern des hl. Nikolaus und Schewtschenko-Porträts. Der Bürgermeister empfängt uns beim Siegestor am Markt mit Brot und Salz, die ruthenische Delegation heißt uns gesondert willkommen. Die jüdische Kapelle spielt Märsche.31 Trotz des herzlichen Empfangs kannten die k. u. k. Feldgerichte kein Erbarmen: Man wollte partout nicht begreifen, dass nach der Flucht der österreichischen Truppen das Leben nicht hatte stehenbleiben können, dass die Verantwort­ lichen selbst gegen ihren Willen mit der russischen Führung schon deswegen hatten in Kontakt treten müssen, weil diese allein die Macht ausübte. Aber in der schon früher erzeugten Stimmung war unsere Führung nicht willens, einfachste Prinzipien zu bedenken, und machte scharenweise unschuldige Men­ schen zu Verrätern.32

Der erste Kontakt Im Vergleich zu „Papas Heimkehr“ (unabhängig davon, ob es sich um Franz Joseph I. oder Nikolaus II. handelte) war die erste Begegnung mit dem einrückenden Feind mitunter eine positive Überraschung. Es war der Moment, den die Menschen am meisten fürchteten. Manche Landwirte und junge Frauen flohen vorsichtshalber in die Wälder. Józef Rokoszny berichtet von Bauern aus den Dörfern um Sandomierz, die in der festen Überzeugung, die Österreicher würden sie bis aufs Hemd ausrauben, ihre Bettwäsche und Kleider im Kartoffelkeller versteckten.33 Tatsächlich stahlen die Linieneinheiten zwar, doch das Ausmaß blieb überschaubar. Vor allem aber zogen sie schnell weiter wie etwa die russischen Soldaten bei Tarnów: Mit großem Geschick […] fingen sie Hühner, Truthähne und Gänse, beim Pfarrer und in der Försterei aber nahmen sie sich die übrig gebliebenen Pferde und das Vieh. Nach dem Mittagessen verließen sie rasch das Dorf in Richtung Westen. Die Leute lobten sie sogar, weil sie niemandem etwas getan und für Truthähne und Gänse gut bezahlt hatten […]. Nach zwei Tagen hörte auch das auf, es kehrte völlige Ruhe ein.34 287

III  Die Besatzung

Erst mit dem zweiten Schwung kamen die Trosse, die Versorgungstrupps und die gesamte Unterstützung der Fronteinheiten. In einem solchen Umfeld absolvierte Aleksander Majkowski den Rumänien-Feldzug: Die in den Dörfern an der Trasse, über die das Heer zog, gebliebenen Ein­ wohner sind sehr verängstigt. Auf einem Hof sah ich eine alte Frau, die sich, während sie um den Hof ging, bei jedem Schritt bekreuzigte. Ich vermute, sie betete. Die Leute haben auch allen Grund dazu. Bei unserer Kolonne, die nur Stabswagen mitführt, tauchten abends ein Schwein, eine Kuh und einige Enten und Hühner auf, obwohl unsere Männer ansonsten aus edleren Erwä­ gungen von Raub absehen. […] Denn kein essbares Tier in den Dörfern am Wegesrand ist seines Lebens sicher, wenn die Kolonnen vorbeiziehen.35 Es verwundert nicht, dass die Zivilisten das Auftreten der Eroberer als aggressiv empfanden und ihnen Raublust und Zerstörungswut unterstellten, wenngleich diese Einschätzung nicht immer gerecht war. In den ersten Jahren des Ersten Weltkriegs waren weite Landstriche Ostmitteleuropas und des Balkans noch recht gut mit Lebensmitteln versorgt, während Deutsche und Österreicher den Gürtel bereits deutlich enger schnallen mussten. Nach dem Einmarsch der deutschen Armee in Warschau beobachtete Stanisław Dzierzbicki Szenen, die jenen ähnelten, die wenig später einer der deutschen Besatzer Bukarests beschrieb. Die deutschen Soldaten […] fragen überall nach Bier und, weil sie keines finden, schlagen sie sich den Bauch mit Kuchen und Torten voll, während sie Postkarten mit „Grüßen aus Warschau“ nach Deutschland schreiben. Überhaupt wirken die Deutschen müde, abgemagert und schmutzig. Weil die Hauptlinienkräfte angeblich an den Hauptfronten an Narew und Wieprz kämpfen, ist in Warschau großenteils die Landwehr eingerückt, die aber Warschau keineswegs beeindruckt, schon gar nicht die Warschauerinnen, die zahlreich auf die Straße strömen, […] um sich unsere neuen, nicht sonderlich willkommenen Herren anzuschauen.36 Nicht weniger ausgehungert waren die Österreicher, die schließlich Belgrad eroberten. Es mag paradox klingen, dass selbst in einem so zerstörten und von Epidemien geplagten Land wie Serbien die Lebensmittelversorgung ihren Neid weckte. Das hatte sowohl tiefere strukturelle als auch akute Gründe. Wie der größte Teil der von der Ostfront erfassten Gebiete war Serbien agrarisch geprägt und produzierte regelmäßig Lebensmittelüberschüsse. Die Balkanmonarchie hatte sich auf die Schweinezucht spezialisiert und tatsächlich fehlt in kaum ei288

Im ersten Moment

nem deutschen oder österreichischen Bericht aus Serbien eine Beschreibung der zottigen, an Schafe erinnernden serbischen Schweine. Zudem hatte die serbische Regierung in weiser Voraussicht am Beginn des Ersten Balkankriegs 1912 den Getreideexport gedrosselt. Deshalb fanden sich selbst im vierten Kriegsjahr hier und da noch Vorräte. Doch zurück zur Arbeit der Selbstverwaltungen. Die provisorischen lokalen Strukturen und die Bürgerwehren trugen zur Schadensbegrenzung bei. Sie verhinderten oder hemmten zumindest die Ausbreitung von Raub und Diebstahl und verhandelten mit den anrückenden Truppen. Es war schon die Rede davon, dass dieser Dienst nach dem Abzug der Besatzer als Kollaboration betrachtet werden konnte (im Ersten Weltkrieg wurde dieser Begriff noch nicht verwendet, der Gehalt der Vorwürfe war aber genau dieser). Doch zunächst liefen die Repräsentanten der lokalen Gemeinschaft vor allem Gefahr, in Geiselhaft zu geraten. Fast überall nahmen die Besatzer Geiseln. Das stand im Einklang mit der Haager Konvention und das Schicksal der Internierten war in nichts mit der Situation der Pseudogeiseln im Zweiten Weltkrieg zu vergleichen. Im Fall eines Verrats, eines Angriffs irregulärer Truppen oder anderer Verstöße gegen das Kriegsrecht konnten sie getötet werden. Gleichwohl kam es selbst beim Abrücken eines Besatzers wohl nirgends zu Hinrichtungen (geschweige denn zu Massenexekutionen); die Tötung Unschuldiger – und Geiseln sind per se unschuldig, was nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs oft vergessen wird – hätte nur den strukturellen Konflikt zwischen neuen Herrschern und Einheimischen verschärft. Indessen waren die Besatzungsmächte in den Jahren 1914–18 wirklich um ihre Sicherheit besorgt. Es war keineswegs ihr Ziel, die bisherigen Autoritäten auszuschalten, ganz im Gegenteil: Meist setzten sie auf deren mäßigenden Einfluss. Statt ihre Macht durch Terror zu festigen, drohten sie daher lieber mit Repressionen und nahmen Vertreter der örtlichen Eliten als Geiseln, weil sie zu Recht annahmen, dass dies als Warnsignal für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ausreiche. Die nach Galizien einrückende russische Armee nahm auf Befehl ihres Oberbefehlshabers Nikolai Nikolajewitsch Geiseln in allen besetzen Städten und oft auch in den Dörfern. In Lemberg wurden unmittelbar nach Einnahme der Stadt im September 16 Geiseln (je vier Polen, Ukrainer, sogenannte Altruthenen und Juden) im Hotel George interniert. Die Auswahl – bedroht waren Repräsentanten aller bedeutenden ethnisch-politischen Gemeinschaften – wie auch die Behandlung der Geiseln war symbolischer Natur. Solange ihre Landsleute und Anhänger sich den neuen Herrschern nicht widersetzten, hatten sie wenig zu befürchten. 289

III  Die Besatzung

Auch Bukarest wurde nach einem deutschen Ultimatum von den Rumänen als offene Stadt übergeben. Die Regierung ernannte vor ihrem Umzug nach Jassy Politiker und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, deren Sympathien für Deutschland bekannt waren, zu stellvertretenden Ministern der wichtigsten Ressorts. Die Wahrung der Ordnung wurde dem bisherigen Polizeipräfekten übertragen. Für die Besatzer war das eine praktische Lösung. Die Stadt war voll von Flüchtlingen, der Bahnhof belagert von Bukarestern, die in letzter Sekunde zu fliehen versuchten; es drohte ein Chaos. In dieser Situation war die Hilfe der örtlichen Eliten wie fast überall höchst willkommen. Dennoch nahm die Besatzungsmacht auch hier Geiseln, wenngleich aus anderen Gründen: Nach der Kriegserklärung an die Mittelmächte hatten die Rumänen deutsche und österreichisch-ungarische Geiseln genommen, von denen beim Rückzug nur wenige frei­ gelassen worden waren. Nach der Einnahme Bukarests nahmen die Deutschen Professoren und Verwandte von Politikern (darunter die Schwester und die Schwägerin des Ministerpräsidenten) als Geiseln. Die Männer wurden im Hotel Imperial interniert, die Frauen zum Teil in Klöstern. In einem Fall verhängte man einen Hausarrest. Nach dem Friedenschluss 1918 wurden die Geiseln ausgetauscht. Nicht überall und nicht immer behandelten die Besatzer ihre Geiseln derart zivilisiert. In Lemberg nahmen, wie schon erwähnt, die Russen bei ihrem Abzug im Juni 1915 viele von ihnen mit, darunter den Rektor der Universität und den Vizebürgermeister Rutowski, die – ähnlich wie der zuvor deportierte griechisch-­ katholische Erzbischof Andrej Scheptyzkyj – erst nach Monaten in die Stadt zurückkehrten. Zu massenhaften Geiselnahmen kam es während des Serbien-Feldzugs. Das war ein nicht nur in zahlenmäßiger Hinsicht neues Phänomen. Die von General Potiorek geführte Armee internierte Menschen, während sie sich noch auf k. u. k. Territorium befand, beraubte also eigene Staatsbürger der Freiheit. Ein solches Vorgehen war vom Völkerrecht nicht geregelt. Die A ­ rrestierten (ihr formaler Status war unterschiedlich) gehörten den serbischen Eliten im Grenzgebiet an. Zu den serbischen Internierten – Bürgern der Monarchie – kamen bald serbische Staatsbürger. Man hielt sie als lebende Schutzschilder an strategisch wichtigen Orten fest: Militäreinrichtungen, Bahnhöfen, Gendarmerieposten und sogar Trinkwasserreservoirs. Bis zum Herbst 1914 befanden sich mehrere Tausend Menschen in einer solch gefährlichen Situation. Manche von ihnen wurden tatsächlich als Vergeltung für wirkliche oder imaginierte Angriffe serbischer „Komitadschi“ erhängt.37 Über eine andere Gruppe von Geiseln weiß man sehr viel weniger. Die k. u. k. Monarchie und Deutschland nahmen auf dem Land auch Geiseln, wenn eine Ge290

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Nichtuniformierte serbische Kriegsgefangene (Soldaten der sogenannten dritten ­Linie), das heißt Komitadschi, deren heimtückische Angriffe die österreichisch-­ungarische Führung so sehr fürchtete.

meinde ihre Kontingente nicht erfüllte oder wenn Gefahr durch lokale Banden oder Partisanentrupps drohte. Diese Geiseln wurden nicht in Hotels ­einquartiert, sondern kamen ins Gefängnis. Auch hier sind keine Hinrichtungen bekannt, wenngleich in der unten zitierten Schilderung der dramatischen Ereignisse in Korczyn, bei denen es um nicht geleistete Kontributionszahlungen ging, die entsprechende Androhung überdeutlich wird.

Das Leid der Zivilisten Das Repertoire der Repressionen gegen die Zivilbevölkerung war natürlich weitaus umfangreicher und sie waren umso härter, je näher die Front war. Sobald das Kampfgeschehen sich entfernte, veränderte sich ihr Charakter, die Intensität ließ nach. Vor allem bedrohten sie später nur noch selten unmittelbar das Leben der Betroffenen. 291

III  Die Besatzung

Das Leid, das der Zivilbevölkerung im ersten Moment der Besatzung traf, bestand in Kontributionen, Zwangsevakuierungen und -requisitionen, Transportund Arbeitsdiensten. Besonders häufig und verbreitet waren Kontributionen. In der Theorie gab es drei Arten: ausnahmsweise statt Steuern erhobene Leistungen, Sondersteuern und Strafzahlungen. Die beiden ersten Arten wurden quittiert und die Betroffenen konnten die gezahlten Summen nach Kriegsende zurückfordern. In der Praxis ging es freilich meist um Strafzahlungen. Dabei verwischte die Grenze zwischen vom Kriegsrecht sanktionierten Strafen und gewöhnlichem Raub komplett, zumal es keine Entschädigungsregelungen für Requisitionen, Kontributionen und andere, nicht von den eigenen, sondern von feindlichen Truppen angerichtete Schäden gab. Während ihres kurzen Aufenthalts in Piotrków Trybunalski erpresste die deutsche Armee von der Stadtverwaltung unter der Androhung von Bombardements Schutzgeld in Form von Geld und Lebensmitteln. Meist jedoch wurden Kontributionen mit angeblichem Verrat begründet. Und da man an allen Ecken und Enden Verrat witterte, fehlte es nicht an entsprechenden Anlässen. Im September 1914 drohten die Österreicher während der Kämpfe um Sandomierz mit der Zerstörung der Stadt. Józef Ro­ koszny erinnerte sich lebhaft daran: Eine schreckliche Nacht. Ich war früh eingeschlafen. Vor elf höre ich Lärm auf dem Gang. Der Organist klopft bei Priester Grajewski, dann bei mir. Ich öffne. Priester Kubicki und der Notar Przyłęcki treiben die Kontributionen ein, insgesamt 20 000 Kronen, die der General der Stadt auferlegt hat, weil angeblich der russischen Armee mit Fahnen Zeichen gegeben wurden. Die Frist endet um Mitternacht. Jeder soll geben, was er hat. Ich gebe 100 Rubel und lege mich wieder ins Bett, freilich ohne Hoffnung, einzuschlafen. Nach einer Viertelstunde Bewegung an der Tür und Klopfen. Stimmen: Aufmachen! Frauen bitten um Hilfe. Ich laufe zur Eingangstür und da stehen die beiden Chodakowskas und ein paar Dienstmädchen mit ihren Bündeln. Ich frage, worum es geht. Man habe ihnen gesagt, in zehn Minuten werde die Stadt beschossen, und ihnen befohlen aus der Stadt zu fliehen. Ich beruhigte sie, das sei nicht wahr, es gehe nur um Kontributionen, sie sollten sich beruhigen.38 Die Gelassenheit des Geistlichen beruhte auf Erfahrung. Der an Wildwestmethoden erinnernde Mechanismus der Erzwingung von Kontributionen war nämlich überall fast der gleiche. Die Ansagen der Militärverwaltung an die Zivilbevölkerung beschränkten sich auf die einfache Alternative Geld oder Leben. Die Kontributionen waren Strafen für (wirkliche oder vermeintliche) Taten, die von 292

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der Selbstverwaltung unmöglich verhindert werden konnten. Im Dezember 1915 meldete ein österreichisch-ungarischer Posten in Radom dem Bezirkskommandanten Schüsse unbekannter Herkunft. Es gab weder Verwundete noch Schäden, doch, dessen ungeachtet, gab die Militärverwaltung bekannt, jeder weitere derartige Vorfall werde mit einer Strafzahlung von 50 000 Kronen geahndet. In ihrem Kommentar zu der Bekanntmachung merkte die Gazeta Radomska schüchtern an, sie habe erst durch diese überhaupt von dem Vorfall erfahren. „Die Situation ist umso misslicher“, so der Verfasser des Artikels, „dass die Stadt über keine eigenen Ermittlungsbehörden oder bewaffneten Polizeikräfte verfügt und nicht in der Lage ist, diese Art krimineller Aktivität zu verhindern, umso mehr, als der betreffende Vorfall vor den Stadttoren geschah.“39 Paradoxe Beispiele für die Fadenscheinigkeit der Gründe, aus denen Städten und Kleinstädten Kontributionen auferlegt wurden, waren die Fälle, in denen auf derartige Forderungen verzichtet wurde. So verfuhren etwa die Deutschen in Warschau, obwohl die Einwohner nach der Zerstörung von Kalisz und den vorangegangenen Luftangriffen das Schlimmste erwarteten und in einer so großen Stadt Vorfälle, die als Grund für Strafzahlungen hätten dienen können, nicht zu vermeiden waren. In diesem Fall stellte die deutsche Führung das langfristige politische Interesse über die Aussicht auf kurzfristigen Profit. Von Warschau Schutzgeld zu nehmen, hätte die Haltung der Polen gegenüber den Deutschen sicher nicht verbessert. Die Kontributionen breiteten sich wellenartig aus. Zuerst betrafen sie das Gebiet der unmittelbaren Kampfhandlungen, später erfassten sie auch andere Gegenden. Wenn die Waffen verstummten, wurden sie nicht mehr mit Verrat oder Kollaboration begründet, sondern zu einem Instrument der kollektiven Bestrafung für alle möglichen Vergehen. Dieses wurde umso häufiger angewendet, je weniger Autorität die Besatzer genossen. Insofern erstaunt es nicht, dass die österreichisch-ungarischen Behörden im besetzten Teil des Königreichs Polen immer wieder zu diesem Mittel griffen. Anlässe waren etwa die Verweigerung von Steuerzahlungen durch Teile der Einwohnerschaft einer Gemeinde, das Nichterscheinen bei Vorladungen oder die Flucht von schon zugewiesenen Angehörigen von Arbeitstrupps. Manchmal genügte ein schiefer Blick, wie in Stawin im Kreis Łuków, wo „die Einwohner sich dreist und widerspenstig gegenüber den dort einquartierten deutschen Husaren verhielten und einige Bauern sogar vor ihnen ausspuckten“.40 Während die Kontributionen ganze Gemeinden und vor allem Städte und Kleinstädte betrafen, bedeuteten die ebenfalls flächendeckenden Requisitionen 293

III  Die Besatzung

individuelles Leid. Auch diese konnten im Einklang mit der Haager Konvention gegen Entschädigung oder Quittung durchgeführt werden, wobei die Quittungen später gegen den entsprechenden Betrag einlösbar waren. In der Praxis bedeutete Requisition aber allzu oft Raub, vor allem in den ersten Tagen einer Besatzung oder während des Rückzugs der eigenen Armee. In einem Dorf bei Przemyśl sah dies wie folgt aus: Eine Frau aus Łętownia, deren Mann ebenfalls mobilisiert worden war, erzähl­ te mir, zwei Ungarn seien mit einem Wagen bei ihr vorgefahren. Einer habe sich mit dem Gewehr neben ihrem alten Vater postiert, der andere habe „requiriert“. Er habe insbesondere nach Wertgegenständen sowie nach Essund Trinkbarem gesucht und ihr zum Schluss noch die Perlenkette vom Hals gerissen. Sehr viele Pferde und Kühe seien ohne Entschädigung in die Festung [Przemyśl] gebracht worden, später habe man alles für teures Geld verkauft.41 Von Requisitionen gleich dreier Armeen betroffen war die Gegend um Chełm, wo in den Jahren 1914–15 die Front mehrmals wechselte. Jarosław Cabaj zufolge sank in den beiden ersten Kriegsjahren der Bestand an Pferden in der Region um 60 Prozent, der Bestand an Kühen um mehr als die Hälfte, der Bestand an Schafen um mehr als 80 Prozent und der Bestand an Schweinen um mehr als 70 Prozent (im Vergleich zum Stand von 1913). Den größten Anteil daran hatten die deutschen Truppen. Was noch wichtiger war: Nur Russen und Österreicher zahlten bar (wenngleich meist stark reduzierte Preise), von den Deutschen konnten die Bauern allenfalls Quittungen erwarten und auf eine künftige Erstattung durch die Besatzungsmacht hoffen.42 Im ebenso leidgeprüften Galizien reduzierte sich in den ersten beiden Kriegsjahren der Schweinebestand um mehr als 70 Prozent, der Pferdebestand um knapp 45 Prozent und der Kuhbestand um mehr als 40 Prozent. Am meisten litten die Gutshöfe. Das hatte mindestens zwei Gründe. Zum einen waren Kühe und Schweine hier stattlicher und gepflegter als bei kleinen Bauern, zum anderen verbrachten viele Gutsbesitzer die unsicheren Zeiten lieber an einem sicheren Ort und überließen ihre Anwesen der Obhut ihrer Arbeiter. Diese waren aus verständlichen Gründen nicht bereit, den Besitz ihrer Arbeitgeber mit dem Leben zu verteidigen. Die Verluste der Gutsbesitzer vergrößerten sich noch durch Diebstähle einheimischer Bauern, die so ihre eigenen Verluste „ausglichen“. Der litauische Grundbesitzer Eugeniusz Romer klagte über die „Entfesselung des Diebesinstinkts unter den Bediensteten und den Nachbarn aus dem Dorf, die in jeder Not und jedem Unglück am Gut um Hilfe gebeten hatten, nie 294

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Honveds „requirieren“ eigenhändig Milch (1915).

abgewiesen worden waren und die nun während des Kriegs als Erste Schaden anrichteten und stahlen.“43 Einen ähnlichen Gedanken vermerkte der galizische Politiker Władysław Leopold Jaworski in seinem Tagebuch: „Der Adel beschäftigt sich mit Entschädigungen. Die Bauern und Bürger rauben. Wer ist denn Polen? Nur einige wenige?“44 Wenngleich Kontributionen und Requisitionen nicht selten unter Todesdrohungen durchgeführt wurden, waren sie mit einer geringeren Gefahr für Leib und Leben verbunden als zwei andere leidvolle Erfahrungen der Kriegszeit: Zwangsevakuierung und Fuhrdienst. Anders als der Abzug von Beamten oder die mehr oder weniger freiwillige Flucht vor der herannahenden Front betraf die Zwangsevakuierung die Bevölkerung von Regionen, in denen Kampfhandlungen geplant waren (oder die, so der Verdacht der Evakuierten, ohne lästige Zeugen gründlich geplündert werden sollten). Auch hier spielte der Spionagewahn eine gewisse Rolle. Am Vortag der Offensive von Gorlice-Tarnów evakuierte man ­etwa die Einwohner der Dörfer, von denen aus die Deutschen den Angriff be­ ginnen wollten. Solche Aktionen stießen fast immer auf den Unwillen und ­Widerstand der betroffenen Bauern, die mitunter gewaltsam vertrieben werden mussten. Wincenty Witos war Augenzeuge der Evakuierung von Dörfern am linken Dunajec-Ufer. Trotz wiederholter Aufforderung war die Bevölkerung nicht 295

III  Die Besatzung

bereit, ihre Häuser zu verlassen. Kein Wunder: Die Evakuierung fand im Winter statt und es gab keine Ersatzquartiere. Man musste die Einwohner mit Gewalt in die einige Kilometer hinter der Frontlinie gelegenen Dörfern bringen. Zahlreiche Bauern und Bäuerinnen riskierten aber die Rückkehr zu ihrem Besitz und ihrem Vieh. Die Behörden in den neuen Orten waren nicht imstande, den Evakuierten menschenwürdige Unterkünfte zu stellen. Die Leute wurden in fremde Wirtschaftsgebäude gezwängt, wo sie froren und krank wurden. Es herrschten katastrophale hygienische Zustände: Im März 1915 luden meine Nachbarn mich nach der Essensausgabe zu sich ein, damit ich mir ihre Situation genauer anschauen könnte. Sie wohnten bei dem Bauern Jan Hynek in Bielcza und hatten das Glück, dass er sie in der Stube untergebracht hatte. Ich trat also ein. In der Tür schlug mir ein entsetzlicher Gestank entgegen, wie von verwesendem Fleisch. Ich tat, als bemerkte ich ihn nicht, und setzte mich auf die Bank. In der höchstens 30 m2 großen Stube befanden sich 47 Menschen, darunter ein gutes Dutzend hungrige und schmutzige, aus Leibeskräften schreiende Kleinkinder. Der Bauer, ein alter Bekannter und anständiger Mensch, erzählte mir, diese Leute hätten es noch am besten, weitaus mehr litten die, die schon seit mehreren Wochen in der Scheune wohnten. Sie boten einen unbeschreiblichen Anblick. Manche von ihnen waren fast nackt, sie aßen einmal am Tag, wechselten die Unterwäsche nicht, schwarze Würmer krochen ihnen über den Leib, die Armee misshandelte sie noch und schubste sie herum, die einheimischen Bauern hassten sie. Sie selbst vergällten sich das Leben durch Streitereien oder Diebstähle. Ich hielt es in dem schrecklichen Mief nicht mehr aus, ich hatte genug von dieser Hölle gesehen. Nach einer Stunde verabschiedete ich mich von allen und ging, wobei mir an beiden Ärmeln klagende Frauen hingen.45 Witos war scharfsinnig genug, um zu bemerken, dass das Unglück der Evakuierten zum Teil selbst verschuldet war. Auch als die Behörden sich nach einiger Zeit der Aufgabe endlich gewachsen zeigten und ihnen angemessene Ersatzquartiere anboten, wollten viele ihre bisherigen Unterkünfte nicht verlassen, um in der Nähe ihrer Heimatorte zu bleiben. So wie die Armee Bauern zwangsumsiedelte, konnte sie sie auch dazu zwingen, als Führer oder (mit eigenem Gespann) als Fuhrleute zu arbeiten. Beides war mit großen Gefahren verbunden. Die Führer, die Spähtrupps bei der Orientierung halfen, konnten von feindlichen Kugeln getroffen werden, aber ebenso

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gut auch am Galgen enden, wenn sie in den Verdacht gerieten, die Soldaten in die Irre geleitet zu haben. Auch die „Fuhrdienstler“ lebten gefährlich. Es kam vor, dass sie unter Artilleriebeschuss gerieten. Wenn sie umkamen, zählte keine Armee sie als „eigene Verluste“. Dementsprechend sehnten die Bauern das Ende des Zwangsdiensts herbei. August Krasicki, ein Aristokrat mit Verständnis für die Situation der Landleute, vor allem in seiner Heimatregion, schildert eine Begegnung mit Bauern, die mit der Bahn aus den Ostkarpaten in ihre Dörfer heimkehrten. Sie waren nur vom Dienst befreit worden, weil ihre Pferde verendet waren.46 Man konnte die Menschen angesichts ihrer schlimmen Lage auch nur bedauern, zumal die ihnen abverlangten Leistungen weit über das hinaus gingen, wozu sie rechtmäßig verpflichtet waren. Weil mit jedem Feldzug die Anzahl der verfügbaren Wagen und Pferde sank, war der Fuhrdienst immer schwerer zu organisieren. Als Folge blieben die herangezogenen Bauern, die eigentlich nach einigen Tagen wieder hätten entlassen werden müssen, teils monatelang bei der Armee. Mit der Zeit wuchs ihre Entschlossenheit, um jeden Preis in die Heimat zurückzukehren. Eine gute Gelegenheit bot der Transport von Verwundeten in die Etappe – mit etwas Glück gelangte man von dort nach Hause und nicht zurück an die Front. Man ließ sich auch anderes einfallen: „Die Pferde verstecken sie im Wald, die Wagen nehmen sie auseinander und versenken die Räder in der Jauchegrube. Bevor sie so einen Wagen nimmt, geht die Armee wieder, wie sie gekommen ist. Manche schließlich lauern tags in den Wäldern und kommen nur nachts in ihre Häuser zurück.“47 Außer Evakuierungen, Requisitionen oder Kontributionen, Geiselhaft oder Fuhrdienst drohte den Menschen vor allem in unmittelbarer Nähe der Front ein weiteres Ungemach: die Zwangsarbeit. Sie mussten Schützengräben ausheben oder Gefallene begraben. Anfangs folgten alle den entsprechenden Befehlen des Militärs, doch bald stellte sich heraus, dass diese Tätigkeiten nur für bestimmte soziale Gruppen gedacht waren. Józef Rokoszny vermerkt, dass sich im August 1914 auf den ersten Aufruf der Österreicher 1000 Bürger mit Schaufeln auf dem Markt von Sandomierz versammelten. Die Militärs selektierten: Intelligenzler wurden aussortiert, herangezogen zum Dienst wurden Arbeiter und Handwerker. Mit der Zeit wurden in Kongresspolen, Galizien und den westrussischen Gouvernements die ansässigen Juden zu dieser Arbeit verpflichtet, darunter auch solche, die nicht von Berufs wegen an körperliche Tätigkeit gewöhnt waren. In Kowel beobachtete August Krasicki, dass „an den Schützengräben einheimische Juden aus allen Ständen und Berufen arbeiten: Bankiers, Kaufleute, ­Friseure, 297

III  Die Besatzung

Kellner, Handwerker, Träger“.48 Das überrascht nicht, denn nach der ­Evakuierung der russischen Zivilisten war Kowel eine nahezu rein jüdische Stadt. Dennoch ist auch dies ein Beleg dafür, dass Kriegslasten und Repressionen ungleich verteilt wurden. Diesen Aspekt wollen wir genauer betrachten.

Soziale (Un)ordnung Auf dem Gebiet Kongresspolens und Galiziens, wo in den ersten beiden Kriegsjahren die heftigsten Kämpfe stattfanden, entsprach die soziale Gliederung oft der ethnischen. Die Dörfer waren überwiegend polnisch und ukrainisch, die Herren waren Polen. Die Städte und Kleinstädte indes waren weitgehend jüdisch. Die Opfer von Repressionen, auch zufälligen, repräsentierten immer eine bestimmte Bevölkerungsgruppe. Aus diesem Grund kann von allen Ereignissen auf zwei unterschiedliche Weisen gesprochen werden. In den Quellen ist die Unterschiedlichkeit der Perspektiven gut erkennbar. Im September 1914 notiert der Militärarzt Ryszard Łączyński in seinem Tagebuch einen Vorfall, in dem sich unsere bisherigen Ausführungen über die Heimsuchungen der Zivilbevölkerung (wie die Brutalität der Militärs, Kontributionen und Geiselnahmen) mit eben dieser Problematik verbinden: Um 10 Uhr morgens rückt eine Kompanie aus, um die Kosaken aufzuspüren. Den Juden der Stadt Korczyn wurde wegen Falschinformationen zu den Kosaken eine Kontribution von 10 000 Rubeln auferlegt. Gestern Nacht hatte nämlich eine unserer Einheiten als Erste die Weichsel überquert, um in Korczyn die Kosaken mit Bajonetten anzugreifen. Unsere Soldaten zogen mit ungeladenen Gewehren los. Man hatte jedem eine Kugel in den Kopf angedroht, dessen Waffe geladen wäre – die Kosaken sollten ohne Gewehrfeuer gefangen werden. Die Juden warnten die Kosaken, diese flohen aus der Stadt, unsere Expedition scheiterte. Zuvor aber, als unsere Leute nach den Kosaken gefragt hatten, hatten sie gesagt, der Feind sei nicht in der Stadt, doch als unsere Leute den Markt erreichten, wurden sie von den Kosaken mit Schüssen empfangen, das heißt – man hatte uns falsch informiert. Dafür wurde den Juden eine Kontribution von 10 000 Rubeln auferlegt, zahlbar binnen drei Stunden. In der Stadt lebten rund 1500 Menschen, fast alles Juden. 23 Juden wurden als Geiseln festgenommen, darunter zwei Rabbiner. Die Verzweiflung und das Wehgeschrei der Juden waren unbeschreiblich, sie liefen wie von Sinnen durch die Stadt, entsetzt über die Höhe der Kontribution; nach zwei Stunden hatten sie gerade 4000 Rubel eingesammelt und sagten, mehr brächten sie nicht zusammen. Da erteilte unsere Gendarmerie ihnen eine 298

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moralische Lektion, einen anschaulichen Vortrag über gesellschaftliches und politisches Recht: Sie errichtete auf dem Markt einen Galgen, um drei Vertreter der jüdischen Gemeinde zu hängen. Die zwischen zwei Bäumen befestigte Stange, an der drei fertige Schlingen baumelten, verlieh dem Markt der Stadt Korczyn einen ganz eigenen Reiz. Das wirkte. Die Juden fanden, oder genauer gesagt, die Gendarmerie entdeckte bei Durchsuchungen bei einem Schneider 8000 Rubel und bei seiner Frau 6000 Rubel. Davon wurden die 10 000 Rubel Kontribution abgezogen. Man ließ die Juden die Galgen wieder abbauen …49 Wie aus anderen Berichten hervorgeht, trugen die wenigen polnischen Einwohner des Städtchens zur Sammlung bei, um die Beziehungen zu den jüdischen Nachbarn nicht abreißen zu lassen. In Erinnerungen wird das Ereignis mal als Kontribution der Korczyner Juden, mal als Kontribution der Bürger Korczyns beschrieben. Ähnlich lesen sich andere Berichte über das Leid der Zivilbevölkerung in Regionen, in denen die Mehrheit der Juden Europas lebte. Das Herannahen der Front ging – wie schon beschrieben – mit einer Krise der öffentlichen Ordnung einher. Bis hierher war vor allem von Randalierern und Kriminellen die Rede, doch das Machtvakuum weckte auch verbrecherische Instinkte in Menschen, die unter anderen Umständen wohl nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten wären. Die Erschütterung der gesellschaftlichen Ordnung hatte nämlich eine tiefere Dimension. Wenn Orte beim Wechsel der Front von einer Hand in die andere übergingen, führte dies mitunter zum Zusammenbruch der bestehenden sozialen Normen. Am sichtbarsten war diese Erscheinung an der Ostfront. Wenn es kein Anachronismus wäre, könnte man sagen, dass die in Ostgalizien einmarschierende russische Armee schon 1914, sechs Jahre vor der bolschewistischen Offensive, den Klassenkampf ausrief. Kontrahenten in diesem Kampf waren das Land und die Stadt, die Mittelschicht und die niederen Schichten. Die russische Invasion bedeutete den Sieg der Bauernschaft über das Bürgertum, zumal das jüdische. Das von den Russen besetzte Przemyśl verwandelte sich für Helena Seifert-Jabłońska in eine völlig andere Stadt: Der Charakter der Stadt hat sich so sehr gewandelt, dass man Przemyśl nicht mehr wiedererkennt. Der Frühmarkt und der Marktplatz sind von Fuhren und ruthenischen Krämern belagert. Sie und die Marktfrauen aus den Dörfern haben den Handel komplett übernommen. Von den Fuhren und an Ständen verkaufen sie Speck und Wurst. Seife, Süßigkeiten und Halwa überall. Auch Seefisch gibt es überall in unterschiedlichster Art und Größe, Fischkonserven, 299

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verschiedene Käsesorten, Eier in rauen Mengen, sieben Stück für 40 Heller. Backwaren sind ungewöhnlich teuer. Alle Läden außer den ruthenischen sind geschlossen, es gibt nichts mehr zu kaufen.50 Nicht nur die Verbesserung der Versorgungssituation verblüffte die Hausbesitzerin aus Przemyśl (es war zu erwarten gewesen, dass nach dem Ende der Belagerung Lebensmittel in die Stadt kommen würden). Mehr noch fiel etwas anderes ins Auge. Die „ruthenischen“ (also ukrainischen) Händler übernahmen eine ­Rolle, die zuvor andere innehatten: Wer wohnt nun in diesen Häusern? Wachleute und Bauern. Die Bauern haben sich von den Russen so verblenden lassen, dass sie die Häuser gewaltsam besetzten. […] Sie sitzen auf den Balkonen, schlafen in jüdischer Bettwäsche und es mangelt nicht an komischen Szenen. In der Kirche etwa ein Weibsstück wie eine Haubitze im tief ausgeschnittenen Ballkleid über einem einfachen Hemd mit Perlenkette, das Oberteil im Mieder aufgetrennt und mit einem eingesetzten Stück Perkal erweitert und dergleichen mehr.51 Gelegentlich nahmen „Klassenkampf “ und Antisemitismus sehr viel bedrohlichere Gestalt an. In der für ihre Talmudschule berühmten Kleinstadt Bychawa bei Lublin floh ein großer Teil der Bewohner, überwiegend Juden, in Panik vor den anrückenden Österreichern. Auf ihrem Weg nach Norden wurden sie von einheimischen Bauern mit Steinen beworfen und anschließend von Kosaken überfallen und ausgeraubt. Die in Bychawa Zurückgebliebenen wurden unmittelbar nach dem Abzug der österreichisch-ungarischen Truppen Opfer eines ­russischen Pogroms. Die russische Gendarmerie, die in dieser Angelegenheit ermittelte, verhaftete ein gutes Dutzend Juden, die sie für die Ausschreitungen verantwortlich machte und der Illoyalität beschuldigte.52 Die Bauern kamen ungeschoren davon. Auch in Galizien war offensichtlich, auf wessen Seite Russland stand. Helena Seifert-Jablońska, wiewohl keine Jüdin, fühlte sich nicht ohne Grund als Opfer des Konflikts: Kaum zu glauben, was diese Russen getan haben, um das Volk aufzuwiegeln. Einigen ihrer Wächter oder Köchinnen haben sie formelle Dokumente mit Stempeln und Siegeln ausgestellt, die sie zu Besitzern von Häusern erklären. Heute gab es einen Vorfall, dass die Wache eine Hauseigentümerin aufgrund eines russischen Dokuments nicht in ihre eigene Wohnung lassen wollte. Die Sache endete bei der [nach der Offensive von Gorlice-Tarnów und der 300

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Befreiung von Przemyśl wieder österreichisch-ungarischen Polizei und statt in der Wohnung landeten die Wächter im Arrest.53 Die galizischen Kleinstädte, aus denen die überwiegend jüdischen Einwohner geflohen oder auch vertrieben worden waren, wurden zum Ziel organisierter Raubzüge der Bauern aus dem Umland. Beteiligt waren keineswegs nur die ärmsten Tagelöhner, sondern Bauern mit eigenen Höfen, die auf Fuhrwerken die Beute abtransportierten. Viele hielten es wohl für ausgleichende Gerechtigkeit, dass sie es den vermeintlich ausbeuterischen Juden heimzahlten und sich an der Boykottaktion der Nationaldemokraten beteiligten. Ein Gesandter des Obersten Nationalkomitees (Naczelny Komitet Narodowy, NKN) berichtete aus Westgalizien: […] die Bevölkerung nahm es den Russen keineswegs übel, dass sie die Läden oder auch die Wohnungen der jüdischen Flüchtlinge plünderten und verwüsteten. Im Gegenteil, es gefiel den Leuten und die niederen Schichten halfen sogar oft den russischen Soldaten bei ihrem Werk, weil der angeborene Hass unserer Bevölkerung gegen die Juden, der zuvor wegen ihrer militärischen Betrügereien schon angewachsen war, durch die Agitation der Russen noch potenziert wurde.54 Die Gewalt gegen Juden beschränkte sich also nicht nur auf die vom russischen Militär organisierten Pogrome. Auch Requisitionen, Zwangsarbeit, Fuhrdienst und Evakuierung, Geiselnahmen und Vergewaltigungen hatten unter bestimmten Umständen antisemitischen Charakter.

Die Besatzung von Tarnów Manche Aspekte des Ersten Weltkriegs blieben von der Geschichtsschreibung jahrelang unbeachtet. Vor diesem Hintergrund bildet die knapp sechsmonatige russische Besatzung von Tarnów eine leuchtende Ausnahme. Obwohl sie den Verlauf des globalen Konflikts kaum grundlegend prägte, fand sie doch sofort einen Chronisten. Schon 1915, wenige Wochen nach der Rückeroberung der Stadt durch österreichisch-ungarische Truppen, veröffent­ lichte der knapp dreißigjährige Priester Jan Czuj einen Abriss der Ereignisse. Czuj war nicht irgendwer. In den 1920er Jahren war er Professor an der Katholischen Universität Lublin und an der Universität Warschau sowie erster Rektor der Akademie für Katholische Theologie (in den 1950er Jahren zählte er zu den Initiatoren der prokommunistischen Bewegung „patriotischer Priester“). 301

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Seine Kriegserinnerungen erschienen unter dem Pseudonym Jan Bor­zęcki. Sie sind aus zwei Gründen beachtenswert: Einerseits liefern sie zahlreiche Informationen und einige treffende Beobachtungen, andererseits kann die in Czuj-Borzęckis Wertungen zum Ausdruck kommende Mentalität und Weltanschauung auch für andere Galizier als charakteristisch gelten. Die russische Armee eroberte Tarnów am 10. November 1914. Den Beginn der Besatzung erinnert Czuj-Borzęcki vor allem als positive Enttäuschung. Man dachte allgemein, der Einmarsch der „Moskowiter“ würde für alle Einwohner der Stadt den Ruin bedeuten. Unterdessen beschränkten sich die Besatzer auf die Plünderung jüdischer Geschäfte und Wohnungen, die Christen behandelten sie milder. Wie der Tarnówer NKN-Gesandte berichtete, wurden die Juden rücksichtslos terrorisiert. Sie durften nicht einmal am Fenster stehen, weil man mit Steinen nach ihnen warf. Und diese Wildheit legten nicht nur die Kosaken an den Tag, sondern auch das Fußvolk. Ein Regiment, das schon gegen Ende der Moskowiter-Herrschaft in Tarnów durch die Ulica Krakowska zog, bombardierte die Fenster des Hauses von Herrn Haller mit Steinen, nachdem man an einem Fenster einen Israeliten entdeckt hatte.55 Entgegen dieser Schilderung notiert Czuj, dass sich die einzelnen russischen Formationen in der eroberten Stadt sehr unterschiedlich verhielten. Die Fronttruppen zogen lediglich durch die Stadt und zahlten für ihre Einkäufe. Die Kosaken indes plünderten und vergewaltigten und die kommandierenden Offiziere sahen es entweder nicht oder scheuten den Versuch, ihre Untergebe­ nen zu disziplinieren. Einer der ersten Beschlüsse der russischen Kommandan­ tur verpflichtete die Juden zum Ausheben von Schützengräben. Die ­Geiseln aus den Tarnówer Eliten wurden paritätisch ausgewählt: sieben Katholiken und sieben Juden, wobei die Katholiken früher freigelassen wurden. In den ersten Wochen richteten sich die Repressionen vor allem gegen die Juden. Die polnischen Einwohner von Tarnów bekamen die volle Last der russischen Besatzung erst später zu spüren. Ende November untersagten die russischen Behörden den Verkauf von Alkohol, die Versorgung wurde schwieriger, die Teuerung setzte ein und die katholischen polnischen Bürger sahen sich ständigen Durchsuchungen ausgesetzt. Ende Januar, Anfang Februar geriet Tarnów unter österreichisch-ungarischen Artilleriebeschuss. Im Februar fielen die ersten Mörsergranaten der „dicken Berta“ auf die Stadt. Am 18. Februar war das Feuer besonders heftig. Wie Czuj schreibt, „[…] schlug das zweite Geschoss in einem Garten an der Ulica Mickiewicza ein, gegenüber 302

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vom ‚Falken‘. Auch hier starben einige Soldaten, die gerade beim Kochen waren, und einige Pferde. Ein halbes Pferd wurde von der Wucht der Explosion aufs Dach des zweiten Stocks der Brodziński-Schule geschleudert. Die eisernen Gaslampen in der Mickiewicz-Straße wurden aus den Fundamenten gerissen und umgestürzt.“56 Vier Tage später traf ein Geschoss ein Freudenhaus und tötete 20 Personen: Prostituierte und ihre Kunden – russische Offiziere. Im März begannen österreichisch-ungarische und deutsche Luftwaffe ihre Angriffe auf Tarnów sowie auf die Straße nach Pilzno, in der Stadt waren plötzlich bettelnde Kinder zu sehen. Das waren untrügliche Anzeichen für das Ende der russischen Herrschaft in Tarnów. In den ersten Tagen der Offensive von Gorlice-Tarnów kehrte die Stadt in den Schoß der Donaumonarchie zurück. Czuj-Borzęcki war ein aufmerksamer Beobachter. So durchschaute er das Manöver der Russen, die zu Propagandazwecken dieselben Kriegsgefangenen mehrfach durch Tarnów führten. Überdies erwähnt er Fälle, in denen sich reichere Kriegsgefangene freikauften. Interessant sind seine Schilderungen aus russischen Feldlazaretten (die er vermutlich als Seelsorger besuchte). Die von der Duma betriebenen boten ein ordentliches Bild, die übrigen waren in katastrophalem Zustand. Ein gesondertes Thema sind die Wertungen und Kommentare, mit denen der Priester Czuj seine Aufzeichnungen versieht. Manche belegen eindrucksvoll den Mangel an Solidarität unter den verschiedenen Einwohnergruppen im besetzten Tarnów. Den Tod der Prostituierten durch österreichisches Artilleriefeuer notiert Czuj-Borzęcki mit unverhohlener Genugtuung. Mit den jüdischen Nachbarn hatte er noch weniger Mitleid. Obwohl die russischen Repressionen alle Einwohner bedrohten und klar war, dass nach der Plünderung der jüdischen Läden die polnischen an die Reihe kämen, empfand Czuj-Borzęcki keinerlei Schicksalsgemeinschaft. Im Gegenteil: Das jüdische Leid amüsierte ihn: An anderer Stelle wurde ich frühmorgens Zeuge einer lustigen Szene: Ein vorbeikommender Kosak hielt einen hastig von einem Haustor zum anderen laufenden Juden an, weil ihm dessen Schuhe gefielen. Und man muss wissen, dass die Moskowiter ausgezeichnete Augen haben. In diesem Falle aber hatte der Kosak sich geirrt […]. Er probierte und betrachtete die Schuhe eine Weile und, als er sich überzeugt hatte, dass seine besser waren als die des Juden, gab er sie dem verängstigten Sohn Israels zurück und zog ihm für seinen Irrtum nur einmal die Knute über.57

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Zerstörungen an der Kathedralbasilika in Tarnów.

Zu guter Letzt formuliert der Autor seinen Hauptvorwurf gegen die russische Besatzungsmacht, der selbst angesichts der obigen, recht deutlich vom Ideal der Nächstenliebe abweichenden Bemerkungen überrascht. Czuj-Borzęcki beklagt nämlich nicht Unterdrückung, Kriegsverbrechen oder zumindest die Verfolgung von Katholiken, sondern die übergroße Milde der Russen gegenüber den Juden: „Sie unterdrückten die Juden, aber nur zum Schein, aus Berechnung, um unsere Bevölkerung zu gewinnen, die unbarmherzig von unseren Alttestamentarischen ausgebeutet wurde.“58 Czuj-Borzęckis Buch veranschaulicht die Macht der antisemitischen Weltanschauung, die nicht einmal ein Weltkrieg zu erschüttern vermochte. Es ist auch ein Beleg tiefer gehender Erscheinungen, die sich in allen auf irgendeine Weise vom Krieg betroffenen Gebieten beobachten lassen. Die Menschen litten nur theoretisch gemeinsam. In der Praxis verschärfte das Kriegsleid die Konflikte, die vor 1914 zwischen den einzelnen Gruppen bestanden hatten. Nun betrachtete jede von ihnen die Tragödie der anderen mit Genugtuung. Aus dieser Perspektive nahm der Krieg die Gestalt einer Naturkatastrophe an, die auf ihre Weise Gerechtigkeit schuf, weil sie endlich dem Nachbarn die lang verdiente Strafe zuteilwerden ließ. 304

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Zu den bewegendsten Dokumenten des Schicksals der jüdischen Bevölkerung im Krieg gehört der Bericht des jiddischsprachigen russischen Journalisten und Schriftstellers Salomon Rappaport (Pseudonym An-Ski) über das Schicksal der galizischen Juden.59 Der unter dem Eindruck frischer Reiseerlebnisse geschriebene Text ist ein Mosaik des Grauens, der Tragödien und der von allen kämpfenden Parteien begangenen Verbrechen an den Juden, die „immer zwischen zwei Flammen festhingen, zwischen zwei feindlichen Lagern. Und von beiden Lagern konnten sie nichts erwarten als Raub und Drohungen, Verleumdung und Terror.“60 Das Beeindruckendste an An-Skis Buch ist freilich die Entwicklung der Ansichten des Autors. Er kam als russischer Patriot nach Galizien und glaubte, es seien die Polen, die – erfolglos – die Russen mit dem Virus des Antisemitismus infizieren wollten. Jeder Tag seines Aufenthalts und jedes Gespräch mit galizischen Juden überzeugte ihn, dass die Wahrheit weit grausamer war. Letztlich schreibt An-Ski angesichts der Evakuierung der Russen nach der Niederlage von Gorlice im Mai 1915: Doch selbst hier, auf den blutgetränkten Schlachtfeldern, wo der Hass zwischen den Völkern in hohen Flammen auflodert, herrscht bereits die entsetzliche Übereinkunft, die Juden hätten diesen Zustand herbeigeführt. Der Pole mit dem falschen Lächeln, der naive ukrainische Flüchtling, der österreichische oder ungarische Kriegsgefangene und der russische Soldat – sie alle eint ihr Hass gegen die Juden.61

*** Wir untersuchen hier die Stimmungen der Zivilisten, für die der Krieg nie mit der Besatzung beginnt. Am Anfang gibt es Begeisterung, dann erste Einschränkungen, denen weitere folgen. Unabhängig vom Grad ihrer Loyalität gegenüber den krieg­ führenden Monarchen war für die Untertanen der Moment des Regimewech­sels eine schwere Prüfung. Selbst wenn die Zerstörungen nicht überall so schlimm waren wie in den am stärksten umkämpften Gebieten oder entlang der Hauptver­ kehrsadern, so war doch fast jede Gemeinschaft im besetzten Ostmitteleuropa und auf dem Balkan in irgendeiner Form von akuter Gewalt betroffen. Diese Erfah­ rung unterschied sich von den polizeilichen Repressionen zu Kriegsbeginn ebenso wie von der späteren, schon gefestigten Ordnung des Besatzungsregimes. Nicht immer ließ sich die Unterscheidung zwischen fremder und eigener Herrschaft im Vorkriegssinn aufrechterhalten. Józef Piłsudski beschrieb treffend 305

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die spezifische Situation der Orte, die bei wechselnden Fronten von Hand zu Hand übergingen: Das Aussehen eines solchen „neutralen Korridorstädtchens“ ist höchst eigenartig. Die einen Machthaber sind schon abgezogen, die andern sind noch nicht eingetroffen. Und die armen „Neutralisten“ zählen ihre Sünden, die sie dem neuen Herrn gegenüber begangen haben, Sünden, die bei dem, der schon abgezogen ist, ein Verdienst waren. Seelisch sind alle schon im Bann der Herrschaft dessen, der ankommen wird.62 „Papas Heimkehr“ brachte den Einheimischen weniger neue Sicherheit als vielmehr neue Gefahren. Das erlebte etwa die Bevölkerung der im Frühjahr und Sommer 1915 von der k. u. k. Armee zurückeroberten Orte. In Rzeszów verordnete die zurückgekehrte Stadtverwaltung einen Tag nach Abzug der russischen Truppen neue Höchstpreise, Normen für die Brotproduktion, eine Bestandsaufnahme der privaten Lebensmittelvorräte sowie eine neue Volkszählung (unter anderem zwecks sofortiger Eintreibung ausstehender Steuern). Die Gendarmerie suchte nach echten oder vermeintlichen Spionen. Schon am ersten Tag wurden dreißig Personen festgenommen. Auf der Basis der neuen Einwohnerlisten führte die Armee eine Assentierung durch, das heißt eine Zwangsmusterung aller Männer, die während der russischen Besatzung nicht zum Militärdienst eingezogen worden waren. Der Ilustrowany Kuryer Codzienny resümiert seinen Bericht aus Rzeszów in einem Satz, dessen Ironie der Zensur offensichtlich entging: „Nach sechsmonatiger Zwangsherrschaft atmet die Bevölkerung nun auf, sie erkennt den Unterschied zwischen dem zaristischen und dem österreichischen Regime.“63 Zwar verschärften die Besatzer für eine Übergangszeit die bestehenden Regulierungen und Einschränkungen und fügten neue hinzu, doch nicht sie zerstörten die aus Friedenszeiten bekannte Ordnung. Diese war zuvor schon von den heimischen Machthabern abgeschafft worden. Millionen junger Männer waren zur Armee gegangen. Die Menschen hatten deutlich weniger Rechte als vor 1914. In fast allen Städten stieg die Arbeitslosigkeit sprunghaft an, in den Läden gab es immer weniger Waren, die immer teurer wurden. Doch auch, wenn er in materieller Hinsicht keine großen Veränderungen mit sich brachte, war der Einmarsch der Besatzer ein schockierendes Erlebnis. Binnen weniger Tage wechselten der Monarch, die Uniformen und die Porträts in den Amtsstuben, die Sitten wandelten sich. Die Untertanen Franz Josephs I. in Galizien oder der Bukowina hielten nichts von „ihren“ Honweds, das heißt der ungarischen Armee, doch weitaus 306

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mehr fürchteten sie die Russen und insbesondere die Kosaken. In die Angst mischte sich Niedergeschlagenheit, meist in Verbindung mit Desillusionierung und Hilflosigkeit. Der frisch gewählte Bürgermeister von Gorlice vermerkte im November 1914 in seinem Tagebuch: „Niemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann sich auch nur annähernd den Schmerz, die Bitternis und den Groll vorstellen, die mich und, ich glaube, alle in der Stadt Verbliebenen am 14. November erfasste, als wir uns plötzlich allein in der Stadt wiederfanden, ohne Magistrat, ohne Gericht, ohne Armee, ohne Gendarmerie.“64 Ähnliche Tage des Schreckens erlebten Millionen Menschen in Lodz, Lemberg und Czernowitz 1914, in Warschau, Grodno, Wilna und Belgrad 1915, in Bukarest 1916, in Riga 1917 und in vielen Städten im westlichen Grenzgebiet Russlands 1918. An jedem Ort und zu jeder Zeit war die Situation ein wenig anders. Für Tallinn oder Kiew bedeutete im letzten Kriegsjahr der Einmarsch der Besatzer weder die Zerstörung der alten noch irgendeiner anderen Ordnung. Die öffentliche Ordnung war dort bereits im Vorjahr zusammengebrochen.

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Kapitel 2 Neue Ordnungen Die Deutschen besetzten in Westrussland und in Rumänien ein ihnen bis dahin völlig unbekanntes Terrain. Die k. u. k. Beamten hatten zumindest theoretisch eine gewisse Vorstellung sowohl von Serbien als auch von den polnischen Ge­ bieten.1 Unabhängig von der Ausgangssituation hatte aber jeder Besatzer eine Idee von Ordnung, zu deren Umsetzung er zwar die Mitwirkung der Einhei­ mischen benötigte, über deren Zweckmäßigkeit er aber nicht zu diskutieren ­beabsichtigte. Ein anschauliches Beispiel für diese Denkweise ist die Frage der amtlichen Ortszeit. Die kriegführenden Staaten lagen nicht nur in verschiedenen Zeitzonen (Russland hatte den entsprechenden Vertrag nicht ratifiziert, die Festlegung der Ortszeit lag in der Hand der Regionalbehörden), sondern hatten auch unterschiedliche Kalender. Jeder Besatzer stellte die Uhren vor oder zurück, was durchaus auch symbolische Bedeutung besaß. Die Russen führten in Ostgalizien den julianischen Kalender und die Petersburger Zeit ein, die Deutschen im Osten den gregorianischen Kalender und die mitteleuropäische Zeit. Im österreichisch besetzten Sandomierz wurden die Uhren zur Anpassung an die Wiener Zeit um 35 Minuten zurückgestellt, zugleich bedeutete die Umstellung vom julianischen auf den gregorianischen Kalender einen Sprung von 13 Tagen nach vorn. Ähnlich war es in Serbien. Im von den Russen besetzten Lemberg wiederum wurde der julianische Kalender eingeführt (was 13 zusätzliche Tage bedeutete). Die Deutschen führten in Warschau wie in den übrigen besetzten Gebieten die Berliner Zeit ein. In all diesen Fällen ging es dabei nicht nur um das Vor- oder Zurückdrehen der Uhrzeiger und die Betroffenen hielten ganz und gar nichts von den Veränderungen, die ihren Lebensrhythmus durcheinanderbrachten. Unter deutscher und österreichischer Besatzung verkomplizierte sich das Ganze durch die Unterscheidung von Sommer- und Winterzeit. Man rechtfertigte die Umstellungen mit militärischen und administrativen Erfordernissen, doch in Wirklichkeit 308

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führte die von den Einheimischen praktizierte doppelte Zeitrechnung zu Desorganisation und Chaos. In Rumänien wurde es nach der Umstellung auf die mitteleuropäische Zeit schon Mitte September um 17.30 Uhr dunkel, die Abende wurden für Rumänen wie für Deutsche „entsetzlich lang“.2 Es handelte sich also vor allem um eine Machtdemonstration der neuen Herrscher. In Belgien, wo die deutschen Besatzer in dieser Frage genauso wie in Kongresspolen vorgingen, wurde es zum patriotischen Akt, die Uhren nach „belgischer Zeit“ zu stellen (also eine Stunde vor der Berliner Zeit).3 In Ostmitteleuropa waren derartige Manifestationen seltener, obwohl sie insbesondere unter der russischen Besatzung und in Serbien durchaus vorkamen. Im Mai 1916 notierte der österreichische Schriftsteller Friedrich Wallisch, der als Offizier auf dem Balkan stationiert war: Die neue Sommerzeit ist auch in Serbien eingeführt worden. Wiewohl diese Zeitrechnung in den feindlichen Ländern ebenfalls angenommen worden ist, wollten die Serben die „schwäbische“ Uhrenvorrückung nicht recht anerkennen. Aber ebenso wie jene, die uns lange genug keinen Sieg geglaubt haben und überzeugt waren, daß die serbische Armee wieder im Lande steht, – ebenso wie diese Leute allmählich unsere Ansichten über den Krieg angenommen haben, so verschwindet auch der Unterschied zwischen „unserer Zeit“ und „eurer Zeit“, zwischen našo vrijeme und vašo vrijeme [sic!] rasch dahin. Es war nicht leicht, den Bauern den Sinn der neuen Zeitrechnung und die Art der Durchführung klarzumachen. Am einfachsten ging es dort ab, wo am Vormittag des 1. Mai z. B. um 8 Uhr alter Zeit verlautbart wurde: Es ist jetzt 9 Uhr.4 Die politische Dominanz des Deutschen Reichs in der Zeitfrage betraf nicht nur die besetzten Gebiete, sondern auch die Verbündeten. Im Frühjahr 1916 führte Bulgarien auf Drängen Berlins eine Kalenderreform durch. Auf den 31. März folgte unmittelbar der 14. April. Die Änderung wurde als Diktat des Stärkeren aufgefasst. Ein weiteres Kapitel der Neugestaltung der Wirklichkeit waren der Wechsel des Alphabets und – nur teilweise damit verbunden – der Sprache. Manchmal spielten dabei dort, wo ein besetztes Gebiet langfristig in den Siegerstaat ein­ gegliedert oder als neuer Nationalstaat von einem Imperium abgetrennt werden sollte, strategische Erwägungen eine Rolle. Meist gaben aber pragmatische Erwägungen den Ausschlag: Die Besatzer konnten sich schlecht auf einem Terrain bewegen, auf dem sie grundlegende Orientierungssignale nicht zu entziffern 309

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vermochten. Das Problem beschränkte sich nicht auf Alphabet und Sprache – im besetzten Warschau konnten die Deutschen in den ersten Monaten die Straßenbahn nicht benutzen, weil die Russen alle Schilder und Tafeln mit Informa­tionen zu Streckenverlauf und Endhaltestellen mitgenommen hatten. Den Warschauern genügte die Liniennummer. Umgekehrt erschwerten die Versuche der Besatzer, in den eroberten Gebieten heimisch zu werden, oft den Einheimischen das Leben. In Ober Ost (dem deutschen Besatzungsgebiet in Litauen, Lettland, Weißrussland sowie dem nordöstlichen Teil Kongresspolens) erhielten alle Bahnhöfe neue Schilder mit der deutschen Transkription der jeweiligen Orts­ namen. In vielen Fällen erwies sich diese Sprachgymnastik als zu schwer für die deutschen Armeelinguisten, sodass im Endeffekt selbst Einheimische rätseln mussten, wie die gnadenlos verballhornten Namen ursprünglich lauteten. Im von den Deutschen besetzten Teil Rumäniens war das Alphabet kein Problem. Überall sonst, wo die neuen Herrscher das kyrillische Alphabet durch das lateinische ersetzten oder umgekehrt, stellten sie sich bald die Frage, ob sie nicht zum eigenen Schaden handelten. In Galizien und in der Bukowina war die Kenntnis des Russischen wenig verbreitet, wenngleich die Ukrainer es natürlich besser verstanden als Polen, Rumänen oder Juden. Die Russen wussten das. Doch sie befanden sich in einer Zwickmühle: Da sie ja „ewig russische“ Gebiete „befreiten“, erschien die Russifizierung des öffentlichen Raums und teils auch des Schulwesens als unausweichlicher Schritt. Bauen konnten die Russen dabei auf den nationenübergreifenden Opportunismus der Privatunternehmer, das heißt der Händler und Dienstleister aller Art, die ohne größere Vorbehalte die deutschen Namen ihrer Läden oder Betriebe entfernten und kyrillische Schilder neben den polnischen anbrachten. Widerstand kam hingegen oft von den Selbstverwaltungen, die erklärten, es gebe niemanden, der Straßenschilder und Wegweiser in kyrillischer Schrift anfertigen könne, das Unterfangen sei zu kostspielig und verschandele die Stadt. In Lemberg war diese Sabotage insoweit erfolgreich, als die russischsprachigen Straßenschilder erst nach einem halben Jahr aufgehängt wurden. Umgekehrte Verhältnisse herrschten im Königreich Polen, wo die Deutschen die Entfernung der kyrillischen Schrift aus dem öffentlichen Raum nicht eigens forcieren mussten; die Polen erledigten diese Arbeit bereitwillig und schnell, ­sobald klar war, dass die neuen Herren länger bleiben würden. Noch anders war die Situation in Serbien. Die k. u. k. Besatzer vollzogen ohne größere Probleme die Umstellung vom Rechts- auf den in der Monarchie geltenden Linksverkehr. Die Umstellung von Zeit und Alphabet gelang ihnen sehr viel schlechter. An­­ 310

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„Der heutige Straßenverkehr in Lwów“: Titelblatt einer von den ­Russen im besetzten Lemberg herausgegebenen Zeitung.

die „schwäbische“ Zeit gewöhnten sich die Serben, indem sie – wie schon erwähnt – je nach Bedarf und Umständen in „unserer“ und „ihrer“ Zeit rechneten. ­Ähnlich verfuhren sie mit dem gregorianischen Kalender, was eine doppelte Zählung von Tagen und Jahren bedeutete. Die Österreicher akzeptierten schließlich die Gewohnheiten der Besiegten und ließen etwa die Serben ihre Kirchenfeste weiter nach dem alten Kalender feiern. Schon ganz zu Beginn hatten sie eingesehen, dass es unmöglich war, die kyrillische Schrift aus dem öffentlichen Raum zu ­verbannen. Nur eine Minderheit der Serben konnte lesen und schreiben, um wenigstens diese zu erreichen, musste man Kompromisse eingehen. Deshalb wurden Anordnungen der Besatzungsbehörden in kyrillischer Schrift veröffentlicht, auch Anträge an Ämter und Behörden konnten in Kyrillisch eingereicht werden. Die Militärverwaltung ging sogar noch weiter und veröffentlichte 1917 einen dreisprachigen Kalender (in Deutsch, Ungarisch und Serbokroatisch) mit gre­ gorianischen und julianischen Daten – „[…] das letztere in kyrillischer Schrift, in welcher auch ein Teil des belehrend-unterhaltenden Textes gedruckt wurde“.5 311

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Österreichisch-ungarische Soldaten besichtigen den Thronsaal der Skupština (des ­serbischen Parlaments).

Eine weitere Schwierigkeit resultierte aus der Präsenz der Besatzer im öffentlichen Raum. Auf dem Land wunderte sich niemand, wenn die lokale Armee­ einheit beim Dorfvorsteher, im Gutshof oder bei den reichsten Bauern Quartier bezog. Für ebenso selbstverständlich hielt man es, dass der russische „Grado­ natschalnik“ in den Amtssitz des k. u. k. Landrats einzog und der deutsche Bezirkskommandant ins Haus des örtlichen Gouverneurs. Komplizierter wurde es, als die deutschen Besatzer in Bukarest die bisherige Königresidenz requirierten. Auch als der deutsche Generalgouverneur ins Warschauer Königsschloss einzog, übernahm er nur scheinbar den Sitz seines gleichrangigen russischen Vorgängers; der Ort war zwar seit Jahrzehnten kontaminiert, dennoch war er ein Nationalheiligtum. Von einem wirklich drastischen Wandel muss man sprechen, wenn ein Besatzer den repräsentativen Teil des öffentlichen Raums nicht nur in Besitz nahm, sondern ihn bewusst degradierte. In Belgrad verwandelten die Österreicher den (unfertigen, der Bau war 1907 begonnen worden) Sitz des Parlaments in ein Lebensmittellager. Auf der über dem Zusammenfluss von Save und Donau thro312

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Denkmal im Kalemegdan-­Park, kurz nach der Einnahme Belgrads durch ­österreichisch-ungarische und deutsche Truppen.

nenden Festung Kalemegdan wurde die gelb-schwarze Flagge der Habsburgermonarchie gehisst. Das Denkmal der serbischen Unabhängigkeitskriege im Park unterhalb der Festung wurde abgetragen (und zu wertvollem Rohstoff eingeschmolzen). Das war ein klarer Verstoß gegen die Haager Konvention, was dem Generalgouverneur in Belgrad durchaus bewusst war. Fortan untersagte er sowohl die Sprengung serbischer als auch die Errichtung eigener Denkmäler. Damit war der von einigen Offizieren gemachte Vorschlag hinfällig, die Stadt mit Büsten Franz Josephs I. zu schmücken. Der Generalstabschef des Generalgouvernements, Oberst Hugo Kerchnawe, nannte die Zerstörung des Denkmals im Kalemegdan-Park eine „zwecklose Verletzung des kriegerischen Stolzes der serbischen Bevölkerung“.6 Andere Erfahrungen, die von der Bevölkerung besetzter Gebiete als typische Beispiele für das brutalen Verhalten der Besatzer angesehen wurden, waren in Wirklichkeit auch den Bewohnern des Hinterlandes nicht fremd. Das galt etwa für das heikle Feld der Religionsausübung. In Bukarest wurden während des kurzen Feldzugs von 1916 die römisch-katholischen Messen zum Problem, die bis 313

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dahin auch für den informellen Protektor dieser Konfession in Rumänien, Franz Joseph I., gehalten wurden. In Lemberg forderten 1915 die Russen, die katholischen (römisch- und griechisch-katholischen und armenischen) Erzbischöfe sollten ihre Gläubigen für den Zaren beten lassen. Die Bischöfe weigerten sich. Man begann zu verhandeln. Der Kompromiss bestand darin, dass die Gläubigen fortan allgemein für den Kaiser beteten, ohne Franz Joseph I. (wie in den Jahrzehnten zuvor) oder Nikolaus II. (wie es das neue Regime wollte) beim Namen zu nennen. Auch in einem anderen Kontext spielte die Religion eine Rolle. Westlich und östlich der Frontlinie war es gängige Praxis, Kupferdächer abzureißen und einzuschmelzen. Betroffen waren vor allem prachtvolle, oft repräsentative Bauwerke. Die Einwohner protestierten gegen die ästhetische Abwertung ihrer Stadtzentren, doch ihre Meinung zählte nicht viel. Zu ernsteren Konflikten kam es, als sich die Besatzer auf der Suche nach Sekundärrohstoffen die Kirchen vornahmen und nicht nur Dächer, sondern auch Glocken entfernten. Gegen den Protest von Klerus und Gläubigen führten heimische Baufirmen immer neue Aufträge aus und dies keinesfalls im Verborgenen: Das Abdecken eines Kirchendachs ließ sich ohnehin nicht geheim halten, ein solches Vorhaben dauerte meist Wochen. Schlimmer war, dass auch die Glocken bei Tag – vor den Augen zahlreicher Passanten und Schaulustiger – abgenommen und zwecks leichteren Transports noch vor Ort in Stücke geschlagen wurden. Das war eine offensichtliche Schändung. Eine Ausnahme bildete die Verwüstung orthodoxer Kirchen in den von den Mittelmächten besetzten polnischen Gebieten – hier handelte es sich um Gotteshäuser einer Minderheitenkonfession. Aus Warschau waren fast alle Orthodoxen geflohen. Als die Deutschen das Dach der Alexander-Newski-Kathedrale – Symbol der russischen Herrschaft im Weichselland – abdecken ließen, protestierten weder römisch-katholische Christen noch Juden. Die örtlichen Gemeinden versuchten ihre Kirchenglocken vor Requisitionen ebenso wie vor allen anderen Gefahren zu schützen, die Krieg und Besatzung mit sich brachten. Die besten Chancen hatten dabei paradoxerweise Gegenden, in denen die Front in kurzer Zeit mehrfach wechselte. Wenn die Okkupanten einander rasch ablösten, gelang es meist keinem, die langwierige und kostspielige Operation durchzuführen. In Sandomierz gaben die abrückenden Russen einen entsprechenden Plan auf, als man ihnen ein Kostenplan vorlegte, der eine Fotodokumentation des denkmalgeschützten Glockenturms einschloss, die allein mit mehreren Hundert Rubel veranschlagt wurde.7 Kurze Zeit später vermerkte Józef Rokoszny in seinem Tagebuch: 314

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Im Kreis Opatów werden Glocken requiriert; in einer Pfarre nehmen sie die Glocke ab und die versammelte Menge sieht schweigend zu; nach der Abnahme der Glocken sagen die Soldaten: Ihr Dummköpfe! Hättet ihr uns behindert und Geschrei gemacht, hätten wir eure Glocken nicht genommen.8 Die Mittelmächte praktizierten die Methode der Gewinnung von Sekundärrohstoffen aus Sakralbauten nicht nur in den besetzten Gebieten, sondern auch auf eigenem Territorium. Hier wie dort hielten Selbstverwaltung und Einwohner das Recycling der mehr oder weniger historischen Dächer und Glocken für Barbarei, es formierten sich Protestkomitees, angesehene Bürger verfassten Einsprüche und Protestschreiben. In Lemberg ließen die k. u. k. Behörden unter anderem das Kupferdach der Armenischen Kathedrale abdecken, auf Intervention der Kirchenoberen sahen sie aber von der Verschandelung der Boim-Kapelle ab. Ob die Lemberger mehr erreicht hätten, wenn sie es mit einer Besatzungsmacht und nicht mit der eigenen Obrigkeit zu tun gehabt hätten, ist reine Spekulation. In der Provinz waren die Gläubigen ihren Gotteshäusern mindestens ebenso innig verbunden wie die Bewohner der Hauptstädte. Im 150 Kilometer östlich von Bukarest gelegenen Fetești wunderte sich der Soldat Tilka eines Tages über unregelmäßiges Kirchengeläut. Wie sich herausstellte, hatte man gerade mit der Demontage der Glocken begonnen. Um das Gotteshaus hatten sich die traurigen, hilflosen Gläubigen versammelt, darunter der ebenso verlorene, schweigende Pope. Er werde seine Glocken nie wieder hören, notierte Tilka: Ihr Metall wird sich in die lebenwarmen Körper der Krieger bohren, vielleicht der Krieger, die aus diesem Orte kommen, denen ihr Metall zur Taufe geläutet hat! Was soll ich den Menschen nun weiter sagen? Was hat es für einen Zweck, darauf hinzuweisen, daß auch in Deutschland schon längst die Glocken in männermordendes Erz umgegossen sind? Nie werden es diese einfachen Dorfbewohner entschuldigen können, daß man ihnen ihre Glocken nimmt.9

Territorien Russland besetzte Ost-, teils auch Westgalizien und die Bukowina im Spätsommer 1914. Im September entstand eine klassische Besatzungsverwaltung, in der wie immer die Interessen der militärischen und der zivilen Führung gegeneinanderstanden, das heißt der Wunsch nach Pazifizierung des Gebiets im unmittelbaren Rücken der Front gegen den strategischen Plan, das Feindesland langfristig in eigenes oder wenigstens freundlich gesinntes Territorium zu verwandeln. Zwi315

III  Die Besatzung

schen diesen Positionen gab es durchaus Berührungspunkte, etwa mit Blick auf positive Maßnahmen wie Anreize zur Kollaboration oder die Errichtung lokaler und für die neue Herrschaft nützlicher Strukturen. Teils gingen die Vorstellungen aber auch weit auseinander. Die Einführung des Russischen als Unterrichtssprache bedrohte die Besitzstände von Polen und Ukrainern; auch die Juden hatten Grund zur Besorgnis. Das Verbot von potenziell abweichlerischen gesellschaftlichen Organisationen oder Pressetiteln hatte eine ähnliche Wirkung. Im Endeffekt verdarben es sich Russen in weniger als einem Jahr mit allen – Polen, Ukrainern und Juden. Als sie im Juli 1916 einen Teil Ostgaliziens und die Bukowina zurückeroberten, wurden diese zum Frontgebiet. Die Militärs hatten kein Interesse an einer über die Sicherung der Ruhe und die – im unmittelbaren Rücken der kämpfenden Armeen schwer zu realisierenden – wirtschaftliche Nutzung hinausgehenden Besatzungspolitik. Österreich-Ungarn besetzte größere Gebiete für eine längere Zeit. Im Sommer 1915 entstand auf dem Boden des Königreichs Polen das Generalgouvernement Lublin. Ende des Jahres besetzten k. u. k. Truppen einen großen Teil Serbiens und Albaniens sowie Montenegro. 1917 und 1918 kamen Teile der Ukraine hinzu. Insgesamt handelte es sich um ein Gebiet von 400 000 km2 mit 20 Millionen Einwohnern. Sehr viel kleiner waren die von Bulgarien besetzten Territorien: die rumänische Dobrudscha sowie die bis dahin serbischen und griechischen Teile Makedoniens. Sofia wollte diese Gebiete dauerhaft annektieren und ging wohl deshalb im Vergleich zu den anderen Besatzern der Jahre 1915–18 besonders brutal vor. Viele Maßnahmen wirkten wie eine Vergeltung für die Niederlage von 1913, zumal zum Schutz der wichtigsten eroberten Provinz Einheiten aus überwiegend makedonischen Bulgaren eingesetzt wurden. Als Erstes wurden alle ehemaligen Soldaten der serbischen Armee interniert. Außerdem versuchte man, die lokale Intelligenz zu eliminieren. Bulgarische Armee- oder Gendarmeriepatrouillen holten griechische, serbische oder muslimische Lehrer, Geistliche oder Anwälte aus ihren Häusern. Auf Nachfrage hieß es, sie seinen „nach Sofia gegangen“ – von wo sie nie wieder zurückkehrten. Diesen nur halb geheimen Exekutionen fielen in den besetzten serbischen Gebieten nach vorsichtigen Schätzungen rund 2000 Menschen zum Opfer. Auf diese Weise wollte man die serbische und griechische Nationalitätenpolitik rückgängig machen. Die früheren Besatzer hatten makedonische Kinder davon überzeugen wollen, sie seien Griechen oder Serben. Nun wurden ihre Namen bulgarisiert und die fremdsprachigen Schulbücher eingezogen. 316

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Auch hinsichtlich der Versorgung blieben die Bulgaren bei den Menschen in den besetzten Gebieten in schlechtester Erinnerung. Allerdings nicht ganz aus eigener Schuld. Berlin forderte von Sofia immer mehr Lebensmittel, sodass diese 1916 im Land knapp wurden. Die Bulgaren betrachteten ihr Besatzungsgebiet als Kompensation und beuteten es unbarmherzig aus. Anfang 1918, als überall in Makedonien Hunger herrschte und die ersten Toten verzeichnet wurden, musste Deutschland mit Lebensmitteln aushelfen, um eine flächendeckende Katastrophe zu vermeiden.10 Der größte Besatzer im Osten war das Deutsche Reich. Im Jahr 1914 eroberte es den westlichen Teil des Königreichs Polen einschließlich der Stadt Lodz mit ihren 500 000 Einwohnern – das Gouvernement Piotrków erwirtschaftete vor dem Ersten Weltkrieg vier Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts. Im Sommer des Folgejahres besetzten die Deutschen den Großteil des Königreichs sowie im Osten unter anderem Wilna und Gebiete fast bis Riga. Russland verlor weitere zwölf Prozent seines Bruttoinlandsprodukts und insgesamt ein Drittel seiner Fabriken, auf die 1913 ein Fünftel der russischen Industrieproduktion entfallen war. Die Russen versuchten, ihre Verluste zu minimieren. Während des „großen Rückzugs“ evakuierten sie nahezu alles, was für die Produktion von Wert war: Menschen und vor allem Industriebetriebe. Aus Warschau und Riga (das zwei Drittel seiner Einwohner verlor) transportierte man alles ab, was theoretisch einer Wiederaufnahme der Produktion in Russland hätte dienen können. Die Anzahl der Flüchtlinge und Evakuierten im Land stieg Ende 1915 auf 3,3 Millionen, ein Jahr später waren es sogar sechs Millionen, von denen mehr als 3,5 Millionen von den offiziellen Statistiken der Hilfsorganisationen erfasst wurden. Immer nach Niederlagen der russischen Armee rollten Flüchtlingswellen durch das Land. Am Bahnknotenpunkt Charkow, wo über durchgehende Transporte exakt Buch geführt wurde, zählte man im Juli 1915 nur 2565 Evakuierte, im August – als die Deutschen in Warschau einrückten – bereits 43 606 und im September 233  419.11 Mit der Evakuierung ging die rücksichtslose Zerstörung von Infrastruktur einher. Stanisław Dzierzbicki, Augenzeuge der letzten Tage der russischen Herrschaft in Warschau, beobachtete nicht nur den chaotischen Abtransport von Motoren und Dampfkesseln aus den Fabriken, sondern auch die Verwüstung der beliebten Schmalspurbahnen der Grójec- und der Wilanów-Linie: „Den Bahnhof Belweder, Werkstätten und Lokschuppen überließ man den Vorstadtbewohnern zur Plünderung, was nicht ohne Verletzungen durch von den Dächern herabfallende Balken abging.“12 317

III  Die Besatzung

Die Sprengung der Warschauer Eisenbahnbrücke 1917.

Die Deutschen besetzten ein weitgehend entvölkertes Land mit ruinierter Industrie, Massenarbeitslosigkeit und grassierender Armut. Im September 1917, als die russische Armee nur noch auf dem Papier existierte, eroberten sie Riga, das nach drei Jahren Krieg und zwei Jahren als Frontstadt in noch schlimmerem Zustand war. Im März 1918 eroberten deutsche Truppen ohne größere Kämpfe Estland, den Rest Weißrusslands und die Ukraine. Die Deutschen besetzten damit den gesamten Westen des Russischen Reiches, sie kontrollierten ein Viertel seines Territoriums und des Eisenbahnnetzes, ein Drittel der Bevölkerung, 73 Prozent der Hüttenindustrie und 89 Prozent der Kohlebergwerke. Im Süden standen über 80 Prozent des rumänischen Staatsgebiets mitsamt den dortigen Ölvorkommen unter deutscher Verwaltung. Ein größeres Besatzungsgebiet beherrschte das Reich erst wieder 1942, als die Wehrmacht am Atlantik stand, sich Norwegen und Dänemark sowie Mittel- und Südosteuropa unter deutscher Herrschaft oder Kontrolle befanden und die Frontlinie mehr oder weniger zwischen Leningrad und Rostow am Don verlief.

Wirtschaft Serbien lieferte der k. u. k. Monarchie 170 000 Kühe und Rinder, 190 000 Schafe und 90 000 Schweine. Aus Albanien kamen 50 000 Turteltauben ins Deutsche 318

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Reich und nach Cisleithanien, aus dem Königreich Polen in den Jahren 1916 und 1917 insgesamt 6000 Waggons Getreide, 14 000 Waggons Kartoffeln, 1,9 Millionen Eier und 19 000 Pferde.13 Aus Rumänien schafften die Besatzer 1917 fast 1,7 Millionen Tonnen Getreide nach Deutschland und Österreich-Ungarn. Wie viel davon in den Feldküchen und Kasinos des Militärs landete und wie viel auf den Tischen der immer mehr hungernden Einwohner der Städte im Hinterland, ist nicht bekannt. Mitte 1917 arbeiteten 60 000 Litauer, Letten und Weißrussen als Zwangsarbeiter für Ober Ost, weitere 34 000 wurden zur Arbeit ins Reich deportiert. Für die k. u. k. Monarchie arbeiteten Ende 1916 70 000 Polen und Ukrainer, davon 52 000 als Zwangsarbeiter im Generalgouvernement Lublin und 15 000 „freiwillig“ in anderen Ländern der Monarchie; hinzu kamen 5000 „Internierte“, also ebenfalls Zwangsarbeiter. Ab Herbst 1915 waren 200 000–240 000 Polen im Deutschen Reich beschäftigt, wo sie auf Landsleute und andere russische Untertanen trafen, die sich im Sommer 1914 – wie seit Generationen üblich – als Erntehelfer verdingt hatten. Die deutschen Behörden hatten sie als potenzielle russische Rekruten an der Heimkehr gehindert.14 Jede Zahl mit mehreren Nullen macht Eindruck. Im Fall der deutschen und ös­terreichisch-ungarischen Besatzungen könnte man sie endlos an­ei­nan­der­ reihen: Rumänien lieferte Millionen Tonnen Erdöl, die Westprovinzen des Russischen Reichs neben Arbeitskräften auch massenweise Lebensmittel und Unmen­ gen Holz; das traditionelle Jagdrevier der Zaren – der Białowieża-Urwald – wurde fast völlig verwüstet. Überall erbeuteten die Besatzer Maschinen, Rohstoffe und Sekundärrohstoffe. Die wirtschaftliche Ausbeutung erreichte ein bis dahin ungekanntes Ausmaß. Insofern ist es verständlich, dass die Geschichtsschreibung sich darauf beschränkte, sofern sie sich mit Wirtschaftsaspekten befasste. Es existieren jedoch auch andere Daten zum selben Zeitraum, die die genannten Zahlen infrage stellen. Die Arbeit für den Besatzer war nicht gleichbedeutend mit Repression. Die Lodzer Juden beklagten sich offiziell über den polnischen Stadtrat, der Arbeitsplätze beim Bau von Straßen in der Umgebung ausschließlich an Polen vergab.15 Unter deutscher Besatzung lag 1918 der Tierbestand in der Schweinemast bei 124 Prozent des Standes von 1912;16 in Warschau wurden im Oktober 1915 Lebensmittelkarten eingeführt, das heißt zwei Monate nach dem Einmarsch der Deutschen und gut ein halbes Jahr später als im Deutschen Reich. In Bukarest betrug die wöchentliche Brotration im Juni 1917 mehr als drei Kilogramm, in Berlin ungefähr die Hälfte und in Wien lediglich ein Drittel. Auch diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. 319

III  Die Besatzung

Die offensichtlichen Widersprüche sind auf mehrere Faktoren zurückzuführen. An erster Stelle steht die subjektive Empfindung erlittenen Unrechts. Die von der Besatzung betroffenen Menschen wussten wenig über die Schwierigkeiten der neuen Herrscher und wollten nichts davon wissen. Tilkas/Velburgs Eindrücke vom Tag des Glockenraubs in Feteşti sowie die Unkenntnis darüber, dass der Besatzer bei sich zu Hause keineswegs anders oder besser verfuhr, erklären vieles: Da die Menschen unter der Besatzung lebten, machten sie die Besatzer für alles durch sie verursachte und nicht verursachte Leid verantwortlich, nicht anders übrigens als die Zivilisten im Hinterland. Ungeachtet der objektiven Tatsachen, schoben die Menschen alles Übel „denen da oben“ in die Schuhe. Ein zweiter Faktor waren bewusste Entscheidungen der Besatzer, die nirgends auf ihre Rolle vorbereitet waren und in der Regel nicht wussten, was sie mit ihren Eroberungen anfangen sollten. Es gab keine fertigen Pläne in der Schublade. Manchmal halfen eigene Experten aus, wie etwa im Frühjahr 1916 in Lodz Vertreter der deutschen Textilindustrie, die gegen einen Weiterbetrieb der dortigen Textilfabriken plädierten. Das deutsche Staatsinteresse liege „doch ausschließlich darin, eine möglichst große Zahl von Arbeitern zu beschäftigen“. Daher scheine es „durchaus möglich, einen großen Teil dieser Arbeiter in den deutschen Fabriken einzusetzen, die schon heute unter einem großen Mangel an Arbeitskräften leiden“.17 Nach anderthalb Kriegsjahren musste man Lodz nicht einmal mehr den Gnadenschuss verpassen; als Industriezentrum hatte es längst aufgehört, zu existieren. Die Empfehlung der deutschen Experten – und zugleich Lobbyisten der Konkurrenz – war der Sargnagel; zugleich sicherte sie, dass der Wettbewerber zumindest bis Kriegsende nicht wieder auf die Beine kam. Schwieriger war die Realisierung des zweiten Ziels dieser Politik. Die Lodzer Arbeiter strömten nicht scharenweise nach Deutschland, sondern kehrten in die Dörfer Zentralpolens zurück, aus denen sie vor nicht allzu langer Zeit nach Lodz gekommen waren. Meist folgten die Besatzer freilich einer gänzlich anderen Logik. Im Fall der rumänischen oder galizischen Ölvorkommen, des Kohlereviers um Dąbrowa, des serbischen Schlachtviehs oder der Bahnlinien in allen besetzten Gebieten ­investierten die jeweiligen Besatzer nicht geringe Summen, weil sie damit rechneten, dass sich die Ausgaben in spätestens einem Jahr rentieren würden. „Raubwirtschaft“ ist in diesem Kontext der treffende Begriff. Es darf aber nicht ver­ gessen werden, dass ein Teil der Betriebe erst profitabel wurde, nachdem die Investoren den Krieg verloren hatten, und somit nicht sie den Gewinn einstrichen. Litauen, Lettland und Polen mussten nach 1918 ihr Schienennetz nicht von 320

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russischer auf europäische Spurbreite umstellen, weil sie diese von den Besetzern geerbt hatten. In Litauen baute Ober Ost 200 zusätzliche Schienenkilometer. Eine Trasse verband den Südwesten des Landes mit dem übrigen Gleisnetz, eine zweite Kowno mit Riga.18

Zwischen Plan und Wirklichkeit: Zielkonflikte Der uns schon bekannte Jenaer Anwalt Velburg, der für die Zeit des Kriegs zum Rekruten gemacht wurde, war nicht an der Erarbeitung der Pläne von Generalität und Ministerialbürokratie beteiligt. Er musste sie auf niederster Ebene durchsetzen – in Konfrontation mit einheimischen Bauern und bornierten Vorgesetzten. Sein Tagebuch liefert plastische Bilder des Scheiterns der hochtrabenden Pläne seiner Vorgesetzten, die sich vor Ort immer wieder als undurchführbar erwiesen: […] überall liegen auf den Schreibtischen Verordnungen über Verordnungen, Befehle über Befehle, in den Schränken Formulare über Formulare“ […]. „Es ist sofort zu melden“, „jeden dritten Tag ist zu melden“, „die Zählung ist auf das genaueste vorzunehmen“, „ist strengstens untersagt“, so heißt es nur immer in den Verordnungen und Befehlen. Und was soll nicht alles gezählt werden: jedes neugeborene Kalb, jedes ausgekrochene Kücken, jede Gans und jeder Quark. Auf den Schreibtischen der örtlichen Kommandanturen stapelten sich die Militärverordnungen, die Anordnungen der Heeresgruppe Mackensen, die Anordnungen der Militärverwaltung in Rumänien. In ihnen wurden Fragen wie das „Sammeln von Kaffeegrund“, „Reisgepäck für Offiziere“ oder „Verbotene Kleidung für Soldaten“ geregelt. Außerdem enthielten sie amtliche Nachforschungen wie diese: „Wo befindet sich [im August 1917] Leutnant Otto Ephraim, der bei der Kasse des Infanterie-Regiments 52 im Oktober 1914 25 Mark zuviel Vorschuß erhalten hat?“ Tilka kommentierte sarkastisch: „Wahrlich, wenn man mit Verordnungen den Krieg gewinnen könnte, müssten wir ihn schon längst gewonnen haben.“19 Die Besatzer konnten sich vieles einfallen lassen und planen. An der Basis, wo es um konkrete Dinge wie Küken oder ein Stück Käse ging, hatten sie es nur theoretisch mit wehrlosen Untertanen zu tun. In Wirklichkeit trafen sie auf eine über Jahre gewachsene Gemeinschaft und auf einzelne Verhandlungspartner, die ihre keineswegs geringe Intelligenz darauf verwandten, die Vorschriften der anfangs so energischen und selbstsicheren „Kulturträger“ zu verwässern oder – 321

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durch Gaben oder ein üppiges Mittagessen – zu umgehen. Vor Ort stellte sich die Situation ganz anders dar als in den Büros der Generäle; jede neue Verordnung verkomplizierte die Dinge, ohne zumeist die vorgesehene oder gewünschte Wirkung zu erzielen. Die k. u. k. Monarchie kämpfte mit ähnlichen Problemen. 1916 besetzte sie den südlichen Teil des Königreichs Polen, Serbien und Montenegro. Letzteres war wirtschaftlich bedeutungslos und von Lieferungen der Monarchie abhängig. In Serbien ging es um Lebensmittel. Die während der Balkankriege angelegten Vorräte gingen zur Neige, zudem fehlten die Infrastruktur für eine sinnvolle Verteilung sowie – auf dem Land – Arbeitskräfte. Trotz Drängens aus Wien unter­ sagte das Militärgouvernement Serbien die Ausbeutung der noch vorhandenen serbischen Wirtschaft zur Rettung des eigenen Hinterlands. Im Gegenteil, angesichts des katastrophalen Mangels an männlichen Arbeitskräften (infolge des im europäischen Vergleich hohen Mobilisierungsgrads, der Epidemie Anfang 1915, des „Golgatha“ im folgenden Winter und des Exodus von über 150 000 Soldaten nach Korfu) versuchten die Besatzungsbehörden sogar, russische Kriegsgefangene zur Feldarbeit heranzuziehen. Bis zur Ernte 1916 flossen relativ wenig Nahrungsmittel ins Hinterland der Monarchie, im Herbst war die Situation trotz einer nur mäßigen Ernte unter Kontrolle, die Gesellschaft hungerte nicht mehr. Gegen den Widerstand von Teilen der Führung bezahlte die Besatzungsmacht in der Regel die Bauern für ihre Produkte. Requisitionen waren die Ausnahme, Zwangsmaßnahmen wie die Festsetzung von Geiseln aus der Bauernschaft wurden meist nur angedroht statt angewandt. Im Jahr darauf verglich die Wiener Presse erstaunt die Preise: Rindfleisch war in Wien dreimal teurer als in Belgrad, Lammfleisch kostete doppelt so viel und Schweinefleisch ein Drittel mehr; die serbischen Mehl- und Fettrationen waren immer noch höher als die österreichischen usw. So sollte es bis Kriegsende bleiben: Die Besatzer in Serbien ernährten sich selbst (am besten natürlich das Offizierskorps) und ließen die Besetzten essen. Manchmal teilten sie Nahrungsmittel mit andernorts stationierten Kameraden, doch für das eigene Hinterland blieb fast nichts: Im Sommer 1918 verbrauchten die drei Offizierskasinos in Belgrad 16 000 Eier pro Monat. Ins hungernde Wien gelangten zur selben Zeit monatlich 1000 Stück oder weniger.20 In Serbien bestand für die Besatzer – anders als in Kongresspolen, Litauen oder Rumänien – kaum eine Notwendigkeit zur Zusammenarbeit mit den lokalen Eliten. Ganz im Gegenteil: Jedes Anzeichen von nationaler Willensbekundung oder politischem Denken wurde rasch und brutal unterdrückt. Nach dem rumänischen Angriff auf die Monarchie reagierte das Militärgouvernement Serbien 322

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Straßenszene im besetzten Šabac.

auf die vermeintliche Gefahr eines serbischen Aufstands mit der vielleicht größten Polizeiaktion einer Besatzungsmacht im Ersten Weltkrieg, in deren Rahmen mehrere Zehntausend Personen interniert wurden – meist „verdächtige“ Männer, bisweilen mit Familienangehörigen. Mit den ein Jahr zuvor gefangen genommenen Menschen befanden sich nun insgesamt 70 000 Serben in Lagern. Was als Befriedung der Intelligenz („Anführer, Agitatoren, andere Helfer“) begonnen hatte, wurde zur Massendeportation von wehrfähigen Männern ab dem 17. Lebensjahr. In der österreichisch-ungarischen Besatzungszone lebten damals rund 1,4 Mil­lionen Menschen. Welch katastrophale Folgen der Ausschluss der vermutlich produktivsten fünf Prozent der Bevölkerung aus dem Wirtschaftsleben hatte, zeigte sich im Sommer 1917, als Soldaten der Besatzungstruppen zusammen mit Kriegsgefangenen und einer kleinen Anzahl von Internierten, die man aus dem Hinterland hatte zurückholen können, die serbischen Felder beackerten.21 Ein kleiner Trost – wenn auch kaum für das Militärgouvernement – war vielleicht die Tatsache, dass die serbischen Kriegsgefangenen und Internierten zur selben Zeit in der Landwirtschaft des Hinterlandes arbeiteten.22 Rationaler agierte die Besatzungsmacht in Rumänien: Sie „beurlaubte“ Zehntausende Kriegsgefangene, damit diese auf ihre Höfe zurückkehren konnten. Diese Maßnahme verrin323

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gerte den Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft und entlastete die deutsche Lagerverwaltung. Die Heimkehr der Gefangenen verbesserte die Stimmung ­unter den Besetzten. So profitierten beide Seiten. Im Königreich Polen und in Litauen hatten die Besatzer Interesse an einer ­Kooperation mit den Eliten und Institutionen, die sie selbst geschaffen hatten. Dennoch unterschieden sich die beiden deutschen Verwaltungen deutlich: Ober-Ost setzte stärker als das Generalgouvernement Warschau auf Zwang. Das auf Kooperation basierende Warschauer Modell funktionierte – laut einem 1926 für den Deutschen Reichstag erstellten Gutachten – eindeutig besser als das Litauische: In Ober-Ost existierten viele Anordnungen nur auf dem Papier, weil die deut­ schen Besatzungsbehörden keinen wirklichen Kontakt zu den unteren Verwal­ tungsebenen und überhaupt keinen zur örtlichen Bevölkerung hatten.23 Ein Vergleich der Situation in Warschau und Wilna im Herbst 1916 veranschaulicht den „fehlenden Kontakt“ im Kontext der Notwendigkeit, die Position der legalen Vertreter der einheimischen Bevölkerung zu berücksichtigen. Im Oktober forderten die Besatzungsbehörden von der frisch eingesetzten Warschauer Selbstverwaltung eine Liste von Arbeitslosen, die zur Arbeit ins Deutsche Reich verschickt werden sollten. Der Stadtrat weigerte sich und gab auch nicht nach, als die Deutschen ihre Forderung wiederholten. Diese begriffen erst später, dass sie den denkbar schlechtesten Zeitpunkt für die Zwangsrekrutierung gewählt hatten. Schließlich arbeitete man fieberhaft an dem historischen Manifest der beiden Kaiser, das am 5. November 1916 feierlich verkündet wurde. In diesen Wochen zählte die Stimmung der Polen mehr denn je. Die Deutschen verzichteten auf einen dritten Versuch. Derart offener und erfolgreicher Widerstand war freilich selten. Typischer war das Beispiel Wilnas. Hier protestierten die Repräsentanten der Stadt formell gegen die Einführung einer allgemeinen Arbeitspflicht für Männer. Dennoch setzen die Besatzungsbehörden die neuen Regelungen in Kraft. Die Stadträte protestierten nicht weiter, sondern ermunterten – so illegal wie effektiv – ihre Mitbürger dazu, die neuen Vorschriften zu ignorieren.24 Die Beispiele aus Warschau und Wilna zeigen, dass den Eliten der besetzten Länder selbst bei klaren Vorgaben der theoretisch allmächtigen Besatzungsmacht ein gewisser Handlungsspielraum blieb. Beide Stadträte wandten die Taktik des passiven Widerstands an. Das entsprach der Situation im dritten Kriegsjahr: Militärischer Widerstand oder politischer Terrorismus kamen für die 324

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Besetzten ebenso wenig infrage wie die Anwendung rücksichtslosen Zwangs für die Besatzer. Hugo Kerchnawe bedauerte rückblickend durchaus nicht grundlos, dass überall, selbst in kriegswichtigen Wirtschaftszweigen, politische Rücksichten hinderlich gewesen seien. Im Königreich Polen mangelte es den Besatzern vor allem an Fachleuten. Die Armee tat so, als kenne sie sich aus, musste aber auf Schritt und Tritt feststellen, dass ihr bevorzugtes Mittel – der Zwang – selten zum Ziel führte. Ein Jahr nach Gründung des Generalgouvernements Lublin, im Sommer 1916, wurde den Österreichern endlich klar, dass sie nicht mit größeren Überschüssen aus diesem – doch auf Landwirtschaft gründenden – Gebiet rechnen konnten. Eine Ausnahme waren Kartoffeln, doch die schlechten Bahnverbindungen erschwerten den Transport, sodass man sie lieber vor Ort zu Alkohol verarbeitete. Das k. u. k. Generalgouvernement konzentrierte sich in dieser Situation auf zwei Ziele: den eigenen Apparat zu versorgen und die Nahrungsmittel so zu verteilen, dass im besetzten Gebiet kein Hunger ausbrach. Der Export ins Hinterland stand auch hier nur an dritter Stelle. Die Lubliner Besatzungsbehörden entschieden sich schließlich für ein gemischtes Wirtschaftsmodell: Das dominierende Element der Regulierung von Rohstoffen, Arbeitskraft und Preisen wurde ergänzt durch marktwirtschaftliche Anreize wie Zulagen und Prämien für Produkte, die von Bauern außerhalb des Kontingents geliefert wurden. Die Landarbeiter wurden zu „Erntebrigaden“ zusammengezogen. Die Kreiskommandanten zählten Menschen und Pferde sowie die diesen jeweils zustehenden Rationen im Rahmen des Kartensystems. Dabei stellte sich heraus, dass 80 Prozent der Ernten als Verpflegung oder Saatgut vor Ort blieben und nur der Rest von der Armee oder – an letzter Stelle – den Mitbürgern im Hinterland konsumiert wurde. Und selbst diese Rechnung war zu optimistisch, denn in Wirklichkeit erhielten die Einwohner Cisleithaniens weniger, als die Lubliner Beamten ermittelt hatten. In den Jahren 1916–17 gelangten gerade einmal 240 000 Tonnen Feldfrüchte ins Hinterland. Das war keine Ausnahme, die Besetzung der Westgebiete des Russischen Reichs war für Deutschland und Österreich-Ungarn insgesamt – von der Eroberung Lodzs bis zur Einnahme Kiews – eine einzige Enttäuschung. Das Generalgouvernement Warschau lieferte in vier Jahren nur ein Prozent der Kartoffeln, die in Deutschland im ungewöhnlich schlechten Jahr 1916 geerntet wurden. Die vier Ernten im Generalgouvernement Lublin verbesserten die Getreidebilanz der Donaumonarchie um 0,5 Prozent. Die späteren Lieferungen aus der Ukraine betrugen zehn Prozent dessen, was die Mittelmächte erwartet hatten.25 Kaum besser verlief – aus Sicht 325

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der Besatzer – die Mobilisierung von Arbeitskräften: Von den rund 3,5 Millionen Einwohnern des Generalgouvernements Lublin konnten Ende 1916 knapp vier Prozent der Männer als Zwangsarbeiter rekrutiert werden – in einem Land, in dem 1915 niemand in die Armee eingezogen wurde. In Rumänien operierten die Besatzer mit einem gemischten System. Mitunter waren die Requisitionen nichts anderes als gewöhnlicher Raub, die Armee nahm sich, was immer ihr nützlich schien, ohne den Erhalt zu quittieren. Meist jedoch wahrte man den Schein der Rechtmäßigkeit. Der bekannte rumänische Konservative Alexandru Marghiloman fasste die Ergebnisse eines Treffens von Großgrundbesitzern mit Vertretern der Besatzungsmacht wie folgt zusammen: Das Ergebnis war, dass die Quittungen für den entgegengenommenen Wei­ zen der Ernte 1916 keinerlei Preisangabe tragen werden, sondern dass man von dem stillschweigenden Preis von 1600 Lei pro Waggon jedem Eigentümer einen Vorschuss von 800 Lei pro Waggon zahlen wird. Für den Rest wird man beim Friedensschluss sehen, wer zahlen wird und wie viel gezahlt werden wird. Das ist schlicht und ergreifend Getreide, das man für 800 Lei pro Wag­ gon übernimmt. Die Rechnung der Deutschen ist einfach: Wir haben 1916 für einen Waggon Weizen 3200 Lei gezahlt – plus Steuern; 1917 zahlen wir dafür 800 Lei, was für beide Jahre einen ‚Durchschnittspreis‘ [im Original deutsch] von 2000 Lei ergibt […] 26 Die Grundbesitzer wurden ohnehin besser behandelt als die Bauern, die Bauern wiederum besser als die Stadtbewohner. Handwerkern, Fabrikanten und Händlern nahmen die Besatzer oft alle Rohstoffe oder fertigen Produkte ab (meist gegen eine unangemessen niedrige Bezahlung). Sie requirierten alles von Metall bis zu Leder und Textilien. Die Textilindustrie in Rumänien erlebte einen ähn­ lichen Niedergang wie in Lodz. Im transparenten Stadtraum ließen sich Anordnungen deutlich leichter durchsetzen. Hier konnte man Produktionsbetriebe ­unter vorläufige Verwaltung stellen, den Energieverbrauch dosieren, Lebensmittelkarten und Polizeistunden einführen sowie – vor allem – Konfiskationen durchführen. Nach und nach verschwanden private Automobile, Fahrräder, Pferdefuhrwerke und Kutschen aus dem Bukarester Stadtbild. Dafür litten die immer seltener kursierenden Straßenbahnen unter chronischer Überfüllung. Erst da merkten die Deutschen, dass sie sich mit der Lähmung jeglichen städtischen Verkehrs ins eigene Fleisch schnitten: Die Angestellten der zahlreichen Besatzungsbehörden waren von den Einschränkungen ebenso betroffen wie die restliche Zivilbevölkerung. Ein anderes Problem entstand durch die Requisition von Ge326

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genständen aus Kupfer, Messing und Zinn. Die Zubereitung von Gemüse in ver­ zinkten Eisentöpfen führte ähnlich wie eine neue Art der Herstellung von Slibowitz zu Vergiftungen, die den Besatzern angelastet wurden. Auf dem Land waren Anordnungen deutlich schwerer durchzusetzen. Die Deutschen wussten, dass sie im Folgejahr keine Ernteerträge erwarten durften, wenn sie einem Bauern alle Habe nahmen. Deshalb kauften sie den Agrarpro­ duzenten zu selbst bestimmten Preisen meist nur so viel ab, dass diese weiter­ arbeiten, das heißt säen und ihr lebendes Inventar ernähren, konnten. Während sie anfangs Requisitionsscheine ausstellten (über relativ hohe Beträge, wie wir gesehen haben), gingen sie nach der Ernte 1917 zu Barzahlungen über. Außerdem wurden Gemüse, Früchte sowie teils auch Milchprodukte und Eier aus dem ­System der zu amtlich festgesetzten Preisen angekauften Kontingente heraus­ genommen. Die Besatzer agierten in diesem Fall rational: Es gab keine Möglichkeit, die leicht verderblichen Lebensmittel ins Reich zu transportieren, und die örtliche Industrie war nicht in der Lage, sie zu verarbeiten. Armee und Zivilisten versorgten sich deshalb auf dem lokalen Markt zu frei festgesetzten Preisen mit Milchprodukten, Eiern, Gemüse und Obst. Diese Preise lagen unter den Schwarz­ marktpreisen für kontingentierte Produkte wie Fleisch, Wein oder ­Slibowitz. Ein anderer Weg zur Verbesserung der Versorgung waren die schon erwähnten Gemüsebeete auf städtischen Grünflächen. Im Cișmigiu-Park, dem ältesten und größten Park in Bukarest, wuchsen neben sorgsam gepflegten ­Blumen und ­He­cken Kohlpflanzen, auf dem Rasen vor dem Königspalast Kürbisse und ­Gurken. Die Kombination aus Requisitionen, Regulierung und freiem Markt funktionierte im ersten Besatzungsjahr in Rumänien nicht schlecht: Das Hinterland bekam einiges ab und trotzdem ging es Besatzern und Besetzten deutlich besser als den Menschen im Deutschen Reich und in Cisleithanien. Das System war nicht zuletzt deshalb effektiv, weil es bei allen amtlichen Vorgaben den Akteuren einigen Freiraum ließ. So durften die Soldaten Lebensmittelpakete (5 kg) in die ­Heimat schicken. Die Rumänen errechneten später, dass das Gesamtgewicht dieser Pake­ te allein in den ersten neun Besatzungsmonaten über tausend Waggonladungen entsprach. Außerdem durften Soldaten, die auf Heimaturlaub gingen, ihren Fami­ lien Lebensmittel mitbringen – in der Praxis so viel, wie sie tragen konnten. Auf diesem Wege verließen weitere 18 000 Tonnen Nahrungsmittel das Land. Einen Teil davon kauften die Soldaten von ihrem Sold auf dem freien Markt, doch zuwei­ len sammelten sie ihre Vorräte auch auf andere Weise. Die Gastgeber von Tilka/­ Velburg schlachteten auf die Nachricht von dessen Heimat­urlaub ein Schaf, zwei 327

III  Die Besatzung

Gänse und vier Enten. Ein Bekannter zimmerte Kisten für den Transport. Sie fassten – neben dem Fleisch – 35 kg Mehl, einen Sack Bohnen und Linsen sowie kiloweise Butter, Tabak, Knoblauch und Zwiebeln. Letztlich machte sich Tilka mit vier kleineren und einer großen Holzkiste, einem Sack Mehl, einem Tornister und zwei Brotbeuteln auf die Heimreise. Man könnte natürlich vermuten, dass der Autor lügt und Schaf und Geflügel geschlachtet wurden, weil er es durch Drohungen erzwang. Weitaus wahr­schein­ licher ist aber, dass es dessen gar nicht bedurfte und die Initiative von den Gastgebern ausging. Sie füllten Kisten und Säcke in der Erwartung, dass der ­zufriedene Vertreter der Besatzungsmacht sich bei entsprechender Gelegenheit revanchie­ ren würde – etwa bei der nächsten Inventarisierung, bei der es sicher die eine oder andere Abweichung vom Vorjahresbestand geben würde. Das konnte der Kontrolleur eingedenk der Großzügigkeit seiner Gastgeber leicht übersehen; falls nicht, konnte man ihn an das Fleisch, das Mehl, die Bohnen, die Butter und den Tabak erinnern, die vom Besitz der potenziell Verdächtigen abgegangen ­waren. Doch auch diese letzte Variante – Erpressung – ist wenig wahrscheinlich. Der Handel war für beide Seiten klar. Der Besatzer nahm und zeigte sich erkenntlich, wenn er kein Lump war. Dies war wohl, auch wenn Studien dazu fehlen, von ­Livland bis Montenegro das allgemeinste Gesetz des Zusammenlebens von Besetzten und Besatzern. In Rumänien blieben viele Spuren dieses Mechanismus erhalten, der theoretisch das harte Regime der Besatzung abmildern konnte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass im besetzten Polen, Serbien oder Litauen ähnliche Verhältnisse herrschten. Auf dem Bukarester Schwarzmarkt konnten die Bauern mit einem Profit von 200–500 Prozent rechnen.27 Andernorts werden die Risikoaufschläge kaum niedriger gewesen sein. Die neuen Preise zahlten die mittleren und oberen Schichten. Beide verloren, die Mittelschicht deutlich mehr als die Oberschicht. Doch auch verarmte Beamte oder Lehrer waren noch weit vom wirklichen Elend entfernt, das sich in Volksküchen, „Teestuben“, Asylen, beheizten Schlafsälen oder anderen Anlaufstellen für Arme zeigte. Im dritten Kriegsjahr stieg die Sterberate in den untersten sozialen Schichten überall an. In Wilna schrumpfte die Einwohnerzahl um 30 Prozent. Drei Viertel der 140 000 Einwohner nutzten die Suppenküchen für Arme. Unter den Juden, die 1914 fast die Hälfte der Stadtbevölkerung stellten, verdreifachte sich die Sterblichkeit, während die Anzahl der Geburten auf ein Drittel der Vorkriegsrate sank. Unter den Polen lag die Sterblichkeit Anfang 1917 doppelt so hoch wie 1915.28 Hilfe für die immer zahlreicheren Bedürftigen kam von verschiedenen 328

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Seiten. Einen großen Anteil bildeten Lieferungen der Großmächte, wobei Russland sich eindeutig am großzügigsten zeigte. In Westeuropa und Amerika versuchten zahllose Hilfsorganisationen die Not Serbiens und Polens durch Nahrungsmittellieferungen zu lindern. Die Wirkung blieb allerdings hinter den Erwartungen zurück. Die Rockefeller Foundation schaffte es zwar, dass alle Warschauer Kinder drei Monate lang pro Woche eine Dose Kondensmilch erhielten, doch schon im März 1917 rissen die Lieferungen ab – auf dem Schweizer Markt mangelte es an Ware und zudem gab es Probleme mit dem Bahntransport. Die geplante Lieferung von amerikanischem Mehl nach Polen scheiterte am Widerstand Großbritanniens. Nicht einmal der dramatische Appell des ­Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz – der in der Schweiz ein Hilfs­ komitee für die polnischen Kriegsopfer gegründet hatte – bewegte die Briten dazu, die gegen die Mittelmächte verhängte Blockade zu lockern. Im Juni 1916 klagte ­Sienkiewicz in einem Brief an die Sekretärin des Komitees Laurence-­ Alma Tadema: Ich wünschte, die Engländer würden endlich begreifen, dass es den Deutschen vor allem darum geht, die Polen durch Hunger zu vernichten, damit sie die frei werdenden Gebiete kolonisieren können. Darum trug alle Hilfe für die Polen in den derzeit in deutscher Hand befindlichen Gebieten dazu bei, das Wachstum Deutschlands zu bremsen und ihre Macht zu schwächen.29 Die Besatzungswirklichkeit war allerdings wesentlich komplexer als der Literaturnobelpreisträger dachte.

Die Besetzten Nach 1915 tat sich auf der mittleren und unteren Ebene des Besatzungsdaseins eine neue Konfliktlinie auf. Diesmal verlief sie nicht zwischen Regierenden und Regierten, sondern mitten durch die Gesellschaft – zumal dort, wo größere jüdische Bevölkerungsgruppen lebten. Die Besatzungsbehörden bestimmten, welche örtlichen Unternehmer kontingentierte Waren, Arbeitsaufträge oder Genehmigungen für ihre Tätigkeit erhielten. Die Korruption blühte. Im Königreich Polen allerdings erhielt diese ansonsten banale Erscheinung eine politische Dimension, je nachdem, wer bestach. In der Stadt Busko waren es nach dem Bericht von Tadeusz Hartleb, einem Rekrutierungsoffizier der Legionen, vor allem die Juden: Die Lizenzen für die Ein- und Ausfuhr bestimmter Waren, die sogenannten Handelspatente, die Anträge auf Befreiung von Requisitionen, Einquar­tie­ 329

III  Die Besatzung

rungs­pflicht, Fuhrdienst usw. werden über Frau Preisówna erledigt, wobei sich wegen der typisch jüdischen Diskretion in Sachen Beamtenkauf nie sagen lässt, ob die glückliche Erledigung einer Sache bloß der „Bekanntschaft“ mit dem Adjutanten oder einem Bestechungsgeld zu verdanken ist. […] Am meisten werden die polnischen Kleinbürger benachteiligt, die sich hin­sichtlich ihrer Orientierung korrekt verhalten […], ökonomisch aber immer stärker von den Juden abhängen und äußerst pessimistisch in die Zukunft blicken.30 Die wirtschaftliche Konkurrenz von Christen und Juden war eine verbreitete Erscheinung. Entgegen der Vorstellung von der jüdischen Dominanz im Handel erwiesen sich meist Polen, Ukrainer, Litauer oder Weißrussen als stärker. Im russischen Imperium waren Juden in den Kommunalbehörden deutlich unterrepräsentiert, was sich später auf Bürgerkomitees und konfessionsübergreifende Hilfsorganisationen übertrug. In der Provinz erhielten Juden, wie Klagen jüdischer Bäcker und Konditoren belegen, seltener kontingentierte Waren.31 Auch der Zugang zu den Leistungen karitativer Organisationen war ihnen erschwert. In allgemeinpolnischen Verbänden waren sie in der Minderheit, die Gründung eigener Komitees wurde von den lokalen Zivilbehörden behindert. Auch Sienkiewicz plädierte dafür, dass die Hilfsleistungen für Polen vor allem ethnischen Polen zugutekommen sollten.32 Vor diesem Hintergrund kam es zu Konflikten zwischen der Rockefeller Foundation und anderen Hilfsorganisationen. Angesichts der lokalen Konflikte um Zuteilungen, Genehmigungen und Hilfsleistungen war es für die Besatzungsbehörden unmöglich, alle Seiten zufriedenzustellen. Umso leichter konnten sie aber ihre Autorität bei den Einheimischen verspielen. Also ließen sie Vorsicht walten, mitunter vielleicht sogar übertriebene. So ging etwa die k. u. k. Militärverwaltung im besetzten Lublin auf der Suche nach einer Synagoge für ihre jüdischen Soldaten sehr behutsam vor. In der Stadt gab es genug Synagogen und Gebetshäuser, doch die meisten lagen in von Typhus befallenen Vierteln und waren für die Armee gesperrt. Ab September 1915 diente daher das Kino „Oaza“ in der Ulica Radziwiłłowska als provisorische Feldsynagoge. An den Gottesdiensten nahmen auch einheimische Zivilisten teil. Unterdessen starteten die nationaldemokratische Tageszeitung Głos Lubelski und die ihr nahestehende Ziemia Lubelska eine Kampagne gegen die vermeintliche Bevorzugung jüdischer Kaufleute. Ohne Umschweife warfen sie den Besatzern vor, sie würden die Juden bevorzugen: Wie allgemein bekannt ist, war Österreich schon vor dem Krieg in ver­ schiedenen Regierungsbehörden verjudet. Nun drängen die Juden aus Angst 330

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vor dem Dienst an der Front scharenweise in diverse Ämter und Büros vor allem der Militärintendantur. Dieser Umstand erleichtert es den hiesigen Juden sehr, Kontakte zu den für die Zuteilung von Kontingenten und dem Einkauf für die Armee zuständigen Beamten zu knüpfen. […] Als Resultat haben die polnischen Händler nichts, was sie in ihren Läden verkaufen konnten, während den Juden die Ware nicht ausgeht.33 In der zunehmend hitzigen Atmosphäre der antisemitischen Kampagne kündigte der Besitzer des Kinos „Oaza“ den Vertrag mit den Besatzern, weil „das intelligente Publikum, das den Großteil der Zuschauer bildet“, sein von den ­Juden „verpestetes“ Kino boykottiere.34 Dass die Besatzungsbehörden die Entscheidung der Kündigung akzeptierten, belegt ihre Achtung vor dem Recht auf Eigentum und ihre Vorsicht im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung. Auf dem Land erschien die Besatzungsmacht in noch anderer Gestalt. Nach dem Durchzug der Front zeigten sich die neuen Herren nicht öfter als die alten, das heißt selten. Doch auch hier mussten sich Besatzer wie Besetzte erst in der neuen Wirklichkeit zurechtfinden. Die Besatzer waren nämlich nur auf dem Papier allmächtig. Ebenso oft waren sie einfach ratlos, wie Tilkas Erinnerungen zeigen. In Rumänien unternahmen die Deutschen im Frühjahr 1917 den Versuch einer Volkszählung: Jeder Bauer sollte mit Namen sowie Geburtsdatum und -ort registriert werden. Auf dem Land sorgte dieses Ansinnen für Unruhe, denn die Menschen fürchteten, zur Armee eingezogen oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert zu werden. Die ersten von Ortsvorstehern und Bürgermeistern übermittelten Bevölkerungslisten versetzten die Deutschen in Rage. Viele Familien hatten keine Nachnamen. Wenn ein Bauer nach seiner Identität gefragt wurde, gab er den Vornamen an (etwa Radu), eventuell noch den Vatersnamen, der ihn von Nachbarn unterschied, die ebenfalls Radu hießen. Andere Bauern waren unter ganz anderen als den in den offiziellen Dokumenten eingetragenen Namen bekannt. Die Zigeuner figurierten in überhaupt keinem Verzeichnis und besaßen keine Geburtsurkunden. Die örtlichen Beamten ordneten die Bevölkerungslisten nach eigenen, rätselhaften Kriterien. Auf manchen Listen wurde erst der Vorname genannt, auf anderen der Nachname, von anderen Details ganz zu schweigen. Der deutsche Chef des örtlichen Meldeamts tobte in seinem Büro: „Radu Ion, Iona Radu, Serban Nicolai, Nicolai Serban, Constantin Gheorghe, Gheorghe Constantin und so geht das weiter! Der eine Primar [Bürgermeister] schreibt so, der andere anders, manchmal derselbe auch verschieden. […] 331

III  Die Besatzung

Wie soll man da wissen, welches der Vorname ist! Wenn ich Emil Kießer heiße, dann ist Emil der Vorname und Kießer der Familienname. Das ist deutsche Ordnung!“ Kießer versuchte, die „deutsche Ordnung“ durchzusetzen, indem er alle Meldepflichtigen an einen Ort einbestellte. Sein Untergebener schildert den Beginn dieses Tages: Keiner der etwa 500 Meldepflichtigen aus Dudeşti-Feteşti läßt sich sehen, obwohl wir schon einige Tage zuvor unseren Befehl groß und deutlich in beiden Sprachen überall angeschlagen haben, und der Ausschreier ihn noch dazu ausgeschrieen hat. Kießer flucht und tobt. […] Sein Zorn entlädt sich auf mich und auf unseren Dolmetscher: ob wir denn auch wirklich richtig übersetzt hätten, ob wir keine Schweinerei mit dem gregorianischen oder julianischen Kalender, der mittel- oder osteuropäischen, der Sommer- oder Winterzeit gemacht hätten. Nicht einmal Primar und Notar, die an allen Versammlungen teilnehmen sollen, sind zur Stelle. Kießer schickt nach dem Primar, der noch im Bett liegt und glücklich um 7 Uhr erscheint. Dieser macht uns darauf aufmerksam, daß wir ja zwei Tage, heute und morgen, für die Kontrollversammlung angesetzt hätten, und, soweit er seine Leute beurteilen könne, glaube er, sie würden wohl alle erst morgen kommen, denn sie würden es vorziehen, heute mal erst abzuwarten, ob denen, die sich doch schon heute meldeten, nichts Böses passierte. Der wütende Kießer änderte seine Meinung, er ließ den Ausrufer alle schon am ersten Tag zusammenrufen. Der Übersetzer, der offensichtlich fließend auf ­Rumänisch fluchte, belehrte die Anwesenden über ihre Meldepflicht. Anschließend machten sich die wenigen Deutschen daran, die Daten der versammelten 300 Männer zu überprüfen – das war ja das Ziel der Aktion. Ein großer Teil war auf den von den Primaren eingereichten Listen nicht zu finden. Bei der Hälfte stimmten weder Geburtsdatum noch -ort. Manche antworteten, sie seien „zu Hause“ geboren, andere – „in den Sümpfen“. Wieder andere wussten ihren Nachnamen nicht oder schämten sich, weil sie ihr Geburtsdatum nicht kannten. Die Hälfte war nicht fähig, das Protokoll zu unterschreiben. Am Ende des Tages sagte selbst Kießer nichts mehr; er hatte offensichtlich begriffen, dass die genaue Ausführung des Registrierungsbefehls bedeutet hätte, bis Kriegsende mit den Einheimischen zu kämpfen. Drei Monate später stellte Tilka, der gegen die Bürolangeweile Romane las, mit gewisser Verwunderung fest, dass seine Chefs 332

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nebenan Karten spielen: „Es ist absolut nichts zu tun. Auf eine wirkliche exakte Registrierung sämtlicher Meldepflichtigen mit richtigem Namen und einigermaßen ermitteltem Geburtstage haben wir alle schon längst stillschweigend verzichtet.“ Einem neuen Chef, der einen weiteren Monat später in Fetești eintraf, war es unbegreiflich, dass die Befehle nicht ausgeführt wurden. Tilka schreibt dazu: „Man sah ihm in jeder Beziehung an, daß er noch vor 10 Tagen in Deutschland war.“35 Nicht nur die rumänischen Bauern stellten sich dumm, verfluchten ihr Schicksal, zeigten Mitleid mit den armen Soldaten und boten ihnen kleine, praktische Vorteile anstelle der – leider unerreichbaren – großen. Im fernen Kirgisien gaben die russischen Behörden 1916 nach vergeblichen Versuchen ihre Volkszählungspläne auf und überließen die Rekrutierung den örtlichen Ältestenräten. Die von diesen erstellten Listen erwiesen sich als ebenso nutzlos wie die amtlichen, angeblich wehrfähige 30-Jährige waren in Wirklichkeit 60-Jährige und umgekehrt. Die Beamten verdächtigten sicher nicht zu Unrecht die lokalen Anführer der Korruption, doch diese Vorwürfe scheinen die Verdächtigten nicht sonderlich beeindruckt zu haben.36 Der um den Preis einer gewissen Scheinheiligkeit erkaufte Frieden hielt, bis die Behörden die Einwohner Mittelasiens massenweise zur Zwangsarbeit mobilisierten. Als das Gespenst der Einberufung nicht nur vereinzelt, sondern allgemein zur Bedrohung wurde, brach in der Region eine Rebellion aus. Die Nomaden, vor allem Kirgisen und Kasachen, wandten sich gegen ihre lokalen Anführer und die russischen Kolonisten. Letztere organisierten bewaffnete Überfälle auf die revoltierenden Nachbarn. Erst Ende 1916 wurde der Aufstand in Mittelasien von der Armee niedergeschlagen. Zehntausende Aufständische suchten außerhalb des Imperiums Zuflucht, eine nicht näher bekannte Anzahl wurde Opfer von Repressionen oder verhungerte nach der Abschlachtung der Viehherden.37 Die relative Ruhe auf dem Land hing sicher mit der Rekrutierungspraxis der Armee zusammen. In Serbien wurden die letzten Soldaten im Herbst 1915 einberufen, in Rumänien gab es nur eine einzige Einberufung (im Sommer 1915), auch im Königreich Polen und in Kurland konnten die jungen Männer ruhig schlafen. In diesem Punkt brachte die Besatzung keine dramatische Verschlechterung der Lage, sondern bedeutete vielmehr ein Privileg: Die Einstellung der Rekrutierungen bewahrte Millionen von Vätern, Ehemännern, Söhnen und Brüdern vor dem drohenden Tod im Schützengraben. Die Ordnung auf dem Land hatte Bestand, solange dieser Nutzen die Kosten infolge der Ausbeutung der besetzten Territorien überwog. Zog man die Schrau333

III  Die Besatzung

ben an, brachte dies den Mechanismus durcheinander. Im Lauf des Kriegs änderte sich die Haltung der Bauern: Auf eine Eskalation der Belastungen und Repressionen reagierten die Bauern meist nach einem bestimmten Schema. Zunächst erhoben sie Einspruch durch Petitionen, Anträge, Organisationen und dörfliche Institutionen. Angesichts der meist negativen Antworten und zumal nach der Intensivierung von Belastungen und Repressionen verlegten sich die Bauern ab 1917 zunehmend auf passiven Widerstand. Als Reaktion wurden Requisitionstrupps von Polizei und Armee in die Dörfer entsandt. Aus Furcht vor Gewaltanwendung gaben die Bauern meist nach, zumal in den Jahren 1916–17. In dem Maß, in dem die materiellen Ressourcen schrumpften, gingen sie aber zum aktiven Widerstand über. Ab 1917 kam es vermehrt zu Auseinandersetzungen mit Polizei- und Armeeeinheiten, die sich 1918 noch verstärkten.38 Zur selben Zeit und aus denselben Gründen endete auch die Ruhe in den Dörfern Serbiens und Montenegros. Die Besatzungsmacht war an eine Grenze gestoßen, jenseits derer ihr als einziges Mittel zur Durchsetzung ihrer Politik nur noch Gewalt blieb.

Die Vergrößerung der Städte Die Besatzer ermöglichten und verwirklichten oft auch strukturelle Veränderungen, die schon lange im Gespräch waren. Die Deutschen schufen im besetzten Königreich Polen den legalen Rahmen für die städtische Selbstverwaltung und gaben wohl auch die entscheidenden Impulse für eine zweite, grundlegende Reform: die Eingliederung umliegender Gemeinden in die großen städtischen Organismen. Diese Frage war in vielen Orten jahrzehntelang diskutiert worden. Die Städte erstickten in den Grenzen, die ihnen imperiale Verteidigungsbedürfnisse setzten. Teils waren wie in Königsberg oder in Krakau durch die Ersetzung der neuzeitlichen Forts durch an den Stadträndern gelegene moderne Befestigungen schon vor dem Krieg Flächen für den Stadtausbau entstanden. An anderen Orten waren die Bedingungen schlechter, am schlechtesten in Warschau, wo die Stadt sich weder nach Westen noch nach Norden entwickeln konnte. Die Folgen waren statistisch greifbar: In Warschau lebten 1910 in einem Mietshaus im Schnitt 116 Menschen (in Petersburg 52 und in Moskau 38).39 Das hatte negative Auswirkungen auf Lebensstandard und Arbeitsfähigkeit sowie auf Hygiene und Sterblichkeit, was angesichts wachsenden Hungers und sich ausbreitender Krank­ heiten für die Besatzungsmacht von besonderer Bedeutung war. 334

Neue Ordnungen

Die Erweiterung der Städte stieß überall auf Hindernisse: Wer sollte den Ausbau der urbanen Infrastruktur in bisher ländlichen Gebiete bezahlen? Wie sollte man Schaden und Nutzen auf beiden Seiten steuerlich ausgleichen? Die Städte waren natürlich prinzipiell stärker am Erwerb neuer Flächen zum Bau von Wohn- und Industriegebäuden interessiert als die umliegenden Gemeinden, ­denen die Einverleibung in einen weitaus größeren Organismus drohte. In der k. u. k. Monarchie galten in Städten höhere Steuersätze („Akzise“), was die Verhandlungen zwischen Städten und Vorstadtgemeinden verkomplizierte. In Lem­ berg waren sie ergebnislos verlaufen. Krakau hingegen hatte in den Jahren 1910– 12 einige Vororte eingemeindet, ein im April 1913 mit der Nachbarstadt Podgórze ausgehandelter Vertrag trat kurz nach der Schlacht von Gorlice-Tarnów (am 1. Juli 1915) in Kraft. Vorübergehend war Krakau mit seinen knapp 200 000 Einwohnern flächenmäßig eineinhalbmal größer als Warschau mit fast einer Million Einwohnern. Offensichtlich verstanden es die Besatzer, die lokalen gordischen Knoten zu lösen, denn auf Anordnung von oben wuchs etwa Lodz 1915 um mehr als 50 Prozent und Warschau ein Jahr später um mehr als das Dreifache. Auch Lublin ­vergrößerte sich enorm. Der Reformeifer wurde sicher auch dadurch befeuert, dass es sich um Städte in besetztem Gebiet handelte. Das Experiment war jedoch so erfolgreich, dass es nach Kriegsende in großem Maßstab wiederholt wurde. Im April 1920 verabschiedete die Preußische Landesversammlung das Groß-Berlin-Gesetz. Die neue Hauptstadt der Deutschen Republik hatte doppelt so viele Einwohner und drei Mal mehr Fläche als das Berlin der Vorkriegszeit.

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Kapitel 3 Die zivilisatorische Mission Die Soldaten und Offiziere, die 1914 im Dienst der Imperien in den Krieg zogen, hatten gewisse Vorstellungen vom Feind und den Gebieten, in denen sie kämpfen sollten. Meist wussten sie wenig Konkretes über die Eigenheiten Galiziens, Serbien, Kongresspolens, Ostpreußens, Litauens oder Weißrusslands, kamen aber mit bestimmten Erwartungen und vorgefertigten Meinungen, die sich teils in ganz konkreten Bildern manifestierten. Bald nach dem Krieg erhielten diese nur lose mit der Realität verknüpften, aber beständigen Denkschablonen den Namen Stereotype. Walter Lippmann, Journalist und Berater des a­ merikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, prägte diesen Begriff aufgrund einer Analyse der US-Presse in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Ostfront und zumal der deutsche und österreichische Blick auf die Region hätten ihm womöglich noch interessanteres Material geliefert. Stereotype sind keineswegs nur kulturgeschichtlich relevant. Während des Kriegs beeinflussten sie das Verhalten der Besatzer oder sogar die Politik der Imperien in den besetzten Gebieten. Das galt insbesondere für Deutsche und Österreicher, in geringerem Maße indes für Russen, Bulgaren oder Türken. Ein krasses Beispiel für die Macht von Stereotypen war der Spionagewahn; die Verfolgung von Juden oder ukrainischen Bauern war weit mehr durch Vorurteile als durch konkrete Fakten motiviert. Doch dies war nur ein Aspekt einer umfassenderen Problematik. Das Stereotyp des Ostens war ebenso vielschichtig wie tief verwurzelt. Und selten wurde es durch objektives Wissen über die Region und die dort lebenden Menschen infrage gestellt. Viele Teilnehmer der Feldzüge im Osten und Südosten waren im Grunde völlig unwissend. Józef Piłsudski bemerkte bereits in den ersten Kriegswochen, dass seine österreichischen Kameraden glaubten, sie träfen im Königreich Polen auf eine primitive, ihnen feindlich gesinnte russischsprachige und orthodoxe Bevölkerung. Alle Versuche, ihnen klarzumachen, dass diese Befürchtungen nicht den Tatsachen entsprächen (schon gar 336

Die zivilisatorische Mission

nicht für die Regionen um Kielce und Sandomierz, die das Ziel der österreichisch-ungarischen Armee waren), schlugen fehl.1 Woher kamen diese Vorstellungen?

Halbasien Im deutschen Denken existierte der Osten als einheitliches Ganzes. Eines der bekanntesten landes- und völkerkundlichen Werke in deutscher Sprache, August Wilhelm Grubes kurz vor dem Krieg in 21. Auflage erschienene Geographische Charakterbilder, charakterisierte ihn so: Die große Einheit und Einförmigkeit des Volkes wird aber mächtig getragen und zusammengehalten von der Einförmigkeit des Landes, von der weit ausgedehnten unterschiedslosen Fläche, auf welcher kein Teil sich absondern kann, und alles – Mensch und Pflanze, Tier und Boden, Wind und Wetter – eine und dieselbe Uniform trägt.2 Diese Monotonie überdeckte alle Unterschiede zwischen einzelnen Völkern und Landschaften. Die polnischen Gebiete waren für den deutschen Geografen ebenso eintönig wie das gesamte Russland: „In einer Quadratmeile hat man das ganze polnische Reich gesehen.“ Diese bekannte Redensart hat insofern Recht, als in der ganzen Welt kein Land gleichfarbiger und einförmiger in Sitte, Dialekt und Lebensweise seiner Bewohner wie in Bodenbildung, Kultur und Fruchtbarkeit ist, als Polen. Die Bürger von Slupce gleichen denen von Terespol dergestalt, daß man die Terespoler nach Slupce und die Slupcer nach Terespol setzen könnte, ohne irgend eine Veränderung zu bemerken. Noch auffallender ist die Einförmigkeit des Bauernstandes: wie es dem Einen im Glück, Unglück, in Arbeit und Genuß, in Besitzthum und Verpflichtung geht, so geht es Allen – leider aber Allen schlecht. Sobald man von deutscher Erde, also nicht durch das Groß­ herzogthum Posen oder Galizien, den Fuß über die deutsche Grenze setzt, sieht man augenblicklich, daß man in eine andere Welt gerathen ist.3 Wohl nichts illustriert den Funktionsmechanismus des Stereotyps besser als die Hartnäckigkeit, mit der sich die Vorstellung vom endlosen und monotonen Raum unter deutschen oder österreichisch-ungarischen Soldaten hielt, die während des Kriegs – anders als Grube – den Osten von Nahem kennenlernten. Ob in den Sümpfen Polesiens, den Wäldern um Bolimów, der litauischen Seenlandschaft oder in den Karpaten – überall sahen die Beobachter eine „endlose Weite“. 337

III  Die Besatzung

Ihre Briefe, Tagebücher und Erinnerungen belegen die Überlegenheit des Stereotyps über die Wahrnehmung. Nach einigen Wochen in Kongresspolen seufzte Harry Graf Kessler: „Es gibt Nichts im eben besten Sinne formloseres, geschichtsloses, platteres als Radom, Tomaszów, Ostrowiec, Zwolen, Kielce, alle diese kleinen polnischen Kreisstädte mit ihrem Gewimmel von Juden und Einheimischen u. den Ententeichen, die als Pflaster gelten.“4 Der monotone Raum blieb den Ankömmlingen aber nicht gleichgültig. Sie verliehen ihm menschliche Züge, meist negative. Wie Charlotte Heymel schreibt, erscheint die Landschaft Osteuropas in den Frontberichten deutscher Soldaten als ein weiterer Gegner, so als trüge sie wirklich die grüne Uniform der zaristischen Armee.5 Zusammen mit der Monotonie entdeckte man im Osten ein anscheinend schwer damit zu vereinbarendes Phänomen: das Chaos. Abgerundet wurde das finstere Bild der Region durch die Isolation von der Geschichte sowie durch das Fehlen von Tradition und Zivilisation. Diese Züge traten immer dann besonders deutlich hervor, wenn – wie Grube schrieb – der Beobachter aus dem deutschen Kulturkreis stammte und vor diesem Hintergrund bewertete, was er sah. Aus dieser Perspektive verstärkten sich die Kontraste. Und auch hier reproduzieren die Schilderungen der Kriegsteilnehmer bis ins Detail das zuvor durch wissenschaftliche, populärwissenschaftliche und nicht zuletzt literarische Werke ­geformte Bild des Ostens. Ende des 19. Jahrhunderts schrieb der (in Podolien geborene) liberale österreichische Schriftsteller und Journalist Karl Emil ­Franzos über Halb­asien, einen Raum, der nicht mehr Europa und noch nicht Orient sei: Wer zum Beispiel den Eilzug von Wien nach Jassy benützt, kommt zweimal durch halbasiatisches, zweimal durch europäisches Gebiet. Von Wien bis Dziedzitz Europa, von Dziedzitz bis Sniatyn Halbasien, von Sniatyn bis Suczawa Europa, von Suczawa bis zum Pontus oder zum Ural Halbasien, tiefes Halbasien, wo Alles Morast ist, nicht blos die Heerstraßen im Herbste. In diesem Morast gedeiht keine Kunst mehr und keine Wissenschaft, vor Allem aber kein weißes Tischtuch mehr und kein gewaschenes Gesicht.6 Besondere Abneigung empfand Franzos gegen Galizien und die Polen. Zivilisatorische Verspätung, Aberglauben, Armut und Korruption ergaben das Bild einer Rückständigkeit, die nur durch deutsche „Kulturarbeit“ und die Befreiung der Polen vom Einfluss der lokalen Herrscher überwunden werden könne.7 Kessler kannte Galizien nicht, doch schon am Tag des Überschreitens der deutsch-russischen Grenze zwischen Neudeck (heute Świerklaniec im Kreis 338

Die zivilisatorische Mission

­ arnogóra) und Nowa Wieś sah er sich imstande, Franzos’ Vorstellungen von T „Halbasien“ zu bestätigen: Sofort wurde die Chaussee löcherig, die Chausseebäume hörten auf, die Häuser in den Dörfern, meistens aus Holz und hellblau angestrichen, schienen niedriger und ärmlicher als bei uns. Frauen in bunten Kopftüchern aber ­barfuss standen vor den Türen oder stiegen in den Pfützen vor den Häusern mit blossen Beinen herum. Am Wege viele Kreuze und Kapellchen. Bald wird das kultivierte Land seltener, Haide mit einzelnen Waldparzellen dehnt sich rechts und links kahl und öde aus. […] Die polnische u. die jüdische Bevölke­ rung vegetieren hier in einem gemeinsamen Schmutz; sonst sind sie einander im Innersten fremd.8 Kesslers letzte Beobachtung bringt eine neue Erkenntnis: Die Menschen im Osten sind doch verschieden und die Juden mehr als eine folkloristische ­ ­Randerscheinung. Auf die Bedeutung dieser Entdeckung kommen wir noch zu sprechen. Zur selben Zeit betrat auch General Max von Gallwitz auf der Verfolgung der aus Ostpreußen fliehenden Rennenkampf-Armee Feindesland: Im Auto bis zum Zollhause, dann zu Pferde. Die Unsrigen, welche meist noch nicht an den östlichen Grenzpfählen gestanden, waren starr. Bis hierhin vortreff­liche Chaussee, dann löcherige Landstraße; Vegetation und Acker­ frucht dürftig, Häu­ser elend, die Menschen ärmlich und schmutzig! Hier fängt Halbasien an.9 Man kann natürlich mit Recht einwenden, dass Gallwitz und Kessler lediglich beschrieben, was sie sahen. Der katastrophale Zustand der Straßen, der Schmutz und die Armut der Dörfer rechtfertigten jedoch nicht die Annahme, Chaos und Rückständigkeit seien die zentralen Merkmale Ostmitteleuropas. Dies aber war die häufigste Schlussfolgerung deutscher und österreichischer Beobachter. Larry Wolff schreibt dazu, auf der geistigen Landkarte der Westeuropäer habe Ost­ europa eine Zwischenstellung eingenommen. Weder ganz Europa noch ganz Asien habe es weder zu den vollständig zivilisierten noch zu den völlig barbarischen Regionen gehört. Diese Unbestimmtheit zwischen zwei bekannten Größen sei sein Hauptmerkmal gewesen.10 Hubert Orlowski verweist auf ein vor allem in der Zeit der beschleunigten Industrialisierung bedeutsames Motiv des deutschen Polen-Stereotyps: Für das geeinte, siegreiche und sich nicht mehr nur in Europa ausbreitende Deutschland sei der östliche Nachbar zwar nicht mehr sonderlich 339

III  Die Besatzung

interessant gewesen, habe aber dennoch eine wichtige Rolle gespielt, nämlich als „Zerrspiegel der Modernisierung“ oder als „Schatz der Modernisierungsdefizite“, das heißt als lehrreiches Beispiel für das traurige Schicksal, das den Deutschen aus eigenem Verdienst erspart blieb.11 Auch in Wolffs und Orlowskis Darstellungen findet sich somit ein Verständnis von Polen oder ganz Osteuropa als unabgeschlossenes, ungestaltes, amorphes Projekt. Der Mangel an Stabilität und Ordnung charakterisierte angeblich nicht nur die Natur und die materielle Kultur der Region, sondern auch ihre ethnische Struktur. In einem Bericht der deutschen Kommandantur in Mariampol manifestierte sich diese Problematik in der Frage nach der Abstammung dreier Personen, die jeweils den Namen Schmidt trugen – in polnischer, deutscher und russischer Fassung: […] wir stellen mit Betrübnis fest, daß sie sich alle drei recht weit von ihrem Volkstum entfernt haben. Denn der bewußte Herr Schmidt, der obendrein den Taufnamen Heinrich führt, bekennt sich als eingefleischer Nationalpole, Herr Kowalski als Stockrusse, und der anscheinend moskowititsche Herr Kusnjetzow als echter Deutscher. Und nicht besser steht es um das Glau­bens­ bekenntnis der drei: der Pole Schmidt ist römisch-katholisch, der Russe mit dem polnischen Namen Kowalski orthodox, während Herr Kusnjetzow trotz seines russischen Namens zur evangelischen Gemeinde gehört.12 Diese Geschichte ist zu schön, um ganz wahr zu sein. Der deutsche Beamte in Mariampol verfolgte mit seinem Bericht eindeutig eine didaktische Absicht, er wollte die Empfänger überzeugen, dass sich die ethnischen, religiösen und infolgedessen auch die politischen Verhältnisse vor Ort nicht in den bisherigen Kategorien erfassen ließen. Weil er die Denkweise seiner Vorgesetzten kannte, zügelte er seine Fantasie und ersparte ihnen Informationen etwa über die „Hiesigen“ oder die Litauer. Hinter der didaktischen Anekdote verbargen sich tiefschürfende Fragen: Worin bestand die Andersartigkeit des Ostens? Gab es eine Kraft, die dem Chaos Struktur geben konnte? Welche Rolle sollte Deutschland dort spielen? Die Antworten auf diese Fragen waren keineswegs eindeutig, wie auch die Einstellungen und Motive der Menschen variierten, die sie formulierten. Schon vor Kriegsausbruch hatten in Deutschland nationalistische Stimmen eine Expansion nach Osten gefordert. Dabei ging es nicht um politische Vorherrschaft, sondern um Lebensraum für den deutschen Bevölkerungsüberhang. ­Diese Nationalisten und ihre Organisation, der Alldeutsche Verband, wurden während des Kriegs zunehmend populär. Die bis dahin elitäre Vereinigung 340

Die zivilisatorische Mission

­ erdoppelte ihre Mitgliederzahl auf ca. 50 000. Die Alldeutschen entwarfen die v Vision einer neuen deutschen Kolonisation, die wie im Mittelalter den Charakter Ostmitteleuropas grundlegend verändern sollte. Gemäß dem Ideal des gesunden, von den Gebrechen der Moderne freien Lebens und im Einklang mit urgermanischen Traditionen (was immer man sich darunter auch vorstellte) dachte man vor allem an ländliche Ansiedelungen. Die Reichsbehörden wurden mit ­Plänen für immer weiter reichende Annexionen überhäuft. Die maßvolleren betrafen einen breiten Streifen entlang der deutschen Ostgrenzen. Doch mit den ersten Erfolgen an der Front wuchs der Appetit der daheimgebliebenen Imperialisten. Der bekannte Nationalist Friedrich Waterstrad schrieb kurz vor seinem Tod in einer Denkschrift an die Regierung: Die Selbsterhaltung unseres Volkstums und die dazu notwendige Beschaffung eines leistungsfähigen Bauernstandes, alles das sind Lebensfragen für uns, die auch anscheinend harten und rücksichtslosen Eingriff in die Volksrechte der eroberten Gebiete durchaus rechtfertigen. Wir, die wir zu Unrecht von allen Seiten angefeindet werden, müssen uns endlich und für immer frei machen von weltbürgerlichem Rechtsgefühl und alles und jedes Handeln einstellen auf die Erhaltung unserer Volkskraft.13 Die Erfolge der deutschen Wehrmacht im Osten versetzten die Annexionisten in einen wahren Rausch. Unmittelbar nach dem Sieg bei Gorlice-Tarnów forderte Friedrich von Schwerin, Regierungspräsident im Regierungsbezirk Frankfurt an der Oder, die Kolonisierung Kurlands, der Region Kaunas und der Region ­Suwałki. Einige Monate später unternahm sein Kollege, der Berliner Professor Max Sering, eine Studienreise an die Ostsee. Seine Vorschläge gingen noch weiter: Das Deutsche Reich solle sich alles Land von der ostpreußischen Grenze bis Finnland einverleiben. Die Alldeutschen waren lautstark, aber politisch nicht sonderlich einflussreich. Die Regierung betrachtete ihre Forderungen mit Skepsis, kühnere Denkschriften wurden von der Zensur zurückgehalten. Es gelang ihnen also nicht, die öffentliche Debatte zu bestimmen. Außerdem warnten Fachleute vor den praktischen Problemen einer territorialen Expansion. Der Leipziger Geograf und ehemalige Rektor der Universität Breslau, Josef Partsch, konterte die allzu kühnen Pläne Waterstrads und ähnlicher Autoren: Von einer irgendwie beträchtlichen Verschiebung der deutschen Ostgrenze sollten auch die kühnsten Optimisten nicht träumen. […] Wir dürfen nie vergessen, daß der Anschluß ansehnlicher mit fremdem Volkstum erfüllter 341

III  Die Besatzung

Landschaften keine Kräftigung des Reichs bedeuten, sondern — nach Bismarcks treffendem Wort — nur „die zentrifugalen Elemente im eigenen Gebiete“ stärken könnte.14 Die Liberalen hielten es für unmöglich, Millionen neuer, überwiegend slawischer Reichsbürger zu germanisieren. Ihr führender Kopf während des Kriegs, Friedrich Naumann, sagte: „Wie schön wäre es für uns, die Tschechen zu ­Deutschen zu machen, wenn es ginge! Aber es geht einfach nicht.“15 Die Antwort der Alldeutschen auf diese Zweifel bestand in dem Vorschlag, das Germanisierungsproblem zu umgehen. Es ging letztlich um Territorialgewinne, nicht um Bevölkerungszuwachs. Die Bewohner des Ostens, denen man nicht zutraute, dass sie je zu Deutschen werden könnten, sollten ausgesiedelt und durch Siedler aus dem Deutschen Reich ersetzt werden. Diese Lösung wiederum schien den Liberalen nicht praktikabel. Umsiedlungen von solch gigantischem Ausmaß konnten sie sich immer noch nicht vorstellen, auch die bisherigen Erfahrungen mit der deutschen Kolonisierung in Großpolen sprachen eindeutig dagegen. Denn allem Chauvinismus zum Trotz stimmten die Deutschen, die bereits in den zur Kolonisierung bestimmten Gebieten lebten, hartnäckig mit den Füßen gegen eine germanische Besiedlung des Ostens. Längst nicht alle, die zum „Ausharren in der Bastion des Deutschtums“ aufriefen, wollten persönlich an diesem Projekt mitwirken. Der Krieg verstärkte dieses Phänomen noch. Als Waterstrad seine Denkschrift verfasste, hausten Hunderttausende Flüchtlinge aus Ost­ preußen in Behelfsunterkünften im Westen Deutschlands, wo trotz aller Er­ munterungen zur Rückkehr und zum Aushalten im „Grenzland“ viele von ihnen auch blieben.

Mitteleuropa Als 1915 die wichtigste Publikation zu den Zielen des laufenden Kriegs erschien, war die Idee einer Föderation in Mitteleuropa im deutschen politischen Denken nicht mehr neu. In unterschiedlicher Form existierte sie bereits in liberalen Schriften aus dem Vormärz. Den deutschen Patrioten, die von einer Einigung des Landes träumten, erschien eine auf Freiwilligkeit ­basierende Föderation eine vergleichsweise einfache und – vor allem – friedliche Lösung. Schon damals spielte in entsprechenden Projekten die Frage der wirtschaft­lichen Expansion eine wichtige Rolle. Auch in Friedrich Naumanns Mittel­europa nimmt sie eine zentrale Position ein. Das Buch wurde einer der größten Bestseller des Ersten Weltkriegs; von der ersten Auflage 342

Die zivilisatorische Mission

1915 bis zur Kapitulation Deutschlands wurden fast 200 000 Exemplare verkauft. Als evangelischer Pfarrer und linksliberaler Politiker lehnte Naumann die schon zu Beginn des Kriegs zahlreich propagierten Annexionspläne ab. In Mitteleuropa stellte er ihnen die Idee eines freiwilligen Bundes der Staaten Ostmitteleuropas entgegen (in späteren Auflagen fügte er Bulgarien hinzu), der sich auf zwei Säulen stützen sollte: Kulturgemeinschaft und Wirtschaftsinteressen. Er hielt den geschichtlichen Moment, in dem die Deutschen die slawischen Nachbarn hätten germanisieren können, für unwiederbringlich vergangen. Die deutsche Kultur aber spielte in der gesamten Region noch immer eine dominierende Rolle, Deutsch war die Lingua franca der verschiedenen Volksgruppen. Wichtiger noch, die Länder und Völker Ostmitteleuropas bildeten einen gewachsenen Wirtschaftsraum. Mit der Schaffung einer Zollund Wirtschaftsgemeinschaft zwischen dem Reich und Österreich-Ungarn würde ein Zentrum entstehen, dem sich die umliegenden Staaten auf organische Weise anschließen würden. In diesem Kontext sprach Naumann vom „mitteleuropäischen Wirtschaftsvolk“. Dank der Idee von Mitteleuropa könnte Deutschland endlich zum ebenbürtigen Partner des British Empire, der USA sowie Russlands werden. Während des Kriegs versuchte Naumann nicht nur die deutsche Öffentlichkeit, sondern auch die übrigen Einwohner des künftigen Bundesstaates zu erreichen. Zu diesem Zweck bereiste er die von den Mittelmächten kontrollierten Gebiete. Im März 1917 kam Naumann nach Polen, wo er einige Tage in Lodz verbrachte und mit Vertretern der polnischen und jüdischen Bevölkerung sprach. Das Ergebnis dieses Aufenthalts war die Broschüre Was wird aus Polen? (Berlin 1917), in der Naumann die übertriebenen Requisitionen der Besatzer in Polen kritisierte. Naumanns Anhänger sahen in seinem Projekt die einzige Chance, den von Russland unterjochten Völkern Ostmitteleuropas zu einer unabhängigen Existenz zu verhelfen.16 Als unüberwindliches Hindernis für die Verwirklichung von Naumanns Programm erwies sich die chaotische deutsche Politik in der Region, die sich etwa in verschiedenen Aussagen des Chefs der deutschen Presseverwaltung in den besetzten polnischen, litauischen und weißrussischen Gebieten aus dem Jahr 1918 widerspiegelt: So argumentierte Cleinow etwa im Februar 1918, die Errichtung eines „Walls“ gegen Russland liege im Interesse nicht nur Deutschlands, sondern auch seiner Nachbarn; im März erklärte er, die Polen seien eine Belastung 343

III  Die Besatzung

[…] für die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland; im Juni, also bereits nach der Ankündigung der Annexion Livlands und Kurlands, empfahl er, man solle das Königreich Polen so behandeln, als befinde es sich noch immer in russischem Besitz.17 Die Unentschlossenheit Berlins in der Frage, ob man den ehrgeizigen Plan eines mitteleuropäischen Staatenbundes umsetzen, so viele Gebiete wie nur möglich annektieren oder doch zur alten monarchischen Politik zurückkehren und sich wieder mit Russland arrangieren solle, nahm dem Projekt die Seriosität und damit jede Aussicht auf Verwirklichung. Nach dem Krieg sah die Geschichtswissenschaft in Naumanns Entwurf eine Variante des deutschen Imperialismus. Während des Kriegs war kaum jemand dieser Ansicht. Naumann stieß im Gegenteil auf entschiedenen Widerspruch deutscher Chauvinisten, die ihm vorwarfen, er ziele auf eine Verwässerung der nationalen Identität im Bund mit anderen, natürlich minderwertigen Völkern. Auch nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich die Idee der wirtschaftlichen Kooperation autonomer politischer Gebilde in der Region nicht gegen das nationalistische Programm des Kampfs um „Lebensraum“ durchsetzen. Nun galten die Völker Ostmitteleuropas nicht mehr als politische Partner, sondern vor allem als Hindernis auf dem Weg zu deutscher Größe.

Da sich der von den deutschen Nationalisten angestrebte massenhafte Bevölkerungsaustausch als unrealistisch erwies, diskutierte man andere Optionen der Art und des Zwecks der deutschen Präsenz im Osten. In diesem Kontext entstand das Projekt der zivilisatorischen Unterwerfung im Gefolge der militärischen Triumphe. Es gründete auf der Überzeugung, „Halbasien“ ließe sich Europa angleichen und zur deutschen Einflusssphäre machen. Die Anhänger dieser Idee teilten in vielen Punkten die kritische Sicht des Ostens, doch sie zogen daraus andere Schlüsse als die Alldeutschen. Sie wollten die Region samt ihren Bewohnern verändern, aber nicht in deutsches Siedlungsgebiet verwandeln. In diesem Sinn begriffen deutsche und österreichisch-ungarische Politiker die gesamte Besatzungspolitik und insbesondere alle Zugeständnisse an die unterworfenen Völker. Die Vision der „Europäisierung“ des Ostens verlor bis zum Kriegsende nicht an Reiz. Noch einige Monate vor der deutschen Kapitulation sagte Friedrich Naumann im Reichstags in einer Debatte über den „Brotfrieden“ mit der Ukraine: Wenn früher der geistvolle Kulturhistoriker Viktor v. Hehn einmal sagte, die Elbe sei die Grenze zwischen Europa und Asien, so ist der Akt, den wir jetzt 344

Die zivilisatorische Mission

vor uns sehen, der Versuch, diese von Hehn bezeichnete Grenze ostwärts zu rücken bis auf die Linie vom Weißen Meer nach dem Schwarzen Meer.18 Paradoxerweise sollte das Projekt der deutschen und österreichisch-ungarischen zivilisatorischen Mission im Osten von demselben militärischen und zivilen Apparat realisiert werden, dem auch die wirtschaftliche Ausbeutung der eroberten Gebiete und die Disziplinierung ihrer Bevölkerungen unterlag. Die strategische Idee der Modernisierung und Verwestlichung Ostmitteleuropas wurde also zu einem – oft den kurzfristigen Zielen zuwiderlaufenden – Anhängsel der Besatzungspolitik.

Der Balkan Viele Befunde zum stereotypen Bild des Ostens lassen sich auch auf die deutsche und österreichische Wahrnehmung des Balkans übertragen – vor dem Krieg ebenso wie in Erinnerungen, Tagebüchern und Briefen aus der Kriegszeit. Hier wie dort entdeckten Deutsche und Österreicher Schmutz, ethnisches Durcheinander und Armut. Lag der Osten auf halbem Weg zwischen Europa und Asien, so bildete der Balkan ein „widerliches Gemisch“ aus europäischen und orientalischen Kulturen und Rassen.19 Der zivilisatorische Rückstand war ähnlich groß. Ein österreichisch-ungarischer Soldat schrieb: „Die serbischen Straßen – […] es gibt nichts Jämmerlicheres auf der Welt, sie sind die stichhältigsten Zeugen für das, was dieses Volk Kultur heißt; so schlecht, so entsetzlich, so unsolid, oberflächlich, unehrlich.“20 Sein deutscher Kamerad, ein Teilnehmer des Rumänienfeldzugs, schilderte ähnliche Eindrücke: Wer wie ich wenige Tage später das mächtige Grenzgebirge […] überschritten und drüben in der wallachischen Tiefebene die fürchterliche Unkultur der Rumänen […] gefunden hat, kann sich nur wundern über den Wahnsinn, der dieses elende Volk trieb, seine schmutzigen Hände nach dem von der Natur durch eine gewaltige Mauer von ihm getrennten Lande auszustecken.21 Gleichwohl unterschieden sich die Darstellungen des Balkans und Ostmitteleuropas. Erstens existierten im Südosten des Kontinents Nationalstaaten, die allerdings in Wien oder Berlin niemand ernst nahm. Man betrachtete sie als Operettenstaaten, die einander in gewisser Weise ähnelten. Helmuth von Moltke der Jüngere, Chef der Obersten Heeresleitung, meinte es sicher ernst, als er im August 1914 seinem österreichischen Kollegen riet: „Lassen Sie doch die Bulgaren gegen Serbien los und lassen Sie das Pack sich untereinander totschlagen!“22 345

III  Die Besatzung

Zweitens konnte man von den bergigen Territorien der Halbinsel nicht sagen, sie seien monoton. Im Gegenteil, die Landschaft war hier ebenso vielfältig wie die ethnische Struktur. Drittens bestätigte, erklärte und verfestigte der durch den Mangel an Zivilisation und Kultur bewirkte Schock die tiefe Abscheu gegen die vermeintlich grausamen und treulosen, aggressiven und hinterlistigen, verdorbenen und abergläubischen Menschen des Balkans. Eine zusätzliche Rechtfertigung bezog das europäische Gefühl der zivilisatorischen Überlegenheit aus einem vierten Punkt: Die Serben und wenig später die Rumänen waren Gegner der Mittelmächte. Dieser Umstand bewirkte, dass man sie nicht nur – wie die Juden, Polen, Weißrussen, Litauer oder Ukrainer – verachtete, sondern vielmehr hasste. Schließlich waren die balkanischen „Banditen“ und notorischen „Königsmörder“ verantwortlich für den Mord an Franz Ferdinand und für den Krieg. Anfangs betrachtete Wien den Krieg unter dem Motto „Serbien muss sterbien“ als Straf­ expedition. Das änderte sich erst mit der Abreibung, die die serbischen „Schweinehirten“ den Invasoren 1914 verpassten. Dennoch wurde das Projekt der zivilisatorischen Mission Deutschlands und Österreichs auch in Bezug auf den Balkan diskutiert. Anders als in Polen oder Weißrussland konnte man hier auf jahrzehntelange Erfahrung zurückgreifen. Seit 1878 befanden sich Bosnien und die Herzegowina unter österreichisch-ungarischer Besatzung und Verwaltung. 1908 wurde die Provinz formell von der k. u. k. Monarchie annektiert. Die quasikoloniale Politik Wiens gegenüber Sarajevo bestimmte die Richtung der späteren Bemühungen um kulturelle Europäisierung und politische Dominanz auf dem Balkan. Die Oberhoheit über die Zivilverwaltung der Provinz hatte der Reichsfinanzminister. Dieses Amt übernahm 1882 der ungarische Aristokrat Bénjamin von Kállay, der das liberale Programm der friedlichen Unterwerfung des Balkans umriss: Die Menschen zufriedenstellen, Gerechtigkeit herstellen, die Landwirtschaft modernisieren, einfache und preiswerte Verkehrsverbindungen schaffen, den Bildungsstand erhöhen, uralten Traditionen wiederbeleben und durch neue Ideen auffrischen und reinigen – das ist mein Verwaltungsideal. […] Österreich ist ein großes westliches Imperium, das dazu ausersehen wurde, den Völkern des Orients die Zivilisation zu bringen.23 Die Botschaft war jedem halbwegs intelligenten Leser klar. Die k. u. k. ­Monarchie wollte die Rolle einer Kolonialmacht übernehmen. Ihre seit den Teilungen Polens währende zivilisatorische Mission in Galizien war in den Augen der Liberalen in einem Fiasko geendet.24 Nun also rückte Bosnien in die Position Afrikas, 346

Die zivilisatorische Mission

ähnlich wie später die von Deutschland und Österreich-Ungarn besetzten russischen Provinzen. Die während des Kriegs von den beiden Imperien geführte Mission war gleichsam das regionale Äquivalent zur „Bürde des weißen Mannes“, der politischen Dominanz im Namen von Zivilisation und Fortschritt, im Namen der Erweiterung der Grenzen der westeuropäischen Zivilisation. In den bekanntesten Umsetzungen dieses Projekts – Ober Ost und Serbien – kam ein diesen Prinzipien widersprechendes Element hinzu: die tiefe Abneigung der Militärs gegen die konstitutionelle Monarchie, den Parlamentarismus und letztlich gegen die gesamte politische Moderne nach 1848. In den besetzten Gebieten war die Generalität der Politik de facto keine Rechenschaft schuldig, ihr drohten keine Untersuchungen von Reichsrat oder Reichstag und sie konnte auf die Ansichten von Sozialisten und Pazifisten pfeifen. So ließen sich die Vorstellungen von einer idealen europäischen Ordnung frei verwirklichen; nötigenfalls gab man den lokalen Eliten das Recht auf Selbstverwaltung oder beratende Funktionen und verbesserte – im Interesse von Herrschern und Untertanen – die Infrastruktur. Die Gefahr, dass sich das paternalistische Modernisierungsprojekt in eine moderne Demokratie verwandeln könnte, schien vorerst ebenso abstrakt wie in Afrika.

Neue Regierungen Die eroberten Gebiete gehörten allerdings nicht afrikanischen Stämmen, sondern europäischen Monarchen. Die westliche Öffentlichkeit akzeptierte zwar nur widerstrebend, dass man junge Staaten wie Serbien oder Rumänien ernst nehmen musste, doch bezüglich des russischen Imperiums gab es keine derartigen Vorbehalte. Um den Wechsel des Herrschers zu begründen, musste man beweisen, dass der bisherige Monarch seine Pflichten gegenüber der Bevölkerung nicht erfüllt hatte. Die Journalisten, Publizisten, Politiker und Propagandisten der Mittelmächte übertrafen sich daher darin, die Regierungen und politischen Eliten Russlands, Serbiens und Rumäniens für die zivilisatorischen Mängel in ihren einstigen Provinzen zu kritisieren. So bemerkte die Deutsche Medizinische Wochenschrift maliziös, während die russischen Behörden die Menschen in Warschau mit immer neuen orthodoxen Kirchen „beglückt“ habe, kümmerten die Deutschen sich um ihr weltliches Wohl, indem sie Krankenhäuser mit Infektionsabteilungen einrichteten oder engmaschige epidemiologische Untersuchungen von Prostituierten einführten.25 Die Deutsche Warschauer Zeitung berichtete stolz, die den Polen von den Russen jahrzehntelang verwehrte Selbstverwaltung sei ihnen von den Deutschen in der siebten Besatzungswoche 347

III  Die Besatzung

ohne Weiteres gewährt worden.26 In einem Bericht über die ersten beiden Amtsjahre des Generalgouverneurs in Warschau hieß es: „Die deutsche Verwaltung hat unter den Aufgaben, die dem nationalen Wohle des Landes dienen sollen, auch Kulturaufgaben in Angriff genommen, die von den Russen ein Jahrhundert lang nahezu vernachlässigt worden sind.“27 Die deutschen und österreichischen Verfasser griffen gern zu ironischen Formulierungen. Serben, Russen und Rumänen nannte man spöttisch „Kulturträger“, die eigenen zivilisatorischen Leistungen bezeichnete man in Anspielung auf französische oder britische Propagandaschlagworte als „Hunnenwerk“. In einer Reportage aus dem besetzten serbischen Smederevo schildert Wilhelm Hegeler die Arbeit bayerischer Pioniere, die mit aus Brest und Valenciennes stammendem Gerät zerstörte Wasserleitungen instand setzten. Der Unteroffizier, der ihm die provisorischen Installationen zeigte, habe ihm lächelnd erklärt: „Unser barbarisches Vorgehen in Frankreich und Rußland setzen wir hier fort, indem wir Semendria mit einer vernünftigen Wasserleitung versehen.“28 Über die österreichische Mission auf dem Balkan schrieb ein Kollege Hegelers hingegen in vollem Ernst: Während den in der Fremde stehenden Resten des serbischen Heeres, das als seiner Erde beraubter Anteus kraftlos geworden ist, von Paris und London Schauermärchen über unseres Schreckensherrschaft in Serbien zugeflüstert werden, geht die österreichisch-ungarische Militärverwaltung erfolgreich ihrem Ziel entgegen: Auf allen Gebieten des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens nicht nur einen friedlichen Zustand zu schaffen, wie ihn Serbien seit vier Jahren nicht genossen hat, sondern mehr als dieses, – das Land in jeder Beziehung in die mitteleuropäische Kulturgemeinschaft aufzunehmen.29 Der Gipfel der Kritik der zivilisatorischen Unzulänglichkeit bestand darin, die Gegner im Osten symbolisch aus Europa auszuschließen. Dieses rhetorische Verfahren galt meist Russland. Dahinter steckte eine simple Logik. Wenn man die von den Russen eroberten Gebiete als „Halbasien“ bezeichnete, musste weiter östlich das echte Asien liegen. In deutschsprachigen Publikationen interpretierte man den Krieg gegen Russland als Verteidigung der westlichen Zivilisation gegen das östliche Barbarentum, dessen Vorhut die Kosaken – die „Hunnen unserer Zeit“ – bildeten.30 Der protestantische Theologe Reinhold Seeberg formulierte es so: Kultur wird [in Russland] mit schweren Kosakenstiefeln zu Boden getreten, Freiheit und höhere innerliche Moral mit der Knute zerschlagen. Barbarismus 348

Die zivilisatorische Mission

droht jedem Lande, das Rußland an sich bringt. Wir kämpfen dort im Osten gegen die Barbarei für die Kultur, und ein Mann wie Hindenburg steht auf der Wacht für die Kultur Europas und für die Kultur Deutschlands gegenüber russischer Barbarei.31 Bald schon fand man aber, dass die Gleichsetzung von Russen und Kosaken die asiatische Natur und Herkunft der Letzteren nicht deutlich genug unterstrich. Deutsche und österreichisch-ungarische Autoren (und in ihrem Gefolge polnische, ukrainische, litauische und jüdische Publizisten) schrieben daher von „Ta­ taren“, „Skythen“, „Mongolen“ und „Baschkiren“. Charakteristisch für die Russen war angeblich die „östliche“ Apathie, für ihre Herrschaft der „östliche“ Despotismus. Einmal aus Europa verdrängt, sollten sie nicht wieder dorthin zurückkehren. Sein volles propagandistisches Potenzial entfaltete das zivilisatorische Projekt im Osten vor allem dort, wo die Armeen der Mittelmächte als Befreier auftreten konnten, also insbesondere in den polnischen Gebieten und in Litauen. Dort adressierte die Besatzungsverwaltung die bis dahin durch das zaristische Regime unterdrückten patriotischen Gefühle von Polen und Litauern sowie auch Juden und Weißrussen. Vor allem in größeren Städten wie Wilna und Warschau kam es zu einer sichtbaren Belebung des „nationalen Lebens“. Warschau verfiel nach dem Einmarsch der Deutschen in einen wahren Rausch nationaler Festivitäten. Als antirussische Manifestationen waren sie willkommen; gleichwohl ­blieben sie potenziell gefährlich, weil sie leicht in antideutsche Kundgebungen hätten umschlagen können. Beflissene Journalisten waren bemüht, eine Brücke zwischen Patriotismus und Loyalität gegenüber der neuen Besatzungsmacht zu schlagen. Leopold von Bayern – der Kommandeur der Armee, die im August 1915 in die ehemalige Hauptstadt des Königreichs Polen einmarschiert war – erwies sich plötzlich als Nachkomme Johanns III. Sobieski. Die Abstammung des Wittelsbachers wurde nicht angezweifelt, doch die Deutschen wussten, dass dies allein zur Legitimierung ihrer Herrschaft nicht ausreichen würde. Geschickt ­hielten sie die Stimmung hoch, indem sie die Gründung einer polnischen Universität und eines Polytechnikums erlaubten oder in Straßennamen Russen durch Polen ersetzten (so wurde die nach dem russischen General und Unterdrücker des ­Januaraufstands von 1863/64 benannte Berg-Straße zur Traugutt-Straße – in ­Erinnerung an den letzten Anführer dieses Aufstands). Bei dieser Gelegenheit wurden auch die Namen russischer oder russifizierter Orte entfernt: Die Erywańska-Straße wurde zur Kredytowa-Straße, die Nowoaleksandryjska-­Straße 349

III  Die Besatzung

zur Puławska-Straße (eine logische Folge der Rückbenennung von Puławy) usw. Der Galizier August Krasicki, der die Stadt einige Monate nach dem Beginn der deutschen Besatzung besuchte, notierte: Die Schilder an den Geschäften sind ausschließlich polnisch, nur selten sieht man an hohen Mauern noch ein russisches, an den Lampen [sic] mit den Hausnummern sind die russischen Straßennamen verdeckt, es blieben nur die Straßenschilder an den Kreuzungen. Nur auf Polnisch sind die neu benannten: Allee des 3. Mai (die Verlängerung der Jerozolimskie-Allee bis zur Poniatowski-Brücke), Warecki-Platz, Stanisław-Małachowski-Straße.32 Es verschwanden auch die russischen Denkmäler, freilich nicht alle sofort. Im monarchischen Europa war man zurückhaltend mit der Zerstörung von Monumenten, die an gekrönte Häupter und imperiale Armeen erinnerten. Anfangs wurden die Denkmäler eher evakuiert als zerstört. In Wilna demontierten die abrückenden Russen die Denkmäler Katharinas der Großen, Murawjows und Puschkins (dieses Ereignis diente dem deutschen Dichter und Dramatiker Herbert Eulenberg als Ausgangspunkt zu einer Miniatur über sich gegenseitig vom Sockel stoßende Denkmäler33). Nach der Abdankung Nikolaus II. legte man die Zurückhaltung ab. 1917 „fiel“ der Großteil der noch existierenden zaristischen Denkmäler in der ehemaligen Gouvernementshauptstadt; die restlichen wurden in der Zwischenkriegszeit entfernt. In den von russischen Herrschaftssymbolen befreiten Stadträumen erblühte das von der deutschen Obrigkeit konzessionierte kulturelle und politische Leben. Während seines Aufenthalts in Warschau sah August Krasicki im Sommer­ theater […] das Stück Medal 3-go Maja [Die Medaille des 3. Mai] von Kozłowski, eine Satire auf die Warschauer Verhältnisse vor 25 Jahren unter den Moskowitern. Figuren sind Lew Juchtin (Apuchtin), der Kurator Iwan Tulio (Jankulio) sowie Professor Ochorowicz und Eusapia Palladino. Alle ähneln den realen Vor­ bildern. Ein solches Stück wäre vor einem Jahr undenkbar gewesen, daher wurde jede Anklage oder Kritik der russischen Herrschaft mit tosendem Beifall quittiert.34 Tatsächlich waren die ersten Reaktionen der Einwohner auf die neue Nationalitätenpolitik positiv. Die Warschauer Gesellschaft begrüßte die Eröffnung der Universität und des Polytechnikums im November 1915. An beiden Hochschulen trat das Polnische an die Stelle des Russischen. Zum ersten Mal in der Geschich350

Die zivilisatorische Mission

te wurden Frauen nicht diskriminiert, sondern erhielten dieselben Rechte wie Männer. All diese Veränderungen passten hervorragend zu den deutschen Vorstellungen von ihrer zivilisatorischen Mission. Zugleich war die Eröffnung der beiden Hochschulen eine heikle, weil im Alltag hochpolitische Sache. Ab dem 23. September galten in Warschau ein Demonstrations- und Versammlungsverbot. Man konnte sich leicht vorstellen, dass die neuen Milieus – Hunderte, später Tausende Studenten, das heißt junge, halbwegs gebildete, oft energische und noch öfter patriotische Menschen – dem öffentlichen Leben ein neues, aus Sicht der Besatzer unnötiges Element hinzufügen würden. Beide Seiten waren sich der Risiken bewusst. Als daher der Referent für polnische Angelegenheiten und amtliche Kurator beider Hochschulen, Graf Bogdan von Hutten-Czapski, dem Generalgouverneur Hans von Beseler die designierten Rektoren von Universität und Polytechnikum vorstellte, versicherten diese laut dem offiziellen Kommuniqué, die entstehenden Hochschulen wollten allein „der Wissenschaft dienen“35. Der Generalgouverneur tat, als glaube er das. Die Information über diese Audienz erschien am selben Tag wie die amtliche Bekanntmachung über die Requisition aller Pelzmäntel in Warschau. Hutten-­ Czapski glaubte dennoch, die Deutschen hätten ihr Propagandaziel erreicht: Die Eröffnung der beiden Hochschulen ging keineswegs spurlos an der polnischen Öffentlichkeit vorbei […] Unter russischer Herrschaft wäre das nicht zu denken gewesen, da wurden höchstens nur Versprechen gemacht.36 Kurz darauf wurde im Haus der masowischen Fürsten in der Warschauer ­Altstadt eine Ausstellung von Erinnerungsstücken an den Novemberaufstand e­ röffnet, die auch Gouverneur Beseler in Gesellschaft von Offizieren besuchte. Den ­Höhepunkt erreichte die deutsch-polnische Zusammenarbeit nach rund einem Jahr. Am 5. November wurde offiziell die Schaffung eines polnischen Staates angekündigt. Der Rahmen der Feierlichkeit, während der die recht vage Bekanntmachung verlesen wurde, belegte sowohl den Großmut als auch die Stärke des Besatzers: Das Wetter spielte mit, der Tag war schön wie selten zu dieser Jahreszeit. Die ganze Stadt war mit Nationalflaggen geschmückt. Im Schlosshof und vor dem Schloss machten sich die Studenten von Universität und Polytechnikum, die Schüler der Mittelschulen sowie ganze Heerscharen von Verbänden und Organisationen bereit. […] In der großen Säulenhalle hatten sich rund 600 geladene Gäste versammelt. Den Kordon hielten die Legionäre. Beseler verlas inmitten des gesamten Armeestabs und anderer Würdenträger die 351

III  Die Besatzung

Proklamation, die von Hr. Hutten-Czapski anschließend auf Polnisch wieder­ holt und außerdem vom Schlossbalkon verlesen wurde. In diesem Moment zog man am Schloss polnische Flaggen neben den deutschen auf. Der mächtige Ruf aus Tausenden Kehlen: „Es lebe das unabhängige Polen!“ erscholl im Saal, im Hof und auf dem Schlossplatz.37 Die Nationalitätenpolitik der Mittelmächte beschränkte sich keineswegs auf die von ihnen besetzten Gebiete. Von 1916 an nahm eine vom deutschen Außenministerium finanzierte Aktion zur Unterstützung des Unabhängigkeitsstrebens der nichtrussischen Völker im Zarenreich Fahrt auf. Im Juni trafen sich Aktivisten aus Polen, der Ukraine, Estland, Lettland, Litauen, Kalmückien, Kasachstan, Kirgisien, Georgien, Tatarstan, Aserbaidschan und Dagestan sowie Deutsch-Balten zu einer Konferenz in Lausanne in der neutralen Schweiz. Ihre gemeinsame Erklärung, in der Russland wegen Missachtung der Rechte der nichtrussischen Volksgruppen verurteilt wurde, war an US-Präsident Wilson persönlich gerichtet. Der auch in Skandinavien verbreitete Text stieß auf ein reges Echo und brachte die Staaten der Entente in eine missliche Lage. Die von den Konferenzteilnehmern vorgebrachten Anklagen waren begründet und der Verdacht, dass hinter all dem eine deutsche Intrige stecke, wurde offiziell erst nach Kriegsende bestätigt.38 Nicht nur in Deutschland und Österreich-Ungarn verbanden auch die jüdischen Gemeinden große Hoffnungen mit dem Krieg gegen Russland. Das Zarenreich galt nicht unbegründet als Hort des europäischen Antisemitismus, während die deutsche und die k. u. k. Regierung bei Kriegsbeginn jegliche anti­­semi­tische Propaganda in ihren Ländern im Keim erstickt hatten. Für politisch aktive Juden ergab sich daraus die logische Schlussfolgerung, der Weltkrieg sei vor allem ein Kampf gegen Russland. Kein Wunder also, dass die jüdischen Organisationen im Deutschen Reich und in der Donaumonarchie der Parole „Gott strafe England“ eher reserviert gegenüberstanden und sie gegen eine andere austauschten: ­„Rache für Kischinau“ (wo 1903 die russische Obrigkeit eines der größten Po­grome der Geschichte angestiftet hatte). Die jüdischen Soldaten der Mittelmächte zogen in den Osten, um ihre Glaubensbrüder vor Verfolgung zu schützen, aber auch, um sie zu zivilisieren und die schmutzigen Chalatträger an das Ideal des aufgeklärten deutschen Judentums heranzuführen. Die jüdische Frage fügte ­sich – wiewohl unter anderen Bedingungen – ebenso gut ins Programm der zivili­satorischen Mission wie die polnische, ukrainische oder litau­ ische. 352

Die zivilisatorische Mission

In den vormals russischen Gebieten konnten die Mittelmächte ohne große Schwierigkeiten als Befreier auftreten und diese Rolle mindestens so lange spielen, solange die wirtschaftliche Ausbeutung der besetzten Länder sie nicht die letzten Sympathien kostete. Anders war es in Serbien und Rumänien. Hier wäre das Spiel mit dem heimischen Nationalismus zu gefährlich gewesen: Sowohl die serbische als auch die rumänische Armee waren zwar geschlagen und aus dem Land vertrieben, hatten aber nicht kapituliert. Deshalb versuchten die österreichisch-ungarischen und deutschen Besatzer auf dem Balkan jegliches Nationalgefühl zu unterdrücken und die Solidarität der sozialen Gruppen zu zerschlagen. Für das mit dem Krieg verbundene Leid machten sie die Regierenden und die Eliten verantwortlich. Sie wandten sich direkt ans „Volk“, dem sie versicherten, es sei „tausendmal besser […] als seine Führer“39. Da die lokalen Eliten versagt hatten, musste das Imperium die Rolle des Schutzherrn übernehmen. Charakteristisch für diese Haltung ist ein Satz aus einem offiziellen Bericht des Militärgouvernements in Belgrad: „Möge diese Arbeit Oesterreich-Ungarns Wehrmacht zum ewigen Ruhme, dem autochtonen Volke jedoch zum bleibenden Wohle gereichen.“40 Zumindest eine Zeit lang konnte es scheinen, als sei dieses Manöver geglückt. Auf dem rumänischen Land übernahmen die deutschen Soldaten so glatt die Rolle der neuen Herren, dass bis zum Sommer 1918 größere Unruhen ausblieben. In Serbien, vor allem aber in Montenegro, formierte sich früher bewaffneter Widerstand, doch die Gründe dafür lagen eher in der Verschlechterung der Versorgungslage als in der Politik.

Wissenschaftliche Eroberungen Ein Instrument der „Okzidentalisierung“ Ostmitteleuropas und des Balkans waren die Wissenschaften, allen voran Ethnografie, Anthropologie und Geografie. Die Einwohner der besetzten Gebiete (und auch des balkanischen Verbündeten Rumänien) waren für die Eroberer ein interessanter Forschungsgegenstand. Gelegenheiten zur Erkundung der lokalen Eigentümlichkeiten gab es zuhauf. Während des Kriegs stieg die Anzahl der Deutschen und Österreicher, die diese bis dahin exotischen Gegenden persönlich kennenlernten, sprunghaft an. Meist kamen sie als Soldaten: Tausende von Deutschen haben ja durch den Krieg den Balkan kennen ge­ lernt. Durch Schnee und Schlamm haben unsere Feldgrauen den serbisch-mazedonischen Feldzug mitgemacht. Dann kamen deutsche Ärzte, Schwestern und Krankenpfleger über Rumänien nach Bulgarien. Deutsche Telegraphenund Eisenbahntruppen leisteten dem Verbündeten ein gewaltiges Maß wert353

III  Die Besatzung

voller Hilfsarbeit und kamen in jeden Winkel des schönen Landes. Dann wieder hatten deutsche Truppen teil an der Abwehr der Sarrail-Offensive im Süden und an dem Siegeszug durch die Dobrudscha gen Norden. Deutsche Flieger schützten in der Luft die Hauptstadt gegen französische Bomben, sicherten Varna gegen feindliche Angriffe zur See. Deutsche Zeppeline überquerten, aus Ungarn kommend, den ganzen Balkan. Auch eine Anzahl deutscher Reichstagsabgeordneter endlich fand Gelegenheit zu genußreichen Fahrten kreuz und quer durch bulgarische Lande.41 Unter den Teilnehmern der Feldzüge auf dem Balkan mangelte es nicht an Menschen mit Interesse an der dortigen Natur, Bevölkerung und Kultur. Von 1915 an wurden mit den militärischen Erfolgen der Mittelmächte immer größere Teile Ostmitteleuropas und des Balkans zum Objekt ethnografischer, geografischer und anthropologischer Forschungen. Wissenschaftler und Amateurfotografen suchten insbesondere nach „typischen“ Bildern von Einheimischen in lokalen Trachten. Außerdem sammelten sie alle möglichen Artefakte. In einigen Fällen schaltete sich der Staat ein. Die bulgarische Regierung finanzierte zwei Expeditionen zur Erforschung der Geografie und der Bevölkerung der Dobrudscha und Makedoniens. In letztgenannter Provinz waren auch deutsche Forscher der Makedonischen Landeskommission (Malako) aktiv. Die Österreicher wiederum unternahmen zoologische und ethnografische Reisen durch Serbien und Montenegro. Die Ergebnisse dieser Aktivitäten wurden bereits während des Kriegs in deutschen und österreichischen Verlagen publiziert – als Beleg für die zivilisatorischen Verdienste der Besatzer. Allerdings waren die Ethnologen in Uniform nur in einigen Ausnahmefällen die ersten Erforscher einer bis dahin unbekannten Kultur.

Handbuch von Polen Ein knappes Jahr nach der Einnahme Warschaus durch deutsche Truppen setzte Gouverneur Beseler die Landeskundliche Kommission ein. Sie bestand ausschließlich aus deutschen Wissenschaftlern, ihr erster Vorsitzender war der Geograf Max Friederichsen. Im ersten Jahr ihrer Tätigkeit konzentrierte man sich auf das Sammeln von Material: Zeitschriften und Bücher zur Geografie und Ethnografie der polnischen Gebiete, Fotos, Landkarten, Bodenproben und Mineralien. Von 1917 an erschienen die Ergebnisse der Kommission in gedruckter Form. Oberste Priorität hatte für den Gouverneur ein monumentales Kollektivwerk mit dem gewichtigen Titel Handbuch von Polen. Er be354

Die zivilisatorische Mission

trachtete es nicht nur als wissenschaftliche Arbeit, sondern auch als politischen Akt, als Symbol für die Überlegenheit der deutschen Regierung über das Zarenregime. Im Geleitwort schrieb er: Die Arbeit sollte außer dem wissenschaftlich praktischen Ergebnis auch Zeugnis davon ablegen, daß die deutsche Verwaltung eines im Kriege eroberten und besetzten Landes neben ihren militärischen, politischen und Verwaltungsaufgaben auch die Gelegenheit zur Lösung wissenschaftlicher, durch die Zustände des Landes bedingter oder angeregter Arbeiten zu erfassen gewußt hat. So möge denn das Buch zum rechten Verständnis wahren deutschen Geistes beitragen.42 Josef Partsch schlug in seiner lobenden Rezension des Handbuchs in der Geographischen Zeitschrift einen ähnlichen Ton an: So eröffnet der gehaltvolle Band dem Wissensdrang und Unternehmungsgeist reiche Quellen unschätzbarer Belehrung; er ist nicht nur für das deutsche Volk, sondern auch für die gebildete Bevölkerung Polens eine gewichtige Gabe, wie sie noch kein Volk seinen Befreiern aus hoffnungsloser Knechtschaft zu danken hatte.43 Die Reaktionen polnischer Spezialisten entsprachen diesen Erwartungen mitnichten. Der mit zweijähriger Verspätung erschienene Jahrgang 1917 des Sachmagazins Kosmos enthielt umfangreiche und mit deutschen Zusammenfassungen versehene Besprechungen aller Artikel des Handbuchs. Die Urteile waren vernichtend. Ein zentraler Vorwurf betraf das Unwissen nicht nur polnischer, sondern auch ausländischer Verfasser von Arbeiten über die polnischen Gebiete. Im Handbuch wurden ausschließlich Deutsche zitiert. Einen Eindruck vom Ton der Rezensionen vermittelt eine Passage aus Jan Stanisław Bystrońs Ausführungen zum ethnografischen Teil des Werks: In den Wäldern hausen böse Göttinnen, Mittagsfrauen, Feen und Werwölfe; über ihnen herrscht der Waldgeist. Was für eine seltsame Natur, die sich nichts ohne Hierarchie und obendrein noch eine fremde vorstellen kann, denn der Waldgeist ist wahrhaftig von der Abstammung her Russe. […] Der Aufsatz eines achtjährigen Hans in der Volksschule in „Hohensalza“ oder einem anderen urdeutschen Ort zum Thema „Das Erntefest bei den Wasserpolen“ läse sich wohl kaum anders.44

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III  Die Besatzung

Für die harschen Reaktionen gab es mindestens zwei Gründe. Erstens sprach aus ihnen gekränkter Ehrgeiz. Nicht zu Unrecht betrachteten die polnischen Gelehrten die über ihre Köpfe hinweg geäußerten Befunde zu Polen als Symptom einer imperialistischen Haltung. Die fachlichen Mängel der Artikel boten ihnen Anlass zu einer spektakulären Abrechnung mit den von der eigenen Überlegenheit überzeugten deutschen Wissenschaftlern, die eigentlich Amateure waren. Zweitens war die polnische Kritik politisch motiviert. Die Autoren des Handbuchs schrieben ausschließlich über Kongresspolen, das von den polnischen Ostgebieten zusätzlich durch eine natürliche Grenze getrennt sei. Außerdem betrachteten sie die Region als nach allen Seiten hin offenes Durchgangsgebiet ohne besondere Merkmale, das dazu bestimmt sei, in ein deutsches Mitteleuropa integriert zu werden. Diese Sicht entsprach zweifellos der damaligen Politik des Deutschen Reichs. Der Hauptvorwurf der polnischen Rezensenten richtete sich daher gegen die politische Instrumentalisierung der Wissenschaft. Bystroń kritisierte in seiner Besprechung die „Regional­ gymnastik“, wie er Arved Schultz’ Versuch nannte, ethnografische Gruppen mit bestehenden politischen Grenzen zu korrelieren: Ähnlich wie die „westliche Gruppe“ die Polen unter preußischer Herrschaft als Gruppe isolieren soll, die deutlich verschieden ist und keinerlei Tendenzen zeigt, sich mit dem polnischen Kern im Königreich zu vereinen, so entspricht die Einteilung in eine nördliche und eine südliche Gruppe mehr oder weniger den Grenzen der deutschen und österreichischen Besatzung. Ob diese Einteilung ebenfalls gewisse „vollendete Tatsachen“ legitimieren soll oder ob er nur eine gewisse geistige Ohnmacht und Unfähigkeit belegt, ethnische Verhältnisse anders zu betrachten als durch das Prisma der Staatspolitik, vermag ich nicht zu sagen.45 Das Handbuch von Polen zeigt exemplarisch für die deutschen und österreichisch-ungarischen Aktivitäten in Kultur und Wissenschaft, woran das Projekt der Zivilisierung des Ostens krankte. Man setzte sich hohe Ziele, doch den Akteuren, die sie verwirklichen sollten, fehlte die fachliche Kompetenz. Ihre politische Beschränktheit und nicht selten nationalistischen Einstellungen verärgerten zudem jene, von denen man Dankbarkeit erwartete: die intellektuellen Eliten Ostmitteleuropas. In diesem Teil Europas war es für eine ­Kolonisierung schon zu spät.

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Die zivilisatorische Mission

Die Anerkennung für die deutschen und österreichischen ethnografischen Forschungen während des Kriegs schwindet, sobald man sich die konkreten wissenschaftlichen Ergebnisse anschaut. Die meisten Arbeiten basieren nicht auf soliden Forschungen (für die der Krieg keine Zeit ließ), sondern erinnern eher an Reiseberichte. Insofern verwundert es nicht, dass die Autoren selten über die stereotypen Bilder des Ostens und des Balkans hinausgingen. Ein Extrembeispiel war Montenegro. Das arme, rückständige, bergige Land mit seiner kriegerischen Bevölkerung weckte Interesse und Abscheu zugleich. Die mythologisierte Gestalt des balkanischen Bergbewohners als geborener Krieger und lebendes Relikt der Stammesordnung faszinierte die Autoren ebenso wie die „gesunden“ patriarchalischen Verhältnisse, die sich in einem besonders niedrigen Sozialstatus der Frau manifestierten.46 Die Anthropologen suchten nach besonderen Rassemerkmalen, die für die montenegrinische Lebensweise verantwortlich seien. Sie nahmen an, dass ein Volk, das sich ständig im Kampf befand, über besonders wertvolles Erbgut verfügen müsse. Freilich ging das Interesse nicht immer mit Sympathie und Empathie einher. Dieselben Anthropologen, Ethnografen und Geografen rühmten die Erfolge der Monarchie bei der Zivilisierung des wilden und ungastlichen Landes, denen sie mitunter größere Aufmerksamkeit als dem eigentlichen Thema ihrer Arbeiten schenkten. Einer der renommiertesten Wissenschaftler, die während des Kriegs das österreichisch-­ ungarische Besatzungsgebiet besuchten, der Wiener Geograf und Anthropologe Eugen Oberhummer, konzentrierte sich in seinem Bericht für die Zeitschrift der k. u. k. Geographischen Gesellschaft vor allem auf die größte Infrastrukturmaßnahme: die Errichtung einer über den Berg Lovćen führenden Seilbahn zum ­Gütertransport zwischen dem österreichisch-ungarischen Hafen Kotor und ­Cetinje.47 Auch die Expeditionen nach Makedonien, dem Lieblingsziel von Wissenschaftlern der Mittelmächte, brachten keine bahnbrechenden Entdeckungen. Die Beobachtungen vor Ort bestätigten die bestehende Auffassung: Die Zivilisation war noch nicht in der Region angekommen. Der deutsche Zoologe Franz Dorflein schrieb über Skopje: „Nur die von den deutschen Truppen errichteten oder ausgebauten Häuser machten einen erträglichen Eindruck.“48 In anthropologischer Hinsicht weckten die kriegerischen, halbwilden albanischen Bergbewohner ein gewisses Interesse. Die deutschen Forscher vermuteten nämlich eine entfernte Rassenverwandtschaft mit den Bayern. Ansonsten dominierten in der Provinz rassische „Mischtypen“, die nicht zu entwirren und überdies – wie der gesamte Osten – von einer dicken Schmutzschicht bedeckt waren: 357

III  Die Besatzung

In den Straßen von Prilep tummelten sich spielende Kinder, die man hätte mit deutschen Kindern verwechseln können, mit ihren noch dazu sonnengebleich­ ten, flachsfarbenen Haaren und leuchtend blauen Augen. Auf die Dauer war eine solche Verwechslung allerdings nicht möglich; denn so verlumpte, ver­ schmutz­te, verwahrloste Kinder gab es in Deutschland nirgends.49 Mit Kriegsende ließ das Interesse deutscher und österreichischer Wissenschaftler für die Ethnografie Ostmitteleuropas und des Balkans schlagartig nach. Dies ist wohl das sicherste Indiz dafür, dass die entsprechenden Forschungen konjunkturell bedingt waren. Die Beschreibung der Nationalitäten, Kulturen und sogar der Natur der fremden Länder diente vor allem der Affirmation der zivilisatorischen Leistung der Besatzer. Der zivilisatorische Wandel interessierte die Forscher mehr als die Gegebenheiten vor Ort.

Die fünf Minuten Bulgariens Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte keiner der Balkanstaaten in Europa eine gute Presse. Schon während des Kriegs der bulgarisch-serbisch-griechisch-montenegrinischen Koalition gegen das Osmanische Reich waren Informationen über Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung an die Öffentlichkeit gelangt. Wenig später veröffentlichte eine Kommission der Carnegie-Stiftung für den internationalen Frieden einen ausführlichen Bericht, der alle kämpfen­ den Parteien gleichermaßen belastete. Derartige Meldungen fügten sich sehr gut in das stereotype Bild des wilden, für „primitive Wortwechsel und urwüchsige Arten der Konfliktlösung“50 bekannten Balkans. Das weltweit mit Em­ pörung aufgenommene Attentat von Sarajevo verschlechterte, sofern das überhaupt möglich war, das Image der Region zusätzlich. Es war also wenig erstaunlich, dass die österreichisch-ungarische „Strafexpedition“ gegen ­Serbien auf dieses Stereotyp zurückgriff und den Gegner als gewöhnlichen Kriminellen und nicht als Rivalen behandelte. Erst als 1915 Bulgarien an der Seite der Mittelmächte in den Krieg eintrat, änderte sich die Situation grundlegend, weil sich die Bewertung der Völker und Staaten Südosteuropas verkomplizierte. In den Jahren 1915–18 stieg das Interesse an dem balkanischen Verbündeten in den mitteleuropäischen Monarchien stark an. An die Stelle der früheren Geringschätzung trat die Bewunderung für die Tapferkeit der bulgarischen Soldaten, für die Dynamik des jungen Staates und nicht zuletzt für den Natio­ nalcharakter der Bulgaren: 358

Die zivilisatorische Mission

Der Charakter des Bulgaren wird durchweg gelobt. Seine hervorstechenden Eigenschaften sind Schlichtheit, Nüchternheit, Sparsamkeit, Vaterlandsliebe und Gefälligkeit, selbst Opferwilligkeit […]. Es zeichnet den Bulgaren ferner Arbeitsfreudigkeit und Strebsamkeit, verbunden mit großer Ausdauer, aus. Schließlich fällt an ihm noch ein starkes Bedürfnis nach Bildung auf. Vom Temperament ist er ernst und beharrlich, aber für die hohen Aufgaben, die seines Volkes warten, sehr begeistert.51 Diese Ansammlung von Vorzügen passte nicht zum stereotypen Bild des balkanischen Wilden. Deshalb musste man die Bulgaren von den weniger edlen Nachbarn, zumal Serben und Montenegrinern, abgrenzen: Unter den verschiedenen Völkern der Balkanhalbinsel nehmen die Bulgaren entschieden den ersten Rang ein, denn es dürfte wohl kein zweites geben, das durch seine Tapferkeit, Vaterlandsliebe und Intelligenz und sein Streben nach Höherem sich so vorteilhaft vor den anderen auszeichnet wie gerade das Volk der Bulgaren. […] Mit Recht verdient es dieses Volk des europäischen Orients, daß es mehr als bisher in den Gesichtskreis der Abendländer gerückt wird, daß wir uns mehr und eingehender mit ihm beschäftigen, es kennen und verstehen lernen, um auf solchem gegenseitigen Verstehen die Bundesfreundschaft weiter zu pflegen.52 Das intensive Interesse am Bündnispartner blieb nicht auf die wohlwollende Betrachtung der Kultur und der Sitten beschränkt, sondern bezog auch eine dem Auge verborgene Sphäre ein: das Innere des menschlichen Körpers. Eine logische Konsequenz aus der These, dass die Bulgaren auf dem Balkan eine in fast jeder Hinsicht positive Ausnahme seien, war der Wunsch, ihnen unter die Haut zu schauen, ihre ethnische und rassische Herkunft neu zu erforschen. Die „Preußen des Balkans“, wie sie in deutschsprachigen Publika­ tionen genannt wurden, unterschieden sich angeblich von den slawischen Bewohnern der Halbinsel, wenngleich die Verfechter dieser These in den ­Details uneins waren. Im Einklang mit dem historischen Wissen nahm man eine Verbindung zu den asiatischen Protobulgaren an. Diesen Faktor betonte bezeichnenderweise der Budapester Orientalist Adolf Strausz.53 Er verwies auf Ähnlichkeiten zwischen den fleißigen bulgarischen Bauern und ihren ungarischen Verwandten (die sich ebenfalls auf die Abstammung von Wolga­ nomaden beriefen). Kühner argumentierten einige deutsche Anthropologen, die in den Bulgaren die ursprünglichen thrakischen Bewohner der Balkanhalb­ 359

III  Die Besatzung

insel zu erkennen glaubten. Einige besonders originelle deutsche und bulgarische Forscher sahen in den Bulgaren Nachfahren der germanischen Goten. Gantscho Tzenoff, das Enfant terrible der bulgarischen Archäologie, vertrat in einigen während des Kriegs in Deutschland publizierten Arbeiten die These, dass Thraker, Goten, Illyrer, Makedonier und selbst Hunnen (also so gut wie alle Völker, die im Laufe der Geschichte auf dem Gebiet des heutigen Bulgarien ansässig waren) eine einzige, mit den Bulgaren identische Volksgruppe darstellten.54 Die dergestalt durch Beobachtungen und physiognomische Messungen vermeintlich bestätigte Verwandtschaft des balkanischen Verbündeten mit den Germanen erleichterte den Kriegspublizisten die Arbeit sehr. Nachfahren der Goten durfte man weder Schmutz noch Barbarei nachsagen. Sofia nutzte die Gunst der Stunde zur Umsetzung seiner Expansionspläne. Ein nicht geringer Teil der dem Verbündeten gewidmeten deutschen und österreichisch-ungarischen Publikationen befasste sich nämlich mit den ­ ­„natürlichen“ Grenzen des Landes. Ganze Scharen von Ethnografen befassten sich etwa mit Makedonien und wiesen nach, dass dort ausschließlich Bulgaren lebten. Die bulgarischen Ambitionen reichten jedoch sehr viel weiter. Das im Januar 1916 vom Parlament in Sofia festgelegte Kriegsziel bestand in der Vereinigung aller Bulgaren – auch jener, die sich noch nicht als solche empfanden – in den Grenzen einer Monarchie. Der territoriale Zuschnitt des Staates wurde durch die drei Farben der Nationalflagge symbolisiert: Schwarz stand für das Schwarze Meer, Weiß für die Ägäis und blau für die Adria. Weder das Deutsche Reich noch die Donaumonarchie unterstützten die Annexionspläne ihres Verbündeten. Die in Kriegspublikationen erklärte Freundschaft kränkelte auch an der Basis, wo in den Schützengräben deutsche und bul­ garische Soldaten aufeinandertrafen. Die an die Saloniki-Front entsandten Offiziere berichteten in Briefen in die Heimat voller Abscheu von den Gräueltaten der Bulgaren. Von Nahem betrachtet, entsprachen die „Preußen des Balkans“ nicht ganz dem von der Propaganda verbreiteten Bild. Selbst während gemeinsamer Gelage fühlte sich mancher Ankömmling aus dem Reich unsicher, wenn die bulgarischen Gastgeber eines der populärsten Soldatenlieder aus dem Zweiten Balkankrieg anstimmten: „Unsere Verbündeten, die Verbrecher“.55

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Die zivilisatorische Mission

Bildung und Hygiene Der Status der aufgeklärten Kolonialmacht, den Deutschland und Österreich-Ungarn in den besetzten Gebieten für sich beanspruchten, zwang sie geradezu zur Aufnahme von Bildungs- und Erziehungsaktivitäten im weitesten Sinne. Tatsächlich gründete man Universitäten und Schulen. Das zaristische Imperium kannte keine Schulpflicht; an vielen Orten markierte die Besatzung demzufolge einen Wendepunkt, einen Aufbruch hin zu (west)europäischen Standards. In Warschau führte das Bürgerkomitee am Tag der Einrichtung des Generalgouvernements, das heißt 18 Tage nach der Einnahme der Stadt durch die Deutschen, die allgemeine Schulpflicht ein. In den von Russland und Rumänien eroberten Gebieten wurde in der jeweiligen Volkssprache und in Deutsch unterrichtet, die Lehrer waren oft Einheimische. Man verlangte von ihnen, dass sie rasch Deutsch lernten und dem neuen Monarchen die Treue schworen, ließ ihnen ansonsten aber weitgehend freie Hand. Die Gründung von Lehrerseminaren für Frauen sorgte zwar für Empörung unter örtlichen Konservativen, doch diese Art von Protest gegen den sozialen und kulturellen Fortschritt bereitete den Besatzern kaum Sorgen. Anders verhielt es sich mit der österreichisch-ungarischen Bildungspolitik in Serbien. Die Österreicher hielten die existierenden staatlichen Schulen für Brutstätten des Nationalismus. Deshalb mussten sie ihre Tätigkeit einstellen, man tauschte die Lehrkörper aus und führte völlig neue Lehrpläne ein. Nur in Ausnahmefällen wurden die früheren serbischen Lehrer wieder in den Schuldienst aufgenommen, allerdings keine Frauen, denn Conrad von Hötzendorf hielt sie für besonders fanatische serbische Chauvinistinnen.56 Die Österreicher verbannten auch das Kyrillische aus den Schulen. Die neuen Lehrer waren oft Soldaten, deren Kompetenz sich auf die Kenntnis der Landessprache beschränkte. Dieses Personal konnte natürlich keine Bildung auf angemessenem Niveau gewährleisten. Einen positiven Einfluss der österreichischen Bildungspolitik auf die serbische Zivilbevölkerung entdeckte man in einem anderen Bereich. Die Schüler wie überhaupt die ganze Gesellschaft sollten sich die „mitteleuropäischen Werte“ aneignen: Fleiß, Ordnung, Sauberkeit, Zuverlässigkeit. Ein darauf ausgerichtetes Programm konnten die in die Schulen abkommandierten Unteroffiziere der Reserve sicher r­ ealisieren. Die Erziehung der neuen Untertanen erfolgte nicht nur in der Schule. Die österreichischen Propagandisten priesen etwa die Erfolge bei der Einführung neuer Formen der intensiven Landwirtschaft: Der serbische Bauer, dem ein großes Quantum orientalischer Trägheit im Blut sitzt, sieht sich plötzlich durch Beispiel und sanften Druck gezwungen, 361

III  Die Besatzung

sein Land tüchtig zu bearbeiten und nicht nur darauf zu warten, daß sich das Vieh auf der Weise sattfrißt und daß die Sonne Kukuruz und Pflaumen reift. Und staunend gesteht er ein, daß auf weiten Landstrichen nie soviel Boden bebaut worden ist, als in diesem Jahr.57 Deutsche und Österreicher beuteten den besetzten ländlichen Raum energisch aus. Gleichzeitig versuchten sie, die Qualität von Ackerbau und Viehzucht zu steigern. Ein Beispiel waren die Bemühungen der k. u. k. Verwaltung in den ihr unterstellten Teilen des Königreichs Polen. Einerseits verschlechterte sich mit jedem Monat die Versorgung mit Nahrungsmitteln, zumal mit Fleisch. Andererseits taten die Behörden einiges, um den einheimischen Viehzüchtern zu helfen. 1916 ließ man Zuchtbullen, Medikamente und Veterinäre aus Deutschland kommen. Fleischmärkte, Wochenmärkte, Schlachtung und Bestattung der Kadaver – alle Etappen der Fleischproduktion und des Handels wurden von den Sanitär­ behörden kontrolliert. Dabei betonte die Verwaltung, alle Maßnahmen seien zum Nutzen der einheimischen Bevölkerung, während Informationen und Gerüchte über Lebensmittelexporte nach Deutschland und Österreich-Ungarn unterdrückt wurden. Das Gebiet, auf dem die Leistungen der Besatzer besonders sichtbar waren und das die Propaganda von der zivilisatorischen Mission im Osten am liebsten thematisierte, war die Hygiene. Laut Vejas Gabriel Liulevicus wurde „die Reinigung“ zum „eindringlichsten Symbol“ der deutschen Herrschaft, während „der Schmutz“ die zaristische Herrschaft symbolisiert habe.58 Friedrich Wallisch schrieb: „Reinlichkeit und Ordnung, wie sie selbst nach Aussage unserer ärgsten Gegner Belgrad nie gekannt hat, beherrscht das Stadtbild […].“59 Derartige Aussagen waren nicht bloß Propaganda. Auch Beobachter, die Deutschen und Österreichern alles andere als wohlgesinnt waren, räumten ein, dass sie das Problem ernsthaft angingen. Erzbischof Kakowski erwähnt eine typische Maßnahme der Besatzungsbehörden: Erfolgreich, pedantisch bekämpfte man Infektionskrankheiten. Reisende in Eisenbahnzügen mussten eine „Entlausungs“-Karte vorweisen. Ich selbst, oh Wunder, besaß eine solche Karte, das Amt hatte sie mir zugesandt. Ohne Entlausungskarte wurde niemand in den Bahnwaggon gelassen.60 Gewöhnliche Fahrgäste erhielten die Entlausungskarten nicht vom Amt. Das System war durchdacht und effizient. Man nutzte unter anderem Entlausungsstationen, die vor 1914 in deutschen Hafenstädten Auswanderern auf dem Weg 362

Die zivilisatorische Mission

in die USA gedient hatten. Insgesamt waren im Hinterland der Ostfront 18 Stationen für Soldaten, Arbeiter und sonstige Bahnreisende in Betrieb. Pro Tag konnten 45 000 Personen behandelt werden. In allen Gebieten unter deutscher und österreichisch-ungarischer Besatzung wurden Schutzimpfungen eingeführt und epidemiologische Labors eingerichtet. Die k. u. k. Behörden in Serbien rühmten sich vor allem ihrer Erfolge im Kampf gegen den Flecktyphus, der kurz zuvor noch serbische Soldaten und österreichisch-ungarische Kriegsgefangene dezimiert hatte. Jede Gemeinde war verpflichtet, in einem gesonderten Gebäude eine epidemiologische Krankenstation einzurichten. Vor den Türen standen Wachen und die in den Stationen beschäftigten Ärzte (die aus Österreich-Ungarn kamen) waren in ständigem Kontakt mit der Zentrale in Belgrad. In Kongresspolen nutzten die deutschen Militärs die Hilfe von Rabbinern, die ihre Gläubigen zur Hygiene aufforderten. Man griff auch zu härteren Methoden. Die Impfaktionen, vor allem auf dem Land, waren ebenso verpflichtend wie die Entlausungsaktionen. Nicht selten nutzten Ärzte die Gelegenheit der Entlausung (und den militärischen Beistand), um die Patienten in einem zu impfen.

Der deutsche Kampf gegen das Fleckfieber Dr. Gottfried Frey (1871–1952) wurde in Schwetz (heute Świecie) geboren. Vor dem Krieg war er Kreisarzt in Oberschlesien und wohl deswegen wurde er 1915 zum Leiter der Medizinalverwaltung im Generalgouvernement Warschau berufen. Seine Hauptaufgabe sah Frey in der Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Besatzungsgebiet. Besonders gefährlich erschien ihm das Fleckfieber (Typhus exanthematicus), das seit der Jahrhundertwende gefürchteter war als die Cholera. Frey bezeichnete es rückblickend als eine der größten Bedrohungen für die preußischen Grenzprovinzen, die Besatzungstruppen und die Einheiten an der Front. Man habe außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen müssen, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren, doch dank des Einsatzes aller verfügbaren Mittel der deutschen Epidemiebekämpfung sei es gelungen, die Gefahr weitgehend einzudämmen. Im Deutschen Reich existierte das Fleckfieber vor Kriegsbeginn nur in der Erinnerung, die letzte Epidemie in Westpreußen datierte auf das Jahr 1881. Als unter den Soldaten an der Ostfront im Herbst 1914 Läuse auftauchten, waren die Ärzte zunächst ratlos. Bald entwickelten sie aber eine Methode zur Entlausung der soldatischen Kleidung durch Dampf. Ein größeres Problem waren die Zivilisten. Im frierenden und hungernden Lodz brach im Dezember 363

III  Die Besatzung

1915 eine Fleckfieberepidemie aus, die Dr. Frey und seine Kollegen zu radikalen Schritten veranlasste. Zur systematischen Entlausung befallener Viertel wurden sogenannte Entlausungskolonnen eingerichtet, die ganze Stadtteile durchkämm­ten und Häuser und Menschen untersuchten. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Juden: Die von ihnen bewohnten Teile der Stadt wurden amtlich zu Typhus-„Straßen“ oder gar -„Bezirken“ erklärt. Als wichtigster Krankheitsüberträger galt die Kleiderlaus. Das Fleckfieber stand bald im Ruf einer „Judenkrankheit“, die durch den für diese Gruppe angeblich charakteristischen Schmutz verursacht werde. Dr. Frey und seine Kollegen unterschieden säuberlich zwischen jüdischem und christlichem Schmutz, zwischen jüdischen und polnischen Läusen: Auch unsere Beobachtung aus der abgelaufenen Epidemie [in Lodz 1915/16], trotz dem sehr reichlichen Vorkommen von Kopfläusen in der pol­ nischen Bevölkerung, spricht dagegen, daß die Kopflaus der Träger des Fleckfieberkeims ist. Kleiderläuse fand man nur bei Personen derjenigen Bevölkerungsschichten, die auf besonders niedriger Kulturstufe stehen. Das aber sind im Verwaltungsgebiete im allgemeinen die Juden und nicht die polnische Bevölkerung. Dr. Frey entrüstete sich über den Widerstand der jüdischen Gemeinde, die den Entlausungskolonnen ablehnend gegenüberstand, die Anforderungen der Moderne nicht begriff und die getrennte Behandlung von Kranken und Gesunden hartnäckig sabotierte. Vom 1. Juli 1916 bis zum 1. Oktober 1918 entlausten die Deutschen 3,25 Millionen Menschen und über 480 000 Wohnungen. Allerdings ohne große Wirkung, denn die Hälfte der Fleckfieberfälle in der kurzen Geschichte des Generalgouvernements Warschau wurden im Winter 1917/18 verzeichnet. Zur gleichen Zeit hielten die Österreicher das Fleckfieber für eine endemische Krankheit in der Bevölkerung des von ihnen besetzten Teils des Königreichs Polen. Für große sanitäre Aktionen fehlten ihnen die Mittel, also desinfizierten sie nicht Straßen und Stadtviertel, sondern einzelne Häuser und Wohnungen. Kranke wurden grundsätzlich nicht isoliert, sondern nach Möglichkeit durchgehend medizinisch betreut. Die Resultate waren nicht schlechter als Dr. Freys Ergebnisse. Kein Besatzer vermochte auch die Tuberkulose zu besiegen, die mehr Opfer forderte als das Fleckfieber oder die Ruhr. Zum wichtigsten Feind wurde ­­sie aber erst nach Kriegsende und nach dem Abflauen der Spanischen ­Grippe.61 364

Die zivilisatorische Mission

Wie die Krankheitsstatistiken aller von den Mittelmächten besetzten Gebiete zeigen, waren neben der endemischen Tuberkulose das Fleckfieber und in den letzten Kriegsjahren die Grippe die größten Bedrohungen. Eine Ausnahme bildeten Makedonien und Rumänien, wo die Malaria wütete, doch auch dort war das Fleckfieber gefährlich. Die damaligen Statistiken, Diskussionen von Ärzten und Hygienikern oder Presseartikel vermitteln freilich den Eindruck, als habe eine ganz andere Epidemie den Besatzungsmächten die meisten Sorgen bereitet: Geschlechtskrankheiten. Syphilis und Gonorrhö wurden zu weiteren Feinden, die es auf dem Siegeszug nach Osten zu bezwingen galt. Die Beobachter, die mit tiefer Abscheu den für die Region typischen Schmutz schilderten, waren zugleich sehr erstaunt über die Attraktivität der einheimischen Frauen: „Geschlechtskrankheiten sind unter den Zigeunern weit verbreitet und so unwahrscheinlich es klingt, nicht wenige unserer Soldaten, ja Offiziere haben sich in diesem Viertel [der ‚Zigeunerstadt‘ von Skopje] böse Infektionen geholt.“62 Offenbar waren auch die wissenschaftlichen Unternehmungen zur ethnografischen, zoologischen und geografischen Erforschung der Region nicht vor dieser Gefahr gefeit: „Eine Zigeunerin, welche zur Zeit der Besetzung eine gewisse Rolle als Dirne spielte, wurde viel photographiert und ist in manchem Album aus Makedonien als Typus der Zigeunerin abgebildet.“63 Der Kampf gegen Geschlechtskrankheiten beschäftigte die Besatzer nicht nur in Makedonien. Im ganzen besetzten Osten wurde er oft, wie sich an zahlreichen Beispielen zeigen ließe, zum Sinnbild der neu eingeführten Hygiene. Die besetzten Gebiete in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan waren nach allgemeiner Auffassung der Eroberer nicht nur hygienisch, sondern auch moralisch unrein, weshalb man gerade hier besondere Vorsicht walten lassen musste. Andererseits erforderten Gonorrhö und Syphilis eine Hospitalisierung, hinderten die betroffenen Soldaten also für einige Zeit am Dienst an der Front. Geschlechtskrankheiten waren daher nicht nur ein Problem der Infizierten, sondern auch des Staates. Außerdem – darauf verwiesen als Erstes die im Deutschen Reich einfluss­ reichen Anhänger der eugenischen Bewegung – verkehrten die in den besetzten Gebieten infizierten Soldaten während Heimaturlauben mit ihren Gattinnen, wodurch sie Krankheiten verbreiteten und das Gespenst der damals panisch gefürchteten rassischen Degeneration heraufbeschworen. Hinzu kam, dass die Erkrankung zu Unfruchtbarkeit führte – ein weiterer schwerer Schlag für die künftige Wehrfähigkeit des Staates. All diese Umstände führten zu einer spezifisch verzerrten Wahrnehmung und trugen dazu bei, dass Hygiene und Gesundheitsfürsorge mit der Verhinderung von Geschlechtskrankheiten gleichgesetzt wur365

III  Die Besatzung

den. Der zugrunde liegende Mechanismus zeigt sich exemplarisch in Rudolf Lennhoffs Bericht von einem deutschen Ärztekongress 1916 in Warschau: In Warschau selbst ist mit Entschiedenheit der Kampf gegen die Ansteckungs­ möglichkeiten aufgenommen worden. Daß in einer solch großen östlichen Stadt, in der neben der Neigung zu dem Beruf eine stellenweise grenzenlose Armut große Mengen von Mädchen in die Prostitution treibt, die Anste­ ckungs­möglichkeiten groß sein müssen, leuchtet ohne weiteres ein. Zu­mal irgendeine sanitäre Überwachung und Fürsorge vordem unbekannt waren. Deshalb mußte zunächst eine Sittenpolizei eingerichtet werden zur Fest­ stellung der Prostituierten, Erkennung, Absonderung und Behandlung der Erkrankten.64 Die deutschen Besatzungsbehörden gingen tatsächlich mit großem Elan ans Werk. Rasch gelangten sie zu dem Ergebnis, dass es in Warschau weit mehr als 10 000 mit Syphilis infizierte Prostituierte und sich gelegentlich prostituierende Frauen gab. Nach Berechnungen von Experten hatte jede von ihnen in kurzer Zeit drei bis zehn Männer infiziert. Zur Verhinderung weiterer Infektionen setzte man auf zwei grundverschiedene Strategien. Den deutschen Soldaten versuchte man durch sanfte Argumentation beizubringen, dass Onanie hygienischer als Gelegenheitssex sei. An diejenigen, die sich davon nicht überzeugen ließen, verteilte die Armee Präservative. Sie durften auch Bordelle für Soldaten oder Offiziere besuchen (während des Kriegs wurde in der deutschen Presse über die Zweckmäßigkeit dieser Lösung diskutiert; gegen alle moralischen Bedenken überwog die Auffassung, dass man den Militärs dieses Privileg nicht nehmen dürfe). Die Frauen in den sogenannten Puffs unterstanden natürlich ständiger Kontrolle und medizinischer Betreuung. Die Verbündeten kommentierten diese Praxis mitunter mit bissigen Worten: Für den deutschen Soldaten ist der Beischlaf selbst mit dem Verlassen der Wohnung der zeitweiligen Geliebten nicht abgeschlossen: Er muss noch Vor­ namen, Nachnamen und Adresse der Partnerin notieren, um im Falle einer Infektion dies alles der Führung melden zu können.65 Ganz anders erging es den Frauen, die man der Prostitution verdächtigte. Sie wurden auf der Straße oder sogar in ihren Häusern verhaftet, selbst wenn unklar war, ob die betroffene Person sich tatsächlich prostituierte. Oft kam es zu Irrtümern, auch infolge falscher Anschuldigungen seitens der Nachbarn. Es liegt auf der Hand, wie schwer es den unter dem Vorwurf der Unzucht von der Sittenpoli366

Die zivilisatorische Mission

zei festgenommenen Frauen fiel, ihren Ruf wiederherzustellen. Das deutsche Vorgehen war so streng, dass sogar Gerüchte über die Erschießung von Prostituierten kursierten, die keine schnelle Genesung erwarten ließen.66 Unterdessen war das Problem der Prostitution zwar weitverbreitet, aber nicht immer so leicht zu fassen, wie deutsche und österreichisch-ungarische Hygieniker meinten. In den Erinnerungen von Soldaten finden sich zahlreiche Erwähnungen flüchtiger Liebschaften oder sogar längerer Beziehungen, vor allem an Orten, wo die Front länger stehen blieb oder wohin sie nach kurzer Zeit zurückkehrte. In der Gegend um Kowel, so Składkowski, bemühten sich die Legionäre um Quartiere in denselben Bauernhäusern, in denen sie zuvor untergebracht waren, um die früheren Bekanntschaften aufzufrischen.67 Während der Abwehrkämpfe in den Vorkarpaten betrachteten die Goralinnen den Sex mit polnischen Soldaten der k. u. k. Armee als patriotische Pflicht. In denselben Erinnerungen ist aber auch die Rede von Bäuerinnen und Bürgerinnen, die sich gegen Geld oder Lebensmittel prostituierten. Nicht selten waren dies die sogenannten Reservistinnen, also Ehefrauen mobilisierter Soldaten der russischen Armee, denen die Mittel zum Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder fehlten. Der Legionsarzt, der manchen Fall von peinlicher Erkrankung zu behandeln hatte, hinterfragte den Topos der romantischen Soldatenliebe: Und nun sollte man von „Liebesabenteuern“ im Krieg erzählen?! […] Das war gut, als die Ulanen wie 1830 schöne Revers trugen und fünfzig oder hundert von ihnen in ein Dorf kamen. Jetzt sind wir im Marsch, schmutzig, verlaust und müde, und wenn wir in ein Dorf kommen, dann zwei- oder dreitausend von uns auf einmal! Welche Abenteuer will man suchen, wenn sich zwanzig Mann in eine Kate zwängen?!68 In größerem Ausmaß gab es Prostitution demnach vor allem in größeren Städten. Dort hatten die Besatzer auch die meisten Möglichkeiten, wirksam dagegen vorzugehen. Die Warschauerinnen waren dabei keineswegs die ersten Opfer des Kampfs gegen Syphilis und Gonorrhö. Die entsprechenden Maßnahmen wurden aus Brüssel übernommen, wo schon früher eine Sittenpolizei eingerichtet worden war. Wenige Monate später führten die österreichisch-ungarischen Besatzungsbehörden in Belgrad ähnliche Methoden ein. In keiner dieser Städte agierten die Polizisten sonderlich höflich. Verdächtige Frauen wurden verhaftet und anschließend gruppenweise in deutsche oder österreichisch-ungarische Krankenhäuser gebracht, wo sie vor den Augen der übrigen Festgenommenen von ­Armeeärzten untersucht wurden. Kranke und „Zweifelsfälle“ wurden zwangs­ 367

III  Die Besatzung

hospitalisiert. Es gab auch Fälle, in denen bereits genesene Patientinnen in den Krankenhäusern festgehalten wurden, um dort Hilfsdienste zu leisten. Alle in deutschen Militärkrankenhäusern von einer Geschlechtskrankheit geheilten Frauen wurden als Prostituierte registriert. Die sozialen Folgen dieser Praxis waren problematisch, zumal bei Minderjährigen. Manchen Frauen gelang es nicht, den behördlich attestierten Makel abzulegen – aus Prostituierten „von Amts wegen“ wurden nicht selten echte Prostituierte. Die Reaktionen der Gesellschaften in den besetzten Gebieten waren gespalten. Teile der Öffentlichkeit übernahmen die moralisierende Rhetorik der deutschen und österreichisch-ungarischen Behörden, in der die betroffenen Frauen nicht als Krankheitsopfer erschienen, sondern als Gefahr für die Soldaten und ihre Familien. In Belgrad teilten nicht nur die dortigen proösterreichischen Eliten diesen Standpunkt, sondern auch Feministinnen mit Kontakten zu der in Zagreb erscheinenden kroatischen Zeitschrift Ženski svijet. Es kursierten Gerüchte, denen zufolge Unzucht treibende Serbinnen zur Strafe tätowiert werden sollten, um ihren moralischen Fall dauerhaft zu dokumentieren.69 In Warschau übernahmen die Ärzte und Hygieniker der Polnischen Gesellschaft zum Kampf gegen Unzucht und Geschlechtskrankheiten (Polskie Towarzystwo Walki z Nierządem i Chorobami Wenerycznymi) die deutsche Sichtweise. Ihr Sprecher Leon Wernic sagte 1916 während einer Sitzung der Polnischen Gesellschaft für Sozialmedizin (Polskie Towarzystwo Medycyny Społecznej): „Die Liebe zum Vaterland erfordert […] neue Maßnahmen im Kampf gegen die durch Geschlechtserkrankungen verursachte Entvölkerung und Entartung der Rasse.“ 70 Gleichzeitig entstanden in Warschau aber auch Initiativen zum Schutz der Rechte betroffener Frauen. Die Liga für Gleichberechtigung (Liga Równouprawnienia) setzte sich für die Verhafteten ein und erreichte, dass fast tausend Frauen aus dem Prostituiertenregister gestrichen wurden. Alfred Sokołowski, ein Warschauer Arzt und Redakteur der Gazeta Lekarska, zeigte auf, wie das Problem der Prostitution und der epidemischen Verbreitung von Geschlechtskrankheiten langfristig gelöst werden könne: Man muss die Erziehung der Frau dahingehend ändern, dass sie vor allem auf eine unabhängige ökonomische Existenz vorbereitet wird. Hier würden Berufsschulen für Frauen den größten Dienst erweisen.71 Unter den Bedingungen der allgemeinen Mobilisierung, der ökonomischen Ausbeutung und der Armut waren die Besatzungsbehörden natürlich nicht imstande, Sokołowskis Ratschlägen zu folgen. Und es ist fraglich, ob sie dies unter güns368

Die zivilisatorische Mission

tigeren Umständen getan hätten. Für einen solchen Strategiewechsel im Kampf gegen Geschlechtskrankheiten hätten sie das Stereotyp vom schmutzigen und gefährlichen Osten überwinden müssen. Dies aber war in ihren Augen der Ursprung aller Gefahren für Gesundheit und Moral – und nicht etwa die militärische Präsenz der Mittelmächte oder die soziale Benachteiligung der Frauen. Der Krieg sollte ja die Fackel der Zivilisation nach „Halbasien“ tragen. Weder Deutsche noch Österreicher hätten je zugegeben, dass manche zivilisatorischen Defizite in der Region erst mit ihrem Erscheinen auftraten.

*** In der Geschichtsschreibung werden die Intention und der Erfolg der deutschen und österreichisch-ungarischen zivilisatorischen Mission unterschiedlich bewertet. In der Zwischenkriegszeit und bis in die 1960er Jahre hinein entsprachen die Lager mehr oder weniger der Nationalität der Forscher. Deutsche und österreichische Autoren nahmen das Programm der Modernisierung der wilden Territorien Osteuropas und des Balkans ernst. Alle anderen übergingen es oder betrachteten es als Propagandatrick mit der einzigen Funktion, das Misstrauen der von den Besatzern unbarmherzig ausgebeuteten Bevölkerungen der Region einzuschläfern. Ab den 1960er Jahren änderte sich das Bild, die Anzahl der Verteidiger der zivilisatorischen Mission der Mittelmächte schrumpfte rapide. Die Bewertungen der Besatzung glichen sich auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs aneinander an. Auch heute tendieren die meisten Historiker angesichts des überaus negativ konnotierten deutschen Stereotyps vom Osten zu einer kritischen Bewertung des gesamten Projekts, umso mehr, als die autoritären Praktiken und die oft rassistische Sprache der deutschen Besatzer eindeutige Assoziationen zum Dritten Reich wecken. In neueren Arbeiten zu diesem Thema bildet die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs einen zentralen Bezugspunkt. So schreibt der amerikanische Historiker Vejas Gabriel Liulevicius in seinem Buch über die Ober-Ost-Diktatur in Litauen und Weißrussland: Die Ostfronterlebnisse von 1914 bis 1918 bildeten den unerläßlichen kultu­ rellen und psychologischen Hintergrund für das, was sich später in diesem blutigen 20. Jahrhundert noch ereignen sollte; sie formten die dafür nötige Einstellung.72 Kurz gesagt: Deutsche und Österreicher wussten vorab, dass sie im Osten „Halb­ asien“ begegnen würden. Die dort gesammelten Erfahrungen bestärkten sie nur 369

III  Die Besatzung

in dieser Überzeugung und radikalisierten ihre Haltung zu diesen Gebieten und den dort lebenden Menschen. Sie waren ihnen gegenüber von Anfang an negativ eingestellt und legten in den Jahren ihrer Herrschaft im Osten alle moralischen Skrupel ab. Gut ein Jahrzehnt später bezahlten die Bewohner Ostmitteleuropas und des Balkans dafür einen hohen Preis. Ist ein solch strenges Urteil gerechtfertigt? Hinsichtlich gewisser Individuen und einiger zunehmend aktiven nationalistischen Gruppierungen – ja. In Bezug auf die gesamte Unternehmung, von der hier die Rede war – nein. Vor allem muss man die Intentionen des Projekts der zivilisatorischen Eroberung berücksichtigen. Wie der britische Medizinhistoriker Paul Weindling schreibt, neigten die österreichisch-ungarischen und deutschen Militärärzte „zum Moralisieren und in ihrer Hygienemission spielten Moral und sogar Religion eine weitaus größere Rolle als die Rasse.“ 73 Zumindest zu Beginn des Marschs gen Osten glaubten viele Teilnehmer an die liberale Utopie einer Erweiterung des europäischen Kulturraums. Dazu gehörten die Wiederbelebung der Kulturen und des politischen Lebens der nichtrussischen Völker des zaristischen Imperiums, die wissenschaftliche Erforschung der eroberten Gebiete sowie die Förderung von Bildung und Hygiene in den Bevölkerungen. Die Zentralmächte versuchten natürlich, diese Aktivitäten propagandistisch auszuschlachten, doch das annulliert nicht die Tatsache, dass die deutsche und österreichisch-ungarische Präsenz im Osten neben den nationalistischen, imperialistischen und rassistischen auch eine liberale Komponente besaß. Entscheidend ist der Moment, in dem das liberale Projekt scheitert und der Glaube an seine Verwirklichung durch die Überzeugung ersetzt wird, der Osten ließe sich nur durch Gewalt bezähmen. Dies erst ebnet den Weg zur massenhaften Vernichtung und Deportation der Einheimischen. Danach wird der Osten neu gemessen und gewogen – als mehr oder weniger menschenleere Tabula rasa, bereit zur Kolonisierung durch die zivilisierten Menschen des Westens. Derartige Gedanken waren den deutschen und österreichisch-ungarischen Militärs im Ersten Weltkrieg fremd.

370

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Der Balkan nach dem 1. Balkankrieg

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Der Balkan nach dem 2. Balkankrieg 372

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Balkanfront 1914 –1915

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Korfu Korfu

GRIECHENLAND deutsche Stellung österreich-ungarische Stellung bulgarische Stellung serbische/montenegrinische Stellung serbische Stellung Vormarsch der Mittelmächte 1915 serbischer Rückzug 1915 –1916 franz./brit. Unterstützung

373

Anhang

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Ostfront 1914 –1918 Reval

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Staatsgrenzen Frontverlauf Ende 1914 Frontverlauf Ende 1916 Frontverlauf Ende 1918

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Bibliografischer Kommentar Schon zu Beginn unserer Arbeit an diesem Buch stand für uns fest: Wir möchten nicht Bibliotheksregale füllen, Der vergessene Weltkrieg soll sich ‚gut lesen‘. Das erste Opfer dieses Vorsatzes war die klassische Bibliografie, die wir durch einen kritischen Kommentar zum Stand der Forschung zu unserem Thema ersetzen. Natürlich erwähnen wir hier nicht alle Studien, Beiträge, Pressetitel und Erinnerungen, die wir genutzt haben (am Ende des Buches findet sich lediglich ein Verzeichnis der im Text zitierten Arbeiten). Wir konzentrieren uns auf die wenigen Werke, ohne die eine Überblicksdarstellung wie die unsrige nicht hätte entstehen können. Zudem beschreiben wir einige der jüngsten Turns in der Forschung zum Ersten Weltkrieg, die an der polnischen Geschichtsschreibung allesamt vorbeigegangen sind. Und wir nutzen eine Chance, die uns eine klassische Bibliografie niemals hätte bieten können: Wir setzen uns kritisch mit Forschungsan­ sätzen auseinander, die zwar unser Wissen über die Kriegswirklichkeit erweitern, ihr Verständnis aber paradoxerweise erschweren. Noch eine Bemerkung sind wir dem Leser schuldig, die unsere Schlussfolgerungen aus einer gewissen Distanz sehen lässt und die hier gefällenten Urteile vielleicht etwas mildert: Dieser Kommentar entstand 2014. Seitdem sind einige Bücher erschienen, die das triste Bild der Forschung zur Kriegsgeschichte Ostmittel- und Südosteuropas relativieren. Sie werden im zweiten Band unseres ­Buches zitiert und ggf. auch diskutiert. Nach einem „turn“ sieht diese neue Welle zwar noch nicht aus, Manches bewegt sich aber doch.

*** Das wichtigste Werk zum Ersten Weltkrieg stammt zweifellos von Hew Strachan. Leider befasst er sich außer mit Russland kaum mit dem Osten und hat den geplanten zweiten Band nicht geschrieben. Dennoch bleibt er das unerreichte Vorbild.1 375

Anhang

I Zu den einzelnen Imperien wurden Hunderte von Büchern geschrieben, die meisten über das Deutsche Reich als mehr oder weniger unangepassten Teil des Westens. Uns interessieren aber vor allem die Ostfront, die östlichen Gebiete des Hohenzollernreichs und die deutsche Besatzung jenseits der alten Ostgrenze, die mit wenigen Ausnahmen – wie der Schlacht von Tannenberg – in der traditionellen Geschichtsschreibung wenig präsent sind. Diese und andere neue Themen werden erst seit einigen Jahren intensiver erforscht. Zu ihnen gehört auch der Holocaust, der ein Vierteljahrhundert später stattfand, doch überraschenderweise vor etwas mehr als einem Jahrzehnt für viele mit dem Ersten Weltkrieg befassten Deutschlandforscher zu einem zentralen Thema wurde. Der einflussreichste Vertreter dieser Strömung, Vejas Gabriel Liule­vicius,2 sieht in der deutschen Besetzung der westlichen Gouvernements des Zarenreichs in den Jahren 1915–18 zahlreiche Verbindungslinien zu den Verbrechen nach dem 22. Juni 1941. Liulevicius argumentiert, grob gesagt, so: Die Deutschen experimentierten ab Herbst 1915 drei Jahre lang in Litauen, Lettland und Weißrussland. Mit der Zeit gelangten sie zu dem Schluss, dass sich ihre ehrgeizigen Pläne im Rahmen des damals geltenden Rechts nicht verwirklichen ließen. Sie lernten, dass der Umbau des Ostens zu einem Land, in dem Milch und Honig fließen würden, nicht mit der Einhaltung des Kriegsvölkerrechts vereinbar war. Die Konsequenz aus dieser Lektion zogen sie nach dem Überfall auf die Sowjetunion, als die Radikalität der Mittel erstmals der Radikalität des Ziels einer ethnischen Umgestaltung der gewaltigen Territorien zwischen Ostsee und Schwarzem Meer entsprach. Der Massenmord wurde zur Norm und zu einem – hinzugefügt sei: in den Jahren 1914–18 undenkbaren – Instrument der Besatzungspolitik. Die Problematik von Liulevicius’ Hypothese liegt nicht darin, dass sie impliziert, die Oberleutnants oder Referenten aus Ober Ost seien dreiundzwanzig Jahre später als Oberste oder Direktoren in die Region zurückgekehrt und hätten die Fehler und Misserfolge ihrer Jugend ausmerzen wollen. Unserer Ansicht ist seine Darstellung eher deshalb wenig überzeugend, weil er die Geschichte aus der Vogelperspektive betrachtet, das heißt vor allem anhand deutscher Stabs­ dokumente und nicht aus der Sicht einfacher Soldaten und Beamter. Die großen, oft unrealistischen Projekte der Aufklärung und Vermessung der besetzten Länder oder der Schaffung einer dem „weißen Manne“ würdigen Infrastruktur scheiterten in Wirklichkeit ja nicht nur an Zeitmangel und fehlenden Mitteln, an 376

Bibliografischer Kommentar

der Weite des Raums oder moralischen Skrupeln, wenngleich all diese Faktoren eine Rolle spielten. In Liulevicius’ durchaus anregendem Bild fehlen vor allem die Interaktion zwischen Besatzern und Einheimischen sowie der passive Widerstand der Letzteren. Unerwähnt bleibt auch der 50-jährige Rekrut aus der tiefen Reserve, der in einem weißrussischen Bauernkaff die hochtrabenden Berliner Befehle als Geißel Gottes empfindet und von nichts anderem als von einer schnellen Rückkehr in die Heimat träumt. Die zweite Schule, die einen Zusammenhang zwischen den deutschen Besatzungen im Ersten Weltkrieg und den Einsatzgruppen des Zweiten Weltkriegs sieht, konzentriert sich vor allem auf die lokalen Wurzeln der Gewalt, die ab 1941 die einheimische Bevölkerung zur Kollaboration mit dem Besatzer unter anderem bei der Vernichtung der Juden bewegte. So konstruiert etwa Alexander V. Prusin die Geschichte der Gebiete zwischen Deutschland und Russland (Lands Between) als mehrere Generationen umfassende, nur selten durch Phasen der Stabilität und des Friedens unterbrochene Abfolge von Gewalt. Auch die Autoren um Donald Bloxham und Robert Gerwarth lokalisieren die Anfänge der endemischen Gewalt in Südosteuropa weit vor 1914. Während wir diese Auffassung bis zu einem gewissen Grad teilen, überzeugt uns Prusins Darlegung nicht. Historiker seiner Prägung folgen allzu oft erschütternden, aber singulären Quellen und verlieren darüber die Dimension eines Problems aus dem Auge. Zweifellos schockiert die Lektüre von Schilderungen antijüdischer Pogrome oder ethnischer Gewalt in Serbien. Doch die Anzahl der Opfer ist weit entfernt vom Ausmaß der Tragödien des Zweiten Weltkriegs. Gewiss: Schon in den Jahren 1914–18 wurden Zivilisten in mit Stacheldraht umzäunte Konzentrationslager gesperrt, manche starben dort an Fleckfieber oder Unterernährung, Gendarmen und Soldaten misshandelten bisweilen Internierte und Flüchtlinge. Doch auch diese Lager sind nicht annähernd mit den NS-Konzentrationslagern vergleichbar. Während des Ersten Weltkriegs entwarfen und verwirklichten weder Besatzungsregime noch verfeindete ethnische Gruppen Pläne einer Endlösung. Über die Habsburgermonarchie wurde viel geschrieben. Besonders hilfreich für uns war – mit Blick auf den Staat als Ganzes, nicht auf einzelne Regionen oder Städte – Holger H. Herwigs Monografie über Deutschland und Österreich-­ Ungarn im Ersten Weltkrieg.3 Das Mitte der 1990er Jahre entstandene Werk verbindet die militär- und politikgeschichtliche Makroperspektive mit der Mikroperspektive der Alltags- und Wirtschaftsgeschichte. Ähnliche Vorzüge besitzen Ivan Šedivýs Buch über die tschechischen Länder4 und József Galántais Buch über Ungarn5. Unter den neueren Veröffentlichungen sticht Piotr M. Majewskis 377

Anhang

Buch über die tschechisch-deutschen Beziehungen auf dem Gebiet der Wenzelskrone heraus. Majewski schreibt zwar über das ganze Jahrhundert, doch gerade dies erleichtert es, die Besonderheit der Jahre 1914–18 zu erfassen. Viele sehr gute Arbeiten behandeln die Geschichte Russlands. Peter Gartrell liefert eine überzeugende Darstellung von Zwangsmigrationen und Wirtschaft. Wichtige Beiträge zum Zusammenhang zwischen der russischen Kriegsanstrengung und der Revolution liefern unter anderen Joshua Sandborn, Manfred Hildermeier, Dietrich Beyrau und – vielleicht vor allem – Norman Stone. Seine Mitte der 1970er Jahre erschienene Geschichte der Ostfront6 ist bis heute das wohl anregendste Werk zum „vergessenen Krieg“ im Osten Europas. Stone widerlegt die Auffassung, Russland habe es nicht geschafft, seine Industrie an die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft anzupassen. Er zeigt die enormen Anstrengungen des Landes in diesem Bereich, die sich letztlich als effektiv erwiesen – im Gegensatz zur Mobilisierung: Kein Staat, der die allgemeine Mobilmachung kannte, schickte proportional so wenig Männer an die Front wie der russische. Gleichzeitig war das Zarenreich nicht in der Lage, die Bevölkerung der großen Städte anständig zu versorgen. Darin – und nicht in den militärischen Niederlagen oder im Einfluss der Sozialisten – sieht Stone die Ursache der Revolution des Jahres 1917. Der keineswegs weniger unorthodoxe Niall Ferguson weiß – leider – wenig über den Osten. Der wichtigste Revisionist, der das traditionelle Bild der Besatzung sprengte, ist aus unserer Sicht nicht der Provokateur Ferguson, sondern der weitgehend unbekannte Jonathan Gumz. Der amerikanische Militär- und Rechtshistoriker widerlegt in seiner Monografie über die österreichisch-ungarische Besatzung in Serbien gleich mehrere Mythen: Seiner Meinung nach versuchten die Militärs im besetzten Gebiet eine vormoderne Monarchie zu errichten – sie ignorierten die ethnischen Unterschiede, sie behandelten die neuen Untertanen halbwegs gerecht und verzichteten weitgehend auf Terror als Instrument der Herrschaftsausübung. Die Besatzer ließen den Serben mehr Nahrungsmittel, als sie ins eigene, österreichische Hinterland lieferten, weil es der Armee nicht um Ausbeutung oder Vernichtung des Feindes ging, sondern um die Aufrechterhaltung der Ordnung. Die beste traditionell nationalgeschichtliche Monografie ist immer noch das vor einigen Jahren auch in englischer Sprache erschienene Opus magnum des 2013 verstorbenen serbischen Historikers Andrej Mitrović7. Auch wenn Mitrović eine solche Lesart sicher empört zurückgewiesen hätte, bestätigt sein Werk mittelbar Gumz’ umstürzlerische Thesen. Insgesamt hält sich das Genre der Nationalgeschichte sehr viel besser, als man anhand der Erscheinungsfrequenz neuer 378

Bibliografischer Kommentar

polnischer Darstellungen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs vermuten könnte.8 Eine weitere ausgezeichnete Arbeit auf diesem Gebiet ist Lisa Mayerhofers Dissertation über die Besatzung in Rumänien.9 Die Autorin wägt sorgfältig Argumente ab und bewegt sich sicher zwischen den widersprüchlichen Quellen; unter anderem ruft sie den lange vergessenen Gerhard Velburg in Erinnerung, der mit großer Ironie und Beobachtungsgabe die Alltagswirklichkeit in den besetzten Gebieten dokumentierte.10 Vieles verdanken wir auch Tamara Scheer, die seit Jahren die k. u. k. Besatzungen während des Ersten Weltkriegs erforscht. Wichtige Beiträge zum Bild der Besatzung in Serbien und Belgrad stammen zudem von Daniela Schanes11 und Jovana Lazić Knežević. Die drei Historikerinnen verbindet das besondere Interesse für die Situation der Frauen unter der Besatzung. Da uns viele Archivquellen nicht zugänglich waren, bedeutete diese Perspektive eine wertvolle Ergänzung der älteren Darstellungen, in denen Frauen aus der Geschichte ausgeschlossen blieben. Das beste Buch über das Leben im Hinterland stammt von Roger Chickering, wenngleich Freiburg im Breisgau leider wenig mit der Ostfront zu tun hat. Hierzu ist Maureen Healys ausgezeichnete Wien-Monografie zu empfehlen.12 Ihren Ausgangspunkt bildet der zivilisatorische Niedergang der ö ­ sterreichisch-ungarischen Hauptstadt. Der Zerfall der Infrastruktur korrespondiert – wie Healy überzeugend darlegt – mit dem Zerfall des Wertekosmos der Wiener und insbesondere der Wienerinnen. Healys Arbeit hat unsere Sicht des Hinterlandes grundlegend verändert. Der Stand der Forschungen zum ländlichen Raum während des Ersten Weltkriegs lässt sich nur als katastrophal bezeichnen und wir wollen diese Katastrophe nicht rekapitulieren. Hinsichtlich der Städte ist die Situation wesentlich besser, obwohl nur wenige Autoren an das Niveau von Chickering und Healy heranreichen. Als Beispiel sei Christoph Mick genannt, der insbesondere zum Bild der russischen Besatzung in Lemberg 1914–15 viel Neues beiträgt. Die Geschichte anderer Städte im Ersten Weltkrieg ist schwerer zu rekonstruieren. In Arbeiten zu Riga, Königsberg, Wilna, Warschau, Lodz, Breslau oder Belgrad wird das erste Kriegsjahr unserem Eindruck nach eher stiefmütterlich behandelt. Für die wenigen Städte, die im Hinterland verblieben (etwa Königsberg oder Breslau), scheint die Erklärung offensichtlich: Die späteren Kriegsjahre waren sehr viel schlimmer, doch der Niedergang verlief schrittweise. Die Rationen schrumpften sukzessive, die Katastrophe zeichnete sich ab, doch sie trat erst im Winter 1917/18 ein (und dauerte bis Kriegsende). Bei Städten, die später unter 379

Anhang

Besatzung gerieten, gestalten sich die Erinnerungen meist anders. Sie teilen sich in zwei klar getrennte Abschnitte: Das halbwegs normale Leben im Hinterland und den langen Albtraum von Krieg und Besatzung. Die Ursache des Albtraums lag zwar selten im Wechsel der Herrschaft, doch die Kriegserfahrung gerann zu der Gleichung Besatzung = Katastrophe. Für Wilna oder Czernowitz wurde das erste Kriegsjahr, also die Zeit vor der Besatzung, noch kaum erforscht. Zu vielen anderen Städten liegen Monografien vor, meist umfangreiche Bände, die unzählige Fakten präsentieren, sich mit einer Interpretation der Kriegserfahrung aber stark zurückhalten. Letzteres resultiert nicht nur aus der Dominanz positivistischer Ansätze, die in der Zeit des real existierenden Sozialismus eine ehrbare Alternative zur staatlichen Geschichtspolitik bildeten, sondern auch aus der in der Einleitung angesprochenen verfälschenden nationalgeschichtlichen Darstellung des Ersten Weltkriegs als Vorspiel zur staatlichen Unabhängigkeit (das zeigen unter anderen Martin Zückert und Natali Stegmann am Beispiel der Tschechoslowakei) oder als ersten Schritt zum Großmachtstatus (darüber schreibt Maria Bucur am Beispiel Rumäniens). Eine vergleichende Untersuchung zu dieser die gesamte Region betreffende Erscheinung liefert mit Fokus auf das entscheidende Jahr 1918 Christoph Mick.

II Viel verdanken wir Arbeiten, die nach cultural und postcolonial turn entstanden. Die neuen Schulen der Lektüre historischer Quellen haben ihre Mängel, aber auch ihre Vorteile. Der cultural turn fordert vom Historiker, Quellentexte vor ­allem als biografisch und kulturell bedingte Wirklichkeitsmodelle zu lesen; der Autor konstruiert seine Botschaft, ohne sich darüber bewusst zu sein, dass er nur sieht, was ihm seine Sozialisierung zu sehen erlaubt. Tagebücher, Erinnerungen und Reportagen sind angesichts dessen immer unzulänglich, sie reflektieren nur jene Aspekte des Kriegs oder der Besatzung, die der durch Bildung und Biografie konditionierte Verfasser wahrnehmen konnte. Die postcolonial studies gehen noch weiter – im Extremfall löst die historische Wirklichkeit sich auf, Quellen gelten nicht länger als Träger von Informationen über die Vergangenheit, sondern ausschließlich als Dokumente des Bewusstseinsstands oder, einfacher gesagt, der Überzeugungen und Stimmungen ihrer Verfasser. Im Grunde wird ein ähnlich vorsichtiger Umgang mit Quellen seit anderthalb Jahrhunderten im Geschichtsstudium gelehrt. Dazu gehört die Maxime, dass auch die Art und Weise, wie Geschichte verfälscht wird, dem Historiker relevante Informationen liefert. In deutschen oder österreichischen Erinnerungen von 380

Bibliografischer Kommentar

den Fronten im Osten frappieren die Subjektivität, die Arroganz, der Mangel an Verständnis für die beschriebenen Dinge (von Wissen ganz zu schweigen) und die Verachtung sowie der Glaube an die eigene Unfehlbarkeit – der Leser wird geradezu dazu eingeladen, die Texte gegen die Intention der Autoren zu interpretieren. Zugleich sind wir beide überzeugt, dass unwahre Quellen – die es bekanntlich in fast jeder Überlieferung zuhauf gibt – weder für Historiker noch für Leser eine neue Herausforderung darstellen. Das beste Beispiel für eine produktive Anwendung der neuen Methoden ist Alan Kramers Buch über die italienische Front.13 Kramer, der auch gemeinsam mit John Horne eine detaillierte Beschreibung und intelligente Interpretation der deutschen Kriegsverbrechen an der Westfront vorlegte, hält psychologische und kulturelle Faktoren für mindestens ebenso wichtig wie materielle. Er geht davon aus, dass Menschen sich nicht gegenseitig umbringen, weil sie über diese oder jene Art von Waffen verfügen, sondern weil sie glauben, sie könnten so die Welt – oder wenigstens ihr Vaterland – retten. Kramer schreibt über die Faszination für die Macht des Krieges sowie über die zunehmende Technisierung der Kriegsführung und die durch sie bewirkten radikalen Veränderungen. Eine der wichtigsten Fragen, die uns bei der Arbeit an diesem Buch begleitete, betraf gerade diesen Aspekt: Konnte es im Osten, wo nur wenige Soldaten im Namen eines modernen Nationalstaats kämpften (und noch weniger je von den italienischen Futuristen gehört hatten), ähnliche Haltungen gegeben haben? War auch hier, zumindest in den ersten Jahren des Konflikts zwischen den größten kontinentaleuropäischen Imperien, der Krieg für die Teilnehmer ein tiefes kulturelles Erlebnis?

III Die polnischsprachige Forschungsliteratur ist enttäuschend. In der Zwischenkriegszeit erschienen zahlreiche damals wertvolle Beiträge, die vor allem militärgeschichtliche Fragen behandeln. Von den größeren Arbeiten sei Jan Dąbrowskis Wielka Wojna (Der Große Krieg)14 genannt – ein zweibändiges, systematisch strukturiertes und gut erzähltes Werk über den Ersten Weltkrieg. Dąbrowski widmet naturgemäß den polnischen Gebieten viel Aufmerksamkeit, seine Darstellung umfasst aber den Krieg als Ganzes, nicht nur das Schicksal Polens und der Polen. Eine andere Perspektive hatten die polnischen Autoren, die in den 1920er und 1930er Jahren für die Carnegie-Stiftung für den internationalen Frieden arbeiteten. Der erste Band einer geplanten Serie ist nie erschienen. Der zweite Band präsentiert unter dem irreführenden Titel Historia społeczna (Sozialgeschichte) eine Chronik der von Nichtregierungs- und Selbstverwaltungsorgani381

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sationen unternommenen Aktivitäten zur Unterstützung der am schlimmstem vom Krieg betroffenen Gruppen. Der dritte Band Historia gospodarcza (Wirtschaftsgeschichte) erweckt den Eindruck, als sei er im Hinblick auf Reparationsverhandlungen im Rahmen einer Friedenskonferenz geschrieben worden. Auf mehreren Hundert Seiten werden die zwischen 1915 und 1918 entstandenen ökonomischen Verluste in den polnischen Gebieten aufgelistet. Diese Publikationen sind umso enttäuschender, als zur selben Zeit unter der Schirmherrschaft der Carnegie-Stiftung Dutzende interessanter Arbeiten zu den Folgen des Kriegs in Russland und auf dem Balkan entstanden. Den gleichen Weg gingen die Autoren in der Zeit der Volksrepublik Polen, deren Geschichtsbild – trotz der überaus kritischen Bewertung des polnischen Zwischenkriegsstaates – auf der Gegenüberstellung des goldenen Jahres 1918 und der schwarzen Jahre davor basierte. Damit dieses Bild einen Sinn ergibt, musste man sich auf die „polnische Frage“ und die politische Geschichte der Rückgewinnung der Unabhängigkeit konzentrieren. Andere Aspekte des Themas interessierten kaum jemanden. Die Geschichte der Polnischen Legionen oder das Wirken Józef Piłsudskis wiederum waren bis in die Endphase der Volksrepublik ein rotes Tuch für die Zensur. In dieser einen Hinsicht änderte sich der Zuschnitt der Forschung nach 1989. Es darf nun über die Legionen, Piłsudski oder Roman Dmowski geschrieben werden und es wird viel geschrieben. Unverändert blieb der teleologische Zugang. Im Mittelpunkt steht das polnische Tun: Jede Einstellung wird im Kontext der staatlichen Unabhängigkeit analysiert, als hätten nach 1914 alle politisch aktiven Polen nur dieses eine Ziel verfolgt. An den Fingern einer Hand lassen sich dagegen die Arbeiten abzählen, die den Krieg und die Besatzung als eigene soziale Erfahrung von Millionen Menschen auf dem Gebiet der künftigen Zweiten Republik behandeln. Zu diesen Ausnahmen gehören Konrad Zielińskis Buch über das polnisch-jüdische Verhältnis, Marta Polsakiewiczs neue Geschichte Warschaus, Piotr Szlantas Aufsätze über die damals herrschenden Stimmungen sowie Marek Przeniosłos Arbeiten über die Einstellungen der Bauern. Gleichwohl verwundert dieser Forschungsstand, denn die polnischen Erinnerungen und Tagebücher vermitteln ein ganz anderes Bild. Dem Leser wird aufgefallen sein, wie oft wir auf sie zurückgreifen. Über den Ersten Weltkrieg schrieben Intellektuelle und Politiker, Legionäre, Geistliche und rechtschaffene Bürger. Die überwiegende Mehrheit von ihnen überlebte die Ostfront und kannte die Entbehrungen des Hinterlandes und der Besatzung. Ihre Schilderungen des Weltkriegs unterschieden sich radikal von der Darstellung der Historiker: An und hinter der Front war 1915 und 1916, ja selbst noch 1917 der November des Jahres 382

Bibliografischer Kommentar

1918 keineswegs abzusehen und die Verfasser von Tagebüchern und Erinnerungen machen daraus keinen Hehl. Polen bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. In der Einleitung haben wir die Rolle der Zensur erwähnt; diesen Gedanken greifen wir nun auf: Überall ­hatte die Geschichtsschreibung gerade einmal (wenn überhaupt) Forschungsfragen formulieren können, als in den Jahren 1938, 1939 oder 1940 ein neues Drama begann, das den Ersten Weltkrieg in den Schatten stellte. Weil die gesamte Re­ gion 1945 Teil des äußeren Imperiums der Sowjetunion wurde, trat selbst das Jahr 1918 – das bis dahin als wichtigstes Jahr des Ersten Weltkriegs, als Jahr der Unabhängigkeit oder der Wiedergeburt des Nationalstaats gefeiert wurde – hinter das Jahr 1917 zurück. Auf karikaturhafte Weise zeigte sich dies in der Militärgeschichtsschreibung der ČSSR, die sich für den Zeitraum 1914–18 fast ausschließlich mit Rekrutenaufständen befasste. Der Zweite Weltkrieg und die aufgezwungene Darstellung der Oktoberrevolution als Beginn einer neuen Epoche drängten die Forschung zum Ersten Weltkrieg an den Rand. Ähnlich wie in der Volksrepublik Polen waren Forschungen zur Politik-, Diplomatie- oder Militärgeschichte erlaubt, aber nicht sonderlich beliebt und auch nach 1989 kam kaum jemand auf das Thema zurück. Am deutlichsten ist der zugrunde liegende Mechanismus wohl in den Ländern des einstigen Jugoslawien erkennbar, wo zunächst das serbische Golgatha der Jahreswende 1915/16 und der Triumph 1918 die Balkankriege der Jahre 1912/13 aus der Erinnerung verdrängten, bevor sie später selbst hinter den Erinnerungen der Jahre 1941–1944 verschwanden, bis dann beide Weltkriegserfahrungen vom Trauma der Bürgerkriege der 1990er Jahre überlagert wurden.

IV Im Vergleich mit deutsch- und englischsprachigen Publikationen haben die nationalen Geschichtsschreibungen der Region nur einen kleinen Anteil an der Renaissance der Forschungen zum Ersten Weltkrieg. Die meisten Monografien kommen aus dem englischen, die meisten Sammelbände aus dem deutschen Sprachraum15. Die Autoren entdecken Themen, die von der traditionellen, auf Militär, Politik und Diplomatie fokussierten Geschichtsschreibung sorgfältig umgangen wurden. Zu diesen Themen gehören Frauen, Juden, Kriegsgefangene und Krankheiten. Hinsichtlich der Juden herrscht unter den Historiker Konsens: So gut wie niemand bezweifelt ihre Rolle als universeller Sündenbock, als Opfer des Zerfalls der Imperien und Gegenstand des extremen Misstrauens nationalistischer Ideologien. Unstrittig ist auch, dass infolge des kriegsbedingten 383

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Bewusstseinswandels die „Judenfrage“ nach 1918 größeres Gewicht besaß als vor 1914. Die Forschungen zur – ebenfalls Millionen Menschen umfassenden – Masse der Kriegsgefangenen laufen gerade erst an. Sie betreffen grundlegende Fragen: Zahlen, Lebensbedingungen, Erfahrungen und die Auswirkungen der Lager­ episo­de auf individuelle und kollektive Biografien. Das Schicksal der Kriegsgefangenen verbindet sich mit dem Thema Krankheiten und dem Komplex der für Soldaten wie Zivilisten gleichermaßen zentralen Fragen nach den jeweiligen staatlichen Kapazitäten zur Verwaltung von Millionen schutzbedürftiger Menschen, nach ihrer Anpassungsfähigkeit, nach dem Stand der medizinischen Versorgung oder nach dem Verhältnis zum Fremden. Paul Julian Weindling behandelt diese Fragen mit Blick auf beide Weltkriege, trennt aber klar zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg. Echte vergleichende Forschungen (etwa zu Russland und der UdSSR oder zu Bulgarien und Rumänien in beiden Kriegen) stehen noch aus. Wichtiger als komparatistische Studien scheint aus der Perspektive der beiden Regionen, mit denen wir uns in diesem Buch befassen, eine Befreiung vom Diktat der traditionellen Zäsuren. In der Einleitung war schon die Rede davon, dass der „vergessene Krieg“ keineswegs erst 1914 beginnt und 1918 endet. Das sind Grenzdaten, die nicht aus der Logik seiner Geschichte hervorgehen, sondern aus anderen Erzählungen entlehnt wurden: Das erste Datum bezieht sich auf das Ende einer langen Friedensperiode im Westen Europas, nicht aber auf dem Balkan. Das zweite Datum markiert den Beginn der Geschichte der unabhängigen Staaten, nicht aber das zeitliche Ende der Kämpfe und Zwangsumsiedlungen. Die serbischen oder bulgarischen Soldaten, die nach einer kurzen Pause wieder ins Feld zogen, werden sich keine großen Gedanken darüber gemacht haben, dass die Balkankriege hinter ihnen lagen und nun der Weltkrieg begann. Ebenso wenig wird es für die jüdischen Einwohner der galizischen Schtetl einen entscheidenden Unterschied gemacht haben, ob der aktuelle Pogrom von russischen Kosaken, den „Roten“, der polnischen Armee oder ukrainischen Truppen angezettelt wurde. Die ersten Arbeiten, die auf eine Verschiebung der zeitlichen Eingrenzung des Ersten Weltkriegs in Ostmitteleuropa hindeuten, konzentrieren sich bezeichnenderweise auf das Phänomen der Gewalt.16 Wir wären sehr erfreut, wenn unser Buch dazu beitragen könnte, diesen Ansatz auf andere Themenfelder zu übertragen.

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Verzeichnis der benutzten Literatur Quellen Presse und Periodika Czernowitzer Allgemeine Zeitung, ausgewählte Nummern Deutsche Warschauer Zeitung, ausgewählte Nummern Dziennik Zarządu Miasta Stołecznego Warszawy, 1915–16, ausgewählte Bände Humoristické Listy, ausgewählte Nummern Ilustrowany Kuryer Codzienny, ausgewählte Nummern Krytyka, ausgewählte Nummern Kurjer Lwowski, ausgewählte Nummern Kurjer Łódzki, ausgewählte Nummern Medycyna społeczna. Prace Polskiego Towarzystwa Medycyny Społecznej, aus­ gewählte Bände Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien, ausgewählte Hefte Národní Politika, ausgewählte Nummern Tygodnik Illustrowany, ausgewählte Nummern Tagebücher, Erinnerungen, Reportagen, Quelleneditionen Szymon An-Ski, Tragedia Żydow galicyjskich w czasie I wojny światowej. Wrażenia i refleksje z ­podroży po kraju, übersetzt von Krzysztof Dawid Majus, Przemyśl 2010. Bericht über die Verwaltung des Kreises Belgrad-Land in der Zeit vom 1. November 1915 bis 31. Dezember 1916, Belgrad 1917. Friedrich von Bernhardi, Vom heutigen Kriege, Berlin 1912. Berliner Leben 1914–1918. Eine historische Reportage aus Erinnerungen und Berichten, hg. v. Dieter und Ruth Glatzer, Berlin 1983. Józef Białynia Chołodecki, Lwów w czasie okupacji rosyjskiej (3 września 1914–22 czerwca 1915). Z własnych przeżyć i spostrzeżeń, Lwów 1930. Jan G. Bloch, Przyszła wojna pod względem technicznym, politycznym i ekonomicznym, hg. v. ­Grzegorz P. Bąbiak, Warszawa 2005. Franciszek Bratek-Kozłowski, Życie z bagnetem i lancetem. Wspomnienia – refleksje, Toronto 1989. Jan Borzęcki [Jan Czuj], Moskale w Tarnowie. Od 10 listopada 1914 do 6 maja 1915 roku, Tarnów 1915.

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Verzeichnis der benutzten Literatur

Vejas G. Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im ­Ersten Weltkrieg, aus dem Amerikanischen von Jürgen Bauer, Edith Nerke u. Fee Engemann, Hamburg 2002 (Neuausgabe 2018). Dimitris Livanios, „‚Conquering the Souls‘: Nationalism and Greek Guerrilla Warfare in Otto­ man Macedonia, 1904–1908“, in: Byzantine and Modern Greek Studies 23 (1999), S. 195–221. Andrzej Malinowski, Kwestia macedońska w Bułgarii w latach 1878–1918, Toruń 2006. Kati Marton, The great escape: nine Jews who fled Hitler and changed the world, New York 2006 [dt. Ausgabe: Kati Marton, Die Flucht der Genies. Neun ungarische Juden verändern die Welt. Eine literarische Reportage, aus dem Englischen von Ruth Keen, Frankfurt/Main 2010.]. Lisa Mayerhofer, Zwischen Freund und Feind – deutsche Besatzung in Rumänien 1916–1918, München 2010. Sean McMeekin, The Russian Origins of the First World War, Cambridge, MA 2011. Christoph Mick, Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt: Lemberg 1914–1947, Wie­baden 2010. Lesley Milne, „Novyi Satirikon, 1914–1918: The Patriotic Laughter of the Russian Liberal ­Intelligentsia during the First World War and the Revolution“, in: The Slavonic and East European Review, 84 (2006), 4, S. 639–665. Diana Mishkova, „Friends Turned Foes: Bulgarian National Attitudes to Neighbours“, in: Pride and Prejudice. National Stereotypes in 19th and 20th Century Europe East to West, hg. v. Lászlo Kontler, Budapest 1995. Andrej Mitrović, Serbia’s Great War 1914–1918, London 2007. Leszek Moczulski, Przerwane powstanie polskie 1914, Warszawa 2010. Jan Molenda, Chłopi, naród, niepodległość. Kształtowanie się postaw narodowych i obywatelskich chłopów w Galicji i Królestwie Polskim w przededniu odrodzenia Polski, Warszawa 1999. Musen an die Front! Schriftsteller und Künstler im Dienst der k. u. k. Kriegspropaganda 1914–1918, Bd. 1: Beiträge, München 2003. Igor’ Narskij, „Zehn Phänomene, die Russland 1917 erschütterten“, in: Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag, hg. v. Matthias Stadelmann, Lilia Antipow, Wiesbaden 2011, S. 255–272. Libor Nedorost, Češi v 1. Světové válce, Bd. 1–2, Praha 2006–07. Björn Opfer, Im Schatten des Krieges. Besatzung oder Anschluss – Befreiung oder Unterdrückung? ­Eine komparative Untersuchung über die bulgarische Herrschaft in Vardar-Makedonien 1915– 1918 und 1941–1944, Münster 2005. Urszula Oettingen, Czarkowy – na drodze do niepodległości [Czarkowy – auf dem Weg zu Unabhängigkeit], cz. 1: Boj 16–24 września 1914 r. [Die Schlacht vom 16.–24. September 1914], Kielce 2002. Hubert Orłowski, Z modernizacją w tle. Wokół rodowodu nowoczesnych niemieckich wyobrażeń o Polsce i Polakach, Poznań 2002. Jerzy Z. Pająk, Od autonomii do niepodległości. Kształtowanie się postaw politycznych i narodowych społeczeństwa Galicji w warunkach Wielkiej Wojny 1914–1918, Kielce 2012. Janusz Pajewski, „Mitteleuropa“. Studia z dziejów imperializmu niemieckiego w dobie pierwszej ­wojny światowej, Poznań 1959.

391

Anhang

Janusz Pajewski, Odbudowa państwa polskiego, Warszawa 1978. Janusz Pajewski, Pierwsza wojna światowa, Warszawa 1991. Danuta Płygawko, Polonia devastata. Polonia i Amerykanie z pomocą dla Polski (1914–1918), ­Poznań 2003. Polska w czasie wielkiej wojny (1914–1918), Bd. 2: Historia społeczna, Warszawa 1932. Tommy M. Proctor, Civilians in a World at War, 1914–1918, New York/London 2010. Alexander V. Prusin, Nationalizing a Borderland. War, Ethnicity and Anti-Jewish Violence in East Galicia, 1914–1920, Tuscaloosa 2005. Aaron B. Retish, Russia’s Peasants in Revolution and Civil War. Citizenship, Identity and the ­Creation of the Soviet State, 1914–1922, Cambridge 2008. Malte Rolf, Imperiale Herrschaft im Weichselland: Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864–1915), Berlin 2015. Jan Rydel, W służbie cesarza i króla. Generałowie i admirałowie narodowości polskiej w siłach ­zbrojnych Austro-Węgier w latach 1868–1918, Kraków 2001. Joshua A. Sanborn, Drafting the Russian Nation. Military Conscription, Total War and Mass ­Politics, De Kalb 2003. Daniela Schanes, Serbien im Ersten Weltkrieg. Feind- und Kriegsdarstellungen in österreichisch-­ ungarischen, deutschen und serbischen Selbstzeugnissen, Frankfurt/Main 2011. Tamara Scheer, „Typisch Polen: Facetten österreichisch-ungarischer Besatzungspolitik in ­Polen (1915–1918)“, in: Polnisch-österreichische Kontakte sowie Militärbündnisse 1618–1918, Wien 2009, S. 233–255. Frank M. Schuster, Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkriegs (1914–1919), Köln 2004. Ioan Scurtu, „August 1916: Starea de spirit a Romanilor“, in: Dosarele Istoriei 11/2006, Nr. 8, S. 13–19. Ivan Šedivý, Češi, české země a velká válka 1914–1918, Praha 2001. Hugh & Christopher Seton-Watson, The making of a New Europe. R. W. Seton-Watson and the Last Years of Austria-Hungary, Seattle 1981. Marcin Siadkowski, Szlachcicen. Przemiany stereotypu polskiej szlachty w Wiedniu na przełomie XIX i XX wieku, Warszawa 2011. Katarzyna Sierakowska, „‚Niech się nasi bracia, ojcowie i matki dowiedzą […], jakich se to ­wychowali bohaterów‘. Cierpienie w relacjach żołnierzy Polaków 1914–1918“, in: Zapisy cierpienia, hg. v. Katarzyna Stańczak-Wiślicz, Wrocław 2011, S. 267–282 Hugo Slim, Killing Civilians: Method, Madness, and Morality in War, New York 2008. Jan Sobociński, „Inwalidzi wojenni i wojskowi w Polsce według pochodzenia oraz przyczyn ­inwalidztwa“, in: Praca i Opieka Społeczna, 14 (1934), 3, S. 313–324. Matthew Stibbe, „Civilian Internment and Civilian Internees in Europe, 1914–1920“, in: ­Immigrants & Minorities, 26, Nr. 1/2, März/Juli 2008, S. 49–81. Melissa K. Stockdale, „‚My death for the Motherland is Happiness‘: Women, Patriotism, and Soldiering in Russia’s Great War, 1914–1917“, in: The American Historical Review, 109, Nr. 1 (Februar 2004), S. 78–116. Norman Stone, The Eastern Front 1914–1917, New York 1975. Hew Strachan, Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte, München 2004.

392

Verzeichnis der benutzten Literatur

Christian Teichmann, Krieg und Ethnizität in Warschau, 1915–1918. Das jüdische Beispiel (unveröffentlichte Magisterarbeit). Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. Ethnische Säuberungen im modernen Europa, Göttingen 2011. Maria Todorova, Imagining the Balkans, New York, Oxford 1997, überarbeitetete Ausg. 2009; dt. Ausgabe: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999. Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, hg. v. Gerhard P. Groß, Paderborn 2006. Jeffrey Verhey, The Spirit of 1914. Militarism, Myth, and Mobilization in Germany, Cambridge 2004. Vojenské dějiny Československa, Bd. 2: 1526–1918, hg. v. Zdeněk Procházka, Ján Lipták, Vladislav Rybecký, Václav Čada, Miroslav Nytra, Stanislav Mistr, Praha 1986. Syed Tanvir Wasti, „The 1912–13 Balkan Wars and the Siege of Edirne“, in: Middle Eastern Studies, 40 (2004), 4, S. 59–78. Theodore R. Weeks, „Vilnius in World War I, 1914–1920“, in: Nordost-Archiv, NF XVII/2008, S. 34–57. Rudolf von Wehrt, Tannenberg. Wie Hindenburg die Russen schlug, Berlin 1934. Paul Julian Weindling, „A Virulent Strain: German Bacteriology as Scientific Racism, 1890– 1920“, in: Race, Science and Medicine, 1700–1960, red. Waltraud Ernst, Bernard Harris, London/­New York 1999, S. 217–233. Paul Julian Weindling, Epidemics and Genocide in Eastern Europe 1890–1945, Oxford 2000. Christian Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914–1918, Paderborn u. a. 2012. Wojna i obschtschestwo w XX weke, Bd. 1, Wojna i obschtschtestwo nakanunie i w pieriod Pierwoj mirowoj wojny, hg. von W. A. Zołotariew, Moskwa 2008. Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1995. Piotr Wróbel, Zarys dziejow Żydow na ziemiach polskich w latach 1880–1918, Warszawa 1991. Seppo Zetterberg, Die Liga der Fremdvölker Russlands 1916–1918. Ein Beitrag zu Deutschlands antirussischem Propagandakrieg unter den Fremdvölkern Russlands im Ersten Weltkrieg, ­ ­Helsinki 1978. Konrad Zieliński, Żydzi Lubelszczyzny 1914–1918, Lublin 1999. Ljubov Zhvanko, Bizhentsi pershoi svitovoi viini. Ukrainskii vimir, 1914­–1918 rr., Charkiw 2010.

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Anhang

Anmerkungen Einleitung

1 Jan Sobociński, „Inwalidzi wojenni i wojskowi w Polsce według pochodzenia oraz przyczyn inwalidztwa“, in: Praca i Opieka Społeczna, 14 (1934), 3, S. 313–324, Daten nach: Katarzyna Sierakowska, „‚Niech się nasi bracia, ojcowie i matki dowiedzą […], jakich se to wychowali ­bohaterów.‘ Cierpienie w relacjach żołnierzy Polaków 1914–1918“, in: Zapisy cierpienia, hg. v. Katarzyna Stańczak-Wiślicz, Wrocław 2011, S. 267–282, hier S. 282. 2 Siehe u. a. Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, hg. v. Arnd Bauerkämper, Elise Julien, Göttingen 2010; Julia Eichenberg, „Consent, Coercion and Endurance in ­Eastern Europe: Poland and the Fluidity of War Experiences“, in: Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War, hg. v. Włodzimierz Borodziej, Jochen Böhler, Joachim von Puttkamer, München 2014, S. 235–258.

Erster Teil: Die Fronten Kapitel 1: Der Weg zum Krieg 1 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, hg. v. Adolf Frisé, Hamburg 1978, S. 32–35. 2 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 1986, S. 482–483. 3 Zitiert nach: Hugh & Christopher Seton-Watson, The Making of a New Europe. R. W. ­Seton-Watson and the Last Years of Austria-Hungary, Seattle 1981, S. 69. 4 Andrzej Chwalba, Historia Polski 1795–1918, Kraków 2000, S. 65. 5 Peter Gatrell, „Poor Russia, Poor Show: mobilising a backward economy for war, 1914– 1917“, in: The Economics of World War I, hg. v. Stephen Broadberry, Mark Harrison, Cambridge 2005, S. 235–275, hier S. 242. 6 Rede von Helmuth von Moltke im Deutschen Reichstag, 14. Mai 1890, Reichstagsprotokolle 1899/92,1. 7 Johann von Bloch, Der Krieg. Uebersetzung des russischen Werkes des Autors: Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung, 6 Bde., Berlin 1899. 8 Die Festung Warschau wurde 1909 aufgelöst. 1913 begann man mit ihrem Wiederaufbau. In den 1890er Jahren glaubt Bloch, die Stadt sei Teil des russischen Fortifikationssystems an der Weichsel, was ihm ernste Sorgen machte. 9 Friedrich von Bernhardi, Vom heutigen Kriege, Bd. 1, Berlin 1912, S. 13. 10 A[leksei] Kuropatkin, The Russian Army and the Japanese War, Bd. 2, London 1909, S. 80. 11 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Bd. 295, Berlin 1914, S. 8853. 12 Zitiert nach: Wolfram Dornik, Des Kaisers Falke. Wirken und Nach-Wirken von Franz Conrad von Hötzendorf, Innsbruck 2013, S. 67. 13 Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München 2013.

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Anmerkungen

14 Alexander  V. Prusin, Nationalizing a Borderland. War, Ethnicity and Anti-Jewish Violence in East Galicia, 1914–1920, Tuscaloosa 2005, S. 13. Kapitel 2: Präludium – der Balkan 1912–1913 1 Dimitris Livanios, „‚Conquering the Souls‘: Nationalism and Greek Guerrilla Warfare in ­Ottoman Macedonia, 1904–1908“, in: Byzantine and Modern Greek Studies 23 (1999), S. 195–221. Ausführlicher siehe: Mark Bondich, The Balkans. Revolution, War and Political Vio­ lence since 1878, Oxford 2011. 2 Krste Petkov Misirkov, On Macedonian Matters, übers. u. bearb. v. Nikola Iordanovski, in: Discourses of Collective Identity in Central and Southeast Europe (1770–1945): Texts and Commentaries, Bd. III/2: Modernism: Representation of National Cultures, hg. v. Ahmet Ersoy, Maciej ­Górny, Vangelis Kechriotis, Budapest/New York 2010, S. 351–356, hier S. 355. 3 Alfred Meyer, Der Balkankrieg 1912/13 unter Benutzung zuverlässiger Quellen kulturgeschichtlich und militärisch dargestellt, Bd. 1, Berlin 1913, S. 27 f. (Hervorhebungen im Original – A. d. Ü.). 4 G[ustav] von Hochwächter, Mit den Türken in der Front im Stabe Mahmud Michtar Paschas. Mein Kriegstagebuch über die Kämpfe bei Kirk Kilisse, Lüle Burgas und Cataldza, Berlin 1913, S. 3. 5 Ebd., S. 25 u. 28. 6 Mahmud Mukhtar Pascha, Meine Führung im Balkankriege, mit Erlaubnis des Verfassers übersetzt von Imhoff Pascha, Berlin 1913, S. 38. 7 G. Hochwächter, op. cit., S. 103. 8 Halidé Edib, Memoirs of Halidé Edib, London 1926, S. 334, hier zitiert nach: Halide Edib ­Adıvar, Mein Weg durchs Feuer. Erinnerungen, aus dem Türkischen und Englischen von Ute Birgi-­ Knellesen, Zürich 2010. 9 Józef Lipkowski, Wojna na Bałkanach przez naocznego świadka i uczestnika wojny, Warszawa [o. D.], S. 130 f., zitiert nach: Andrzej Malinowski, Kwestia macedońska w Bułgarii w latach 1878– 1918, Toruń 2006, S. 138 f. 10 Kyriaki Doukelli, Geschichte Makedoniens und Thrakiens von den Balkankriegen bis zum Ersten Weltkrieg. Außenpolitische Ereignisse und ihre innenpolitischen Rückwirkungen, Dissertation, Universität Mannheim 2008, S. 254. 11 Syed Tanvir Wasti, „The 1912–13 Balkan Wars and the Siege of Edirne“, in: Middle Eastern Studies, 40 (2004), 4, S. 59–78, hier S. 68. 12 Ștefan Zeletin, The National Charakter of Donkeys, bearb. v. Marius Turda, übers. v. Mária Kovács, in: Discourses of Collective Identity in Central and Southeast Europe (1770–1945): Texts and Commentaries, Bd. III/2: Modernism …, S. 198–205, hier S. 203–204. 13 The Other Balkan Wars: A 1913 Carnegie Endowment Inquire in Retrospect, hg. v. George F. Kennan, Washington, DC, 1993, S. 56. 14 Mir, 19. Juni 1913, zitiert nach: Diana Mishkova, „Friends Turned Foes: Bulgarian National Attitudes to Neighbours“, in: Pride and Prejudice. National Stereotypes in 19th and 20th Century Europe East to West, hg. v. Lászlo Kontler, Budapest 1995, S. 167. 15 Zitiert nach: [Friedrich] Immanuel, Der Balkankrieg 1912/1913, Heft 5, Berlin 1914, S. 38 f. 16 Vgl. dazu Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. Ethnische Säuberungen im ­modernen Europa, Göttingen 2011, S. 72–74.

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Anhang

1 7 Jan Baudouin de Courtenay, „Bracia Słowianie“, in: Krytyka IX–X, 1913, S. 94–103 u. 147– 160. 18 [Friedrich] Immanuel, op. cit., Heft 4, Berlin 1913, S. 79. 19 Philipp Ther, op. cit., S. 126. 20 Ömer Seyfeddin, Primo, the Turkish Child, bearb. u. übers. v. Ahmet Ersoy, in: Discourses …, Bd. III/2, S. 190–197, hier S. 197. Kapitel 3: Ehe noch die Blätter fallen … 1 Franciszek-Bratek-Kozłowski, życie z bagnetem i lancetem. Wspomnienia – refleksje, Toronto 1989, S. 14. 2 Hermann Stegemann, Geschichte des Krieges, Bd. 1, Stuttgart/Berlin 1917, S. 272. 3 Martin Schmitz, „Tapfer, zäh und schlecht geführt. Kriegserfahrungen österreichisch-­ ungarischer Offiziere mit den russischen Gegnern 1914–1917“, in: Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten. Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext, hg. v. Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik, Innsbruck 2013, S. 45–63, hier S. 54. 4 Zitiert nach: Daniela Schanes, Serbien im Ersten Weltkrieg. Feind- und Kriegsdarstellungen in österreichisch-ungarischen, deutschen und serbischen Selbstzeugnissen, Frankfurt am Main 2011, S. 121. 5 Rudolf von Wehrt, Tannenberg. Wie Hindenburg die Russen schlug, Berlin 1934, S. 272. 6 Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914–1918, Berlin 1926 (9. Aufl.), S. 44–45. 7 Stanisław Kawczak, Milknące echa. Wspomnienia z wojny 1914–1920, Warszawa 1991, S. 33, 35, 40. 8 Zitiert nach: Urszuła Oettingen, Czarkowy – na drodze do niepodległości, Teil 1: Bój 16–24 ­września 1914r., Kielce 2002, S. 100. 9 Dziennik dr. Ryszarda Łączyńskiego, zitiert nach: ebd., S. 148. 10 Jan Dąbrowski, Dziennik 1914–1918, hg. v. Jerzy Zdrada, Elżbieta Dąbrowska, Kraków 1977, S. 39. 11 Stanisław Kawczak, op. Cit., S. 42. 12 Jan Rydel, W służbie cesarza i króla. Generałowie i admirałowie narodowości polskiej w siłach zbrojnych Austro-Węgier w latach 1868–1918, Kraków 2001, S. 81–85, hier S. 85. 13 Gerhard Velburg, Rumänische Etappe. Der Weltkrieg, wie ich ihn sah, Minden u. a. 1930, S. 126. 14 Józef Piłsudski, Moje pierwsze boje, Łódź 1988, S. 60. 15 Sławoj Felicjan Składkowski, Moja służba w Brygadzie. Pamiętnik polowy, Warszawa 1990, S. 33 f. 16 Zitiert nach: Ferenc Pollmann, „Die Ostfront des ‚Großen Krieges‘ – aus ungarischer Perspektive“, in: Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext, hg. v. Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik, Innsbruck 2013, S. 87–104, hier S. 103 f. 17 Jan Dąbrowski, op. cit., S. 46. 18 Perceval Gibbon, „Hurricane of Fire in Bolimow Battle“, in: The New York Times, 12. ­Februar 1915. 19 Adolf Wild von Hohenborn, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des preußischen Generals als Kriegsminister und Truppenführer im Ersten Weltkrieg, hg. v. Helmut Reichold, Boppard am Rhein 1986, S. 167. 20 Alfred Knox, op. cit., S. 267.

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Anmerkungen

21 Harry  L. Gilchrist, A Comparative Study of World War Casualties from Gas and Other W ­ eapons, Edgewood 1928, S. 6–7. 22 Zitiert nach: Juliusz Bator, Wojna galicyjska. Działania armii austro-węgierskiej na froncie północnym (galicyjskim) w latach 1914–1915, Kraków 2005, S. 165–166. 23 Harry Graf Kessler, Brief an Gustav Richter vom 1. Februar 1915, zitiert nach: Harry Graf Kessler, Das Tagebuch. Fünfter Band. 1914–1916, hg. v. Günter Riederer und Ulrich Ott unter Mitarbeit von Christoph Hilse und Janna Brechmacher, Stuttgart 2008, S. 13. 24 Harry Graf Kessler, Das Tagebuch. Fünfter Band. 1914–1916, hg. v. Günter Riederer und ­Ulrich Ott unter Mitarbeit von Christoph Hilse und Janna Brechmacher, Stuttgart 2008, S. 238. 25 Bericht von Eduard Zanantoni, zitiert nach: Daniela Schanes, op. cit., S. 163 f. 26 Daniela Schanes, op. cit., S. 117. 27 Jaroslav Hašek, Die Abenteuer des guten Soldaten švejk im Weltkrieg, Übersetzung aus dem Tschechischen, Kommentar und Nachwort von Antonín Brousek, Stuttgart 2014, S. 451–453. 28 Wolfram Dornik, „‚Ganz in den Rahmen dieses Bildes hinein passt auch die Bevölkerung‘. Raumerfahrung und Raumwahrnehmung von österreichisch-ungarischen Soldaten an der Ostfront des Ersten Weltkriegs“, in: Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext, hg. v. Bernhard Blachinger, Wolfram Dornik, Innsbruck 2013, S. 27–43, hier S. 33. 29 Eugeniusz Romer, Dziennik 1914–1918, Bd. 1, Warszawa 1995, S. 49. 30 Ebd., S.  142. 31 Stanisław Kawczak, op. cit., S. 61. 3 2 „Die Russen plünderten Polen. / Wohin auch immer wir kommen, / Vernehmen wir stets nur das eine: / Die Russen haben’s genommen! // Grüß Gott! Rief ich aus der Ferne / Den ­Bauern zu, den frommen. / Drauf sie: Hier gibt’s nichts mehr zu erben – / Die Russen haben’s genommen! // Will ich von einem was kaufen – / Noch eh’ er die Frage vernommen, / Lässt er eilig verlauten: / Die Russen haben’s genommen! // Einmal standen da Mädchen, / Wir fragten keck, unbeklommen: / He, habt ihr keine Kränze?! / Die haben die Russen genommen! // Ach, unglückliches Polen, / Könnte es schlimmer kommen? / Alles, was einst du besessen, / Haben die Russen genommen“ (Legionär Filipowicz, Wiersz z wojny 1915–16 roku. Moskale zabrali ­[Gedicht aus dem Krieg 1915–16. Das haben die Russen genommen], Kraków 1916. 33 Stanisław Kawczak, op. cit., S. 45. 34 Stanisław Kawczak, op. cit., S. 45. 3 5 Stanisław Czerep, II Brygada Legionów Polskich, Warszawa 1991, S. 50. 36 Wincenty Solek, Pamiętnik Legionisty, hg. v. Wiesław Budzyński, Warszawa 1988, S. 58. 37 Sławoj Felicjan Składkowski, op. cit., S. 35. 38 Alexander Victor Prusin, Nationalizing a Borderland: War, Ethnicity, and Anti-Jewish Violence in East Galicia, 1914–1920, Tuscaloosa 2005, S. 27. 39 Zitiert nach: Martin Schmitz, op. cit., S. 49. 40 Zitiert nach: ebd. 41 Max Ronge, Kriegs- und Industriespionage. Zwölf Jahre Kundschaftsdienst, Wien 1930, S. 112. 42 Jonathan  E. Gumz, The Resurrection and Collapse of Empire in Habsburg Serbia, 1914–1918, Cambridge 2009, S. 53–58, hier S. 58; Mark Biondich, The Balkans: Revolution, War and Political Violence since 1878, Oxford 2011, S. 86.

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Anhang

3 Die ist möglicherweise etwas zu hoch angesetzt, sicher ist aber, dass mindestens 6000 Ge4 fangene Thalerhof durchliefen. Sicher ist auch, dass rund ein Drittel der Häftlinge ums Leben kam, hauptsächlich infolge einer Epidemie in den Jahren 1914–15. 44 Sławoj Felicjan Składkowski, op. cit., S. 51. 45 Zit. nach Hannes Leidinger, „‚Der Einzug des Galgens und des Mordes‘. Die parlamentarischen Stellungnahmen polnischer und ruthenischer Reichsratsabgeordneter zu den Massenhinrichtungen in Galizien 1914/15“, in: zeitgeschichte 34 (2006), 5, S. 235–260, hier S. 248. 46 Die jüngste, umfangreiche und detaillierte Darstellung der Ereignisse in Kalisz lieferte ­Laura Engelstein, „‚A Belgium of Our Own‘: The Sack of Russian Kalisz, August 1914“, in: ­Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History, 10, 3 (2009), S. 441–473. 47 Sławoj Felicjan Składkowski, op. cit., S. 33. 48 Ebd., S.  362–363. 49 Sigmund Freud, Sándor Ferenczi, Briefwechsel, Bd.2/1: 1914–1916, S. 125 f. 50 Hellmut von Gerlach, Die große Zeit der Lüge. Der Erste Weltkrieg und die deutsche Mentalität (1871–1921), hg. v. H. Donat, A. Wild, Bremen 1994, S. 73 f. 5 1 Sławoj Felicjan Składkowski, op. cit., S. 154. 5 2 Jaroslav Hašek, op. cit., S. 73–74. 53 Viktor Gonda, „A háború okozta ‚traumás neurosis‘ tüneteinek gyors gyógyitása“, in: ­Orvosi Hétilap 33, 13. August 1916, dass. in Wiener Klinische Wochenschrift 29 (1916), S. 951. 54 Julius Wagner v. Jauregg, „Erfahrungen über Kriegsneurosen“, Wien 1917 (Sonderdruck aus: Wiener Medizinische Wochenschrift), S. 16. 55 Ebd., S.  18. 56 Hugh & Christopher Seton-Watson, op. cit., S. 113. 57 Sławoj Felicjan Składkowski, op. cit., S. 84. 58 Wincenty Solek, op. cit., S. 103. 59 Sławoj Felicjan Składkowski, op. cit., S. 88. 60 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, Frankfurt/Main 1986, S. 151. 61 Ebd., S.  685. 62 Wincenty Solek, op. cit., S. 100. 63 Sławoj Felicjan Składkowski, op. cit., S. 113. 64 Ilka von Michaelsburg (Pseud. Ilka Künigl-Ehrenburg): Im belagerten Przemyśl. Tagebuchblätter aus großer Zeit, Leipzig 1915, S. 63 f. 65 Zitiert nach: Juliusz Bator, op. cit., S. 197. 66 Jan Vit, Wspomnienia z mojego pobytu w Przemyślu podczas rosyjskiego oblężenia 1914–1915, hg. v. Stanisław Stępień, ins Polnische übersetzt von Ladislav Hofbauer, Jerzy Husar, Przemyśl 1995, S. 53. 67 Helena z Seifertów Jabłońska, Dziennik z oblężonego Przemyśla 1914–1915, hg. v. Hanna Imbs, Przemyśl 1994, S. 112. 6 8 Ilka von Michaelsburg, op. cit., S. 84. 69 Helena z Seifertów Jabłońska, op. cit., S. 143. 70 Zitiert nach: Antoni Kroh, O Szwejku i o nas, Nowy Sącz 1992, S. 91.

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Anmerkungen

1 Jan Vit, op. cit., S. 84. 7 72 Helena z Seifertów Jabłońska, op. cit., S. 139. 73 Antoni Kroh, op. cit., S. 38 f. 74 Wincenty Solek, op. cit., S. 114. 75 Zitiert nach: Richard Lein, Pflichterfüllung oder Hochverrat? Die tschechischen Soldaten Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg, Wien u. a. [2011], S. 159. Lein weist überzeugend nach, dass sowohl für einen Verrat des 28. Regiments als auch für die noch bekanntere „Desertion“ von Tschechen vor Zboriv zwei Jahre später keine Beweise vorliegen. 76 Alfred Knox, With the Russian Army 1914–1917, Bd. 1, London 1921, S. 349. 77 Zitiert nach: Martin Schmitz, op. cit., S. 57. 78 X. Bronisław Świeykowski, Z dni grozy w Gorlicach. Od 25 IX 1914 do 2 V 1915, Kraków 1919, S. 123–126. 79 Helena z Seifertów Jabłońska, op. cit., S. 222. 80 Zitiert nach Gerhard P. Groß, „Im Schatten des Westens“, in: ders. (Hg.), Die vergessene Front …, S. 61. 81 Aleksander Kraushar, Warszawa podczas okupacji niemieckiej 1915–1918, Lwów 1921, S. 7. 82 Alfred Knox, op. cit., S. 38. 83 Teraz będzie Polska. Wybór z pamiętników z okresu I wojny światowej, hg. v. Andrzej Rosner, Warszawa 1988, S. 208–228, hier S. 209. 84 Sławoj Felicjan Składkowski, op. cit., S. 183. 8 5 Stanisław Dzierzbicki, Pamiętnik z lat wojny 1915–1918, hg. v. Janusz Pajewski, Danuta ­Płygawko, Warszawa 1983, S. 55. 86 Wincenty Solek, op. cit., S. 140. 87 Dragiša Lapčević, Okupacjia, Beograd 1926, S. 32, 35; zitiert nach: Andrej Mitrović, op. cit., S. 146. 88 Max Ronge, op. cit., S. 119. 89 Wilhelm Hegeler, Der Siegeszug durch Serbien, Berlin 1916, S. 72–73. 90 Zitate nach Gorgolini, Kriegsgefangenschaft auf Asinara, S. 72 f., 77. Zur anfangs offenbar mehr als anständigen Behandlung der Offiziere siehe auch Schanes, Serbien im Ersten Weltkrieg, S. 209–212. 91 Ebd., S.  78. 92 Andrej Mitrović, op. cit., S. 154. 93 Patrick Facon, „Le soldat français d’Orient face à la maladie“, in: The Salonica Theatre of Operations and the Outcome of the Great War, Thessaloniki 2005, S. 223–235, hier S. 228. 94 August von Cramon, Unser österreichisch-ungarischer Bundesgenosse im Weltkriege. Erinnerungen aus meiner vierjährigen Tätigkeit als bevollmächtigter deutscher General beim k. u. k. Armeeoberkommando, Berlin 1920, S. 15. 95 Sven Hedin, Nach Osten!, Leipzig 1916, S. 510–511. Kapitel 4: Ermattung 1 Bericht von Marian Kukiel, zitiert nach: Stanisław Czerep, op. cit., S. 145. 2 Zitiert nach: August Krasicki, op. cit., S. 462.

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Anhang

3 Roman Starzyński, Cztery lata w służbie komendanta. Przeżycia wojenne 1914–1919, o. O. 2012, S. 305 f. 4 Sławoj Felicjan Składkowski, op. cit., S. 357. 5 Eleftherios Wenizelos, „The Program of His Foreign Policy“, bearbeitet von Vangelis Kechriotis, übersetzt von Mary Kitroeff, in: Modernism: The Creation of Nation-States, hg. v. Ahmet Ersoy, Maciej Górny, Vangelis Kechriotis, Budapest/New York 2010, S. 258–266, hier S. 266. 6 Ioan Scurtu, August 1916: Starea de spirit a românilor, „Dosarele Istoriei“ 11/2006, Nr. 8, S. 13–19, hier S. 18. 7 Generalfeldmarschall von Hindenburg, Aus meinem Leben, Leipzig 1920, S. 181 f. 8 Zitate nach: Oliver Stein, „‚Wer das nicht mitgemacht hat, glaubt es nicht.‘ Erfahrungen deutscher Offiziere mit dem bulgarischen Verbündeten 1915–1918“, in: Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung, hg. v. Jürgen Angelow, Berlin 2011, S. 271–287, hier S. 276, 278. 9 Stefan Minkov, „Der Status der Nord-Dobrudscha im Kontext des deutsch-bulgarischen Verhältnisses im Ersten Weltkrieg“, in: Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan …, S. 241–255, hier S. 249. 10 Dorothy Kennard, A Roumanian Diary 1915, 1916, 1917, New York 1918, S. 54–55. 11 Ebd., S.  92–94. 12 Aleksander Majkowski, Pamiętnik z wojny europejskiej roku 1914, hg. v. Tadeusz Linkner, ­Wejherowo/Pelplin 2000, S. 296 f. 13 Zit. nach Raymund Netzhammer, Bischof in Rumänien. Im Spannungsfeld zwischen Staat und Vatikan, Bd. I, München 1995, S. 698, Eintrag vom 16. Dezember 1916. 14 Zitiert nach: Lisa Mayerhofer, Zwischen Freund und Feind – deutsche Besatzung in Rumänien 1916–1918, München 2010, S. 227. 15 Matthew Stibbe, „Civilian Internment and Civilian Internees in Europe, 1914–1920“, in: ­Immigrants & Minorities, 26 (2008), 1–2, S. 49–81, hier S. 63. 16 Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Subventionen der math.-nat. Klasse 1914–1919 – Karton 6, 411/1915, Ansuchen um eine Subvention von K 4000 für anthropologische Untersuchungen in den russischen Gefangenenlagern, 24 VI 1915. 17 Roman Dyboski, Siedem lat w Rosji i na Syberii (1915–1921). Przygody i wrażenia, hg. v. ­Tomasz Bohun, Warszawa 2007, S. 81.

Zweiter Teil: Das Hinterland Kapitel 1: Das Hinterland oder Im Rücken der Front 1 Hellmut von Gerlach, op. cit., S. 38. 2 Czesław Jankowski, Z dnia na dzień. Warszawa 1914–1915 Wilno, Wilna 1923, S. 29. 3 Kati Marton, The Great Escape: Nine Jews Who Fled Hitler and Changed the World, New York 2006, zit. nach der dt. Ausgabe: Kati Marton, Die Flucht der Genies. Neun ungarische Juden ver­ ändern die Welt. Eine literarische Reportage, aus dem Englischen von Ruth Keen, Frankfurt/Main 2010, S. 53. 4 Erinnerung von Léo Szilard, zitiert nach ebd., S. 60. 5 Berliner Leben …, S. 54. 6 August Krasicki, op. cit., S. 38.

400

Anmerkungen

7 Helena z Seifertów Jabłońska, op. cit., S. 36. 8 Ebd. 9 Max Ronge, op. cit., S. 109. 10 Karl Kraus, op. cit., S. 85. 11 Z. Dębicki, Wojna!, Tygodnik Illustrowany 32 (8. August 1914). 12 Kurjer Lwowski, 17. Oktober 1916. 13 Holger  H. Herwig, The First World War. Germany and Austria-Hungary 1914–1918, London 1996, Kapitel 7, hier S. 289. 14 József Galántai, op. cit., S. 191. 15 Ilustrowany Kuryer Codzienny, 16. November 1915. 16 Maureen Healy, op. cit., S. 10, 40 und 64. 17 Alfred von Hedenström, op. cit., S. 110, 118. 18 Ilustrowany Kuryer Codzienny, 7. Oktober 1915. 19 Ilustrowany Kuryer Codzienny vom 1. und 6. September 1915. 20 Eugeniusz Romer, op. cit., S. 284. 21 Zitiert nach: Dieter und Ruth Glatzer, op. cit., S. 161–162. 22 Zitiert nach: ebd., S. 265. 23 Reinhard Siedler, „Behind the Lines: Working Class Family Life in Wartime Vienna“, in: The Upheaval of War: Family, Work and Welfare in Europe, 1914–1918, hg. v. Richard Wall, Jay Winter, Cambridge 1988, S. 109–138, hier S. 126. 24 Cezary Jellenta, Wielki zmierzch. Pamiętnik [Die große Dämmerung. Erinnerungen], Warszawa 1985, S. 231. 25 Tammy  M. Proctor, Civilians in a World at War, 1914–1918, New York/London 2010, S. 93. 26 S. W. Tjutjukin, „Rossija – ot Welikoj wojny k welikoj rewolucii“, in: Wojna i obschtschestwo w XX weke, Bd. 1: Wojna i obschtschestwo nakanunie i w period Pierwoj mirowoj wojny, hg. v. W. A. Zołotariew, Moskwa 2008, S. 120–160, hier S. 138–140. 27 Tammy M. Proctor, op. cit., S. 163. 28 Eugeniusz Romer, op. cit., S. 321. 29 Ilustrowany Kuryer Codzienny, 23. Juni 1915. 30 Rudolf Kučera, „Losing Manliness. Bohemian Workers and the Experience of the Home Front“, Referat im Rahmen der ASEEES-Tagung 2012, S. 8–12. 31 Zitiert nach: Jan Molenda, Chłopi, naród, niepodległość. Kształtowanie się postaw narodowych i obywatelskich chłopów w Galicji i Królestwie Polskim w przededniu odrodzenia Polski, Warszawa 1999, S. 294. 3 2 Fritz Giese, Die Idee einer Frauendienstpflicht. Tatsachen und Möglichkeiten, Langensalza 1916, S. 14. 33 Zitiert nach: Maria Bucur, „Between the Mother of the Wounded and the Virgin of Jiu: ­Romanian Women and the Gender of Heroism during the Great War“, in Journal of ­Women’s History 12 (2000), 2, S. 30–56, hier S. 47. 34 Alfred von Hedenström, op. cit., S. 21, 76 und 86. 3 5 Ilustrowany Kuryer Codzienny, 3. Oktober 1915. 36 Arnold  J. Toynbee, Armenian Atrocities: The Murder of a Nation, London 1915, S. 46, 50, 52 f. 37 Sean McMeekin, The Russian Origins of the First World War, Cambridge, MA 2011, S. 172.

401

Anhang

38 Ilustrowany Kuryer Codzienny, 15. August 1915. 3 9 Alfred von Hedenström, op. cit., S. 79. 40 Zitiert nach: „Zweite Vollversammlung der christlichsozialen Mandatare Wiens“, in: Konvolut Materialien zum 1. Weltkrieg (Kundmachungen, Erlässe, Drucksorten, Flugblätter, Rundschreiben etc.), Wien 1914–1919, S. 3. 41 Polska w czasie wielkiej wojny (1914–1918), Bd. 2: Historia społeczna, Warszawa 1932, S. 18–21. Die Reihe erschien im Rahmen der Publikationstätigkeit des Carnegie Endowment for International Peace. 42 Dziennik Zarządu Miasta Stołecznego Warszawy, 1. August 1915. 43 J. N. Nowikowa, „Welikoje kniazhestwo Finlandskoje w gody Pjerwoj mirowoj wojny: ot ­awtonomii k niezawisimosti“, in: Wojna i obschtschestwo w XX weke, op. cit., S. 186–231. 44 Kurjer Lwowski, 27. Juni 1915. 45 Zitiert nach: Rudolf Kučera, op. cit., S. 5. 46 Ilustrowany Kuryer Codzienny, 23. Juni 1915. 47 Ilustrowany Kuryer Codzienny, 13. August 1915. 48 Kurjer Łódzki, 14. September 1917. 49 Joseph Held, „Culture in Hungary during World War I“, in: European Culture in the Great War. The Arts, Entertainment and Propaganda, 1914–1918, hg. v. Aviel Roshwald, Richard Stites, Cambridge 1999, S. 176–192, hier S. 177–181. 50 Igor’ Narskij, „Zehn Phänomene, die Russland 1917 erschütterten“, in: Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag, hg. v. Matthias Stadelmann, Lilia Antipow, Wiesbaden 2011, S. 255–272, hier S. 256. 5 1 Ilustrowany Kuryer Codzienny vom 2. Januar 1918. Kapitel 2: Informationshunger 1 Józef Rokoszny, op. cit., Bd. 2, S. 26. 2 Aleksander Majkowski, op. cit., S. 67. 3 Ebd., S. 157. 4 Joseph Held, „Culture in Hungary during World War I“, in: European Culture in the Great War, S. 176–192, hier S. 186–190. 5 Zitiert nach: Lesley Milne, „Novyi Satirikon, 1914–1918: The Patriotic Laughter of the Russian Liberal Intelligentsia during the First World War and the Revolution“, in: The Slavonic and East European Review, 84 (2006), 4, S. 639–665, hier S. 648. 6 Humoristické Listy 59 (1916), 2, S. 19. 7 Józef Rokoszny, op. cit., Bd. 2, S. 219. 8 Józef Białynia Chołodecki, Lwów w czasie okupacji rosyjskiej (3 września 1914–22 czerwca 1915). Z własnych przeżyć i spostrzeżeń, Lwów 1930, S. 89 f. 9 Cezary Jellenta, op. cit., S. 87–97. 10 Zitiert nach: Teraz będzie Polska …, S. 184–191, hier S. 190. 11 Stanisław Dzierzbicki, op. cit., S. 63. 12 Wilhelm Hegeler, op. cit., S. 29. 13 Helena z Seifertów Jabłońska, op. cit., S. 44. 14 August Krasicki, op. cit., S. 28.

402

Anmerkungen

15 Helena z Seifertów Jabłońska, op. cit., S. 48 f. 1 6 Ferenc Pollmann, op. cit., S. 97. 17 Tygodnik Illustrowany, 8. August 1914. 18 Zitiert nach: Berliner Leben 1914–1918 …, S. 42. 19 Tygodnik Illustrowany, 8. August 1914. 20 Cezary Jellenta, op. cit., S. 105. 21 Roda Roda, „Im k. u. k. Kriegspressequartier“, in: Neue Freie Presse, 31. August 1914, S. 3; zitiert nach: Jozo Džambo, „Armis et litteris – Kriegsberichterstattung, Kriegspropaganda und Kriegsdokumentation in der k. u. k. Armee 1914–1918“, in: Musen an die Front! Schriftsteller und Künstler im Dienst der k. u. k. Kriegspropaganda 1914–1918, Bd. 1: Beiträge, München 2003, S. 10–38, hier S. 13. 22 Czernowitzer Allgemeine Zeitung, 30. August 1914. 23 Jozo Džambo, op. cit., S. 14. 24 Jaroslav Hašek, op. cit., S. 580. 25 Anton Holzer, Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg, Darmstadt 2007 (2. Aufl.), S. 205. 26 Maria Bucur, „Romania: War, Occupation, Liberation“, in: European Culture …, S. 243–266, hier S. 249–251. Kapitel 3: Loyalitäten 1 Oscar Schmitz, „Die Wiedergeburt durch den Krieg“, in: Der Tag, 9. August 1914. Zitiert nach: Schmitz, Oskar Adolf Hermann, Das wirkliche Deutschland. Die Wiedergeburt durch den Krieg, 2. Aufl., München 1915, S. 6 f. 2 Ilka Künigl-Ehrenburg, op. cit., S. 2 f. 3 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt am Main 1992, S. 275. 4 Jeffrey Verhey, op. cit., S. 35 f. 5 „Manifestace v Hradci Králové“, in: Národní Politika, 4. August 1914. 6 Franz Kafka, Tagebücher 1910–1923, Frankfurt/Main 1983, S. 306. 7 Jan Galandauer, „Kriegsbegeisterung in Prag“, in: Magister noster. Sborník statí věnovaných in memoriam prof. PhDr. Janu Havránkovi, CSc., Praha 2005, S. 327–333. 8 Zitiert nach: Leszek Moczulski, Przerwane powstanie polskie 1914, Warszawa 2010, S. 395 f. 9 Czesław Jankowski, Z dnia na dzień. Warszawa 1914–1915 Wilno, Wilno 1923, S. 7. 10 „Österreich-Ungarn unter Waffen“, in Die Welt, Nr. 31 (31. Juli 1914), S. 794. 11 Aleksander Majkowski, op. cit., S. 60. 12 Kardinal Aleksander Kakowski, Z niewoli do niepodległości. Pamiętniki, hg. v. Tadeusz ­Krawczak, Ryszard Świętek, Kraków 2000, S. 123. 13 Sławoj Felicjan Składkowski, op. cit., S. 25. 14 Zitiert nach: Marek Przeniosło, „Postawy chłopów Królestwa Polskiego wobec okupanta niemieckiego i austriackiego (1914–1918)“, in: Lata Wielkiej Wojny. Dojrzewanie do niepodległości 1914–1918, hg. v. Daniel Grinberg, Jan Snopko, Grzegorz Zachiewicz, Białystok 2007, S. 198– 214, hier S. 200. 15 Józef Rokoszny, op. cit., S. 85.

403

Anhang

16 Zitiert nach: Raporty i korespondencja oficerów werbunkowych Departamentu Wojskowego Naczelnego Komitetu Narodowego 1915–1916. Ziemia Kielecka, hg. v. Jerzy Z. Pająk, Kielce 2007, S. 173. 17 Eugeniusz Romer, op. cit., S. 79. 18 Andrej Mitrović, Serbia’s Great War 1914–1918, London 2007, S. 67. 19 S. W. Tjutjukin, op. cit., S. 120–160, hier S. 130–131. 20 Unveröffentlichte Erinnerungen von Georg Kassler, zitiert nach: Berliner Leben 1914–1918 …, S. 56. 21 Vojenské dějiny Československa, Bd. 2: 1526–1918, hg. v. Zdeněk Procházka, Ján Lipták, Vladislav Rybecký, Václav Čada, Miroslav Nytra, Stanislav Mistr, Praha 1986, S. 496. 22 Ivan Šedivý, Češi, české země a velká válka 1914–1918, Praha 2001, S. 166. 23 Friedrich von Friedeburg, Karpathen- und Dniester-Schlacht 1915, Oldenburg/Berlin 1924, S. 56. 24 Jaroslav Hašek, op. cit., S. 859. 25 Helena z Seifertów Jabłońska, op. cit., S. 43. 26 „Präsidium des Allg. Ukr. N-rates an das k. u. k. AOK: Denkschrift über die Verhaftungen und Hinrichtungen zahlreicher österreichischer Ukrainer auf Grund bewußt falscher Informationen, Wien, 18 VI 1915“, in: Ereignisse in der Ukraine 1914–1922, deren Bedeutung und historische Hintergründe, hg. v. Theophil Hornykiewicz, Bd. 1, Philadelphia 1966, S. 26–39, hier S. 30. 27 Christoph Mick, Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt: Lemberg 1914–1917, Wiesbaden 2010, S. 129. 28 Józef Piłsudski, op. cit., S. 46. 29 Max Ronge, op. cit., S. 91. 30 Zitiert nach: Max Ronge, op. cit., S. 82. 3 1 Józef Rokoszny, op. cit., Bd. 1, S. 146. 3 2 Karol Rose, Wspomnienia berlińskie, Warszawa 1932, S. 56–58. 33 Józef Rokoszny, op. cit., Bd. 1, S. 40. 34 Zitiert nach: Aleksander Achmatowicz, Polityka Rosji w kwestii polskiej w pierwszym roku Wielkiej Wojny 1914–1915, Warszawa 2003, S. 171. 3 5 Ebd., S.  357. 36 Max Ronge, op. cit., S. 101. 3 7 Wincenty Solek, op. cit., S. 23.

Dritter Teil: Die Besatzung Kapitel 1: Im ersten Moment 1 Hugo Slim, Killing Civilians: Method, Madness, and Morality in War, New York 2008, S. 39. 2 Wincenty Witos, Moje wspomnienia, Bd. 2, Paris 1964, S. 7. 3 Harry Graf Kessler, op. cit., S. 147. 4 Józef Rokoszny, op. cit., S. 170 und passim. 5 Harry Graf Kessler, op. cit., S. 374. 6 Kardinal Aleksander Kakowski, op. cit., S. 248 f. 7 Zitiert nach: Peter Englund, Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs erzählt in neunzehn Schicksalen, aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt, Bonn 2012, S. 40. 8 Józef Białynia Chołodecki, op. cit., S. 35 f.

404

Anmerkungen

9 Zitiert nach: „Opuścili posterunek“, in: Ilustrowany Kuryer Codzienny, 25. September 1915. 10 Stanisław Dzierzbicki, op. cit., S. 55. 11 Siehe Józef Białynia Chołodecki, op. cit., S. 41; Józef Rokoszny, op. cit., Bd. 1, S. 7 f. 12 Th. v. Dowgird, „Kownos letzte Russentage“, in: Das Litauen-Buch. Eine Auslese aus der Zeitung der 10. Armee, Wilna 1918, S. 112–115, hier S. 115. 13 Wincenty Witos, op. cit., S. 45. 14 Helena z Seifertów Jabłońska, op. cit., S. 72. 15 Stanisław Srokowski, Z dni zawieruchy dziejowej 1914–1918, Kraków 1932, S. 127. 16 Jan Borzęcki [Jan Czuj], Moskale w Tarnówie. Od 10 listopada 1914 do 6 maja 1915 roku, Tarnów 1915, S. 11. 17 Siehe Frank M. Schuster, Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkriegs (1914–1919), Köln 2004, S. 168 f., sowie Alexander Victor Prusin, Nationalizing a Borderland: War, Ethnicity, and Anti-Jewish Violence in East Galicia, 1914–1920, Tuscaloosa 2005, S. 30. 18 Piotr Wróbel, Zarys dziejów Żydów na ziemiach polskich w latach 1880–1918, Warszawa 1991, S. 71, 77. 19 Polska w czasie wielkiej wojny (1914–1918), Bd. 2: Historyja społeczna, Warszawa 1932, S. 179. Die Autoren schätzen, dass in Transleithanien in diesem Zeitraum 40 000 Juden Unterstützung erhielten und weitere 150 000 Flüchtlinge ohne staatliche Hilfen auskamen. 20 Zahlen nach: Beatrix Hoffmann-Holter, „Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien“, in: Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914, hg. v. Gernot Heiss, ­Oliver Rathkolb, Wien 1995, S. 45–59, hier S. 51, 48 f. 21 Kurjer Lwowski, Frühjahr 1915, passim. 22 Marsha  L. Rozenblit, Reconstructing a National Identity: The Jews of Habsburg Austria during World War I, Oxford 2001, S. 78 f. 23 Eric Lohr, „The Russian Army and the Jews: Mass Deportations, Hostages, and Violence during World War I“, in: The Russian Review 60 (2001), 3, S. 404–419. 24 Wincenty Witos, op. cit., S. 47. 25 Józef Rokoszny, op. cit., S. 24. 26 Józef Białynia Chołodecki, op. cit., S. 45 f. 27 Zitiert nach: Jovana Lažić Knežević, The Austro-Hungarian occupation of Belgrade during the First World War: Battles at the home front, Dissertation, Yale University 2006, S. 116. 28 „Dni grozy“ [Tage des Grauens], in: Kurjer Lwowski, 23. Juni 1915. 29 Michał Tadeusz Brzęk-Osiński, Legionista i piłsudczyk 1905–1939, Warszawa 2003, S. 1. 30 Philipp Menczel, Als Geisel nach Sibirien verschleppt, Berlin 1916, S. 26 f. 31 August Krasicki, Dziennik z kampanii rosyjskiej, Kraków 1988, S. 184 f. 3 2 Wincenty Witos, op. cit., S. 103. 33 Józef Rokoszny, op. cit., Bd. 1, S. 40. 34 Wincenty Witos, op. cit., S. 44. 3 5 Aleksander Majkowski, op. cit., S. 217 u. 229. 36 Stanisław Dzierzbicki, op. cit., S. 62. 3 7 Jonathan Gumz, op. cit., S. 40–44.

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Anhang

38 Józef Rokoszny, op. cit., Bd. 1, S. 100. 3 9 Zitiert nach: „Groźba kontrybucji nad Radomiem“, Kurjer Lwowski, 1. März 1916. 40 Zitiert nach: Marek Przeniosło, Chłopi Królestwa Polskiego w latach 1914–1918, Kielce 2003, hier S. 209. 41 Jan Vit, op. cit., S. 39. 42 Jarosław Cabaj, op. cit., S. 90 f. 43 Eugeniusz Romer, op. cit., S. 193. 44 Władysław Leopold Jaworski, Diariusz 1914–1918, hg. v. M. Czajka, Warszawa 1997, S. 12. 45 Wincenty Witos, op. cit., S. 63. 46 August Krasicki, op. cit., S. 118. 47 Sławoj Felicjan Składkowski, op. cit., S. 191. 48 August Krasicki, op. cit., S. 321. 49 Zitiert nach: Urszula Oettingen, op. cit., S. 143. 50 Helena z Seifertów Jabłońska, op. cit., S. 171. 5 1 Ebd., S.  190. 5 2 Konrad Zieliński, Żydzi Lubelszczyzny 1914–1918, Lublin 1999, S. 79. 53 Helena z Seifertów Jabłońska, op. cit., S. 213. 54 Zitiert nach: Jerzy Z. Pająk, Od autonomii do niepodległości. Kształtowanie się postaw politycznych i narodowych społeczeństwa Galicji w warunkach Wielkiej Wojny 1914–1918, Kielce 2012, S. 142. 55 Zitiert nach: Jerzy Z. Pająk, op. cit., S. 137. 56 Jan Borzęcki [Jan Czuj], op. cit., S. 39. 57 Ebd., S.  9. 58 Ebd., S.  39. 59 A. d. Ü.: Eine englischsprachige Ausgabe dieses Berichts erschien 2002 unter dem Titel The Enemy at His Pleasure. A Journey through the Jewish Pale of Settlement during World War I., eine polnischsprachige Ausgabe 2010 unter dem Titel Tragedia żydów galicyjskich w czasie I wojny ­światowej (Die Tragödie der galizischen Juden im Ersten Weltkrieg). Die Übersetzung folgt der letztgenannten Version. 60 Szymon An-Ski, Tragedia Żydów galicyjskich w czasie I wojny światowej. Wrażenia i refleksje z podróży po kraju, übersetzt v. Krzysztof Dawid Majus, Przemyśl 2010, S. 72. 61 Ebd., S.  197. 62 Josef Piłsudski, Erinnerungen und Dokumente, Bd. 1: Meine ersten Kämpfe, aus dem Polnischen von Dr. A. v. Guttry, Essen 1935, S. 131. 63 Wacław Sperber, „Z oswobodzonego Rzeszowa“, in: Ilustrowany Kuryer Codzienny, 30. Mai 1915, S. 7. 64 X. Bronisław Świeykowski, op. cit., S. 13 f. Kapitel 2: Neue Ordnungen 1 Stephan Lehnstaedt („Das Militärgouvernement Lublin im Ersten Weltkrieg. Die ‚Nutz­ barmachung‘ Polens durch Österreich-Ungarn“, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 61 [2012], 1, S. 1–26, hier S. 6) weist aber darauf hin, dass höhere Positionen in Verwaltung und Gendarmerie von Nichtpolen besetzt wurden. Das Wiener Innenministerium sprach 1916 in einer internen Denkschrift von einer „wohlorganisierten Clique […]; das Verhal-

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Anmerkungen

ten dieser Clique ist ein launenhaftes, aber stets von dem größten Misstrauen dem Polentum gegenüber diktiert“ (S. 6). 2 Gerhard Velburg, op. cit., S. 196 f. 3 Tommy M. Proctor, op. cit., S. 134. 4 Friedrich Wallisch, Die Pforte zum Orient. Unser Friedenswerk in Serbien, Innsbruck 1917, S. 95. Wallisch übernahm die kroatische Schreibung des Wortes ‚Zeit‘ (srb. vreme). 5 Zitiert nach: Tamara Scheer, „Manifestation österreichisch-ungarischer Besatzungsmacht in Belgrad (1916–1918)“, in: Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung, hg. v. Jürgen Angelow, Gundula Gahlen, Oliver Stein, Berlin 2011, S. 211–239, hier S. 230. 6 Ebd., S. 229. 7 Józef Rokoszny, op. cit., Bd. 2, S. 20. 8 Ebd., S. 226. 9 Gerhard Velburg, Rumänische Etappe. Der Weltkrieg, sie ich ihn sah, Minden etc. 1930, passim, zitiert nach: Lisa Mayerhofer, op. cit., S. 167 f. 10 Björn Opfer, op. cit., S. 96–101. 11 Ljubov Zhvanko, Bizhentsi pershoi svitovoi viini. Ukrainskii vimir, 1914–1918 rr., Charkiw 2010, S. 39–41. 12 Stanisław Dzierzbicki, op. cit., S. 59. 13 Holger H. Herwig, op. cit., S. 278. 14 Siehe ausführlicher zu diesem Thema: Christian Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914–1918, Paderborn u. a. 2012. 15 Ebd., S. 132. Die Klage erwies sich als erfolgreich. 16 Daten von Zbigniew Landau und Jerzy Tomaszewski, zitiert nach: Marian M. Drozdowski, Warszawa w latach 1914–1939, Warszawa 1990, S. 89. 17 Zitiert nach: Historja społeczna …, S. 85. 18 Christopher Kopper, „Der Erste Weltkrieg als Eisenbahnkrieg“, in: Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, hg. v. Ralph Roth, Karl Schlögel, Frankfurt am Main. 2009, S. 222–234, hier S. 232. 19 Gerhard Velburg, op. cit., passim, hier S. 109, 177. 20 Jonathan Gumz, op. cit., S. 140–192, zu den Zahlen siehe: S. 171, 189. 21 Tamara Scheer, op. cit., S. 224. 22 Jonathan Gumz, op. cit., S. 96–101. 23 Vgl. Christian Westerhoff, op. cit., S. 80. 24 Christian Westerhoff, op. cit., S. 206 f., 228 f. 25 Vgl. Stephan Lehnstaedt, op. cit. 26 Zitiert nach: Lisa Mayerhofer, op. cit., S. 164. 27 Lisa Mayerhofer, op. cit., S. 231. 28 Theodore R. Weeks, „Vilnius in World War I, 1914–1920“, in: Nordost-Archiv, NF XVII/2008, S. 34–57, hier S. 46 f. 29 Zitiert nach: Danuta Płygawko, Polonia devastata. Polonia i Amerykanie z pomocą dla Polski (1914–1918), Poznań 2003, S. 197.

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3 0 „1916 VI 20, Busko. Raport chorążego Tadeusza Hartleba do CBW w Piotrkowie“, in: ­Raporty i korespondencja oficerów werbunkowych Departamentu Wojskowego Naczelnego Komitetu Narodowego 1915–1916. Ziemia Kielecka, hg. v. Jerzy Z. Pająk, Kielce 2007, S. 24–28, hier S. 25. 3 1 Konrad Zieliński, op. cit., S. 102. 3 2 Danuta Płygawko, op. cit., S. 200 (Brief an Bischof Adam Sapieha). 33 Zitiert nach: Mieczysław Ryba, Środowiska i ugrupowania polityczne na Lubelszczyźnie 1914– 1918, Lublin 2007, S. 152. 34 Konrad Zieliński, op. cit., S. 134. 3 5 Gerhard Velburg, op. cit., S. 111, 116 ff., 167 f., 185. 36 Joshua  A. Sandborn, Drafting the Russian Nation. Military Conscription, Total War and Mass Politics, De Kalb 2003, S. 35. 3 7 Elizabeth  E. Bacon, Central Asians under Russian Rule: A Study in Culture Change, Ithaca 1980, S. 115 f. 38 Jan Molenda, Chłopi, naród, niepodległość. Kształtowanie się postaw narodowych i obywatelskich chłopów w Galicji i Królestwie Polskim w przededniu odrodzenia Polski, Warszawa 1999, S. 285. 39 Malte Rolf, Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864–1915), Berlin/München/Boston 2015, S. 247. Kapitel 3: Die zivilisatorische Mission 1 Józef Piłsudski, op. cit., S. 46. 2 Dabei handelte es sich um eine von Hans Stübler bearbeitete zweibändige Ausgabe, die unter dem gekürzten Titel Geographische Charakterbilder in den Jahren 1913–16 im Verlag Friedrich Brandstetter erschien. Wir zitieren aus einer früheren Auflage: A. W. Grube, Geographische Charakterbilder in abgerundeten Gemälden aus der Länder- und Völkerkunde nach Mußterdarstellungen der deutschen und ausländischen Literatur für die obere Stufe des geographischen Unterrichts in Schulen, sowie zu einer bildenden Lectüre für Freunde der Erdkunde überhaupt, Leipzig 1860, Bd. 1, S. 70. 3 Ebd., S. 107. 4 Harry Graf Kessler, op. cit., S. 140. 5 Charlotte Heymel, Touristen an der Front. Das Kriegserlebnis 1914–1918 als Reiseerfahrung in zeitgenössischen Reiseberichten, Berlin 2007, S. 253. 6 Karl Emil Franzos, Aus Halb-Asien. Cultur-Bilder aus Galizien, der Bukowina, Süd-Rußland und Rumänien, Bd. 1, Leipzig 1876, S. 95 f. 7 Karl Emil Franzos, Aus der großen Ebene. Neue Kulturbilder aus Halb-Asien, Bd. 1, Stuttgart 1889, S. XVII. 8 Harry Graf Kessler, op. cit., S. 116 f. 9 Zitiert nach: „Einleitung“, in: ebd., S. 39. 10 Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1995, S. 13. 11 Hubert Orłowski, „Stereotype der ‚langen Dauer‘ und Prozesse der Nationsbildung“, aus dem Polnischen von Andreas Lawaty, in: Deutsche und Polen. Geschichte – Kultur – Politik, hg. v. Andreas Lawaty u. Hubert Orlowski, München 2003, S. 269–279, Zitate S. 276.

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Anmerkungen

1 2 Zitiert nach: Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, aus dem Amerikanischen von Jürgen Bauer, Edith Nerke u. Fee Engemann, Hamburg 2002 (Neuausgabe 2018), S. 53. 13 Zitiert nach: Imanuel Geiss, Der polnische Grenzstreifen 1914–1918. Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg, Lübeck 1960, S. 50. 14 Josef Partsch, „Deutschlands Ostgrenze“, in: Zeitschrit für Politik 8 (1915), S. 14–27, hier S. 26 15 Friedrich Naumann, „Mitteleuropa“, in: ders., Werke, Bd. 4: Schriften zum Parteiwesen und zum Mitteleuropaproblem, hg. v. Thomas Nipperdey u. Wolfgang Schieder, Köln/Opladen 1964, S. 485–766, hier S. 578. 16 Hermann Oncken, Das alte und das neue Mitteleuropa. Historisch-politische Betrachtungen über deutsche Bündnispolitik im Zeitalter Bismarcks und im Zeitalter des Weltkrieges, Gotha 1917. 17 Janusz Pajewski, op. cit., S. 368. 18 Verhandlungen des Reichstages, Bd. 311: 1917/18, Berlin 1918, S. 4442. 19 Maria Todorova, Bałkany wyobrażone, übers. v. Piotr Szymor, Magdalena Budzińska, ­Wołowiec 2008 [dt. Die Erfindung des Balkans, Darmstadt 1999]. 20 Zitiert nach: Mechthild Golczewski, Der Balkan in deutschen und österreichischen Reise- und Erlebnisberichten 1912–1918, Wiesbaden 1981, S. 135 f. (aus den Erinnerungen Josef Neumairs). 21 Zitiert nach: ebd., S. 155 (aus den Erinnerungen Alfred Olbergs). 22 Zitiert nach: Björn Opfer, Im Schatten des Krieges …, S. 143; Stefan Minkov, „Der Status der Nord-Dobrudscha im Kontext des deutsch-bulgarischen Verhältnisses im Ersten Weltkrieg“, in: Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung, hg. v. Jürgen Angelow, Berlin 2011, S. 241–255. 23 So Kállay 1895 in einem englischsprachigen Zeitungsinterview. Zitiert nach: Diana Reynolds Cordileone, „Swords into Souvenirs: Bosnian Arts and Crafts under Habsburg Administration“, in: Doing Anthropology in Wartime and War Zones: World War I and the Cultural Sciences in Europe, hg. v. Reinhard Johler, Christian Marchetti, Monique Scheer, Bielefeld 2010, S. 169– 190, hier S. 176. 24 Marcin Siadkowski, Szlachcicen. Przemiany stereotypu polskiej szlachty w Wiedniu na ­przełomie XIX i XX wieku, Warszawa 2011. 25 J. Schwalbe, „Deutsches Militärgesundheitswesen in Warschau“, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 42, Nr. 22 (1. Juni 1916), S. 673 f. 26 „Die Städteverordnung für Russisch-Polen“, in: Deutsche Warschauer Zeitung, 19. September 1915. Dort wird auch über die Meldepflicht für „Frauenspersonen, die der gewerbsmäßigen Unzucht nachgehen“, berichtet. 27 Zwei Jahre deutscher Arbeit im Generalgouvernement Warschau, Berlin 1917, S. 22. 28 Wilhelm Hegeler, op. cit., S. 52. 29 Friedrich Wallisch, op. cit., S. 58. 30 Hans-Erich Volkmann, „Der Ostkrieg 1914/15 als Erlebnis- und Erfahrungswelt des deutschen Militärs“, in: Die vergessene Front …, S. 265. 31 Reinhold Seeberg, Geschichte, Krieg und Seele. Reden und Aufsätze aus den Tagen des Weltkriegs, Leipzig, 1916, S. 59, zitiert nach: Günter Brakelmann, Protestantische Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg. Reinhold Seeberg als Theologe des deutschen Imperialismus, Bielefeld 1974, S. 99.

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3 2 August Krasicki, op. cit., S. 461. 33 Die verschwundenen Denkmäler in Wilna. Eine mitternächtliche Szene, in: Hermann Struck, Herbert Eulenberg, Skizzen aus Litauen, Weissrussland und Kurland, Berlin 1916, o. S. 34 August Krasicki, op. cit., S. 460. 3 5 Deutsche Warschauer Zeitung, 12. November 1915. 36 Zitiert nach: Marta Polsakiewicz, „Warschau 1915–1918: Eine vergessene deutsche Okkupation“, in Dialog 90 (2009–2010), S. 59–61, hier S. 61. 3 7 Stanisław Dzierzbicki, op. cit., S. 192. 38 Seppo Zetterberg, Die Liga der Fremdvölker Russlands 1916–1918. Ein Beitrag zu Deutschlands antirussischem Propagandakrieg unter den Fremdvölkern Russlands im Ersten Weltkrieg, Helsinki 1978. 39 Friedrich Wallisch, op. cit., S. 35. 40 Bericht über die Verwaltung des Kreises Belgrad-Land in der Zeit vom 1. November 1915 bis 31. Dezember 1916, Belgrad 1917, S. 6. 41 Arthur Dix, Zwischen zwei Welten. Die Völkerbrücke des Balkan, Dresden 1917, S. 9. 42 Hans Beseler, „Geleitwort“, in: Handbuch von Polen. Beiträge zu einer allgemeinen Landeskunde, hg. v. E. Wunderlich, Berlin 1917, S. ix. 43 J[osef] Partsch, „Das Handbuch von Polen“, in: Geographische Zeitschrift 24 (1918) 2–3, S. 68–76, hier S. 76. 44 Jan Stanisław Bystroń, „Rezension zu: Schultz A., ‚Volkskunde‘“, in: Kosmos XLII (1917), S. 145–149, hier S. 147 f. 45 Ebd., S.  146. 46 Über die österreichisch-ungarischen ethnografischen Faszinationen schreibt Ursula Reber, „The Experience of Borders: Montenegrin Tribesmen at War“, in: Doing Anthropology …, S. 191– 205. 47 Eugen Oberhummer, „Montenegro und Albanien unter österreichisch-ungarischer Verwaltung“, in: Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien 61 (1918) 7, S. 313–346. 48 Franz Dorflein, Mazedonien. Erlebnisse und Beobachtungen eines Naturforschers im Gefolge des deutschen Heeres, Jena 1921, S. 248. 49 Ebd., S.  271 f. 50 Božidar Jezernik, Das wilde Europa. Der Balkan in den Augen westlicher Reisender, aus dem Slowenischen von Karin Almasy, Wien/Köln/Weimar 2016, S. 13. 5 1 Georg Buschan, Die Bulgaren. Herkunft und Geschichte. Eigenschaften, Volksglaube, Sitten und Gebräuche, Stuttgart 1917, S. 23. 5 2 Ebd., S 1. 53 Adolf Strausz, Großbulgarien, Leipzig 1917. 54 Gantscho Tzenoff, Goten oder Bulgaren. Quellenkritische Untersuchung über die Geschichte der alten Skythen, Thraker und Makedonier, Leipzig 1915, sowie ders., Geschichte der Bulgaren, Berlin 1917. 55 Oliver Stein, op. cit., S. 282. 56 Jonathan Gumz, op. cit., S. 75 f. 57 Friedrich Wallisch, op. cit., S. 63 f.

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Anmerkungen

58 Vejas Gabriel Liulevicius, op. cit., S. 199. 5 9 Friedrich Wallisch, op. cit., S. 52. 60 Kardynał Aleksander Kakowski, op. cit., S. 281. 61 Zu Dr. Frey siehe Christian Teichmann, Krieg und Ethnizität in Warschau, 1915–1918. Das jüdische Beispiel, Magisterarbeit, Universität Leipzig 2002. Wir danken dem Autor für die Bereitstellung des Manuskripts. 62 Franz Dorflein, op. cit., S. 252. 63 Ebd., S.  253. 64 Rudolf Lennhoff, „Kongreßtage in Warschau“, in: Medizinische Reform XXIV (1916), Nr. 12, S. 119. 65 Sławoj Felicjan Składkowski, op. cit., S. 313. 66 Ebd. 67 Ebd., S.  257. 68 Ebd., S.  312. 69 Jovana Lažić Knežević, op. cit., S. 162–163. 70 Leon Wernic, „Zarys walki z chorobami wenerycznymi i nierządem w czasach ubiegłych i dzisiaj, w czasie wojny i pokoju“, in: Medycyna społeczna. Prace Polskiego Towarzystwa Medycyny Społecznej, Bd. 1 (1916), Warszawa 1917, S. 149. 71 Alfred Sokołowski, Wielkie klęski społeczne (ospa – choroby tyfusowe – dżuma – grypa – cholera – choroby zakaźne, właściwe wiekowi dziecięcemu – suchoty płucne – choroby weneryczne – alkoholizm) i walka z niemi, Warszawa 1917, S. 329. 72 Vejas Gabriel Liulevicius, op. cit., S. 9. 73 Paul Weindling, „A Virulent Strain: German Bacteriology as Scientific Racism, 1890–1920“, in: Race, Science and Medicine, 1700–1960, hg. v. Waltraud Ernst, Bernard Harris, London/New York 1999, S. 217–233, hier S. 230.

Anhang Bibliografischer Kommentar 1 Hew Strachan, To Arms, Oxford 2001. In deutscher Sprache erschien eine gekürzte Fassung für ein breiteres Publikum: ders., Der Erste Weltkrieg, eine neue illustrierte Geschichte, München 2004. 2 Vejas G. Liulevicius, War Land on the Eastern Front: Culture, National Identity and German Occupation in World War I., Cambridge, UK, New York 2000 (dt. ders., Kriegsland im Osten. ­Eroberung, Kolonialisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, aus dem Amerikanischen von Jürgen Bauer, Hamburg 2002). 3 Holger H. Herwig, The First World War: Germany and Austria-Hungary, 1914–1918, London 1996. 4 Ivan Šedivý, Češi, české země a velká válka 1914–1918, Praha 2001. 5 József Galántai, Hungary in the First World War, aus dem Ungarischen von Éva Grusz, Judit Pokoly, Budapest 1989. Die ungarische Originalausgabe erschien 1974. 6 Norman Stone, The Eastern Front 1914–1917, New York 1975. 7 Andrej Mitrović, Serbia’s Great War 1914–1918, London 2007.

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8 In den letzten fünfzig Jahren sind es im Grunde immer dieselben drei Bücher: Jerzy Holzer, Jan Molenda, Polska w pierwszej wojnie światowej, Warszawa 1963, 2. Aufl. 1967, 3. Aufl. 1973; Janusz Pajewski, Pierwsza wojna światowa 1914–1918, Warszawa 1991, 2. Aufl. 1998, 3. Aufl. 2004; ders., Odbudowa państwa polskiego, Warszawa 1978, 2. Aufl. 1980, 3. Aufl. 1985, 4. Aufl. 2005. 9 Lisa Mayerhofer, Zwischen Freund und Feind – deutsche Besatzung in Rumänien 1916–1918, München 2010. 10 Gerhard Velburg, Rumänische Etappe. Der Weltkrieg, wie ich ihn sah, Minden u. a. 1930. 11 Daniela Schanes, Serbien im Ersten Weltkrieg. Feind- und Kriegsdarstellungen in österreichisch-ungarischen, deutschen und serbischen Selbstzeugnissen, Frankfurt/M. u. a. 2011. 12 Maureen Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, Cambridge 2004. 13 Alan Kramer, Dynamic of Destruction. Culture and Mass Killing in the First World War, Oxford 2007. 14 Jan Dąbrowski, Wielka Wojna 1914–1918, na podstawie najnowszych źródeł, in der Reihe „Wielka historia powszechna“, Bd. 7, Nachdruck Poznań 2000–2001. 15 Neben den schon erwähnten Arbeiten siehe u. a. Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. ­Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, hg. v. Gerhard P. Groß, Paderborn u. a. 2006; Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung, hg. v. Jürgen Angelow, Berlin 2011; Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext, hg. v. Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik, Innsbruck 2013. 16 Wir denken hier an den Themenschwerpunkt im Journal of Modern European ­History 1 (2003), 1, sowie an die einschlägigen Artikel in Contemporary European ­History 14 (2005), 1.

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Verzeichnis der Exkurse Kakanien  21 Die Friedjung-Affäre  25 Die Angriffsdoktrin  33 Franz Ferdinand von Österreich-Este  37 Der Gaskrieg  86 Šabac und Kalisz  108 Das Faradisieren  113 Das 28. Infanterieregiment vor Stebnícka Huta  131 Kranke Franzosen auf dem Balkan  150 Anthropologie  172 Schwarze Autos voller Gold  180 Ersatz  186 Die Karte  189 Ecaterina Teodoroiu  200 Das Massaker an den Armeniern  206 Die Besatzung von Tarnów  301 Mitteleuropa  342 Handbuch von Polen  354 Die fünf Minuten Bulgariens  358 Der deutsche Kampf gegen das Fleckfieber  362

Abbildungsnachweis Die Abbildungen auf den Seiten 76, 79, 109, 110, 137, 138, 267, 269 und 318 stammen aus dem Bildarchiv des Herder-Instituts Marburg; die Abbildungen auf den Seiten 77, 89, 117, 119, 123, 141, 152, 171, 197 und 311 aus der Sammlung von Dr. Mariusza Kulika; die Abbildungen auf den Seiten 47, 53, 55, 59, 68, 87, 120, 123, 164, 166, 169, 174, 201, 226 und 238 aus der Sammlung von Pejo Kolew. Die übrigen Reproduktionen von Fotografien stammen aus den Sammlungen von Włodzimierz Borodziej und Maciej Gorny. Alle Karten wurden von Peter Palm, Berlin, gezeichnet: S. 372, 373, 374

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Anhang

Personenregister Aehrenthal, Alois Lexa von  25, 26 Argetoianu, Constantin  162 Auffenberg, Moritz  71 Basarabescu I.  164 Berbecki, Leon  157 Bernhardi, Friedrich von  33 Beseler, Hans von  351, 354 Beyrau, Dietrich  378 Biondich, Marc  106 Bismarck, Otto von  20, 342 Bloch, Jan Gotlib  31, 32, 35, 36, 65, 213 Bloxham, Donald  377 Bogdanowa, Donka  201, 201 Boubelík, František  132 Branicki, Ksawery  274 Bratek-Kozłowski, Franciszek  73 Brătianu, Ion  161, 162, 165 Bucur, Maria  202, 234, 380 Bystroń, Jan Stanisław  355, 356 Cabaj, Jarosław  294 Chickering, Roger  379 Chołodecki, Białynia Józef  224 Claas, Heinrich  248 Clark, Christopher  41 Cleinow, Georg  343 Courtenay, Jan Baudouin de  65 Czetwertyński, Seweryn  274 Czetwertyński, Włodzimierz  274 Czuj, Jan (ps. Jan Borzęcki)  301–304 Dąbrowski, Jan  81, 381 Dankl, Viktor  78, 79 Daszyński, Ignacy  104 Daugirdas, Tadas  275 Dmowski, Roman  382 Dornik, Wolfram  95 Dowgird, Tadeusz   siehe Daugirdas, Tadas Dragoumis, Filippos  57 Dzierzbicki, Stanisław  140, 226, 288, 317 Edib, Halidé  54 Einem, Karl von  88 Ephraim, Otto  321 Ertür, Hafiz Rakım  58

414

Eulenberg, Herbert  350 Falkenhayn, Erich von  35, 88, 155, 157, 163, 166 Ferdinand I. (Zar, Bulgarien)  54, 55, 142 Ferdinand I. (König, Rumänien)  161, 162, 168 Ferenczi, Sándor  111 Ferguson, Niall  378 Franz Ferdinand  34, 37, 38, 346 Franz Joseph I.  37 Franzos, Karl Emil  338 Freud, Sigmund  111 Frey, Gottfried  363, 364 Friedeburg, Friedrich von  255 Friederichsen, Max  354 Friedjung, Heinrich  25–27 Gallwitz, Max von  339 Gerlach, Hellmut von  112, 180 Gertz, Wanda  201 Gerwarth, Robert  377 Goltz, Wilhelm Colmar von der  48, 51 Gonda, Viktor  114–116 Grajewski 292 Gumz, Jonathan  106, 378 Haber, Fritz  87, 88 Haberlandt, Arthur  234 Hall, Richard C.  63 Haller 302 Hartleb, Tadeusz  329 Hašek, Jaroslav  14, 94, 113, 114, 233, 255 Healy, Maureen  191, 379 Hedin, Sven  152 Hegeler, Wilhelm  146, 348 Hehn, Viktor von  344, 345 Held, Joseph  217 Herwig, Holger H.  187, 377 Herzl, Theodor  246 Heymel, Charlotte  338 Hildermeier, Manfred  378 Hindenburg, Paul von  77, 78, 79, 152, 162, 349 Hirschfeld, Hanna  118 Hirschfeld, Ludwik  118 Hochwächter, Gustav von  52, 53 Hołówko, Helena  244, 245, 249 Hołówko, Tadeusz  244, 245, 249

Personenregister Horne, John  381 Hötzendorf, Franz Conrad von  25, 27, 38, 72, 81, 83, 86, 134, 151, 157, 361 Hutten-Czapski, Bogdan Graf von  351, 352 Hynek, Jan  296

Liebknecht, Karl  209 Linsingen, Alexander von  156 Lipkowski, Józef  55 Lippmann, Walter  336 Liulevicius, Vejas Gabriel  369, 376, 377 Ludendorff, Erich  77, 78, 86

Iwanowski 197 Jankowski, Czesław  179 Jaworski, Władysław Leopold  295 Jellenta, Cezary  195, 225, 231 Johann III. Sobieski  349 Josef Ferdinand (Erzherzog)  156 Kafka, Franz  244 Kakowski, Aleksander  249, 272, 362 Kállay, Bénjamin von  346 Kâmil Pasza (Kıbrisli Mehmed)  54 Karl (Erzherzog, Kaiser, I.)  237, 243, 254 Kawczak, Stanisław  79, 82, 96, 97 Kennan, George F.  8 Kennard, Dorothy  165 Kerchnawe, Hugo  313, 325 Kertész, Andor  179 Kessler, Harry Graf  91, 270, 271, 338, 339 Kießer, Emil  331, 332 Kłoczowski, Józef Dominik  140 Klofáč, Václav  254 Knox, Alfred  89, 134, 139 Kolowrat-Krakowský, Alexander  235 Konstantin I.  57, 62, 160, 161 Korytowski, Witold  256 Kramář, Karel  254 Kramer, Alan  381 Krasicki, August  180, 228, 286, 297, 350 Kraus, Karl  14, 233 Kraushar, Aleksander  139 Kroh, Antoni  131, 132 Kronenberg, Leopold Julian  274 Kruse, Francis  180 Kubicki 292 Künigl-Ehrenburg, Ilka  240 Kuropatkin, Alexei Nikolajewitsch  33 Kusmanek, Hermann  124, 126, 129, 130 Łączyński, Ryszard  298 Lapčević, Dragiša  145 Lazić Knežević, Jovana  379 Lennhoff, Rudolf  366

Mackensen, August von  84, 134–136, 142, 149, 163, 164, 167, 168, 321 Majewski, Piotr M.  377, 378 Majkowski, Aleksander  166, 220, 221, 248, 253, 288 Marghiloman, Alexandru  326 Markwitz, Georg von der  134 Masaryk, Tomáš Garrigue  26 Mayerhofer, Lisa  379 Mahmud Muhtar Pasha  52 Menczel, Philipp  284 Mick, Christoph  379, 380 Miletić, Alexandar  15 Mitrović, Andrej  378 Moltke, Helmuth von  29, 30, 31, 35, 39, 72, 345 Musil, Robert  24, 247 Mütz, Herman  286 Nagel, Fritz  98, 99 Naumann, Friedrich  342–344 Nazim Pascha  51 Neumann, Józef  281 Nielsen, Asta  194 Nikolajewitsch, Nikolai  244, 259, 280, 289 Nikolaus II. (Zar)  20, 31, 205, 250, 259, 287, 314, 350 Nonne, Max  115, 116 Oberhummer, Eugen  357 Partsch, Josef  341, 355 Pašić, Nikola  92, 118 Peter I. (serbischer König)  62, 150 Petrović, Vukašin  286 Pflanzer-Baltin, Karl von  121 Piłsudski, Józef  80, 257, 305, 336, 382 Pöch, Rudolf  172–174, 239 Polsakiewicz, Marta  382 Potiorek, Oskar  75, 93, 94, 221, 252, 290 Potocki, Józef  274 Preisówna 329 Preusker, Hans  109–111 Prittwitz, Maximilian von  76, 77 Prusin, Alexander Victor  377

415

Anhang Przeniosło, Marek  382 Przyłęcki 292 Putnik, Radomir  35, 57, 74, 92, 142 Rappaport, Salomon (Ps. Salomon An-Ski)  305 Rašín, Alois  254 Redlich, Josef  171 Rennenkampf, Paul von  75–78, 96, 102, 339 Roda Roda, Alexander (eigentlich Sándor Friedrich Rosenfeld) 232 Rokoszny, Józef  101, 220, 250, 260, 271, 287, 292, 297, 314 Romer, Eugeniusz  97, 193, 196, 251, 294 Ronge, Max  103, 104, 261, 262 Rutowski, Tadeusz  290 Rypuszyński, Janusz  286 Samsonow, Aleksander  75–78, 77 Sandborn, Joshua  378 Sandes, Flora  201 Sarrail, Maurice  151, 354 Sawow, Michaił  62 Schalek, Alice  232f. Schanes, Daniela  379 Scheer, Tamara  379 Schönaich-Carolath, Heinrich zu  36, 39 Schultz, Arved  356 Schwerin, Friedrich von  341 Šedivý, Ivan  254, 377 Seeberg, Reinhold  348 Sering, Max  341 Seton-Watson, Robert W.  26, 117 Seyfeddin, Ömer  68, 69 Sienkiewicz, Henryk  329, 330 Składkowski, Sławoj Felicjan  84, 98, 102, 106, 112, 118, 120, 158, 250, 367 Slim, Hugo  268 Sokołowski, Alfred  368 Srokowski, Stanisław  278 Starynkiewicz, Sokrates  212 Starzyński, Roman  157, 158 Steed, Henry Wickham  26

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Stegemann, Hermann  231 Stegmann, Natali  380 Stepanović, Stepa  75 Stone, Norman  378 Strausz, Adolf  359 Suttner, Bertha von (geb. Gräfin Kinsky)  31 Świeykowski, Bronisław  135, 136 Tadema, Laurence Alma  329 Tahsin Pasha  57 Teodoroiu, Ecaterina  200–202 Tertil, Tadeusz  286 Ther, Philipp  16, 67 Thun und Hohenstein, Franz von  244 Tilka, Bogislav  siehe Velburg, Gerhard Tisza, István  39, 258 Uschlinowa, Donka  201 Velburg, Gerhard (właśc. Bogislav, Tilka)  169, 315, 320, 321, 327, 328, 331, 332, 379 Venizelos, Eleftherios  160, 161 Verhey, Jeffrey  242 Vit, Jan  124, 130 Wagner-Jauregg, Julius  115, 116 Wallisch, Friedrich  309, 362 Weindling, Paul  370, 384 Weisselberger, Salo  281 Wernic, Leon  368 Wilhelm II.  20, 35, 40, 71, 248 Wilson, Woodrow  336, 352 Witos, Wincenty  199, 277, 295, 296 Witte, Sergei  41 Wolff, Larry  339, 340 Woyrsch, Remus von  156 Zamoyski, Maurycy  274 Zeletin, Ştefan  60, 61 Zieliński, Konrad  382 Zückert, Martin  380 Zweig, Stefan  241, 243, 247, 253

Informationen zum Buch Wer kennt den Ort Przasnysz (zu deutsch: Praschnitz)? Bei dieser masowischen Provinzstadt am südlichen Rand Ostpreußens trafen im November/Dezember 1914 sowie im Februar und Juli 1915 in drei großen Schlachten Hunderttausende Russen und Deutsche aufeinander, die Gesamtzahl der Toten, Verwundeten und Vermissten dürfte bei weit über 100.000 liegen. Warum also kennt kaum jemand Przasnysz? Den ›vergessenen‹ Weltkrieg im Osten Europas zurück in das Bewusstsein zu holen, macht sich dieses großartig geschriebene Werk zur Aufgabe. Es widmet sich den grausamen Schlachten ebenso wie den sozialen und mentalitätshistorischen Verwerfungen in Osteuropa und zeigt, auf welchem Boden dort nach 1918 ganz neue Staaten entstanden.

Informationen zum Autor Wlodzimierz Borodziej, geb. 1956, ist einer der führenden Zeithistoriker Polens. Seit 1996 ist er Professor am Historischen Institut der Universität Warschau. Wlodzimierz Borodziej scheut sich nicht, brisante Themen zu behandeln wie die deutsche Vernichtungspolitik in Polen und die Vertreibung der Deutschen. Er ist Autor zahlreicher viel beachteter Sachbücher; zuletzt erschien von ihm »Geschichte Polens im 20. Jahrhundert« (2010). Maciej Górny, geb. 1976, war Fellow am Imre Kertész Kolleg Jena und ist heute außerordentlicher Professor am Historischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften Warschau und am DHI Warschau.