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German Pages 380 Year 2015
Alfrun Kliems Der Underground, die Wende und die Stadt
Edition Kulturwissenschaft | Band 32
2014-11-26 14-43-58 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0344383416631952|(S.
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4) TIT2574.p 383416631960
Alfrun Kliems ist Professorin für Westslawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kultur- und Sprachwechsel, Literaturen des Exils sowie der Underground in Ostmitteleuropa.
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Alfrun Kliems
Der Underground, die Wende und die Stadt Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa
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Das dieser Publikation zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG0710 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin. Gedruckt mit Unterstützung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Dank | 9 Vorwort | 13
T eil I T ypologie 1. Der Underground, die Wende und die Stadt Versuch einer Begriffsverflechtung | 19 2. Paranoide Schizophrenie Dissens, Underground und die Spaltung der Kultur | 39 3. Subversion offizieller Zentrumsbehauptungen Oberstadt — Unterstadt, Stadt — Provinz, West — Ost | 57 4. Vertikalität als Metapher Die Romantik und der historische Ort des Underground | 71
T eil II F iguren — W erke — G ruppen 1. Last exit exitus Egon Bondys Anti-Flaneure unter den Rädern von Madame Prag | 85 2. Urbane Abgehörigkeit Die Schwanengesänge des Ivan Martin Jirous | 107
3. Angeekelt in Bratislava Vladimír Archlebs lyrischer Vulgär-Dandyismus | 133 4. Christus wird ruhiger Marcin Świetlicki, Krakau, der Underground und der Pop | 151 5. Vom Glück des Scheiterns, oder Underground und Generation Jacek Podsiadłos roadstory nach Bratislava | 177 6. Meine Stadt bin ich sind viele Peter »Leuchtkäfer« Wawerzinek, der Bafler vom Prenzlauer Berg | 187 7. Antikolonialer Mythos, Pop, Punk – und das Ende des Underground? Die Hundesoldaten-Songs der Gebrüder Topol | 211 8. Zigeuner und Vietnamesen in Prag Jáchym Topol nimmt Abschied von der Tripolis Praga | 235 9. Ein Abstecher nach Moskau Vladimir Makanins Untergrund-Phantasien, oder Das Untergründige als Masche | 251 10. »Tscherboslowaten, Rumängolen, Schwiechen« Jurij Andruchovyčs Moskau als Junk Space der Kulturen | 269 11. Städte der Ebene und ihre urbane Verheerung Andrzej Stasiuks postsozialistisches Warschau | 293 12. Epilog: Aggressiver Lokalismus Andrzej Stasiuk und Jurij Andruchovyč als Verwalter der Provinzen | 313 13. Prolog: »Metropole — Masse — Metzgerei« TotArt, Orange Alternative und andere Köche am »Brei der Semantik« | 329 14. »Alles begann in Danzig!« Der Berliner Club der Polnischen Versager | 343
Upgrading, oder Die Entropierung des Underground | 361 Abbildungsnachweise | 369 Personenverzeichnis | 371
To my most unlikely readers – Frida, Franz, Alma
Dank
Wir wissen es alle, keiner schreibt ein Buch allein. In guter Tradition geht mein Dank zuerst an Eltern, Großfamilie samt Patchworkhaus. Dann an die Freundinnen und Freunde, insbesondere die Kolleginnen und Kollegen aus der Forschungsgruppe »Spielplätze der Verweigerung« am Leipziger Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO): Arnold Bartetzky, Laura Burlon, Matteo Colombi, Torsten Erdbrügger, Stephan Krause, Váleria Lengyel, Inga Probst. Eine besondere Stellung nimmt Christine Gölz ein, die mir unermüdlich den Rücken gestärkt und vieles abgenommen hat, eine wertvolle Gesprächspartnerin war. Für ihre profunden Expertisen in Sachen Lyrik bin ich namentlich Xavier Galmiche, Birgit Krehl und Peter Zajac verbunden. Alex Pehlemann teilte sein enzyklopädisch-involviertes Wissen um die Musik und ihre Szenen im Osten Europas mit großzügiger Begeisterung. Olaf Kühl und Rainette Lange haben die künstlerische Übertragung unübersetzter Texte von Jacek Podsiadło, Ivan Martin Jirous, Egon Bondy und Vlastimil Třešňák besorgt, um auch Lesern, die des Polnischen oder Tschechischen nicht mächtig sind, ein Gefühl für die Sprache dieser Schriftsteller zu vermitteln. Am Berliner Lehrstuhl für Westslawistik der Humboldt-Universität standen mir Zornitza Kazalarska und Mariella Scheer verlässlich zur Seite; Natalia Kepesz und Sara Charusta haben unverdrossen Literatur recherchiert und besorgt. Das Manuskript je in Teilen Korrektur gelesen haben Hana Adam, Mónika Dózsai, Myroslav Grushetskyi und Mathias Mesenhöller, der zudem aus seinem Souterrain den Wein für die Spätschichten beigebracht hat. Carolin Bierschenk vom Bielefelder [transcript] Verlag hat mit viel Geduld und Expertise die Publikation betreut. Entscheidende Anregungen schließlich kamen aus der »Habilitationsgruppe« um die Osteuropa-Historiker und -Historikerinnen François Guesnet, Dietlind Hüchtker, Yvonne Kleinmann und Katrin Steffen – die wesentlich dafür verantwortlich sind, dass aus einer Studie zur Stadt-Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa ein Buch über den Underground wurde. Gefördert wurden die Arbeit und ihre Drucklegung im Rahmen des Leipziger GWZO von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem Bundesminis-
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Der Underground, die Wende und die Stadt
terium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (SMWK); allen drei Institutionen, namentlich aber ihren offenen, ratenden, helfenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sei an dieser Stelle gedankt. Geld freilich braucht kompetente Verwalter, sonst bleibt es steril. In Leipzig hatte es sie in den Personen von Antje Schneegaß und Anja Fritzsche, die immer wieder bereit und fähig waren, logistische Probleme professionell, schnell und effizient zu lösen. Sie sind Teil eines Instituts, das mir über lange Jahre geistigen und organisatorischen Freiraum, unschätzbare Anregungen und wissenschaftliche Aha-Erlebnisse gewährt hat, darüber zu einer Heimat geworden und im Berliner »Exil« bis heute geblieben ist. Dafür danke ich den Kollegen und Kolleginnen sowie seinen Direktoren Winfried Eberhard, Christian Lübke und Stefan Troebst. Der größte Dank indes geht an Eva Behring, die das Buch nicht mehr erlebt. Dafür, dass sie mich irgendwann einmal auf die Spur gesetzt hat. Dass sie beharrt hat. Dass sie soviel vorgelebt hat.
R edak tionelle H inweise Auf die Doppelung femininer und maskuliner Formen habe ich aus sprachökonomischen und stilistischen Gründen – außer in der Danksagung – bewusst verzichtet und verwende stattdessen die Kurzformen im (männlichen) Plural. Die Orthografie folgt weitgehend den Vorgaben der neuen Rechtschreibung, indes nicht überall und sklavisch. Übersetzte Zitate stammen, soweit nicht anders vermerkt, von mir. Die oft eigenwillige Rechtschreibung wie Wortbildung etwa eines Egon Bondy oder Jáchym Topol im Original ist im Fußnotenapparat so belassen. Alle Hervorhebungen, die nicht gesondert von mir ausgewiesen wurden, finden sich so im Original. Die einzelnen Kapitel haben einen je in sich abgeschlossenen Anmerkungsapparat mit vollständiger Erstnennung, so dass eine Bibliografie im Anhang verzichtbar erschien.
Die Stadt Ivan Wernisch
Überall ringsum ist Wald, ein so dichter, dass nicht einmal die Pfiffe der Lokomotiven ihn durchdringen. Auch nicht die Rufe der fahrenden Händler, auch nicht die Verleumdungen und rätselhaften Gewaltandrohungen. Weder die Wagemutigen mit den Flammenwerfern, noch die Prospektoren und Gesundheitsinspektoren sind je weit über seinen Rand hinausgelangt. Dennoch sollten Sie wissen: ich spreche nicht von einer Stadt im Wald, sondern von einer Stadt über den Gängen. Ständig erfahren Sie etwas Neues über besondere unterirdische Begebenheiten, über die städtischen Kasematten und Gänge von Verschwörern. Es gibt dort unten angeblich sogar kleine Seen. Sowohl Einzelzellen als auch riesige Paläste, die womöglich bewohnt sind. Und Pferdestallungen, Gärten, Schiffsanlegestellen. Und oben warten alle auf genauere Informationen. [...] Ja: sonderbar und offensichtlich schön ist der Wald, und sonderbar bedrängt er die Stadt, die von Tag zu Tag kleiner wird, obwohl Gebäude und Menschen in ihr ständig zunehmen, auch die Verleumdungen und geheimnisvollen Gerüchte. Vor allem aber die unterirdischen Räume, gemauert und gepflastert mit schwach glimmenden Steinen … O du mein Gott!
Vorwort Der Underground, die Wende und die Stadt
Ja: sonderbar und offensichtlich schön ist der Wald, und sonderbar bedrängt er die Stadt, die von Tag zu Tag kleiner wird, obwohl Gebäude und Menschen in ihr ständig zunehmen, auch die Verleumdungen und geheimnisvollen Gerüchte. Vor allem aber die unterirdischen Räume, gemauert und gepflastert mit schwach glimmenden Steinen … O du mein Gott!1 I van Wernisch
Er spreche gleichwohl nicht von einer Stadt im Wald, schreibt Ivan Wernisch in Die Stadt (Město). Vielmehr heißt es in dem Prosagedicht des ehemaligen Underground-Künstlers: Hier, in der Stadt, lebe man »über den Gängen«. Unruhe kommt bei Wernisch von unten in die Stadt. Aus einem verborgen wuchernden Labyrinth sticheln Verleumdungen, Gerüchte und Verschwörer und treiben die Obigen um, bis sie kaum mehr Augen haben für das klassische Andere der Urbs, den mythisch drängenden Wald – zu sehr beschäftigt sie der wörtlich schwankende Boden unter ihren Füßen. Damit sind, metaphorisch überformt, die drei Fixpunkte des Buchs angesprochen: der Underground im Sinne einer ästhetischen Konstellation; die Wende als ein Moment, in dem soziale Entsicherung ans Licht tritt; die Stadt als Stätte ihrer erfahrbaren Manifestation.
1 | Wernisch, Ivan: Die Stadt. In: Ders.: Ausgewühlte Schriften. Aus dem Tschechischen v. Peter Urban. Berlin 1994. S. 82-83, hier 83. – Ders.: Město. In: Ders.: Doupě latinářů. Sežrané spisy [Die Höhle der Lateiner. Aufgefressene Schriften]. Brno 1992, S. 80: »Ano: podivný a zřejmě krásný je les a podivně tísní město, které se den ode dne zmenšuje, přestože stavení i lidí v něm přibývá, i pomluv a tajemných pověstí. A hlavně podzemních prostor vyzděných a vydlážděných slabě světélkujícími kameny… Můj ty bože!«
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Der Underground, die Wende und die Stadt
Übersetzt in eine analytische Konzeption: Es geht um den systematischen Ort einer künstlerischen Verfahrensweise, der ein radikales Vertikalitätspostulat und geschichtliches Krisenbewusstsein zugrunde liegen, die sich namentlich im östlichen Mitteleuropa zwischen den 1980er und frühen 2000er Jahren greifen lässt – jedoch weit darüber hinaus weisen mag. Ihren vorder- und hintergründigen Bezugsrahmen gibt die Stadt ab. Ihr Zentraltopos ist der Konflikt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, zwischen utopischer und dystopischer Disposition. Kurz, es geht darum, den Underground als soziopoetischen Reflex der Moderne zu erhellen. Es ist primär die urbane Textur, die der Underground unterschreibt, in die er sich kontrastiv einschreibt. Indem sein Thema das – wörtlich verstandene – Sub-Urbane ist, verfolgt er als Grundanliegen, die offiziell behauptete Stadt und etablierte Raumhierarchien zu bestreiten. »Randständigkeit« ist hierfür das eingeschliffene rhetorische Bild. Während jedoch dieses mit einer Dialektik von Zentrum und Peripherie operiert – traditionell Metropole und Provinz oder eben »der Wald« –, sucht der Underground die konkurrierenden Orte im Zentrum selbst. Seine ästhetischen topoi wie loci gehören im öffentlichen Verständnis zu den verwünschten, ein wenig verwunschenen, allemal zu den fragwürdigen. Vor allem aber generiert er sie nicht »abseits« des städtischen Kerns, sondern »darunter«. Als inner- oder besser unterstädtische, per se metropolitane Ästhetik wendet der Underground sich gegen eine selbst bereits urbane »Kolonisierung des städtischen Raums«.2 Er wendet sich gegen jede Organisation auf politischen Oktroi, auf soziale Konvention oder kommerziellen Imperativ hin. Jedenfalls gegen eine Macht, etwas unbestimmt Kanonisiertes und Etabliertes oder Behauptungen davon, die intramural agieren. Meine Annahmen lauten mithin, dass die Stadt und ihre Stilisierung als (poetologisch) privilegierter Aushandlungsort von Gesellschaft die Vorbedingung jedes Underground sind. Zweitens, dass entgegen der einschlägigen Postulate das ästhetische Phänomen Underground im östlichen Mitteleuropa keineswegs an den staatssozialistischen Kontext gebunden ist, sondern sich seit der Romantik unter milder Anpassung seiner poetischen und rhetorischen Strategien fortschreibt – womöglich bis in die postmoderne Konstitution hinein. Im Folgenden werden diese Überlegungen anhand ausgewählter Lyrik und Prosa, aber auch an Filmen, Musik und Kunst aus Polen, Russland, der Ukraine, der Slowakei, Tschechien sowie der ehemaligen DDR ausgeführt. Der Text selbst gliedert sich in die Einführung, Essays zu Phänomenen und Künstlern sowie einen Ausblick. Die Einführung besteht aus systematischen Kapiteln, deren erstes die Titelbegriffe Underground, Wende und Stadt in ihrem Verhältnis vorstellt. Im zweiten Kapitel werden die Kommunikationssituation im östlichen Mitteleuropa vor 1989 erörtert, der Underground in ihr verortet und die poetologi2 | L efèbvre , Henri: Die Revolution der Städte. Frankfurt am Main 1976, S. 27.
Vor wor t
schen Konsequenzen dieser Verortung ausgewiesen. In dem Zug wird auch dem Verhältnis von Underground und Pop(ulär)-Kultur nachgegangen, wobei die Ost-West-Scheidelinie ebenso wie die Zäsurmarke »1989« komparatistisch überschritten werden. Das dritte Kapitel lotet die Polyvalenz und Verflechtung von Zentrum-Peripherie-Behauptungen aus, mit und unter denen Underground-Kunst operiert: Stadt – Unterstadt, Stadt – Provinz, West – Ost. Das vierte Kapitel versucht anhand einer Erzählung aus der (deutschen) Romantik, den Ort des Underground historisch-systematisch zu verorten. Zwar ist der eigentliche Untersuchungszeitraum mit den 1980er Jahren und dem Jahrzehnt nach 1989 umrissen, indes scheint ein Rückblick auf Vorläufer und Frühformen der Underground-Kultur unverzichtbar. Etwa schrieb schon in der 1950er Jahren der Pole Andrzej Bursa gegen die Konformität und Banalität des Alltäglichen und ein geregeltes Arbeitsleben in staatlicher Abhängigkeit an, und ähnlich spielten zur selben Zeit die Tschechen Egon Bondy und Ivo Vodseďálek mit ihren Konzepten des Totalen Realismus (Totální realismus) und der Peinlichen Poesie (Trapná poezie) auf der Klaviatur ästhetisch-existenzieller Abweichung. Den Ruf eines Gurus des Underground freilich erwarb sich Bondy erst später, als seine Texte von der Punk-Band The Plastic People of the Universe legendenbildend vertont wurden. Das heißt, auf dem Wege der Adaption und medialen Alteration, der Popularisierung und Überhöhung. Zentrale Analysemomente für die Erkundung spezifischer Differenzen sind im Band der Status von Marginalität und Selbstmarginalisierung; die Emphase des urbanen Raums beziehungsweise der intraurbanen Absetzung versus solcher zum Land, gekoppelt mit narzistischen Transgressionen und Autoaggressionen. Konkret handelt es sich um das wiederkehrende Motiv einer Beschmutzung und Zerstörung des Stadtkörpers bis hin zu einer Obsession mit dem Tod im Urbanen und an ihm: durch die Stadt als last exit excitus. Lässt sich mit Blick auf die Einführung von einer induktiven Bestimmung des ästhetischen Phänomens »Underground« und seiner spezifischen Poetik sprechen, so wird diese im Hauptteil anhand von Einzelanalysen illustriert, vertieft und differenziert. In ihnen werden Autoren, Figuren, Werke und Akteursgruppen vorgestellt, die für die Ausprägung von Underground-Ästhetiken im östlichen Mitteleuropa eine paradigmatische Rolle spielten oder zu spezifischer Modifikation der generalisierenden Befunde zwingen. Wobei der Aspekt der Wende besondere Beachtung findet, wie eingangs angespielt im historischen wie metaphorischen Sinne. Eine abschließende Überlegung gilt der Frage, ob das in seiner Existenzialisierung des (Leidens am) Urbanen wesentlich pathetische Konzept »Underground« sich in der Gegenwart auflöst zugunsten prima facie postheroischer, auf Integration zielender künstlerischer Praxen. Insofern endet das Buch mit der Beobachtung, dass der Begriff des Underground zur Sammelchiffre für allerhand frühe, leicht randständige queer acts schrumpft.
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Teil I Typologie
1. Der Underground, die Wende und die Stadt
Versuch einer Begriffsverflechtung
Jede Mythologie ist Topografie. Wenn es eine Mythologie der Moderne gibt, so ist der Ort, von dem sie erzählt und an den sie gebunden ist, die Großstadt.1 L othar M üller
D er U nderground Der Underground in Ostmitteleuropa lässt sich weder als ein abgrenzbares Gruppenphänomen fassen noch weist er einen verbindlichen Stil oder eine dominierende expressive Richtung auf. Allemal jedoch findet er seinen mythischen Ort, den Topos, aus dem und an dem er sich konstituiert, in der Stadt – vor wie nach den Revolutionen von 1989, innerhalb wie außerhalb des östlichen Mitteleuropa. Zudem kennzeichnet ihn ganz allgemein eine Spezifik der inszenierten Haltungen von Künstlern und Intellektuellen, die Unabhängigkeit von jeglicher autorisierten Äußerung betonen. Darin freilich liegt eine systemüberfassende Nähe zur (westlichen) Pop-Kultur. Zwischen beiden gibt es neben greif baren Unterschieden eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Underground und Pop teilen ritualisiert-anarchische Gesten der Rebellion auch without a cause und die Erhebung, ja Verabsolutierung des Alltäglichen und Banalen, vielfach des Anstößigen. Sie teilen ein ambivalent-taktisches Verhältnis zu Masse, Marke und Konsum, instruiert von dem Anliegen, die Hochkultur zu subvertieren, jeweilige Klassiken, Bildungsfesten und Kunstideale zu schleifen.2 1 | M üller, Lothar: Die Großstadt als Ort der Moderne. Über Georg Simmel. In: Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Hg. v. Klaus S cherpe . Reinbek bei Hamburg 1988, S. 14-36, hier 14. 2 | Vgl. zur Geschichte des Pop H ecken, Thomas: Pop. Geschichte eines Konzepts 19552009. Bielefeld 2009. – H eidingsfelder, Markus: System Pop. Berlin 2012.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
Beide, Pop und Underground, provozieren systematisch werkinduzierte Reaktionen gegen den jeweiligen empirischen Autor. Sie legen es konzeptuell auf die Verwischung dieser Differenz an – mit allen antizipierten, vorab berufenen, längst nicht immer realen Konsequenzen. Sie teilen mithin die Anklagehaltung – oder Larmoyanz – gegenüber einem lebensweltlich »uneigentlichen«, poetisch ignoranten »Establishment«. Doch radikalisierte der Underground dieses ästhetische Programm zu einem manifesten Impuls der Textzerstörung als Kunst- und schließlich Selbstzerstörung in poetischer Absicht, während Pop sich früh gefallen lassen musste, selbst dem Establishment zugeschlagen zu werden. Zweifellos, Underground im Sozialismus meinte politisch-wörtlich Untergrund: Verbote, Spitzel, Haft, Ausschluss qua lege. Pop musste, um eine vergleichbare Repressionserfahrung und Subversion zu behaupten, die Exklusionsmacht seiner Kunst-Torwächter entschieden dramatisieren. Die Inszenierung einer existenziellen Subversionsästhetik jedoch ist beiden gemein und je konstitutiv. Sie schlug sich einerseits in einer forcierten Extension des Ausdrucks und einer Explosivität der Sprache nieder, andererseits in einer Tendenz zur Zerspaltung und Verblendung der Bilder. Banalismus, Vulgarismus, Obszönität und Brutalismus folgen eben dieser ostentativ (ver-)zweifelnden Ästhetik eines Willens zur Zersetzung und Totalität von Kunst – einschließlich entsprechender ausgestellter Lebenshaltungen und Lebensweisen als Beglaubigungen einer auf das Performative angelegten Kunst.3 Auf diese Strukturanalogie von Underground und Pop wird noch zurückzukommen sein. Die Ästhetik des eigentlichen Underground nun, wie er sich – einige Vorläufer ausgenommen – auf beiden Seiten der Systemgrenze in den 1980er Jahren ausbildete, ist ohne ihre Einbettung in Rockmusik, Folk und Blues, in Performance, Happening und Aktionismus nicht denkbar. Underground gehört wie die Alternativszene, die Hippies, die Beatniks, Punk, New Age in die Rubrik »Gegenkultur« und realisiert sein Identitäts- und Authentizitätsverlangen zumal im Medium der Musik. Deren Impulse stammten in Ostmitteleuropa aus westlichen Sub- und Jugendkulturen – und wirkten durchaus von dort zurück. Ergänzt wurde der experimentelle Gestus durch eine grenz- und systemübergreifende Zeichensprache: Man trug lange Haare, nahm die jeweils vorhandenen Drogen, hoffte auf freie Liebe, kämpfte für den Frieden, organisierte Happenings und eben Konzerte. Nochmals: Einen verbindlichen Stil hat der Underground nicht geprägt. Ähnlich dem Pop greift er auf viele Verfahren zurück, orientiert sich an unterschiedlichen Strömungen, vor allem den historischen Avantgarden und Neoavantgarden, wobei ihm Surrealismus, Dadaismus, Expressionismus oder die Fluxus-Bewegung am nächsten stehen. Er kombiniert heterogene Stile, inkorporiert religiöse
3 | E rnst, Thomas: Popliteratur. Hamburg 2005, S. 46-49 u. 63. – In seiner Überblicksdarstellung sieht Ernst Elemente des Pop auch in der Prenzlauer-Berg-Szene. Zu den Pop-Literaten der Nachwende zählt für ihn u.a. der Tscheche Jáchym Topol.
1. Versuch einer Begriffsver flechtung
Zeichen und Praxen, nobilitiert das Banale, verwischt das Originalitätspostulat. 4 Underground gleicht dem Pop in der Schwierigkeit, die Quellen seiner Ästhetik dingfest zu machen. Weiterhin zielen Underground und Pop auf die Grenzüberschreitung zwischen »hoher« und »niederer« Kunst, »gutem« und »schlechtem« Geschmack. Religiöse Traditionen sind ihm willkommen, aber auch die sontagsche camp sensibility. In seinem Manifest-Roman Die invaliden Geschwister (Invalidní sourozenci), erschienen 1974 im Samizdat, fand Egon Bondy für eben diese Quellenmixtur ein schlagendes Bild: Auf der Brust trug die Cousine Symbole altertümlicher heiliger Bräuche in einer zauberhaften künstlerischen Mischung, daneben zahllose naive historische Anachronismen, wie Buddha mit dem Davidstern, das Kreuz mit dem daran gekreuzigten Hakenkreuz, die gefiederte Schlange des Quetzalcoatl mit dem Logo der Firma Ford und anderes mehr. 5
Diese Stilmischung kann nach Susan Sontag auch als camp oder campy klassifiziert werden. Zitat, Kombination, Persiflage, Collage finden sich als Verfahren in dem beschriebenen Pullover, der zugleich auf eine Konstitution des Underground verweist: auf das Primitivistisch-Tribale. Denn auf dem Rest der Ärmel finden sich die Konterfeis der Freunde abgebildet. Was den Underground wiederum mit den Avantgarden verbindet, ist der lebenskünstlerische Anspruch, Ausdruck und Biografie zu verschmelzen. Mit Moderne und Dekadenz hat er die im Dandy herausgestellte Exzentrizität und radikale Verweigerung gegenüber dem bürgerlichen Alltag gemein. Auch der wuchtig-religiöse Barock gehört zum Steinbruch, aus dem er sich bedient – so wie er Dichterfiguren aus der Romantik zu seinen Idolen erhebt.6 Eine weitere Referenz ist die amerikanische Beat-Boheme um William S. Burroughs, Allen Ginsberg und Jack Kerouac. Deren stadtaffine Dichtung transpor4 | Zu Pop als Avantgarde siehe die ausgesprochen instruktive Einleitung in P ompe , Anja: Pop als Avantgarde. In: D ies .: Peter Handke. Pop als poetisches Prinzip. Köln-WeimarWien 2009, S. 13-72. – Des Weiteren zu seinen Funktionsweisen vgl. die Studie von H eidingsfelder, Markus: System Pop. Berlin 2012. 5 | B ondy, Egon: Die invaliden Geschwister. Aus dem Tschechischen v. Mira S onnenschein . Heidelberg 1999, S. 29. – D ers .: Invalidní sourozenci. Brno 2002, S. 24: »Na prsou měla sestřenka vypleteny symboly posvátných dávných obřadů v kouzelné změti výtvarné a v sousedství nesčetných naivních historických anachronismů, jako Buddhu s Davidovou hvězdou, kříž s hákovým křížem na něm ukřižovaným, opeřeného hada Quecalkoatlova s výrobní značkou firmy Ford atd.« 6 | Siehe auch Martin Pilařs Auslegung von Underground und cult fiction. – P ilař , Martin: »Cult Fiction« a česká alternativní literatura [»Cult Fiction« und die tschechische Alternativkultur]. In: Česká literatura rozhraní a okraje. Hg. v. Lenka J ungmannová . Praha 2011, S. 143-149.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
tierte eine eher düstere Stimmung, kreierte rätselhafte Bilderwelten, stand für Glücksverneinung und Technikverdammung, für Ziellosigkeit und Vagantentum, Eskapismus und Passivität, das Abfeiern von Langeweile. Kurzum: Sie war Anti-Haltung.7 Die Parallelen zwischen dem Totalen Realismus eines Egon Bondy und der amerikanischen PopArt jener Jahre sind vor allem strukturelle. In den 1990er Jahren stellte Bondy denn auch rückblickend fest, dass die Ästhetiken seines Totalen Realismus wie auch der Peinlichen Poesie von Ivo Vodseďálek Bewegungen wie PopArt und Hyperrealismus gewissermaßen schon vorweggenommen hätten. So beschreibt er, dass es im östlichen Mitteleuropa nichts und gleichzeitig alles gab: be-bop, ready mades, hard-sex und vagabondage; statt Drogen »Obstvermut«; statt Zenbuddhismus Paramystik.8 Dass PopArt die »Agression des Trivialen« aus Kommerz, Konsum und Werbung ästhetisch nutzte, so wie der Underground die »Agressivität des Trivialen aus der Allgegenwart der stalinistischen Fetische und Slogans«.9 Martin Pilař macht indes generelle Unterschiede aus zwischen den amerikanischen Beatniks und dem tschechischen respektive ostmitteleuropäischen Underground. Während erstens der Schriftsteller als outsider in der angloamerikanischen Literatur eine quasi natürliche Berechtigung habe, sehe dies in den Kulturen des östlichen Mitteleuropa anders aus. Pilař spielt auf das tradierte Verständnis vom Schriftsteller im Dienst des Kollektiven an und verweist damit auf das Dilemma »kleiner« Literaturen. Zweitens sei der Aufmerksamkeitsmarkt für die Beatniks ein globaler gewesen, anders als bei den allenfalls Eingeweihten und Staatsorganen bekannten Underground-Autoren wie Bondy und Vodseďálek.10 Zugleich lehnt Pilař die augenzwinkernde Bemerkung von Martin Machovec ab, 7 | B ondy, Egon: O filizofii, undergrounde, ctnosti a legendách [Über die Philosophie, die Tugend und die Legenden]. In: Dotyky 1 (1994), S. 2-7, hier 7: »Dasselbe machte synchron mit uns die junge Generation in den Vereinigten Staaten – was weder wir noch sie ahnten. Als ich also 1990 nach New York kam, wir dort darüber diskutierten und mit Allen Ginsberg einige Samizdat-Sachen von damals übersetzten, stellten wir fest, dass die Parallele geradezu ›striking‹ war, ungeachtet der angeblich diametralen Gesellschaftserfahrung.« 8 | D ers .: Kořeny českého literárního undergroundu v letech 1949-1953 [Die Wurzeln des tschechischen literarischen Underground in den Jahren 1949-1953]. In: Pohledy zevnitř. Česká undergroundová literatura ve svědectvích, dokumentech a interpretacích. Hg. v. Martin M achovec . Praha 2008, S. 61-69, hier 65. Die englische Version erschien schon 2006 in Views from the Inside. 9 | Ebd., S. 67. 10 | P ilař , Martin: K typologickým souvislostem v tvorbě autorů edice Půlnoc a americké beat generation [Zum typologischen Zusammenhang zwischen dem Schaffen der Edition Mitternacht und der amerikanischen Beat Generation]. In: D ers .: Vrabec v hrsti aneb Klišé v literatuře. Praha 2005, S. 94-108, hier 94-97
1. Versuch einer Begriffsver flechtung
einzig in den USA und der Tschechoslowakei habe der Underground künstlerisch zur vollen Reife kommen können.11 Er bleibt dagegen bei der plausibleren Annahme, dass wir es mit strukturellen Analogien, typologischen Gemeinsamkeiten und lebensweltlichen Übereinstimmungen zu tun haben. Die amerikanischen Beatniks gerierten sich als Außenseiter und Rebellen, stilisierten sich als Opfer. Ihre gelebte Kunstdurchdringung, ihre ekstatischen Schreigedichte, die experimentelle Jazz-Prosa, die Verhandlung explosiver Themen wie Gewalt, Sucht, Sexualität – und auch das Bekenntnis zur Homosexualität – inspirierten ihnen nachfolgende Subkulturen. Richard Svoboda analysierte diesen Umstand an einem Gedicht des Slowaken Andrej Stankovič und kam zu dem Schluss, dass mit der »Orientierung auf die empirische Sphäre der Empfindungen« die für den Underground charakteristische »ständige Thematisierung physiologischer Bedürfnisse« zusammenhänge, darunter »die unterschiedlichsten Formen des Urinierens, des Kotabgangs und der sexuellen Befriedigung«, zu denen ein »ununterbrochenes Erinnern an die biologische Bestimmung«, an das Niedrige und Triviale hinzukomme. Dadurch funktionieren die Werke des Underground als »Teil einer provozierenden und demythisierenden Kampagne gegen ideale gesellschaftliche wie existenzielle Konstrukte«.12 Wird der Ost-Underground mehr oder weniger reflexhaft einer Sphäre namens »Dissens« zugeordnet, ließe sich das abgeschwächt auch für seine Pendants im Westen artikulieren. Sie durften, vor allem aber wollten als gegenkulturelles Phänomen nicht mit dem Wohlwollen der Gesellschaft und ihrer Kommandohöhen rechnen. Wohl waren die persönlichen Konsequenzen für den Einzelnen steuerbarer, konnte er nicht zuletzt auf einen allgemeinen Wohlstand rechnen. Subjektiv aber standen hier wie dort Exklusions- und Repressionserzählungen im Kern entsprechender Selbstbehauptungen. Indes haben zweifellos handfeste Publikationsverbote und offensive Korrekturregime die Inszenierung einer existenziellen Oppositionsästhetik auf gewisse Weise kontrastschärfer gemacht, sie, wenn man so will, erleichtert. Der späteren Abgrenzung gegen andere Artikulationen von Dissens wie Exilliteratur oder Samizdat vorgreifend: Der Underground verabsolutiert weniger Resistenz, Dissidenz, Nonkonformität, denn deren Ausdruck. Eine Schlüsselkategorie zu seiner Analyse ist mithin das Leben als Totalität beziehungsweise eine entsprechende Selbststilisierung und Automystifikation. Folgerichtig zeigt Underground-Kunst sich ausgeprägt empfänglich für mystisch-religiöse Szenarien, zelebriert eine Post-Boheme-Kultur, die die klassische Boheme selbst zum abgesi-
11 | Ebd., S. 98. 12 | S voboda , Richard: Metatext o »metatextu«, o máku, plečce, ajznboňákovi a vejpravčím [Metatext über einen »Metatext«, den Mohn, eine Hacke, Eisenbahner und Fahrdienstleiter]. In: Tvar 5 (1996), S. 17.
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cherten Spießertum schlägt – gerade auch in der ästhetischen Entsicherung seiner gesteigerten Formzerschlagung. Helmut Kreuzer erläuterte zur Konvention des Boheme-Begriffs, dieser beziehe sich auf »marginale Künstler und Autoren, deren ›abweichende Lebensform‹ und ihr Milieu«. Für ihn setzt Boheme Zivilisationskritik und den Naturbegriff Jean-Jacques Rousseaus voraus; aber auch eine »Tendenz zum Genie- und Übermenschenkult«, den »historischen Triumph der Schöpfungsästhetik«, ein »enthusiastisches Künstlerbild« und »Zusammengehörigkeitsbewusstsein der ›Künstlernaturen‹ gegenüber allen anderen«, insbesondere aber gegenüber »den bürgerlichen Mittelklassen«. Ausgehend von bohèmien als ursprünglichem Wort für »Zigeuner«, schließt Kreuzer mit einem Blick auf die Beatniks und das »Provotariat«.13 Im Underground hingegen entspricht dem Zusammenhalt ein Spiel mit tribalen Bildern, mit Topoi von Gemeinschaft, Sippe, (Indianer-)Stamm oder Rudel, die auf primordiale Ordnungen abstellen.14 Wie in Clans üblich, ordnen expressive Riten das Zusammenleben. Underground-Kunst bedient sich intensiv des nur für Eingeweihte und Auserwählte lesbaren Querverweises, der Widmung und apokryphen-kryptischen Anspielung zur Vergewisserung eines Sich-Verstehens gegenüber »der Masse«. Clan, Stamm und Rudel sind Imaginationen einer männlich dominierten, undomestiziert »freien« Gemeinschaft, eine Form von »wahrer« Brüderschaft inmitten gleichsam fremdstämmiger Haustiere. Underground, zu Deutsch »Untergrund«, heißt polnisch podziemie, tschechisch podzemí, slowakisch podzemie, russisch podpol’e. Wie im deutschen Kontext lässt auch in den slawischen Sprachen »Untergrund« die Jahre in der Illegalität, den Widerstand zumal während des Zweiten Weltkriegs anklingen. Letztlich aber agiert jeder konspirative Revolutionär, jede verbotene Literatur, jede unerwünschte Kunstaktion »im Untergrund«, so dass der Begriff weder in historischer noch in ästhetischer Hinsicht über den semantischen Kern des Verbotenen hinaus eingeschränkt ist. Es bedarf allein einer Reibungsfläche des »Oben«, meist synonym als »das System« oder »die Macht« gelesen.15 Das englische underground impliziert demgegenüber eine ästhetische Zuordnung. Spätestens mit der amerikanischen Beat Generation erhielt der Begriff Konnotationen, die ihn allgemein in die Nähe jugendlicher Subkulturen stellten. Seither ist er als Anglizismus in die genannten Sprachen übernommen worden, ohne 13 | K reuzer , Helmut: Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart 1968, S. 42-50. 14 | Das lässt sich den Fotografien des Underground-Künstlers Abbé Libánský entnehmen. – L ibánsk ý, Abbé J.: My underground. Rodinné fotoalbum 1972/82 [My underground. Familienalbum 1972/82]. Wien 2004. 15 | Siehe hierzu Z an d, Gertraude: Totaler Realismus und Peinliche Poesie. Tschechische Untergrund-Literatur 1948-1953. Frankfurt am Main u.a. 1998, hier S. 149-150.
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indes konstant dieselbe Semantik zu entwickeln, sich überall in gleichem Maße, in analoger Aufladung oder auch nur korrespondierender Verwendung durchzusetzen. Hier geht es indes nicht primär um die Kennzeichung, sondern um ein wie auch immer Bezeichnetes, das mir in einem bestimmten Satz ästhetischer Verfahren zu liegen scheint. Um ein Phänomen, dass ich in allen hier angesprochenen poetischen Kulturen wirken sehe. So funktioniert underground im ungarischen Kontext ausgesprochen schwammig bis gar nicht – und arbeiten Experten wie József Havasréti und Endre Kukorelly lieber mit Begriffen wie »Neovantgarde« und »Gegenkultur«. Das Tschechische hingegen nutzt den Terminus seit Längerem und verknappt ihn sogar umgangssprachlich in androš; ähnlich verhält es sich im Slowakischen.16 Ivan Martin Jirous begründete die Übernahme aus dem Englischen mit der politischen Dimension von »im Untergrund sein« und fügte dem hinzu, es wäre »selbstmörderisch« gewesen, in Zeiten des Post-1968-Totalitarismus mit podzemí zu operieren.17 Schon artifizieller wirkt andegraund im Russischen. Er lässt sich inhaltlich indes über Fedor Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Untergrund (Zapiski iz podpol’ja) von 1864 mit Untergrund wie Underground verknüpfen. Leitmotivisch geht es in dieser Verbindung um den Aspekt der Freiheit. Für die einen ist die Freiheit des Untergrundmenschen in Dostoevskijs Souterrain absolut und extrem, für die anderen handelt es sich um eine negative Freiheit. Der Philosoph Jan Patočka deutet Dostoevskijs Kellermenschen als eine Figur, die sich der ontologischen Entfremdung bewusst ist, sich zwar selbstverliebt als »anders« und »besonders« wähnt, zugleich jedoch um die eigene Durchschnittlichkeit und Nichtigkeit weiß.18 Als »negativer Anonym« quäle sie sich im Unten mit der Erkenntnis, dass sie sich zwar zur Freiheit durchboxen könne, aber dennoch nie der Nichtigkeit des Seins entgehe.19 Dass der Untergrundmensch anschlussfähig für den Underground wurde, zeigt der im Buch besprochene Vladimir Makanin. Indes berichtet auch der Tscheche Pavel Zajíček, Mitbegründer der Underground-Band DG 307, dass ein Verlag 16 | Dem Underground-Musiker Josef Rössler zufolge handelte es sich um einen ursprünglich mährischen Ausdruck. – Rössler, »Bobeš« Josef: Obraz doby aneb Chaotické vzpomínky na život v českém undergroundu 70let [Ein Bild der Zeit oder Chaotische Erinnerungen an das Leben im tschechischen Underground der 1970er Jahre]. Praha 2009, S. 9. 17 | J irous , Ivan M.: O české undergroundové literatuře v 70. a 80. let [Über die tschechische Underground-Literatur der 1970 und 1980er Jahre]. In: Iniciály 8-9 (1990), S. 1-3, hier 1. 18 | Patočk a , Jan: Kolem Masarykovy filozofie náboženství [Über Masaryks Religionsphilosophie]. In: D ers .: Dvě studie o Masarykovi. Toronto 1980, S. 69-135, hier 86. – Vgl. dazu auch das Kapitel über Vladimir Makanin. 19 | Ebd., S. 87.
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seine Notizen aus den 1970er und 1980er Jahren unbedingt unter Aufzeichnungen aus dem Untergrund (Zápisky z podzemí) ins Programm nehmen wollte, obwohl er einen anderen – unverfänglicheren – Titel vorgeschlagen hatte.20 Martin Pilař macht gleichfalls auf die vertikale Dimension aufmerksam, auf die der Underground abziele, dessen Werke »nicht nur die Situation des Menschen ›unten‹ verhandeln, sondern sich zugleich auf Ideale beziehen, die den Horizont des Alltäglichen überschreiten« würden.21 Genauer meint das, neben dem Primitiven, Schmutzigen und Anstößigen stehen immer auch »ewige« Begriffe wie Freiheit, das Infernale und das Göttliche. In der polnischen Kultur sind »Underground« und podziemie, »Untergrund«, dagegen sehr viel stärker besetzt durch den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Michael Fleischer hat sich deshalb für seine Untersuchungen von der Danziger TotArt-Bewegung den bewusst irreführenden Begriff »Overground« geborgt, doch ist dem bislang eine geringe Popularität beschieden.22 »Underground« funktioniert für diese Arbeit mithin als eine terminologische Klammer, die sich eher aus einer sprechenden und in der Tat – das wird zu zeigen sein – eingelösten Etymologie herleitet, denn aus divergierenden, je aktuellen und kontextabhängigen Verwendungen. So beginnt Martin Pilař seine Studie Underground über die tschechische Literaturszene mit der, wie er einräumt, zunächst banalen Feststellung, dass es »keiner großen intellektuellen Anstrengung bedarf zu schlussfolgern, dass die Literatur des Underground eine Literatur ist, die sich verstecken muss«.23 Das übersieht allerdings zwei wesentliche Komponenten des Phänomens. Zum einen ist Underground weder semantisch noch seiner Aufführungspraxis nach deckungsgleich mit einem Versteck. Eher schon handelt es sich um ein VersteckSpiel, das sehr bewusst und gezielt mit Verbergen und Entbergen, Camouflage und Offenlegung, Kode und aggressiver Dekodierung operiert. Zum anderen ist das Unten des Underground weit mehr als ein Versteck, vielmehr Teil einer mythischen Topografie im Sinne des eingangs zitierten Lothar Müller. Einer »Mythopografie« zudem, die fest im Bilderhaushalt der Kunst verankert ist: Treffend beobachtet Helmut Lethen in seinem Essay Fern vom Untergrund, kaum eine Literatur komme ohne »Schächte, Stollen, Keller und Höhlen« aus; der Romantiker sah sich gar als »Bergingenieur der Seele«.24 20 | Z ajíček , Pavel: Zápiský z podzemí (1973-1989) [Aufzeichnungen aus dem Untergrund]. Hg. v. Martin M achovec . Praha 2002, S. 7. 21 | P ilař , Martin: Underground. Kapitoly o českém literárním undergroundu [Kapitel über den tschechischen literarischen Underground]. Brno 1999, S. 144-145. 22 | F leischer, Michael: Overground. Die Literatur der polnischen alternativen Subkulturen der 80er und 90er Jahre. Eine Einsicht. München 1994, S. 11. 23 | P ilař : Underground, S. 13. 24 | L ethen, Helmut: Fern vom Untergrund. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 1 (2007), S. 45-56, hier 50 u. 56.
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Im Fall des Underground schlägt die Metaphorik sich in ästhetisch-moralischen Präferenzen nieder, die Gertraude Zand als ein »eigenständiges – qualitativ bestimmtes – semantisches Feld« beschreibt, das »das Erdige, Niedrige, Primitive, Dunkle, Unheimliche und Irrationale« privilegiere: Wesenhaft wird dem Underground zugesprochen, dass er sich auch im moralischen und philosophischen Sinne »unten« befindet: als dantesches Inferno und teuflische Unterwelt, als Welt der Triebe und Lüste, der Irrationalität und des Unbewussten; auch die Unterwelt im kriminellen Sinne ist eine hierher gehörende Ausformung des Begriffs. 25
Allgemeiner fasst es Thomas Ernst: Die Underground-Literatur entspreche dem subversiven Verfahren des Untertauchens, um auf dem Weg produktive Verweigerung zu betreiben, den Bruch von Systemregeln – aber auch von systemgenerischen Normgefügen.26 In späteren Überlegungen operiert er mit dem Begriff der »Untergrund-Literatur«, die er inhaltlich so spezifiziert: Untergrund-Literatur lässt [sich bestimmen] durch die Bezugnahme auf Protagonisten gesellschaftlicher Submilieus: Terroristen, Drogensüchtige, Kriminelle und Gefangene, sexuelle und ethnische Minderheiten, und jene, deren Stimme in der Literatur unterrepräsentiert ist, wie Frauen und Arbeiter. Die Texte bewegen sich häufig an den Orten der Ausgegrenzten, im »Ghetto«, einem »Untergrund«, einem besetzten Haus oder in einem Versteck, einer Höhle, der Kanalisation. Topoi des Hässlichen, Abseitigen, Gewalthaften, Rauschhaften und Wahnsinnigen werden aufgerufen. 27
Wenig überraschend wird das Phänomen Underground soziologisch im Umfeld von Subkultur(en) verortet; schon die geteilte Vertikalitätsmetapher legt es nahe. Indes widmet sich die Erforschung subkultureller Milieus zumeist relativ klar umrissenen Randgruppen, sozialen Minoritäten, Delinquenten, Jugendlichen, Migranten, unter diesem Label aber auch Frauen – so der gemeinsame Nenner in einer zuweilen etwas vage unterstellten Machtferne zu liegen scheint. Untersucht werden vom »Rest« abgetrennte Räume, nicht selten Ghettos und Slums, urbane Außenbezirke.28 Abgesehen davon, dass sich diskutieren lässt, inwieweit 25 | Z and: Totaler Realismus, S. 149. 26 | E rnst, Thomas: Subversion – Eine kleine Diskursanalyse eines vielfältigen Begriffs. In: Psychologie & Gesellschaftskritik 4 (2008), S. 9-34. 27 | D ers .: Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld 2013, S. 397-399. – Ernst operiert hier konsequent mit »Untergrund« in Bezug auf die Social-Beat-Bewegung, d.h. er geht von Literaturproduktion, Vertrieb, Infrastruktur aus. Andere von ihm angeführte Autoren wie Andreas Kramer oder Reinhard Döhl stützen sich dagegen auf ästhetische Kriterien und binden an den Begriff »Underground« Phänomene wie Rauhheit, Direktheit, Obszönität, Tabubruch. 28 | S chwendter , Rolf: Theorie der Subkultur. Bodenheim 1981, S. 11-12.
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dergestalt nicht essenzialisierte Kategorien wie »Alter« und »Geschlecht«, »Klasse« und »Ethnie«, »Religion« und »Sexualität« re-affimiert und partikulare Identitäten re-konstruiert werden,29 sticht die in der Praxis dominierende horizontale Ummünzung (»Randgruppe« gleich »Vorstadt«) des »Subkulturellen« ins Auge. Insoweit daraus aktiv-emphatische »produktive Verweigerung« wird, begegnet einem denn auch verstärkt der Begriff counterculture oder Gegenkultur, der als Selbst- wie Außenansprache in dieser Hinsicht uneindeutig bleibt. Auch er postuliert, dass es eine dominante, kanonisierte Kultur gebe, gegen die sich Einzelne oder Gruppen auflehnen. Kultur und Subkultur stehen für einen Konflikt von Establishment und Anti-Establishment, eine forcierte Aushandlung kultureller Hegemonie und Anerkennung im habermasschen Sinn. Darüber ist Subkultur in ein Koordinatensystem von Sozialem, Politischem, Kulturellem und Ästhetischem eingespannt, deren Ansprüche nie zueinander konstant sind – und auch nicht in sich selbst. Begriff und Konzept des Subkulturellen variieren je nach Zeithorizont, politischer Lage, Methode und Perspektive.30 Dem Underground geht es als Terminus und Idee insofern kaum anders. Indes verhandelt er – als Idealtyp – grundsätzlich anders und verhandelt etwas grundsätzlich Anderes. Im Unterschied zu Sub- als Gegenkultur im hier umrissenen Sinn fehlt dem Underground ein Horizont, in dem er Anerkennung fordern könnte. Er basiert vielmehr auf dem Postulat einer grundsätzlichen Unmöglichkeit sozialer Anerkennung als Defekt oder Aporie der modernen Kondition. Seine Kunst artikuliert in immer neuen Wendungen diese Aporie als Skandal, den jede Inklusion einer Ästhetik, einer Gruppe, einer Orientierung allenfalls zu verschleiern, nicht aber zu heilen vermag. In der Sprache dieses Buchs: Underground basiert auf einer Mythotopografie der Vertikalen und bleibt in ihr befangen, deren Ursprünge, Artikulationsweisen und Implikationen es im Folgenden auszuloten gilt. Am nächsten kommt ihm in der in ein vertikales Bild gefassten Grundsätzlichkeit derweil der Surrealismus, als dessen Thema sich die epistemologische Seite der modernen Falle begreifen lässt. Die Verbindungen zwischen surrealistischer Poetik und ästhetischen Strategien des Underground werden denn auch eigens anzusprechen sein. Anja Tippner steht der Liason von Surrealismus und Underground kritisch gegenüber, sieht allenfalls eine »instabile Allianz«, schließlich handele es sich beim Surrealismus um eine Künstlergruppierung, keine »soziologische Formation«.31 Zudem erscheine der Underground aufgrund seines »Desinteresses am Politischen auch nicht als avantgardistisches oder postavant29 | E rnst : Subversion, S. 23. 30 | R aab, Jürgen/S oeffner, Hans-Georg: Subkultur. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5. Hg. v. Karlheinz B arck u.a. StuttgartWeimar 2003, S. 786-805, hier 804. 31 | Tippner, Anja: Die permanente Avantgarde? Surrealismus in Prag. Köln-Weimar-Wien 2009, S. 263.
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gardistisches Phänomen«.32 Und als ein Weiteres kommt für sie das Problem der topischen Verortung hinzu, dass sie als »nicht hinreichend« ansieht: Das »Sur« des Surrealismus bezeichnet nicht so sehr einen sozialen Ort, sondern vorrangig ein ästhetisches Verfahren; durch die Erforschung und Ausbeutung des Un- oder Unterbewussten sollen jene Kräfte geweckt werden, die einer in Konventionen erstarrten Gesellschaft zur Befreiung verhelfen. 33
D ie W ende Die Wende dient hier als Abbreviatur für die mannigfaltigen Umbrüche in Ostund Ostmitteleuropa nach 1989. Zwar operiert praktisch keine Sprache außerhalb Deutschlands mit diesem Bild in einer annähernd ähnlichen Aufladung.34 Doch scheint die Chiffre plastisch, gewinnbringend, eben weil sie strukturgeschichtlich vage bleibt, derweil übergreifend anschlussfähig den angesprochenen Moment einer Entsicherung umschreibt. Dass Historiker namentlich für den Untergang der DDR im Herbst 1989 den Begriff der »Friedlichen Revolution« verwendet wissen wollen, mag angemessen sein, spielt aber für die hier angestellten Überlegungen zur Poetik des Underground wenn überhaupt, dann nur eine marginale Rolle.35 Gefragt wird vielmehr nach den Auswirkungen, die der Einschnitt auf Konzepte und Praktiken von Underground(-Kunst) hatte. Zum einen geht es um deren schiere Existenzmöglichkeit unter den neuen Bedingungen; zum anderen, und damit einhergehend, um die bereits angeklungene strukturelle Nähe zum Pop. Beides scheint unverzichtbar, will man das Phänomen »Underground« adäquat verstehen und einordnen: Die Wende stellte gewissermaßen eine Nagelprobe für seine Funktionsmechanismen dar, die darüber erkennen lässt, welche Zeitbedingungen ihnen vorausliegen müssen – und welche nicht: Auf was genau Underground also reagiert. 32 | Ebd., S. 278 u. 269. 33 | Ebd., S. 271. 34 | Vergleichbare Bezeichnungen für historische Umbrüche gibt es auch andernorts, z.B. polnisch = przełom, tschechisch = přelom. Allerdings werden sie – anders als deutsch »Wende« – weniger topisch für »1989« gebraucht. 35 | Vgl. Martin Sabrows instruktive Überlegungen zur Begriffstauglichkeit, in denen er das Für und Wider zwischen Alltagssprachlichkeit und Revolutionssemantik erläutert. Die Radikalität des Umbruchs und das Aushebeln der bislang gültigen Ordnung sind für ihn ausschlaggebend, den Begriff »Revolution« zu verwenden. Eine Kontaminierung von »Wende« durch ehemalige DDR-Politiker wie Egon Krenz sieht er aber nicht gegeben. – S abro w, Martin: »Wende« oder »Revolution?« Zur Debatte um den Umbruch 1989/90. In: Nation und Revolution. Ernst Engelberg und Walter Markov zum 100. Geburtstag. Hg. v. Wolfgang K üt tler u. Matthias M iddell . Leipzig 2011, S. 45-56.
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Vor der Wende war Underground im Osten Europas doppelt kodiert: Seine Vertreter rezipierten einerseits amerikanische und westeuropäische Vorbilder, andererseits spielten die oben angesprochenen politisch-ästhetischen Semantiken ihre Rolle. Mit 1989 wandelten sich die Bedingungen für jede Form von Kunst und Öffentlichkeit. Während Zensur, Bespitzelung, Publikations- beziehungsweise Aufführungsverbote weitgehend verschwanden, etablierten sich neue subventionspolitische und marktwirtschaftliche Selektionsmechanismen. Auf manchen ersten Blick war das Resultat ironischerweise eine Homogenisierung der Lebensäußerungen und -stile. So schreibt die slowenische Schriftstellerin Nataša Velikonja: [Die Haltung der Underground-Künstler im Spätsozialismus] war nicht patchworkartig, sondern zielte auf Intervention; ihre Ausrichtung war nicht das Ghetto, sondern die gesamte Gesellschaft; nicht die Struktur war ihr Domizil, sondern die Situation. Sie zielten geradewegs auf das Zentrum, auf den Mainstream. Ihre verzerrte Musik und ihre Rhythmen, ihr transgressives Äußeres, Image und Vokabular unterbrachen den monotonen Marsch gesellschaftlicher und politischer Routine. Sie setzten ihm ihre Unangepasstheit und Illoyalität als emanzipatorische Prinzipien entgegen. Und sie wurden zum Mainstream. 36
Der gewiss befangene, etwas melancholische Befund hat eine systematische Pointe: Es scheint für den Underground vordergründig keine Option der radikalen Absetzung von politischen Autoritäten mehr zu geben, sobald diese aufhörten, autoritär zu agieren, schlicht die Angriffsfläche verweigern, nicht zuletzt abwählbar sind. Ebenso ist die kommerzielle Sphäre formal frei. Und dennoch erweist sich die Gesellschaft als strukturell vermachtet, ihr Normalisierungsimpuls als erheblich.37 Die eindeutigste Konsequenz hat wohl Jáchym Topol gezogen. Der 1962 geborene Schriftsteller gehörte vor der Wende zum tschechischen Underground, war einer seiner namhaften Vertreter und ist heute auch in Deutschland ein Autor 36 | V elikonja , Nataša: Kampf um die Städte. In: Sprung in die Stadt. Chişinău, Sofia, Pristina, Sarajevo, Warschau, Zagreb, Ljubljana. Kulturelle Positionen, politische Verhältnisse. Sieben Szenen aus Europa. Hg. v. Katrin K lingan u. Ines K appert. Bonn 2006, S. 514-518, hier 515. 37 | In Grundzügen erinnert diese Enttäuschung an die in den kapitalistischen Demokratien der späten 1960er und 1970er Jahre geführte Debatte um eine »repressive Toleranz«, angestoßen von M arcuse , Herbert: Repressive Toleranz. In: Wolff, Robert Paul/ M oore , Barrington/M arcuse , Herbert: Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt am Main 1965, S. 91-128, hier 100: »Die Gefahr ›zerstörerischer Toleranz‹ (Baudelaire), ›wohlwollender Neutralität‹ gegenüber der Kunst ist erkannt worden: der Markt, der (obgleich oft mit ganz plötzlichen Schwankungen) gleich gut Kunst, Anti-Kunst und Nicht-Kunst, alle möglichen einander widerstreitenden Stile, Schulen und Formen in sich aufnimmt, liefert ein ›behagliches Gefäß, einen freundlichen Abgrund‹ (Wind), in dem der radikale Impuls der Kunst, ihr Protest gegen die etablierte Wirklichkeit untergeht.«
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mit Kultstatus. Für Topol – und mit ihm für viele andere – hat der Underground mit dem Ende des autoritären Staatssozialismus aufgehört zu existieren und mit Letzterem seine Ratio verloren. Er möge, so Topol, in China, in Vietnam oder an anderen totalitären Orten fortleben, aber nicht mehr im Osten Europas, in Westeuropa ohnehin nicht, geschweige in Amerika.38 Topol negiert mithin zweierlei: Dass es ein ästhetisches Verfahren »Underground« einerseits außerhalb, andererseits nach dem staatssozialistischen Kontext geben könne. Indes scheint aus dieser Abschiedsgeste eine gewisse Stilisierung zu sprechen. Topols Ästhetik ist genuiner Underground – und zwar, das wird die nähere Analyse ausweisen, vor wie nach der Wende. Analog werden anhand von Texten seiner Altersgenossen wie Jurij Andruchovyč und Andrzej Stasiuk (mögliche) Wege von Underground-Ästhetiken über die Epochenkluft verfolgt, seine Optionen angesichts der demokratisch-kapitalistischen Paradigmenwende. Wobei unbestritten bleibt, dass der Moment, in dem mit Rede-, Reise- und Ausdrucksfreiheit eine fundamentale soziale Entsicherung daherkam, in dem scheinbar fest gefügte Autoritäten fielen und nicht zuletzt die künstlerische Produktion aus staatlichen Subventions- und Repressionszusammenhängen teils entlassen wurde, teils sich diese rekonfigurierten, eine Fundamentalverschiebung in den Bedingungen und Bedeutungen ästhetischer Verfahren markiert. Dennoch widerlegen auch Stasiuk und Andruchovyč, das wird ebenso zu zeigen sein, das topolsche Postulat. Namentlich vollziehen sie eine komplexe räumliche Wendung, die es ihnen erlaubt, eine Ästhetik des Underground unter Anpassung dessen poetischer und rhetorischer Strategien fortzuschreiben. Unzweifelhaft – es sei wiederholt – war Underground im Staatssozialismus Untergrund, seine Vertreter wurden politisch verfolgt. Josef Škvorecký formulierte aus dem kanadischen Exil entsprechend scharf, anders als im Westen sei Underground im Osten eben kein »Reklame-Ettikett« gewesen.39 Was freilich einen Underground im Westen prinzipiell zulässt, wenn auch vielleicht keinen »echten«, satisfaktionsfähigen. Es soll hier jedoch weder um politische Wertungen noch um moralische Haltungsnoten gehen, sondern um philosophische Vorannahmen und ästhetische Konsequenzen. Der 2007 verstorbene Undergrund-Guru Egon Bondy sah es gelassener und konnte im Verschwinden eines offen repressiven »Oben« kein Problem für die Kunst des Underground erkennen. Anfang der 1990er Jahre schätzte Bondy die Attraktivität der Szene für weite Kreise der Jugend noch hoch ein und meinte:
38 | Topol , Jáchym: Slalom mezi idejemi. Rozhovor se spisovatelem Jáchymem Topolem [Slalom zwischen den Ideen. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Jáchym Topol]. In: Respekt 25 (1994), S. 10. 39 | Š kvoreck ý, Josef: Případ Jazzové sekce [Der Fall der Jazz-Sektion]. In D ers .: Franz Kafka, jazz a jiné marginálie. Toronto 1988, S. 25-63, hier 35.
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»The history of the Czechoslovak underground is by no means at its end: it goes on despite the changes of the establishment.« 40 Und in einer eigentümlichen Volte, als könne er weder von seinem Beerdigungspathos lassen, noch von dem Toten – einem »Reklame-Etikett« – schließt sich Topol auf eine durchaus dem Underground gemäße Weise an. In einem Interview rettete er das Gruppenphänomen Underground schlicht ins eigene Ego und erklärte: »Der Underground bin ich!« 41 Derweil schlägt Thomas Ernst gerade Topol, aber auch andere nach der Wende schreibende Underground-Autoren in die Kategorie »Pop-Literatur«. 42 Nicht nur im Sinne des oben Gesagten lässt sich eine solche Einordnung in der Tat nicht ohne Weiteres von der Hand weisen und würde sowohl Škvoreckýs Verachtung als auch Velikonjas Trauer auf einen Begriff bringen. Spätestens Mitte der 1990er Jahre kippte die systemopponente Pop-Kultur weltweit ins Inflationäre: Pop-Kultur inkorporierte nicht mehr Massenkultur, sondern der Alltag verinnerlichte den Pop. »Mainstream der Minderheiten« nennen Tom Holert und Mark Terkessidis die Umkehr der Subversion in Nivellierung: »Wo sich Dissidenz einmal des Konsums bediente, so bediente sich nun der Konsum der Dissidenz. Alles war zu gebrauchen, was Identität durch Differenz versprach.« 43 Vor diesem Hintergrund lässt die Wende oder – pathetischer gesprochen – lassen die Revolutionen von 1989 sich als Teil einer konsumgetriebenen Globalisierungsbeschleunigung lesen, die horizontale wie vertikale Differenzen, kulturelle Differenzierungen und Absetzungsgesten ungültig machte. Gegen diese Lesart spricht einmal der allzu augenfällige Repetitionscharakter einschlägiger Dekadenzdiagnosen. Zum anderen, dass das Underground-Gefüge vor der Wende schon dergestalt »unterspült« war, dass der Underground bereits in den ausgehenden 1980er Jahren in einem global(isiert)en Rezeptionsnetz agierte – ebenso wie er Analogien (und offenkundige Divergenzen) zum Pop aufwies. Bei näherer Betrachtung verliefen ästhetische Entwicklungen in der westlichen (kapitalistischen) und östlichen (sozialistischen) Hemisphäre mit Abstrichen frappierend zeitgleich und strukturanalog. Zumal sich die postheroische Konsumgesellschaft und Zusammenführung von Massen- und Renitenzkultur bereits zu Ende der 1970er Jahre beidseits der Grenzen abzeichnete und ästhetische Reflexe provozierte – darunter den Underground. 40 | B ondy, Egon: The Roots of the Czech Literary Underground in 1949-1953. In: Views from the Inside. Czech Underground Literature and Culture (1948-1989). Manifestoes – Testimonies – Documents. Hg. v. Martin M achovec . Praha 2006, S. 49-58, hier 58. 41 | Topol : Slalom mezi idejemi, S. 10. 42 | E rnst : Popliteratur, S. 63. 43 | H olert, Tom/Terkessidis , Mark: Einführung in den Mainstream der Minderheiten. In: Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Hg. v. D ens . Berlin-Amsterdam 1996, S. 5-19, hier 6.
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Die Wende als analytisch zu überschreitende, auf dem Weg als Sonde taugliche Grenzmarke chiffriert hier mithin eine grundsätzliche Entgrenzung meiner Betrachtung des Underground in politisch-systemischer, sozioregionaler und eben diachroner Hinsicht. Wiewohl lokal verankert, ist das Anliegen ein weitergefasstes: Ungefähr zur selben Zeit, zu der Holert und Terkessidis den Untergang popkultureller Dissidenz im Mainstream postulierten, gab Jáchym Topol zu verstehen, dass eben dies dem (Ost-)Underground aufgrund seines Verschwindens erspart geblieben sei. Beides ist leichter behauptet denn belegt. Beides atmet dieselbe pessimistische Trauer. Und beides scheint mir auf verwandte Weise unzutreffend.
D ie S tad t Die Stadt ist, in welcher Form auch immer, aus der Kunst der letzten zwei Jahrhunderte nicht wegzudenken, wird im 20. Jahrhundert gar ihr schlechthinniger Topos, im curtiusschen Sinne ihr Denkschema. Künstler reagierten nicht nur auf die zunehmende Verstädterung, sondern nahmen sich des Städtischen, des Urbanen in all seiner Bandbreite an, nahmen es als Reibungsfläche, überhöhten die (moderne) Stadt zum Ausdruck eines umfassenden Wandels. Das produzierte euphorische Deutungen auf der einen Seite und verzweifelte Zurückweisungen auf der anderen. Indes meint Stadtkunst hier Werke, Manifeste, Filme, Songs, die entweder von einer konkreten Stadt ausgehen, Städtenamen in ihrem Titel führen, topografische Hinweise auf reale Städte beinhalten oder sich mit Topoi urbanen Lebens, allemal mit konkret städtischem Dasein auseinandersetzen. Indem solche Großstadttexturen unabhängig von der jeweiligen Positionierung zumal das »Sehen des Sehens« (Silvio Vietta) thematisieren, ein fulminantes und ausuferndes Beobachtungsszenario entfalten, modifizieren sie die sinnliche Wahrnehmung nicht nur der Stadt, sondern der Welt überhaupt. Die entsprechenden Stadtbilder und Kunststädte jedoch sind Ergebnis sprachlicher, filmischer, malerischer Tätigkeit, individuell hergestellte Projektionen – wenn auch nicht im leeren Raum entstanden. Dennoch: Kunst, die die Stadt zum Thema macht, ist nicht lediglich als ein »Reflex großstädtischer Wirklichkeit« zu denken. Andreas Mahler hat dem im Begriffspaar »Stadttext« und »Textstadt« Ausdruck gegeben. Sein »Stadttext« signalisiert den Bezug auf existierende Städte. »Textstadt« rekurriert auf die Autonomie des Texts, auf die Fähigkeit, in der Kunst autonome Referenzstädte zu schaffen – Franz Kafkas Prag gehört ebenso in diese Kategorie wie Charles Dickens’ London oder Émile Zolas Paris. 44 Am 44 | M ahler, Andreas: Stadttexte-Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution. In: Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination. Hg. v. D ems . Heidelberg 1999, S. 11-36.
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Ende erweisen sich die Städte der Kunst bei aller Realienverwendung immer und zuerst als solche »immateriellen« Orte, als Räume des Fiktionalen, der Imagination. 45 Von diesem Gedanken ist der Weg kurz zu Heinz Paetzolds metastädtischer Einlassung, es sei dem »heutigen Wortgebrauch von urban noch der normative Klang einer kosmopolitischen Weltläufigkeit abzulauschen. Sie enthält einen ästhetischen Kern: das zwanglose und spielerische Umgehen des Menschen mit seinem sinnlichen und geistigen Vermögen, das durch den gesellschaftlichen Verkehr in der städtischen Lebenswelt stimuliert wird und sich in ihr auch verkörpert«. 46 Paetzolds urbanes Spiel führt im Underground an die Grenzen der Existenz, wenn die Stadt seinen Figuren den Weg weist, auf dem es heißt: last exit exitus. Gegen den »normativen Klang« nun bringt der slowakische Philosoph Miroslav Marcelli denn auch vor, bei aller spielerischen Bezugnahme auf die moderne Stadt sei sie doch schwer zu ertragen, buchstäblich zum Davonlaufen. Wobei sie jeden Fortgang mit einer Rückfahrkarte absichere. In Berufung auf Jean-Jacques Rousseaus »Bekenntnisse« bescheinigt Marcelli der Stadt Heimat und Exil, Identität und Entfremdung zu sein. Diese Doppelfunktion mache aus der Stadt einen unabschüttelbaren Hintergrund, auch für diejenigen, die ihr den Rücken zukehren: »We can do nothing else but resign ourselves to our internment in the city.« 47 Auch der Underground kann und will der Stadt nicht entkommen – Fluchttendenzen und Abgehörigkeiten zum Trotz, wie sie sich am Einzelfall zeigen werden. Dass er vielfach das Umland für seine Aktionen nutzte, hatte mehrere Gründe. Zwar boten erstens Städte eine gewisse Anonymität und darüber Schutz, zudem eine Vielzahl von Begegnungsorten. An ihren Rändern, in Kleinstädten und Dörfern jedoch zerfaserte mit der Kommunikationsdichte auch die obrigkeitliche Kontrolle über die Veranstaltungsorte. Zweitens verdoppelte sich im Umland die Perspektive des Außerhalbseins, wie es Sylvia Sasse anhand der Reisen vor die Stadt (Poezdki za gorod) beschrieb, die die Moskauer Konzeptualisten in den 1970er Jahren zu unternehmen began45 | D onal d, James: The Immaterial City. Representation, Imagination, and Media Technology. In: A Companion to the City. Hg. v. Gary B ridge u. Sophie Watson . Oxford 2000, S. 47: »The immaterial city is an imagined entity relating to urban experiences.« – Donald beruft sich hier auf Ihab Hassan, der festhielt, dass keine Stadt nur Repräsentation sein könne. Vgl. D onal d, James: Vorstellungswelten moderner Urbanität. Wien 2005, S. 25. 46 | Stichwort »Urbanismus« von Paetzold, Heinz: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 6. Hg. v. Karlheinz B arck u.a. Stuttgart-Weimar 2005, S. 281-311, hier 282-283. 47 | M arcelli, Miroslav: The City – A Meeting Place. In: Scepticism and Hope. Sixteen Contemporary Slovak Essays. Hg. v. Miro K ollár . Bratislava 1999, S. 187-203, hier 187. – Der Foucault-Spezialist ist auch Verfasser des Bandes Philosophen in der Stadt (Filozofi v meste, 2008).
1. Versuch einer Begriffsver flechtung
nen. Sie fuhren aus Moskau heraus und übten sich in »praktischer Ästhetik«, indem sie das Reisen als Erkenntnis zelebrierten. Ihre Reisemittel – Bus, Straßenbahn, Metro – dienten als »Sehvehikel« oder »Livingstons Mercedes«, also als ein Transportmittel der Verfremdung, das am Ende sogar den Ortswechsel überflüssig machte. Es genügte schon, im Vehikel Platz zu nehmen, um eine imaginierte Bewegung aufzurufen. 48 Drittens schließlich bedient »das Hinausschwärmen in die Natur eskapistische Tendenzen und sucht nach einem utopischen Ort nicht in, sondern jenseits der Gesellschaft«, so Anja Schwanhäußer über die Berliner »Kosmonauten des Underground«. 49 Mit der Flucht aus der Stadt wird auch das Stadtzentrum geflohen, das Roland Barthes zufolge konzentrisch auf die Mitte der europäischen Städte hin angelegt wurde – passend zur westlichen Metaphysik, die dem medium metaphysicum entgegen strebt. Das Zentrum ist der Ort der Wahrheit, der Erleuchtung; an ihm sammelt und verdichtet sich alles. Auf die Stadt gewendet heißt das: die Kirche als Ort des Spirituellen; das Kaufhaus symbolisiert den Warenverkehr; die Büros stehen für die Ausübung der Macht; die Banken für den Geldtransfer und die Sprache findet sich auf den Plätzen und in den Cafés. Peter Zajac sieht eine weitere unhintergehbare Verbindung zwischen dem Urbanen und dem Underground. Der Underground ist bei ihm erstens mit dem ambivalenten vergilschen Verständnis von Unterwelt verbunden und greift zweitens die dantesche Positionierung des Unten als höllisch auf, um drittens aus einem städtebaulichen Fakt metaphorische Aufladung zu ziehen: Auf der einen Seite entwickelte sich aus dem Ort der Unterwelt die Stadt. Mit dem Begriff »Underground« begann sich nämlich primär die technische Infrastruktur zu verbinden: das Verkehrsnetz, die Kanalisation für den städtischen Abfall, die Leitungssysteme für Wasser, Wärme und Strom. Der urbane Untergrund verwandelte sich in ein komplexes soziales Netz und wurde gewissermaßen zu einer Folie der Oberfläche. 50
Das, was nun die städtische Topografie des Underground ausmacht, ist dessen ästhetisches Spiel mit peripheren Orten, Un-Orten und Hetereotopien im Sinne Marc Augés beziehungsweise Michel Foucaults. Und damit trifft der Underground
48 | S asse , Sylvia: Zagraničnost’ – Ausländigkeit. In: Exklusion. Chronotopoi der Ausgrenzung in der russischen und polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Wolfgang Stephan K issel u. Franziska Thun -H ohenstein . München 2006, S. 271-287, hier 280-282. 49 | S chwanhäusser , Anja: Kosmonauten des Underground. Ethnografie einer Berliner Szene. Frankfurt-New York 2010, S. 206. 50 | Z ajac , Peter: Underground, Overground. Bratislava und der gläserne Berg. In: Unter der Stadt. Subversive Ästhetiken in Ostmitteleuropa. Hg. v. Mónika D ószai, Alfrun K liems u. Darina P oláková . Köln-Weimar-Wien 2014, S. 139-165, hier 148.
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eine Entscheidung gegen das Zentrum – aus eben den Gründen, die Barthes für ein Stadtzentrum geltend macht. Augés Nicht-Orte (non-lieux) besitzen aufgrund ihres Durchgangscharakters eine nur geringe symbolische Ausstrahlung. Die schwache Markierung solcher Nicht-Orte, von Bahnhöfen, Flughäfen, Autobahnen oder Einkaufszentren, führt dazu, dass diese Orte in geringem Maße identitätsstiftend wirken.51 Umso stärker freilich ist ihr Potenzial, eine Identifikation mit dem Nicht-Identitären zu ermöglichen. Manager, Freelancer wie Tramp realisieren ihr Sosein als Anderssein an Orten austauschbarer Flüchtigkeit, und sei es nur im Statusvollzug des Pappbecher-Kaffees. Ihr romantisch klischiertes Sprachrohr ist der erzählende Wanderer; das klassisch-moderne der rasende Reporter; das zeitgenössische der Blogger und sein MacBook – der ortlose Beobachter. Foucaults Heterotopien derweil existieren unkommunizierbar außerhalb der sozialen Ortung: Irrenanstalten, Toiletten, Friedhöfe, Festwiesen, Krankenhäuser, Kinderheime – aber auch Züge und Schiffe. Heterotopien sind »realisierte Utopien«. Sie besitzen ein internes Ordnungsprinzip, das sie als das Andere der Gesellschaft ausweist – eingerichtet, um das Anomale zu disziplinieren oder das Vollkommene zu pflegen. Oft sind sie räumlich abgegrenzt, haben ihren eigenen Zeitlauf, sind gleichermaßen isoliert wie offen. Man kann sie betreten, aber nur mit einer »gewissen Erlaubnis« oder nach Vollzug »gewisser Gesten«.52 Die Stadt des Underground changiert zwischen diesen beiden Topologien. Unhintergehbar ist allein sie: die Stadt. Schließlich bringt die Stadt eine paradigmatische Figur der Moderne ins Spiel, die in den hier betrachteten Texten immer wieder auftritt, teils nach bemerkenswerten Metamorphosen: den Flaneur. Nach Leonhard Fuest ist er in der Moderne »wie seine Kulisse, die Großstadt, dazu ausersehen, eine so unruhige wie beunruhigende Qualität anzunehmen«.53 Im Grunde setzt dieses Buch dort an, wo Fuest seine Beobachtungen zur »Poetik des Nicht(s)tuns« schließen lässt: mit dem Moment des »Ausrastens« als Ende der Flanerie. Nach den »schleppenden Schritten« von Charles Baudelaire, der Flaneur-»Therapie« von Walter Benjamin, dem »desperaten Flanieren« Siegfried Kracauers, Franz Hessels »verdächtig freundlichem Flanieren«, dem »kämpferischen Spazieren« von Robert Walser sieht Fuest diesen Entwicklungmoment des »Ausrastens«, also von Ausklinken und Durchdrehen, etwa in der »überdrehten« Stadt-Suade von Thomas Bernhard oder der Verbitterung eines Rolf Dieter Brink-
51 | A ugé , Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main 1994. 52 | F oucault, Michel: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. von Karlheinz B arck . Leipzig 1990, S. 34-46. 53 | F uest, Leonhard: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800. München 2008, S. 101.
1. Versuch einer Begriffsver flechtung
man, gekommen.54 An ihnen konstatiert er ein dem Flaneur erst in jüngster Zeit eigenes oder mögliches aggressives Potenzial, seinen Amok – für den in diesem Buch wiederum die Stadtwanderer Egon Bondys und Marcin Świetlickis stehen. Fuest nimmt eine »Hegemonie« der Gehetztheit wahr und spekuliert, die darüber freigesetzte Energie bedinge das Umschlagen einer »Internalisierung der irritierenden Stadtimpressionen qua melancholischer Reflexion […] in Externalisierung von Gewalt«55 – eben auch im ästhetischen Verfahren der Hetze. Für die Poetik des Underground wird es nachgerade konstitutiv.
54 | Ebd., Inhaltsverzeichnis [o.S.] u. S. 159. – Fuests Fazit (S. 163) lautet u.a.: »Liest man die Flanerie in erster Linie psychologisch und beobachtet ihre Subjekte, dann lässt sich über Stichworte wie Melancholie, Hysterie, Wahnsinn und Einsamkeit die Traditionslinie bis in die Gegenwart ziehen. Betont man indes die welterschließende Funktion der Flanerie und schaut auf das Panorama der Stadtlandschaften, die durch die Blicke des Flaneurs erst konstituiert werden, dann muss von einer Verarmung dieser Gattung im ausgehenden 20. Jahrhundert gesprochen werden.« 55 | Ebd., S. 167.
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2. Paranoide Schizophrenie
Dissens, Underground und die Spaltung der Kultur
Ständig erfahren sie etwas Neues über besondere unterirdische Begebenheiten, über die städtischen Kasematten und Gänge von Verschwörern.1 I van W ernisch
Im Staatssozialismus sind alle paranoid. Die einen, weil sie davon ausgehen, dass die anderen das System unterwühlen; die anderen, weil sie meinen, das System wühle längst in ihren Schubladen. Hinter der lapidaren Diagnose steht ein Grundgedanke des Buchs: Der (ostmitteleuropäische) Underground ist Resultat und Vollzug einer gesellschaftlichen Spaltung, die sich auf die klinische Metapher der paranoiden Schizophrenie bringen lässt. Wobei es eine ironische Pointe beinhaltet, wenn Susan Sontag in Illness as Metaphor der Repräsentation von Krankheit als Ausdruck innerer Fehldispositionen eine Kultur des »blame the victim« unterstellt.2 Hier wird vom genauen Gegenteil zu reden sein, dem Beitrag des Abgespaltenen zur schizoiden Konstellation. Der Underground operiert mit dem Zustand der Spaltung als seiner Voraussetzung und reproduziert sie ästhetisch und performativ. Eine erste, poetisch verdichtete Spur bieten Ivan Wernischs Gedichte Die Stadt (Město) und Diese Stadt (A tohle město), die die vorliegende Einleitung grundieren. Wernisch, Jahrgang 1942, gehörte zu jenen, die in der Tschechoslowakei nicht publizieren durften; die beiden Prosagedichte stammen aus den frühen 1990er Jahren. 1 | Wernisch, Ivan: Die Stadt. In: Ders.: Ausgewühlte Schriften. Aus dem Tschechischen v. Peter Urban. Berlin 1994. S. 82-83, hier 82. – Ders.: Doupě latinářů. Sežrané spisy [Die Höhle der Lateiner. Aufgefressene Schriften]. Brno 1992, S. 80: »Neustále se dozvídají něco nového o zvláštních dějích v podzemí, o městských sklepeních a chodbách spiklenců.« 2 | S ontag , Susan: Illness as Metaphor. New York 1978. Vgl. auch ergänzend D ies .: AIDS and its Metaphors. New York 1989.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
Die erste Stadt, die Wernisch erdichtet, schwirrt mit Gerüchten, unterhalb ihrer Pflaster gebe es alles, worauf man oberhalb hofft; zugleich sehnsüchtig, misstrauisch und ängstlich warten sie oben auf Nachrichten von unten. Was sie zu Ohr bekommen, sind Phantasmen von unterirdischen Seen, Gärten und Palästen. Was sie schließlich zu Gesicht bekommen, ist ein »wundersames Tier« aus dem Wald. Wernischs zweites Gedicht, Diese Stadt, wird deutlicher: Der – direkt angesprochene – Leser möge sich doch einmal vorstellen, er kaufe eine Melone auf dem Markt, nur erweise sich die Melone beim Auspacken als der sauber abgetrennte Kopf einer Frau, offensichtlich ihm untergeschoben. Damit freilich endet das Malheur nicht, vielmehr befindet sich in dem Kopf ein Behältnis, im Behältnis ein Papier, auf dem Papier ein Stadtplan: Sie rollen es auf und was sehen Sie? Einen detaillierten Plan von Buštěhrad! Oje! Es ist noch schlimmer, als Sie geahnt hatten. Die Frau ist, wie man sieht, nicht einfach so ermordet worden. Auch Sie sind ein Opfer der Spitzel geworden, mein Herr. Am besten, Sie verschwinden sofort. Wohin? Zu Ihrer Tante aufs Land? In die Wälder von Křivoklát? Egal wohin, nur fort von hier, lieber Freund, diese Stadt wimmelt von Spitzeln!3
Wernischs Städte sind Orte der obsessiven Ver- und Entbergung, der Verfolgung, Verheimlichung und Offenbarung – und des Wahns davon. Die kriminologische Aufklärung interessiert ihn nicht, umso mehr fixe Ideen, Halluzinationen, die Ausbreitung und der Entzug von Gedanken, deren Verdrehung und Korruption. Zwischen dem Wahn und den Tatsächlichkeiten besteht kein Zusammenhang: Der Paranoiker braucht keine Verfolger. Es gilt aber auch umgekehrt Kate Atkinsons nur halb humorige Beobachtung in Emotionally Weird: »Nur weil jemand paranoid ist, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht hinter ihm her sind.« 4 Beide Realitäten können kongruent sein oder nicht – allemal bestehen sie unabhängig voneinander. Der Underground kultiviert diese Pluralität der Realitäten: Alles wird phantastisch. Spaltung und Ich-Erweichung gehören ins Krankheitsbild der paranoiden Schizophrenie. Sie charakterisiert die Schreibsituation in den Ländern des »Ostblocks« vor der Wende, figuriert indes auch danach prominent in den Werken des Underground. Allgemein gesprochen bezeichnet die paranoid-schizoide Operation eine »Zweiteilung im Inneren der Person und ein Abstoßen [und Projizieren] 3 | Wernisch, Ivan: Diese Stadt. In: Ders.: Ausgewühlte Schriften, S. 28-29, hier 29. – Ders.: A tohle město. In: Wernisch: Doupě latinářů, S. 15: »Rozvinete ho a co nespatříte? Podrobný plán Buštěhradu! Ó běda! Je to ještě horší, než jste očekával. Ta žena, jak vidno, nebyla zavražděna jen tak. I vy jste obětí vyzvědačů, pane. Nejlepší bude, když rychle utečete. Kam? K tetičce na venkov? Do křivoklátských lesů? Kamkoli, ale pryč odtud, milý příteli, tohle město je plné vyzvědačů!« 4 | Atkinson, Kate: Die Ebene der schrägen Gefühle. Ein komischer Roman. München 2001, S. 35. Hervorhebung nicht im Original.
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des Teils von sich, der abgelehnt wird, auf den anderen«.5 Die abgelehnten Teile werden zu wahnhaften. Eine gespaltene Kultur bringt wie eine gespaltene Persönlichkeit ihre inkompatiblen Elemente nicht mehr in Einklang, radikalisiert zur Selbststeuerung notwendige Komplexitätsreduktionen vom Typ »gut« versus »böse«, »erlaubt« versus »unerlaubt«, »normal« versus »anomal« zu idealisierten beziehungsweise dämonisierten, ambivalenzfreien Größen. Die »offizielle« Kultur wähnt, das als unpassend Aus-Gespaltene bedrohe ihr institutionelles Funktionieren grundsätzlich und perpetuiert den per se destruktiven Spaltungsakt in systemkonforme versus systembedrohende Artikulationen, um ein Reinheitsund Kontrollphantasma aufrechtzuerhalten. Aus den Übertragungen individualpsychologischer Konzepte auf soziale Formationen und historische Konstellationen, die hier im Hintergrund stehen, seien zwei Ansätze herausgehoben. In systematischer Absicht unterscheiden und diagnostizieren Gilles Deleuze und Félix Guattari in Capitalisme et schizophrènie drei »Gesellschaftsmaschinen«: die »Territorialmaschine«, der das Konzept der Perversion korrespondiert; die »Despotenmaschine«, der sie die Paranoia zuordnen; schließlich den »Kapitalismus«, dem sie Schizophrenie attestieren, die – anders als im medizinischen Gebrauch – als Wunschprojektion eines von Grenzen, Territorien und Kodes befreiten Lebens verstanden wird: »Der Schizophrene ist gleichsam die Grenze unserer Gesellschaft, jedoch die stets gebannte, unterdrückte, verabscheute Grenze.«6 Sozialistische Regimes nun siedeln bei Deleuze und Guattari unter dem Rubrum der despotisch-paranoiden, deren Machtapparate ihre Furcht vor dem Bürger durch Reglementierung, die Etablierung verbindlicher, elaborierter Kodes, Eingrenzung und Einhegung zu bannen suchen. Gehen die beiden Theoretiker typisierend vor, so spürt Peter Deutschmann in Sozialismus und Schizophrenie der schizoiden Selbstreflektion nach und untersucht den Gebrauch des Begriffs in unterschiedlichen Diskursen, um so die Verfasstheit der Gesellschaft und des Einzelnen im Sozialismus zu kartieren.7 Deutschmann modelliert zum einen Grundmuster der machtpraktischen Funktion des Terminus; zum anderen weist er dessen semantische Anschlussfähigkeit an Literaturkonzepte wie die »Psychopoetik« aus.8 Namentlich analysiert Deutschmann auch einen Vorläufertext des Underground, Bohumil Hrabals Erzählung Das schizophrene Evangelium (Schizofrenické evangelium), die schon in den 1950er Jahren entstand, zu einer Zeit also, 5 | L aplanche , Jean/P ontalis , Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1972, S. 407. 6 | D eleuze , Gilles/G uat tari, Félix: Der Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt am Main 1975, S. 28. 7 | D eutschmann, Peter: Sozialismus und Schizophrenie. In: Wiener Slawistischer Almanach 58 (2007), S. 141-202. 8 | Vgl. dazu den Band: Psychopoetik. Beiträge zur Tagung »Psychologie und Literatur«. Hg. v. Aage H ansen -L öve . Sonderband Wiener Slawistischer Almanach 31 (1992).
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während der Hrabal mit der Gruppe um Egon Bondy persönlich wie künstlerisch verbunden war. In »seinem« Evangelium berichtet der Erzähler, wie Jesus Christus in das sozialistische Arbeiterviertel Praha-Libeň hineingeboren wird, wie das Jesulein (Ježíšek) Stimmen hört und die Welt zu retten gedenkt. Hrabal überlagert die Stimmen, Ebenen und Psychosen, um die Schichtung schließlich in einen Traum münden zu lassen, in dem das Jesuskind und seine zwölf Freunde in einem Schlachthof literweise Rinderblut trinken, das sie dann in einer Straßenbahn über ihre Mitfahrer und sich selbst erbrechen. Der surreale, komplex gebaute und zugleich vulgär versetzte Text weist nicht nur auf ästhetische Verfahrensweisen des Underground voraus, sondern benennt explizit dessen metaphysische Kontaminierung als schizoides Spiel. Deutschmann zieht bewusst nur solche Werke und Artikulationen in Betracht, die explizit mit dem Begriff der Schizophrenie operieren und diesen mit einer soziokulturellen Situation in Bezug setzen; semantisch benachbarte Termini wie Doppelung, Spaltung, Lüge oder (Selbst-)Widerspruch zu berücksichtigen weist er als Überdehnung des begriffsanalytischen Potenzials zurück. Im Gegensatz dazu bleibt das Folgende einem weiter gefassten Zugriff verpflichtet, der eine umfassendere Betrachtung erlaubt. So ist zunächst die Aufspaltung der ostmitteleuropäischen Literaturen in drei getrennte Produktionszusammenhänge mit divergierenden ästhetischen Implikationen zu erörtern: die »offizielle« Literatur, das Exil und den Samizdat. Die Skizze dient zugleich einer historischen Situierung des Underground innerhalb dieser Sphären beziehungsweise zu ihnen vor dem Hintergrund der gemachten Annahme einer insgesamt paranoid-schizophrenen Konstellation. Ein Aspekt, der entsprechend vernachlässigt, erst in den Einzelbetrachtungen angesprochen wird, sind Pathologisierungen im wörtlichen Sinn und insbesondere Zwangseinweisungen in die Psychiatrie als systematisches Instrument zur Ausschaltung von Regimegegnern.
S paltungssituationen Spaltungen waren wir gewöhnt wie das Bröckeln der Gebäude. Der Hintergrund des Gräulichen war die Kulisse unserer Abgehobenheit. 9 B ert Papenfuss
Spaltungen beschreibt Bernd Papenfuß in seinem Rückblick auf den Prenzlauer Berg als eine Grunderfahrung der Berliner Underground-Gemeinde, die auf 9 | Papenfuss, Bert: Entliebung. In: Die Addition der Differenzen. Die Literaten- und Künstlerszene Ostberlins 1979 bis 1989. Hg. v. Uwe Warnke u. Ingeborg Q uaas . Berlin 2009, S. 15-16, hier 15. – Bert Papenfuß fungiert auch unter Papenfuß-Gorek.
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politisch-moralische Autorisierung weder durch den Staat noch durch kritische Kirchenkreise oder exilantische Institutionen hoffen durfte, sich selbst als »eingeschworene Nacktspeicher« wahrnahm, offensiv als privat verstand, als antipolitisch: »Jeder andere Anarchist war eine Abspaltung. Wir waren als Antiautoritäre autoritär genug, um zu wissen, woher der Staat weht.«10 Umso weniger freilich entging die Szene der Bespitzelung und Unterwanderung durch einige ihrer maßgeblichen Protagonisten, darunter die Dichter Sascha Anderson und Rainer Schedlinski. Jan Faktor hat über sie, das Leben in Schattenlegalität und Illusion – den Begriff »Untergrund« lehnte die Szene als übertrieben ab – in seinen Sechzehn Punkten zur Prenzlauer-Berg-Szene geschrieben.11 Der Leitbegriff seiner Abarbeitung ist Angst, doppelte Angst: die Angst vor Strafe für die herausgenommenen Freiheiten auf der einen Seite; auf der anderen Angst vor Entdeckung, die jene quälte, die als Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit die systemische Spaltung in ihre Person inkorporierten. Giftige Schwester der Angst ist die Unwahrhaftigkeit: »[…] das Polster um uns war künstlich, die Lügen häuften sich; die Unechtheit, das Stagnieren der Produktion war kein Zufall.«12 Faktor stellt die Frage, wie in einem nur vermeintlich integren Schaffensraum authentische Literatur produziert werden kann, wenn die Doppelagenten das, was abgelehnt wird, in die Szene selbst eintragen: Die staatlich verordnete Verlogenheit, die so verhasst war und die man nicht mitreproduzieren wollte, wurde einfach heimlich und in Mengen reingeschleppt und gestreut – ohne eine Spur von Bewusstsein, was für katastrophale Folgen das künstlerisch mit sich brachte.13
Am Ende seiner Abrechnung jedoch macht Faktor in einer für die Poetik des Underground typischen Volte gerade im moralischen und persönlichen Desaster das ästhetische Potenzial aus, in den Werken korrumpierter Dichter wie Anderson nämlich, die das gesellschaftliche Spaltungstrauma Biografie und daraus literarische Produktion werden ließen. Zu solcher Reinform verflochten findet sich die Kunst der paranoiden Schizophrenie selten, vielleicht außerhalb von Prenzlauer Berg nirgends. Eine praktisch alle Länder Osteuropas vor 1989 prägende Zerklüftung des kommunikativen Gefüges indes liegt der von Faktor beschriebenen noch voraus: die von autoritären Staatssozialismen induzierte »Aufspaltung der Literaturen« in
10 | Ebd., S. 15. 11 | Faktor, Jan: Sechzehn Punkte zur Prenzlauer-Berg-Szene. In: MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg. Hg. v. Peter B öthig u. Michael K laus . Leipzig 1993, S. 91-111. 12 | Ebd., S. 97. 13 | Ebd., S. 105.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
»offizielle« Kultur, Samizdat und Exil.14 Aus deren konfligierender Mehrstimmigkeit, gegenseitiger Bezugnahme, Zurückweisung und unüberhörbarem Beschweigen ergibt sich die These von einem Kultursystem multipler Schizophrenien. Das neurotische Moment macht sich bereits fühlbar, wenn keiner der Begriffe sich ohne den oder die anderen verstehen, geschweige denn erläutern lässt. So, wie es eine »offizielle« Literatur sui generis nicht gab, gab es auch keine spezifische Ästhetik des Samizdat oder Exils. Gleichwohl bildete jeder Produktionszusammenhang spezifische poetologische Physiognomien aus, die im Kontrast aufscheinen. Der Begriff der »offiziellen« Literatur steht hier in Anführungszeichen, weil sie sich selbst ohne Attribut vorstellte. Unter werkimmanenten Gesichtspunkten gibt es kaum eine taugliche Klammer; gleich gar wird zahlreichen Arbeiten eine durchgängige Klassifizierung von regimefreundlich als eo ipso künstlerisch minderwertig nicht gerecht. Vieles wurde auch – mit Einschränkungen – von der Samizdat- und Exilkritik wohlwollend aufgenommen. Zur »offiziellen« Kultur lässt sich cum grano salis rechnen, was publiziert, ausgestellt, gedreht und vorgeführt werden durfte – wenn auch um den Preis, Einmischungen in Gehalt und Form hinnehmen zu müssen. Wer ins Exil ging, produzierte formal frei, oft genug unfrei im Kopf, der Zensur entronnen, um am Markt zu scheitern, am Mangel eines – verständigen – Publikums; Globalkarrieren wie die eines Milan Kundera oder Witold Gombrowicz blieben Ausnahmen. Manches gelangte wieder zurück ins Inland, wurde im Samizdat oder – in Polen – im »zweiten Umlauf« (drugi obieg) gedruckt.15 Der Samizdat oder Selbstverlag wiederum ruhte auf den Schultern Weniger, die offiziell unerwünschte Manuskripte heimlich lasen, weiterreichten, eventuell abtippten und verteilten. Die so entstehende »parallele Polis« bot einen alternativen Buchmarkt, 16 Wohnungstheater, Lesezirkel, Privatgalerien. Deren Organisatoren waren vielfach durch das Abdrängen in Hilfsarbeiterberufe oder die Arbeitslosigkeit in ihrer materiellen Existenz gefährdet; zu ihrem Alltag gehörten Einschüchterung, Observierung, Hausdurchsuchungen und Manuskriptbeschlagnahme, auch Zwangs-
14 | Als einführender Überblick siehe den Band: Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa. Die 60er bis 80er Jahre. Hg. v. Wolfgang E ichwede . Bremen 2000. – Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteraturen 1945-1989. Versuch einer Systematisierung und Typologisierung. Hg. v. Eva B ehring , Alfrun K liems u. HansChristian Trepte . Stuttgart 2004. 15 | Die Bezeichnung Samizdat wurde aus dem Russischen in der Bedeutung »Selbstverlag« übernommen. Daneben gab es weitere Termini wie eben den polnischen »zweiten Umlauf« oder die in allen einschlägigen Sprachen gängige »unabhängige« Literatur. 16 | B enda , Václav: Paralelní polis [Parallele Polis]. In: Charta 77. 1977-1989. Od morální k demokratické revoluci. Hg. v. Vilém P rečan . Scheinfeld/Schwarzenberg-Bratislava 1990, S. 43-51.
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einweisung in die Psychiatrie, Haft und Ausbürgerung, im Extrem Überfälle und Mordanschläge. Derweil blieben die getrennt verlaufenden Produktions- und Rezeptionswege eng aufeinander bezogen und gestalteten selbst ihre Grenzen sich fließend. Exilverlage wie Sixty-Eight Publishers in Toronto oder Instytut Literacki (Literaturinstitut) in Paris brachten nicht nur in der Emigration entstandene Werke heraus, sondern auch Bücher aus dem jeweiligen Inland, zuweilen gar Lizenzausgaben des »offiziellen« Umlaufs. Auch in umgekehrter Richtung funktionierte der Austausch: Die Prager Samizdat-Reihe Edice Petlice (Hinter Schloss und Riegel) publizierte wie der illegale Warschauer Verlag NOWA (NEU) im Exil verfasste Texte. War die Spaltung der Künste auch strukturell vergleichbar, so unterschieden sich die Ausprägungen von Land zu Land. In der Tschechoslowakei oder der DDR gab es anders als in der Volksrepublik Polen der 1980er Jahre nur eine verschwindend kleine Gruppe von Lesern inoffizieller Literatur. Während in der ČSSR die kontrollierte Abschottung noch funktionierte, gelangten in Solidarność-Polen bereits Bücher des »zweiten Umlaufs« oder von Exilautoren in die Programme von Staatsverlagen. Auch der ungarische und jugoslawische Literaturapparat ließen seit Mitte der 1980er Jahre verschiedentlich Werke des Dissens und der Emigration nach einer gewissen Schamfrist in den »offiziellen« Umlauf gelangen, erlaubten Druck, Verkauf, nicht zuletzt Besprechungen. Dennoch: Auch wo grau verlegte Literatur, Ausstellungen in inoffiziellen Galerien, »dekadente« Musik in randstädtischen Kneipen und ländlichen Kulturhäusern mehr oder weniger gekniffenen Auges geduldet wurden, blieb es vor 1989 bei der Spaltung: einem ubiquitären Gefühl, dass da noch ein dunkles Anderes im Raum hockt. Derweil verleibte sich der Underground produktiv ein, was für die phasenweise gar nicht so getrennt operierenden Felder der »offiziellen« Literatur, von Samizdat und Exil ein poetologischer Reibungspunkt war: ihre Verankerung in unterschiedlichen Formen von Öffentlichkeit. Und er reagierte mit ästhetischen Strategien, die die Situation der Spaltung nicht mehr überwinden wollten, sondern gesellschaftliche Paranoia und Schizophrenie, die zerschlagene Totalität des Lebens in Kunst umsetzen, zum ästhetischen Prinzip erheben. Underground stellt kein Spaltungsphänomen dar, sondern dessen Reflex. Seine Poetik findet sich denn auch in den Produktionszusammenhängen Exil wie Samizdat, sogar in der »offiziellen« Literatur – wie auch nach der Wende.
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U nderground versus D issens & C o Die Werke [des Underground] wurden von ihren Schöpfern als unpolitisch verstanden, auch wenn sie oftmals eine politische Reaktion hervorriefen.17 M ilan K ní žá k
Der Underground-Dichter Milan Knížák beschreibt den Underground als eine Konvention, weniger eine politische Aussage. Doch auch wo die Beteiligten mit ihrer Musik, Literatur oder Kunst explizit keine (konkrete) politische Absicht verfolgten, wurde ihnen staatlicherseits schon deshalb politische Dissidenz unterstellt, weil sich ihr Kunstbegriff außerhalb der offiziellen Kulturdoktrin und gewohnten Ausdrucksformen bewegte. Underground-Kunst setzt aber weder darauf, von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen noch die Einhegung zu lockern, den Wahn offenzulegen, also »therapeutisch« zu agieren, sondern bedient das Phantasma des Apparats, indem er es direkt und ohne »Programm« angreift, auf Beschmutzung, Subversion und Selbstexklusion setzt, jede Einhegung und Regel zu seinem Ziel nimmt. Die Begriffe »Dissens« und »dissidentisch« werden in diesem Buch synonym verwendet und sparsam gebraucht. Künstlerischer Dissens hieß für den Einzelnen vor allem, auf die Kodierung – oder Fortlassung – systemkritischer Darstellungen zu verzichten, der die in den Staatsverlagen erscheinende Literatur, vor allem in kulturpolitischen »Eiszeiten«, unterworfen war. Die Absage an den Zwang zur Verschlüsselung gestattete einen unverhüllten (individuellen) Ausdruck in der Literatur, im Film, der Kunst, auch der Musik. In den ausgehenden 1970er Jahren dann organisierte sich der osteuropäische Dissens, wie er heute mehrheitlich begriffen wird, als eine Bewegung, die den unabhängig von politischer Kontrolle und staatlicher Zensur entstandenen Kommunikationskreislauf im Inland ausmachte, bildete also eine gruppenspezifische Artikulationsform, deren Ziel im weitesten Sinne darin bestand, das staatliche Gesinnungsmonopol zu brechen, Freiheit der Meinung und des künstlerischen Ausdrucks einzufordern. Dissidenten bezeugten ihre Ablehnung des jeweiligen Regimes durch Lebenshaltung und Werk, in Stellungnahme, durch intellektuellen Nonkonformismus und künstlerisch-kulturelle Resistenz. Insofern war der Underground natürlich dissidentisch – kultivierte indes seine Vorbehalte gegen den Bewegungsdissens.
17 | K nížák , Milan: Underground jako konvence [Underground als Konvention]. In: České umění 1939-1999. Programy a impulzy. Hg. v. Vlasta Č iháková -N oshiro. Praha 2000, S. 100-111.
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Zunächst jedoch zeigen beide sich durch zentrale Beobachtungen und Anliegen verbunden, wie sie etwa im Kern von Václav Havels Essay Die Macht der Ohnmächtigen (Moc bezmocných) von 1978 stehen, einem Schlüsseltext für den osteuropäischen Dissens insgesamt.18 Bei Havel heißt es, das »Dissidententum« gehe als Gespenst in Osteuropa um und untergrabe das aus Diktatur und Konsumgesellschaft bestehende »posttotalitäre« System. Ähnlich wie einst Karl Marx und Friedrich Engels unternimmt Havels Manifest es, dem kruden Unmut Sinn, Form und Maß zu geben – wobei ihm »Dissident« wie »Oppositioneller« gleichermaßen unbehaglich sind. In Anlehnung an Jan Patočka und Aleksandr Solženicyn benennt Havel vielmehr den Wunsch nach einem Leben in der Wahrheit als Achse seiner Position, ein Wunsch, den er denn auch systemübergreifend verstanden wissen will: Der Mensch müsse eine Verantwortung übernehmen, die über das eigene Überleben hinausginge und nicht im Warenhaus ende. Quelle dieser Verantwortung ist eine Art identifikatorischer Übereinstimmung mit sich selbst, eine Konzentration auf die Integrität des Individuums. Sie ist für Havel die Überlebensbedingung moderner Gesellschaften. Im Grunde handelt es sich um eine radikale Affirmation des modernen Identitätspostulats, dessen doppelter Anspruch Emanzipation und moralisch verantwortete Selbst-Treue kombiniert. Unter staatssozialistischen Bedingungen implizierte das freilich eine – von den Protagonisten mitunter durchaus ungewollte – Politisierung. Darauf anspielend hat Jan Urban, selbst seinerzeit ein genuin politischer Oppositioneller, der als Journalist für die damals illegale Zeitung Lidové noviny (Volkszeitung) schrieb, einige Jahre nach der Wende in Die Ohnmacht der Mächtigen (Bezmoc mocných) eine Erklärung für das Phänomen des politisch letztlich sterilen Dissidenten-Establishments gesucht.19 Dieses, so Urban, habe die Welt in zwei dichotome Sphären gespalten, in das »Dissens-Ich« und das »Regime-Sie«. Das solcherart hermetisch abgeschlossene Milieu habe dann mit seiner »wortschönen Passivität« allenfalls westliche Politiker beglückt und sich schließlich im »Erfolg der Worte« verloren: »Freiheitsschreiber« seien zum Surrogat von »Freiheitskämpfern« geworden. War der künstlerische Underground mithin im Sinne Havels dissidentisch, so war er es im Sinne Urbans gerade nicht. Wo Havel alles auf die individuelle Haltung ankommen lässt, fokussiert Urban den Anschluss an eine Bewegung mit konkret definierten politischen Zielen. Beide können in eins fallen, müssen aber nicht. 18 | Ins Deutsche wurde der Essay als Versuch, in der Wahrheit zu leben übersetzt. Damit werden sich an den Originaltitel anschließende Wortspielereien einem deutschen Leser unverständlich. – H avel , Václav: Versuch, in der Wahrheit zu leben. Reinbek bei Hamburg 1980. 19 | U rban, Jan: Die Ohnmacht der Mächtigen. Das Versagen der Dissidenten und der Zerfall der Tschechoslowakei. In: Lettre International 6 (1993), S. 6-10.
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Eine Divergenz, die Christian Schneider unter Rückgriff auf Hegels Begriff des Querulanten ausführt. Schneider sieht die intellektuelle Legitimität des osteuropäischen Dissidententums vor 1989 in Abhängigkeit vom Bestehen konkurrierender politischer und ideologischer Systeme. Denn ein Dissident sei jemand, der »in einem System gar nicht vorkommen kann«; er existiere in gewissem Sinne bloß über externe und interne Zuschreibungen.20 Der Dissident ist Schneider zufolge eine Gestalt der Idealisierung, die »ein Stück weit die heroische Substanz des bürgerlichen Wertekosmos wiederaufleben« lässt.21 Indem er Einrichtungen fordere wie demokratische Wahlen, Bürgerbeteiligung, Glaubens- und Meinungsfreiheit, kritisiere er die sozialistische Welt, in der er lebt, in ihren Axiomen. Er halte der von ihnen erlebten Realität einen Gegenentwurf entgegen, der sich nicht real manifestieren könne, da es dafür eines Systemwechsels bedürfe. Gewissermaßen beharrt Schneiders Dissident also auf der Möglichkeit einer Wirklichkeit, die an dem Ort, an dem er lebt, nicht wirklich werden kann. Er ist allein deshalb kein »Verrückter«, »Schizophrener« oder »Idiot«, weil er auf ein andernorts tatsächlich bestehendes System verweisen kann, eine Realalternative – davon zumindest geht er aus. Schneider baut seine Kategorie des »Dissidenten« auf Überlegungen Hegels auf, der 1820 in den Grundlinien der Philosophie des Rechts inner- von außersystemischer Verrücktheit unterschied: Beharrt ein Einzelner darauf, dass ein gesellschaftlicher Gegenentwurf im Inneren des Systems zur Realität werden könne, dann ist er »verrückt« im Sinne von »unverrückbar«, uneinsichtig – er agiert »querulantisch«, insofern er leere Abstraktionen propagiert, subjektives Empfinden und Wünschen ohne Referenz in der Wirklichkeit. Damit aber fehlt ihm der Wille zum Konsens, der nur erzielt werden kann, wenn eine als Realität zu behandelnde Alternative zur Debatte steht: konkret der demokratische »Westen«, ob nun zutreffend rezipiert oder idealisiert. Ob ein Widerspruch »querulantisch« oder »dissidentisch« ist, verrückt oder politisch, hängt dann von diesem Realitätsbezug ab – oder vielmehr von der Realitätsdefinition. Denn im geschichtsphilosophischen Horizont des historischen Materialismus kann der »konterrevolutionäre« Zug zu »imperialistischen« Vorbildern mit Fug »verrückt« erscheinen, und liegt es durchaus nahe, eine Reihe von Dissidenten als schizophren oder paranoid, »querulantisch« verwirrt zu diagnostizieren und in psychiatrische Anstalten einzuweisen – wie denn auch geschehen. Ironischerweise findet sich eine analoge Operation bereits in Havels Ausführungen zu einem Leben in der Wahrheit selbst, wenn er zwischen zwei Bürgertypen unterscheidet: den konformen und den nonkonformen, von denen
20 | S chneider, Christian: Der unsichtbare Dritte. In: Identität und Macht. Das Ende der Dissidenz. Hg. v. Christian S chneider, Annette S imon, Heinz S teiner u. Cordelia S tillke . Gießen 2002, S. 11-44, hier 13-14. 21 | Ebd., S. 14.
2. Paranoide Schizophrenie
es dem Blickwinkel geschuldet sei, wer hier wen für »normal« halte.22 Havel, der die posttotalitäre Gesellschaft als eine beschreibt, in der Regimekritik einzig nach innen, in die familiären Nischen und privaten Sphären getragen werde, und nur von Wenigen nach außen, attestiert derweil dieser Gesellschaft insgesamt Schizophrenie. In seinen Stücken setzte er den Befund in Bilder um. Mit Leopold Kopřiva aus dem Drama Largo desolato schuf Havel 1984 einen von vielen dissidentischen Protagonisten wider Willen, der zwischen der Furcht vor neuer Haft und der Angst, den Wahrhaftigkeitsansprüchen seines Umfelds nicht zu genügen, zerrissen wird. Das Dilemma des marionettenhaften AntiHelden gipfelt schließlich darin, dass er die Entscheidungsfreiheit zwischen den Fronten genau in dem Moment verliert, in dem er versucht, den Erwartungen an eine Symbolfigur des Dissens zu entsprechen, sich also den Projektionen auf dissidentisches Heldentum zu unterwerfen.23 An Kopřiva scheidet sich die Literatur von Dissens und Underground. Dissidenten existieren in der öffentlichen Wahrnehmung in der Mehrzahl, als soziale Gruppe. Die basale Norm der Individualisierung, wie sie nicht nur Václav Havel im Auge hatte, gerät im politisierten Alltag wiederum zur Einordnung in ein Kollektiv. Die Orientierung auf eine Gruppe mit Bewegungscharakter, heißt das, gerät notwendig mit dem Kern dissidentischen Verhaltens im Sinne Havels in Konflikt. Die auf sich selbst gerichtete Treueforderung muss sich unter Gruppenzwang einem wie auch immer gearteten Ideal unterwerfen beziehungsweise unterwirft sich freiwillig. Sie zerstört zwingend die individualisierende Hoffnung, die Behauptung persönlicher Autonomie. Poetologisch zeigen sich daraus resultierende Unterschiede zwischen dem Underground und anderen im Samizdat verlegten Werken in Themenwahl und Schreibstrategie. Das dissidentische Establishment rückt den Dissidenten als Figur ins Blickfeld ihrer Literatur, die meist auch eine Abrechnung mit der janusköpfigen Existenz zwischen politischen Anpassungs- und Überlebensstrategien einerseits, dissidentischem Auf begehren andererseits leistet. Es geht um Ausbruchsversuche aus dem Imagezwang vom Leben in der Wahrheit, die Suche nach einem »ehrlichen« Kommunismus, das Eingeschlossensein in einen ausweglosen circulus vitiosus. Was Jan Urban in seiner Abrechnung mit dem Dissens und nicht zuletzt Havel übersah, ist eben der Widerspruch zwischen einer politischen Bewegung und einem personalen Ideal, der sich Christian Schneider zufolge einzig in der Kunst lösen lässt. Die logische Folge: 22 | Siehe D eutschmann: Sozialismus und Schizophrenie, S. 151. 23 | Herta Schmid schreibt über Kopřiva: »Der müde Held verweigert die Tat, maskiert dies jedoch in rhetorisch wohlgebauten Monologen, weil er sich an die zum Kostüm gewordene Heldenrolle gewöhnt hat und auf sie nicht verzichten will.« – S chmid, Herta: Das tschechische Drama des zwanzigsten Jahrhunderts. In: Die literarische Moderne in Europa. Hg. v. Hans Joachim P iechot ta . Opladen 1994, S. 424-447, hier 443.
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Der Underground, die Wende und die Stadt Dissidenz als Versuch, ein neues Selbst zu entwickeln, führt damit notwendig auf das Problem der Einsamkeit. Denn die dissidentische Einstellung hat, so sehr sie auf Gemeinschaften zielt und letztendlich ohne sie ohnmächtig bleibt, ihr Fundament doch im Vermögen, die totale Vergesellschaftung des Individuums für sich selbst zu unterbrechen. 24
K onsequenzen : »I ch «, »W ir « und »S ie « Der Underground ist der geistige Zustand von Intellektuellen und Künstlern, die ihre Haltung zu der Welt, in der sie leben, bewusst und in einer kritischen Weise bestimmen wollen. Das ist eine Kriegserklärung gegen das Establishment, gegen das etablierte System. 25 I van M artin J irous
In wohl keinem der osteuropäischen Länder wurde die gespaltene Situation in Kunst und Kultur so unumwunden sprachlich zugegeben, wie in der Tschechoslowakei. Dort gab die restaurative Macht nach der Niederschlagung des Prager Frühlings bekanntlich den Begriff der »Normalisierung« (normalizace) aus und implizierte so unfreiwillig eine – im Untergrund? – lauernde Anomalität. Während dieser Zeit verfasste Ivan Martin Jirous eine programmatische Schrift des Underground, die über ihn hinaus wirken sollte. Für ihn stellt der Underground nicht nur eine Bewegung gegen das Establishment dar, sondern eine positive Positionierung für die (und in der) Illegalität, da sich in den Grenzen der Legalität nichts bewegen lasse. Hingegen vergleicht er die von ihm künstlerisch geleitete Rockband The Plastic People of the Universe, deren Verbot in den 1970er Jahren die Entstehung der Protestbewegung Charta 77 wesentlich bestimmte, mit der Hussiten-Bewegung. Jonathan Bolton ging in Legends of the Underground dem nach, vor allem der Brauchbarmachung des Underground für die Charta-Idee durch Havel und Patočka. Ausgangspunkt waren 1976 eingeleitete Prozesse, in denen nicht nur Mitglieder der Plastic People auf der Anklagebank saßen; vielmehr handelte es 24 | S chneider : Der unsichtbare Dritte, S. 24. 25 | Hier zitiert nach der wohl ersten Übersetzung ins Deutsche. Der Autor fungiert noch unter dem Signum »Sympathisant von Plastic People«: Die Plagen des tschechoslowakischen Underground. In: Underground im Ostblock. Hg. v. Thierry Wolton. Berlin 1978, S. 9-44, hier 42. – Vgl. das Original in Jirous, Ivan M.: Zpráva o třetím českém hudebním obrození [Bericht über die dritte tschechische musikalische Wiedergeburt]. In: D ers.: Magorův zápisník. Hg. v. Michael Špirit. Praha 1997, S. 171-198. – Eine gekürzte deutsche Fassung findet sich auch in Utopien und Konflikte. Dokumente und Manifeste zur tschechischen Kunst 1938–1989. Hg. v. Jiří Ševčík u. Peter Weibel . Ostfildern 2007, S. 246-248.
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sich um eine konzertierte Aktion gegen den Underground als solchen. In die Geschichte ging der Prozess fälschlich als »Prozess gegen die Plastic People« ein – und wurde zum »Gründungsmythos des Underground«.26 Bolton nun kehrt in »Havel reads the Underground« die tradierte Sicht um: nicht der musikalische Underground habe die dissidentische Charta 77 beeinflusst, vielmehr seien die Underground-Künstler vereinnahmt worden in »the larger project of articulating an oppositional identity«.27 Zuerst brauchte es dafür die Begegnung Havel-Jirous,28 dann einen sich überschneidenen Freundeskreis, Unterstützerbriefe von Sympathisanten außerhalb wie Heinrich Böll, die sich für die »Jungs« der Band aussprachen: »[...] Havel saw them as members of an innocent youth culture – uncompromised, uninterested in the corrupt world of ›politics‹, and in a real sense inarticulate.«29 Jugendliche, authentische, unschuldige Künstler, die einfach nur Musik machen wollten. Diese »apolitische« und »säkularisierte« Lesart des Underground durch Havel, so Bolton, nimmt zum einen Egon Bondy aus dem Bild und macht zum anderen Jirous jünger – und darüber unerfahrener, naiver. Der Underground wird zum »empty signifier« oder »blank slate«. Boltons Fazit: »Rather, we should pay attention to the extremly careful mythmaking skills of Jirous and Bondy, and ask how Charta 77 learned these skills as well.«30 Dass es vor allem Havel war, der den Philosophen Jan Patočka als ChartaSprecher gewinnen wollte, lag nicht zuletzt daran, dass er der Bewegung ein weniger bürgerrechtliches, denn moralisch-ethisches Gewicht verleihen wollte. Patočka zeigte Letzteres wiederum in seiner Sympathiebekundung für den Underground. Auf wenigen Seiten und in Anlehnung an eine Erzählung von Fedor Dostoevskij setzt er im Dezember 1976 den Underground mit einer »utopischen, futurologischen« Gruppe gleich, die auf einem Planeten landet, auf dem die Bewohner um ihr Leben betrogen werden: manipuliert, hinters Licht geführt, Trugbildern ausgesetzt.31 Aber die Gruppe junger Leute, hinter der unschwer die Plastic People und die Band DG 307 zu erkennen sind, besteht nicht aus »Einfaltspinsel[n], die sich wie Candide einreden ließen, sie seien Bürger der besten aller
26 | B olton, John: Legends of the Underground. In: D ers .: Worlds of Dissent. Cambridge, Mass.-London 2012, S. 115-151. 27 | Ebd., S. 117 u. 134-139. 28 | Siehe dazu auch die Einschätzung von P utna , Martin C.: Václav Havel. Duchovní portrét v rámcu české kultury 20. století [Václav Havel. Ein geistiges Porträt im Rahmen der tschechischen Kultur des 20. Jahrhunderts]. Praha 2011, S. 167-174. 29 | B olton: Legends of the Underground, S. 136. 30 | Ebd., 143. 31 | Patočk a , Jan: Zur Sache »Plastic People of the Universe« und »DG 307«. In: D ers .: Kunst und Zeit. Kulturphilosophische Schriften. Hg. v. Klaus N ellen u. Ilja S rubar . Wien 1987, S. 503-506.
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Welten«.32 Patočkas Hoffnung ist vielmehr, dass die jugendliche Gemeinschaft sich »um ihr eigenes Leben kümmer[t], für dessen Inhalt, dessen ›Führung‹ jeder Mensch eine unveräußerliche Verantwortung trägt«.33 Und dass sie nicht dem »äußeren Chaos« erliegen möge und den »Weg des geringsten Widerstandes [...] gehe«.34 Seine Hoffnung findet sich schon 1975 gewissermaßen manifestiert: In seinem von der Arbeit mit den Plastic People inspirierten Bericht über die dritte tschechische musikalische Wiedergeburt (Zpráva o třetím českém hudebním obrození) forderte Jirous die Abwendung von der sozialistischen Konsumgesellschaft, plädierte für alternative Lebensformen und eine geistige Wende, eingeläutet von Marcel Duchamp und dessen Ausspruch: »Der große Künstler von morgen wird in den Underground gehen.«35 Michael Kilburn sieht das Manifest als »theoretical basis for a national movement of spiritual rejuvenation through autonomous culture«.36 Und in der Tat beruft Jirous sich mit dem Wort obrození, also »Wiedergeburt« auf die wirkmächtige Epoche der »Nationalen Wiedergeburt« (národní obrození) im 19. Jahrhundert. Zwei Charaktereigenschaften hielt Jirous dabei für die Underground-Kunst unabdingbar: »Raserei« (zběsilost) und »Demut« (pokora). Mit Raserei oder auch Wut sind der Wille zu Kompromiss- und Tabulosigkeit in Leben und Schaffen gemeint. Demut wiederum verweist auf die Kehrseite des Berserkerhaften, muss sich der Underground doch auch damit abfinden, am Rand der Gesellschaft und ihrer Wahrnehmung zu existieren. Der Bericht endet mit einem Blick auf die Spaltung der Kultur und deren Auswirkungen. So sei der Underground im Westen zwar theoretisch formuliert und als Bewegung etabliert, hätten zu Ansehen gelangte Künstler aus seinem Umfeld jedoch den Kontakt zur »offiziellen« Kultur (in der Diktion von Jirous die »erste«) künstlerisch nicht überlebt: Ihre Werke seien von dieser »verschlungen«, zu Konsumartikeln degradiert und sterilisiert worden. Im staatssozialistischen Osten hingegen wolle die »erste«, also »offizielle«, Kultur mit der »zweiten« nichts zu schaffen haben – und umgekehrt. Das aber erlaube erst die Entstehung einer unkorrumpierten »zweiten« Kultur.37
32 | Ebd., S. 504. 33 | Ebd. 34 | Ebd., S. 506. 35 | J irous , Ivan M.: Pravdivý příběh Plastic People [Die wahre Geschichte der Plastic People]. Praha 2008, S. 11. 36 | K ilburn , Michael: Ab-Normalization. The Plastic People of the Universe and the Soviet Invasion of Czechoslovakia. In: The Human Tradition in Modern Europe, 1750 to the Present. Hg. v. Cora G ranata u. Cheryl A. K oos . Lanham u.a. 2008, S. 183-198, hier 191. 37 | J irous , Ivan M.: Zpráva o třetím českém hudebním obrození. In: Pohledy zevnitř. Česká undergroundová kultura ve svědectvích, dokumentech a interpretacích. Hg. v. Martin M achovec . Praha 2008, S. 7-38.
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Was Jirous genau mit der »zweiten« Kultur meint, wird nicht klar umrissen. Dass sie die Sphäre des »etablierten« Samizdat einschließt, darf allerdings bezweifelt werden: Jirous schätzte das »Schatten-Establishment« nicht sonderlich.38 Dessen Entstehen wie auch Jirous’ Widerwillen ihm gegenüber korrespondieren mit Gertraude Zands Beobachtung, gemäß den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen habe der Underground der 1950er Jahre noch mit einer Spaltung in »ich« und »sie« operiert. Die 1970er und 1980er Jahre waren hingegen von einer breiteren Widerstandsbewegung, einem gewachsenen oppositionellen Bewusstsein bestimmt, das eine Spaltung in »wir« und »sie« generierte – eben jene von Havel als dilemmatisch erfahrene Duplizierung des Kollektivzwangs. Damit, so Zand, sei aber auch das für den Underground identitätsstiftende »Gefühl des völligen Außenseitertums« in Frage gestellt gewesen.39 Wenn Jirous gleichwohl schrieb, der Underground sei eine geistige, ja soziale Bewegung, deren Anhänger »weder die Lust noch die Möglichkeit hatten, am offiziellen Teil der Literatur teilzunehmen«, ergibt sich eine jener Widersprüchlichkeiten, die für die Idee des Underground insgesamt charakteristisch sind:40 Selbst in der Ablehnung des Legalen, Offiziellen gerät dieses zum Maß der Dinge, zum negativen Fixstern. Entsprechend lautete zwar ein Haupteinwand des Underground gegen den Dissens, dass die Organisatoren des »etablierten« Samizdat den »ersten« Umlauf anerkannten, weil sie den Dialog mit seinen Vertretern suchten – was dem Underground-Radikalismus der Verweigerung diametral entgegenstand. Doch wenn der Underground zumal im polnischen Diskurs bald als »dritter« Umlauf verhandelt wurde, dann setzte dies abermals die Orientierung stiftende Hinnahme der Umläufe »eins« und »zwei« voraus. Nichtsdestoweniger, der Underground konstituierte sich aus einer Distanzbehauptung zu allem, was etabliert oder privilegiert schien, Autorität genoss, auch kritische – oder dem sich dies nachsagen ließ. Damit stand er im Widersatz zur »offiziellen« Kultur ohnehin, aber auch zum Exil und dem eingespielten Samizdat – dessen halbinstitutionelle Vertriebswege er indes klaglos nutzte. Wie dieser mehrfache Knoten sich entflechten lasse, dafür hat Diedrich Diederichsen zweierlei Hinweise gegeben. Erstens unterscheidet Diederichsen zwischen Subversion und Protest. Der Protest könne anklagen, die Subversion nicht. Letztere beriefe sich mit einer Anklage auf die Basis (Sprache, Moral), die der Macht zugrunde liegt. Folgerichtig missbillige die Subversion am Protest, dass er der Herrschaft vorwerfe, »Fehler zu 38 | P ilař , Martin: Underground. Kapitoly o českém literárním undergroundu [Kapitel über den tschechischen literarischen Underground]. Brno 1999, S. 19-20. 39 | Z and, Gertraude: Totaler Realismus und Peinliche Poesie. Tschechische UntergrundLiteratur 1948-1953. Frankfurt am Main u.a. 1998, S. 53. 40 | J irous , Ivan M.: O české undergroundové literatuře v 70. a 80. let [Über die tschechische Underground-Literatur der 1970er und 1980er Jahre]. In: Iniciály 8-9 (1990), S. 1-3.
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machen, dabei sei doch eine gelungene Herrschaft noch schlimmer als die armselige, misslingende, vertrottelte«. 41 Zweitens nutzt Diederichsen die Zuschreibung »dissident« eben nicht für Aufstände gegen Benachteiligungen, die unmittelbar erfahrene sind: rassische, soziale oder sexistische, ideologisch-politische. Er will den Begriff vielmehr lesen als Bekundung von »Überzeugungen«, deretwegen auch Unbetroffene Marginalisierung, Ausschluss und Randposition ertragen. Die Zeitgenossen ließen sich »in der Regel mit den primären [Diskursen auf] eine Legitimierung ein, um zur Welt zu kommen«. Sie erlaubten sich, an anderen Orten zu existieren. 42 Für die DDR-Szene spitzt es Peter Geist nochmals zu: »Wirkliche Subversion, so der Gruppenkonsensus, musste diese machtfixierte Logik auf brechen.« 43 Die Auswirkungen von Spaltung, Repression und Paranoia auf das künstlerische Schaffen hat Miroslav Červenka 1985 erörtert und dabei mit einer kleineren Beobachtung begonnen: In gedruckter Form entfalte ein Buch Autorität allein schon als »physikalische Entität«. Es sei des Manuskriptcharakters entledigt, bereinigt von Tippfehlern, Korrekturen und handschriftlichen Bemerkungen. Die im Samizdat kursierenden Abschriften hingegen stecken voller derartiger Hinweise auf die Existenz des Autors und die Kontingenz seines Werks. Sowohl er als auch der Produktionsprozess – der Abtipper – sind dem Leser präsent, fast Gesprächspartner. Ein zweites, dieser Intimität verwandtes kommunikationstheoretisches Problem liegt in der Frage, wie groß eine Öffentlichkeit sein muss, um öffentlich zu sein, ist doch »Öffentlichkeit ex definitione mit Quantität verbunden«. 44 Den beschränkten Leserkreis bilden zudem Personen, die sich vielfach kennen, miteinander verbandelt sind, in Nahverhältnissen stehen. Červenka hebt hervor, dass die Strategien, mit denen Schriftsteller auf dieses Problem der »Torso-Kommunikation« reagierten, Folgen für die Inhalte und die formale Gemachtheit der Werke hatten. Er schält vier Typen heraus: Erstens das Sich-Abfinden und Verbleiben in der Situation der Privatheit. Die Werke werden hermetischer, philosophischer, mikrokosmischer. Sie zielen nicht auf Leser, sondern werden buchstäblich für die Schublade geschrieben. Zweitens der umgekehrte Weg in die internationale Öffentlichkeit. Dabei werden Anspielungen auf nationale Besonderheiten, Ereignisse, kulturelle Größen 41 | D iederichsen, Diedrich: Subversion – Kalte Strategie und heiße Differenz. In: D ers .: Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll 1990-93. Köln 1993, S. 33-52, hier 38. 42 | D ers .: Aus der Geschichte der Unversöhnlichkeit. In: Texte zur Kunst 2 (1991), S. 73-89, hier 73. 43 | G eist, Peter: Die Lyrik der nicht-offiziellen Literaturszene. In: Warnke /Q uaas: Die Addition der Differenzen, S. 20-51, hier 22. 44 | Č ervenk a , Miroslav: K sémiotice samizdatu [Zur Semiotik des Samizdat]. In: D ers .: Obléhání zevnitř. Praha 1996, S. 366-373, hier 370.
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auf ein Minimum zurückgefahren, erfährt die Sprache eine Stutzung im Sinne der Übersetzbarkeit. Die Texte werden oft überexplizit, lassen möglichst wenig in der Schwebe, der Ambivalenz der Allusionen. Drittens die Ignoranz der Situation, die weder thematisiert noch ausgeführt wird, aber dennoch allgegenwärtig ist. Im Grunde handelt es sich um eine Variante der verbreiteten Vorstellung vom modernen Künstler als Ghettobewohner und absurden Sisyphos. Der vierte Typus schließlich reagiert offensiv, indem er sich der Situation anpasst, sie zum Thema macht, oft Genres bevorzugt wie das Tagebuch, die literarische Korrespondenz oder Erinnerungsliteratur, um Zeugnis abzulegen für eine Nachwelt. Gleichwohl vermag der Leser, der nicht gleichzeitig Kenner der Dissidentenszene ist, abermals viele der metonymischen und synekdochischen Chiffren kaum in allgemeine Aussagen zu überführen. Ein Beispiel ist der Moskauer Konzeptualismus, dessen Werke Sylvia Sasse als »rhizomatisches Netz« charakterisiert: »Deutlich wird, dass die private Beziehungstechnik, das eigene Bedeutungsnetz im ›unendlichen‹ Sinngefüge einen neuen Privatismus, eine Hermetik schafft, die strukturell an die Ausgrenzungsbewegung des Totalitarismus anschließt.« 45 Diese Poetik – hier der Gruppe Inspektion Medizinische Hermeneutik (Inspekcija Medicinskaja Germenevtika) – erweise sich »assoziativ im Herstellen von Verbindungen, dissoziativ im Herstellen von Sinn«. 46 Die künstlerischen Konsequenzen, die der Underground aus Spaltung und Paranoia des Alltags zog, entsprechen überwiegend diesem vierten Typus und haben zum Kern eine Geste und Ästhetik, die Caius Dobrescu so beschreibt: [I]m Falle des idealtypischen Helden geht es darum, jede festgefügte Form der Autorität zu sabotieren, eine Atmosphäre des Argwohns zu schaffen gegenüber jeglichem Versuch der »kulturellen Manipulation« durch ein allgegenwärtiges, wenngleich unsichtbares »System«.47
Das führt noch einmal zurück auf Diedrich Diederichsens angesprochene Überlegungen zur Subversion und ihren Verfahren. Diederichsen listet sieben entsprechende Praktiken auf, unter denen neben dem »freiwilligen Beziehen eines Unten in einer hierarchischen Macht-Topik« die »Geheimdienstmetaphorik« steht. 48
45 | S asse , Sylvia: Texte in Aktion. Sprech- und Sprachakte im Moskauer Konzeptualismus. München 2003, S. 300. 46 | Ebd., S. 308. 47 | D obrescu, Caius: Der Held und die Postmoderne. Einige Betrachtungen zum rumänischen Underground. In: Neue Literatur 1 (1998), S. 123-128, hier 123-124. 48 | D iederichsen: Subversion, S. 35.
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3. Subversion offizieller Zentrumsbehauptungen
Oberstadt — Unterstadt, Stadt — Provinz, West — Ost
Überall ringsum ist Wald, ein so dichter, dass nicht einmal die Pfiffe der Lokomotiven ihn durchdringen. Auch nicht die Rufe der fahrenden Händler, auch nicht die Verleumdungen und rätselhaften Gewaltandrohungen. Weder die Wagemutigen mit den Flammenwerfern, noch die Prospektoren und Gesundheitsinspektoren sind je weit über seinen Rand hinausgelangt.1 I van W ernisch
Z ur S ubversion offizieller Z entrumsbehaup tungen Raumbezüge und räumliche Tropen dienen der Kunst (nicht nur) des Underground als prägnante, eingängige Kodes, in denen sich soziale, kulturelle und weitere kollektive Hierarchien verhandeln lassen. Die dominante, dem Underground bereits in den Namen geschriebene Raummetaphorik dabei ist eine vertikale, mit Implikationen, die im folgenden Kapitel angesprochen werden. Indes greifen seine Protagonisten und Autoren immer wieder auf mehr oder weniger etablierte horizontale Chiffren und Topoi zurück und weisen ihnen Schlüsselfunktionen in ihren Arbeiten zu. Bisweilen werden die Horizontalen artistisch vertikalisiert, etwa, wenn Andrzej Stasiuk die tote Fläche der Steppe in die verspiegelten Fassaden Warschaus kippt. Andere dienen als Widerspiel oder dop1 | Wernisch, Ivan: Die Stadt. In: D ers .: Ausgewühlte Schriften. Aus dem Tschechischen v. Peter U rban . Berlin 1994. S. 82-83, hier 82. – D ers .: Město. In: D ers .: Doupě latinářů. Sežrané spisy [Die Höhle der Lateiner. Aufgefressene Schriften]. Brno 1992, S. 80: »Všude kolem je les, tak hustý, že jím neproniknou ani hvizdy vlaků. Ani křik podomních obchodníků a pomluvy a záhadné náznaky hrůz, ani odvážlivci s plamenomety, ani prospektoři a zdravotní inspektoři se nedostanou daleko za okraj.«
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Der Underground, die Wende und die Stadt
pelnder Marker einer zentralen vertikalen Dichotomie, etwa bei Ivan Wernisch, und wieder andere bleiben vordergründig konventionell bestehen. Stets jedoch strukturiert im Sinne des eingangs Gesagten zur urbanen Kondition des Underground ein Stadtbild den Erzählraum. Jenseits der offensichtlichen Konstruktion Oberstadt – Unterstadt findet diese Fixierung auf das Urbane ihren Reflex in Leitdichotomien wie Zentrum und Peripherie, Stadt und Provinz, Siedlung und Wildnis: durchgängig Varianten der Annahme Ort versus Un-Ort. In Ostmitteleuropa nun tritt noch ein Muster poetischer Selbstrepräsentation hinzu, das zeitweilig als Reflex einer spezifischen Repressionserfahrung erscheinen konnte, jedoch hinter die Sowjetisierung zurückreicht und sich seit dem Systemwechsel fortschreibt: Ich erlaube mir hinzuzufügen: es ist eine Provinz, wo jeder weiß, dass er sich in Wirklichkeit im Zentrum befindet, denn das Zentrum ist überall und nirgends, so dass man aus den Höhen und Tiefen des eigenen Arbeitszimmers ruhig auf alles andere einschließlich New York und Moskau herabblicken kann. 2
Jurij Andruchovyč hätte ihn 1999 nicht besser wiedergeben können, jenen ostmitteleuropäischen Intellektuellengestus, in der Peripherie doch auf einem globalen Parnass zu hocken. Die ironisierte Befindlichkeit indes spielt mit einer zentralen, vielleicht der Frage des Underground: der nach Validität und Konstruktion räumlich chiffrierter Hierarchien. Seine Poetik kreist um das Bemühen, eine wie plural auch immer zentrierte Welt noch einmal zu dezentrieren. Das versucht er durch die fiktionale Zentralsetzung eingeschliffener Minder- und Un-Orte, durch eine ostentative Anti-Ästhetik des sich Einrichtens am seitlichen, unteren »Bildrand«. Das eine Gefälle aber, das dabei nie ernsthaft zur Debatte steht, ist das urbanrurale. New York oder Moskau, Paris und London, auch Berlin, schon früh Buenos Aires, bald Tokio, Shanghai, Delhi werden gegenüber Prag, Bratislava, Warschau und Lemberg, Budapest oder Bukarest ebenso relativiert wie die Prager Burg gegen Libeň und Smíchov, die Warschauer Altstadt gegen Praga und Grochów, das Stadtzentrum Bratislavas gegen die Plattenbauten Petrželkas – Upper West Side gegenüber der Bronx. Um die zueinander und in sich neugewichteten Metropolen, Sinnbilder des Mythos Moderne, Dreh-, Angel- und Fixpunkte ihres Schaffens aber legen die Künstler des Underground einen Gürtel des Nichts. 2 | A ndruchowy tsch, Juri: Zeit und Ort oder Mein letztes Territorium. In: D ers.: Das letzte Territorium. Essays. Aus dem Ukrainischen v. Alois Woldan. Frankfurt am Main 2003, S. 60-71, hier 69. – A ndruchovyč , Jurij: Čas i misce, abo moja ostannja terytorija. In: D ers.: Dezorijentacija na miscevosti. Sproby. Ivano-Frankivs’k 2006, S. 118-126, hier 125: »[…] це така провінція, де кожен знає, що він насправді перебуває в самому центрі, бо центр є ніде і всюди водночас, а тому з вершин і низин власної робітні може цілком спокійно дивитися на все інше включно з Нью-Йорком чи якоюсь Москвою.«
3. Subversion offizieller Zentrumsbehauptungen
Bei Ivan Wernisch ist es der Wald. Um in die oder aus der Stadt zu gelangen, muss der Aus- oder Einbrecher die Wildnis bezwingen, eine höchstsignifizierte Grenze überschreiten. Der Raum des Walds ist ein undurchdringbarer; kaum einer gelangt über seinen Saum hinaus. Die Stadt im Wald ist das Zentrum, um das Wernischs Gedicht kreist. Ihr gebührt dessen Titel; von ihr gehen die Handlungsimpulse aus; sie bildet das narrative Epizentrum; ihre Perspektive nimmt das lyrische Ich ein. In ihr schneiden sich die horizontale und vertikale mythischdramatische Achse: Über dieselben Straßen nämlich, auf denen ihre Bewohner von den Katakomben und Gärten raunen, läuft das Tier. Wald und Stadt wechseln in ihrer räumlichen Gewichtung gemäß einem Katastrophenszenario. Die Stadt schwillt an, wird aber zugleich kleiner, von außen eingeschrumpft. Alles im Raum ist Behauptung und wird mit jedem weiteren Satz aufgehoben – zugunsten neuer Behauptungen, was wann marginal, peripher beziehungsweise zentral ist, oben oder unten. Treffen aber kann die Apokalypse nur die Stadt, den Ort im ohnehin Unörtlichen. Auf Wernischs Wegen unterläuft der Underground das Paradigma von Megalopolis versus Metropolis zugunsten einer eigensinnigen, paranoid übersteigerten Schizophrenie aus Verachtungsdialektik. Das heißt Zentralität, aber auch Marginalität werden universal und kompensatorisch bestritten, um von einem Anti-Zentrum aus neu behauptet zu werden, so weit links unten ins Bild gesetzt, dass der »tödliche« Mainstream es vorgeblich nie erreichen könne.
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D er R aum z wischen Z entrum und P eripherie ich kenne einen, der heißt holger, kommt vom kuhdorf, aus schachtaudorf meinethalben, der geht jetzt inner stadt rum, an sein haar kommt kein fön ran, er zieht sich scheiße an, nennt sich pussifresser, liebt den grossen muschischleck und sagt: man muss lokalen rockgruppen eine chance geben. holger hat keinen charakter, holger hat keinen stil, holger ist so brunzdumm, dass die kessel pfeiffen, aber dieser beschisssene untote hat süppkültür. 3 F eridun Z aimoglu
Feridun Zaimoglu bedient das klassische Zentrum-Peripherie-Thema, setzt Kiel oder Berlin gegen das »Kuhdorf« ab, die Provinz – und bricht die horizontale Setzung in eine vertikale Dialektik. Der deutsche Provinzler mag sich noch so angestrengt unangepasst geben, für den »metropolitanen kanakbrocken« bleibt er ein »bürgerbalg«, ein »weißer wichser«: ein Mittelklasse-Oben, das metrokulturell unter allem Kanon rangiert. Allemal unter dem Migranten, der in der Stadt sein Leben verbracht hat, in Ghettos, die das Kuhdorf mit »unten« verwechselt – in seiner nach abgespreiztem Finger klingenden culture, die verklemmt auf sub rockt. Woraus das erzählende Ich umstandslos eine »süppkültür« turkisiert, Zaimoglus eigene »Kanak Sprak« persiflierend, das Authentizität simulierende »Migrantisch«. »Kanak Sprak« wiederum ruft zwar Assoziationen des rappenden Underdog auf, stellt indes Pop in Reinform dar: oberflächenzentriert, kommerziell, fetischfixiert und manipulativ, wiewohl bar der Autoaggressivität, die dem Ur-Pop innewohnte. 4 Eben deshalb, aufgrund seiner widerstandsarmen Konsumierbarkeit freilich kann diese Sprache Zaimoglu als Mittel dienen, die hegemoniale Redeweise, das Machtgefüge um die Marker »eigen« und »fremd«, letztlich die Laufrichtung der Exklusionsachse zur Debatte zu stellen.
3 | Z aimogl u, Feridun: sicarim süppkültürünüze, züppeler! Ich scheiße auf eure Subkultur, ihr Schmöcke! In: Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Hg. v. Tom H olert u. Mark Terkessidis . Zürich 1996, S. 86-95, hier 89. 4 | Dies in Absetzung zu Thomas Ernst, der Zaimoglus Texte als gleichsam »authentische« wie naiv-minoritäre Literatur liest. – E rnst, Thomas: Jenseits von MTV und Musikantenstadl. Popkulturelle Positionierungen in Wladimir Kaminers »Russendisko« und Feridun Zaimoglus »Kanak Sprak«. In: Literatur und Migration. Hg. v. Heinz Ludwig A rnol d. München 2006, S. 148-158, hier 155-156. – Im selben Band findet sich auch ein Interview mit Zaimoglu, das sich auf seine spätere Prosa bezieht und mit dem Statement schließt: »Aber eigentlich wird im Zuge der sozialen Erosion alles zerteilt, auch die Ethnoidentitäten« (S. 166).
3. Subversion offizieller Zentrumsbehauptungen
Einige weitere Überlegungen zur Axiologie von Zentrum und Peripherie mögen die Einordnung des Underground und seines Gebrauchs horizontaler Hierarchien erleichtern. Gibt es dem Anthropologen Clifford Geertz zufolge »nichts in den Vororten, das nicht zuerst in der Altstadt aufgetreten wäre«,5 so postuliert der Semiotiker Jurij Lotman gerade das Gegenteil: Nicht die »Altstadt«, sondern die Peripherie sei das Gelände semiotischer Aktivität (»area of semiotic dynamism«), das Zentrum wohl normsetzend, prioritär, letztlich aber impulsarm.6 Radikale Kreativität spiele sich in den Randzonen ab. Als Orten der Ausgegrenzten eigne ihnen das dissidentische Potenzial, das im Zentrum erfolgreich kontrolliert werde. Andererseits erlaube seine kulturelle Definitionsmacht dem Zentrum, die peripheren Impulse zu absorbieren, sie aneignend zu neutralisieren, quasi zu zentralisieren. Seine Herrschaft über die modes of life ist mithin keine diktatoriale. Indes sind »Zentrum« und »Peripherie« nicht dauerhaft festgeschrieben, können changieren, miteinander wechseln und bilden erst in dieser Bewegung das dynamisch verstandene Modell der Semiosphäre. Am Rand »lösen sich die Kodierungen der Semiosphäre auf, fragmentieren und vervielfältigen sich«.7 Die inhärente Opposition Zentrum-Peripherie lässt als qualitativen Faktor die »Grenze« entstehen, 8 einen spezifischen »Bereich beschleunigter semiotischer Prozesse, die immer aktiver an der Peripherie der kulturellen Ökumene verlaufen, um von dort aus in die Kernstrukturen einzudringen und diese zu verdrängen«.9 Der Reiz des Semiosphärenmodells liegt für Albrecht Koschorke denn auch darin, dass es »von internen Barrieren durchzogen« ist, sich Zentren und Peripherien »multiplizieren und unzählige Interferenzen erzeugen«.10 Differenziert und verflüssigt Lotman die Zweipoligkeit des Begriffspaars Zentrum/Peripherie, so systematisiert Henri Lefebvre die Analyse der Raumproduktion und schlägt vor, das Raum-Zeit-Gefüge unter drei Aspekten zu betrachten. »Wahrgenommener« Raum (espace perçu) meint zunächst die räumliche Praxis, die Mechanismen, durch die Raum materiell strukturiert und sinnlich erfahrbar 5 | Geertz, Clifford: Common sense als kulturelles System. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1999, S. 261-288, hier 262. 6 | L otman, Jurij M.: Universe of Mind. A Semiotic Theory of Culture. Bloomington 2000, S. 134. 7 | K oschorke , Albrecht: Zur Funktionsweise kultureller Peripherien. In: Explosion und Peripherie. Jurij Lotmans Semiotik der kulturellen Dynamik revisited. Hg. v. Susi K. F rank , Cornelia R uhe u. Alexander S chmitz . Bielefeld 2012, S. 27-39, hier 30. 8 | L otman: Universe of Mind, S. 131: »The boundary may separate the living from the dead, settled people from nomadic ones, the town from the plains; it may be a state frontier, or a social, national, confessional, or any other kind of frontier«. – R uhe , Cornelia: La cité des poètes. Interkulturalität und urbaner Raum. Würzburg 2004, S. 19-21. 9 | L otman, Jurij M.: Über die Semiosphäre. In: Zeitschrift für Semiotik 4 (1990), S. 287-305, hier 293. 10 | K oschorke : Zur Funktionsweise kultureller Peripherien, S. 31.
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wird, anfassbar, sichtbar, über Geruch und Gehör, über Bewegung und Situierung des Körpers. Diese räumliche Praxis wird dann im »konzipierten« Raum (espace conçu) diskursiv entziffert, Raumwissen (re-)produziert, Raum entworfen und geplant. Endlich finden sich beide Aspekte aufgehoben im »gelebten« Raum (espace vécu), der in sozialen Beziehungen genutzt, symbolisch aufgeladen und so neuerlich geöffnet wird für Dissens, räumlich verfasste und agierende Opposition, für Gegenräume, die bestehende Hegemonien bestreiten. Als gelebter ist jeder Raum dynamisch und liquide, nicht nur der marginale oder periphere. Die Stadt nun stellt nach Lefebvre eine bestimmte historische Konfiguration des Raums dar, charakterisiert über das Merkmal der Zentralität und damit über ein formales Kriterium, das sich aus einem jeweils konkreten gesellschaftlichen Kontext ergibt.11 Dabei meint Zentralität zunächst nicht Macht und die Präsenz entsprechender Institutionen, sondern eine besondere Dichte des Aufeinandertreffens, Versammelns, Akkumulierens und Begegnens, des Zusammenbringens, Vermittelns und Ausgleichens: Jeder Punkt kann zum Brennpunkt werden, zum privilegierten Ort, an dem alles konvergiert. So dass jeder städtische Raum in sich dieses Möglich-Unmögliche trägt, seine eigene Negation. Jeder städtische Raum war somit, ist und wird konzentrisch und poly-(multi-)zentrisch sein.12
Damit aber holt Lefebvre den Spannungsbogen zwischen Zentralität und Peripherie samt ihrer kreativen Grenzräume analytisch in die Stadt, so dass die Divergenzen zwischen Geertz und Lotman sich vergleichsweise mühelos aufheben lassen. Entsprechend stellt die Kategorie der Raum-Macht für Lefebvre durchaus ein entscheidendes Problem dar, allein nicht zwischen Stadt und Nicht-Stadt, sondern in der Stadt. Einerseits bezweifelt er, dass sich ein hochdifferenzieller Raum wie die industrielle Stadt administrativ homogenisieren lasse; dagegen stehe die Vielfalt ihrer Heterotopien. Gefährdet sind sie und mit ihnen das genuin Urbane dennoch. Denn dieses Urbane, die verstädterte Gesellschaft, bildet bei Lefebvre den synthetisierenden Gegenpol zu machtvolleren Agenturen der Homogenisierung als obrigkeitliche Gewalt: Er umreißt sie mit »Ware«, »Konsum«, »Beherrschung« und »Produkt«. Sie sind es, die die »Kolonialisierung des städtischen Raums« vorantreiben. Lefebvre beschreibt diesen Prozess am Beispiel der Straße, die sich zu einem »organisierten Netz des Konsums« aufspreite, bis der Städter keinen freien Besitz mehr von ihr ergreifen könne, etwa durch spontane Demonstrationen. Was bleibt, genehmigte Feste, Umzüge und Märkte, seien kaum mehr als Karikaturen dieser 11 | S chmi d, Christian: Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes. Stuttgart 2005, S. 30. 12 | L efèbvre, Henri: Die Revolution der Städte. Frankfurt a.M. 1976, S. 46. – Das Original trägt den Titel La Révolution urbaine. Lefebvre hatte allerdings weniger einen Aufstand, ein Zurwehrsetzen der Städte im Sinn, wie es der deutsche Titel nahelegt, als vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Veränderung.
3. Subversion offizieller Zentrumsbehauptungen
Besitzergreifung.13 Es bedürfte einer »urbanen Revolution«, um dem Warencharakter der Stadt im Sinne einer Wiederaneignung dessen zu begegnen, was dem Städter an Zeit, Raum und Objekten (Straßen, Plätzen, Beleuchtung) zusteht.14 Die Nähe wesentlicher Positionen des anti-realsozialistischen Dissens und namentlich des Underground zu denen des marxistischen Philosophen und Soziologen Lefebvre liegt zutage. Indes weist bereits dessen Rekurs auf das Bild der Kolonialisierung in eine Richtung, die das jüngere, postkolonial inspirierte Nachdenken über räumliche Hierarchien und ihre Bestreitung intensiv beschäftigt hat. Abschließend sei auf diese Konzepte eingegangen, sofern sie zum Verständnis der spatialen Ästhetik des Underground beitragen können. Mit Blick auf Lefebvre und in einer gewissen Nähe zu Lotmans Modell der Semiosphärengrenze hat der Geograf Edward Soja ein Konzept des third space ausformuliert, das die schier unendliche Komplexität des »gelebten« Raums betont: Er durchkreuze jedoch gerade das Zentrum-Peripherie-Paradigma, indem er Bewegungen, Austausch und Hybridisierungen sichtbar werden lasse, Überlappungen und Übergänge. Der »dritte« als der am wenigsten kartierbare Raum, ein »handlungsträchtiger Zwischenraum«,15 erweise sich zugleich durch seine offene Anlage als ausnehmend resistent gegenüber jeglichem Macht-Oktroi.16 Mit teils erheblichen methodischen und theoretischen Differenzen finden sich ähnliche Überlegungen bei Homi Bhabha oder Edward Said, die gleichfalls third spaces entwerfen, die mehr sein sollen als Zwischenräume zwischen dominanten Polen, wohl fluid, dehnbar und instabil, jedoch Räume eigenen Rechts und Profils, keine bloßen in-between situations samt deren Konnotationen des Unselbständigen, Eingeklemmten.17 Derweil laborieren Drittraumkonzepte, die eine besondere Fluidität, Offenheit und Dynamik betonen, notorisch an ihrer Implikation (zweier) vorgängiger Räume, die von Bruchlosigkeit, Homogenität und hoher Welt-Norm-Übereinstimmung gekennzeichnet erscheinen.18 Die Tücke des Konzepts liegt in einer 13 | Ebd., S. 26-27. 14 | Ebd., S. 189. 15 | B achmann -M edick , Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 299. 16 | S oja , Edward W.: USA, 1990: Die Trialektik der Räumlichkeit. In: TopoGraphien der Moderne. Medien der Repräsentation und Konstruktion von Räumen im 20. Jahrhundert. Hg. von Robert S tockhammer . München 2005, S. 93-123, hier 97. 17 | Dazu erhellend das Manifest von A delson, Leslie A.: Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen. In: A rnol d: Literatur und Migration, S. 36-46. 18 | Ähnlich transportieren die mit Gedanken des third space eng verbundenen, oft geradezu euphorisch untersuchten kulturellen und identitären Hybriditäten der cross culture people eine Vorstellung von Homogenität als (zu unterlaufendem) Normalfall. – Welsch, Wolfgang: Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen. In: Information Philosophie 2 (1992), S. 5-20. – Albrecht Koschorke verweist im Hinblick
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gewissen Koketterie mit dem kreativen »Anderen«, der Gefahr, einen Popanz integrer, erfolgreich durchherrschter Dominanzräume aufzubauen, die weitgehend frei von Aushandlung, Interferenz und Übersetzung repräsentiert werden. Zugespitzt lässt sich von einer Phantasie der zu subvertierenden sozialen Macht sprechen, wie sie auch die Kunst des Underground zu ihrer Voraussetzung wählt. Doris Bachmann-Medick applizierte Drittraum/Dazwischen denn auch auf kulturelle Praxen wie das Übersetzen, um dem Dilemma zu entkommen. Ihr zufolge zeichnen sich die entsprechenden handlungskonstituierten Quasi-Räume »durch eine instabile Kommunikationslage« aus, die abermals »aus der Deplatzierung und Dekontextualisierung von Personen und Gegenständen sowie aus dem Aufeinandertreffen kulturdifferenter Verhaltensweisen eine eigene Spannung und Beweglichkeit gewinnt«.19 Damit wird der Raum mobil, zum emergenten Topos, wenn nicht zur Metapher. Er umgeht indes Gefahren der Romantisierung und Essenzialisierung, denen nicht nur Beschäftigungen mit (vermeintlichen) kulturellen Rand- und Grauzonen, sondern namentlich auch solche mit sub- oder gegenkulturellen Phänomenen vielfach erliegen. Dies umso mehr, als gerade der Underground mit verführerischen poetischen Selbstrepräsentationen arbeitet, die aus dem Werk in die Analyse seiner Genese zu transferieren sich anbietet. Einen solchen »dritten« Sehnsuchtsort eröffnet wiederum Wernischs Gedicht Die Stadt. Zumal der Schlussvers weist die Gärten und Gänge unter der Stadt im Wald als das eigentlich Lebendige aus – das, was Angst, Erstaunen, ja Entzücken bei den »normalen« Stadtbewohnern hervorruft. Wernischs unterirdisches Reich kommt als eine aus dem Dazwischen (zwischen Natur/Wald/Wildnis und Zivilisation/Stadt/Heteronomie) vertikal entrutschte Heterotopie daher. Sie stellt zugleich eine Synthese dar, deren Höherstehen vom Untensein noch betont wird, und ist ein Kommentar auf einschlägige Hierarchien der Wertschätzungen. Der poetische Drittraum unterläuft diese und durchkreuzt die in ihnen vorausgesetzten Binärstrukturen. Bleibt die in den Einzeluntersuchungen aufzugreifende Frage, ob und inwieweit es dem Underground tatsächlich gelingt, aus seinen spatialen Deutungen und Phantasien in künstlerischen und zumal performativen Akten tatsächlich »gelebten Raum« entstehen zu lassen. An dieser Stelle ist der bereits angeklungene, für die Selbstinszenierungen des Underground konstitutive Topos der Marginalität noch einmal aufzugreifen.
auf Lotman auf dasselbe Dilemma, wenn innerhalb von Dichotomien Umschichtungen erfolgen sollen und »diese ›thirdness‹ lediglich als Zustand der Nichtzugehörigkeit zur einen wie zur anderen Seite und damit wiederum abstrakt und negativ [ge]fasst« wird. Siehe K oschorke : Zur Funktionsweise kultureller Peripherien, S. 28. 19 | B achmann -M edick , Doris: Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung. In: Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Hg. v. Claudia Breger u. Tobias D öring . Amsterdam-Atlanta 1998, S. 19-36, hier 22.
3. Subversion offizieller Zentrumsbehauptungen
D er U nderground und der R and Das Periphere ist keine Peristase, sondern eine Periphora, ein Peripherein oder Perisherestai, das heißt: ein Herumtragen, Sich-Herumbewegen, Herumfahren bis zum Schwindeligwerden, weil man die Autobahnabfahrt verpasst oder das Schild Stadtmitte aus den Augen verloren hat. 20 H annes B öhringer
Hannes Böhringers Befund ist zugleich Positionierung. Er feiert geradezu, was weit öfter beklagt wird: das »Ausfransen« der Städte, die Zersiedelung des Landes. Böhringer macht darin ein gleichsam naturhaftes Aneinanderschmiegen und Ineinanderwachsen von Straßen, Siedlungen, Tankstellen, Großmärkten, Einkaufszentren, Reiterhöfen, Flugplätzen und Müllkippen aus. Auf dem Wege aber sauge nicht länger das Zentrum die Peripherie aus, sondern gelinge umgekehrt der Peripherie das Kunststück, Anorganisches in Organisches rückzuverwandeln. Ähnlich wie Roland Barthes eine Koinzidenz zwischen dem europäischen Stadtzentrum und der metaphysischen Disposition des Westens vermutete, erkennt Hannes Böhringer in der Stadt und dem Zentrumsgedanken ein kosmologisches beziehungsweise eschatologisches Ideologem, dessen Überwindung nun anbreche. Das Zentrum sei »kein Stachel mehr (centrum von kentron = Stachel), um den herum ein Zirkel seinen Umkreis schlägt«.21 Zu jenen Texten, die Böhringers Utopie früh perhorreszierten, zählt Egon Bondys 1974 im Samizdat erschienene Underground-Vision Die invaliden Geschwister (Invalidní sourozenci). Auch bei ihm tritt die Peripherie als Trägerin des Organischen auf. Die invaliden Geschwister entwirft eine klassische Dystopie, eine verseuchte Stadt inmitten verjauchten Wassers, von immer neuen Kriegen verheert. Ihre »normalen« Bewohner retten sich in unterirdische Anlagen oder auf mächtige Wohntürme, fliehen die verseuchte Oberfläche und hausen »wie Engerlinge«, die nichtigen Reichtümer an sich geklammert. Oberhalb der Tunnelstädte, außerhalb der Türme, bevorzugt an den verbliebenen Rändern der Ruinenfelder leben derweil die »Invaliden«: tribal verschworen, in geistiger und materieller Ungebundenheit, expressiv tanzend und trunken, spirituell und ihrer Automystifikation hingegeben – paradigmatische Idealfiguren des Underground. Denn dessen performative Ausgeschlossenengemeinden sind stets mehr denn nur ein Vorwurf – immer auch ein Gegenentwurf. Dieser Gegenentwurf stellt auf archaisierende Muster von Gemeinschaft ab, auf Metaphern von Sippe, (Indianer-)Stamm oder Rudel, auf primordiale Zusammenhalte. 20 | B öhringer, Hannes: Peripherie bedeutet wortwörtlich herumtragen. In: Peripherie ist überall. Hg. v. Walter P rigge . Frankfurt am Main-New York 1998, S. 360-363, hier 360. 21 | Ebd., S. 362.
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Bondys Apokalypse ist das Negativ der böhringerschen Vision von der Überwindung des Anorganischen durch das Organische. Denn schließlich bedeutet den Invaliden die »Großstadt mit ihren Einwohnern […] allmählich nicht mehr als dem Urmenschen der Urwald mit seinen Tieren. Sie lebten von ihnen, aber nicht mit ihnen. Sie lebten über ihnen.«22 Den expressiven Riten auf der erzählten Ebene entsprechen solche auf der Ebene der empirischen Autoren – und, wichtiger noch, auf der poetologischen: Underground-Kunst als Äußerung konstituiert sich rituell, bedient sich extensiv des nur für Eingeweihte und Auserwählte lesbaren Querverweises, der Widmung, der kryptischen Anspielung. Sie vergewissert sich als zugleich undomestizierte und verschworene, freie und »wahre« Bruderschaft der Eigentlichkeit.23 Darin nun steckt eine wiederum eigene, auf eigentümliche Weise uneingestandene und ausgestellte Vertikalität. Auch in Bondys Roman gibt es ja ein nochmal weiteres Unten als das der exkludierten Horde. Denn da sind ja immer noch die in den Tunneln. Die an die dystopische Hierarchie angepassten, servil hinnehmenden Unterklassen. Als schließlich die Menschheit in der Flut zugrunde geht, überleben als einzige die »Invaliden« auf einem Boot. Und nachdem das Wasser gewichen war, »brauchten die Invaliden die Städte, die ihnen so zuwider waren, nicht zu zerstören«.24 Bondys Stadtbild entspricht auf den ersten Blick kaum der Affinität des Underground zum Urbanen. Doch drückt sich gerade in der dystopischen Zeichnung dessen Fixierung auf die Stadt als positives Bezugssystem aus: Natur und Umland kommen im Roman allenfalls todbringend ins Spiel. Vor allem aber eröffnet die Katastrophe der korrumpierten Stadt jene marginalen Räume, in denen Bondys Protagonisten ihren Gegenentwurf leben. Der Lebensentwurf der Invaliden, den Roman und nicht zuletzt der an früherer Stelle schon erwähnte Pullover der Cousine verbildlichen, ist selbst wieder urban, hippiesk zwar, aber alles andere als pastoral. Vielmehr schickt der Text die Invaliden in erkundend-tastenden Bewegungen durch den verheerten Raum, wie es so nur in Städten möglich ist. Im »Umherschweifen«, um den einschlägigen
22 | B ondy, Egon: Die invaliden Geschwister. Aus dem Tschechischen v. Mira S onnenschein. Heidelberg 1999, S. 63. – D ers .: Invalidní sourozenci. Brno 2002, S. 52: »Velkoměsto a lidé v něm se jim stávali pozvolna jen tím, čím byl prales a zvířata v něm pro původního člověka. Žili z nich, ale nežili s nimi, nýbrž nad nimi.« 23 | Dazu gehört auch ein in den Roman eingefügter Abschiedsbrief an einen gewissen Jan Lopatka, der wiederum ein zeitgenössischer Literaturkritiker war. In diesem Brief finden sich neben detaillierten Anweisungen zur Beerdigung des Dichters auch Bondys Pseudonym sowie sein bürgerlicher Name Zbyněk Fišer. Daneben gibt es Verweise auf The Plastic People, auf Namen von Freunden wie Milan Koch oder Chiffren wie Dr. Deutsch für den Philosophenfreund Jiří Němec. 24 | B ondy : Die invaliden Geschwister, S. 233. – B ondy : Invalidní sourozenci, S. 183: »[...] a tak invalidi nemuseli bořit města, která jim byla tak protivná.«
3. Subversion offizieller Zentrumsbehauptungen
Begriff der Stadtforschung zu verwenden, schaffen sie sich gleichsam eine »zweite«, dezentrierte Stadt: Niemals machten sie »die Runde« im Stadtzentrum, wohin die Busse und die Straßenbahnen jetzt am Abend Abertausende von vergnügungssüchtigen Menschen karrten. […] Im großen Bogen umgingen sie das Zentrum und kehrten in Vorstadtkneipen, Kaschemmen, Ausschankstuben, Büffets und Bistros ein. 25
Das erinnert an das dérive des Pariser Situationismus, das driftende Vagabundieren durch den urbanen Raum, wie Guy Debord es pries. Im Unterschied zum vermeintlich oberflächlichen (bürgerlichen) Flaneur à la Charles Baudelaire oder Walter Benjamin suchten die Situationisten Stimulation und Entgrenzung, wobei sie in Kauf nahmen, sich zu verirren, ja das Verlaufen geradezu anstrebten: den Kontrollverlust einkalkulierten und kultivierten.26 Jegliche Routine im Stadtgang galt als suspekt, das Zentrum als Hort des Abgeschmackten; sie selbst zogen sich aus dem Quartier Latin in das heruntergekommene dreizehnte Arrondissement zurück.27 Zugleich gewann das Wort von der »Konstruktion« der Umgebung oberhand: Graffities an Denkmälern und Gebäuden; bewegliche und durchsichtige Wohnhäuser; »Landschaftswechsel von einer Stunde zur anderen« zwischen lichten und zwielichtigen Vierteln; Fälschung von Fahrplänen.28 Auch Bondys Invaliden bevorzugen Orte, die peripher sind, profan, improvisiert – und doch kunstvoll inszeniert: Wie die Situationisten wählen sie Treffpunkte, die ein »psychogeographisches« Fluidum hergeben; sie zelebrieren eine flüchtige Stimmung, eine Kultur des Moments. Konzerte, die unaufgezeichnet bleiben, erhöhen die »physiologische Sensitivität« der Invaliden, öffnen Imaginationsräume, steigern die Intensität ihrer Wahrnehmung. 25 | B ondy : Die invaliden Geschwister, S. 80. – B ondy : Invalidní sourozenci, S. 64: »Nikdy se nechodili ›projít‹ do centra města, kam teď navečer svážely tramvaje a autobusy desititisíce lidí, kteří se chtěli pobavit. [...] Obcházeli centrum velkým kruhem po předměstských hospodách, putykách, výčepech, automatech a bistrech, [...].« 26 | Als z.B. Helmut Sturm, Mitglied der Gruppe SPUR, Ende der 1950er Jahre zur Kontaktaufnahme nach Paris kommt, kann er den Sitz der Situationisten – und auch Debord – nicht ohne Weiteres finden: »Sitz der internationalen Organisation war also eine ›Spelunke‹ […]. Was konnte tagsüber vor dem Haus 5, Rue de la Montagne Ste.Geneviève, Redaktionsanschrift der S.I., darauf hindeuten. Der Name der dort gelegenen Bar jedenfalls nicht.« – O hrt, Roberto: Phantom Avantgarde. Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst. Hamburg 1990, S. 199. 27 | Dazu O hrt, Roberto: Peripherie und Zentrum bei den Situationisten. In: P rigge : Peripherie ist überall, S. 267-274. – S chwanhäusser : Kosmonauten des Underground. Ethnografie einer Berliner Szene. Frankfurt am Main-New York 2010, S. 146-174. 28 | Zur Programmatik auch H ecken, Thomas: Gegenkultur und Avantgarde 1950-1970. Situationisten, Beatniks, 68er. Tübingen 2006, S. 21-37, hier 28-30.
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Bondys Roman schreibt die vermachtete Stadt ab, repräsentiert jedoch die urbane Kondition als alternativlos und erhebt ihre flüchtigen Randstellen zum alternativen espace vécu seiner Protagonisten – einem gelebten Raum. Im Gegensatz dazu hat Michael Fleischer anhand polnischen Materials vorgebracht, der Overground (wie er den Underground nennt) habe der Provinz einen ganz neuen, prominenten Stellenwert zugewiesen.29 Fleischer stützt diese Annahme auf die Streuung von Aktionen, Konzerten, Happenings im Raum; zum anderen auf die Topologie der literarischen Hervorbringungen. Beides scheint schwer zu halten. Vorderhand klingt es zwar kaum anders, wenn Martin Pilař schreibt, der Underground liege »unter allen Umständen an der Peripherie, denn im Zentrum würde er aufhören, er selbst zu sein, würde er die grundlegende Bedingung seiner Existenz verlieren«.30 Die Peripherie Pilařs indes ist eine intra- oder suburbane. So, wenn er einen Gründungsmythos des Prager Underground abruft und Honza Krejcarová, Tochter von Milena Jesenská und spätere Underground-Muse, das Café Slavia an der Moldau betreten lässt, nur um ihr zu attestieren, dass sie sich damit »einschrieb in die Geschichte der Caféhausanfänge«. Mehr noch, indem er ausführt, wie der Auszug aus dem Zentrum der Auflösung tradierter Poetiken entsprach: Die Dichter Egon Bondy und Ivo Vodseďálek der Künstler Vladimír Boudník und andere realisierten ihr nonkonformes Leben als künstlerische Boheme, indem sie in den 1950er Jahren begannen, die innenstädtischen Cafés zugunsten vorstädtischer Kneipen, Stehbuffets und Gasthäuser zu meiden – von trauten Landgasthöfen kein Wort, wo Pilař in der räumlichen Veränderung zugleich eine des »diskursiven Umfelds« vermutet. Im Gang an den schäbigen Rand sei es der Gruppe gelungen, sich aus der übermächtigen Ästhetik des Surrealismus zu befreien und den Grund zu ihrer späteren Position als Referenzgrößen des Prager Underground zu legen.31 Nur ist es halt der städtische Rand: in Wernischs Bildsprache die untere Welt – nicht der jenseits gelegene Wald. Fleischers Beobachtung zur Provinz geht nicht von Grund auf fehl. In der Tat spielt »der Wald« für die Poetik des Underground eine wesentliche Rolle: Als Hort des Wild-Schönen korrespondiert er mit der mythischen Unterstadt. Allein, die Provinz und das Provinzielle fungieren allermeist als Kontrast. Ganz unoriginell meint Provinzialität weniger einen geografischen Ort als einen Topos: das konforme Leben, Konsumstreben und das kleine materielle Glück, Vorgaben folgen, unverspielt sein. 29 | F leischer : Overground. Die Literatur der polnischen alternativen Subkulturen der 80er und 90er Jahre. Eine Einsicht. München 1994, S. 131. 30 | P ilař , Martin: Underground. Kapitoly o českém literárním undergroundu [Kapitel über den tschechischen literarischen Underground]. Brno 1999, S. 20. 31 | Ebd., S. 16. – Zur sich daraus ergebenen Zentrum-Peripherie-Dichotomie präzisiert Pilař: »Denn die Vorstellung vom Rand ist untrennbar mit der Vorstellung von der Mitte verbunden, und wir geraten in den Bereich der Bipolarität von Zentrum und Peripherie« (S. 146).
3. Subversion offizieller Zentrumsbehauptungen
Zum anderen dient das (vorgeblich) exkludiert Periphere als eingeschliffene, leicht lesbare horizontale Chiffre einer im Kern vertikalen Absetzung: Das idealisierte marginale Leben legte sich de facto stets unter die urbane Gesellschaft. Ob es mangels wirklicher Tunnel dafür nun in die Vorstadt gehen oder Gitarren und Verstärker aufs Dorf fahren musste: Sender, Adressat und Botschaft waren und blieben stadtstämmig. Die Nicht-Stadt bleibt Un-Ort, wie ihn etwa die Gedichte eines Andrzej Bursa reflektieren. In Samstag (Sobota) verbringt das lyrische Ich sein Wochenende in vier verplüschten Provinzwänden, übersteht es per Suff und wütet über die Zumutung, seine jugendliche Kreativität auf Reportagen über das Wachstumspotenzial von Kleinstädten vergeuden zu sollen, über deren ereignisloses Verrinnen, die Kulissenhaftigkeit des Paradiesischen und Heilen: Samstag Gott, was für ein schöner Abend so viel Wodka so viel Bier und dann das Wirrwarr in den Kulissen dieses Paradieses zwischen Plüschvorhang und der Küche hinterm Gitter ist mir als werde ich herausgefordert von der überschüssigen Energiemasse mit der mich die Jugend ausstattete möglich dass ich sie auch anders nutzen könnte z.B. 4 Reportagen schreiben über die Entwicklungsperspektiven von Kleinstädten aber ich scheiß auf die Kleinstädte ich scheiß auf die Kleinstädte ich scheiß auf die Kleinstädte 32 32 | B ursa , Andrzej: Sobota. In: Droga do ashramu. Antologia poezji kontrkulturowej. Hg. v. Dariusz Tomasz L ebioda . Bydgoszcz 1998, S. 25: »Sobota // Boże jaki miły wieczór / tyle wódki tyle piwa / a potem plątanina / w kulisach tego raju / między pluszową kotarą / a kuchnią za kratą / czułem jak wyzwalam się / od zbędnego nadmiaru energii / w którą wyposażyła mnie młodość // możliwe / że mógłbym użyć jej inaczej / np. napisać 4 reportaże / o perspektywach rozwoju małych miasteczek / ale // mam w dupie małe miasteczka / mam w dupie małe miasteczka / mam w dupie małe miasteczka.«
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Der Underground im östlichen Europa steht am Rand des staatlich gelenkten Kulturgeschehens, befindet sich außerhalb der Wirkungsmöglichkeiten einer »ersten« (und »zweiten«) Kultur. Zentralität, verstanden als sozialistische Öffentlichkeit, wird ihm zur am eigenen Schaffen und Leib erfahrbaren Limitation, exekutiert und oktroyiert durch einen zutiefst »provinziellen« Trägerapparat, der Schreibweisen sanktioniert, über Bühnenprogramme entscheidet, die Zahl der Auslandsreisen, die Genehmigung von Rockkonzerten verfügt. Indem Bondys »Jauche« längst aus der Obrigkeit seucht, verwischt der Underground die Dignität der Machtmitte nicht zugunsten der Provinz, sondern der »eigentlichen« großen (freien) Stadt. Folgerichtig marginalisiert sich der Underground selbst und macht ein positionierendes Wechselspiel zwischen Mitte und Rand auf, in dem er das Zentrum beschmutzt, verletzt, besetzt, ohne selbst Zentrum sein zu wollen. Mit Blick auf das oben Gesagte zur paranoiden Schizophrenie: Der Underground sucht weder von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen noch den Wahn der Macht offenzulegen, also »therapeutisch« zu agieren – sondern bedient die Paranoia des Apparats, indem er direkt und ohne »Programm« auf Besudelung, Subversion und Selbstexklusion setzt: jede Einhegung und Regel zum Ziel nimmt. Er proklamiert nichtige Orte zu Zentren, die abseits historisch-legendärer Kerne liegen und fern touristischer Marschrouten. Er entwertet, was im lefebvreschen Sinne kolonialisiert wurde. Soweit seine Artikulationen sich als Herausforderung eines normierenden Zentrums lesen lassen, revoltieren sie doch nie gegen die Stadt – wohl aber gegen diese (so verfasste) Stadt.33 Seine Marginalisierung und Selbstmarginalisierung funktionieren auf mehreren Ebenen: Denkt man den Underground als eine der Boheme vergleichbare Lebens- als Kunstform, lässt sich das Phänomen am sowohl unteren wie äußeren Rand der Gesellschaft verorten, nach sozialen Kategorien wie Verdienst, Erwerbsarbeit, (sozialistischem) Engagement. Diese Marginalisierung kann dann weiter in den Westen rekonstruiert und auf den Osten rückbezogen werden als doppelte Exklusion, die Abwanderung und Exil aufgreift. Spätestens an dem Punkt, über die Reflexion auf ein Hierbleiben oder nicht, scheint immer wieder die Kategorie des »Verrats« auf: die paranoide Schizophrenie. Ein Anliegen dieses Buchs ist, sie nicht klinisch zu begreifen, sondern historisch.
33 | Der russische Underground-Künstler Dmitrij Prigov hat in einem seiner Projekte solche imaginären Verschiebungen im urbanen Raum exemplarisch vorgeführt, indem er sich als Milizionär und Bürger von Beljaevo, einer Schlafstadt Moskaus, inszeniert – und Beljaevo in einer Videoaufnahme von seinem Plattenbaubalkon herab zur eigentlichen Hauptstadt erklärt. – Dazu H irt, Günter/Wonders , Sascha: Moskau Moskau. Videostücke. Wuppertal 1987. – P rigov, Dmitrij: Der Milizionär und die anderen. Hg. u. übers. v. Günter H irt u. Sascha Wonders . Leipzig 1992.
4. Vertikalität als Metapher
Die Romantik und der historische Ort des Underground 1
The hither and thither of the stairwell, the temporal movement and passage that it allows, prevents identities at either end of it from settling into primordial polarities. 2 H omi B habha
Homi Bhabhas Lokalisierung der Drittraumkultur im Treppenhaus bietet ein schönes Bild für einen Schwellenort des Austauschs, der Hybridität und Flüchtigkeit. Die gewählte Bildlichkeit weist jedoch noch eine zusätzliche Besonderheit auf: Die Verbindung zwischen den Polen ist eine vertikale und spielt so mit der Vorstellung (unsicher) hierarchisierter Werte und Kulturen. Bhabhas The Location of Culture zeigt und analysiert eine Vielzahl solcher (literarischer) Orte als Topoi. Indes liegt in der dem Underground eingeschriebenen vertikalen Metaphorik noch eine andere, weit grundsätzlichere Annahme geborgen als in Bhabhas anti-essenzialistischer Dynamisierung der räumlichen Dichotomien. Sie zu entschlüsseln, erlaubt es, den Underground historisch einzuordnen und darüber seinen geschichtsphilosophischen Kern freizulegen. Das soll hier auf dem Weg der Mikroanalyse einer Erzählung – tatsächlich einer dramatisch eingekleideten ästhetischen Reflexion – aus der deutschen Romantik vorgenommen werden. Dieser Intention liegt die Annahme zugrunde, dass Underground-Kunst auf ein Fundamentalproblem der Moderne reagiert, wie es bereits zu deren Beginn sichtbar wurde. Underground verarbeitet es literarisch – und darin liegt ein Schlüssel zu den in diesem Buch erörterten ästhetischen Verfahrensweisen.
1 | Der Beitrag geht auf eine Zusammenarbeit mit dem Osteuropa-Historiker Mathias Mesenhöller zurück und wurde gemeinsam mit ihm publiziert. Bibliografische Angaben im Anhang. 2 | B habha , Homi: Introduction. Locations of Culture. In: D ers .: The Location of Culture. London-New York 1994, S. 1-18, hier 4.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
D ie E rz ählung und ihr G rundkonflik t Im Dezember 1813 erschien in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Dichter und der Komponist.3 Zu der Zeit sah Hoffmann sich noch stärker als Komponist denn als Schriftsteller. Die Erzählung geht in ihrer Entstehung denn auch auf ältere Überlegungen zur romantischen Oper und insbesondere zum Verhältnis zwischen Librettist und Komponist zurück. Diese kunsttheoretischen Erörterungen fasste Hoffmann nun als Dialog und gab diesem eine dramatische Rahmenhandlung, die eine doppelte Lesart und dem Text einen ins Grundsätzliche gehenden kunsthistorischen, ja zeitphilosophischen Kommentar ermöglicht. 4 Der Inhalt der Erzählung ist rasch skizziert: Der Hauptteil schildert, wie sich zwei Freunde nach langer Trennung in einer umkämpften Stadt wieder begegnen. Ferdinand, der Dichter, hat beim Militär reüssiert, während Ludwig, ein Komponist, ärmlich und zurückgezogen lebt. Sie wechseln für ihr Gespräch in das »kleine Seitengemach« eines Caféhauses. Dort legt Ferdinand die Armierung ab und der erwähnte kunsttheoretische Dialog entspinnt sich. Ludwig argumentiert einen Primat der Musik über das Wort, und Ferdinand gibt ihm in der Sache wiederholt recht – da schallt von draußen der »Generalmarsch« herein und Ludwig wechselt die Ebene: Was soll aus der Kunst werden in dieser rauhen stürmischen Zeit? Wird sie nicht, wie eine zarte Pflanze, die vergebens ihr welkes Haupt nach den finstern Wolken wendet, hinter denen die Sonne verschwand, dahinsterben?5
Ferdinand aber greift Uniform und Waffen, schilt Ludwigs Unfähigkeit, im Krieg »den ehernen Riesen« zu erkennen, der »unter die Verwahrlosten« trete und eine »Morgenröte« des Glaubens, der Hingabe und darüber der Kunst verheiße. Dann bricht er auf in die Schlacht. Diesem Hauptteil vorangestellt ist eine furiose Eröffnung: »Der Feind war vor den Toren«, hebt der Text an, »das Geschütz donnerte rings umher, und feuersprühende Granaten durchschnitten zischend die Luft«.6 Angstbleiche Bürger rennen um ihr Leben – während Ludwig in seiner Dachstube eine Partitur vollendet. Erst als eine Granate einen Teil des Dachs fortreißt, folgt Ludwig den üb3 | H offmann, E.T.A.: Der Dichter und der Komponist. In: D ers .: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 1. Frankfurt am Main 2003, S. 752–775. 4 | Einige der Beobachtungen, auf die das Weitere sich stützt, folgen einer von Rüdiger Safranski vorgeschlagenen Lesart und biografischen Einordnung der hoffmannschen Erzählung in S afranski, Rüdiger: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten. München-Wien 42007, S. 279-291. 5 | H offmann: Der Dichter und der Komponist, S. 773. Kursivsetzung nicht im Original. 6 | Ebd., S. 752.
4. Ver tikalität als Metapher
rigen Bewohnern in den Keller des Hauses: »Hier war die ganze Hausgenossenschaft versammelt. In einem Anfall von Liberalität, die ihm sonst gar nicht eigen, hatte der im untern Stock wohnende Weinwirt in Paar Dutzend Flaschen seines besten Weins preisgegeben.«7 Die Frauen bringen »manches köstliche Stück« aus ihren Speisekammern, »man aß – man trank – man ging aus dem durch Angst und Not exaltierten Zustand bald über in das gemütliche Behagen, wo Nachbar zu Nachbar sich [schmieget].« Leute, »die, sich auf der Treppe begegnend, kaum den Hut gerückt, saßen Hand in Hand beieinander, ihr Innerstes in wechselseitiger Teilnahme aufschließend«.8 Schließlich endet das Bombardement, und am nächsten Morgen rücken die Angreifer in die Stadt – mit ihnen Ferdinand, dem Ludwig nun begegnet. Die Figur des Ludwig steht zentralen Positionen und nicht zuletzt der Lebenssituation des empirischen Autors Hoffmann zumindest nahe. In Ferdinand ist der Jugendfreund Gotthard Friedrich von Hippel zu erkennen, gleichfalls ideologisch wie biografisch. Auch das überraschende Wiedersehen in Dresden hat stattgefunden, allerdings ein halbes Jahr vor der Schlacht um die Stadt, während der Hoffmann in der Tat ein dem geschilderten ähnliches Erlebnis mit der Hausgemeinschaft hatte. Der Ausgang des militärischen Konflikts hingegen weicht von dem historischen ab, wie sich Hoffmanns auktorialer Erzähler überhaupt der konkreten politisch-militärischen Konstellation gegenüber frappierend indifferent zeigt, in deutlicher Absetzung von Ferdinands glühend patriotischer Figurenrede.9 Was der Text derweil höchst kritisch reflektiert, ist ein struktureller Wandel, der hinter dem Tageskonflikt und seinem Ausgang steht. Die Erzählung kreist im Kern um das Verhältnis von Kunst und Politik. Oder genauer: um Möglichkeiten der Ästhetik, sich zum Politischen zu verhalten. Vordergründig geht es zwar um das spezifischere Verhältnis zwischen (Opern-)»Dichter und Komponist«, und Hoffmanns Ludwig preist dabei die Musik als eine holistische, den genialischen Zugriff privilegierende Kunst.10 Zugleich macht er dem Dichter-Freund ein Versöhnungsangebot, seien am Ende doch »Dichter und Musiker die innigstverwandten Glieder einer Kirche«.11 Doch das Angebot verfängt nicht, und indem der Text dieses Scheitern mit dem Krieg zusammenführt, schafft er mehr als einen spannungssteigernden Hintergrund. Vielmehr erweisen sich die direkte Intervention des Kriegs in die kunsttheoretischen Erörterungen wie zuvor seine Ursächlichkeit für Ludwigs Kellererlebnis, vor allem aber dieses Erlebnis selbst, als Ausdruck eines grundsätzlichen Konflikts: Was wird aus den ästhetischen Hoffnungen und Optionen angesichts einer ausgreifenden Expansion des Politischen? Denn nichts anderes ist der Krieg 7 | Ebd., S. 752-753. 8 | Ebd., S. 753. 9 | S afranski: E.T.A. Hoffmann, S. 284-285. 10 | H offmann: Der Dichter und der Komponist, S. 757. 11 | Ebd., S. 759.
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hier: radikale Politik, das Politische in seiner reinen Wucht und Eingriffsmacht. Daher auch die Indifferenz gegenüber konkreten Feindbildern: Aus der Perspektive des Texts ist der Krieg, ist die Politik selbst das Problem. Schicksal und Schicksalsdrama, was das solle, hatte wenige Jahre zuvor Napoleon Bonaparte Johann Wolfgang von Goethe gefragt: »Die Politik ist das Schicksal.«12 Diese Verabsolutierung des Politischen gehört unter die Signaturen der Moderne. Sie folgt deren Entdeckung der Geschichte im engeren Sinne, der Grundannahme einer Entwicklung auf eine geöffnete, gestaltbare, jedenfalls fundamental »andere« Zukunft jenseits vergangener und bestehender Verhältnisse und Vorbilder. In der Moderne wird Politik zum Kampf um diese Zukunft, oder zumindest wird sie so aufgefasst, mythisiert. Darin besteht ihre spezifische Dignität – und zugleich ihr totales, totalitäres Potenzial: Das Politische ist expansiv geworden, es okkupiert Leidenschaften, Hoffnungen, Wünsche, die vormals in der politischen Öffentlichkeit noch nichts zu suchen hatten. Hoffmann bekommt es zu tun mit einer Politik, die sich anschickt, »totalitär« zu werden.13
Gegenüber diesem Anspruch und Potenzial hat sich die Kunst bei Hoffmann zu verhalten. Nicht anders als etwa Friedrich Schiller verabsolutiert er nun umgekehrt diese: zum umfassenden Ausdruck von und Platzhalter für »Menschsein«, für das Leben – wobei ihm dies zuallererst für die Musik galt, die für ihn die Kunst war. Darin aber besteht der Aussagegehalt der Kellerszene von Hoffmann: Hier gelingt, was im Gespräch mit Ferdinand scheitert, das Glück eines ästhetischen »Einklangs der Seelen« im Ausdruck ihres »Innersten« – desselben »Innersten«, das Ludwig zuvor in seine Partitur gelegt hat. Und das sich für die Dauer des Gesprächs mit Ferdinand aufschließt, bis dieser wieder in seine Uniform steigt. Ferdinands Kriegslyrik indes bleibt Ludwig verschlossen. Kunst des Lebens oder politische Kunst, so ließe sich der Gegensatz zusammenfassen. In einem weiteren Horizont gehört Der Dichter und der Komponist somit einem Diskurs an, der als konstitutiv für die Moderne gelten kann. Um es mit Jürgen Habermas zuzuspitzen: Der Diskurs der Moderne hatte seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts unter immer wieder neuen Titeln ein einziges Thema: das Erlahmen der sozialen Bindekräfte, Privatisierung und Entzweiung, kurz: jene Deformationen einer einseitig rationalisierten Alltagspraxis, die das Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende Kraft der Religion hervorrufen.14
12 | G oethe , Johann Wolfgang von: Unterredung mit Napoleon. In: D ers .: Hamburger Ausgabe. Bd. 10: Autobiographische Schriften II. München 122003, S. 546. 13 | S afranski: E.T.A. Hoffmann, S. 273-274. 14 | H abermas , Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne: Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main 1985, S. 166.
4. Ver tikalität als Metapher
Oder, anders und mit stärkerem Bezug auf die angesprochene Entdeckung der Geschichte und die Erhöhung des Politischen gewendet: die Heilung der Kluft, hervorgerufen durch die Entkoppelung von »Erfahrungsraum und Erwartungshorizont«,15 wie sie Reinhart Koselleck konstatiert hat. Entfremdete Subjektivität, epistemologische Spaltung und objektiviertes Leben konstituieren das Leiden der Moderne an sich selbst, die condition moderne und ihren Dichotomienhaushalt vom deutschen Idealismus über Karl Marx bis zu Michel Foucault und Jürgen Habermas.16 Als Konflikt zwischen Kunst als Leben auf der einen Seite, Politik und Entfremdung auf der anderen, bilden sie auch das Thema in Der Dichter und der Komponist.
D ie horizontale und die vertik ale O p tion Hoffmann spielt drei Optionen der Kunst – des Lebens – im Angesicht der modernen Spaltung durch. Zum einen Ferdinands politische Ästhetik: die Kunst im Sinne des Kriegs und der Krieg als Stimulanz der Kunst. Die Erzählung verwirft diese Option. Anhand der Person Ludwigs werden zwei Ausweichbewegungen dagegengesetzt, eine horizontale und eine vertikale. Das Wiedersehen, die Hoffnung auf freundschaftlich-intellektuelle Vereinigung führt Dichter und Komponist in eines der bei Hoffmann notorischen Seitengemächer. Dort kommt das Gespräch zustande, nachdem Ferdinand die Insignien seiner politischen Rolle abgelegt hat. Es wird offen und intensiv geführt – und scheitert am Ende dennoch. Mitten hinein fährt der Militärmarsch, Ferdinand greift nach seiner Rüstung und spricht abschließend vom Wesen des Kriegs im Duktus eines Ernst Moritz Arndt, was nach dem gefühlvollen Austausch blechern und hohl klingen muss. Die innere Vereinigung der musischen Freunde bleibt aus, und das trotz des Ausweichens aus dem öffentlichen Raum. Vielmehr erweist sich dieser als horizontal unentrinnbar, ist das Private, der bürgerliche Rückzugsraum eine Chimäre, ein Austausch-Ort, der keinen Austausch gewährleistet, weil jederzeit das Äußerlich-Obrigkeitliche hineinfahren und über
15 | K oselleck , Reinhart: »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Kategorien. In: D ers .: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1989, S. 359-375. 16 | Dazu aus systemtheoretischer Perspektive in Anlehnung an Talcott Parsons auch Niklas Luhmann, der das Dilemma des Inklusionsversprechens u.a. mit Blick auf soziale Ungleichheit diskutiert. – L uhmann , Niklas: Inklusion und Exklusion. In: D ers .: Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, S. 237-264. – Vgl. auch S tichweh, Rudolf: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005. – Farzin , Sina: Inklusion/Exklusion. Entwicklungen und Probleme einer systemtheoretischen Unterscheidung. Bielefeld 2006.
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die Rollen der Sprecher bestimmen kann. Die bürgerliche Gesellschaft erweist sich hier nicht als Gegenüber von Politik, sondern in deren Verfügbarkeit. Dem nun ist das Kontrastszenario einer gelungenen Vereinigung vorangestellt. Die vor dem Beschuss des Politischen in den Keller geflohenen Hausbewohner finden es in einer vertikalen Ausweichbewegung, die sie in einen »exaltierten Zustand« von Tanz und Erzählung, Mitteilung und Großzügigkeit führt – eine konkrete Utopie, wenn man so will. Bezeichnenderweise fand das reale Erlebnis Hoffmanns, das der literarischen Szene zugrunde lag, im von Bhabha ausgespielten Treppenflur statt.17 Die Verlegung in den Keller ist Teil seiner metaphorischen Verarbeitung. Das ästhetisierte Leben ist aus einer existenziellen Angst geboren, einem Ausnahmezustand – doch nicht aus Ferdinands Begeisterung für ihn, sondern aus Entsetzen, aus Flucht vor dieser Zumutung. Es ist ganz gleich, wer »oben« siegt: Ästhetisches Leben, Kunst kann ohnehin nur unterhalb des politisierbaren Raums gelingen, nicht neben ihm, nicht in der bürgerlichen Ordnung und ihren Geselligkeitsräumen.18 Die ganze Schärfe dieser Annahme und damit die Verbindung zum Underground des späten 20. Jahrhunderts kommt in den Blick, führt man sich die Aufladung der sozialen Vertikalen im Selbstverständnis der Moderne vor Augen. Die Metaphorik des »Darunter« reagiert auf eine spezifisch moderne Vorannahme, nämlich die von der Freiheit der Horizontalen. Diese Norm muss mitgelesen werden, um das instruktive Moment der Erzählung für eine Verortung von Underground-Konzepten in der Moderne freizulegen. »Oben« und »Unten« waren in den Ständegesellschaften der Frühen Neuzeit scharf akzentuiert. Doch wurde diese soziale Hierarchie als die natürliche Ordnung der Dinge begriffen und wurden folgerichtig Standeszugehörigkeit, Privilegiengenuss, Partizipationsausschlüsse entschieden eindeutiger und statischer imaginiert, als sie tatsächlich verteilt waren. Im Gegensatz dazu verhieß die moderne revolutionäre Phantasie eine rechtlich, bis zu einem gewissen Maße auch materiell egalitäre (»Bürger«-) Gesellschaft, die für Austausch und Ausdruck offen, mithin umfassend inklusiv und eben wesentlich horizontal verfasst war. Indem Underground schon semantisch ein verschlossenes »Oben« voraussetzt, postuliert er durch schiere Existenz das Scheitern dieses Versprechens. Er lässt sich als performative Artikulation des Vorwurfs begreifen, dass ein »Unten« fortbestehe, und zwar nicht nur als ein graduell schlechter Gestelltes, sondern als ein grundsätzlich Exkludiertes. Diese 17 | G ünzel , Klaus: E.T.A. Hoffmann. Leben und Werk in Briefen, Selbstzeugnissen und Zeitdokumenten. West-Berlin 1979, S. 261-262. 18 | Spätestens an dieser Stelle ließe sich auch die an die Moderne gebundene Figur des Pöbels einbringen, die von Frank Ruda als das »Exkrementale, Ausgeschiedene, das Entbundene der bürgerlichen Gesellschaft« bezeichnet wird. – R uda , Frank: Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der »Grundlinien der Philosophie des Rechts«. Konstanz 2011, S. 65. – Diesen Hinweis verdanke ich Roman Widder .
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vehemente Doppelgeste des Ausgeschlossen-Seins und Selbst-Ausschlusses, die im ästhetischen Kern von Underground-Konzepten steht, ist in einer Ständegesellschaft unverständlich, wo solche Exklusionen für »natürlich« gelten. In einer modernen Gesellschaft hingegen bezeichnet die vertikale Sonderung einen Skandal. Um genau zu sein, markiert sie das Skandalon in deren Konstitution: Zerspaltung und Entfremdung sind der Moderne nicht kontingent, sondern bilden ihre unhintergehbare Aporie. So auch in Hoffmanns Der Dichter und der Komponist. Die lebensästhetische Rettung in die konkrete Utopie des Bombenkellers mag ein Glücksmoment in existenzieller Not ausmalen, eindeutig ist jedoch die Aussage: Es kann dieses Glück in der Horizontale nicht geben. Die Verheißung einer umfassend inklusiven, und das heißt nicht nur alle, sondern den ganzen Menschen umfassenden und vereinenden Gesellschaft ist chimärisch. Der Grundkonflikt der Moderne ist am Ende nicht lösbar. Der Underground tritt an, immerhin Kunstwerk und Leben ineinander aufzuheben – und die Wunde offenzuhalten. Das unterscheidet ihn von revolutionären Konzepten, aber auch von Drittraum-Modellen, wie sie Bhabha vorstellt. Erstere erhoffen sich immerhin von Umsturz und Rebellion eine verbesserte Gesellschaft; Letztere wiederum versprechen sich von der Auflösung räumlicher Entitäten zumindest eine »Linderung« gesellschaftlicher Konflikte.
D as D ilemma von »U nderground «, »P op « und »G egenkultur « Kommen wir noch einmal zurück auf das zu Beginn der Einführung schon angesprochene Verhältnis von Underground, Pop und Gegenkultur. Die Verbindung der Begriffe führt zunächst auf der semantisch-inhaltlichen Ebene in ein Dilemma: Will der Underground erfolgreich in die Kultur der Oberwelt intervenieren, muss er dauerhaft »nach oben« – und hört eo ipso auf zu sein. Was zugegeben nach einem rhetorischen Trick klingt, könnte gleichwohl einen treffenden Kern haben, der das resignative Fazit der hoffmannschen Erzählung noch einmal ausleuchtet. Thomas Hecken widmet entsprechend in seinem Überblick über die Pop-Kultur einen längeren Abschnitt auch dem Underground.19 Hecken trägt der inneren Heterogenität beider Phänomene Rechnung und belässt sie im Vagen, verzichtet auf eine Definition seines Gegenstands. Einen Umriss immerhin, was Pop nicht sei, bietet Anja Pompe: Pop sei keine Strömung, dafür fehle es ihm an Originalität der ästhetischen Verfahren. Ebenso wenig sei er eine Bewegung, da ihm ein normatives Programm und organisatorischer Zusammenschluss fehlen. Und 19 | H ecken, Thomas: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009. Bielefeld 2009, S. 167-258.
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schließlich sei er keine Mentalität im Sinne einer politisch-ästhetischen Protesthaltung, sondern ein Projekt ohne Notwendigkeit teleologischer Vollendung, insofern »Pop in der Vorläufigkeit seines Resultats ebenso vollkommen wie eigenständig ist«.20 Underground und Pop teilen wesentliche strukturelle Merkmale. Auch der Underground stellt keine Strömung im Sinne eines charakteristischen, einheitlichen Stils dar und lässt sich ebenso wenig als programmatische Bewegung fassen. Das Dritte hingegen, Underground als eine politisch-ästhetische Protesthaltung, eine Mentalität – ähnlich der Boheme, wie sie Helmut Kreuzer interpretiert – lässt sich argumentieren.21 Das führt zurück zu Heckens Underground-Kapitel, das mit einer Betrachtung der Neoavantgarde beginnt: Als deren Vertreter par excellence und zugleich des Underground werden die Situationisten vorgestellt. Dem Pop begegneten diese allerdings trotz aller Übereinstimmung der ästhetischen Mittel und Gesten selbst mit Ablehnung, warfen ihm Konsumzwang, Kulturfetischismus und Anpassung vor. Derweil schlägt Hecken auch etwa Andy Warhol mit seinen Filmen der 1960er dem Underground zu. Als indes die Zuschauer in die Filme Warhols zu strömen begannen, titelte die New York Times: »The Underground Overflows.« Hecken verhandelt Pop und Underground in changierenden Zusammenhängen, indem er mal Termini wie Gegenkultur und counter culture nutzt, dann wieder mit Theorien der Subkultur eines Stuart Hall, Talcott Parsons und John Milton Yinger argumentiert, schließlich Phänomene wie folk rock und rock music, Hippies und die Neue Linke zusammenbindet. Das ist nicht einfach terminologische Lässlichkeit, sondern reflektiert außer politischen, performativen und ästhetischen Nähen das angesprochene Dilemma: Eine erfolgreiche Intervention des Abseitigen und Untergründigen setzt den Weg nach oben, in die Mitte voraus, auf dem es sich zu verlieren droht. Zumal in Amerika kehrt sich die Gefährdung noch um und ein überaus aneignungsstarker Mainstream zwang die Subkulturen früh in eine fortgesetzte Fluchtbewegung. Mitte der 1970er Jahre schrieb Richard Goldstein: No sooner is a low-rent, low harassment quarter discovered, than it appears in eight-color spreads on America’s breakfast table. The need for the farther-out permeates our artistic involvement. American culture is a store window which must be periodically spruced and re-dressed. […] The new bohemians needn’t worry about opposition these days; just exploitation. 22
20 | P ompe , Anja: Pop als Avantgarde. In: D ies .: Peter Handke. Pop als poetisches Prinzip. Köln-Weimar-Wien 2009, S. 13-72, hier 25. 21 | K reuzer , Helmut: Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart 1968. 22 | G oldstein , Richard zit. nach H ecken: Pop, S. 217.
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Eine mit der Argumentation von Hecken vergleichbare Überlagerung von Underground, Sub-, Alternativ- und Pop-Kultur findet sich bereits 1997 in den Berliner Blättern. Indes geht hier der Autor Roland Lindner insofern begriffsnäher vor, als er die Präfixe ernst nimmt: Subkultur meint für ihn nicht nur eine »Unter-Einheit« der Kultur, sondern auch Untergründiges, greif bar in der Leitkategorie des Primitivismus. Dessen emblematischer folk hero sei der Zigeuner – eine Figur, die sich in Egon Bondys Underground-Werken ebenso findet wie in denen Andrzej Stasiuks, Jurij Andruchovyčs und Jáchym Topols. Als solche operiert sie durchgängig mit den Allusionen Vagabund, Abenteurer, hobo und outlaw, Anti-Bürger – spielt aber auch auf den »Heiligen Barbaren« an. Die Identifikationsfiguren gleichen in ihrer exzentrischen Marginalität Vertretern der Boheme,23 wiewohl Lindner eine spezifische Affinität zum Subterranen beobachtet, das mit dem Subversiven zusammengebracht den Begriff des Underground füllen könne. Nichtsdestoweniger entscheidet er sich für den Klammerterminus der Subkultur, ähnlich wie eine Fortschreibung von Walter Hollsteins Buch Der Untergrund aus dem Jahr 1976, das drei Jahre später als Die Gegengesellschaft erschien – zu stark mögen die politisch-kriminellen Konnotationen des Untergründigen in jenen Jahren gewirkt haben.24 »Was Pop ist, hängt davon ab, was wir auf der anderen Seite platzieren: Underground, Mainstream, Rock oder gute Musik«,25 so lautet das Fazit von Markus Heidingsfelder in seinem Einstieg ins System Pop. Für ihn tritt die »Liste der Beschreibung, die kein Oben und kein Unten kennt« »an die Stelle der Einheit«, das heißt alles kann mit allem in einem Bedeutungszusammenhang stehen, der hierarchielos funktioniert; ein Register mit unbegrenzter Aufnahmefähigkeit.26 Weshalb es auch den »Gegenkultur-Pop« gibt.27 Dennoch ist es gewissermaßen ein Selbstständiges, ein Verweissystem, eine »Beobachtung von Beobachtern«, ein »Schaltkreis«: »Pop erzeugt sich selbst, indem Operationen nach bestimmten Regeln rekursiv an Operationen anschließen und so das produzieren, was wir dann Pop nennen.«28
23 | L indner , Rolf: Subkultur. Stichworte zur Wirkungsgeschichte eines Konzepts. In: Berliner Blätter 15 (1997), S. 5-12. 24 | H ollstein, Walter: Der Untergrund. Zur Soziologie jugendlicher Protestformen. Neuwied-Berlin 1969. – D ers .: Die Gegengesellschaft. Alternative Lebensformen. Bonn 1979. 25 | H eidingsfelder, Markus: System Pop. Berlin 2012, S. 14. – Heidingsfelder betrachtet Pop als Autopoiesis, als das »Ist« einer Beobachtung (S. 12), als einen »Sachverhalt eines Sach-Verhaltens« (S. 15). Gewiss, ein Autor über Pop muss nicht »poppen« (S. 9). Indes schließt Theoriefähigkeit Empathie für das Material nicht per se aus. Dazu D iederichsen, Diedrich: Über Pop. Köln 2014. 26 | Ebd., S. 24 u. 27. 27 | Ebd., S. 50. 28 | Ebd., S. 59-60.
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Neben Komplexen wie Medium, Kode, Ausdifferenzierung, Reflexion und Symbiosis sind es nicht zuletzt die heidingsfelderschen »Kopplungsfavoriten«, die einen Blick auf Pop und Underground erlauben. Pop sucht allererst Allianzen für die »Selbstspezifikation«, darunter in erster Linie zu Bewegungen, die für Jugend, Renitenz, Protest, Rebellion und Risiko stehen.29 So uneindeutig das terminologische Feld, so kleinteilig zerfasert präsentiert sich die in einem weiten Sinne »gegenkulturelle« Szenerie, auf die auch die PopKultur zurückgreift. Eine Vielzahl, de facto wohl die Mehrheit der Protagonisten sah sich jedoch systematisch mit dem hier als Strukturproblem des Underground angerissenen Dilemma zwischen Folgenlosigkeit und entkernender Aneignung konfrontiert. In Global Players beschreibt Sascha Lehnartz 2005 aus der Warte eines beobachtenden Teilnehmers am popkulturellen Betrieb diese mehrfache Dialektik von subversiven Jugend- und Oppositionskulturen und ihrer meist erfolgreichen Absorption in den Mainstream. Dabei thematisiert er auch die Klage über eben solche Vereinnahmungs- und Verwertungsleistungen aus den jeweiligen »Gegenkulturen« beziehungsweise ihren (oft generationellen) Nachfolgern.30 »Gegenkultureller« Fundamentalprotest erweist sich so als das ergiebigste Zeichenreservoir eines je zeitgenössischen Mainstream. Ob sich darüber die Gesellschaft verändert und das Politische folgen muss, oder ob es umgekehrt Veränderungen in Gesellschaft und Politik sind, die darüber entscheiden, wann eine ästhetische Innovation verallgemeinert wird beziehungsweise verpufft, sei dahingestellt. Hier von Belang ist, dass Underground-Konzepte, indem sie die Aporie der Moderne skandalisieren, sich als anklagende Kinder der Moderne deren Konstitutionslogik nicht entziehen können. Im Namen der uneingelösten Vollinklusion müssen sie immerfort neue Ästhetiken des »Unten« erdenken. Dies gilt umso mehr angesichts einer frappanten Fähigkeit moderner (wie postmoderner) Gesellschaften, Subversion und Konfrontation zu absorbieren, ja zu verschlingen, darüber ihr Entfremdungspotential in der Konsequenz noch zu steigern. Die Aporie der Moderne ist nicht nur grundsätzlich, sie ist zudem autoregenerativ. Vor diesem Hintergrund liest sich E.T.A. Hoffmanns Der Dichter und der Komponist als explorative Skizze der Underground-Kunst. Wenn Walter Benjamin hundert Jahre später einschlägig postuliert, Kommunismus sei die Politisierung des Ästhetischen, Faschismus die Ästhetisierung des Politischen,31 so weist der hoffmannsche Dialog beide Strategien als kaum unterscheidbar aus. Vielmehr stellt sich für ihn das Ästhetische, wo es sich mit dem Politischen einlässt, dessen kunstvernichtender Totalisierungstendenz gegenüber allemal wehrlos dar. Das 29 | Ebd., S. 465-503. 30 | L ehnartz , Sascha: Global Players. Warum wir nicht mehr erwachsen werden. Frankfurt am Main 2005, S. 127-160. 31 | B enjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 2003, S. 42-44.
4. Ver tikalität als Metapher
zeigt er plastisch an Ferdinand, dessen Kunst im Dienste des Volkskriegs seinerzeit durchaus eine neue, sozusagen gegenkulturelle Position markierte. Doch selbst das ästhetizistisch-antipolitische Versöhnungsbemühen Ludwigs unterliegt den letzten, erniedrigenden Worten Ferdinands: Der Text selbst beginnt und endet denn auch mit dem erzpolitischen Wort »Feind«. Bleibt die »konkrete Utopie« des Kellers – die indessen ganz wörtlich zu begreifen ist als ein »NichtOrt«. Hoffmann versucht denn auch gar nicht, sie in die Oberwelt expandieren zu lassen.
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Teil II Figuren — Werke — Gruppen
1. Last exit exitus
Egon Bondys Anti-Flaneure unter den Rädern von Madame Prag
1974 wird der Prager Beatnik Milan Koch von einer Straßenbahn überfahren.1 Die gute Nachricht ist, dass er so einem paradigmatischen Stück Underground-Kunst ins Leben hilft, das in knapper Form dessen innerste Poetik reflektiert. Egon Bondy, spiritus rector des Prager Underground und enger Freund Kochs, widmete dem Toten ein Gedicht, das er unter ein Foto von der Beerdigung platzierte und als nachgelieferte Traueranzeige kursieren ließ: in der Kalligrafischen Chronik (Kali1 | Milan Koch und Egon Bondy waren nicht nur Nachbarn in der Prager Neruda-Straße, sondern auch eng befreundet. Beide ließen den jeweils anderen in ihren Werken auftauchen. Kochs Tod – und der Selbstmord seiner Frau Mirka Benešová wenig später – beschäftige Bondy auch künstlerisch lange Zeit.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
grafická kronika) der Band The Plastic People of the Universe. Einer der Sargträger auf dem Foto ist der Dichter selbst. Das Quasi-Epitaph lautet: Der Engel nahm uns den Koch ließ ihn zu diesem Zweck erst von der Straßenbahn zu Brei zermalmen. Auf fünfzig Metern Schienenweg mussten sie ihn einsammeln. So haben wir jetzt einen nicht kleinen Fürs precher auf den paradiesischen Inseln. Weil er uns liebte. 2
Nun weiß der Leser spätestens seit Michail Bulgakov um die Todesmaschine Straßenbahn: Nur allzu leicht kommt der Stadtbewohner unter die Räder. Wie überhaupt die Literatur der Moderne von ihren Anfängen an die Topoi Stadt und Tod fast schon hysterisch verschränkt hat. Bondys Nachruf auf Koch jedoch enthält etwas Neues, ein den Toten- und Todeskult transzendierendes sardonisches Spiel mit der Sterblichkeit. Eine betont pietätlos daherkommende Überlegenheitsgeste des totalen Außenseiters. Zugleich steht Bondys Sechszeiler für eine Dichtung, die das eigene (Er-)Leben performativ im Schaffen spiegelt: Kunst als Leben als Kunst. Für das Konzept einer Totalen Kunst, einschließlich des Paranoiden und Absurden – und der Gewaltaffinität, die das Totale immer in sich und nach außen trägt. Sie spiegelt sich nicht zuletzt in der Ästhetik des Underground-Todes: Figuren werden nicht einfach sauber enthauptet wie noch Bulgakovs Berlioz. Sondern sie werden zerquetscht, zerfetzt, breitgewalzt. Ihre Gestalt wird dekomponiert, alles Intakte gebrochen – die lyrische Form sowieso. Damit ruft das bondysche Verkehrsopfer Georges Batailles Konzept des informe auf, das die Zerstörung der »schönen« Poesien feiert, stets das Ende jeder vermeintlichen Dauerhaftigkeit und Stabilität als Wurzel eines tiefsitzenden, gleichsam transzendenten Ekels mitdenkt und reflektiert.3 Jegliches Ding, jeder Leib besitzt eine Form ohne Aussicht auf Bestand, kann im kommenden Moment und wird allemal zu einem späteren Zeitpunkt zerstört (zertreten, zerquetscht, zermalmt) werden. Informe begreift und inszeniert diese stets vorauszudenkende 2 | Abbildung aus Machovec, Martin: Od avantgardy přes podzemí do undergroundu [Von der Avantgarde über den Untergrund zum Underground]. In: Alternativní kultura. Příběh české společnosti 1945-1989. Hg. v. Josef A lan. Praha 2001, S. 155-199, hier 180: »Anděl nám Kocha vzal / nechav ho za tím účelem / nejdřív tramvají rozšmelcovat na maděru. / Sbírali ho po padesáti metrech jízdní dráhy. / Tak máme teď ne malého přímluvce na rajských ostrůvcích. / Protože nás miloval.« 3 | Siehe u.a. Bataille, Georges: Die Schönheit. In: Ders.: Der heilige Eros. Neuwied am Rhein 1963, S. 180-189. – Ich folge hier den Ausführungen von Menninghaus, Winfried: Heiliger Ekel (Bataille) und die klebrige Marmelade der Existenz (Sartre). In: Ders.: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main 1999, S. 485-515, hier 485-503.
1. Last exit exitus: Egon Bondy
Degradation alles Körperlichen als Metapher für die Abwesenheit eines stabilen Sinns überhaupt. So ergibt sich aus der lyrischen Deformation Kochs eine undergroundtypische Ästhetik aus Selbstmystifizierung und Ironie, Rotzigkeit und Pathos. Was faktisch ein tägliches Unglück ist, wird im Zusammenspiel von Text und Foto in Bondys Traueranzeige zur überhöhenden Insbildsetzung des Underground selbst – eingeleitet mit dem Wortspiel »Der Engel«, tschechisch anděl, und zugleich der Name des Verkehrsknotenpunkts, an dem Milan Koch starb. Ähnlich verweisen auch die ostrůvky semantisch nicht nur auf das Paradies, sondern auch auf die Fußgängerinsel: amalgamieren das Erhabenste und Banalste. Nach demselben Prinzip funktioniert Bondys lyrische Verblendung von Kochs ausgewalztem Leichnam mit der »Größe« des Fürsprechers: eine ins Drastische gewendete, zu gleichen Teilen splatterhaft-satirische, liebevolle und mit naiver Volksfrömmigkeit kokettierende Matyriologie. Gleiches gilt für das mit der teleologischen Theodizee spielende »zu diesem Zweck«. In der Summe handelt es sich um ästhetische Strategien eines fortwährenden Leben-Kunst-Tod-Grenzdurchbruchs, die Autoren, Figuren, Autor-Figuren gleichermaßen gefährden – einer »transgressiven Poetik« entsprechen, die sich fundamental vom »Tabubruch« unterscheidet. Dieser ist ein diskretionärer, prinzipiell einzelner Akt (auch innerhalb einer Serie), der ein politisches, ästhetisches beziehungsweise anders gelagertes Ziel verfolgt, es erreichen, damit seinen Zweck erfüllen und verlieren kann. Dagegen setzt Michel Foucault die Überschreitung und bestimmt sie wie folgt: »[D]ie Überschreitung durchkreuzt immer wieder eine Linie, die sich alsbald in einer gedächtnislosen Woge wieder schließt, um von neuem an den Horizont des Unüberschreitbaren zurückzuweichen.« 4 Underground-Kunst, ließe sich verknappen, differiert in diesem Sinne von politisch-revolutionärer Haltung wie Handlung. Formal wie mit dem Topos bildete Bondys Gedicht bald einen Referenzpunkt des Prager Underground, der dessen systematischer Affinität zum Mythos entgegenkam. So wird Jáchym Topol 1995 in seinem Roman Engel Exit (Anděl) den gleichnamigen Verkehrsknoten als Zentralort des Underground chiffrieren.5 Und verarbeitete die Band Extempore bereits 1979 Kochs literarisierten Tod auf den Gleisen in einer Mischung aus Performance-Kunst, Punk-Musik und dadaistischer Lautpoesie.6 Unter der Straßenbahn (Pod tramvají) lässt den Sterbenden in launigen Doppelreimen schildern, dass er seine abgefahrenen Beine und Arme nicht mehr sehen kann und wie ihm dieser Nichtblick einen Brechreiz bereitet: 4 | F oucault, Michel: Vorrede zur Überschreitung. In: D ers .: Von der Subvers ion des Wissens. Frankfurt am Main 1987, S. 28-45, hier 31. 5 | Vgl. dazu das Kapitel über Jáchym Topol im Buch. 6 | Mikoláš Chadima war zu der Zeit schon Leader der Band. Extempore performte ihr Album auf einer von den Zivilisatorischen Impulsivisten (Civilizační impulsivisté) mit Puppen ausgestatteten Bühne; die Musiker spielten mit weiß gefärbten Gesichtern.
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Der Underground, die Wende und die Stadt Unter der Bahn lieg ich ganz allein. So’n Riesengewicht muss auf dem Bauch sein. Arme, Beine, weiß nicht, wo sie sind. Räder fuhr’n sie ab, als ich unter die Bahn fiel. Mit ist kotzübel, wie ich das seh. Hab weder Arm noch Bein krieg nichts aufs Tapet […].7
Der Song setzt mit Schunkelmusik im Dreivierteltakt ein, um später vokalisenähnliche Schmerzensschreie in den Sprechgesang zu mischen. Es folgt eine instrumentale Überschichtung, ein minutenlanger, ins Unerträgliche gesteigerter akustischer »Angriff«, der für einige Sekunden unterbrochen erneut beginnt. Unter der Straßenbahn zerreißt die instrumentale Wucht durch die wiederkehrenden Momente der Stille und umgekehrt, weitet den betrügerisch gemütlich angespielten Song ins Existenzielle. Wenn Künstler wie Bondy oder Extempore den Tod als Zerstückelung verhandeln, den Schrecken ästhetisch reflektieren, mythisch überhöhen, so brechen sie ihn durch Ironie und Kalauer, Dada und Groteske nicht etwa. Sondern sie steigern den Skandal durch ihr Gelächter noch einmal. Auch darin geht Underground nicht einfach weiter als »revolutionäre« oder »engagierte« Kunst, sondern trifft eine fundamental andere Entscheidung, sich zur erlebten Welt zu verhalten – wählt eben nicht den Modus der Rebellion, sondern der Transgression. Seine Sprache, Bilder und Musik entziehen ihr grundsätzliches Pathos dem Kitsch-Vorwurf durch den offensiven Einbau von Kitsch. Sie sprechen Hohn, um einer jeder Hoffnung hohnsprechenden Realität beizukommen. Sie weisen nicht auf konkret eklige »Verhältnisse« hin, sondern zelebrieren den Ekel des modernen Seins per se. 7 | Lyrics nach E x tempore : Velkoměsto/The City. CD-Booklet. © 2001 Black Point Music: »Pod tramvají / ležím tak sám. / Na břichu tíhu / velikou mám. // Nohy, ruce / nevím, kde mám. / Ujela je kola, když / spad jsem pod tramvaj. // Chce se mi zvracet / když to vidím / nemám ale nohy ani ruce / nic pořídím. // Nohy, ruce / nevím, kde mám. / Ujela je kola, když / spad jsem pod tramvaj.« – Strukturanalog klingen Songs der West-Berliner Gruppierung Geniale Dilletanten [sic!] wie: »Bin in einem Traum / In einer Fanta-Flasche / Mir ist so langweilig / In der Fanta-Flasche / Kann nichts machen / Kann mich nicht bewegen […].« In: Geniale Dilletanten. Hg. v. Wolfgang M üller . Berlin 1982, S. 28.
1. Last exit exitus: Egon Bondy
Der Underground schont seine urbanen Post-Flaneure nicht. Wo er zwischen Existenzdenken und Performance dem Untergang eine grotesk-versöhnliche Perspektive zu geben scheint, ist gerade das Gegenteil der Fall – und werden etwa auf dem Anděl-Platz zermalmter Körper und Stadt synekdochisch eins. Dieses überrollte Ich als Fürsprecher des Urbanen »aus Liebe« wiederum versteht sich als eine gegen alle denkbaren Orthodoxien gewendete Blasphemie. Sein Gelächter ist das der Schächer zur Linken.
E gon B ondy, der U nderground und das Z entrum Der 1930 als Zbyněk Fišer geborene Egon Bondy war die Leitfigur des Prager Underground. Und Prag war für ihn, der mitten im Zentrum, in der Neruda-Straße, wohnte, immer das Thema. 1949 gab Fišer unter dem Pseudonym Egon Bondy mit Honza Krejcarová, der Tochter Milena Jesenskás, im Samizdat die Anthologie Jüdische Namen (Židovská jména) heraus. Bewusst unter einem jüdisch klingenden Namen, aus Protest gegen den zunehmenden Antisemitismus in der Tschechoslowakei. Bondy blieb zeitlebens bei dem gewählten Pseudonym.8 Seinen Rang als Guru des Underground erwarb er indes erst in den 1970er Jahren, nachdem einige seiner Gedichte von den Plastic People legendenbildend vertont wurden.9 Das heißt, auf dem Wege der Adaption und medialen Alteration, der Popularisierung und gewollten Überhöhung.10 Fišer, Sohn eines Legionärs und Oberst, wuchs bürgerlich auf. Nach dem Februarumsturz 1948 wird der Vater degradiert. Der Sohn laviert am Rand der Illegalität, kann aber studieren – Philosophie und Psychologie – und wird Maoist. Er verdient sein Geld als Nachtwächter im Nationalmuseum, arbeitet in der Staatsbibliothek, wird schließlich 1967 promoviert.11 Ab demselben Jahr bezieht er eine 8 | Der Band erschien in der Reihe Edice Půlnoc (Edition Mitternacht). Vgl. das Vorwort im Reprint von D vorsk ý, Stanislav: Kavárna Westend 1947-1951 a sborník Židovská jména [Das Café Westend 1947-1951 und der Sammelband Jüdische Namen]. In: Židovská jména: 1949. Hg. v. Martin M achovec . Praha 1995, S. 5-8. 9 | The Plastic People of the Universe vertonten z.B. auf Egon Bondy’s Happy Heart Club Banned (1974-1975) ausschließlich Texte von Bondy. Über Paul Wilson gelangten die Aufnahmen in den Westen, wo die Platte auch erschien. – Siehe den Erinnerungsband von B ondy, Egon: Prvních deset let [Die ersten zehn Jahre]. Praha 2002. 10 | Zur Legendenbildung H rtánek , Petr: Severin aneb Bondy o legendě a v legendě [Severin oder Bondy über die Legende und in der Legende]. In: D ers .: Kacíři, rouhači, ironikové (v současné české próze). Brno 2007, S. 64-69. – M ainx , Oskar: Poezie jako mýtus, svědectví a hra. Kapitoly z básnické poetiky Egona Bondyho [Poesie als Mythos, Zeugenschaft und Spiel. Kapitel aus der Poetik von Egon Bondys Dichtung]. Ostrava 2007, S. 163-165. 11 | Fišer/Bondy verfasste ein mehrbändiges philosophisches Werk.
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Invalidenrente. Zuvor jedoch ist er temporär in die Psychiatrie eingewiesen worden, schikaniert, bespitzelt, vorgeladen; etliche seiner Manuskripte sind vernichtet worden. Nach der Wende wird Bondy mit einem Umzug nach Bratislava gegen die Teilung der Tschechoslowakei protestieren – und gleichzeitig ruchbar werden, dass er Informationen an die Staatssicherheit weiter gab.12 Er ist 2007 in Bratislava gestorben. Bondys erste Kontakte zu den Prager Surrealisten datieren aus den 1940er Jahren. Bald verwandelt er deren Poetik einem eigenen Konzept an und entwirft während der Studienjahre mit Ivo Vodseďálek den Totalen Realismus (Totální realismus) und das Verfahren der Peinlichen Poesie (Trapná poezie), die dichterisch auf allgemeine Paranoia, sozialistische Totalität und staatliche Willkür reagierten.13 Bondy und Vodseďálek parodierten alles: die Sprache der Propaganda, die Slogans der Demonstrationsbanner, Leitartikel aus Zeitungen, Reden von Politikern. Ihre Poesie re-repräsentierte die schiefen Metaphern, falschen Metren und ungelenken Reime des Sozialistischen Realismus – »die Brutalität und das Animalische der Realität« überhaupt, ohne, so Bondy, moralisieren zu wollen.14 Aus dieser Zeit stammt auch ein Metakommentar zum Underground, ein Fragment aus Tagebucheinträgen, politischen und poetologischen Einlassungen, in dem Bondy totalen Freiheitsdrang und urbanen Raum verknüpft: »Es gibt kein Ding in der Stadt, das nicht gegen die Arbeit schreien würde. Es gibt keine Minute, in der wir nicht bereit wären, unseren freien Sexualtrieb zu realisieren. Es gibt keine umstürzlerischen Werte als die Freiheit menschlichen Lebens.«15 12 | Ende der 1970er Jahre zirkulierte im Samizdat ein Verhörprotokoll von Bondy, in dem dieser für viele unnötig ausführlich vom »II. Musikfestival der zweiten Kultur« (Hudební festival druhé kultury) 1976 in Bojanovice berichtete. Darauf – und auf Bondys Poetik – bezog sich ein heftiger Anwurf von Batrouvid (eigentl. Luboš Drožď), den wiederum Ivan Martin Jirous parierte, indem er für Bondy Partei ergriff – nicht ohne die eigene Enttäuschung über dessen Verhalten zu verhehlen. Jirous entschuldigt jedoch Bondy, indem er ihn zum »Gesamtkunstwerk« erklärt: »Denn Bondy stieß die Leiter weg, die ihm den Weg zurück ermöglicht hätte: durch Fišer in die Welt zurückzukehren. Dadurch wäre es möglich gewesen, Bondys Narrentum, sein Ungenügen, seine Entblößung mit dem Verweis auf die akademische Karriere abzuwehren. Alles, was er schreibt, ist jetzt nur noch Bondy.« – Jirous, Ivan M.: Zasadil jsem vám osiku, pane doktore! [Ich habe für sie eine Espe gepflanzt, Herr Doktor!]. In: Ders.: Magorův zápisník. Hg. v. Michael Špirit. Praha 1997, S. 419-426. 13 | Dazu P ilař, Martin: Underground. Kapitoly o českém literárním undergroundu [Underground. Kapitel über den tschechischen literarischen Underground]. Brno 1999, S. 32-54. – Z and, Gertraude: Totaler Realismus und Peinliche Poesie. Tschechische Untergrund-Literatur 1948-1953. Frankfurt am Main u.a. 1998. 14 | B ondy, Egon: Totální realismus je metoda… [Der Totale Realismus ist eine Methode…]. In: Tvorba v. 31.10.1990, S. 11. 15 | D ers .: 2000, román [2000, Roman]. In: Revolver Revue 45 (2000), S. 163-188. – Auszugsweise übersetzt im Band: Utopien und Konflikte. Dokumente und Manifeste
1. Last exit exitus: Egon Bondy
1974 erschien im Samizdat Die invaliden Geschwister (Invalidní sourozenci) und galt bald als Bibel des Underground.16 Die urbane Dystopie, eine Art grotesker Schlüsselroman, versetzt Protagonisten der zeitgenössischen Prager Szene in eine von Krieg und Umweltkatastrophen verheerte Welt des Jahres 2600, wo sie als »die Invaliden« ein anarchisch verschworenes Leben in der Apokalypse führen. Ebenfalls eine anspielungsreiche Parabel bietet der Der Schamane (Šaman) von 1976, ein illusionsloses Prosastück um einen alternden Schamanen in einer mittelalterähnlichen Welt.17 Hier sollen indes primär die noch stark vom Surrealismus beeinflussten Gedichtsammlungen des Totalen Realismus beziehungsweise der Peinlichen Poesie aus den 1950er Jahren interessieren: Prager Leben (Pražský život), Besoffenes Prag (Ožralá Praha), Die Reste des Epos (Zbytky eposu) und Unsterbliches Mädchen (Nesmrtelná dívka) kombinieren realistische Details mit irrationalen Impulsen und Trugbildern, die »klassische« Prager Topografie mit einem drastisch vulgarisierten sozialistischen Alltag (»scheißen«, »ficken«, »saufen«).18 Im Gedicht Auf die Strassenbahnen Auf das Nationaltheater und die Gitterstäbe der Wenzelsgruft etwa schmiert Bondys Flaneur den einstigen Fürstensitz der Přemysliden, den Vyschehrad, mit dem Wort hovno beziehungsweise »Scheißdreck« voll, schreibt es an die Wände des Burg- und Regierungsviertels Hradschin und auf die Straßenbahnen an der Nationalstraße unweit vom Nationaltheater. Es folgt eine nicht enden wollende Aufzählung dessen, was das lyrische Ich »Scheiße« findet: »Scheißregierung«, »Scheißdemokratisierung«, »Scheißfamilie«, »Scheißliebe«, »Scheiße in den Büchern«, »Scheiße auf dem Hemd«, »Scheiße im Kopf / im Herzen / und in der Hose«, »Scheiße kopflose / und gekrönte / stinkende Scheiße«: [...] mit Scheiße aus Scheiße seid ihr geboren in Scheiße lebt ihr bis ihr euch ausgeschissen habt für Scheiße rackert ihr zur tschechischen Kunst 1938-1989. Hg. v. Jiří Š evčík u. Peter Weibel . Ostfildern 2007, S. 123-125, hier 123. 16 | Vgl. Kapitel 1 und 3 der Einleitung, hier vor allem Der Underground und der Rand. 17 | Vgl. zur Bedeutung des Primordialen für den Underground das Kapitel über die Hundesoldaten. 18 | Die episch-lyrische Dichtung Prager Leben (Pražský život) erschien 1951 in Edice Půlnoc unter dem Titel Die Höhle der Wunder oder Prager Leben (Jeskyně divů aneb Prager Leben). Sie lässt sich wie das zeitgleich entstandene Prag-Epos Bambino di Praga von Bohumil Hrabal in der starken pásmo-Tradition der tschechischen Dichtung verorten. Zur Anverwandlung dieser Gattung K azalarsk a , Zornitza: Wiederholungseffekte. Tschechische und slowakische Lyrik der »Latenzzeit« 1955-1965. Unveröffentl. Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2013.
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Der Underground, die Wende und die Stadt liebt euch in Scheißhaufen von Scheißhaufen zu Scheißhaufen verläuft euer Leben die Scheiße habt ihr verehrt einzig sie ist euer Glaube [...]19
Das in mehr als dreißig Versen wiederholte hovno strukturiert das Gedicht lautmalerisch, gibt ihm den Rhythmus einer Litanei. Zugleich spielt es schon in Vers 7 auf Paul Éluard an und ruft unweigerlich dessen Gedicht Liberté von 1942 auf. Éluards lyrisches Ich verziert hier alles, was ihm in den Weg kommt, mit demselben Wort: Häuser, Schulhefte, die Morgenröte und den Himmel, Lampen, Früchte, Leiber und Lippen. Bis der Leser mit dem letzten Vers erfährt, dass es das Wort liberté ist, »Freiheit«, das vom Ich in die Welt hinausgeschrieben wird. Demgegenüber scheint mit der Hoffnung dem bondyschen Gedicht auch die dramaturgische Subtilität, der poetische Überschwang abhanden gekommen zu sein, von jeglicher Diskretion zu schweigen. Darin wiederum gemahnt die Litanei an den Floskelcharakter der staatssozialistischen Propaganda, spiegelt deren Funktionsstruktur ebenso wie ihr Stumpflaufen: Als sich die konstative Tirade schließlich zum revolutionären Aufruf wendet und das lyrische Ich der »Scheiße« eine gesellschaftsumwälzende Qualität zuschreibt, ist sie längst vom anstößig-erregenden Ausbruch zur Binse abgesunken. Indem Bondy Éluard pervertiert, subvertiert er die Ästhetik der Propaganda. In anderen Gedichten montiert er die vorgestanzten Formeln und sozialistischen Losungen direkt ein, dazu Motive wie Flugblätter, Uniformen, »Blauhemden«, Banner; er verwendet Sprechchöre und Lautsprecheransagen und setzt sie in Spannung zu den Konkreta des banalen Alltags, also zu Lebensmittelgeschäften, Wohnblocks und Parkanlagen, zu Spaziergängern und Liebespaaren, aber auch zu historischen Mythen wie dem Golem, insbesondere indes zu Kneipen und Trinkern, versponnenen Bohemiens und schönen Frauen. Dieses letzte Element, das Auftreten der Underground-Protagonisten selbst, konstituiert die eigentliche Spannung als eine doppelte. Zum einen sind die Figuren und namentlich die lyrischen Subjekte sozial randständig, stechen von den heroisierten Proletariern der Propaganda im offiziellen und Mehrheitsnormengefüge ebenso stark nach unten ab wie von den realen Alltagsmenschen. Zum 19 | B ondy, Egon: Po tramvajích po národním divadle i po mřížích hrobu Václavova [Auf die Strassenbahnen auf das Nationaltheater und die Gitterstäbe der Wenzelsgruft]. In: D ers .: Básnické dílo Egona Bondyho. Bd. 1: Epické básně z padesátých let. Praha 1991, S. 60-62: »hovno vláda«, »hovno demokracie«, »hovno rodina«, »hovno láska«, »hovno v knihách«, »hovno na košili«, »hovno v hlavě / v srdci / v kalhotách«, »hovno bez hlavy / i korunované / hovno smrdící«, »s hovnem z hovna jste se narodili / v hovnu žijete až jste se uhovnili / pro hovno děláte / v hovnech milujete / od hovna k hovnu se váš život plete / hovno zbožnili jste / už jen ono je vaše víra.«
1. Last exit exitus: Egon Bondy
anderen wird im poetischen Akt aus dem erzählten Erzähler ein sich selbst überhöhender Dichter-Gott. Diesen poetischen Akt nun inszenieren die Gedichte mit Vorliebe als Bewegung, und spezifischer als Gang durch die Stadt. Damit greift Bondy eine tradierte Figur auf und schreibt sie für die eigenen Zwecke um: den Flaneur. Seine beobachtenden Herumtreiber und bramarbasierenden Trinker stammen unverkennbar von avantgardistischen Moldau-Schwärmern wie Jaroslav Seifert und Vítězslav Nezval ab, dessen poetistisch-surrealistische Prag-Dichtung wiederum Guillaume Apollinaires Le Passant de Prague von 1902 weiterschreibt.20 Derweil ist der Flaneur ein wenn auch aus dem Betrieb gefallener, so doch im Kern bürgerlicher Bewohner einer bürgerlichen Welt, ob nun schwächer erkenntlich wie bei Charles Baudelaire oder stärker bei Walter Benjamin. Als solcher bedient er sich der innerbürgerlichen Oppositionsästhetik des Ungewohnt-Schönen, paradigmatisch eben im chodec, dem Prager Spaziergänger (Pražský chodec) Nezvals von 1938: 21 ein Amalgam von Pilger und Lustwandler, der eintaucht in die Stadt, bis sie ihm Geliebte wird, weniger ein »Glück der Meditation« auslöst, als vielmehr ein »neues Gefühl«, für einen genius loci nämlich, der eine »neue Poesie« erfordere.22 In seiner surrealistischen Lyrik wird Nezval sie denn auch liefern. Und obwohl er die Gefahr sah, dass alle Prag-Dichtung »immer mehr von Phrasen über diese Stadt zugedeckt wird«,23 überhöht er nicht nur sich selbst phrasendreschend als den flanierenden Seher der Stadt mit dem »magischen Spiegel aus verstaubtem Kristall«,24 sondern feiert Prag als »die Ewige«, als »Mysterium«, als »dunkle Schönheit« und »Amethyst« voller »Magie« und »tausendfachen Geheimnissen«.25 Nichts davon auf den ersten Blick in Bondys Schlüsselkonzept des chození, des ziellosen Herumlaufens mit seinem politischen Beigeschmack der Angst, weil im Rücken der ruhelosen Post-Flaneure Spitzel folgen, Arrest lauert.26 Und dennoch sind seine lyrischen Subjekte, wenn man so will, verhaltensauffälliger. Tramps, sonderbare Vögel, herum- und heruntergekommen in einer freundli20 | Weiterführend u.a. Tippner, Anja: Prag als »magische Metropole Europas«. Zum Pragtext bei Nezval und Král. In: Dies.: Die permanente Avantgarde? Surrealismus in Prag. KölnWeimar-Wien 2009, S. 151-169. 21 | Vgl. dazu auch die Neruda-Fortschreibung der Topol(s) im Kapitel über die Hundesoldaten. 22 | N ezval , Vítezslav: Der Prager Spaziergänger. Berlin 1984, S. 13. 23 | Ebd., S. 50. 24 | Ebd., S. 165. 25 | Ebd., S. 164-165, 157 u. 155. 26 | Siehe z.B. Herumlaufen (Chození) von 1956. Später folgen allein im Jahr 1976 Dieses Herumlaufen durch Prag (To chození Prahou), In der Altstadt herumlaufen (Chození po Starém Městě) und Schon drei Sonntage lang irren wir durch Prag (Už tři neděle bloudíme po Praze).
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chen Perspektive. Aus offizieller Sicht marodierende, grölende, saufende, Wände beschmierende chuligáni. Einem von ihnen gesellt Bondy in der Sammlung Besoffenes Prag die Figur Vladimír zu, eine Anspielung auf den Künstlerfreund Vladimír Boudník:27 Mit Vladimír da kehr ich ein noch bei hellem Sonnenschein Beide sitzen wir am Kneipentisch beim Bier Vladimír trägt mir Geschichten vor und ich bin ganz Ohr Beim sechsten Bier wird leicht schwindlig mir War das achte dran stimmt er an Während er singt aus vollem Mund geb ich meine Gedichte kund Ein Spitzel sitzt dort am Tresen sein Trench-Coat ist erlesen 28
27 | Der wiederum mit Boudník und Bondy befreundete Bohumil Hrabal setzte ihnen 1973 mit seinem Roman Der sanfte Barbar (Něžný barbar) ein literarisches Denkmal. Boudník verfasste zwischen 1945-1962 mehrere Manifeste des Explosionalismus. Darin mit den »Überrealisten« abrechnend, forderte er den Einzelnen auf, selbst Künstler zu werden, das Gehirn zur Explosion zu bringen, zum Beispiel beim Betrachten von Marmoradern in Fußbodenplatten oder Putzflecken auf einer Häuserwand, die jeder in die ihm gemäße künstlerische Form bringen solle. – Dazu aus kunsthistorischer Sicht P ospiszyl , Tomáš: Paxisté, explosionalisté a aktuálové v boji za mír [Pazifisten, Explosionalisten und Aktualisten im Kampf für den Frieden]. In: D ers.: Srovnávací studie. Praha 2005, S. 61-95. – Vgl. auch P ilař: Underground, S. 99-134. 28 | B ondy, Egon: S Vladimírem chodím píti [Mit Vladimír da kehr ich ein]. In: D ers.: Básnické dílo. Bd. 2: Básnické sbírky z let 1950-1953. Praha 1992, S. 148: »S VLADIMÍREM CHODÍM PÍTI / ještě když slunce svítí // Sedíme spolu / v hospodě u stolu // Vladimír vykládá sem a tam / a já poslouchám // U šestýho piva / slabou závrať mívá // U osmýho piva / zpívá // Zatím co on zpívá krásně / recituju já svý básně // V rohu sedí esenbák / má novej gumák.« – Nachdichtung v. Rainette L ange.
1. Last exit exitus: Egon Bondy
Mit Vladimir da kehr ich ein handelt von der Okkupation öffentlichen Raums durch private Poesie als selbstillusionistischem Hasard – am Nebentisch wartet immer schon der Stasibeamte. Gertraude Zand macht hinter derlei sardonischen Volten einen maßgeblichen Impuls des Totalen Realismus aus: »Provokation versus Passivität«. Die Gedichte zielten, so Zand, darauf ab, dass sich die Autoren weder in »eine wehleidige Defensive flüchten« noch »in eine Scheinwelt zurückziehen«, sondern durch Herausforderung aktiv werden, im Unterschied zur – wörtlich – schweigenden Mehrheit.29 Das mag so sein. Instruktiv für das Verständnis von Underground, seine Spezifik und Differenz zu Dissidenz, ästhetischer Opposition im Allgemeinen ist hier indes der Blick auf die Form der Provokation, die das Gedicht selbst darstellt, nicht sein – unausgeführter – Gegenstand. Sie liegt in den Stilmitteln. Hier ist das der an Alberei grenzende, grobschlächtige Reim, verquickt mit obecná čeština, der vom Standardtschechisch vor allem phonetisch und morphologisch abweichenden Umgangssprache, die Bondy andernorts wie in der hovno-Litanei durch ein obszönes Vulgärtschechisch verstärkt, das er wiederum mit lexikalisch wie morphologisch archaischen Einschüben auflädt.30 Die Basis der Peinlichen Poesie ist ein Spiel mit dem schlechten Geschmack, dem schlecht Gemachten. Damit nimmt sie in radikaler Form ein globales Experiment teilweise vorweg, das bald von Susan Sontags Notes on Camp markiert wird,31 später von Nick Caves und Jim Jarmuschs New Yorker No Wave, Wolfgang Müllers Genialen Dilletanten, abermals eine Generation darauf vom Club der Polnischen Versager. Bewusste Verschreiber (»Dilletanten«), »unsägliche« Misstöne, stilistische Fehltritte, kunsthandwerkliches Versagen. Gemäß der beuysschen Maxime »Jeder ist ein Künstler!« werden die Rezipienten aufgefordert, die »Kategorien putzsüchtiger Hausfrauen« hinter sich zu lassen,32 wird unter »genial« die »intensive Intensität bei der Auseinandersetzung mit dem Stoff« verstanden,33 der Kunst-Konsument in die ästhetische Produktion gerufen.
29 | Z and: Totaler Realismus, S. 143-145. 30 | G ammelgaar d, Karen: Spoken Czech in Literature. The Case of Bondy, Hrabal, Placák and Topol. Oslo 1997, S. 40-41. – Gammelgaard befasst sich mit Bondys Sammlung Prager Leben. 31 | Vgl. zu Sontags Camp-Konzept das Kapitel über Vladimír Archleb. 32 | S chandt, Claudia: Falsch gespielt. In: Geniale Dilletanten. Hg. v. Wolfgang Müller. Berlin 1982, S. 30-34, hier 30. 33 | M üller, Wolfgang: Die wahren Dilletanten. In: Ebd., S. 9-14, hier 10. – Zur VerSchreibung siehe D ers .: Subkultur Westberlin 1979-1989. Freizeit. Hamburg 2013, S. 46: »Das Doppel-›l‹ klingt wie ein Lallen. Es beschleunigt und hemmt zugleich das Tempo. Er erzeugt einen verdoppelten Raum, dessen Verdoppelung ihn gleichzeitig verschiebt. Dieses Lallen ließ zudem ein ›t‹ überflüssig werden.«
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Ähnlich wird Bondys enger Weggefährte Ivan Martin Jirous 1975 das Unfertige, Primitive in seinem Bericht über die dritte tschechische musikalische Wiedergeburt (Zpráva o třetím českém hudebním obrození) dahingehend utopisieren, dass eines Tages »jeder Kunst machen« und »sich selbst in einem unwiederbringlichen, individuellen Akt der Kreativität ausdrücken« werde.34 Dabei steht nicht technische Fertigkeit im Vordergrund, sondern eine dionysische Ekstase, eine Lebens- als Schaffensmaxime, die dem »Authentischen« oder »Wahren« im Sinne von »unverstellt« huldigt. Im Einklang damit verstanden sich Jirous wie Bondy trotz ihrer ausgebildeten Intellektualität als »working-class man of the people who was not afraid of vulgarity or vulgarisms«.35 Das Eigentümliche und Bezeichnende des frühen Underground jedoch ist, dass er wohl in diese poetologische Demokratisierung vorausweist, dann aber doch auf dem elitären Erbe der Avantgarde beharrt. Denn zum einen richten sich die ästhetischen Schmähungen ja nicht allein gegen den Machtapparat, sondern auch gegen jene, die sich still mit ihm arrangiert haben, gegen die Mitläufer des Systems – jeglichen Systems. Zum anderen stellen nicht bloß die vielen hermetischen Anspielungen und nur innerhalb eines engen Personenkreises verständlichen personalen Andeutungen eine Verständnishürde dar, sondern namentlich die Vulgarismen und Profanisierungen selbst, die ein working class man wohl am Arbeitsplatz oder in der Kneipe verwenden mag, deshalb aber noch lange nicht in »der Kunst« erwartet und goutiert. Mit ihrer Rekontextualisierung wird die drastische Rede und volkstümliche Sprache vielmehr zu einem Kode, dessen ästhetische Intention sich lediglich Eingeweihten erschließt, sie abgrenzt und zu Verschworenen macht: Das »magische« Zeichen, der exklusive Kode, besetzt und verletzt nicht nur fremdes Territorium; auf provokante Weise zieht er die Blicke auf sich, macht allen Außenstehenden, die nicht über den Schlüssel verfügen oder diesen nicht souverän handhaben, die Interpretation schwer: die Distanz zur Gemeinschaft der Verschworenen wird spürbar. 36
Wenn die lyrischen Subjekte, über die Bondys Schaffen eine ästhetisch verschworene Gemeinschaft des Underground konstituiert und zugleich reflektiert, als sozial Marginalisierte daherkommen, handelt es sich, wie oben angeklungen, zugleich um eine bewusste Selbstmarginalisierung zur Verstärkung solcher exklusiver Kodes. Die »Verletzung fremden Territoriums« wiederum vollziehen sie 34 | J irous , Ivan M.: Zpráva o třetím českém hudebním obrození [Bericht über die dritte tschechische nationale Wiedergeburt]. In: D ers .: Magorův zápisník. Hg. v. Michael Š pirit. Praha 1997, S. 171-198. 35 | B olton, John: Worlds of Dissent. Cambridge, Mass.-London 2012, S. 130. 36 | R aab, Jürgen/S oeffner, Hans-Georg: Subkultur. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5. Hg. v. Karlheinz Barck u.a. Stuttgart-Weimar 2003, S. 786-805, hier 797.
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durch den Vorstoß auf Terrain, dem sie ihrer (Selbst-)Stilisierung gemäß nicht zugehören: Schauplatz der Gedichte ist fast durchweg das historische, symbolisch aufgeladene, wenn man will erhabene Zentrum Prags, darunter der Laurenziberg, das Ufer der Moldau, der Burgberg, die Karlsbrücke, die Schlosstreppen, Altstadt und Kleinseite, die Insel Kampa, dazu der jüdische Friedhof in der Josefstadt. Allesamt sind sie geschichtlich, literarisch, nicht zuletzt touristisch als »schön«, klassisch, gediegen markierte und sublimierte Topoi im doppelten Sinne.37 Hierher nun dringen Bondys Figuren schimpfend und sudelnd vor, getragen von gemeiner Sprache und banalisierten Formen. Der Underground taucht auf und beschmutzt das Zentrum, so ließe sich der Kern der bondyschen Transgression benennen. Es geht um die Bestreitung eingeschliffener Zentralitätssemantiken, Orts- und damit ästhetischer Hierarchien, kollektivierter Verfügungsrechte am symbolischen Kapitalstock der Gesellschaft. Wenn vor diesen Kulissen nicht geliebt wird, sondern »gefickt«; nicht mehr eingekehrt, sondern in einer Tour gesoffen; nicht mehr vom Verdauungsvorgang geschwiegen, sondern »geschissen« und das minutiös kommentiert,38 ja eine hovno-Graffiti-Flut herbeigeschrieben wird, dann macht das etwas mit der Semantik der Orte. Es zerstört – zumindest der Absicht nach – ihre Weihe und zumal den Mythos vom »Magischen Prag«, gegen den vor allen anderen Bondy anarbeitet: »Ich lebe in der Hauptstadt / der Magie / In Prag / Damit kann ich nichts anfangen / so ist das.«39 Gleichwohl ist es mit dem Niederreißen nicht getan: Nach diesem Statement trifft das lyrische Ich auf der Karlsbrücke nämlich den bereits erwähnten Milan Koch; über ihnen ragen die barocken Brückenskulpturen empor – und verfolgen den Weg des Paares in die Erlöserkirche. Dort befällt beide die Furcht, des Nachts werde sie wohl der Teufel heimsuchen. Derselbe Topos findet sich in Magische Nächte (Magické noci), das in der Vertonung der Plastic People zum Kultsong wurde:
37 | Aus der Sammlung Besoffenes Prag z.B. Auf der alten Schlosstreppe (Na starejch zámeckejch schodech), Die Altstadt (Starý Město), Heute war ich schon wieder besoffen (Zas jsem byl dneska opilý); aus den 1970er Jahren z.B. Ich schaue auf den Laurenziberg (Já koukám na Petřín), Es regnete es wurde matschig es schneite es wurde glatt (Pršelo rozbředlo se to sněžilo udělalo se náledí), In diesem Moment standen wir vor dem Heiligen Veit (V té chvíli jsme stáli před Svatým Vítem), Die Altstadt war heute in einen bläulichen Nebel gehüllt (Staré Město dnes bylo v modravém zamlžení). 38 | B ondy, Egon: Už hezkou chvilí je noc [Schon eine ganze Weile geht die Nacht]. In: D ers .: Básnické dílo Egona Bondyho. Bd. 6: Deník divký která hledá Egona Bondyho. Praha 1991, S. 53-55. 39 | D ers .: Žiji v hlavním městě [Ich lebe in der Hauptstadt]. In: D ers .: Básnické dílo Egona Bondyho. Bd. 7: Básnické sbírky z let 1971-1974. Praha 1992, S. 120-121, hier 120: »Žiji v hlavním městě / magie / V Praze / S tím si nemohu nic počít / tak to je [...].«
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Der Underground, die Wende und die Stadt Magische NÄchte Die Zeit hat bEgonnen dem Koch ist sicher der Teufel gesonnen Magische Nächte die Zeit hat begonnen Wir leben in Prag das ist dort wo einst der Geist erschien vor Ort Wir leben in Prag das ist dort. 40
So wird aus Umkodierung wechselseitige Aneignung: Wie vehement die Gedichte Stadt und Sprache des nezvalschen Prager Spaziergängers auch zurückweisen, indem die Figuren sich durch ihre Traditionsorte bewegen, macht dies auch etwas mit ihnen – anders, als situierte Bondy sie in vorstädtischen Arbeitersiedlungen oder Neubauten. Es lädt die Ästhetik des Profanen neuerlich mit Weihe auf. Oder besser, es bringt die im Konzept des Totalen Realismus angelegte Absolutheit, den in der Überhöhung liegenden Zug zur Erhabenheit heraus. »Prag« wird zu einer spirituellen Heimat des Underground. Zu seinem Mythos. Das Zentrum schlägt zurück: nicht nur durch Verhaftungen, Bespitzelung und Verbote, sondern durch die Macht seiner eingeschriebenen Kodes. Wie in einer nun auch von einem architektonischen Bild gestützten späten Abwehr wird Bondy 1988 im Gedichtband Wegschwimmen (Odplouvání) mit Blick auf den Postromantiker und Prädekadenten Julius Zeyer schreiben, dessen Erzählungen wesentlich zum Boom des mystischen Prag um die Jahrhundertwende beigetragen hatten: »Zeyer schaute vom Laurenziberg auf Prag hinunter / und sagte ›Mein Montsalvat‹ / ich steige für ein Pils auf den Laurenziberg und sehe nichts / weil sie da Plattenbauten errichtet haben.« 41 Wohl am stärksten indes wirkt die literarische Tradition bei Bondy, wenn er die für die Prag-Dichtung kanonische Gleichsetzung von Stadt und Frau nachvollzieht.
P r ager R andgänge mit D irne Figurierte Prag in Surrealismus und Poetismus vor allem als geheimnisvolle Verführerin, romantische Geliebte und manchmal Mutter, wird sie bei Bondy zum 40 | D ers .: Magické noci počal čas [Magische Nächte die Zeit hat begonnen]. In: Ebd., S. 121: »MAGICKÉ NOCI POčAL čAS / Kocha snad z toho vezme ďas / Magické noci počal čas // My žijeme v Praze to jest tam / kde jednou zjeví se Duch sám / My žijeme v Praze to jest tam.« 41 | D ers .: Jen ať se nevrací nic [Dass nur nichts wiederkehre]. In: D ers .: Odplouvání. Básně 1988 aneb Čas spíše chmurný. Praha 1990, S. 23: »Zeyer se koukal z Petřína na Prahu / a říkal »Můj Montsalvat« / já chodím na Petříny na pivo a nevidím nic / protože to zastavěli paneláky.«
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Flittchen mit Vorstadtqualitäten, ein wenig verlottert und sehr freizügig. Marginalisierter Anti-Flaneur trifft auf selbstbestimmte Dirne. Der Leser wird dieser Konstellation in der Underground-Literatur der zweiten Generation und später wieder begegnen. Einen ihrer frühen Auftritte hat sie in Bondys epischem Gedicht Unterm Flussufer (V Podbřeží) von 1955. Es stammt aus dem Poem Die Reste des Epos, das sich aus zwanzig unterschiedlich langen, in verschiedenen Reimschemata verfassten Abschnitten zusammensetzt. Auch Unterm Flussufer ist wiederum rhythmisch dreigeteilt: Im ersten Abschnitt gibt das lyrische Ich, das sich als Krähe imaginiert, Beobachtungen am nächtlichen Ufer der nicht mit Namen genannten, anhand der Szenerie aber eindeutig zu identifizierenden Moldau wieder. Im zweiten folgt eine paarreimige Beschreibung des Flusses; der dritte hält in einem resümierenden »Fragenkatalog« fest, wie »langweilig« es sei, »platonisch zu lieben«; was für einen »Blödsinn« ästhetische Ideale darstellten; und wer oder was das lyrische Ich denn überhaupt sein könne, wenn nicht wie die Krähe ein »sonderbarer Vogel«, einer, der nirgends wirklich zu Hause ist – außer in der Gosse beziehungsweise »Kloake«. Dieses »Unten« wird bereits im Titel auf eine im Deutschen schwer wiederzugebende Weise angespielt, indem das Präfix po (an, bei) in pobřeží (Ufer, Küste) durch pod (unter) ersetzt ist: [...] Dort sitzend besah ich den Fluss vor mir der fließt ja angeblich schon ewig hier wie im U Fleků das Bier Aus seinen Wassern steigt Kanalisationsgestank schleimige Rotzbrocken schaukeln den Fluss entlang und Undinen rank und schlank! [...] Majestätische Stadt! Mystisches Weib! Mein Herz quillt über wie Teig wenn zur Neige geht der Wintertag der Hradschin übern Himmel jagt hin wo’s wiehert und traurig klagt Hat die Stute nicht vergessen wie Kaiser Rudolf auf ihr gesessen Jetzt seh’ ich völlig verfroren mit an wie neue Gelehrsamkeit in sie sprang ich blinzle ins Abendrot und vor Hunger befällt mich ein Würgedrang
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Der Underground, die Wende und die Stadt Am besten ich flieg ein bisschen umher doch find ich dann keine Ecke mehr wo der Herrgott mich nicht sehen muss Bin ihm doch nur Scham und Verdruss Hier stinkt es ziemlich nach Kanal der gleich in meiner Nähe sprudelt wie’n warmes Karlsbader Heilwasser-Rinnsal oder wie Konstantin Biebl blubbert und dudelt Die Ratten verenden an seinen Gasen und alkalischen Wassern entsteigen Blasen Dunkler wird es immerfort Vergeblich ist der Ruhmesglanz mein Ideal ist Prag nicht ganz sondern ein Wüstenort […] Wie schön wär’s dort Doch wir haben den Veitsdom immerhin Nur ist da keine Zentralheizung drin so kann ich nicht bei stillen Gebeten mir des Nachts die Beine vertreten […] Und dieser große Wasserlauf kriegt zum Bellen das Maul nicht auf ein fast schon steifer Nervenstrang er zittert ohne sang und klang er zittert wie in eisiger Wildnis der glitzernde Mond auf einem Bildnis einmal schwarz dann wieder weißlich fahl wie jene die mein Herz einst stahl die lange keinen Kamm benutzt und auch die Zähne nicht geputzt ungewaschen und gar nicht rein wie ein gewisses Löchlein fein gespreizt wie eine Sau rekelt sie sich faul in durchgeschwitztem Bettbezug ist ihr die alte Wäsche gut genug mit gottgleicher Gelassenheit tut sie wie im trauten Heim
1. Last exit exitus: Egon Bondy und kratzt sich mit der großen Zehe leicht am Bein manchmal gähnt sie manchmal fängt sie an zu lachen wenn sie will kann sie auf leidenschaftlich machen ich sag euch nehmt die Beine in die Hand die alten Flittchen mit ihren Launen rauben dir allen Verstand […] 42
Diese Repräsentationstriade Frau-Fluss-Stadt entstammt einer altverbreiteten literarischen Tradition der Personifikation von Städten und Flüssen als weiblich, der Identifizierung von Städten über die Gewässer, an denen sie liegen. 43 Namentlich Prag und die Moldau (und Böhmen) sind in ungezählten Texten, Kompositionen, Bildern über die Jahrhunderte allegorisch aufeinander bezogen worden, in eine semantische Symbiose geraten. Ebenso wie beiden, Stadt und Fluss, in Bildern sich wandelnder Weiblichkeitsphantasien gehuldigt wurde. Das tschechische Wort für Fluss, řeka, ist im Übrigen weiblich. Bondys doppelte Verblendung indes stellt durchaus eine poetische Innovation dar – mehr noch freilich seine Umkonnotierung der Moldau in eine korrumpierte Kloake und Prags in ein verlottertes Boheme-Weibchen von gleich starkem 42 | D ers .: V podbřeží [Unterm Flussufer]. In: B ondy : Básnické dílo. Bd. 1, S. 42-46: »V PODBŘEŽÍ / jsem seděl jako straka na keři / a sněd bych i presidenta k večeři // […] Sedě tam pozoroval jsem tu plynoucí řeku / jak zde prý teče od věku do věku / jak pivo u Fleků // Z jejích vod vyrážejí kanalisační plyny / na vlnách houpají se vyflusané sliny / a sličné Undiny // […] Majestátní město! / Mystická nevěsto! / Mé srdce překypuje jako těsto // když za zimního smrákání / Hradčany po obzoru uhání / za přesmutného řehtání // Nezapomněla ta kobyla / že císaře Rudolfa nosila / Teď tu zmrzlý zcela / koukám jak do ní zas erudice vjela / mžourám do čer[v]ánků / a z hladu se mi zas nanic dělá // Měl bych se aspoň trochu prolítnout / ale kdoví kde zas najdu kout / kde mě pánbůh neuvidí / A sem se za mnou stydí // Tady to příliš smrdí kanálem / jenž tu hned pode mnou prýští / jak teplý karlovarský přírodní pramen / či jako Biebl Konstantin / bublá a piští // Krysy v něm chcípají na plyny / z té alkalické vody stoupají stále bubliny // Smráká se stále houšť / marná sláva / mým ideálem není Praha / ale poušť // […] Jak je krásně tam // Zato tady máme svatovítský chrám / Chybí mu jenom ústřední topení / abych tam probděl všechny noci v tichém modlení // […] A ta velká řeka / nekokrhá ani neštěká / ta paralytická poněkud už mícha / chvěje se tady úplně zticha / chvěje se jak měsíc v mraze / blýskavá jak na obraze / někde černá někde bílá / jak má bývalá milá / s neučesanými vlasy / s hubou kterou dávno ne[vy]pláchla si / špinavá a nemytá / jako díra určitá / roztažená jako svině / jen se protahuje líně / zapocená na špinavém prostěradle / málokdy se prostře v čistém prádle / s bohorovnou jistotou jak pod manželským čepcem / palcem u nohy si škrábe stehno lehce / někdy zívá někdy se pro sebe usmívá / když ji napadne tak dělá že je vášnivá / a tu ač by člověk radši utek / vždy se zblázní do těch fórů starých prostitutek / […].« – Nachdichtung v. Rainette L ange . 43 | Weigel , Sigrid: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 160.
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Gegensatz zu romantischen Frauenidealen wie sozialistisch normierten Lebensund Geschlechterentwürfen. Die Moldau ist eine stinkend dreckige Giftbrühe, an der selbst die Ratten verrecken; eine ungekämmte, sich ungewaschen in verschwitztem Bettzeug rekelnde, »gespreizt wie eine Sau« ihr »Löchlein« hinreckende Libertine, die sich mit dem Fußnagel die Wade kratzt. Der eine exklusiv kodierte, Leben und Produktion kontaminierende Bezugspunkt solch zur Schau gestellter »weiblicher Zuchtlosigkeit« ist Bondys damalige Gefährtin Honza Krejcarová. 44 Als er ihr 1948 begegnet, hat Krejcarová gerade den erotischen Gedichtzyklus Im Garten meines Vaters (V zahrádce mého otca) beendet. Es entspinnt sich eine mehrjährige Beziehung. Für Bondy stellt Krejcarová ein »nichtsozialisiertes und nichtsozialisierbares Element« dar: Nymphomanin, Lügnerin, Bettlerin, Provokateurin, Dichterin, Mutter, 45 die in ihren Aufzeichnungen Clarissa festhält, dass sie keinerlei Hang zu Revolutionen verspüre, ohnehin »allzu lange Fingernägel« habe, rot lackierte dazu. 46 Die andere Referenz ist die Fürstin Libuše der Cosmas-Chronik aus dem 11. Jahrhundert, von der Prags Domdekan berichtet, sie habe sich unziemlich vor den Männern im Bett gerekelt, aus den Laken Recht gesprochen und Regierungsgeschäfte getätigt. 47 Ein Bild, das spätere Chroniken kolportieren werden. Das also ist Prag, das »wahre« Prag, die Metropole des Underground: vergiftet und verdorben, lustvoll und wurstig – seit tausend Jahren schon. Die Allusion, die Inkorporation des historischen Legendenbestands ebenso wie der klassischen Prag-Marker Veitsdom, Prager Burg, U Fleků, Kaiser Rudolf und eben Moldau entspricht dem ambivalenten Verhältnis der bondyschen Dichtung zu vorgefundenen oder perzipierten Traditionen. Das symbolische Zentrum wird beschmutzt, herabgezerrt, demythisiert – nicht aber ersetzt, die Prag-Imagination nicht dezentriert, vielmehr umgehend remythisiert. Diese Eigentümlichkeit tritt umso deutlicher hervor, vergleicht man sie mit einer unmittelbaren Inspirationsquelle des Underground, der urbanen Poetik der Gruppe 42 (Skupina 42). Die Gruppe – der Name verweist auf ihr Gründungsjahr – verstand sich als ein loser postavantgardistischer Zusammenschluss von Künstlern aller Art, die zwar über kein manifestes Programm verfügten, wohl aber ein geteiltes gegenständ44 | Ebd., S. 149-179. 45 | K opáč , Radim: Létavice touhy. Erotismus v dílech Karla Hynka, Zbyňka Havlíčka, Jany Krejcarové a Egona Bondyho [Sternschnuppe der Sehnsucht. Erotik in den Werken Karel Hyneks, Zbyněk Havlíčeks, Jana Krejcarovás und Egon Bondys]. Praha 2011, S. 5-25, hier 14-15. 46 | K rejcarová , Jana: Clarissa. In: D ies .: Clarissa a jiné texty. Praha 1990, S. 17-32, hier 18-19. 47 | Des Dekans Cosmas Chronik von Böhmen. Nach der Ausgabe Monumenta Germaniae. Übers. v. Georg G randaur . Lechenich 1981, S. 11: »Diese lag, wie es die Art üppiger Frauen ist, wenn sie keinen Mann haben, den sie fürchten, auf den Ellenbogen gestützt gleich einer Wöchnerin in einem weichen und reich geschmückten Bette.«
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liches Interesse: die moderne Großstadt als vom Menschen geformtes und den Menschen formendes Phänomen. 48 Dabei fokussierten sie namentlich die Realität der peripheren Dinge, Erfahrungen und Zonen, den topografischen Rand, die Vorstadt. 49 Dorthin gingen sie selbst und schickten sie ihre literarischen Beobachter, um vorzufinden, was Angelo Maria Ripellino in seinem rasch legendären Essay Praga magica beschrieb: Lattenzäune, Elendsviertel, verfallende Mietshäuser, blatternnarbige Mauerwände, tote Stichgleise, Wasserleitungen, Schlachthöfe, Straßenlampen auf hohen Masten, riesige Schutt- und Schrotthalden, Stundenhotels, Ausschänke wie Rattenlöcher, geteerte Pissoirs, Reklameanschläge, bröckelige, fensterlose Seitenmauern baufälliger Häuser: Das ist die triste Szenerie in den Bildern und Gedichten der Gruppe 42. 50
Vor allem begann die Gruppe 42 »als erste, den Rahmen des Worts zu überschreiten«, um »bislang verborgene Schichten der großstädtischen Ästhetik zu entdecken«. Josef Vlček erklärt so die Anziehungskraft der Gruppierung auf Undergroundler und Alternative in den 1980er Jahren.51 Dichter wie Ivan Blatný, Josef Kainar oder Jiří Kolář verlagerten ihre Aufmerksamkeit vom Zentrum in die Vorstädte, ließen sich dabei durch Walt Whitmans Leaves of Grass, Carl August Sandburgs Chicago Poems oder T.S. Eliots The Waste Land zu expressiven Bildern inspirieren, aber auch zu einem westlichen Zivilismus. Das lässt den Surrealismus eines Vítězslav Nezval hinter sich, der sich in seinem Flaneursbekenntnis von den Arbeitervierteln so angezogen wie abgestoßen zeigte, für sie keinen anderen Grundton zu finden vermochte als den der Depression. Diese wiederum stand seinem Bedürfnis nach einem apollinaireschen »neuen Gefühl« entgegen, so dass er vor der selbstempfundenen Erfordernis, für diese Bezirke eine Stimme zu finden, kapitulierte: Wie schade, dass keiner der drei Orte in W einberge , an denen ich wohnte, dass weder K ošíře noch S míchov noch N usle-Ta l in meiner Imagination oder in einem literarischen Werk einen 48 | Dieser Gedanke findet sich auch in den »Quasi-Manifesten« aus den 1940er Jahren von Jindřich C halupeck ý : Svět, v němž žijeme [Die Welt, in der wir leben]. In: D ers .: Obhajova umění. Praha 1991, S. 68-71. – Die Bezeichnung »Quasi-Manifeste« stammt von E ngelking , Leszek: Codzienność i mit. Poetyka, programy i historia Grupy 42 w kontekstach dwudziestowiecznej awangardy i postawangardy [Alltäglichkeit und Mythos. Poetik, Progamme und Geschichte der Gruppe 42 im Kontext der Avantgarde und Postavantgarde des 20. Jahrhunderts]. Łódź 2005, S. 71. 49 | Skupina 42. Hg. v. Eva P etrová u.a. Praha 1998. 50 | R ipellino, Angelo Maria: Magisches Prag. Tübingen 1982, S. 91. 51 | V lček , Josef: Hudební alternativní scény sedmdesátých až osmdesátých let [Die alternativen Musikszenen der 1970er bis 1980er Jahre]. In: A lan: Alternativní kultura, S. 201-264, hier 218.
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Der Underground, die Wende und die Stadt Vermittler gefunden haben, dessen segensreiche Magie mich wenigstens mit geringfügigster dichterischer Verzückung die unfreundlichen Lebensbedingungen hätte ertragen lassen, die mir in jenen Vierteln aufgebürdet wurden. 52
Bondys Lyrik der 1950er Jahre nun verweigert sich beidem, der artifiziellen Hochsprache Nezvals wie deren Überwindung im dezentrierten urbanen Zivilismus. Sie macht den Gang an die Peripherie nur bedingt mit und zieht der Hinwendung zum Mythos der Moderne und des Alltags den der Ekstase und der Geschichte vor. Darin liegt etwas Archaisches, das seine spezifische Klangfarbe erhält durch die Kombination von schwelgerischem Ekel, Drastik, Pessimismus, sarkastischen oder schlicht anstößigen Brüchen auf der formalen wie semantischen Ebene. Das trennt den entstehenden Underground von den klassischen Avantgarden. Hierher gehört schließlich der radikale Individualismus, mit dem Bondy seine lyrischen Subjekte ostentativ a-sozial gegen die Stadt als Gesellschaft setzt, ein mit dem »Sie« verfeindetes »Ich« postuliert. So kodiert er Prag literarisch um, macht es auf den ersten Blick weniger magisch, weniger geheimnisvoll – nutzt indes den zurückgewiesenen Mythos als Resonanzraum für seine eigene Mystifizierung des Underground, die sich mit dem Anliegen der Gruppe 42 nur vordergründig berührt. An die Stelle von deren stark mit der Figur des »Augenzeugen« (očitý svědek) operierenden Subjetkonzeption tritt das lyrische Ich als die Welt schaffender und zerstörender »Subjekt-Demiurg«.53 Namentlich hat denn auch das Weibliche in dieser Dichtung eine mythischallegorische Funktion, die an alles gemahnt, aber nicht einen neuen Geschlechterdiskurs. Es tritt als gefährliche, verjauchte Moldau auf, in der Form von Flussundinen und antiken Göttinnen, als Fürstin, als Unsterbliches Mädchen (Nesmrtelná dívka), an das sich die Frage richtet, wer oder was es denn sei, ob ein »Luftgespinst«, etwas »Vergangenes« oder »Morgiges« oder »Ewiges«, eine »Jungfrau« oder die Todesbringerin, »Heilige Hure« und doch nicht käuflich.54 Die zweite Underground-Generation wird diese Abwesenheit von Frauengestalten zugunsten ästhetisierter Weiblichkeitsphantasmen fortführen, etwa der 1982 ins schwedische Exil gegangene Vlastimil Třešňák in Madame Prag (Madam Praha). Tagtäglich ziehen die Namenlosen mit Geld nur für den oberen Rang ins Theater »Prag« und warten auf sie: »Unvermittelt steht sie zwischen uns da / nackt, / ohne Riesen-Trara.« Und:
52 | N ezval : Der Prager Spaziergänger, S. 65. 53 | M ainx : Poezie jako mýtus, svědectví a hra, S. 96: »Der schon erwähnte SubjektDemiurg, der die Welt schafft und einreißt, unterscheidet sich darüber fundamental vom Typus des Augenzeugen, wie er für die ›Gruppe 42‹ ausschlaggebend ist.« 54 | B ondy, Egon: Nesmrtelná dívka [Unsterbliches Mädchen]. In: B ondy : Básnické dílo. Bd. 1, S. 77-107, hier 83-84.
1. Last exit exitus: Egon Bondy Macht uns betrunken, macht die Stimmung zunichte allein die Art wie sie steht mit dem Kopf nach hinten gedreht, bringt uns schon zum Heulen. Madame Prag Flittchen aus Stadtrand-Pawlatschen bügelt verblasste Fetzen, Weibsbild mit schmutziger Schürze denkt doch nur an Knete, denkt doch nur ans Fressen. »Hau ab, verpiss dich!« brüllt sie und richtet den Blick zur Tür. […] In der Nähe des Hauptbahnhofs in einer der Spelunken, benimmt sie sich ganz unschuldig bettelt um ein paar Kronen willst ihr was geben sie sträubt sich dagegen. »Du Schlampe!« sagst du Und ihre Antwort ist: »Nein! Ich bin Prag! Und nicht irgendeine! Ich bin deine Hoffnung!« sagt sie und macht sich zurecht das Haar zieht dich in den Gang hinüber und schnell, im Stehen wird für dich ein Stückchen ihrer ein Stückchen ihrer Liebe wahr ... Öffnest die Augen dann bist hoffnungslos verlassen »Blöd bist du und seicht!« schreist du ins Dunkel »Blöd und seicht!« Nichts, nichts nur der Vorhang bewegt sich leicht
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Der Underground, die Wende und die Stadt und irgendwer beginnt zu lachen und irgendwer beginnt zu lachen ... 55
Eine ganz fatale Stadt, dieses Prag. Jeder ist immer schon ihr Opfer – eben darin liegt die repräsentative Funktion der Figur Milan Koch für Bondys poetologischen Kosmos. Koch, getötet von der paradigmatischen, auch bei Bondy ubiquitären Stadtrequisite Straßenbahn, wird stellvertretend für seinen literarischen Namensverwalter zum Opfer des selbsterschaffenen Mythos. Ein Opfer der Selbststilisierung als Selbstermächtigung, die im ästhetischen Eingriff in diesen Stadtraum besteht – ob materiell oder poetisch imaginiert. Im Gegensatz zum (post-)bürgerlichen Flaneur setzt der Bondy der 1950er Jahre sich und seine vagabundierenden Undergroundler auf eine gegenkulturelle Intervention an. Indem er sich gerade noch nicht dem genuin Neuen an der Peripherie zuwendet, sondern sudelnd das tradierte Zentrum zu überschreiben sucht, soll daraus seine Topoi-Grafie, sein untergründiger Ort werden. So wird denn auch der sardonische Ernst verständlich, mit dem zelebrierte Unangepasstheit und die Selbstausrufung zum »Nationaldichter« ineinandergehen. Bondys Anti-Flaneure und ihr empirischer Autor bezwecken sich als Golem redivivus von Prag. Als eine neue Legende vom »Prager Bondy«. Mehr noch: Über Koch, Weiblichkeit und beider Eindrehung zu einer pervertierten Maria-Magdalena-Struktur legitimieren die frühen Underground-Gedichte sich quasi-christologisch. Gott, der Dichter-Demiurg, rechtfertigt seine Mythopoesis durch Teilnahme am sterblichen Elend. Das ist der Sinn hinter dem Tod Milan Kochs, wie Bondys Lyrik ihn sublimiert: dass er den Irdischen zum Besten diente. »Aus Liebe«. Der letzte, erlösende Ausweg ist der Tod. Dieses romantische Erbe des Underground, seine mythische Affinität und eschatologisch-aktive Aufladung wird sich durch Verästelung und konkrete Ausformung im Hintergrund stets erhalten. Auch, wo Egon Bondys engster Weggefährte und grunddiesseitiger Freund ihr versucht zu entrinnen: Ivan Martin Jirous alias Magor. 55 | T řešňák , Vlastimil: Madam Praha [Madame Prag]. In: D ers .: Plonková sedmička. Texty. Praha 1998, S. 48-50: »[...] Rozvlní oponu / a najednou je mezi námi / nahá, bez veliké reklamy / jenom prostě – madam Praha. / Umí nás opít / umí zkazit náladu / a jen to, jak tam stojí / s hlavou zvrácenou dozadu / jen to nás rozpláče. // Madam Praha / cuchta z předměstské pavlače / žehlí zaprané prádlo, / ženská ve špinavé zástěře / myslí než na prachy / myslí než na žrádlo / »Táhni mi z očí!« / řve a ukazuje na dveře / [...] kolem Hlavního nádraží / si tě vede k bufetu, / a tam jako by nevinně / škemrala o korunu / a když jí dáváš / tak to se zdráhá. / »Jseš svině!« řekneš jí / »Jseš svině!« / A ona odpoví: / »Ne! / Já jsem Praha! / A nejsem ledajaká! / Jsem tvoje naděje!« / řekne a přičísne si vlásky / táhne tě do průchodu / a tam, jen tak na stojáka / užiješ trochu, užiješ trošku / její lásky... // Když otevřeš oči / jseš sám a bez naděje / »Jseš blbá a pitomá!« / křičíš do tmy / »Blbá a pitomá!« // Nic, nic / jen se zavlní opona / a kdosi se zasměje / a kdosi se zasměje...«
2. Urbane Abgehörigkeit Die Schwanengesänge des Ivan Martin Jirous
My Bonnie lies over the ocean My Bonnie lies over the sea My Bonnie lies over the ocean Oh bring back my Bonnie to me. S chot tische Volksweise
Jedes Kunstwerk ist in gewisser Weise ein Kassiber: der Versuch eines in seiner Subjektivität einsitzenden Individuums, einer Außenwelt Mitteilungen aus dieser Subjektivität zukommen zu lassen. Für Ivan Martin Jirous’ Gedichtsammlung Magors Schwanengesänge (Magorovy labutí písně) trifft das Bild wohl in besonderem Maße zu. Darüber hinaus jedoch ist das Manuskript tatsächlich im Gefängnis entstanden, von einem Mitsträfling bei dessen Entlassung hinausgeschmuggelt und im Samizdat verbreitet worden, dann ebenso illegal über die Grenze gelangt und von dem Exilverlag Poezie mimo domov (Poesie außerhalb der Heimat, PmD) veröffentlicht worden. Der Erscheinungsort hätte keinen treffenderen Namen haben können. Heimat, Heimatlosigkeit und Heimatverlust spielen in Jirous’ dichterischem Werk und namentlich in den Schwanengesängen eine zentrale Rolle. Das meint zunächst die Böhmisch-Mährische Höhe mit dem Geburtsort Humpolec, Stará Říše als Sitz des Verlegers und Dichters der Katholischen Moderne Josef Florian und Prostřední Vydří als späterer Rückzugsort – aber auch Prag, in dem Jirous lange eine Wohnung hielt, in das er indes pendelte und nie die Obsession mit der Stadt entwickelte wie Egon Bondy. Beides verliert er mit der Inhaftierung. Heimat- als Gemeinschaftsverlust bedeutet es aber auch, wenn Freunde und Weggefährten gehen, auf der anderen Seite der Blockgrenze verschwinden. Der Zyklus My lovers are over the oceans in den Schwanengesängen handelt davon. Sein lyrisches Ich zeigt sich angesichts der entschwundenen Zugehörigkeiten, seiner Abgehörigkeit, als ein desintegriertes, weniger verstoßenes denn zerrissenes Subjekt. Als Autor einflussreicher künstlerischer Manifeste, spiritus rector der Band The Plastic People of the Universe, Verfasser eines umfangreichen lyrischen Werks unter dem Pseudonym »Magor« – was so viel wie »Depp« heißt, »Spinner« oder
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Der Underground, die Wende und die Stadt
»Verrückter«1 – zählt Jirous neben Egon Bondy zu den geistigen Vätern des tschechischen Underground.2
J irous und die S chwanengesänge Ivan Martin Jirous wurde 1944 im südböhmischen Humpolec geboren. Er studierte in den 1960er Jahren Kunstgeschichte in Prag und war Redakteur der Zeitschrift Výtvárná práce (Künstlerisches Schaffen). Nach der Einstellung des Blattes im Zuge der »Normalisierung« begann er, von einem Hilfsjob zum nächsten zu wechseln. Um der Einberufung zum Militärdienst zu entgehen, ließ sich Jirous in die Psychiatrie einweisen, wo er Anfang der 1970er Jahre Egon Bondy kennenlernte, der zum Freund und Weggefährten wurde. Jirous wurde wiederholt verhaftet, als Kopf der Plastic People (»Aufwiegelung«) wie für die Verbreitung von Underground-Schriften, und verbrachte zwischen 1968 und 1989 mehr als acht Jahre im Gefängnis, unter anderem in Prag-Ruzyně, in Prag-Pankrác, in Nový Sedlo und Valdice. In der Haft entstand auch, wie erwähnt, mit Magors Schwanengesängen Jirous’ wohl wichtigstes lyrisches Werk, das ab 1985, noch vor seiner Entlassung, im Samizdat kursierte und kurz darauf in München erschien.3 Die ursprünglich 183 durchnummerierten Texte sind als sechsteiliges lyrisches Tagebuch konzipiert. Stilistisch bedienen sie sich bei Dada, Realismus, Banalismus und Vulgarismus, changieren zwischen plebejischer Attitüde, spiritueller Religiosität und intellektueller Reflexion. Die Sammlung beginnt: Wie lang noch Herr ertrag ich es dies Leben hier im Dauerstress? So lang du willst ich weiß es schon so lang währt meine Frustration Ich hoffe brav die Angst vergeht heut bitte ich dich im Gebet: Setz mir zumindest nach all dem ins Maul zum Dichten einen Schem. 1 | 1998 kam erstmals eine Zusammenschau seiner Lyrik heraus. In zweiter Auflage Jirous, Ivan M.: Magorova Summa [Magors Summe]. Hg. v. Martin Machovec. Praha 22007. – Zur komplizierten Erscheinungsgeschichte siehe die Editionsbemerkungen von Machovec auf den Seiten 1035-1038. 2 | So erzählen in einem rückblickenden Gespräch über den Underground J.H. Krchovský und Jáchym Topol, dass Bondy und Jirous zu ihrer Zeit schon »Klassiker« waren. – Třikrát a dost... Rozhovor [Dreimal und Schluss... Interview]. In: Host 1 (1998), S. 4-9. 3 | Dazu Jirous: Magorova Summa, S. 1063-1064. – Ders.: Magorovy labutí písně [Magors Schwanengesänge]. München 1986. Diese Fassung liegt auch dem Folgenden zugrunde.
2. Urbane Abgehörigkeit: Ivan Mar tin Jirous […] Man kann schlecht Elegien schreiben wenn’s alle mit den Mündern treiben Mit welchem Reim lässt sich ergänzen wie hier gelutscht wird an den Schwänzen? Doch um nicht mehr vulgär zu dichten will ich sporadisch nur berichten wie sich ein Häftling nicht erschreckte als einer ihm den Penis leckte 4
Eugen Brikcius, ein weiterer Freund,5 würdigte insbesondere diesen »Schem-Anfang« und damit den Bezug auf die Legende vom Prager Golem, der zum Leben erweckt wurde, indem er einen Zettel mit eben jenem Wort unter die Zunge gelegt bekam. Nun verlangt auch Jirous den »Schem«, um »dichten« zu können – und lässt dann seinen Gesang beginnen, als gäbe es so etwas wie eine negative Verbalinspiration: spöttisch, obszön, holpernd und ungelenk auf Reim gezwungen.6 Brikcius nutzt den Anlass, Jirous als Lehrmeister des Underground zu preisen, als Nachfahr des romantischen Dichter-Rebellen Karel Havlíček Borovský, des Anarchisten František Gellner. Im Hebräischen verweist haSchem, »der Name«, auf Gott selbst, wie er sich einst Moses im brennenden Dornbusch zu erkennen gegeben und mit dem Tetragrammaton JHWH bezeichnet hat: Sein Name ist der Name, und der Name ist er selbst: ha-schem. Der Namen jedoch, der jenseits dieser Metonymie liegt und aus dem elementaren »Ich-werde-sein-der-ich-sein-werde« hervorgegangen ist, ist zwar schreibbar, aber nicht aussprechbar: der vierbuchstabige Gottesname, der auch als schem ha-mephorasch bezeichnet wird, als »verborgen geoffenbarter Name« – denn nichts anderes bedeutet das griechische Wort Tetragrammaton.7 4 | Jirous, Ivan M.: Man kann schlecht Elegien schreiben… In: Höhlen tief im Wörterbuch. Tschechische Lyrik der letzten Jahrzehnte. Hg. v. Urs Heftrich u. Michael Špirit. München 2006, S. 297. – Jirous: Magorovy labutí písně, S. 11 u. 16: »Jak dlouho Bože ještě snesu / že žiju v ustavičném stresu? // Tak dlouho jak se Tobě zachce / potrvá moje frustrace // Pokorný jsem přemáhám strach / dnes budu Tě prosit v modlitbách // abys mi aspoň po tom všem / položil do úst k básním šém […] Špatně se skládá elegie / když kolem cucají si pyje / a každý rým je na to chudý / popsat jak kouří si zde údy // Abych zas nepsal výtržnicky / zaznamenám jen sporadicky / jak jeden odsouzený přelíz / druhému zločincovi penis.« – Nachdichtung v. Urs Heftrich. 5 | Brikcius ist der Zyklus My lovers are over the oceans gewidmet. 6 | B rikcius , Eugen: Magors Weg in den Himmel. In: Ivan Martin Jirous. Hg. v. Abbé L ibansk ý u. Barbara Z eidler . Wien 2013, S. 20-22. 7 | K ilcher, Andreas: Die Namen der Kabbala. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 1 (2013), S. 5-28, hier 11.
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Schon in der Romantik freilich, folgt man weiter Andreas Kilcher, wird aus dem magisch-erweckenden Namenswort eine »Metapher für die ästhetische Produktivität« – und der Golem zur »Metapher des Kunstwerks«.8 Vor diesem Hintergrund ermöglicht »der Schem« dem lyrischen Ich, was folgt: bildgewaltige Blasphemie, Verachtung, Klage, Skepsis, Expressionen aus Angst, Hass, Einsamkeit, Liebe – agape, wie Bondy sie dem überrollten Koch unterstellte. Jirous’ Dichtung ist ohne die judäochristliche Fundierung, die Kategorien »Sünde(nbewusstsein)« und »Hoffnung« nicht zu denken. In Magors Schwanengesänge wird der Underground ein für allemal episch. Vermutlich bewusst. Stammt das Bild aus der griechischen Mythopoetik, in der ein sterbender Schwan noch einmal ein trauriges, alles überwältigend schönes Lied anstimmt,9 so münzte die gebildete Frühmoderne daraus eine Floskel für letzte Großkünstlerwerke, schließlich ein Dramatonym für jeglichen Abgesang. Jirous’ Sammlung derweil greift hinter die Philisterei zurück und spielt auf jene Konstellation an, in der die Schwanenlegende prominent überliefert und reflektiert wird, Platons Phaidon. In dem Dialog berichtet der Sokrates-Schüler Phaidon von der Hinrichtung des Meisters und dem letzten Gespräch, das dieser mit seinen Jüngern führte; den Kern bildet ein philosophischer Diskurs über das Sterben, das Verhalten zum Tod, die Unsterblichkeit der Seele, das Schöne und Göttliche. Ähnlich wie bei Platon führt Jirous’ lyrisches Ich, ein politisch verurteilter Dichter-Philosoph, ein – möglicherweise letztes – Gespräch mit den in diesem Fall physisch abwesenden Freunden: Die Schwanengesänge adressieren ehemalige Gefährten, ins Exil Gegangene, die Familie, die Gefährtin, die Kinder, Freunde. Sie handeln vom Eingesperrtsein, den Beschränkungen, dem Abgeschnittensein von politischem Geschehen und Familienalltag, letzten Dingen, der Kunst. Deutlich weniger gelassen als Sokrates, thematisiert Jirous sich konsequent selbst: »Die authentische Person eines realen Orts und einer Zeit wird zugleich zur literarischen Maske, einer Stilisierung.«10 Jiří Trávníček macht hinter diesem Ersatz-Performativ des Weggesperrten einen »Durst nach Kommunikation« (žízeň po kommunikaci) aus, der nur über das Schreiben gestillt werden kann. Und er wird später darin ein Muster erkennen: Auch vor und nach der Haft ist es Jirous unermüdlich um einander abwech8 | D ers .: Die Kabbala als Trope im ästhetischen Diskurs der Frühromantik. In: Kabbala und die Literatur der Romantik. Zwischen Magie und Trope. Hg. v. Eveline G oodman -Thau, Gert M at tenklot t u. Christoph S chulte . Tübingen 1999, S. 135-166, hier 159. 9 | Der Mythos geht auf Kyknos, griechisch für Schwan zurück, der um seinen Geliebten Phaethon trauert, den verunglückten Lenker des Sonnenwagens. Apollo rührt die Trauer des Kyknos, weshalb er ihn in einen Schwan verwandelt. Siehe O vid: Metamorphosen. München 1998, Buch II/368-381, S. 44. 10 | Trávníček , Jiří: Běsy a stesky kajícníkovy [Des Sündenbüßers Dämonen und Sehnsüchte]. In: D ers .: Poezie poslední možnosti. Praha 1996, S. 185-198, hier 185.
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selnde, überlagernde, sich verschlingende Selbstbilder zu tun als »Ketzer, rabiater Mensch und Lästerer; als gutherziger Typ vom Stammtisch; als grimmiger Einsiedler, Verzweifelter und Lachhans; als verspielter Ironiker, sozialer Rebell und reizender Geliebter; als naiver Sonntagsdichter, Kamerad mit großem Herzen und einem riesigen Haufen Mitstreitern«.11 In einer selbst für den Underground radikalen Weise verwischt Jirous die Differenz zwischen lyrischem Ich und empirischem Autor, zwischen Kunst und Leben durch die Gestaltung seiner Texte auf der einen Seite, seine Auftritte mit ihnen oder ohne sie auf der anderen, nicht zuletzt durch exzessive Interreferenzierung. In die Gedichte sind über das Maß reale Namen, Gestalten und Begebenheiten eingewoben, Glossen und Kommentare zu politisch-historischen Ereignissen, feuilletonistische Einlassungen, Bezüge auf kanonische wie apokryphe künstlerische Werke. Magors Schwanengesänge ist ein Referenzungetüm, das für den uneingeweihten Leser eine Handreichung erfordert. Es ist Teil einer lebenslangen Automystifikation, die als ästhetisches Verfahren zu begreifen ist, die hier in seltener Konsequenz betrieben wird und wesentlich zur charismatischen Autorität der Figur Ivan Jirous nicht nur für den Underground beigetragen hat. Eine zweite Eigenheit tritt hinzu, die Radim Kopáč nicht unzutreffend, aber etwas verkürzt eine hinter den »collageartigen expressiven Ausrufen« und »kurzweiligen Wortspielen« der Schwanengesänge liegende »Gefängnisspiritualität« genannt hat.12 Tatsächlich reißen die Gottesanrufung und -reflexion des lyrischen Ich die Sammlung hindurch nicht ab, steht diese unübersehbar in der Tradition der Gefängnisdichtung eines Jan Zahradníček oder Bohuslav Reynek. Doch ihre Hommage auch an Jakub Deml und Josef Florian als Autoren der Katholischen Moderne weist über die Gefängnissituation hinaus – beziehungsweise lässt sie ins Metaphorische einer Gefangenschaft in der Welt und ihren Verhältnissen gleiten. Jirous’ Lyrik kombiniert lakonischen Witz, vulgäre Rotzigkeit und eine tief gehende religiöse Auseinandersetzung, ohne jedoch eine kontrastive Spannung herzustellen wie etwa Egon Bondys Blasphemien der Realität und der Kunst gegenüber der sozialistischen Propagandatextur. Vielmehr verstärken die Elemente sich, indem sie alle gleich ernsthaft und ernstgenommen präsentiert werden. Eine solche über das Zitat oder die Chiffre hinausgehende, heterodox spirituelle Rückbindung an die christliche Tradition unternimmt etwa auch der aus der Slowakei stammende Underground-Lyriker Andrej Stankovič. In beiden Fällen bilden Volksfrömmigkeit und naive Glaubensdichtung die Anschlussstelle – ein Erbe der kulturoppositionellen Affinität der Avantgarden zum »Primitiven« und »Autochthonen«, die wiederum in den romantischen Volks- als Authentizitätsoptimismus zurückführt. So attestiert Martin Pilař den Schwanengesängen: 11 | D ers .: »Zklamaná Panenka Marie nade mnou tiše ztrácí slzy.« [»Die enttäuschte Jungfrau Marie vergießt still Tränen über mich«]. In: Proglas 1 (2000), S. 45-47, hier 47. 12 | K opáč , Radim: Gedichte schreibt nur, wer nicht schweigt. In: L ibbánsk ý/Z eidler : Ivan Martin Jirous, S. 26-27, hier 27.
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»Der Nachhall des Dorf barock klingt aus den Kurzgedichten, die an Gebete zu Heiligen erinnern, an die Erforschung des Gewissens und das Beichtgeständnis.« Ebenso ein sich daraus speisender »aufrichtiger Naivismus« wie die von Jirous reklamierte Herkunft aus einem »alten Bauerngeschlecht«.13 Über diese Befunde hinaus geht Martin Putnas Lesart, wenn er Jirous als einen literarischen Abkömmling der »Narren in Christo«, des russischen »Jurodivyj« begreift: als einen, dessen spirituelles Ethos die gesellschaftliche Moralität unterläuft, die ästhetische Ordnung stört: Den Archetypus des Jurodivyj erfüllten die französischen poètes maudits ebenso wie die amerikanischen Beatniks – und von diesen wiederum führt der Weg geradewegs in den tschechischen Underground und zu Magor. Zu demjenigen, der um ein »eigenes Tor zum Himmel« bat. Zu demjenigen, der sich anstelle seines Namens Jirous den Beinamen »Magor« gab.14
Zwar war es ihm selbst zufolge Eugen Brikcius, der Jirous den spöttischen Kosenamen verpasste,15 doch machte Jirous ihn sich rasch zu eigen und stellte seine Selbststilisierung und -reflexion darauf ab – etwa in Zelle Nr. 20 in der KonviktskaStraße (Cela č. 20 v Konviktské). Das lyrische Ich teilt eine Gefängniszelle mit dem Mongolen Majdrdžau, der sich der Einfachheit halber »Josef« nennt und unentwegt schamanistische Gesänge intoniert. In der Zelle entdeckt der Protagonist den Glauben, verfertigt aus »Lincrusta-Tapete, Gips und Feuchte« eine Gottesstatue und bringt über der Tür das Monogramm Jesu an, JHS. Die letzte Strophe lautet: […] Ich kannte das deutsche Wort Narr und war oft so vertraut mit ihm, dass ich zu diesem Wort wurde. Jetzt weiß ich, es ist die Sonne. Und zum Mond sagen sie Sar.16
13 | P ilař , Martin: Underground. Kapitoly o českém literárním undergroundu [Underground. Kapitel über den tschechischen literarischen Underground]. Brno 1999, S. 8890, hier 90-91. 14 | P utna , Martin C.: Magorova zvláštní brána [Magors eigenes Tor]. In: Lidové noviny v. 12.11.2011, S. 21-22, hier 22. 15 | B rikcius: Magors Weg in den Himmel, S. 22. 16 | J irous , Ivan M.: Cela č. 20 v Konviktské [Zelle 20 in der Konviktska-Straße]. In: J irous: Magorova summa, S. 296-297: »[…] Znal jsem německé slovo Narr / a často jsem ho znal tak důvěrně, / že jsem se tím slovem stával. / Teď vím, že je to slunce. / A měsíci říkají sar.« – Das Gedicht entstammt dem Band Magors mystische Rose (Magorova mystická růže), geschrieben zwischen 1981 und 1987. Zu den Abweichungen in Titel und Inhalt siehe den Kommentar auf den Seiten 1059-1062.
2. Urbane Abgehörigkeit: Ivan Mar tin Jirous
Die Ineinssetzung von lyrischem Ich, Narr und Zentralgestirn lässt sich in ihrer koketten Vermessenheit zugleich als Bestätigung und Spiel mit Putnas Gedanken begreifen. Derweil verweisen die Motive des spirituellen Steppengesangs und handgefertigten Abbilds auf ein entschieden komplexes, postdogmatisches Religiositätsverständnis, dem christliche Formen nurmehr lokale Metonymie eines umfassenden Heilsversprechens sind. Als das plastische Bild aus »Tapete, Gips und Feuchte« im Gedicht so großväterlich wie grausam gen Himmel entschwindet, bleibt allein das Monogramm JHS zurück: die Hoffnung auf den Sieg der Wahrheit und die Gnade der Geschichte. Zugleich setzt Jirous damit den neutestamentarischen Universalismus gegenüber einer tradierten Stammesreligion ins Bild – wie sie in einem globalen, nachaufklärerischen Rahmen auch ein abendländisch-exklusiv fixiertes Christentum darstellt. Eine letzte, damit verbundene Eigenheit schließlich deutet der Topos des Schwans an, Jirous zufolge sein Lieblingstier.17 Im Phaidon wird der Schwan als frei von Ängsten beschrieben: »Die Menschen aber, wegen ihrer eigenen Furcht vor dem Tode, lügen auch über die Schwäne und sagen, dass sie über den Tod jammern und aus Traurigkeit sängen […].«18 Das, so Platons Sokrates, sei falsch; vielmehr verfügten Schwäne, immerhin dem Apollon zugeordnet, über wahrsagerische Kräfte und sähen »das Gute in der Unterwelt« vorher. Deshalb gingen sie ohne Angst in den Tod, sei ihr letzter Gesang nur als ein froher zu begreifen. Anders Charles Baudelaire. In Le cygne stellt er 1860 den Schwan als den aus Zeit und Ort Verbannten schlechthin vor. Das lyrische Ich flaniert durch ein modernisiertes Paris, an dessen vergangene Gestalt es sich melancholisch erinnert, Gedanken, die ihm schwerer als Fels vorkommen: »Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs.« Spiegelbildlich wird von dem titelgebenden Schwan erzählt, einst habe er sich in die Stadt verirrt und über das Pflaster geschleppt, seinen trockenen Hals vergeblich gen Himmel nach Wasser oder Zuspruch gereckt: »Comme s’il adressait des reproches à Dieu?«19 Der Schwan dünkt den Flaneur zugleich erhaben und lächerlich. Ein »Sinnbild allen Wehs« von ovidscher Trauer. Wäre er würdiger, ertrüge er seinen Verlust gelassen. Wohl ist er schwermütig wie der Flaneur, der sich in seiner Schwermut ob »seines« verlorenen Paris einrichtet. Harald Neumeyer greift diese Konstellation auf und expliziert die Juxtaposition Schwan und Flaneur:
17 | Vgl. den Proust-Fragebogen: Humpolecký Magor [Magor aus Humpolec]. Hg. v. Jarmila N eomy tková . Praha 2007, S. 97. Als zweites Lieblingstier führt Jirous die Blindschleiche an. 18 | P laton: Phaidon. In: D ers .: Sämtliche Werke. Bd. 3: Phaidon, Das Gastmahl, Kratylos. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 36. 19 | B audelaire , Charles: Le cygne / Der Schwan. In: D ers .: Die Blumen des Bösen / Der Spleen von Paris. Leipzig 1973, S. 158-163.
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Der Underground, die Wende und die Stadt Der Schwan kennt einen Ort des Nicht-Exils, der Flaneur nicht; der Schwan vermag damit sehr genau den Anlass seines Verlustes zu benennen, der Flaneur nicht; der Schwan erhebt seine Stimme nur kurzfristig im Zürnen gegen Gott, der Flaneur richtet seinen Blick nicht auf Gott. 20
So verstanden, schlägt Ivan Jirous sich in den Gefängnisgedichten auf die Seite des neumeyerschen Schwans, gegen den Flaneur – gegen Egon Bondy. Gegen die zu Welt-Flaneuren gewordenen Anderen, die Weggefährten, die ins Exil gegangen sind. Gegen die geografische Zerstreuung setzt er den Fixpunkt seiner böhmisch-mährischen Heimat, das Dorf – die Gemeinschaft. Und nimmt formal umso stärker Baudelaires Haltungsforderung auf, wenn er es in My lovers are over the oceans auch in der Ausführung bei dieser Liedzeile belässt. So hadert er zwar mit seinem Gott, derweil spielt er nie den Refrain an: »Bring back, bring back / Oh bring back my Bonnie to me, to me.« Ein Refrain, der am ehesten dem reproche des gestrandeten Schwans von Baudelaire entsprechen würde. Jirous’ »Schwanengesang« indes hält einen eigenwillig anklagenden, wehmütigen, trotzigen Ton zwischen Platon und der Moderne.
E xil , M usik , G emeinscha ft Dass sich die Literatur des Exils implizit oder explizit vor der Folie Heimat konstituiert, über den definierenden Bruch zwischen erinnerten Heimstätten und erlebten Exilstädten, vertrauten Landschaften und sich fremd anfühlenden Orten, ist ein Gemeinplatz der Forschung. »Heimat« als subjektive Identifikationskategorie nimmt unter den Bedingungen des Exils eine wesentlich schärfere Kontur an als in der Verständigung derjenigen, die zu Hause geblieben sind (oder es so empfinden).21 Zum einen, weil die Umstände im Exil in höchstem Maße identitätsverunsichernd sind. Zum anderen, weil Heimat ein Schwundbegriff ist – ein Begriff, dessen Gehalt sich allererst aus einem Verlust, aus (potenziellem) Entschwinden gebiert. Jirous dreht diese Beschreibung in ihr Gegenteil, in ein Abhandenkommen in situ. Seine Dichtung My lovers are over the oceans ist der IV. Gesang der Schwanengesänge und verarbeitet in 20 Gedichten aus 170 Versen den Weggang so vieler Weggefährten, Mitstreiter, Freunde in den Westen, meist in dessen Städte, die hier als mythische Sehnsuchts-, ja imaginäre Erinnerungsorte inszeniert werden. Der lyrische Jirous begleitet seine Figuren, die allesamt dem Bekanntenkreis des frü20 | N eumeyer, Harald: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne. Würzburg 1999, S. 123125, hier 124. 21 | Vgl. dazu K liems, Alfrun: Heimatkonzepte in der Literatur des Exils. Zwischen Erinnerung und Konstruktion. In: Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteraturen 19451989. Hg. v. Eva Behring, Alfrun K liems u. Hans-Christian Trepte. Stuttgart 2004, S. 393-437, hier 395-396. – Said, Edward: Reflections on Exile. In: Granta 13 (1994), S. 159-172.
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hen Underground entlehnt sind, an ihre neuen, globalen Heimaten. Dies macht er mit derselben Enumerationstechnik, die zumal Pop und Underground sonst zur Herstellung einer hermetischen Atmosphäre vertrauten Insidertums dient. So entzieht sich seinem Sprecher die Heimat in ein anderswo – während das lyrische Ich zurückbleibt, nach der Verhaftung zurückbleiben muss in einem verdoppelten Binnenexil. Das Konzept »Heimat«, eigentlich auf räumliche Integration angelegt, wird zum Ausdruck negativer Bezogenheit. Die Gruppe der gewaltsam Exkludierten wird universal. Mit den Geflohenen verlässt die Heimat den Zurückbleibenden. Mit dessen Repressionserfahrung wird ihm selbst die Heimat un-heimlich, die Kommunikation versiegt ins Poetische. Alle Pakte erlöschen: Das Schreiben geht stockend und schwer ach wenn doch nur Brikcius hier wär schwer ist das Leben und grau ich vermiss Eugen wie eine Frau --Während sich Liška und Brikcius schon freu’n auf den Oxforder Pub krieg ich hier kaum noch Luft vor Verdruss: mal wieder eins auf’s Maul gekriegt hab! Während auf ’ne Oxforder Bar sich freuen Tomáš und Eugen ist für mich nur Knastgulasch da: musst’ mich schon wieder beugen! Während für mich im Gotteshaus Brikcius und Tomáš niederknien lachen mich die Kalenderseiten aus: dein Pech – bist halt hiergeblieben! --Das Schicksal hat mich nicht gesegnet Voják macht sich in Manhattan dünn auch Sanders bin ich nicht begegnet hab’s verpasst jetzt ist die Chance hin
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Der Underground, die Wende und die Stadt --Ihr geht in Paris spazieren ich betrachte Kittchentüren vertraute Gitterwand Wieder wird das Kraut gerieben sind im Herbst die Nächte lang will gar nicht erst das Lästern kriegen und fange schnell zu beten an Dein Wille geschehe – oh Herr doch bevor ich Sauerkraut wär ist dein Rausschmiss dran --[…] Vráťa schaut sich jetzt den Prater an. Bruder Karásek im Schweizerland legt sein Leben nun in Gottes Hand. In der Provence treibt Charlie sich rum. Bin ich denn als Einziger so dumm? Bei Laotse soll geschrieben stehen: Ein Weiser muss nicht ins Ausland gehen. Weiser war noch kaum jemand: zum Käfig wurde mir mein Land. --Sobald es den Dichtern dreckig geht, gleich ’ne Reise nach Wien ansteht. Das Schreiben versauter Gesänge Míra Skalický hier gut gelänge, verschwand jedoch nach Österreich – schreib du für mich sagt er noch gleich. So sing ich Blues-Gesänge und Elegien, denn nach Australien will ziehen nun Charlie wieder. Betrübt bin ich und ein leiser Vorwurf fiel mir ein hier hinter dem Jičíner Klostergestein: Oh Dichter, was seid ihr für Tassen, wie konntet ihr die Chance verpassen!
2. Urbane Abgehörigkeit: Ivan Mar tin Jirous Hinterm großen Meer grämt sich Hutka sehr er spitzt den Mund wie ein Fisch zu gehen war einfach idiotisch --Pavel Wilson ist über’n Teich, und seine Frau Helenka auch noch gleich, seine Frau Wilsonová. Paul Wilson der hat rübergemacht, das heißt für uns bestimmt Gut’ Nacht, oh je, bestimmt, Gut’ Nacht. Übers Meer sind die Wilsons fort, oh je, über das Meer, wir hingegen ackern hier sehr, in Demut ackern wir schwer, bis in uns kein Leben mehr. 22
Den historischen Hintergrund für My lovers are over the oceans bildet die verschärfte Verfolgung des Underground, die sich mit der wütend als »Massaker« apostrophierten gewaltsamen Konzertauflösung von Rudolfov bei České Budějovice am 30. März 1974 abzuzeichnen begann und in den Künstlerprozessen von 1976 kulmi-
22 | Jirous: Magorovy labutí písně, S. 53-55: »Těžko píšu bez Brikciuse / útržkovitě jen a kuse / těžko zde žiju bez Evžena / toužím po něm jak byl by žena // Zatímco Liška s Brikciusem / míří v Oxfordu do pubu / zalykám já se tady hnusem: / zase jsem dopad na hubu! // Zatímco Evžen s Tomášem / míří do pubu v Oxfordu / cpu se vězeňským gulášem: / znova jsem dostal na mordu! // Zatímco za mne v refektáři / modlí se s Brikciusem Tomáš / smějí se mi dny v kalendáři: / zůstal jsi tady – tak to máš! // Osud byl ke mně asi drsnej / Voják mi zmizel v Manhattanu / minuli jsme se se Sandersem / co nestih jsem už nedoženu // […]. Touláte se po Paříži / já si stejný vzorek mříží / znovu prohlížím // Zas se bude zelí krouhat / zase na podzim / protože se nechci rouhat / raději se pomodlím // Tvojí vůlí Bože je-li / abych nezkys jak to zelí / rád Ti vyhovím. // […] Vráťa teď okukuje Prátr. / Bratr Karásek ve Švýcarsku / dokazuje svou k Bohu lásku. / V Provencálsku se Charlie toulá. / Jenom já že bych byl ten moula? / Lao-Tsi kdysi řekl k tomu: / Mudrc nemusí vyjít z domu. / Moudřejší snad už nikdo není: / dům zaměnil jsem za vězení. // Když básníkům je prabídně, / uchylují se do Vídně. / Lehce by Míra Skalický / skládal tady blues falický, / však do Rakouska odhopsal – / já za něho teď abych psal. / Tak zpívám blues i elegie, / že do daleké Austrálie / míří zas Charlie. Teskno mi je / a výčitka mi přišla mírná / v klášteře tady u Jičína: / Ó básníci, jací jste kanci, / jak zmrhali jste svoji šanci!« – Nachdichtung v. Rainette L ange.
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nierte.23 Der danach anhaltende Druck trieb bis Ende der 1980er Jahre zahlreiche Protagonisten der Szene in die Emigration. Dort hielten sie zwar möglichst Kontakt untereinander und mit den Daheimgebliebenen, schufen nicht zuletzt Exilverlage, die herausgeschmuggelte Werke veröffentlichten, in einem gewissen Maße globalisierte Plattformen. Dennoch schwächte der beständige Aderlass die Opposition im Land. Rückblickend sprach Ivan Jirous 2012 von einer »klaffenden Wunde«.24 Hinzu kam, wie Milan »Mejla« Hlavsa von den Plastic People beobachtete, dass der Underground nach den politischen Prozessen von 1976 an spielerischer Leichtigkeit verlor, sich Angst und Misstrauen in die »Familie« einzuschleichen begannen, Verdächtigungen, Spitzelei, Verhöre, Verhaftungen zunahmen. Schließlich wurde mit den immer neuen Auswanderungsentscheidungen die Frage nach Gehen oder Bleiben ähnlich wie in der Ost-Berliner Prenzlauer-Berg-Szene zu einer streitträchtigen Glaubenssache. So beschreibt Hlavsa, wie er Brabenec zum Zug begleitete: »[...] und da heulten wir auf dem Bahnhof wie zwei alte Huren, [...]. Das war damals eine Zeit, wo der Freund den Freund verfluchte, weil der sich entschlossen hatte zu emigrieren, um gleich darauf selbst zu emigrieren.«25 Für Jirous kam – wie für Egon Bondy oder Václav Havel – eigenen Angaben zufolge die Flucht ins Exil nie in Frage. My lovers enthält denn auch mehr als den eingeräumten »leisen« Vorwurf, wenn die fortgegangenen Weggefährten nun vermeintlich in den Bars und Pubs von Oxford herumsitzen, durch Manhattan oder Paris flanieren, den Wiener Prater besuchen, in der sicher-soliden Schweiz oder dem abenteuerlich-exotischen Fernziel Australien gelandet sind – dann allemal bei besserem Essen als selbstgeriebenem Kohl und »Knastgulasch«. Von der Lebenswirklichkeit der meisten Emigranten dürfte das so weit entfernt gewesen sein wie manches sehnsuchtsvolle Exilgedicht von der realen »Heimat«. Nicht nur die Wege trennten sich, sondern auch die Phantasmen. Darauf wird zurückzukommen sein. Nichtsdestoweniger hält die Bitterkeit sich über lange Passagen in Grenzen und bleibt namentlich der Topos des Verrats zunächst unangesprochen – gemäß der jirousschen Grundkonstellation, in der ja nicht der Einzelne die Heimat, sondern 23 | Siehe zur Mythisierung des Prozesses Bolton, Jonathan: Legends of the Underground. In: Ders.: Worlds of Dissent. Charter 77, The Plastic People of the Universe, and Czech Culture under Communism. Cambridge, MA-London 2012, S. 115-151. – Außerdem die Neuedition und Bewertung der Prozessakten und Dokumente: »Hnědá kniha« o procesech s českým undergroundem [»Braunbuch« über die Prozesse gegen den tschechischen Underground]. Hg. v. Martin Machovec, Pavel Navrátil u. František Stárek Čuňas. Praha 32012. 24 | J irous, Ivan M.: Český underground. Geneze a přítomnost hnutí [Der tschechische Undergrund. Zu Genese und Gegenwart der Bewegung]. In: K arlík , Viktor: Podzemní práce. Zpětný deník. Praha 2012, S. 232-233, hier 233. – D ers .: O české undergroundové literatuře v 70. a 80. let [Über die tschechische Underground-Literatur der 1970er und 1980er Jahre]. In: Iniciály 8-9 (1990), S. 1-3, hier 3. 25 | H lavsa , Mejla/P elc, Jan: Bez ohňů je underground [Kein Feuer im Underground]. Praha 22001, S. 173.
2. Urbane Abgehörigkeit: Ivan Mar tin Jirous
die Heimat ihn, den Einzelnen verlassen habe. Und so rekonstituiert er sie nun, die Heimat-Gemeinschaft, in dem bereits angesprochenen Modus der chiffrierten Aufzählung: Vratislav Brabenec, Eugen Brikcius, Jaroslav Hutka, Svatopluk Karásek, Tomáš Liška, Jiří Němec alias Starý, Míra Skalický, Otakar Slavík, Paul Wilson, Karel Voják, Pavel Zajíček. Die Anspielungen auf Werke, Orte und Ortswechsel, Ereignisse, Erlebnisse, Bezüge und Beziehungen bilden ein Konkretheitsgewebe, das sich faktisch ohne Insiderwissen – oder Kommentar – nicht erschließt. Martin Machovec meint dazu mit Blick auf einen anderen Autor: »So wie im Fall des literarischen, vor allem lyrischen Werks von Jirous, Bondy, Pánek, Zajíček, Quido, Benýšek, Plíšková oder Stankovič, muss auch das Werk von Brabenec als Vermächtnis, als Lebenschronik aus dem Underground-Ghetto der 1970er und 1980er Jahre betrachtet werden.«26 Ähnlich beschreibt Martin Putna in seiner Havel-Biografie die Underground-Literatur als eine, die vor allem Zeugnis ablege: Über die Sicht auf die Welt, die die Kommune als Ganzes hat, und über die Schicksale ihrer einzelnen Mitglieder. Für die Außenwelt, die uneingeweihte, sind all die Anspielungen, Spitznamen, Allusionen und Kürzel, über die innerhalb der Gemeinschaft kommuniziert wird, oftmals nur schwer zu verstehen. Eine Schlüsselrolle spielen NAMEN: Namen konkreter Personen, ihre Schicksale verwandeln sich in gemeinschaftliche – und allmählich auch in nationale Mythen. 27
Diese letzte Funktion der Mythenbildung oder Automystifikation durch Hermetik ist bereits im vorhergehenden Kapitel mit Blick auf Bondy angesprochen worden. Jirous nun bildet gleichsam die Innenseite des Mythos ab, zelebriert den Underground als Gemeinschaft, ja Sippschaft. In Retroaktives Tagebuch (Zpětný deník), seiner Einleitung zur Prager Ausstellung Untergrundarbeit (Podzemní práce) von 2012, bezeichnet der Künstler Viktor Karlík rückblickend die Sippe als das Bindemittel des Underground. Er sei eine »Gemeinschaft« gewesen, eine »Familie«, die das Bedürfnis hatte, »zusammen zu sein« (chuť být spolu).28 My lovers rückt die Namen und ihre unaufgeschlüsselten, kommentarlos angerissenen Erzählungen eng aneinander zu einem poetischen Statthalter des in »die Diaspora« verstreuten »fröhlichen Ghettos«, wie es zu Ende des Gedichts heißt. Zugleich scheint darin der »Benennungsfuror« als Verfahren auf, um (sub-)kulturelle, generationelle und regionale Identitäten zu behaupten, was in den folgenden Kapi-
26 | B rabenec , Vratislav: Sebedudy a jiné texty z let 1966-1987 [Ich-Dudelsack und andere Texte aus den Jahren 1966-1987]. Hg. v. Martin M achovec . Praha 2010, S. 265-266. 27 | P utna , Martin C.: Václav Havel. Duchovní portrét v rámcu české kultury 20. století [Václav Havel. Ein geistiges Porträt im Rahmen der tschechischen Kultur des 20. Jahrhunderts]. Praha 2011, S. 172. 28 | K arlík , Viktor: Zpětný deník [Retroaktives Tagebuch]. In: K arlík : Podzemní práce, S. 4-6, hier 4-5.
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teln noch verschiedentlich zu beobachten und als eine der markanteren Verbindungen zwischen den Ästhetiken von Underground und Pop auszuweisen sein wird. Zu diesen gehört auch die zentrale Rolle der Musik. Seit 1968 arbeitete Jirous mit The Plastic People of the Universe zusammen. Er hatte die Musiker um Milan Hlavsa in einem Klub in Prag-Smíchov kennengelernt und überredet, sie am nächsten Tag zu einem Happening seiner Schwester, der Künstlerin Zorka Ságlová, in die Provinz zu begleiten.29 Daran schloss sich eine jahrzehntelange künstlerische Zusammenarbeit an. Hlavsa beschreibt die Lektion als Initiation für eine Gruppe, der Musik-, Kunst- und Literaturgeschichte, die dazugehörigen Theorien praktisch unbekannt waren.30 Zu den maßgeblichen Impulsgebern der Formation zählte namentlich The Velvet Underground mit Lou Reed, John Cale und deren kurzzeitigem Mentor Andy Warhol. Hlavsa, Bassgitarrist der Plastic People, meinte rückblickend, dass Velvet Underground damals in Prag wohl berühmter gewesen sei als in New York.31 Außer dem minimalistischen Stil von The Velvet Underground, der später über David Bowie, Brian Eno und Bob Dylan in den amerikanischen Mainstream gelangte,32 ließen Jirous und die Plastic People sich vom (weißen) Blues eines Frank Zappa inspirieren, von Captain Beefheart, Tom Waits oder The Fugs. Eine amorphe, globale Rebellion. In Anspielung auf Warhols Rolle für The Velvet Underground nannte Eugen Brikcius Jirous denn auch »Varholec«.33 Insgesamt ergibt sich eine offenkundige Nähe zur Mythenwelt der Beat-Generation, über die Heinrich Detering am Beispiel des jungen Bob Dylan schreibt, in ihrem Mittelpunkt habe der »heilige Outlaw« gestanden, »der amoralische Moralist und Märtyrer«, der »aufbegehrt gegen den universalen Verblendungszusammen29 | Ságlová ließ die versammelte Gemeinschaft 37 blaue, grüne und orange Bälle in den Teich von Průhonice werfen. Dabei sollte im Sinne der Land Art »eine fließende Skulptur entstehen«, die Natur zum künstlerischen Mitspieler werden. – Fabritius, Heinke: Zorká Ságlová und The Plastic People of the Universe. Netzwerke des böhmischen Untergrund: Aktion – Musik – Land Art. In: Spielplätze der Verweigerung. Gegenkulturen im östlichen Europa nach 1956. Hg. v. Christine G ölz u. Alfrun K liems. Köln-Wien-Weimar 2014, S. 6683, hier 71. – Siehe dazu auch Hlavsa /P elc: Bez ohňů je underground, S. 37-38. – Jan Ságl, der Ehemann, wurde später zum Fotochronisten des Underground. Vgl. Ságl , Jan: Tanec na dvojitém ledě/Dancing on the Double Ice. Praha 2013. 30 | H lavsa /P elc : Bez ohňů je underground, S. 48. 31 | Ebd., S. 31. – Siehe auch die Erinnerungen von J irous , Ivan M.: Pravdivý příběh Plastic People [Die wahre Geschichte der Plastic People]. Praha 2008, S. 83-180. – Angetreten als Schülerband, hatte die Gruppe einige Namen, bevor sie sich für The Plastic People of the Universe entschied. Davor figurierte sich kurzzeitig auch unter New Electric Potatoes. Zum Bandnamen u.a. B olton: Legends of the Underground, S. 118. 32 | Ross , Alex: The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören. München-Zürich 2009, S. 559-561. 33 | B rikcius: Magors Weg in den Himmel, S. 22.
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hang von Macht, Korruption, Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit, ein Straßenkämpfer wider Willen«, ein »unfrommer Heiliger«.34 Indes verliert das Religiöse bei Dylan nie den metaphorischen Charakter, während es bei Jirous aufs Wort gemeint daherkommt. Dylans Nähe zum Erlöser ist herangetragen, die von Jirous selbstkonstruiert. Gerade Ivan Jirous verband beide Künste, Wort und Ton, nicht nur biografisch, sondern programmatisch und prominent mit dem bereits erwähnten Manifest Bericht über die dritte tschechische musikalische Wiedergeburt (Zpráva o třetím českém hudebním obrození) von 1975, in dem er »Raserei« (zběsení) und »Demut« (pokora) zu Schaffensprämissen des Underground erhob.35 Er führt indes noch eine dritte konstitutive Komponente an, eben jene performative Poetik vom Underground als Sippe oder Stamm. Alle drei Elemente verbinden sich zu der Hoffnung auf eine aus dem Geist der (Punk-)Musik wiederzugewinnende Kultur des Mündlich-Magischen, der archaischen Einfachheit, von Primitivismus und Dilettantismus als Garanten für Authentizität. »Habt keine Angst vor dem Aufruhr«, beginnt Jirous mit einem Zitat Mao Tse-tungs; anschließend schildert der Bericht einen »Auszug« von Künstlern aus Prag nach Lísnice zu einem Konzert. In der weiten Winterlandschaft verschmelzen Musiker und Fans für Jirous zu Hussiten auf dem Weg in die Schlacht – die der Antichrist vom Kämpfen abhalten will, respektive ein Stellvertretender Parteisekretär vom Konzert. Jirous belässt die Evokation des tschechischen Nationalmythos nicht bei diesem Bild, sondern setzt sie geradezu strategisch ein. Erstens im sprachlichen Duktus, der sich am ehesten mit dem einer Predigt vergleichen lässt. Jonathan Bolton hat zudem auf die Häufung des Worts oslavovat in dem Text hingewiesen: »jemanden ansprechen«. Den Hussiten ging es genau um die Ansprache, die freie – und nicht auf Latein, sondern im Volksidiom gehaltene – Predigt. Analog gibt Jirous nicht nur die Parole aus, nach den englischen Songs nunmehr auf Tschechisch zu singen, sondern fasst seine Ausführungen zur Geschichte des Underground, zu dessen kunsttheoretischen Positionen sowie zum Sinn von Happenings in bemerkenswert eingängige, verständliche Worte. Zweitens besteht das literarische Erbe der Hussiten primär aus religiösen Gesängen und Streitliedern, über die Roman Jakobson 1936 bemerkte: »Jeglicher eigenständige Reiz des Verses, der so wirkt, dass der Hörer mehr Aufmerksamkeit dem
34 | D etering , Heinrich: Bob Dylan. Stuttgart 2007, S. 19. 35 | J irous , Ivan M.: Zpráva o třetím českém hudebním obrození [Mitteilung über die dritte tschechische musikalische Wiedergeburt]. In: D ers .: Magorův zápisník. Hg. v. Michael Š pirit. Praha 1997, S. 171-198. – Eine erste deutsche Fassung findet sich in: Underground im Ostblock. Hg. v. Thierry Wolton . Berlin 1978, S. 9-44. Der Text ist mit Die Plagen des tschechoslowakischen Underground überschrieben und mit »ein Sympathisant von Plastic People« unterzeichnet.
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Zeichen schenkt als dem Bezeichneten […] wird scharf verurteilt.«36 Jirous stellt die Underground-Songs gewissermaßen in diese Tradition und fordert mit Jeff Nutall und Egon Bondy, da die Menschen nun einmal »scheißen, pissen und vögeln« würden, sollten die »Troubadoure« des Underground davon gefälligst auch singen. Zugleich beruft er sich für seine Musikästhetik auf die spätmittelalterliche Erneuerungsbewegung und setzt die Ablehnung schönheitlicher oder intellektueller Perfektion als bloße Kunstfertigkeit in Parallele zur musikalischen Praxis der Hussiten, unter denen die »Instrumentalmusik einen Niedergang erlebte« und »Orgeln nicht zugelassen waren«.37 Nun kommen Rock, Pyrotechnik und Blasmusik auf die Bühne, kann alles zum Instrument werden von der Eisenkette über den Staubsauger bis zur Schreibmaschine. Die Aufführung wandelt sich ostentativ zur Kulthandlung, versetzt mit Anleihen bei Seelenlehre, Kabbala und Keltenmythos, Tieropfer – von Hühnern – eingeschlossen. Drittens und am offensichtlichsten dient der historische Rekurs zur Legitimierung und Überhöhung des eigenen Konflikts mit dem »Establishment«, dessen kleinster Funktionär dergestalt eben zum Antichrist avancieren kann. Kompromisse mit jeglicher Konformität, Haareschneiden etwa, sind nichts weniger als Versuchungen des Satans.38 Die Staatspartei wird damit in die Nachfolge römisch-weltlicher Klerikermacht gerückt, der die Hussiten das Ideal einer besitzlosen Kirche und materiell desinteressierten Spiritualität entgegenstellten. War Jirous Jonathan Bolton zufolge allgemein »alive to the romance of small groups held together by music and the spoken word«,39 so finden sich im Manifest konkrete Anklänge an die politisch-kommunale Ethik der Hussiten, deren radikaler Flügel, die Taboriten, Gottesstaat und Gütergemeinschaft propagierten. Näherhin stellt der Bericht die neue Gemeinschaft ganz ähnlich derjenigen der Schwanengesänge vor: »Wir sprechen von Menschen, die gemeinsam in einem geistigen Ghetto leben, das nicht von einer Mauer umgeben ist, sondern über eine fremde und feindliche Welt verstreut.«40 Egon Bondy wird diese, wenn man so will, Wertegemeinschaft innerhalb einer verheerten Gesellschaft etwa zur selben Zeit fiktional inszenieren – in dem bereits mehrfach erwähnten Roman Die invaliden 36 | Jakobson, Roman: Dichtung und Gesellschaft (am Beispiel der Hussitendichtung, 1936). In: D ers .: Poetik: Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hg. v. Elmar H olenstein u. Tarcisius S chelbert. Frankfurt am Main 1979, S. 220-232, hier 228. 37 | B aumann , Winfried: Die Literatur des Mittelalters in Böhmen. Deutsch-LateinischTschechische Literatur vom 10. bis zum 15. Jahrhundert. München-Wien 1978, S. 79. 38 | Zur Verfolgung von »Langhaarigen« (vlasatci) auch in anderen Ländern Ostmitteleuropas und mit einem vergleichenden Blick auf den Westen siehe den Dokumentenband: P ospíšil , Filip/Blažek , Petr: »Vraťte nám vlasy!« První máničky, vlasatci a hippies v komunistickém Československu [»Gebt uns unsere Haare zurück!« Die ersten Gammler, Langhaarigen und Hippies in der kommunistischen Tschechoslowakei]. Praha 2010. 39 | B olton: Legends of the Underground, S. 127. 40 | J irous: Zpráva, S. 195.
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Geschwister (Invalidní sourozenci), jener »Bibel des Underground«, von der Pavel Zajíček beim Lesen schwärmte, das sei ja wie im Märchen:41 die Feier der Leiblichkeit; das Leitmotiv des Fests; Tanz und Musik als gesellschaftspolitische Demonstration. Jirous’ Bericht stellt gleichsam den Katechismus zu Bondys Evangelium dar. Vieles von dem, was die neue Lehre verkündet und ihre Propheten leben, findet sich bereits in den Avantgarden und namentlich unter dem Label »Boheme«: ein »Meister-Jünger-Verhältnis«; das Transitorische in Kunst, Verhältnissen und Existenz; die lustvolle, gesellige Devianz; das »intensivierte Dasein« und »das nihilistische Disengagement«; der »extremistische Nihilismus«. 42 Letzterer im Underground gegenüber der politischen Religion und Theologie des Sozialismus, in beiden Fällen durchaus mit großer Offenheit für Esoterisches. Deren Überführung in eine genuine Gegenreligiosität oder eher Gegenspiritualität indes macht den einen zentralen Aspekt des jirousschen UndergroundKonzepts aus, der es nicht lediglich als eine Radikalisierung, sondern etwas Neues charakterisiert. Der zweite ist die forcierte Betonung des Performativen, das sich jenseits der unmittelbar zu identifizierenden Kunstereignisse in einer Masse an Fotos und Amateurfilmen äußert, in als Hochzeiten inszenierten Happenings und als Happening begangenen Hochzeiten, 43 im Trinkgelage, dem Tanz und immer wieder der Ekstase. Der dritte, mit beiden anderen verbundene Aspekt ist die Transzendierung von Geselligkeit zur archaisierenden Gemeinschaft, in Sippenhaftigkeit, ja Rudel. Neu freilich in Hinsicht auf die Boheme heißt längst nicht »ganz neu«. Im Gegenteil führt der Themenkreis dieser Aspekte zurück bis auf die hierin höher und innovativer gestimmte Romantik.44 Nur einer in einer langen Kette, hat sich Ferdinand Tönnies der zugrundeliegenden Problematik bekanntlich unter den Etiketten »Gemeinschaft und Gesellschaft« genähert und Gemeinschaft als das Andere der rationalisiert-entfremdeten Gesellschaft benannt: »organisch«, »ursprünglich«, »natürlich«, »lebendig«, »bejahend«.45 Terminologisch an Tönnies anknüpfend und sich unter anderem auf Georges Bataille stützend, hat wiederum Jean-Luc Nancy 1983 in La communauté désœuvrée die These der von »Gesellschaft« kontinuierlich und unentrinnbar erodierten »Gemeinschaft« als Phantasma zurückgewiesen.46 Für Nancy kennzeichnen »Gemeinschaft« namentlich Mit-Sein, Innerlichkeit und Einswerdung: »Die Gemeinschaft ist das ekstatische Bewusst41 | B olton: Legends of the Underground, S. 126. 42 | K reuzer, Helmut: Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart 1968, S. IX-XVI. 43 | Siehe die jeweils als »Musikfestival der zweiten Kultur« (Hudební festival druhé kultury) angekündigten Aktionen (I/1974 in Postupice, II/1976 in Bojanovice, III/1977 in Hrádeček). 44 | Vgl. dazu das Kapitel über E.T.A. Hoffmann. 45 | T önnies , Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriff der reinen Soziologie. Neudruck v. 1887. Darmstadt 1988, S. 3-7. 46 | N ancy, Jean-Luc: Die entwerkte Gemeinschaft. In: D ers .: Die undarstellbare Gemeinschaft. Stuttgart 1988, S. 9-89, hier 21 u. 26.
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sein des Dunkels der Immanenz, insofern als ein derartiges Bewusstsein die Unterbrechung des Selbst-Bewusstseins ist.«47 Indes kann sie stets nur eine »entwerkte« sein, ist sie nicht willentlich »erzeugbar«, kein mögliches »Werk«.48 Derweil handele es sich bei der »verlorenen Gemeinschaft« um ein so verbreitetes wie kurzschlüssiges »Phantasiegebilde«.49 Vielmehr sei sie unverlierbar, eine unentwegt zu realisierende Gabe, deren Spuren sich noch in der letzten »sozialen Einöde« fänden.50 Sie erweist sich als immenente Transzendenz und dauerhaft widerständig. Ethel Matala de Mazza erblickt in ihrer Auseinandersetzung mit der politischen Romantik die Produktivität dieses nancyschen, stark auf Friedrich Schlegels Projekt einer »Neuen Mythologie« bezogenen Gemeinschaftsbegriffs nun insbesondere darin, dass er nicht normativ sei, keinen »Oktroi einer Eintracht unter Gleichen« voraussetze, auch nicht in ihrer schwachen Form einer »normativen Selbstverständigung« im Sinne habermasscher Diskursethik.51 Kein Zustand, sondern eine Praxis, biete sie die Option einer »Ästhetik der ›Mit-Teilung‹, die auf nichts als das Gemeinsam-Sein singulärer Individuen spekuliert«.52 Cum grano salis beschreibt das durchaus die Gemeinschaftsambition des Underground nach Jirous, in Praktiken, Bildern und Diskursen das GemeinsamSein zu zelebrieren, sich kollektiv selbst als eins und doch divers zu erfahren. Stellen sich zwei Fragen: die nach dem faktischen »Gelingen« und die der Diskrepanz zwischen Nancys »Entwerkung« und dem jeder Programmatik eingeschriebenen Erzeugungsoptimismus. Über ein »Gelingen« zu urteilen scheint im Rahmen einer Analyse ästhetischer Verfahren letztlich müßig. Erwähnt sei immerhin Milan Kunderas skeptischer Hinweis zum Vermögen der Ekstase, die (Rock-)Musik verwandele »die Individuen in einen einzigen kollektiven Körper: Hier von Individualismus und Hedonismus zu sprechen, ist eine der Selbstmystifikationen unserer Zeit«.53 Die eingangs problematisierte fundamentale Aporie wäre dann zumindest in dieser Form nicht gelöst, sondern eher im Mythos geborgen – inwieweit das subjektiv ihrer Aufhebung gleichkommt, mag dahingestellt bleiben. Für ein Verständnis der zugrundeliegenden Poetologie weiterführend ist die Beobachtung, dass Nancys Gedanke der »entwerkten«, der nicht erzeugbaren, nur realisierbaren »Gemeinschaft« von Jirous einerseits vorweggenommen, andererseits hintergangen wird. Denn eben hier findet seine spirituelle Religiosität 47 | Ebd., S. 47. 48 | Ebd, S. 69. 49 | Ebd., S. 31. 50 | Ebd., S. 77. 51 | M atala de M azza , Ethel: Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg im Breisgau 1999, S. 38. 52 | Ebd. 53 | K undera , Milan: Improvisation zu Ehren Strawinskys. In: D ers .: Verratene Vermächtnisse. Essays. München-Wien 1994, S. 57-96, hier 90.
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ihren systematischen Ort. In einem durchaus kruden, derweil stringenten, genuin offenbarungs-»evangelischen«, mithin das Hussitenthema reflektierenden Sprung verlagert er den neu-schöpferischen Akt der Transzendierung von Immanenz in ein Wirken des Transzendentalen selbst. Seine performative Ästhetik spekuliert auf eine erlösende Instanz. Der Gemeinschaft bleibt der Nach-Vollzug oder die Annahme. Sie vollzieht sich in den paradigmatischen Metaphern von Glaube-Liebe-Opfer – damit die romantische Aneignung der paulinischen Trias aufgreifend und deren Pathos einer heroischen, getrosten Welt-Resignation, die nicht zuletzt in der Figur des Narren mitschwingt. Glaube meint dann ein Für-wahr-Halten der möglichen Freiheit in Gemeinschaft einerseits, der Gemeinschaft aufgrund (poetischer) Berufung und stark signifizierter Devianz andererseits. Mit Liebe ist zwar auch die (freie) körperliche Liebe gemeint, indes als Ausdruck der geöffneten Metanorm einer emphatischen Empathie. Das Opfer schließlich verweist auf die obrigkeitlichen Kränkungen – implizit vor allem auf eine stellvertretende Inhaftierung, die Anspruch auf Metonymie erhebt. Und die damit Nancys These einer »undarstellbaren Gemeinschaft« direkt widerspricht. Es ist dieses Selbstgefallen am Erleiden, das den jirousschen Underground auch von einer mit Nancy verstandenen Romantik abkoppelt, sie doch wieder ins Normative zurückverschlingt: ins Absolute einer unverfügbaren Transzendenz. So beklagt Vlastimil Brabenec im Nachwort zu Milan Hlavsas Erinnerungen an die Zeit mit den Plastic People, dass die Menschheit in dem Moment ihr Gedächtnis verloren habe, als der Buchdruck aufkam und mit ihm die Bibliotheken, die Archive: »Früher haben wir die Wölfe verstanden, heute können wir uns nicht einmal mehr mit unseren eigenen Hunden verständigen.« Und fügt hinzu: »Das ist kein gutes Nachwort. Das weiß ich selbst, verehrter Leser. Aber auch ein Liedchen geschrieben aus Liebe muss nicht gut sein. Von Bedeutung ist nur, ob es wirklich aus Liebe geschrieben wurde.«54 Das Experiment mit der Gemeinschaft endet in der Verabsolutierung des Mythos.
R aus aufs L and! Last night as I lay on my pillow Last night as I lay on my bed Last night as I lay on my pillow I dreamt that my Bonnie was dead S chot tische Volksweise
Durch My lovers are over the oceans zieht sich ein eigentümlicher Riss, der oben schon angeklungen ist. Da ist einerseits die entlaufene Heimat, die erinnerungs54 | B rabenec , Vratislav: Doslov k ohňům [Vorwort zu »Kein Feuer«]. In: H lavsa /P elc : Bez ohňů je underground, S. 189-194, hier 193.
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gleiche Intimität mit den Exilorten der Freunde, die entortete Gemeinschaft des Underground. Und andererseits eine Aufkündigung dieser »Liebe«, wie sie sich bereits in den zunächst milden Vorwürfen des Häftlings äußert und in der Repräsentation der westlichen Metropolen als einer Metastadt des Vergnügens wie frei schweifender Saturiertheit. Wie von der Gravitationskraft der Bitterkeit, vor allem aber den basalen Topoi Gemeinschaft und Heimat zurückgezogen, kippt im Verlauf des Gedichts der Ton und wird die Bildsprache nicht mehr primitivistisch, sondern traditionell archaisch. Und folgt nun doch die poetische Exklusion der Abgewanderten. Namentlich werden der Maler Otakar Slavík und der Komponist Bohuslav Martinů angesprochen. Während das lyrische Ich regelrecht schwelgt in dem Gedanken, dass der nach Wien emigrierte Slavík als »Fremder« wohl nie in böhmischer Erde ruhen werde, fügt es dem durch die Erwähnung Martinůs noch eine sardonische Pointe hinzu: Martinů war erst vor den Nationalsozialisten über Paris in die USA geflohen, dann zurückgekehrt, nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 in die Schweiz gegangen und dort gestorben. 1979 wurde sein Leichnam in einer nächtlichen Aktion vom tschechischen Geheimdienst exhumiert, in die Tschechoslowakei überführt und mit einem Staatsbegräbnis mehr vergewaltigt denn geehrt. Zugleich bringt Jirous nun klassische Motive der spätromantischen und der Exilliteratur ins Spiel – aufkommende Winterkälte, das Grau und die Trostlosigkeit des Herbstes, verblühende Hortensien: Unter modriger Flagge dösen die böhmischen Wappenlöwen mit Doppelschwanz Wenn Slavík seine Leinwand firnisst wohl auch er die Löwen fast vergisst ganz Ach könnt’ er ein Bild von den Tieren doch wenigstens umrisshaft schmieren auf die Leinwand mal Barbar Otakar --Ein Platz auf dem Týnecer Gräberfeld ist für Fremde nicht bestellt Slavík wird hier nie liegen keine Grabstätte kriegen
2. Urbane Abgehörigkeit: Ivan Mar tin Jirous Leer ist Týnec der Ort so leer dass man erfrieren könnt’ hier auf dem Friedhof ein Hort ist dem Otakar nicht vergönnt Trostlos ist Týnec der Ort trostlos und niedergeschlagen Otakars Kranz der wird dort niemals zu Grabe getragen Kein Glockenklang weit und breit zu Slavíks letztem Geleit Týnec steht nicht am Sarg kein Abschied am frischen Grab Soll er doch im Ausland was finden nicht einen Kranz wird Týnec ihm winden es sei er kommt Heim zur letzten Ruh nach Jahren erst wie der Martinů --Es fällt mir gerade ein Reim zum Gruß an Starý nicht ein Einst wollt er fortgehen in jenen Tagen dem Unheil so ein Schnippchen schlagen Soll ich’s begreifen als einen Hinweis dass ich hier feststeck’ im Moskauer Eis? --Ich lese in Stevensons Vorwort über Starýs Sinn des Opfers steht was dort. Nun, wie geht’s, wie ist’s am fremden Ort? Bist Doktor Jekyll du eher oder Mister Hyde viel mehr? Du beim Whisky, wir beim Bier. Woran wir verrecken, daran sterben wir. ---
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Der Underground, die Wende und die Stadt […] Aus dem Schlachthof der Rinder Klagelaute Brabenec über Berg und Tal abhaute in der Kneipe läuft heimlich seine Mucke, doch ist das drüben dem Brabenec schon schnuppe. --Meer, Deine Insel wird wegströmen ins nächtliche Suecia 55 ich leb suizidal in Böhmen vertrocknet blüht die Hortensia im herbstlichen Walditz dieses Jahr Geliebte Gesichter werden rar in der Diaspora das Ghetto munter wie eine Kerze deren Docht fast runter wie eine Kerze mit nur spärlichem Licht ist unser Leben kein Leben nicht Vertrocknet nur blüht die Hortensia kühl ist das Herbstende in diesem Jahr suizidal leb ich hier in Böhmen Meer, Deine Insel wird wegströmen ins nächtliche Suecia --In der Erinnerung wird Prag für mich zur leeren grauen Stadt an Orten wo ich mit euch saß wächst auf dem Stadtplan weißes Gras Grau seh ich die Stadt mit weißen Flecken von Lepra wie verletzt Bald schon kommen aus den Bergen Bondys Wölfe angehetzt 56 55 | Neulateinisch für Schweden, wohin Pavel Zajíček emigrierte. 56 | Jirous: Magorovy labutí písně, S. 56-59: »[…] Zetlelou přikryti korouhví / odpočívají čeští lvi / dvouocasí // Snad ani Slavík už si na ně / při šepsování nevzpomene / asi // Aspoň on kdyby obrys šelmy / štětcem poněkud rozechvělým / na plátno vrhal // barbar
2. Urbane Abgehörigkeit: Ivan Mar tin Jirous
Daran irritiert vor allem die Nähe zur Bannung der Exilanten durch die staatliche Propaganda. Wo Jirous sie in bewährter Manier ironisch zu brechen sucht, verfängt die Rhetorik nicht – zumal die verweigerte letzte Ruhestätte als Ausschluss über den Tod hinaus behält ihren Charakter als Drohung und Verdammung. Das Wort »Heimat« taucht im Gedicht nirgends auf, weder domov mit dem Beiklang »Heim« und »Zuhause« noch vlast als »Vaterland«. Indes betont Vladimír Macura, der sich mit der unscharfen Semantik des Konzepts im Tschechischen beschäftigt hat, die Konnotationen »Land«, »Dorf«, »Idylle«: Rurale Lebenswelt, Einfachheit und das Zentralsymbol der Bauernkate (chaloupka) werden in der Literatur der »Nationalen Wiedergeburt« seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert konstitutiv für die kollektive Selbstverständigung der modernen Nationsbildung.57 Der chaloupka-Topos transportiert Schlichtheit, Offenheit, Bescheidenheit, Gastfreundschaft, Naturverbundenheit, Religiosität, einen Hauch von Bethlehem und Messianismus.58 So wurde er elementar für die dominante tschechische Selbstimagination, diente der Abgrenzung von Habsburger Aristokraten und deutschem Bürgertum und bot der Propaganda von einem proletarisch-bäuerlichen Sozialismus Anknüpfungspunkte.
Otakar // Na hřbitov v Hrochově Týnci / nesmějí cizozemci / nelehne si tam za zdí / Otakar Slavík navždy // Pusté je Týnec město / pusté až z toho mrazí / nenajde se tam místo / pro Otakara za zdí // Smutné je město Týnec / smutné k neutišení / místo pro Otův věnec / nikde tam nikde není // Zvonek tam nezaklinká / nad rakví Slavíka / nedá mu Týnec sbohem / nad jeho čerstvým rovem // Jinde ať v Evropě spočine / jen v Týnci ne jen v Týnci ne / leda po letech v rodnou hlínu / lehne si inu jak Martinů // […] Nenapadá mě žádný rým / který bych poslal za Starým // Kdysi chtěl odjet až v té době / kdy by se vyhnul záhubě / Mám tomu rozumět jako vzkazu / že jsem tu uvíz v kremelském mrazu? // V doslovu čtu ke Stevensonovi / Starého slova o smyslu oběti. / Nu, a co v cizině, jak je Ti? / Cítíš se tam spíš doktorem / Jekyllem anebo Hydem? / Ty u whisky, my nad pivem. / Čím scházíme, tím zajdem. // […] Hovězí porážky nářek zní z jatek / za vršky za moře Brabenec utek / potají v hospodě zahraje muzika / Brabence za vodou už se to netýká // Moře Ti ostrov odplavuje / v půlnoční Suécii / já suicidálně v Čechách žiji / uschlé mi kvetou hortenzie / ve Valdicích na sklonku září // Ubývá milovaných tváří / veselé ghetto je v diaspoře / jak lampa která hoří spoře / jak lampa se staženým knotem / my zbylí žijem neživotem // Uschlé jen kvetou hortenzie / skončilo září zima mi je / v Čechách kde suicidálně žiji / moře Ti ostrov odplavuje / v půlnoční Suécii // Ve vzpomínkách se Praha mi / šedivým pustým městem stává / v místech odkud jste odjeli / na mapě roste bílá tráva // Šedivou vidím ji s bílými skvrnami / jak leprou stiženou / Brzy už Bondyho vlci z hor / do ní se přiženou.« 57 | M acura , Vladimír: Znamení zrodu. České národní obrození jako kulturní typ [Zeichen der Geburt. Die tschechische Nationale Wiedergeburt als Kulturtypus]. Praha 1995, S. 139-152. 58 | D ers .: The Idyll and the Topos of the »Cottage« as a Czech National Stereotype. In: Zagadnenia Rodzajów Literackich 1-2 (1996), S. 51-64.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
Eben diese Symbiose von Heimat und Ruralismus spielt My lovers nun aus, wenn Bilder aus der Natur und dem Dorf auf die Namen mondäner Metropolen stoßen, zwischen denen die Auswanderer pendeln. Den realen Hintergrund freilich bildet ein »Rückzug aufs Land« (ústup na venkov), den Vertreter des Underground ebenso wie Anhänger anderer Alternativkulturen angesichts forcierter Kontrolle und Polizeigewalt in den Städten, Prag vorab, seit den 1970er Jahren antraten. Bald lautete die Frage: »Wien oder Bory?« – ins Ausland gehen oder auf die Böhmisch-Mährische Höhe?59 Dort etablierten sich die »Landgänger« in so genannten »Baracken« Kommunen, dem Trend unter Beatniks und Hippies andernorts nicht unähnlich. Zu baráky konnten tatsächlich Baracken im deutschen Sinn des Worts werden, aber auch Stallungen, aufgegebene Wirtshäuser, verlassene Bauernwirtschaften oder Wohngebäude, möglichst am Dorfrand gelegen oder Einzelhöfe, bevorzugt in dünn besiedelten oder, mit Blick auf die Sudeten, entsiedelten Landstrichen. Sie wurden oder sollten werden, was traditionell die chaloupky waren oder gewesen sein sollen: kommunikative Zentren der Gemeinschaft und symbolmächtige Orte mit Zuschreibungen wie Volksverbundenheit, Naturverhaftung, Einfachheit, auch Demut, um ein Schlüsselwort aus Jirous’ Bericht aufzugreifen. Eine durchaus nationale Rückbesinnung, zumal wenn man sich wie Jirous »feststecken« sah »im Moskauer Eis«. Wenn eine zentrale These dieses Buchs lautet, dass die Stadt als die Bedingung für Underground-Kunst gelten kann, steht das nur scheinbar in Widerspruch. Zum einen handelte es sich um die »taktische« Ausweich-Bewegung einer bereits bestehenden, genuin urbanen Gruppierung, da der obrigkeitliche Zugriff sich in den Zentren verschärfte. Zweitens spielte ein opportunistisches Element eine Rolle: Der vielfach mit Happenings operierende Underground brauchte große Räume, bevorzugt solche, auf denen das Auftrittsverbot in der Öffentlichkeit mit Hilfe »privater Einladungen« umgangen werden konnte. Vor allem aber blieb die Stadt der künstlerische Bezugspunkt. Nicht zuletzt, weil Zuschauer wie Künstler zumeist zwischen Stadt und Land pendelten. In den Städten, vor allem Prag, wurde geplant, eingeladen, koordiniert; am Wochenende fuhren die víkenďáci (Wochenendler) mit Gleichgesinnten hinaus, trieben urban inspirierte Kunst und kehrten anschließend in die Städte zurück.60 Und dennoch machte die Verlagerung etwas mit ihrer Kunst, jedenfalls mit der von Jirous. Da ist der Groll angesichts der unterdrückten und herabgekommenen Heimat in der Metapher »Schlachthof der Rinder« oder in der Figur des »unter modriger Flagge« dösenden böhmischen Löwen. Vor allem aber das 59 | Č uňas, František Stárek/K ostúr, Jiří: Baráky. Souostroví svobody [Baracken. Archipele der Freiheit]. Praha 2010, S. 8. – Der Band kartiert die Underground-Kommunen in der Tschechoslowakei und zieht dabei Parallelen zur amerikanischen Hippie-Bewegung. Aufgeführt sind 31 Ortschaften. 60 | Ebd., S. 609.
2. Urbane Abgehörigkeit: Ivan Mar tin Jirous
poetische Heranrücken an den Assoziationskreis von Viktor Dyks Gedicht Die Heimaterde spricht (Země mluví) aus dem Jahr 1917. Dyk stilisiert darin den Tod fürs Vaterland als mystische Verschmelzung mit der heimatlichen Erde, die zum zukünftigen Opfer drohend-werbend spricht: »Verlässt du mich, werd’ ich nicht untergehen. / Verlässt du mich, wird es dein Ende sein.«61 Dieser Vers wurde spätestens unter den Händen der Kommunisten zum literarisch-politischen Bannfluch, zu einem Negativ-Vers, wiederholt mit »monotoner Arroganz«, wie Ferdinand Peroutka aus dem »Februarexil« von 1948 schreibt.62 Eine Generation später sprach der 1968er »Augustexilant« Jiří Gruša vom »Urlied der böhmischen Demeter«, gebraut in der »Giftküche der Heimatkunst«.63 Wenn in My lovers are over the oceans niemand in Týnec am Grab von Slavík stehen und einen Kranz binden wird, dann ist es schwer, darin nicht die Drohung der dykschen Erde zu hören. Ähnlich evoziert der Vers »Du beim Whisky, wir beim Bier« das antiimperiale Klischee des ehrlich-einfachen Tschechen (oder Böhmen) gegenüber den feinen Herren von Welt. Sie sind, am Ende dann doch, Verräter: Slavík, der die Löwen vergisst; Brabenec, dem es »schnuppe« ist, dass in der heimischen Kneipe immer noch – heimlich – seine Musik gespielt wird. Aber eben auch: Skalický gelingen in Wien seine »versauten Gesänge« nicht mehr; Hutka bereut die »idiotische« Entscheidung zu gehen und »spitzt« stumm »den Mund wie ein Fisch«. »Wir hingegen ackern hier sehr, / in Demut ackern wir schwer«64 – redliche, bodenständige Kunst-Bauern. Zumal dieses »hier« nicht Prag ist, die »leere, graue Stadt«, leprös mit »weißen Flecken«, den Leerstellen der Fortgegangenen. Sondern ein Nirgendwo wie Týnec. Das Gedicht etabliert Týnec als onomatopoetischen Gegenpol zu den Millionenstädten der westlichen Welt; kein anderer Ortsname fällt so häufig. Indem Jirous die Städte verwischt, sie aufgreift und fallenlässt, Týnec aber klanglich heraushebt, ins Herz des »Gesangs« stellt, wird die Peripherie zum ästhetischen Zentrum. Im Kern ist das ein Regress in die ruralnationale Poetik der »Wiedergeburt«. Darein fügen sich die letzten, Egon Bondy aufgreifenden und umdeutenden Verse. »Bondys Wölfe« entstammen dessen Gedicht Es regnet, regnet, regnet (Prší, prší, prší), wie so viel vertont von den Plastic People. Prag liegt darin in Dunkel 61 | D yk , Viktor: Země mluví [Die Heimaterde spricht]. In: D ers .: Okno. Praha 1921, S. 73-74: »Opustíš-li mne, nezahynu. / Opustíš-li mne, zahyneš.« – Dyk imaginiert Heimat hier als »harte Mutter« (tvrdá matka). 62 | P eroutk a , Ferdinand: Spisovatel doma a v exilu [Der Schriftsteller zu Hause und im Exil]. In: D ers .: Budeme pokračovat. Hg. v. Jiří K ov tun . Toronto 1984, S. 128-133, hier 128-129. – Peroutka bezieht sich auf Zdeněk Pluhařs tendenziösen Roman Wenn du mich verlässt (1975, Opustíš-li mne, dt. 1961) über eine Gruppe tschechischer Exilanten, die im westlichen Exil allesamt scheitern. 63 | G ruša , Jiří: Ivan Diviš. Odchod z Čech [Weggang aus Böhmen]. In: Svědectví 73 (1984), S. 227-228. 64 | J irous: Magorovy labutí písně, S. 56: »[M]y už to tady doořem, / v pokoře doořem.«
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Der Underground, die Wende und die Stadt
und Nebel, das lyrische Ich, den Teufel im Geist, fragt sich, ob dies das Ende sei. Die Sonne »steht tot«, durch die Straßen »schwärmen Geister aus«, »alles fürchtet sich« vor einer über den Himmel ziehenden »Gruselgestalt« – »Pest oder Cholera?« Und schließlich: »Die Wölfe kommen von den Bergen / Und der Strom fällt aus / nicht mal das Gas kommt für das Streichholz raus / die Krähen fangen vor Lachen an zu kreischen.«65 Die Apokalypse. Bei Jirous indes wird daraus eine Rachephantasie vom gegen die vergiftete, verlassene, verräterisch-verratene Stadt zurückschlagenden Land. Die zu »Baracken« modernisierten chaloupky bringen die Wölfe hervor. »Dušan du sagtest es und ich glaub dran / ein Künstler jeden Staat stürzen kann.«66 My lovers are over the oceans zieht letztlich den Versuch zurück, »Heimat« durch deren Verlagerung in eine Sphäre »höherer«, ortloser Gemeinschaft in das Arsenal des Underground zu inkorporieren. Indem das Gedicht eine für den Underground atypische Stadt-Land-Opposition aufmacht, um mit dem Community Drain des Exils fertig zu werden, regrediert es in die horizontale Konfliktdefinition antimodernistisch angelegter Nationalromantiken. In Ivan Jirous’ Schwanengesängen erweisen sich »Heimat«, »Gemeinschaft« und »Erlösung« als infektiös horizontale poetologische Kategorien, deren Gehalt kaum zu entrinnen ist. Sein Versuch der Abgehörigkeit, eines Dazugehörens und Dazugehörenwollens, das sich nicht oder nur im Ausweichen, sei es räumlich, sei es poetisch, vollziehen lässt, endet nicht bei E.T.A. Hoffmann, sondern im Harmonisierungsoktroi einer vulgärherderianisch aufgefassten Frühromantik. Deren Implikation ist eine integrationsfixierte Desintegration sowohl des Kunstwerks als auch der hinter ihm liegenden Poetologie. »Magor« bleibt in My lovers ein närrisch-autoritärer Ansatz. Und »Heimat« der Ameisenlöwe unter den Topoi. Unentrinnbar, sobald man einmal den Rand seines Fangtrichters betreten hat.
65 | Der Song taucht nicht auf der Bondy-Platte Egon Bondy’s Happy Hearts Club Banned auf, sondern gehört zum Repertoire der Plastic People aus den frühen 1970er Jahren. Lyrics nach The P lastic P eople of the U niverse : Vožralej jak slíva [Blau wie eine Pflaume]. CD-Booklet. © 1997 Globus International: »Prší, prší, prší / víc nežli se sluší / ďábel mi sedí na duši / Mlha si sedla za okna / po celém městě je tma / je konec nebo se mi to zdá / Slunce mrtvé stojí / strašidla se rojí / všichni se bojí / Po nebi jde hrozný tvor / je to lepra nebo mor? / Vlci jdou z hor / I elektřina přestala svítit / ani plyn nechce od sirky chytit / a vrány se rozkřičely smíchy.« 66 | J irous: Magorovy labutí písně, S. 54: »Dodnes tvým slovům Dušane věřím / umělci svrhnou každý režim.«
3. Angeekelt in Bratislava
Vladimír Archlebs lyrischer Vulgär-Dandyismus
Die Langeweile im Produktionsprozess entsteht mit seiner Beschleunigung (durch die Maschinen). Der Flaneur protestiert mit seiner ostentativen Gelassenheit gegen den Produktionsprozess.1 Walter B enjamin
Vladimír Archleb verbrachte den größten Teil seines Lebens in Bratislava, davon viele Jahre in Rača, einem Wohnviertel in den Weinbergen am Rand. Seine Gedichte derweil sprechen Bratislava nie aus – und doch immer wieder an. Ein sozialistisches Bratislava des ennui, zusammengesetzt aus allgegenwärtiger Langeweile, alltäglicher Monotonie, der Allgewalt billigen Fusels, eine fade, apathische Welt. Als brauche er weder konkrete Topografie noch Stadtgeschichte, um die Koordinaten seiner Lyrik zu markieren. Dergestalt ist Bratislava als die Stadt in Archlebs Lyrik konstant präsent, ist unzweideutig Bratislava, das als All-Urbanes seine Dichtung konturiert. Präsenter als bei Andrej Stankovič, dem »postmodernen Dudelsackspieler«2 und pontifex des slowakischen Underground, der die Brücke zum Prager Underground schlug: persönlich, programmatisch und poetisch.3 Auch bei Stankovič findet sich die 1 | B enjamin, Walter: Zentralpark. In: Gesammelte Schriften. Bd. I/2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann S chweppenhäuser . Frankfurt am Main 1980, S. 657-690, hier 679. 2 | Der 1940 in der Slowakei geborene Stankovič zog schon 1946 mit seinen Eltern nach Prag. Vgl. zur Kindheit in Prešov den Ausschnitt aus der unvollendet gebliebenen Autobiografie von S tankovič , Andrej: Co zbylo v paměti… [Was im Gedächtnis blieb…]. In: Revolver Revue 69 (2007), S. 207-224. Siehe dort auch den Nachruf von K arlík , Viktor: Stankovič. In: Ebd., S. 229-233. 3 | M arks, Luděk: Postmoderní dudák Andreje Stankoviče [Dem postmodernen Dudelsackspieler Andrej Stankovič]. In: S tankovič , Andrej: Osvobozený babylon – Slovenský raj. Praha 1992, S. 5-8, hier 5. – Das Gedicht von Wernisch, auf das sich Marks mit seiner
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Der Underground, die Wende und die Stadt
Stadt weder toponymisch noch topografisch verankert. Sie ähnelt, im Gegenteil, am ehesten Prag. Ein ähnlich uneingestandenes Eingeständnis lokaler Bezogenheit legt seither die Mehrzahl slowakischer Underground-Dichter an den Tag. Archlebs Besonderheit – oder vielmehr die seiner lyrischen Figuren – besteht darin, dass sie Flaneure im Sinne des voranstehenden Mottos sind: Zeitprovokateure im ostinato des unnennbaren Bratislava. Genau zu sein, dass Archleb auslotet, ob und wie sich eine Flaneursfigur im sozialistisch durchkomponierten Bratislava halten kann, ein Dandy in einer unentrinnbar vulgären Welt. Um diese Besonderheit einordnen zu können, sei zunächst der literaturgeschichtliche Hintergrund der archlebschen Stadtdichtung tiefer ausgeleuchtet – mit einem längeren Blick in die slowakische Literatur von Jahrhundertwende und Zwischenkriegszeit, nicht zuletzt um an Bratislava gebundene Topoi zu konturieren.
D ie S tadt, das ungeliebte U nl and Die Stadt, so lautet eine Standardthese der Literaturgeschichte, habe sich in der slowakischen Dichtung lange keiner Beliebtheit erfreut. Wo sie nicht schlicht ignoriert wurde, sei sie als Sündenpfuhl verdammt oder als fremdstämmiger Stachel im nationalen Leib empfunden worden. 4 Eine These, die spätestens von der Literatur der Jahrhundertwende widerlegt wurde, gibt es doch jenseits aller ruralen Fremd- und Eigenklischees eine Reihe von Dichtern, angefangen bei Janko Jesenský, der die Stadt für die Lyrik salonfähig machte und damit den Weg ebnete für die nur wenig später schreibenden Laco Novomeský, Vladimír Reisel oder Ján Smrek. Zwar galt noch Jahrzehnte nach Jesenskýs Debüt für viele Schriftsteller das Dorf als Born nationaler Werte und sicheres Terrain für einen slowakischen Schriftsteller, doch hatte sich das allgemeine Bild spätestens mit der Literatur der Zwischenkriegszeit endgültig gewandelt.5 Zumal mit der Formierung der avandgardistischen Davisten (Davisté), deren Name auf die 1924 gegründete Zeitschrift DAV (MASSE) zurückgeht, wurden die Stadt, ihre Modernität, Vitalität Bezeichnung bezieht, steht als Motto vor dem Einleitungstext: »a kníže Nikolaj? / ten tančil dudáka / sám a sám dudáka / na prázdném peróně / v liduprázdné Veroně.« Nikolaj ist der zweite Name von Stankovič. – Deutsche Übersetzung: »und Fürst Nikolaj? / der tanzte den Dudelsacktanz / ein Dudelsackspieler durch und durch / auf dem leeren Bahnsteig / im menschenleeren Verona.« 4 | Mit einer ähnlichen Feststellung beginnt z.B. Marcela Mikulová ihre Abhandlung zur modernen slowakischen urbanen Literatur, insbesondere zu Janko Jesenský. – M ikulová , Marcela: Mestský živel (u) Janka Jesenského [Das städtische Element (bei) Janko Jesenský]. In: Meštianstvo a občianska spoločnosť na Slovensku 1900-1989. Hg. v. Elena M an nová . Bratislava 1998, S. 101-109, hier 101. 5 | Neben Jesenský handelt es sich u.a. um Ivan Horváth, Jozef Cíger-Hronský, Ján Hrušovský, František Švantner, Gejza Vámoš.
3. Angeekelt in Bratislava: Vladimír Archleb
und soziale Zerklüftung zu einem bei aller Ambivalenz bejahten Sujet auch der slowakischen Literatur. Der Kritiker Andrej Mráz beschrieb diese Verschiebung denn auch als »frischen Wind«, der notwendig geworden sei, um einen »neuen« Lebensrhythmus festhalten zu können, ein Leben, das eben die (slowakischen) Städte »gebären« würden.6 International in der Ausrichtung und avantgardistisch im poetischen Ansatz lehnten die linksgerichteten Davisten mit dem antiurbanen Reflex auch den Antimagyarismus und Ressentiments gegen Deutsche und Tschechen ab, die sich im Widerwillen gegen das Städtische artikulierten. Ihrer Kunst ging es offen um eine Aufhebung dessen, was Ludwig Richter als »schroffen Gegensatz zwischen Weltoffenheit (svetovosť) und slowakischer nationaler Eigenart (slovenskosť)« beschreibt.7 So korrespondierten Form und Sujet in besonders prägnanter Weise mit einem ideologischen Bruch und verbirgt sich ein fundamentales, über die einschlägigen Verwerfungen und Verunsicherungen der Modernisierung vielfach hinausgehendes Konfliktpotenzial hinter Richters Feststellung, nicht »das Dorf mit seinen ›ewigen‹ Werten, sondern vor allem die Stadt mit ihrem krassen Sozialgefälle«8 sei nun zunehmend zum Thema gewählt worden. Denn mit Davisten, Moderne und Avantgarde verschwand der früh etablierte slowakische Antiurbanismus keineswegs. Von deren bereits angesprochenen ambivalenten Stadtbildern abgesehen, stand ihnen eine Tendenz entgegen, zwar verstärkt urbane Sujets aufzugreifen, indes in fortgesetzter expliziter Ablehnung der Stadt nicht nur als amoralischen, chaotischen und genuin antiästhetischen Ort, sondern auch als fremde, wahlweise magyarische oder deutsche Eintragung, als national dämonisierbaren Un-Ort.9 Die slowakische Literatur um die Jahrhundertwende verstand sich als national-konstitutiv und nationsbewahrend, als Organ eines unterdrückten Volks und 6 | M ráz , Andrej: Romány a ich autori. Prehľad slovenskej románovej produkcie od prevratu [Romane und ihre Autoren. Überblick über die slowakische Romanproduktion seit der Jahrhundertwende]. In: Slovenská prítomnosť literárna a umelecká. Hg. v. Ján S mrek . Praha 1931, S. 65-105, hier 66. 7 | R ichter, Ludwig: Slowakische Literatur. Entwicklungstrends vom Vormärz bis zur Gegenwart. Berlin 1979, S. 75. 8 | Ebd., S. 77. 9 | Pavol Minár sieht das Thema »Stadt« die slowakische Literatur der Zwischenkriegszeit dominieren und macht in ihr neben einer »ideologischen antiurbanen Linie« (ideologická antiurbánna linia) eine »kulturelle antiurbane« (kultúrna antiurbánna) sowie eine »urbane« (urbánna) fest. Stadt funktioniere als Oppositionsraum par excellence – angefangen mit »Stadt/Asphalt« versus »Dorf/Scholle« über »Weggang« versus »Ankunft« bis hin zu »Fenster« versus »Tür«. – M inár, Pavol: Mesto v slovenskej medzivojnovej fikcii (predpoklady, pravidla, kódy a logika produkcie textov) [Die Stadt in der slowakischen Fiktion der Zwischenkriegszeit (Voraussetzungen, Regeln, Kodes und die Logik der Textproduktion)]. In: M annová : Meštianstvo a občianska spoločnosť, S. 111-135.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
seiner Sprache, das seit Jahrhunderten zwischen Germanisierung und Magyarisierung aufgerieben zu werden drohte.10 Ähnlich war die Dichtung eines Janko Jesenský – insbesondere vor dem Ersten Weltkrieg – nicht frei von dieser Tradition und dem in ihr angelegten Konflikt. Seine Annäherung an die Stadt war durchaus eine skeptisch-zögernde. So kontrastiert Jesenský die therapeutische Errettung des Ich durch die heimatliche slowakische Bergwelt mit dem künstlichen Stadtlärm, der metropolitanen Vergnügungssucht und verstörenden Nicht-Dekodierbarkeit von Gesten, Sprachen und Bewegungen. Die begradigte Donau steht bei ihm bildlich für die Einhegung des in der Stadt von sich selbst entfremdeten Subjekts – so noch 1905 in einem Budapest-Gedicht.11 Gleiches gilt zwanzig Jahre später für Ivan Horváth, der 1928 mit Mensch auf der Straße (Človek na ulici) einen »Programm-Text« schuf, den Michal Habaj als »Quintessenz« von Horváths Schaffen liest, da er als »Manifest in Prosa« für den ambivalenten Umgang der »Zweiten Moderne« (Druhá moderna) mit der Stadt gelten kann.12 Horváths »Mann der Straße«, der Vagant Tomáš Jurga, ist kein man of the crowd im Sinne Edgar Allan Poes. Vielmehr stromert er als Prototypus des »überflüssigen Menschen« durch den städtischen Raum – und es scheint ihm nicht im Mindesten zu bekümmern.13 Ein Weiteres kommt hinzu: Dem wohl konsequentesten slowakischen Stadtdichter, dem Davisten und geborenen Städter Laco Novomeský, wurde von Ján Poničan, einem Mitbegründer der Gruppe, vorgeworfen, er schaue »auf die Dinge von oben, von Prag her, wir […] wiederum von innen her«.14 Novomeský, will sich Poničan erinnern, habe »außen« gestanden – wobei »außen« nicht primär außerhalb der Nation meint. Anders gewendet, er habe innerhalb der Kunst statt an das Volk gedacht. Dieses »von oben herab« als »außen« verdoppelt mithin die Marginalisierung des experimentellen Urbanen der Zwischenkriegszeit, deren Zentren als der Nation peripher deklariert wurden, um eine vertikale Exklusion. Wobei mitzudenken ist, dass eine solche »Abschiebung nach oben« aus der Warte einer
10 | H abaj, Michal: Druhá moderna [Zweite Moderne]. Bratislava 2005, S. 24. 11 | Siehe das Gedicht In Pest (V Pešti) aus Jesenskýs Debütband Gedichte (Verše, 1905). – Zum Motiv der Stadt auch M ikulová , Marcela: Paradoxy realizmu. »Neklasickí« klasici slovenskej prózy [Paradoxien des Realismus. »Nichtklassische« Klassiker der slowakischen Prosa]. Bratislava 2010, S. 85-195. 12 | H aba j: Druhá moderna, S. 127. 13 | Jana Kuzmíková vergleicht ihn z.B. mit den baudelaireschen Figuren. – K uzmíková , Jana: Mozaika života a snov, Človek na ulici (Problém identity a diskurzívna presnosť) [Mosaik des Lebens und der Träume, Mensch auf der Straße (Zum Problem von Identität und diskursiver Präzision)]. In: D ies .: Modernizmus v tvorbe Ivana Horvátha. Bratislava 2006, S. 80-104, hier 88. 14 | P oničan, Ján: Búrlivá mladosť. Spomienky I: 1920-1938 [Stürmische Jugend. Erinnerungen I]. Bratislava 1975, S. 318.
3. Angeekelt in Bratislava: Vladimír Archleb
sich selbst gewissen Revolutionshoffnung perspektivisch nach unten und an den Rand verweist. Konkret korrespondierte und kooperierte Novomeský eng mit dem Prager Poetismus, einem avantgardistischen Zusammenschluss von Künstlern, die das Spielerische, Ungezwungene und Exotische mit dem Konstruktivismus zusammenbrachten. Ersteres, das Ludische, prägte nicht nur Novomeskýs Arbeiten, sondern hatte darüber hinaus einen starken Nachhall in der Lyrik des slowakischen Underground, insbesondere bei Augustín (Gusto) Dobrovodský und Andrej Stankovič.15 Prag und der Poetismus waren das eine. Derweil zeigten sich die Davisten, aber auch Sympathisanten jenseits des engeren Zirkels wie Emil Boleslav Lukáč oder Ján Smrek nicht nur stadt-, sondern vor allem parisverliebt.16 Erst Smreks ParisGedichte aus den 1930er Jahren reflektieren seiner eigenen Einschätzung nach, was er als das »Alpha der künstlerischen Konfession« ansah: einen Zivilismus, der bejubelt gehörte; eine ungehemmte Lust an Vielfalt und Tempo; einen an die Stadt gebundenen vitalistischen Lebensdrang.17 Nicht zuletzt war Paris der Orientierungspunkt auch für die slowakischen Surrealisten, die Nadrealisten (Nadrealisté),18 der vergessen machte, dass Bratislava auf so moderne Weise urban war, wie eine erst jüngst industrialisierte Provinzstadt eben urban sein kann – mehr aber auch nicht. 15 | Siehe das Vorwort zu Dobrovodskýs Lyrik von S tankovič , Andrej: Básnik je ten, kto ponúka činel hromu [Der ist ein Dichter, der die Zimbel dem Donner feil bietet]. In: D obro vodsk ý, Augustín: Smútok je smiešok. Výber z lyriky. [o.O.] 1997, S. 1-2, hier 2. – Starke Bezüge zum Poetismus weisen auch Stankovičs Sammlungen auf, z.B. in S tankovič : Osvobozený Babylon, S. 12, 17, 20, 33, 57 u. 74. 16 | »Verse aus der fremden Stadt« stammen Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem aus Paris – wie das gleichnamige Gedicht aus Novomeskýs Sammlung Rhomboid (Romboid, 1932). – Lukáč z.B. signalisiert Paris als Gegenmodell im Titel seines Bandes Donau und Seine (Dunaj a Seina, 1925). 17 | S mrek , Ján: Poézia moja láska [Poesie, meine Liebe]. Bratislava 1968, S. 80-81. – Smreks Flaneure genießen in seinem Frühwerk nicht nur den Gang durch überlaufende Straßen, die Masse (dav), sie erheben sich auch zum observateur der Pariser Morgendämmerung. Oder stellen die Vorzüge der Stadt denen des Dorfs gegenüber (z.B. Village and City) im Debütband Galoppierende Tage (Cválajúce dni, 1925). – Vgl. auch P etrík , Vladimír: Mesto a vidiek v slovenskej medzivojnovej literatúre a v poézji Jána Smreka [Stadt und Land in der slowakischen Zwischenkriegsliteratur und der Lyrik Ján Smreks]. In: Zborník Filozofskej Fakulty Univerzity Komenského. Philologica LI. Bratislava 2008, S. 25-30. 18 | Siehe Reisels surrealistisches Poem Die unwirkliche Stadt (Neskutočné mesto, 1943). – Einordnend dazu Winczer, Pavol: Neskutečné mesto V. Reisela vo vzťahu k Apollinairovi, k surrealizmu a k Nezvalovi [Die unwirkliche Stadt von V. Reisel im Verhältnis zu Apollinaire, zum Surrealismus und zu Nezval]. In: Ders.: Súvislosti v čase a v priestore. Básnická avantgarda, jej prekonávanie a dedičstvo (Čechy, Slovensko, Polsko). Bratislava 2000, S. 162-180.
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Damit verbunden trat schließlich als diskursive Produktionsbedingung von Stadtliteratur zwischen den Weltkriegen, aber ebenso während des Sozialismus und bis heute, mithin auch für den Underground, hinzu, dass Bratislava im Vergleich mit Paris oder Prag und ihren tradierten, aneignen- und brechbaren literarischen Topoi kein abruf bereites mythopoetisches Reservoire vorzuweisen hat. Pavol Minárs Einordnung der Zwischenkriegsprosa bietet eine mögliche Erklärung: So habe die geografische Nähe von zeichengesättigten Städten des fin de siècle wie Wien oder Budapest zu Bratislava dazu geführt, dass durch die »Explosion der Zeichen« eine »Differenzierung und Desintegrierung« Bratislavas in der Literatur stattfinden konnte. Durch die explosionsartige Übernahme »fremden« Zeichenrepertoires begann Bratislava als Synonym für »dortig« zu gelten – und nicht etwa als »hiesig« beziehungsweise »unser«.19 Im Gegensatz dazu aber, so Michal Habaj, bot Bratislava als »Trasse der Kulturen« der Bratislaver Boheme auch die Möglichkeit, sich wie selbstverständlich in verschiedenen Kodes zu bewegen: »in einem Pester, einem Wiener, einem jüdischen, einem slowakischen, einem europäisch-großstädtischen, einem volkstümlich-folkloristischen«.20 Zwar hat Jozef Tancer bestimmte stabile Marker in der Repräsentation von Bratislava alias Pressburg alias Pozsony ausgemacht, namentlich in der Imagebildung neuzeitlicher Reiseliteratur: als prekär-reizvoller Grenzort einschließlich eines »werbewirksamen« Einwohnertypus.21 Indes haftet dem etwas sichtbar Artifizielles, kommerziell Beabsichtigtes an. Denn wiewohl sich der Bildkern bemerkenswert konstant und evolutionsfest zeigt, attestiert Tancer ihm eine umso größere semantische Instabilität, ja Beliebigkeit. So werde Bratislava als EpochenGrenzstadt wie »Kreuzung der Kulturen« imaginiert, als Stadt zwischen Orient und Okzident oder porta hungarica. Eine Geisterbahn überwundener Ängste vor einem variablen Anderen, ließe sich wohl zusammenfassen. Ein zum Konsum empfohlenes Klischee eher als ein aktivierbarer Mythos, das die Bewohner des heutigen Bratislava in Wiedergänger eines bürgerlich grundierten österreichischungarischen Lebensstils zu wandeln vermag – ungeachtet der Proletarisierung und Slowakisierung Bratislavas in der Zwischenkriegszeit und seiner ethnischen Entmischung nach dem Zweiten Weltkrieg. Jana Beňová hat 2008 in ihrem Roman Geleitplan (Plán odprevádzania) das passende Motiv für dieses schiefe Bild gefunden: bezahlte Passanten. Es handelt sich um im doppelten Sinn engagierte Flaneure, die fest davon überzeugt sind, die Stadt allererst zu schaffen. Eine Stadt, die übrigens auch bei Beňová namen-
19 | M inár : Mesto v slovenskej medzivojnovej fikcii, S. 122. 20 | H aba j: Druhá moderna, S. 25. 21 | Tancer, Jozef: The Image of the City as a Site of Memory. Bratislava in Modern Travel Literature. In: Frontiers and Identities. Cities in Regions and Nations. Hg. v. Luďa K lusáková u. Laura Teulières . Pisa 2008, S. 67-80.
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los-universal bleibt.22 Wie überhaupt Beňovás Roman den mythopoetischen Missstand »Bratislava« zugleich konstatiert und transzendiert, indem sie der Nichtbenennung einen Wegeplan zuschiebt. Der Wegeplan auf dem Einband ihres Buchs verzeichnet unter anderem, wie die Hauptfigur Elza durch ihre Stadtspaziergänge zwei konträre Welten auf den gegenüberliegenden Ufern der Donau miteinander verbindet: die Altstadt von Bratislava mit dem Caféhaus »Hyäne«, auf der anderen Seite die ordinäre Neubausiedlung Petržalka oder »Petersilien«. Elzas »Geleitplan« kartiert die Stadt in höchst subjektiver Mnemotik – und stellt poetologisch einen link zwischen Underground und Postmoderne aus: Pop. Dazwischen wiederum, zwischen Jesenský, Novomeský und Jana Beňová, liegen Vladimír Archleb und mit ihm die Bratislava-Literatur der 1960er bis 1980er Jahre, darunter neben der Prosa auch eine Phalanx an Dichtern wie die etablierten Miroslav Válek und Ľubomír Feldek, einem der Initiatoren der stadtaffinen und poetismusnahen Trnava-Dichtergruppe (Trnavská skupina). Und nicht zuletzt die sich zwischen Bratislava und Košice bewegenden Underground-Dichter, zu denen neben Archleb noch Erik Groch, Oleg Pastier, Tomáš Petrivý und Marcel Strýko zu zählen wären – zu den bereits erwähnten Dobrovodský und Stankovič.23
A rchleb , B r atisl ava und der U nderground Der 1953 geborene Vladimír Archleb, auch unter dem Spitznamen Rachel bekannt,24 begann in den 1970er Jahren Gedichte zu schreiben, die bis zur Wende
22 | B eňová , Jana: Plán odprevádzania. Café Hyena [Geleitplan. Café Hyäne]. Bratislava 2008, S. 50: »Ja to mám platené. Tisícka za nedeľný okruh mestom, 500 v pracovné dni. Zarábam si tak po víkendoch. Robím mesto. Vytváram image. Zdanie atraktívnosti, dianie, život v uliciach, pulz mesta.« – Deutsche Übersetzung: »Ich krieg das bezahlt. Einen Tausender für eine Sonntagsrunde durch die Stadt, 500 an einem Arbeitstag. Ich verdiene auch am Wochenende. Ich mache die Stadt. Ich forme ihr Image. Den Schein von Attraktivität, das Geschehen, das Straßenleben, den Puls der Stadt.« 23 | Zum slowakischen Underground, seinen Topoi und Figuren sowie zur Konkurrenz der Underground-Städte Bratislava und Košice siehe Z ajac, Peter: Underground, Overground. Bratislava und der gläserne Berg. In: Unter der Stadt. Subversive Ästhetiken in Ostmitteleuropa. Hg. v. Mónika D ószai, Alfrun K liems u. Darina P oláková . Köln-Weimar-Wien 2014, S. 139-165, hier 151-158. 24 | Seinen Spitznamen »Rachel« erläutert Archleb mit folgendem Akronym: »Ráno vstaň / A dokonči báseň / Celkom ako / Homér / Ešte spitý / Lacným vínom.« – Deutsche Übersetzung: »Steh früh auf / Und beende das Gedicht / Ganz so wie / Homer / Noch besoffen / Vom billigen Wein.« – A rchleb, Vladimír: Račianský výber [Račaner Auslese]. Bratislava 2008, Motto [o.S.].
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ausschließlich in Samizdat-Zeitschriften wie Kontakt und Fragment erschienen.25 Zu einem Studium an der Kunsthochschule von Bratislava nicht zugelassen, verdiente er seinen Lebensunterhalt im Chemiebetrieb Dimitrovka (CHZJD) und starb 2007 an den eingeatmeten Giften. Als Schriftsteller zählte Archleb zum slowakischen Underground. Entschiedener als die meisten seiner Dichter machte Archleb das Urbane zu seinem Thema und fand eine eigene, bislang ungehörte Tonlage. Diese liegt deutlich tiefer als etwa der spielerisch-rasante, zuweilen schrille Sound eines Andrej Stankovič, ist eher elegisch getragen, von einer wie mühsam unterdrückt wirkenden Wut. Der lyrische Sprecher kommt als ein verzweifelnder Flaneur daher, der sich schwer abfindet mit seiner »städtischen Internierung«, wie Miroslav Marcelli es nennt: Wenn wir aus der Stadt fliehen, erweitern wir dadurch lediglich ihre Grenzen: Dissidenten macht die Stadt augenblicklich zu Missionaren. Wenn wir feststellen, dass es unmöglich ist, sich aus ihrer Umarmung zu befreien, ist zweifellos auch Resignation mit im Spiel. 26
Archlebs Gefängnis ist das ruralisierte und sozialistische Bratislava seiner Gegenwart, eine proletarians’ metropolis jenseits aller polyethnischen Bürgerlichkeit, selbst milder Paris-Träumereien oder Imaginationen von Grenzscheide, Zauberland, Drittraum zwischen Orient und Okzident. Seine Gedichte stellen sich mit hoffnungslosem Groll dieser Realität, dem Alltagsempfinden einer unendlichen Leerstelle, einer ästhetisch und moralisch beräumten und nivellierten Stadt. Überdruss und Ödnis, Ablehnung jedes heroisierenden Historismus und ein Subjekt, das den Dingen heroisch ins Auge sieht – dies alles sind übergreifende Gesten des Underground. Folgerichtig setzt Peter Zajac Archlebs Gedichte in die Tradition der Lyrik von Egon Bondy, Ivan Jirous oder eben Stankovič, deren Ästhetik er mit den Begriffen des »Obszönen« und »Frivolen«, mit dem Konzept einer »schamlosen Poesie« (nehanebná poézia) zu fassen sucht. Indes macht auch Zajac bei Archleb eine Zurückhaltung, eine Nüchternheit der Sprache aus, ein Verharren des Anstößigen, Vulgären vor der Grenze zum Schamlosen – zugunsten eben jenes Grolls angesichts alltäglicher Monotonie und organisierter Verdummung. Archlebs »Anzüglichkeit« 25 | In seiner umfangreichen Studie zur slowakischen Lyrik an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert erwähnt übrigens Jaroslav Šránk Archlebs Sammlungen – wie die weiterer Underground-Dichter – nur am Rande, obwohl ihre offizielle Rezeption genau in diese Zeit fällt. – Šránk , Jaroslav: Individualizovaná literatúra. Slovenská poézia konca 20. a začiatku 21. storočia z perspektívy nastupujúcich autorov [Individualisierte Literatur. Slowakische Lyrik vom Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts aus der Perspektive der die Bühne betretenden Autoren]. Bratislava 2013, S. 62 u. 65. 26 | M arcelli, Miroslav: Vom Vorführungsraum zum Begegnungsort. Die Stadt im Sozialismus und danach. In: Imaginationen des Urbanen. Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa. Hg. v. Arnold B artetzk y, Marina D mitrieva u. Alfrun K liems . Berlin 2010, S. 32-50, hier 34.
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liege im Ästhetischen, der Schlüssel zu ihr und damit seinem Werk im Wort lacný – übersetzt »billig«, »preiswert«, »wohlfeil«, aber auch »einfach« oder »schlicht«: [Seine] Poetik der Rodung oder des Kahlschlags ist geprägt von einer auf das Elementare abzielenden Wahrnehmung der Atmosphäre, der Dinge und Gefühle; die Prosasprache des Verses und der mitunter einfache Reim sind wie ein ironisches Echo auf den Poetismus. Was hier anzüglich ist: die billige Arbeit – das billige Leben, der billige Wein – die billigen Beziehungen, billige Worte – billige Rhythmen. 27
Archlebs Spiel mit Wertzuschreibungen findet sich schon im Titel seiner Gedichtsammlung Račaner Auslese (Račianský výber). Der unter der Bezeichnung beworbene Wein war indes ein gewöhnliches Weißweingemisch, ein sozialistisches Massenprodukt, mit dem sich Archleb einen (selbst)ironischen Seitenhieb nicht nur auf das Prinzip der Auswahl überhaupt leistete, sondern augenzwinkernd auf die Qualität seiner Gedichte anspielte. Archleb, der sich mit Rača einem prototypischen peripheren Stadtteil Bratislavas zuwandte,28 verwies mit dem Titel der Gedichtsammlung auch auf einen seit 1946 zu Bratislava gehörenden, ursprünglich deutschen Winzerort, dessen Gründung auf das ausgehende 13. Jahrhundert zurückgeht. Rača ist umgangssprachlich, kommt ursprünglich aus dem Südslawischen und bedeutet »Schranke«. Das Weinbergsviertel gehört zu den nach dem Zweiten Weltkrieg eingemeindeten Dörfern wie Prievoz, Trnávka oder das schon erwähnte Petržalka.29 Als Schlüsselantonyme fungieren bei Archleb neben »billig« und »teuer« auch »drinnen« und »draußen«, »gefangen« und »frei«, nicht zuletzt »nüchtern« und »betrunken«. So schweifen zwar immer wieder die Blicke aus einem Innenraum, aber die Fenster sind vergittert, die Straßen überwacht, die Landschaft trostlos – vor allem, wenn es an Alkohol mangelt, was zum Leidwesen des lyrischen Ich oft vorkommt. Anlässlich des Staatsfeiertags färbt das – wie stets unbenannte – Stadtzentrum sich rot ein, wird zugleich der Alkohol dermaßen verteuert, dass Freude nicht aufkommt: »der lohn ist nach ein paar tagen im arsch / so spazier ich nüch27 | Z ajac , Peter: Zabudnutý menhir v zvlhnutých ponožkách [Ein vergessener Menhir in feuchten Socken]. In: Lidové noviny v. 02.05.2009, Orientace S. 22. 28 | Kürzlich hat auch Lucia Piussi in Die Liebe ist ein Huhn (Láska je sliepka, 2011) den Bezirk Rača thematisiert. Ihre Bratislava-Topografie kreist u.a. um den Verkehrsknotenpunkt Račianské mýto. Das Wort mýto wiederum verweist auf Mautstation bzw. Zollschranke. Eine Ebene, die Peter Zajac in seiner Rezension auf Grenzmythen – auch zwischen Leben und Tod – zurückführt. Zudem sieht er bei Piussi Anleihen beim Underground um Archleb, Bondy, Jirous und Stankovič. – Z ajac , Peter: Život v zdvojenom geste [Leben in verdoppelter Geste]. In: SME v. 29.06.2011. 29 | Neben Rača schrieb Archleb auch über die Neubausiedlung Petržalka und den Ort Slavín, wo eine Gedenkstätte für die mehr als 6.000 im Kampf um Bratislava gefallenen Sowjetsoldaten steht.
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tern durch die stadt / und das ist die größte hölle.«30 Solange das Geld reicht, trinkt das lyrische Ich sich durch, Sottisen und Tiraden auf das »Establishment« ausstoßend. Immer wieder verlachen Archlebs Verse namentlich die sozialistisch-realistische Kunst, ihre Propaganda-»Realität« und ideologische Manipulativität, allein ohne sie subversiv zu affirmieren. So, wenn sich in einem Gedicht die slowakischen Künstler treffen, um Kunst zu machen oder das Slowakische durch neue Wörter zu bereichern, zunächst in ihren Kalendern nach einem passenden Termin suchen müssen – während der Rest des Landes ihnen die Daumen drückt.31 Kurz, was Boris Groys unter den Begriff der »ideologischen Signifikation« fasste;32 Günter Erbe als »propagandistische Übermalung der Realität« identifizierte;33 und Andreas Guski als »axiologisches Zeichensystem« beschrieb,34 steht bei Archleb im Zentrum seines Ekels, sich wechselseitig spiegelnd mit der Übermächtigung des öffentlichen Raums durch Aufmarsch, Beflaggung, Claque. Zu ihnen noch einmal Marcelli: Der Geist dieser Umzüge ging auf den Plätzen auch im Alltag um und leerte sie aus. Deshalb wirkte die konzentrierte Macht an diesen Plätzen zugleich zentripetal und zentrifugal: Sie zog die Bahnen der institutionellen Vorgänge in sich ein, während sie die »privaten« Bewegungen der Einzelnen von sich abstieß. 35
Da weiterer Aufenthalt ihn nur noch mehr deprimieren, endgültig zum Herdentier degradieren würde nach der tagsüber mit den »gummisphinxen« schon durchgestandenen Roboterisierung in der Fabrik,36 lässt auch Archlebs grimmi30 | A rchleb, Vladimír: alkohol nám zdražili [sie haben uns den alkohol verteuert]. In: A rchleb: Račianský výber, S. 14: »[...] výplatu mám za pár dní v riti / a tak chodím triezvy po meste / a to je najväčšie peklo.« 31 | D ers .: sadli si umelci do mäkkých kresiel [die künstler setzten sich in die weichen sessel]. In: A rchleb: Račianský výber, S. 23. 32 | G roys , Boris: Die Kunst für den Kampf. In: Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. Hg. v. Jurij M urašov u. Georg Wit te . München 2003, S. 151-171, hier 155. 33 | E rbe , Günter: Die verfemte Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem »Modernismus« in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur der DDR. Opladen 1993, S. 10. 34 | G uski, Andreas: Sozialistischer Realismus und russische Avantgarde im historischen Kontext. In: Die literarische Moderne in Europa. Bd. 2. Hg. v. Hans Joachim P iechotta . Opladen 1994, S. 40-52, hier 41-42. 35 | M arcelli: Vom Vorführungsraum zum Begegnungsort, S. 46. 36 | A rchleb, Vladimír: CHZJD. In: A rchleb: Račianský výber, S. 17: »[...] robotníci ako gumené sfingy / načúvajú vedúcemu // robotníci v šatni / nahí chodia medzi skrinkami / odomknem zámok / hodím dnu bagandže / a ťahám domov.« – Deutsche Übersetzung: »[...] arbeiter hören wie gummisphinxen / dem chef zu // arbeiter in der umkleide / gehen nackt
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ger Flaneur sich vertreiben. Nachdem er die Buchtitel in einem Schaufenster hämisch kommentiert hat, gleich werde ein »sklavenhaupt« sich ihrer annehmen,37 kehrt er heim und »holt sich voltaire ins bett«, der Stadt überdrüssig: »das ist tausendmal besser als ein Stadtspaziergang.«38 Ein ins Private emigrierter Flaneur freilich ist ein Widerspruch, ein Scheitern – und als von der Obrigkeit erzwungenes Scheitern, als Exklusion ein Skandalon. Gesteigert wird es durch den grotesken Abgesang auf einen im Privaten doch noch glückenden ästhetischen »Einklang der Seelen«, wie ihn E.T.A. Hoffmanns Hausgemeinschaft im Keller fand. Bei Archleb leistet vielmehr ein Reiseführer aus dem Kühlschrank dem lyrischen Ich Gesellschaft und schlägt vor, sich zum Pterodaktylus aufzumachen – sofort hockt es schon mit dem Flugsaurier in der Küche und betrinkt sich: »ich nahm die richtung bett / der pterodaktylus fing an zu kotzen / am morgen gabs unannehmlichkeiten.«39 Immerhin endet die Begegnung nicht mit Mord und Totschlag wie in im kesselhaus (v kotolni): »ich erschlug eine schabe / jetzt liegt die verblichene in der ecke / die beine unter sich zusammengefaltet / wie zum letzten gebet.« 40 Nach der Zerstörung der Öffentlichkeit durch die allgemeine Verfügungsgewalt der Obrigkeit, und sei es über Ausweiskontrollen, den allgegenwärtigen Spitzel oder die Rationierung des Alkohols, ist auch das Private als Rückzugsraum des geselligen Austauschs verödet, lässt allenfalls noch Büchersex zu oder solipzistische Phantasmagorien. Oder aber, am anderen Ende, die Korrumpierung, den Ekel, die »fäulnis« – eingefangen in Bildern von Depression und Tripper: was für eine fäulnis hat mich da erwischt bin faul wie ein hund ohne hoffnung begebe ich mich auf die blöden straßen der stadt schlürfe durch die zähne den angebrochenen wein vom kiosk selbstverständlich für geklautes geld frauenzimmer winden wie vipern über mir zwischen den schränken umher / ich schließ das schloss auf / schmeiß die schnürstiefel rein / und zieh ab nach hause.« 37 | D ers .: pestrý výklad kníhkupectva [bunte auslage des buchladens]. In: A rchleb: Račianský výber, S. 54. 38 | D ers .: ležím v posteli [ich liege im bett]. In: A rchleb: Račianský výber, S. 39: »[...] ergo ležím si / a čo sa deje vonku ma už nezaujíma / mám tu voltaira / a to je stokrát lepšie ako prechádzka mestom / prechádzka ktorá beztak deprimuje / a núti človeka byť hovädom alebo iným zverom.« 39 | D ers .: cesta [der weg]. In: A rchleb: Račianský výber, S. 32: »[…] nabral som smer k posteli / pterodaktyl sa pošablil / ráno boli nepríjemnosti.« 40 | D ers .: v kotolni [im kesselhaus]. In: A rchleb: Račianský výber, S. 55: »zabil som švába / teraz leží v kúte nebohý / nohy poskladal pod seba / ako pri poslednej modlitbe.«
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Der Underground, die Wende und die Stadt ihre geschminkten gesichter majakowski kenn ich auswendig puschkin übersetze ich ins englische 41
Weder der eine noch der andere vormalige Geselligkeitsort lässt sich mit »Leben« füllen. Leere und Verlusterfahrung allerwege, »keine rettung am horizont« für das von der Nachtschicht kommende Ich, nur Eintönigkeit: Gulasch und Bier, »superblödes kino« und ein »durchgeschwitzter kinosessel«. Nirgends »die glocken einer kleinen weißen kirche« – nirgends Erlösung. 42
A rchleb und die »P sychopathologie des Ü berflusses « Gulasch, Bier und Kino freilich sind Insignien des modernen Massenkonsums, der Überwindung proletarischer Not, die den Alltag der frühindustriellen Städte prägte, und als solche haben die sozialistischen Regime sich die Konsumchancen der kleinen Leute denn auch an die Fahnen geheftet. Insofern ist es nur auf den ersten Blick befremdlich, von den ostmitteleuropäischen Gesellschaften des späten Kalten Kriegs als »Überflussgesellschaften« zu sprechen. Sie waren welche, und sie generierten auch deshalb und nicht allein durch die diktatoriale Sterilisierung weiter Lebensbereiche den Begleiter des Überflusses für anspruchsvollere Seelen: Langeweile. Eine Option, ihr zu entrinnen, ist die Radikalität. Vladimír Archlebs Frau, Tamara Archlebová, erhob ihren Mann im Nachwort des 2008 postum erschienenen Gedichtbandes Račaner Auslese zum »Heizer-Dichter« (kurič-básnik) und stellte ihn so in die romantische Tradition radikaler Lebensentwürfe, als einen holistisch sein Menschtum auslebenden, mit Geist und Körper tätigen, beide nicht schonenden Künstler. Damit sei Archleb, so seine Frau, neben »Gusto« Dobrovodský der letzte seiner Art gewesen, zumindest in der Slowakei. 43 41 | D ers .: čo ma to prepadlo za hnilobu [was für eine fäulnis hat mich da erwischt]. In: A rchleb: Račianský výber, S. 38: »čo ma to prepadlo za hnilobu / lenivý som jak pes / bez nadšenia sa predvádzam / po blbých mestských uliciach / cez zuby sŕkam zlámané putikové vína / samozrejme za ukradnuté prachy / zmije-ženské vykrivujú nado mnou / našminkované tváre // majakovského viem naspamäť / puškina prekladám do angličtiny.« 42 | D ers .: stále počuvám tie reči o slobode [ständig höre ich die reden über freiheit]. In: A rchleb: Račianský výber, S. 53: »[…] spásu na obzore nevidiet’ // žiadne zvony / žiadna tráva ani biely kostol / iba o pol šiestej nejaké priblblé kino / a tam treba rukami pevne zovrieť sedadlá / v upotenom sedadle je pocit istoty […].« – Deutsche Übersetzung: »[…] am horizont keine rettung zu sehen // keine glocken / kein gras und keine weiße kirche / sondern um halb sechs irgendein blödes kino / und dort mit den händen fest den kinosessel umschließen / im verschwitzten kinosessel ist ein gefühl von sicherheit […].« 43 | A rchlebová , Tamara: Vladimír Archleb, zvaný »Rachel« [Vladimír Archleb, genannt »Rachel«]. In: A rchleb: Račianský výber, S. 91-92, hier 91.
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Bewusst oder nicht, »der letzte« Aufrechte oder Mohikaner, »der letzte seiner Art« also intoniert ein Leitmotiv des Kitsches. Darin liegt etwas Treffendes auch hinsichtlich der archlebschen Lyrik und Selbstinszenierung, das zu einem dem US-amerikanischen (homosexuellen) Underground der frühen 1960er Jahre entstammenden Konzept weiterführt: das Konzept des Camp in seiner von Susan Sontag als eine »Art Geheimkode, ein Erkennungszeichen kleiner urbaner Gruppen« skizzierten Form. 44 Nach Sontag ist Camp, der »gute Geschmack des schlechten Geschmacks«, 45 eine »Erlebnisweise« (sensibility) eher denn eine Idee. Genau zu sein, jene Erlebnisweise der Welt, die den Dandyismus für das Zeitalter der Massenkultur übersetzt, indem sie das Vulgäre nicht mehr verachtet, sondern genießt – so es denn hinreichend trickreich und übertrieben, stilisiert und kunstmäßig, phantastisch und dramatisch, leidenschaftlich, ernsthaft und naiv ist, unzeitgemäß. Hinter dem Prinzip des Camp stecke »die alchemistische Umwandlung von kulturellem Giftmüll in etwas Ergreifendes«: Schlechter Geschmack erfordert, um nicht zu langweilen, mindestens soviel Hingabe, Instinkt und Finesse wie guter. Es geht um die Kunst, gleichzeitig ironisch und tief gefühlt bitterernst zu sein, wozu eine konsequente, radikale Haltung gehört. 46
Da die »Wechselbeziehung zwischen Langeweile und Camp […] kaum überschätzt werden [kann],« sei »Camp-Geschmack seinem Wesen nach nur denkbar […] in Gesellschaften oder Kreisen, die in der Lage sind, die Psychopathologie des Überflusses zu erleben«. 47 Es scheint nicht zuletzt dieser gute Geschmack im Vulgären, das dandyeske Moment im archlebschen »Überdrussekel« (Aurel Kolnai) zu sein, die ihn von der »schamlosen Poesie« zurückhalten, seinen Flaneur gegen den im Underground beliebteren Streuner absetzen. Beispielhaft finden sich Bezüge dazu in bild vom sommer (obrázok z leta) vom Mai 1979: die sommerlandschaft sieht nicht mehr aus wie in der kindheit das ist nicht mehr der landstrich poussins wo sich satyre mit nymphen in sattem grün bewegen wo munter wein in schöne becher fließt oh gott – wohin sind der gold’ne geruch der kleider die edlen gestalten mit den römischen nasen den athletischen waden 44 | S ontag , Susan: Anmerkungen zu »Camp«. In: D ies .: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt am Main 92009, S. 322-341, hier 322. 45 | Ebd., S. 340. 46 | E nzian, Felix Johannes: Soll das wirklich so schlecht klingen? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.04.2014, S. 13. 47 | S ontag: Anmerkungen zu »Camp«, S. 338.
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Der Underground, die Wende und die Stadt die ist jetzt echt irgendwie anders kein idyllchen mehr nirgends kann man einen ballen hinabwälzen die wiesen sehen schrecklich ungesund aus voller papierabfälle und allem möglichen schweinskram dass ich dem klassischen bett den vorzug gebe wo es auch mehr als genug gibt von dem wunderbaren geruch gemähten heus die halme frisch nachwachsen blauer himmel mit lästigem insekt das ist heute echt kein idyllchen mehr und ich weiß nicht wohin mit der mieze ins theater ins kino damit sie sich nicht langweilt alles scheint mir lächerlich und ihr sicherlich auch von jener natur schweigen wir lieber weil ich die nicht rauslocken will die büsche sind voller päderasten und voyeure und das wäre auch für mich ein schock 48
Die Natur ist hin, ist städtisch verkommen, ließe sich das Gedicht auf den Punkt bringen und als Variation auf die Internierung des Städters lesen, egal wie weit er sich hinaus begibt – hier offenkundig nur bis zum nächsten Park, der als räudiger Nachfahre einstiger »Landschaft« auftritt. Die Langeweile ist da und ihre Unentrinnbarkeit, weniger trotz, sondern wegen der lapidar angerissenen einschlägigen Vergnügungsoptionen. Die (sozialistische) Stadtlandschaft bleibt eine entleerte, ästhetisch, historisch, von Sinn (»alles scheint mir lächerlich«). Und eine verkommene, in den Büschen wimmeln Triebtäter, und irgendjemand muss es ja zugelassen oder betrieben haben, dass alles mit »papierabfällen« – wohl namentlich bedruckten – und anderem »schweinkram« bedeckt ist. Eine korrumpierte Natur, eine korrumpierende Zivilisation, eine postmoralische Gesellschaft. 48 | A rchleb, Vladimír: obrázok z leta [bild vom sommer]. In: A rchleb: Račianský výber, S. 20-21: »letná krajina už nevyzerá ako z detstva / už to nie je tá poussainovská krajinka / kde pobehujú satyri s nymfami v sýtej zeleni / kde sa víno zdravo leje do krásnych čiaš / oh bože – kde je ten zlatistý dych odevov / ušľachtilé tváre s rímskými nosmi / atletickými lýtkami / teraz je to fakt nejaké iné / žiadna idylka / človek už nikde nemôže zvaliť buchtu / lúky vyzerajú strašne nezdravo / plné papierov odpadkov a všelijakého svinstva / že radšej dám prednosť klasickej posteli / kde je potom preboha / tá krásna vôňa pokoseného sena / trávička čerstvo dorastajúca / modrá obloha s dotieravým hmyzom / dnes už to fakt nie je žiadna idylka / a neviem ani kam zobrať kočku / do divadla do kina aby sa nenudila / všetko sa mi zdá smiešne / a jej zrejme tak isto / o tej prírode radšej mlčím / pretože ju nechcem vyľakať / kríky sú plné pederastov a voyerov / a to byl šok aj pre mňa.«
3. Angeekelt in Bratislava: Vladimír Archleb
Damit stellt sich Archleb nicht zuletzt gegen einen so gewichtigen Dichter wie Dominik Tatarka, der die städtischen Parkanlagen Bratislavas – insbesondere den Gebirgspark, den Janko-Kráľ-Garten und schließlich oberhalb der Stadt den Hügel Koliba – als kultivierten Naturgegenpol zur Devastierung der menschlichen Beziehungen thematisierte. 49 Möglich, dass auch Tatarka folgender Vers Archlebs galt: »meine freunde wollten neue landschaften entdecken / und dann in ihnen gegen die bourgeoisie kämpfen / nur dass das mit steif gewordenen kragen nicht geht.«50 Seine dramatisierende Fallhöhe indes gewinnt der Sommertext von Archleb erst durch die preziöse Gewähltheit der Referenzgröße Nicolas Poussin und dessen Gemälde Sommer von 1664. Viel artifizieller geht es nicht, und viel altersmüder kann ein lyrisches Subjekt nicht daherkommen, als implizit die eigene Kindheit mit der der europäischen Neuzeit zu verblenden. Mehr noch, mit einem selbst bereits eschatologisch überhöhten Artefakt des Barock: Poussin schuf das Bild – am Ende seines Lebens – als Teil eines Jahreszeitenzyklus, der den Frühling durch Adam und Eva im Paradies repräsentiert; den Sommer durch die Ähren lesende Ruth auf dem Feld des Boas; den Herbst durch die mit prächtigen Früchten aus dem Gelobten Land zurückkehrenden israelitischen Kundschafter; den Winter durch die einsetzende Sintflut. Auf die pompöse Allusion folgen Elemente anderer Landschaftsmalereien Poussins, die nun wiederum in naiver Schlichtheit, ja Klischierung ausgemalt werden, gipfelnd im Diminutiv »Idyllchen«. Die sentimentale Sehnsucht darin passt zwar bestens zu dem von Zajac als Schlüsselbegriff ausgemachten lacný, umso schlechter jedoch zur erlesenen Bildungsgeste der Poussin-Referenz wie dem abschließenden, ostentativ blasierten Zugeständnis, büscheweise Päderasten und Voyeure vermöchten wohl sogar das lyrische Ich aus der Fassung zu bringen. Was selbst wiederum einen Sprung enthält, ließe sich doch der wahre ästhetisierende Snob im Gefolge eines Oscar Wilde auch (oder gerade) davon nicht »schockieren«. Geschweige, dass er es einräumte. Kurz, während die Brechung des Erhabenen durch Banales im zweiten Teil ein gängiges ästhetisches Verfahren des Underground darstellt, »verunglückt« hier bereits das Erhabenheitsspiel und wird so vulgär. Abermals klingt es in der Beobachtung von Zajac bereits an, Archlebs »Anzüglichkeit« liege im Ästhetischen. Eben das ist Camp: die exzentrisch übersteigerte Geste, die am Zuviel scheiternde Stilisierung, ein lustvoll-ordinäres Verfehlen des Angemessenen, deren Ernst und Leidenschaft indes stark genug durchscheinen, um nicht zu beschämen, sondern zu faszinieren. Camp, schreibt Susan Sontag, »ist eine Frau, die in drei Millionen Federn herumläuft«.51 In ihren stärksten Momenten ist Archlebs Ly49 | Diesen Hinweis verdanke ich Peter Z ajac . 50 | A rchleb, Vladimír: moji priatelia [meine freunde]. In: A rchleb: Račianský výber, S. 52: »moji priatelia chceli objavovať nové krajiny / a potom v nich bojovať proti buržoázii / lenže to sa so stvrdnutými goliermi nedá / [...].« 51 | S ontag: Anmerkungen zu »Camp«, S. 331.
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rik diese Frau, die wir uns als einen hohnlachenden, verheult überschminkten Transvestiten vorzustellen haben. Sie ist in der Tat nicht »schamlos«, sondern im doppelten, dem befreienden wie aggressiven Sinne unverschämt. Archleb macht vor dem explizit Obszönen nicht halt, er überspringt es. Aby Warburg und – ihn aufgreifend und weiterführend – Georges Didi-Hubermann verfolgten die Figur der Nymphe von der antiken Skulptur über die europäische Malerei bis hin zur Lyrik Charles Baudelaires, der Fotografie von László Moholy-Nagy und den Papierfrottagen Pablo Picassos. In ihrer Deutung gewinnt der Faltenwurf der entblößten Nymphe »figurale Autonomie«, ja wird zur »Pathosformel des Begehrens«.52 Didi-Hubermann sieht in einem anderen Bild Poussins, Triumph des Pan von 1636, einen wegweisenden Umgang mit der Ninfa moderna. In der Mitte des Bilds, im Bildraum vor der göttlichen bacchanalischen Entfesselung, liegt ein weißer Stofffetzen, eine menschenähnliche Gestalt imitierend: Irritierend für das Schicksal, das er dem Anthropomorphismus bereitet: die menschliche Form hat sich tatsächlich verflüchtigt. Aber sie bleibt als Suspense – oder vielmehr als Krümmung, als Rebus –, als letztmögliche Form menschlichen Begehrens gegenwärtig. Etwas wie ein Fetzen Zeit. 53
Hier, an diesem Fetzen, setzt Archlebs Reminiszenz ein, denn es ist zwar der poussinsche Sommer, auf den er mit seinem Gedicht rekurriert, jedoch trauert sein Sprecher den Bacchanalien nach, den früheren Bildern des Künstlers:54 »wo sich satyre mit nymphen in sattem grün bewegen / wo munter wein in schöne becher fließt.« Die Weinorgie der Götter hinterließ jedoch den Landstrich so wenig einladend wie die beflissenen Erntehelfer aus Sommer, von deren Eifer nichts geblieben ist außer »papierabfälle«. Die wiederum haben so gar nichts gemeinsam mit dem »schönen Lumpen«, von dem Didi-Hubermann spricht. Die »letztmögliche Form menschlichen Begehrens« wird im Gedicht ebenso wenig eingelöst wie die Hoffnung auf die errettende Kraft des Kitsches, für den das Sommer-Bild als massenreproduziertes Wohnzimmerbild wohl nur noch steht. Ähnlich subtil sublimieren Archlebs Texte das den Underground ausmachende Vertikalitätsaxiom: Es wird erstens überführt in das nicht thematisierte, allein poetisch ausgespielte Gefälle Hochkultur (Poussin) versus Volkskultur (Gulasch, Kino, Mieze). Der zweite Schritt ist die vordergründig larmoyante Torsion, dem Niederen die faktische Macht und dem Höheren moralische Überlegenheit zuzuerkennen. Im entscheidenden dritten Schritt verflüchtigen sich beide Wertungen im rein ästhetischen Spiel, das »Oben« und »Unten« mehrpolig-beliebig aufhebt.
52 | D idi -H ubermann, Georges: Ninfa moderna. Über den Fall des Faltenwurfs. ZürichBerlin 2006, S. 19-20 u. 26. 53 | Ebd., S. 27. 54 | M érot, Alain: Poussin. Paris 1990, S. 275-283.
3. Angeekelt in Bratislava: Vladimír Archleb
Nicht nur Schönheit, sondern die Schönheitsdefinition selbst und mithin alle Hierarchie is in the eye of the beholder. Das ist selbst für den Underground radikal. Es entspricht indes der ästhetischen »Erlebnisweise« einer intellektuell-homosexuellen Subkultur New Yorks in den zunehmend repressiven Jahren vor den Stonewall Riots auf der Christopher Street, die – zumindest in Sontags Lesart – nicht von Hoffnung auf Inklusion geprägt war, sondern vom aristokratischen Neoästhetizismus des Camp, die alles Politische und Moralische als eigentlich vulgär verachtete, sich darin als neue Avantgarde begriff. Es ist dieser Kontext global-moderner Underground-Haltungen und -Ästhetiken, in dem sich Archlebs Gedicht erschließt, ebenso wie die Signifikanz seines konsequenten Verzichts auf lokale Toponymisierungen. Archleb ist mithin auch insofern radikaler Underground, als er nicht nur mit Mainstream und Kanon bricht, sondern die Tradition überhaupt negiert, einschließlich der avantgardistischen, um ostentativ nicht von einer konkreten historischen Situation handeln zu können, sondern vom Skandal der modernen conditio humana überhaupt. Immerhin hätte er statt der Bilder Poussins auch die heilenden slowakischen Berge Janko Jesenskýs zur Folie wählen können. Ebenso hätte er »klassische« Verluste benennen können wie das sonst ubiquitäre, von Archleb auch als Leerstelle nie verwandte Caféhaus. Weder der überlieferte Antiurbanismus noch politische Opposition instruieren vorderhand diese Lyrik, auch wo es auf den ersten Blick scheint, als greife sie auf etablierte Leitmotive zurück: Nicht Bratislava ist leergeräumt von Geschichte, Mythen, Hoffnung, sondern die Welt. Der vulgär gewendete Dandy-Flaneur ist eben kein zwischen Plattenbauten und Altstadtwinkel geratener Wiedergänger des Banditenrebellen und legendären Nationalhelden Juraj Jánošík. Kein Dissident, mag er auch so reden – oder wenn, dann ein Dissident der Moderne insgesamt, infiziert mit der Psychopathologie des Überflusses. Indes vereinseitigt die Annäherung über Camp insofern Archleb, als ihm das von Susan Sontag zentral gesetzte komische Element, die Heiterkeit im vulgären Genussspiel zumindest regelmäßig von einem Affekt gebrochen wird, der von bloßer Leidenschaft zu unterscheiden ist: dem bereits angesprochenen Ekel.
B eyond C amp : E kel Winfried Menninghaus definiert in seinem Vorwort zu Ekel diese »starke Empfindung« als »Alarm- und Ausnahmezustand, eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, ein Krampf und Kampf, in dem es buchstäblich um Sein oder Nicht-Sein geht«.55 In Anlehnung an Friedrich Nietzsche versteht er Ekel als »besonders kräftiges Nein-Sagen«56 und nennt drei elementa55 | M enninghaus , Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main 1999, S. 7. 56 | Ebd., S. 8.
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re Merkmale: »die heftige Abwehr (1) einer psychischen Präsenz bzw. eines uns nahegehenden Phänomens (2), von dem in unterschiedlichen Graden zugleich eine unterbewusste Attraktion bis offene Faszination ausgehen kann (3)«.57 Damit erweitert Menninghaus den Blick auf das Ekelhafte, um ihn in den Einzelfällen wieder auf einen spezifischen Kreis von Phänomenen einzuschränken, die im Betrachter eine quasi-automatische Abwehrreaktion auslösen. Zu ihnen zählen materielle, im Allgemeinen organische Ekelobjekte wie der verwesende Leichnam, Gestank, Eiter, Exkremente, Insekten oder Reptilien. Sie lassen sich indes durch Aurel Kolnais – zunächst katholisch-konservativ inspirierten – moralischen »Überdrussekel« ergänzen,58 den er systematisch von Angst, Hass oder Verachtung absetzt: eben aufgrund der einhergehenden Faszination und des Mangels einer Bedrohung. Vielmehr liege eine »unerträgliche Belästigung« vor. Dass Ekel, wiewohl schlechthinniges Muster menschlicher Subjektivität, in Abhängigkeit von gesellschaftlich konditionierten ästhetischen und ethischen Urteilen empfunden wird, liegt auf der Hand. Vladimír Archlebs Lyrik nun »weist« nicht »zurück«, »lehnt« nicht »ab« oder »protestiert gegen«. Sie ekelt sich. Das ist bemerkenswert, weil anders als im Surrealismus das offensichtlich Ekelhafte zwar nicht zum primären ästhetischen Arsenal des Underground zählt, von etlichen seiner Vertreter jedoch gezielt integriert wird – während Archleb in dieser Hinsicht relativ zurückhaltend bleibt. Es verhält sich ähnlich wie mit dem Obszönen: Er überspringt es, indem er es als Empfinden in die Stimme seiner lyrischen Subjekte legt. In bild vom sommer sehen die Wiesen nicht einfach zugerichtet aus, sondern sind »schrecklich« zugerichtet. Die Idylle ist nicht einfach keine Idylle mehr, sondern echt keine Idylle: also »ehrlich«, »wirklich« oder inzwischen auch im Deutschen »fakt«. Andere seiner lyrischen Subjekte wirkten wie paralysiert im Überdruss: Wenn sie Dinge bekommen, nach denen sie sich lange gesehnt haben, sind sie angewidert. Wenn sie auf Dinge kommen, über die sie lange nachgedacht haben, sind sie enttäuscht.59 Eben kein Genießer von Camp, sondern ein Produzent, bricht Archleb der sontagschen »Erlebnisweise« die versöhnlerische Spitze. Ebenso wenig macht er sich etwa zum heiligen Narren einer auch von weltlichen Ersatzreligionen säkularisierten Zeit, in der das Ästhetische das Sacrum ersetzt hat. Vielmehr räumt er im starken lyrischen Affekt seines »Nein« pars pro toto anhand des gesichtslosen Bratislava die Bühne der Hoffnungen und Tröstungen ausweglos ab. Und ist offenkundig fasziniert von der unerträglichen Belästigung durch die reproduzierte Leere.
57 | Ebd., S. 13-14. 58 | K olnai, Aurel: Der Ekel. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 10 (1929), S. 515-569, hier 545. 59 | A rchleb, Vladimír: sú veci [es gibt sachen]. In: A rchleb: Račianský výber, S. 33.
4. Christus wird ruhiger Marcin Świetlicki, Krakau, der Underground und der Pop
Eines Tages wird die Stadt mir gehören. Vorerst lauf ich noch herum. Vorerst schau ich mich noch um. Vorerst schärfe ich mein Messer. Steck es ein – zieh den Schlagring über. Bespuckt. Bespuckt.1 M arcin Ś wietlic ki, 1996 Ich liege und gucke an die Decke. Die Stadt gehörte irgendwann einmal mir so für fünf Minuten. 2 M arcin Ś wietlic ki, 2003
In seinem lyrischen Zyklus Bespuckt, Bespuckt 2 und Bespuckt (44), schließlich Bespuckt (74) tritt Marcin Świetlicki als apokalyptischer Christus an, widerruft kaum minder spektakulär und richtet sich schließlich gleich einem eschatologischen Oblomov zwischen »Multikino« und Friedhof ein – innerhalb eines Jahrzehnts, zwischen 1992 und 2003.3 Dergestalt kommt der Zyklus daher wie eine 1 | Ś wietlicki, Marcin: Opluty [Bespuckt]. In: D ers .: Wiersze. Kraków 2011, S. 150-151. 2 | D ers .: Opluty (74). In: Ebd., S. 368. 3 | 1996 nahm Świetlicki Opluty in seine Sammlung 37 gedichte über wodka und zigaretten (37 wierszy o wódce i papierosach) auf. Indes spielte seine 1992 gegründete Band Świetliki den Song als Opluty (44) schon einige Jahre zuvor – immer wieder leicht modifiziert – auf ihren Konzerten. Unter diesem Titel findet er sich auch auf dem ersten Studioalbum der Band Konzentrationsgarten (Ogród koncentracyjny, 1995). Opluty 2 wurde 1996 auf Cacy Cacy Fleischmaschine veröffentlicht, dem zweiten Studioalbum. Der Song ist jedoch nicht in der Krakauer Gesamtausgabe von 2011 enthalten, anders als Opluty (74), das 2002 schon in den Band Außer Betrieb (Nieczynny) einging.
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komprimierte Selbstreflexion des Underground zwischen dem 20. und 21. Jahrhundert, zwischen sozialistischer Moderne und kapitalistischer Postmoderne, im Angesicht des Pop. Anfang der 1990er Jahre schockierte Świetlicki auf einem Abend in Krakau zu Ehren des Nobelpreisdichters Czesław Miłosz die Zuhörer mit dem Gedicht Bespuckt (Opluty). Er las es nicht, sondern schmetterte die Zeilen mit dem Einstiegsvers »Eines Tages wird die Stadt mir gehören« ins Publikum, begleitet von seiner Band Świetliki (Leuchtkäfer). 4 Spielte diese Phantasie einer gewalttätigen Okkupation der Polis durch das lyrische Ich noch einmal das für Underground-Kunst konstitutive Postulat vom Scheitern der utopischen Moderne aus – so reflektierten 1996 Bespuckt 2 und 2003 Bespuckt (74) nach der metaphysischen Aufladung des Underground sein eigenes Scheitern. Darin liegt eine bezeichnende Tendenz, die sich namentlich in Świetlickis Spiel mit der hier abermals gebrochen wiederkehrenden Figur des Flaneurs manifestiert. Sie wird im Folgenden vor allem entlang der christologischen Konturierung des lyrischen Subjekts vor dem Hintergrund der polnischen Literaturtradition umrissen.
A ntipolitik des K onkre ten Marcin Świetlicki, geboren 1961, lebt seit den 1980er Jahren in Krakau, studierte dort Polonistik, verwarf sein Studium, leistete dann seinen Wehrdienst in der Polnischen Volksarmee, hielt sich danach unter anderem als Erzieher über Wasser, als Wachmann, Sekretär, Feuerwehrmann, Korrektor für den Tygodnik Powszechny (Allgemeine Wochenzeitung). Seine ersten lyrischen Stücke veröffentlichte er Ende der 1970er Jahre in Jugendzeitschriften wie Radar, später dann in Underground-Zeitschriften wie NaGłos (AnLaut), bruLion (Schmierheft) und Arka (Arche). 1992 gründete er die Post-Punk-Band Świetliki und hat sich seither als Musiker, Krimi-Autor,5 Schauspieler und Moderator der Fernsehsendung Pegaz (Pegasus) einen Namen gemacht. Eine Vita, die sich heute liest wie der klischierte Waschzettel eines beliebigen pseudoabenteuerlichen Nachwuchsautors. Entscheidend ist zunächst anderes: Dass Świetlicki wie der im nächsten Kapitel zu besprechende Jacek Podsiadło zur bruLion-Gruppe gehörte und wie Podsiadło früh als »O’Harist« und »Barbar« klassifiziert wurde, nachdem er das als literarischer Dienst an der Nation verstandene Schreiben für »Sklavenpoesie« (poezja niewolników) erklärt hatte – ein State4 | Miłosz habe dazu angeblich ungerührt bemerkt, so etwas kenne er schon aus Amerika. Siehe G myz , Cezary: Marcin Świetlicki – poeta »Pegaza«. [Świetlicki – ein Dichter des »Pegasus«]. In: Życie v. 23.02.2001, S. 9-12. – K ijowska , Marta: Krakau. Spaziergang durch eine Dichterstadt. München 2005, S. 185-186. 5 | Darunter Ś wietlicki, Marcin: Dwanaście [Zwölf]. Kraków 2006. – D ers .: Trzynaście [Dreizehn]. Kraków 2007. – D ers .: Jedenaście [Elf]. Kraków 2008.
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ment, das ihm in der Tat das Label »Rebell« einbrachte, und den Vorwurf oder das Kompliment, der »lauteste Dichter der Generation bruLion« zu sein.6 Die Unterground-Zeitschrift bruLion erschien seit 1986 unter ihrem Mitbegründer und späterem Chefredakteur, dem Dichter Robert Tekieli.7 Übersetzt meint brulion Kladde im Sinne von Schmierbuch, Notizheft oder Kritzelei.8 Darin schwingen das Unfertige und Hingeklierte mit, ästhetische Produktionsweisen also, die auf Authentizität und Individualität abstellen. Die Großschreibung »Lion« wiederum eröffnet Assoziationen mit dem französischen brut, »roh«, und lion, »Löwe«.9 Die Zeitschrift legte es darauf an, die polnische Öffentlichkeit mit Plädoyers für Pornografie, sexuelle Revolution, Drogenfreigabe, mit zur Schau gestellten antisemitischen und rassistischen Überlegungen zu brüskieren, mit Aktionen wie Bücherverbrennungen, dem Abdruck einer Rede von Heinrich Himmler oder einem Interview mit einem Pornostar: Themen, die das für marginal und unerträglich Erklärte auf das Zentrum einer »Normkultur« ansetzten. Przemysław Czapliński zufolge ging es – wenn man denn bruLion überhaupt eine verbindliche programmatische Idee unterstellen möchte – um Konfrontationen mit dem Extremen.10 Ihren Gegenentwurf sahen die bruLion-Dichter in einer ethisch-politisch kontaminierten Lyrik, wie sie auch die Neue Welle (Nowa Fala) beziehungsweise Generation 68 (Pokolenie 68) um Stanisław Barańczak, Julian Kornhauser und Adam Zaga6 | Siehe den Interviewband von D unin -Wąsowic z, Paweł: Marcin Świetlicki. Mentalny kloszard [Marcin Świetlicki. Ein mentaler Clochard]. In: D ers .: Rozmowy Lampowe 19932007. Warzawa 2007, S. 227-232, hier 227. 7 | Unter Tekielis Leitung änderte sich dann die Ausrichtung der späteren Nummern. Der Journalist und Katholik befasst sich heute mit Themen wie Psychomanipulation und Exorzismus. 8 | Zur Genese der Gruppierung Wieczorek , Marcin: bruLion. Instrukcja obsługi [bruLion. Gebrauchsanweisung]. Kraków 2005. – Jarosław Klejnocki beschreibt das programmatische Anliegen als »horizontale Demokratisierung der Kultur«. K lejnocki, Jarosław: Podziemny »bruLion« – czy początek nowej formacji? [Das untergründige bruLion – Beginn einer neuen Formation?]. In: Czeska a polska literatura drugiego obiegu / Česká a samizdatová literatura. Hg. v. Libor M artinek u. Martin Tichý. Opava 2004, S. 207-212. – Siehe zusammenfassend auch den Band: Tekstylia. O »rocznikach siedemdziesiątych« [Textur. Über die »siebziger Jahrgänge«]. Hg. v. Piotr M arecki, Igor S tokfiszewski u. Michał Witkowski. Kraków 2002. 9 | Weitere Schreibarten waren bRULION oder bRuLIoN, was zusätzliche Bedeutungen eröffnet, wie das auch lautmalerisch mitschwingende rule im Sinne von »Norm« bzw. »Macht«. – Für diesen Hinweis danke ich Matthias S chwartz . 10 | C zapliński, Przemysław: Ruchome marginesy. Szkice o literaturze lat 90 [Bewegliche Ränder. Skizze zur Literatur der 90er Jahre]. Kraków 2002, S. 55. – Siehe auch Ders.: Das Erbe der Zeitschrift »bruLion«. In: Sondernummer zur Frankfurter Buchmesse 1998: www. fa-art.pl/deutsche/08erbe.html (Letzter Zugriff: 22.02.2014), S. 1-8, hier 5.
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jewski verkörperte. Ebenso klassisch gewordene Dichter wie Zbigniew Herbert und Czesław Miłosz blieben gleichfalls nicht von ihren Angriffen verschont. Die bruLion-Lyriker wurden namentlich dafür kritisiert, das nationalromantische Erbe zu sabotieren: Dazu zählen der Wille, das eigene Schaffen schicksalhaft mit der Nation zu verbinden; die ethische Verpflichtung zur literarischen Zeugenschaft; die Bereitschaft, engagierte Literatur zu schreiben. Einer ihrer Kritiker, Karol Maliszewski, brachte 1995 die Bezeichnung »Barbaren« (barbarzyńcy) in Umlauf, die sich schnell einbürgern sollte.11 Auf diese Weise beförderte Maliszewski die Wiederauflage eines historischen Streits zwischen Klassikern (klasycyści) und Romantikern (romantycy).12 Tomasz Burek wiederum brachte ein weniger schmeichelhaftes Stichwort in Umlauf: »neue polnische Kitschschule«.13 Die zur »Generation« (pokolenie) oder »Formation« ( formacje) gezählten Dichter wurden dementsprechend in der Debatte auch verschieden klassifiziert: Marcin Baran, Krzysztof Koehler und Artur Szlosarek als »Klassizisten«; Tadeusz Pioro und Andrzej Sosnowski als »Avantgardisten«; Jacek Podsiadło und Marcin Świetlicki als »O’Haristen« – in Anspielung an die Stadtdichtung des Amerikaners Frank O’Hara.14 Als einer der Ersten entwickelte Krzysztof Koehler für die Dichtung Świetlickis die Bezeichnung »O’Harismus« (o’haryzm) – und warf ihr vor, es fehle ihr an ästhetischem Wert und nationaler Orientierung, nicht zuletzt strotze sie vor rhetorischen Gesten und diene sich dem Pop an. Auch ohne den Begriff mit näher spezifizierten poetologischen Zuschreibungen zu füllen, nahm ihn Maliszewski dann 1995 als Anlass für seinen Angriff auf die »Barbaren«, die sich für ihn durch eine konkrete Sprache, den Rückbezug auf das Private, die Einbindung aus dem Alltäglichen entnommener Fakten auszeichnen. Świetlicki revanchierte sich im Übrigen später bei Koehler mit dem Begriff des »Koehlerismus« (koehleryzm).15 11 | M aliszewski, Karol: Nasi klasycyści, nasi barbarzyńcy. Szkice o nowej poezji [Unsere Klassizisten, unsere Barbaren. Skizze zur aktuellen Lyrik]. Bydgoszcz 1999. Zuerst in Ausgabe 19 (1995) von Nowy Nurt (Neue Strömung) erschienen. 12 | K lejnocki, Jarosław/S osnowski, Jerzy: Chwilowe zawieszenie broni. O twórczości tzw. pokolenia »bruLionu« (1986–1996) [Vorübergehender Waffenstillstand. Über das Schaffen der sogenannten Generation »bruLion«]. Warszawa 1996, S. 81-95. 13 | B urek , Tomasz zit. nach Ś liwiński, Piotr: Wolność od arcydzieł? Dyskusja o literaturze lat 90. [Befreiung von den Meisterwerken. Diskussion über die Literatur der 1990er Jahre]. In: Tygodnik Powszechny v. 14.05.2000, S. 14-15, hier 14. 14 | Zur Genese des Neologismus im Polnischen siehe O lszański, Grzegorz: O’Haryzm [O’Harismus]. In: Słownik literatury polskiej. Katowice 2008, S. 910-911. – Zusammenfassend auch O rska , Joanna: Co to jest o’haryzm? Próba krytycznej rewizji pojęcia [Was ist O’Harismus? Versuch einer kritischen Revision des Begriffs]. In: Kresy 3 (1998), S. 44-57. 15 | K oehler, Krzysztof: O’haryzm. In: bruLion 14-15 (1990), S. 141-142. – Ś wietlicki, Marcin: Koehleryzm. In: bruLion 16 (1990), S. 39-41. Englisch auch unter Ś wietlicki, Marcin: Koehlerism. In: Chicago Review 3-4 (2000), S. 282-284.
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So umstritten Świetlickis und Podsiadłos Labeling als O’Haristen ist, benennt Joanna Niżyńska doch den Charme, den die Verbindung für die so Kategorisierten denn auch hatte: »[…] the poets eagerly embraced it, whether as a sign of poetic cross-fertilization with the foreign, or as a performative gesture of removal from the native.«16 Daneben ließen sie sich aber auch vom Turpismus eines Rafał Wojaczek und den poètes maudits Andrzej Bursa und Edward Stachura inspirieren. Marcin Baran feiert die »Brulionisten« – also sich – poetisch als »sensual mystics«, »verbal testpilots« oder »songsters of confession«.17 Ihre Sprache ist die mowa żywa (Jan Rozwadowski), eine lebendige, mitunter rotzige Umgangssprache. Małgorzata Warchol-Schlottmann machte in diesem Zusammenhang auf die Unterschiede im Gebrauch der Umgangssprache innerhalb der polnischen Literatur aufmerksam. Diente sie der Neuen Welle noch zur Demaskierung einer manipulativen »offiziellen« Sprache, so nutzten sie Marek Hłasko oder Marek Nowakowski beispielsweise, um entsprechende Milieus zu beschreiben: das der Obdachlosen, Säufer und Diebe.18 Anders die bruLion-Dichter, deren sprachliche Grundierung zorniger, mithin aggressiver war. Leser wie Rezensenten meinten insbesondere bei Świetlicki eine spezifische Authentizität auszumachen, die er zum poetologischen Konzept erhob, indem seine Protagonisten konsequent eine auf den empirischen Autor deutende Rolle als underdogs zu spielen bekamen und Świetlicki die Grenzen zwischen stilisiertem Dichter und Dichter-Figuren bewusst zerfließen ließ – nicht zuletzt durch die Gründung »seiner« Band Świetliki, die Świetlickis von ihm auf der Bühne rezitierten Gedichte musikalisch begleitete. Marian Stala charakterisiert Świetlickis poetologisches Programm denn auch unter Berufung auf einen Vers aus Ethos der Arbeit (24. März 1988), ein Gedicht über den Gang die Stufen hinauf zum Warschauer Kulturpalast: »Keine Metapher: / eine authentische Geschichte.«19 Für Stala kennzeichnet der Schlüsselvers einen privaten, »individuellen Mythos«.20 Selbstüberhöhung, ohne Zweifel. Ähnlich benennt Piotr Śliwiński als Zentrum der frühen Gedichte Świetlickis: »Widerstand, Dagegensein, das Postulieren von Opposition, das Ausstellen von 16 | N iż yńska , Joanna: The Impossibility of Shrugging One’s Shoulders. O’Harists, O’Hara, and Post-1989 Polish Poetry. In: Slavic Review 3 (2007), S. 463-484, hier 464. 17 | Baran, Marcin: Informal, Singular Duties. In: Carnivorous Boy, Carnivorous Bird. Poetry from Poland. Hg. v. Marcin Baran, Anna Skucińska u. Elżbieta Wójcik-L eese . Brookline, Mass. 2004, S. i-v, hier ii-iii. 18 | Warchol-S chlot tmann, Małgorzata: Polnische Sprache nach der Wende 1989. Frankfurt am Main u.a. 2009, S. 230. 19 | Ś wietlicki, Marcin: Etos pracy (24. marca 1988) [Ethos der Arbeit (24. März 1988)]. In: Ś wietlicki: Wiersze, S. 58: »Żadna metafora: / autentyczna historia.« – Das Gedicht entstammt dem Debütband Winterlandschaften (Zimne kraje, 1992). 20 | S tala , Marian: Piosenka niekochanego [Das Lied des Ungeliebten]. In: D ers .: Druga strona. Notatki o poezji współczesnej. Kraków 1997, S. 189-195, hier 193.
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Überheblichkeit, das Schroffe, die berühmte Nichtdazusetzbarkeit, das Dysfunktionale, Sich-Nicht-Fügen-Wollende – sind austauschbare Eigenschaften des Helden seiner Gedichte.«21 Zugleich jedoch sah er in den späteren Sammlungen Świetlickis das Rebellische schwinden und bereits 1994 im Todesnarzissmus von Schisma (Schizma) eine autobiografische Hybrisfrustration aufscheinen.22 Śliwińskis Rezension wiederum provozierte Paweł Panas, gerade darin die Authentizität Świetlickis zu verteidigen, dessen ungebrochenen Modernismus.23 Den unbedingten Rebell gab Świetlicki bereits 1988, als er mit Für Jan Polkowski (Dla Jana Polkowskiego) einen heftigen Streit zwischen den literarischen Generationen, aber auch innerhalb von bruLion auslöste. Das Gedicht wurde als das »Manifest in Versen« (wiersz manifest) verstanden, als das es gemeint war: ein Frontalangriff gegen die politisch überfrachtete »Poesie des Kriegszustands« (Poezja stanu wojennego) der 1980er Jahre, also die literarische Reaktion auf die Verhängung des Kriegsrechts 1981-1983 und seine Folgerepressionen. Aus ihren Autoren greift das Gedicht-Manifest im Titel Jan Polkowski heraus, einen im Samizdat beziehungsweise »zweiten Umlauf« (drugi obieg) publizierenden Vertreter der Generation 76 (Pokolenie 76) beziehungsweise Neuen Jahrgänge (Nowe Roczniki). Sie sind eine Alters- als ästhetische Kohorte um Tomasz Jastrun, Antoni Pawlak und Polkowski und debütierten um das Gründungsjahr des »Komitees zur Verteidigung der Arbeiter« (Komitet Obrony Robotników, KOR). Polkowski, nur acht Jahre älter als Świetlicki, engagierte sich z.B. in der Solidarność und stand ästhetisch der früher zu verortenden Neuen Welle nahe. […] Anstatt zu sagen: der Zahn tut mir weh, ich bin hungrig, einsam, wir zwei, wir vier, unsere Straße – sagen sie leise: Wanda 21 | Ś liwiński, Piotr: Wiersze graniczne [Grenz-Gedichte]. In: D ers .: Przygody z wolnością. Uwagi o poezji współczesnej. Kraków 2002, S. 142-149, hier 145. – Siehe auch D ers .: O Świetlickim słówko [Auf ein Wörtchen zu Świetlicki]. In: Kresy 3 (2001), S. 46-47, hier 46. 22 | Ders.: Poeta wyłączony [Der ausgeschaltete Dichter]. In: Gazeta Wyborcza v. 27.03.2003, S. 3. 23 | Panas , Paweł: Na tropie autora. O poezji Marcina Świetlickiego i nie tylko [Auf der Spur des Autors. Über die Dichtung Marcin Świetlickis und nicht nur darüber]. In: Teksty Drugie 6 (2005), S. 141-151, hier 149. – Eine Sympathiebekundung lieferte z.B. Bartosz Muszyński 1999 mit JW 6174. Sein Gedicht spielt mit der Abkürzung für »Armeeeinheit« (Jednostka Wojskowa) und dem vierstelligen Garnisonskode auf den Armeedienst Świetlickis an. Allerdings verwendet Muszyński keinen Ortskode, sondern setzt die Zahl aus seinem und dem Geburtsjahr Świetlickis zusammen. Siehe D unin -Wąsowic z, Paweł: Oko smoka. Literatura tzw. pokolenia »bruLionu« wobec rzeczywistości III RP [Das Auge des Drachen. Die Literatur der sog. Generation »bruLion« angesichts der Realität der III. Polnischen Republik]. Warszawa 2005, S. 23-25.
4. Christus wird ruhiger: Marcin Świetlicki Wasilewska, Cyprian Kamil Norwid, Józef Piłsudski, Ukraine, Litauen, Thomas Mann, die Bibel und unbedingt etwas auf Jiddisch. Würde in dieser Stadt noch der Drache wohnen so würden sie den Drachen rühmen – oder sich verstecken und in ihren Verstecken Gedichte schreiben – winzige Fäuste, die dem Drachen drohen (sogar Liebesgedichte wären mit Drachenbuchstaben geschrieben…) Ich schaue dem Drachen direkt in die Augen und zucke mit der Schulter. Es ist Juni. Offensichtlich. Es gab hier am Nachmittag einen Sturm. Die Abenddämmerung senkt sich zuerst über die makellos quadratischen Grünanlagen. 24
Obwohl er Für Jan Polkowski selbst für wenig gelungen hielt,25 illustriert es doch bereits Świetlickis zugleich lässige und ätzende, resignierte und trotzige Antihaltung, die ihm das Label eines »engagierten Outsiders« eintrug.26 Im 1995 publizierten Gedichtband Winterlandschaften 2 (Zimne kraje 2) wird er übrigens das Gedicht abwandeln und umbenennen in Nicht für Jan Polkowski (Nie dla Jana Polkowskiego).27 24 | Ś wietlicki, Marcin: Dla Jana Polkowskiego [Für Jan Polkowski]. In: Świetlicki: Wierze, S. 61-62: »[…] Zamiast powiedzieć: ząb mnie boli, jestem / głodny, samotny, my dwoje, nas czworo, / nasza ulica – mówią cicho: Wanda / Wasilewska, Cyprian Kamil Norwid, / Józef Piłsudski, Ukraina, Litwa, / Tomasz Mann, Biblia i koniecznie coś / w jidysz. // Gdyby w tym mieście nadal mieszkał smok / wysławialiby smoka – albo kryjąc się / w swoich kryjówkach pisaliby wiersze / – maleńkie piąstki grożące smokowi / (nawet miłosne wiersze pisane by były / smoczymi literami…) // Patrzę w oko smoka / i wzruszam ramionami. Jest czerwiec. Wyraźnie. / Tuż po południu była burza. Zmierzch zapada najpierw / na idealnie kwadratowych skwerach.« 25 | Wickowski, Piotr: Mnożenie świetlistych punktów. O życiu i twórczości Marcina Świetlickiego [Die Multiplikation von Leuchtpunkten. Über Marcin Świetlickis Leben und Werk]. In: Fraza 16 (1997), S. 106-117, hier 111. 26 | C zapliński, Przemysław/Ś liwiński, Piotr: Literatura polska 1976-1998. Przewodnik po prozie i poezji [Polnische Literatur 1976-1998. Ein Führer durch Prosa und Lyrik]. Kraków 1999, S. 297. 27 | Świetlicki, Marcin: Zimne kraje 2 [Winterlandschaften 2]. Kraków 1995, S. 57. – Siehe weiterführend O rska, Joanna: Co robi z nami historia literatury? [Was macht die Literaturgeschichte mit uns?]. In: Dies.: Liryczne narracje. Nowe tendencje w poezji polskiej 19892006. Kraków 2006, S. 113-126, hier 112-113. – Orska geht davon aus, dass die polnische
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Sein Urspungsgedicht begehrt auf im Namen des Privaten und Konkreten, kleinteilig Realen gegen dessen Auflösung im politischen (Freiheits-)Anliegen, gegen die mystische Realität der Nation, die Unterwerfung selbst der Liebe unter die Machtfrage, das mythologische Raunen der Anspielungen, welches hier aufgenommen und ironisiert wird. Die als sowjetische Kollaborateurin und Propagandistin des Sozialistischen Realismus verworfene Wanda Wasilewska steht neben dem romantischen Exildichterideal Norwid, einem Vorreiter der Moderne und glühendem Verehrer von Charles Baudelaire; es folgen Józef Piłsudski, der Marschall-Diktator der Zweiten Republik, und als Marker seiner Ostpolitik – und eines andauernden polnischen Phantomschmerzes – »Ukraine, Litauen«, die blutig verlorenen kresy. Dann Thomas Mann als Schibboleth kosmopolitischer Bildungsesoterik, die im Messiasder-Nationen-Diskurs unverzichtbare Bibel, »und unbedingt etwas auf Jiddisch«, als ließe sich mit verklärendem Erinnern irgendetwas wieder gut machen oder sei es je gut gewesen. Das ist genuin boshaft, findet seine Steigerung indes im Rekurs auf den altpolnischen Mythos vom mädchenfressenden Drachen unter dem Krakauer Wawel-Hügel, dem zwar die Königstochter Wanda schließlich durch die List eines Schusters entkommen konnte – nicht aber das Dichtervolk in seiner lächerlichen Protestgeste oder Unterwerfung bis hinein in die Sprache. Und das lyrische Ich? Zuckt mit der Schulter und stellt das Offensichtliche fest: Es ist Juni. Ein lichter Monat. Wären da nicht der Sturm, die Abenddämmerung und die allzu beflissen getrimmten »Grünanlagen«. Indes beinhalten auch die Jahreszeit, der lakonisch berichtete Sturm, die Abenddämmerung einen Seitenhieb auf die ironisch-moralisierende Tradition, in der Polkowski steht, und namentlich auf das vielleicht bekannteste Gedicht der »Poesie des Kriegszustands«, Zbigniew Herberts Bericht aus einer belagerten Stadt (Raport z oblężonego Miasta), geschrieben 1982, publiziert im gleichnamigen Band ein Jahr später. Wird dort spekuliert, wann »der Überfall« begann, »vor zweihundert Jahren« (also mit den Teilungen Polens) vielleicht, im September (1939) oder auch Dezember (1981), um den ewigen (»alle kranken wir hier am Schwinden des Zeitgefühls«) Opfergang Polens zu beschwören,28 so repliziert Świetlicki eben lapidar-wurschtig: »Es ist Juni. Offensichtlich.« Wahrnehmung von Dichtung durch ein »traditionelles, romantisches Lektüremodell« geprägt ist, das »irrational motiviert«, »ideologisch durchtränkt« und »emotional determiniert« sei. 28 | H erbert, Zbigniew: Bericht aus einer belagerten Stadt und andere Gedichte. Aus dem Polnischen v. Oskar Jan Tauschinski . Frankfurt am Main 1985, S. 91-93, hier 91: »Bin zu alt um Waffen zu tragen zu kämpfen wie die andern // man bestimmte mir gnadenhalber den minderen Part des Chronisten / ich notiere – wer weiß für wen – die Ereignisse der Belagerung // genau soll ich sein doch ich weiß nicht wann der Überfall anfing / vor zweihundert Jahren Dezember September vielleicht gestern früh / alle kranken wir hier am Schwinden des Zeitgefühls // geblieben ist uns nur der Ort und die Anhänglichkeit an den Ort […].« – D ers .: Raport z oblężonego Miasta. In: D ers .: Wiersze zebrane. Hg. v. Ry-
4. Christus wird ruhiger: Marcin Świetlicki
Herberts lyrisches Ich ergeht sich beim Abendspaziergang im Klagelied des unter immer neuen »Barbaren« leidenden, von aller Welt verratenen und vergessenen Polen: »Goten Tataren Schweden Rotten des Kaisers das Heer der Verklärung des Herrn / wer kann sie zählen.«29 Dagegen beschränkt Für Jan Polkowski sich auf »Es gab hier am Nachmittag einen Sturm.« Wobei das Wort burza im Polnischen tatsächlich nur das meteorologische Phänomen meint; die militärische Zweitbedeutung des Deutschen fehlt. Und Świetlickis Subjekt konstatiert maliziös, wie im Dunkel zuerst einmal die ohnehin etwas spießige Rabatte versinkt. Die Einordnungen von Świetlickis Gedicht zusammenfassend, betont Dariusz Pawelec denn auch, dass zumal die Allusion auf Herbert eine programmatische Abkehr von der Verhandlung politischer Themen in der Dichtung vollziehe, den Sarkasmus bis zur allgemeinen Weigerung treibe, ethische Fragen in poetische Kommunikation zu übertragen.30 Das Letzte scheint indes zweifelhaft. Herbert, in der polnischen Zählung nach Widerstandsgroßereignissen Angehöriger der Generation 56 (Pokolenie 56), stützt seine Lyrik auf neoklassische Anleihen, Anklänge des antiken Mythos, das Pathos des Heroischen. So im Bericht aus einer belagerten Stadt: […] die Friedhöfe wachsen die Zahl der Verteidiger schmilzt doch der Widerstand hält und wird bis zum Ende währen und wenn die Stadt fällt und ein einziger überlebt wird er die Stadt in sich auf dem Pfad der Verbannung tragen er wird die Stadt sein
szard K rynicki . Kraków 2008, S. 530-532, hier 530: »Zbyt stary żeby nosić broń i walczyć jak inni // – wyznaczono mi z łaski pośledni rolę kronikarza / zapisuję - nie wiadomo dla kogo - dzieje oblężenia // mam być dokładny lecz nie wiem kiedy zaczął się najazd / przed dwustu laty w grudniu wrześniu może wczoraj o świcie / wszyscy chorują tutaj na zanik poczucia czasu // pozostało nam tylko miejsce przywiązania do miejsca.« 29 | H erbert : Bericht aus einer belagerten Stadt, S. 92. – H erbert : Raport z oblężonego Miasta, S. 531: »Goci Tatarzy Szwedzi hufce Cesarza pułki Przemienienia Pańskiego / kto ich policzy.« 30 | Pawelec , Dariusz: Oko smoka. O wierszu Marcina Świetlickiego Dla Jana Polkowskiego [Das Auge des Drachen. Über das Gedicht Für Jan Polkowski von Marcin Świetlicki]. In: Kanonada. Interpretacje wierszy polskich (1939-1989). Hg. v. Aleksander N awarecki . Katowice 1999, S. 168-183, hier 179: »In der Lyrik der 1980er Jahre bildet Marcin Świetlickis Gedicht die poetische Summe der Rezeption von Bericht für eine belagerte Stadt. Im Bereich der ästhetischen Möglichkeiten stilisiert der Text die kontaminierten Poetiken von Herbert und Polkowski. Parallelismen, Wiederholungen und Kombinationen verstärken die ironische Diktion, die ins Sarkastische gleitet.«
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Der Underground, die Wende und die Stadt wir schauen ins Antlitz des Hungers ins Antlitz des Feuers des Todes und ins ärgste Gesicht von allen – in das des Verrats und nur unsre Träume sind nicht gedemütigt worden 31
Ein Überlebender also reicht, um »die Stadt« zu erhalten, sei es auch in der Fremde, dem Exil: »Er wird die Stadt sein.« Heißt, den Funken der Zivilisation aus dem Barbarensturm tragen, und ihn im Zweifel anderorts oder zurückkehrend neu entfachen. Was Świetlicki ästhetisch aufkündigt, ist nicht dieser Agon des Ethischen, das Pathos des Widerstandshymnus – wenn er auch dessen hohen Ton abschüttelt, verschleift. Auch nicht die Apotheose des Einzelnen. Vielmehr wird er beides behalten, ja forcieren. Denn während Herberts »einziger« Entronnener ein x-beliebiger ist, dessen Überleben Wert zieht aus seiner Reduktion zur Metonymie des Kollektivs, geht es Świetlicki um nichts als seine Haut – »seine« im Sinne des eingangs Gesagten zur Ununterscheidbarkeit zwischen lyrischem Ich, empirischem Autor und medialer Kunstfigur. Kurz, um das universale Individuum und um dessen widersprüchliches Leben als Gegenentwurf zum dienstreichen Überleben.32 Die seinerzeit skandalösen Skizzen dieses Einzelnen setzen mithin den radikalen individual-konkretistischen Zug der Romantik gegen ihren kollektivabstrakten Strang. Sie wenden sich primär gegen das »Wir« und das »Unser« der Träume – nicht aber, wie etwa von Pawelec behauptet, gegen deren hintergründiges Pathos. Wenn Świetlicki die »Poesie des Kriegszustands« eine »Sklavenpoesie« nennt und sich dafür des Zynismus zeihen lassen muss, dann treibt seine Poetik gerade das nicht: Zynismus. Sondern lakonischen Kynismus als ethische Haltung. Im Kern ist es ein Heroismus, der näher am Begriff des Heros ist, des in seiner unbedingten Individualität Halbgöttlichen – und nicht das gemeinheroische Narrativ des Freiheitsnationalismus. Auch und gerade deshalb verwehrt 31 | H erbert : Bericht aus einer belagerten Stadt, S. 91-93. – H erbert : Raport z oblężonego Miasta, S. 532: »[…] cmentarze rosną maleje liczba obrońców / ale obrona trwa i będzie trwała do końca // i jeśli Miasto padnie a ocaleje jeden / on będzie niósł Miasto w sobie po drogach wygnania / on będzie Miasto // patrzymy w twarz głodu twarz ognia twarz śmierci / najgorszą ze wszystkich – twarz zdrady // i tylko sny nasze nie zostały upokorzone.« 32 | Ähnlich verkündet Świetlicki im Vorwort zur Gesamtausgabe anlässlich seines 50. Geburtstags: »Lyrik macht man dagegen.« Weiter heißt es: »Gegen jegliche Institution, wie auch immer sie heißen möge. Gegen jedwede Form von Herrschaft. Gegen Ungerechtigkeit. Gegen Dummheit. Gegen schlechte Menschen. Poesie ist Risiko. Poesie ist Mut.« Damit wehrt er sich nicht zuletzt gegen Kritiker wie Jarosław Rymkiewicz, der Świetlicki vorgeworfen hatte, er wisse nicht, »woraus Poesie gemacht wird«: »Marcin Świetlicki jeszcze nie wie, z czego się robi poezję?« – R ymkiewicz , Jarosław M.: [o.T.]. In: Tygodnik Literacki 1 (1990), S. 17-18. – Ś wietlicki, Marcin: Wstęp [Vorwort]. In: Ś wietlicki: Wierze, S. 5-7, hier 5.
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sich Świetlickis Lyrik einer Imagination der Stadt als Hort und Chiffre der Zivilisation. Geschweige einer bewahrenswerten.
S tadt, U nderground und C hristus »It is perhaps the concreteness of the names coupled with the sense of synchronized motion – a certain paradoxical harmony between the city’s everyday cacophony, the speaker’s physical rush, and the movement of his thoughts«, beschreibt Joanna Niżyńska Frank O’Haras urbane Poetik.33 Unter Namen versteht sie hier von O’Hara eingefügte Zigarettenmarken, Zugfahrpläne, Ladenaufschriften, die ein »Guckloch« in den »Zeitgeist« von New York erlauben. Zumal nach einer Veröffentlichung von Übersetzungen in Literatura na Świecie (Weltliteratur) 1986 inspirierte diese radikal auf das persönliche Erleben, den Moment, den Eindruck und das Subjekt fokussierte Lyrik eine Reihe junger polnischer Dichter, die nach Auswegen aus dem nationalromantischen Paradigma suchten – unter ihnen Świetlicki. Auch seine Städte sind in Bewegung, die Verse konzentriert auf die urbane Raumoberfläche, ihre Bewohner, mittendrin das wahrnehmende Ich. Doch spielt anders als bei O’Hara dessen Innenschau eine wichtigere, ja eigentlich die entscheidende Rolle. Świetlickis lyrisches Ich öffnet den Blick in die Stadt, nicht aber sich selbst, verkapselt sich inmitten des urban rush zugunsten einer reflexiven Dynamik seiner Gedanken. Für diesen selbstgewählten Ausschluss aus dem intensiv gegenwärtigen Treiben der Stadt fand Świetlicki den Neologismus nieprzysiadalność, auf den Piotr Śliwiński in seiner oben zitierten Charakteristik der świetlickischen Protagonisten rekurriert. Ins Deutsche übertragen meint nieprzysiadalność etwa »Nichtdazusetzbarkeit«, eine Form von öffentlicher Post-Caféhaus-Ungeselligkeit. Ein Wort, dessen Sperrigkeit die gemeinte Haltung fein spiegelt – das gleichwohl Eingang in die polnische Alltagssprache gefunden hat. Als Stadtgedichte des Underground kombiniert der Bespuckt-Zyklus mithin den Reduktionismus eines Frank O’Hara mit der Poetik der polnischen Zwischenkriegsgruppierung Skamander (Skamander), namentlich mit Motivik und Duktus Julian Tuwims. Zugleich erinnert die christologische Aufladung an Edward Stachura, den legendär exzentrischen Dichter und Liedermacher der 1960er und 1970er Jahre, der nach seinem Selbstmord 1979 zu einer Kultgröße der alternativen Jugend wurde. Bespuckt geht dabei über den Selbstausschluss des lyrischen Ich noch hinaus und phantasiert umgekehrt von der Besitznahme der Stadt, ihrer Vereinnahmung und Unterwerfung unter das Subjekt:
33 | N iż yńsk a : The Impossibility of Shrugging One’s Shoulders, S. 474.
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Der Underground, die Wende und die Stadt Eines Tages wird die Stadt mir gehören. Vorerst lauf ich noch herum. Vorerst schau ich mich noch um. Vorerst schärfe ich mein Messer. Steck es ein – zieh den Schlagring über. Bespuckt. Bespuckt. Sie spuckten mir in den Rücken. Davon weiß ich nichts – ich lauf durch die Stadt. Ich lauf durch die Stadt: Grünanlagen, die Szewska, der Markt. Ich lauf durch die Stadt: der Markt – die Szewska – Grünanlagen. Bespuckt. Bespuckt. BespucktbespucktbespucktbespucktBESPUCKT... Eines Tages wird die Stadt mir gehören. Vorerst lauf ich noch herum, schau mich noch um. Vorerst nichts. Eines Tages wird auf der Weichsel ein Piratenschiff vorbei schwimmen, mit fünf Masten, zwanzig Kanonen. Und sie werden fragen: – Wer ist der Świetlicki? Und dann werde ich stehen mitten auf dem Markt und werde mit dem Finger zeigen: – Der da. Der da. Der da. Der da. Der da. Die da. Den da kalt machen. Die da auslöschen. Den da. Die da. ALLE! K r a k a u u n d N o w a H u t a. S o d o m u n d G o m o r r h a. VonSodomnachGomorrha f ä h r t m a n m i t d e r S t r a ß e n b a h n.
4. Christus wird ruhiger: Marcin Świetlicki Ich lauf durch die Stadt. Ich lauf durch die Stadt. Bespuckt. Bespuckt. Bespuckt... 34
Wie Herbert geht auch Świetlicki von einem urbanen Ausnahmezustand aus, doch in gegenläufiger Konstellation: Die Stadt ist nicht die Angegriffene, sondern der Angreifer. Der Eine wird nicht als metonymisch Überlebender imaginiert, sondern metaphorisch als Erniedrigter und Rächer zugleich. Kein Idealist, den wir uns inmitten des Unglücks als glücklichen Menschen vorzustellen haben, auf dem Wall spazierend, die Hände im Rücken verschränkt und luzide den unwahrscheinlichen Sieg der gebeutelten Gerechtigkeit antizipierend – sondern ein irre gewordener Phantast der Selbstjustiz, selbstgerecht und egoman: Wird er überhaupt bespuckt? Oder ist er allem in seinem Rücken gegenüber paranoid? Kein »Blick ins Antlitz des Feuers des Todes« hier, sondern eher eine gejagt taumelnde ontologische Beleidigtheit, nicht projiziert auf die Humanitätschiffre »Stadt«, sondern durch sie evoziert. So erwächst eine doppelt vorhandene und doppelt gebrochene Christus-Allusion. Sie entsteht allererst aus der Verkoppelung von Erniedrigungs- und Richtertopos des Einen, und verbirgt sich gleich wieder in der nachgerade grotesken Verballhornung der neutestamentarischen Leidensgeschichte einerseits, der apokalyptischen Reinigung nach Bertolt Brechts »Seeräuber-Jenny« andererseits: Und fangen einen jeglichen aus jeglicher Tür Und legen ihn in Ketten und bringen vor mir Und fragen: Welchen sollen wir töten? Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen Wenn man fragt, wer wohl sterben muss.
34 | Świetlicki: Opluty, S. 150-151: »Któregoś dnia to miasto będzie należeć do mnie. / Na razie chodzę. Na razie patrzę. / Na razie swój nóż ostrzę. / Wkładam – zdejmuję kastet. // Opluty. Opluty. / Napluli mi na plecy. / Nic o tym nie wiem – chodzę po mieście. / Chodzę po mieście: / Planty, / Szewska, / Rynek. / Chodzę po mieście: / Rynek – Szewska – Planty. / Opluty. Opluty. / OplutyoplutyoplutyoplutyOPLUTY... // Któregoś dnia to miasto / będzie należeć do mnie. / Na razie chodzę, patrzę. / Na razie nic. // Któregoś dnia / rzeką Wisłą / przypłynie / statek piratów, / o pięciu masztach, / dwudziestu armatach. / I zapytają: / – Który to Świetlicki? / A ja wtedy stanę / na samym środku Rynku / i będę wskazywać: / – Tego. Tego. Tego. / Tego. Tego. Tamtą./ Tego sprzątnąć. / Tamtą skasować. / Tego. Tamtą. WSZYSTKICH! // K r a k ó w i N o w a H u t a. / S o d o m a z G o m o r ą. / Z S o d o m y d o G o m o r y / j e d z i e s i ę t r a m w a j e m. // Chodzę po mieście. / Chodzę po mieście. / Opluty. / Opluty. / Opluty...«
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Der Underground, die Wende und die Stadt Und dann werden Sie mich sagen hören: Alle! Und wenn dann der Kopf fällt, sage ich: Hoppla!35
Brecht operiert mit leiser, böser Sardonie und mit Andeutungen, etwa was die realen Erniedrigungen der Jenny angeht oder die nur über den Titel erschlossene Flagge des Schiffs. Zudem mildern artifiziell naive Inversionen wie »wird gemacht dem Erdboden gleich«36 die ausgesagte Gewalt. Świetlickis Adaption kommt demgegenüber mit Schaum vor dem Mund daher, überexplizit, zugleich redundant und reduziert in den Bildern, dramaturgisch kunstlos. Das lyrische Subjekt in seinem offenkundigen Wahn ist unzuverlässig. Beides entspricht dem Gehalt: Jennys sozialrevolutionäre Racheträumerei bleibt weltimmanent und erhält sich damit die Leichtigkeit der vorletzten Dinge. Świetlickis lyrische Gewaltphantasie handelt von den letzten Dingen und steigert ihre Wirkung durch den intertextuellen Kontrast. Jenny hat einen Namen, einen Ort – das Hotel – und eine Perspektive, nämlich die Freiheit des Meeres. Świetlickis namenloser Postflaneur hetzt herum, anders als Jenny selbst bewaffnet mit Schlagring und Messer, derweil ohne Ziel hinter der ersehnten Zerstörung. Sie ist ihr eigenes Ziel. Erlösung, nicht Befreiung: Apokalypse. Dergestalt zerrt das Gedicht die imitatio Christi, das kenotische Modell des »Automatismus von Erniedrigung und Wiederaufstieg«,37 vom nationalen claim herab auf das lyrische Ich – wendet und vereinseitigt es freilich vom Welterlöser zum reinen Richter und apokalyptischen Selbsterlöser. Ein solcherart christologisch überhöhtes Selbst ist weder ganz ernst zu nehmen noch in seinem Ernst zu überbieten. Es zeigt ein kristallin auf seine Privatwut reduziertes »absolutes« Subjekt – das eben darin seine Apotheose erfährt. Umgekehrt zu den Figuren verhält es sich mit der zu zerstörenden Stadt. Bei Brecht bleibt sie namenlos-träumerische Chiffre »der Verhältnisse«. Świetlicki lädt den urbanen Hintergrund zum einen mittels der Ineinssetzung mit Sodom und Gomorrha eschatologisch auf, nennt zum anderen – da wieder »O’Harist« – konkret Krakau und dessen stalinistische Retortenvorstadt Nowa Huta. Aus dem Boden gestampft als sozialistisch-proletarisches »Korrektiv« zum bürgerlichen Krakau, ist Nowa Huta vergleichbar mit Stalinstadt/Eisenhüttenstadt in der ehemaligen DDR, dem tschechischen Zlín/Gottwaldův oder Stalinujváros/Donájujváros in Ungarn. Einerseits nach dem intendierten und ambivalent realisierten epochalen Symbolwert, anderseits nach der von ländlichen Arbeiterzuwanderern geprägten Sozialstruktur und einer einhergehenden underurbanization (Iván Szelényi). In der Verkoppelung mit dem katholisch-konservativen Krakau wird daraus eine umfassende Figur des alten und neuen Polen. Sie 35 | B recht, Bertold: Dreigroschenroman. Berlin-Weimar 1983, S. 188. 36 | Ebd., S. 187. 37 | U ffelmann, Dirk: Der erniedrigte Christus. Metaphern und Metonymien in der russischen Kultur und Literatur. Köln-Weimar-Wien 2010, S. 18.
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repräsentiert anders als Zbigniew Herberts »Stadt« nicht nur das »eigentliche«, essenzialistisch gegen die Zufügungen seiner Belagerer gesetzte Polen, sondern ebnet die vermeinte Unterscheidbarkeit von alt und neu zur typografisch in eine Wendung verschmolzenen Zweiheit »Sodom und Gomorrha«. Unterstrichen wird das noch mit der intraurbanen Straßenbahnfahrt des lyrischen Ich. Kontextbewusst wie Bespuckt operiert, ist das Gedicht schließlich mit Christus der Stadt (Chrystus miasta) des bereits erwähnten späteren Skamandriten Julian Tuwim von 1918 in Beziehung zu setzen.38 Eine entsprechende Einordnung der bruLion-Dichter als Nachfahren der in den 1920er Jahren um die Zeitschrift Skamander versammelten Lyriker hat etwa Paweł Dunin-Wąsowicz vorgeschlagen und auf die Gemeinsamkeiten hingewiesen. Beide Gruppierungen brachen mit tradierter Nationsfrömmigkeit und poetischem Patriotismus, zeigten sich fasziniert von Vitalismus und ungezügeltem Ausdruck, lehnten indes ein verpflichtendes künstlerisches Programm ab. Auch Tuwim, der Warschau-Dichter unter den Skamandriten, löste mit einem frühen Gedicht – Frühling (Wiosna) – 1918 einen Literaturskandal aus,39 indem er auf seinerzeit überaus anstößige Weise die frühlingserwachende Großstadt heidnisch-entfesselt zeigte, strotzend vor unsittlicher Sexualität, das ekstatische Bild einer Stadt zur Brunft. Ästhetisch verband er Virtuosität der Form mit alltagsgewonnenem Inhalt und postulierte so, dass alles sagbar, zeigbar und zumutbar sei, das Allertrivialste wie Allerniedrigste. Gestützt auf eine kaleidoskopähnliche Technik und aufmerksame, poetische Wiedergaben der urbanen Kakophonie gelang ihm – und anderen Skamandriten – die Überführung des Alltäglichen ins Mythische: »Dithyramben« sollten Werke wie Frühling sein. 40 Christus der Stadt nun setzt die Städter, die bei Świetlicki ein amorphes »sie« im Rücken des Protagonisten bleiben, als ambivalente Festmasse Erniedrigter und Sünder in Szene, orgiastisch vereint auf einer Brücke, einen »wilden Takt« stampfend:
38 | Das Gedicht wurde in der Zeitschrift Pro Arte et Studio 1918 publiziert, bevor es im Mai desselben Jahres in Tuwims Debütband Lauern auf Gott (Czyhanie na Boga) aufgenommen wurde. 39 | Das Gedicht ging ebenso in die Sammlung Lauern auf Gott ein. Es entbrannte jedoch schon einen Monat nach dem Abdruck in der Märznummer von Pro Arte et Studio eine Debatte um das Werk. – Zur Gruppierung der »Großen Fünf« (Wielka piątka) siehe M arx , Jan: Skamandryci [Skamandriten]. Warszawa 1993. 40 | Tuwim und Świetlicki verbindet zudem, dass die Grundlage für die Rhythmisierung ihrer Gedichte nicht das Metrum bildet, sondern sie vielmehr auf sprachmelodische beziehungsweise intonatorische Elemente setzen. Hinzu kommt eine gemeinsame Vorliebe für lexikalische wie syntaktische Wiederholungsstrukturen. – Diesen Hinweis verdanke ich Birgit K rehl .
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Der Underground, die Wende und die Stadt Sie tanzten auf der Brücke, Sie tanzten die ganze Nacht. Geschlechtskranke, Giftverkäufer, Häscher und Nachtstrandläufer, Huren und Messerstecher, Diebe und Wodkasäufer. Sie tanzten auf der Brücke, Sie tanzten bis in die Früh. Bettler aus allen Ritzen, Verrückte, Falschspieler, Spitzel, Die Straßen tanzten Spitze, Laternen und Barbesitzer, Volle Haubitzen. [...] 41
Ähnlich wie in Bespuckt tritt auch hier Einer unter sie, der anders ist und zunächst ihren Zorn auslöst: Und einer war, ein Fremder, Ein ihnen unbekannter. Sie sahn ihn misstrauisch an, Zuckten die Achseln, Spuckten. […] Ein Alkoholiker lallte: »Was bist du für einer?« Er schwieg. Magdalena kam auf ihn zu, Erkannte ihn, sagte: »Du…« Er weinte… 41 | Tuwim, Julian: Christus der Stadt. In: Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 1: Poesie. Hg. u. übersetzt v. Karl Dedecius. Zürich 1996, S. 236-238, hier 236. – Ders.: Chrystus miasta. In: Ders.: Wybór dzieł. Wrocław-Warszawa-Kraków 2004, S. 64-65, hier 64: »Tańczyli na moście, / Tańczyli noc całą. // Zbiry, katy, wyrzutki, / Wisielce, prostytutki, / Syfilitycy, nożownicy, / Łotry, złodzieje, chlacze wódki. // Tańczyli na moście, / Tańczyli do rana. // Żebracy, ladacznice, / Wariaci, chytre szpicle, / Tańczyli an ulice, / Latarnie, szubienice, / Hycle. [...].«
4. Christus wird ruhiger: Marcin Świetlicki Da wurde sie stumm, die Meute, Fiel auf die Knie. Und heulte. 42
Vier Mal fragen sie »Was bist du für einer?«, aber der Fremde schweigt beharrlich, lässt sich bespucken und bedrohen – bis Maria Magdalena, Teil der Meute, ihn schließlich erkennt und er zu weinen beginnt, worauf auch das Brückengelichter in Tränen ausbricht. Das Gedicht schließt mit diesem Bild der vor dem zunächst angefeindeten Christus auf den Knien liegenden Masse – der Versöhnung von dionysischer Ekstase und zivilisatorischer Gehaltenheit. Ihre Repräsentanten, Christus und Dionysos, kommen aus der mythischen Tiefe des Urbanen. 43 Anders Świetlicki. Dessen mit Schlagring und Messer ausgestatteter, auf den apokalyptischen Rächer reduzierter Christus duldet zwar auch – doch nicht auf eine Versöhnung und Heiligung der Masse hin, geführt von der reinen Sünderin Maria Magdalena, sondern auf den Tag der Ermächtigung seines lyrischen Subjekts über die Stadt und ihre Auslöschung. Hinzu tritt die Selbststilisierung Świetlickis als provokationslustiges enfant terrible Krakaus, die bei Tuwim keine Parallele hat und den Übergang von den Avantgarden zum Underground markiert. Dieses performative Element, das die Differenz zwischen empirischem Autor und lyrischem Ich gezielt verwischt, steigert den poetischen Affront der Messias-Allusion ebenso wie den Angsteffekt, den die ungehemmt ausgeschriebene Aggressivität hervorruft. Und damit auch den spaltenden statt versöhnenden Impuls in Świetlickis Ästhetik. Sie legt es auf die im Gedicht angerufene Zerstörung an, wenn nicht unmittelbar der Stadt, so doch des verbliebenen Friedens unter den »Belagerten« – und in herbertscher Logik damit dann doch der metonymischen Stadt. Die Ermächtigungsphantasie ist bereits Teil ihrer metaphorischen Einlösung. Indem Świetlicki diese Verwischung konzeptuell betreibt, namentlich bei seinem Auftritt vor Czesław Miłosz, lässt sich streng genommen nicht mehr von werkinduzierten Reaktionen gegen ihn als empirischen Autor sprechen, ist diese Grenze doch in die Figur Marcin Świetlicki hineinverlegt. Das führt zu einer letzten Referenzgröße, die gemeinhin eher mit Jacek Podsiadło in Verbindung gebracht wird, dem Tramp unter den bruLion-Dichtern und damit offensichtlicheren Erben Edward Stachuras.
42 | Tuwi m: Christus der Stadt, S. 237-238. – Tuwi m: Chrystus miasta, S. 65: »[...]. A był jeden obcy, / Był jeden nieznany, / Patrzyli nań spode łba, / Ramionami wzruszali, / Spluwali. // [...] Podszedł pijus, wycedził: / – Coś za jeden? Milczał. // Podeszła Magdalena: / Poznała, powiedziała... / Płakał... // Ucichło. Coś szeptali. / Na ziemię padli. Płakali.« 43 | Siehe zum Dionysischen bei Tuwim u.a. G łowiński, Michał: Poezja dionizyjska [Dionysische Poesie]. In: D ers .: Poetyka Tuwima a polska tradycja literacka. Warszawa 1962, S. 240-251.
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Stachura, anders als der weitgehend ortsfeste Krakauer Świetlicki herumgekommen in der Welt und immer unterwegs, 44 kreiste kaum minder obsessiv um sich selbst als das lyrische Ich in Bespuckt und ging in der Selbststilisierung als Autor noch deutlich weiter. Stand dabei das Motiv des souveränen Vagabunden zentral, so schließt er in der Erzählung Prinz (Królewicz) von 1977 forciert christologische Erniedrigungschiffren daran an, von denen die wohl stärkste eine beständig eingenommene ostentative Demutshaltung darstellt. 45 Schon manisch wiederholt der Ich-Erzähler in Minimalabwandlung, welche Schicksalsschläge hinter ihm liegen (»bo miałem za sobą wiele podłych losów«), kompensiert Deklassierungen und Entbehrung mit lauter Verachtung für alles Äußerliche. Er sitzt im Café unter eleganten Menschen, selbst mit feuchten Schuhen, halberfroren, zähneklappernd. Und er weiß: Alles schaut auf ihn: »Was ist das für einer?« Dieselbe Frage, die Tuwims Alkoholiker Christus stellt. Stachuras »christoformer Narr« 46 aber kann lediglich hoffen, tatsächlich der Auserwählte zu sein – der »König der Zigeuner«. Stattdessen nimmt »Frau Hass« sich ihn, den sich selbst mit »Sted« ansprechenden Erzähler, dem Spitznamen des empirischen Stachura, zum König. Wut, Neid auf alles ihn Umgebende steigen, die Situation eskaliert, die Provokation nimmt ihren Lauf. Sted, wegen seiner Kleidung, seines Habitus beschämt, flieht aus dem Caféhaus-»Kino«, aus dem ihn bloßstellenden Menschen-»Zoo«. Ähnlich wie in Bespuckt bleibt unklar, was Einbildung, was wirkliche Bedrohung ist. Wenn Świetlicki attestiert wurde, mit seiner Dichtung eine »Neue Privatheit« herauf beschworen zu haben, so scheint das in der Summe doppelt übereindeutig. 47 »Neu« kann allenfalls eine neue Version, keinen Bruch bedeuten; dem stehen die »Privatheiten« Tuwims, Stachuras oder eines Andrzej Bursa entgegen, allesamt Dichter mit fortdauernder Anziehungskraft zumal für den Underground. Die Nähe zu Bursa betont denn auch Paweł Próchniak, der beiden, Bursa wie Świetlicki, eine »jungenhafte Imagination« attestiert, »ein wenig naiv, da zutraulich und einfältig, stark ironisch, dabei aber brutal, zornig und – was
44 | Zu Stachuras Reiseverhalten Barcz , Marcin: Edward Stachura. In: D ers .: Elemente des Konstruktivismus in der polnischen Literatur. Wrocław 2003, S. 173-211, hier 181-185. 45 | S tachura , Edward: Królewicz [Prinz]. In: D ers .: Opowiadania. Toruń 2001, S. 57-65. 46 | U ffelmann: Der erniedrigte Christus, S. 177. 47 | Die Kategorie der »Neuen Privatheit« bezieht sich auch auf eine Gruppierung gleichen Namens aus den 1970er Jahren. Ihr ging es um die Verteidigung der »Kunst als Geheimnis« und gegen Dichtung als Verkündung von »Wahrheit« bzw. »Weisheit«. – M ischewski, Brigitta: Elemente des New-Age- und des Janionschen Diskurses in der Lyrik der Danziger »Neuen Privatheit« (1975-1980). In: D ies .: New-Age-Diskurs in der polnischen Literaturwissenschaft, Literaturkritik und Lyrik der 1970er und 1980er Jahre. Rekonstruktion eines Weltbildes. München 1995, S. 121-209.
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das wichtigste ist – leidenschaftlich«. 48 Zweitens ist die »Privatheit« ein Missverständnis. Świetlickis Antrieb, Anliegen und ästhetische Verfahren zielen in radikaler Weise auf öffentliche Wirkung, meinen es genuin politisch und propagieren nicht weniger als eine Revolution oder wohl besser: eine Revolte. Nur ist es nicht diese Öffentlichkeit, dieses Politikverständnis, nicht diese verkeilte Revolution und Gegenrevolution der Moderne.
A usgespuck t : A près nous , le pop? Ist Bespuckt ein Kampfschrei der Revolte, zum vernichtenden Aufstand und der Alleinherrschaft des Subjekts, so folgt wenige Jahre später die Kapitulationsurkunde. Beides ist in der Form eine Besonderheit unter den Verzweiflungsgesten des Underground. 1996 spielen die Świetliki auf dem Studioalbum Cacy Cacy Fleischmaschine den Titel Bespuckt 2 ein, mit der wie in Panik hinausgeschrienen Zusage »ich geh fort«. Die Paranoia ist geblieben, indes die Aggression in Selbstzerfleischung und Fluchtreflex umgeschlagen – als seien die Seeräuber ausgeblieben, wie einst Herbert es im Bericht aus einer belagerten Stadt den Westmächten vorwarf: Ich hab mich geirrt. Ich hab mich geirrt. Ich hab mich geirrt. Die Stadt wird niemals mir gehören. Ich hab mich geirrt. Die Stadt wird niemals mir gehören. Ich hab mich geirrt die Stadt gehört vielmehr Grzegorz Turnau, Zbigniew Preisner und Priester Tischner. Ich hab mich geirrt. Die Stadt wird niemals mir gehören. Ich hab mich geirrt. Die Stadt gehört vielmehr den Tauben den Stadtrundfahrten. Ich hab mich geirrt. Ich hab mich geirrt.
48 | P róchniak , Pawel: Jak to sobie tanczę. Notatki o poezji Marcina Świetlickiego [Wie ich das für mich tanze. Notizen zur Lyrik von Marcin Świetlicki]. In: Kresy 3 (2001), S. 48-52, hier 51. – Zu Bursa als Legende siehe Śmigielski, Wojciech: Luiza w salonach zmęczonego socjalizmu. O legendzie i twórczości Andrzeja Bursy [Luisa in den Salons des ermüdeten Sozialismus. Über Legende und Schaffen Andrzej Bursas]. Zielona Góra-Wrocław 2000.
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Der Underground, die Wende und die Stadt Ich lauf nicht mehr herum, ich fahre. Ich fahr Taxi. Ich hab mich geirrt. Ich hab mich geirrt. Bitte nicht anschauen. Bitte nicht anschauen, ich geh fort. Bitte nicht ansprechen, ich geh fort. Ich hab mich geirrt. Die Stadt ist überall. Die Stadt wird niemals mir gehören. Ich hab mich geirrt… 49
Entscheidend ist zunächst die Siegerliste: Die Tauben, Ratten der Lüfte jeder Stadt, geben ihr einen Stich ins Räudige. Die Beschimpfung des kommerzialisierten, die Straßen verstopfenden Massentourismus gehört zwar ins urban-intellektuelle Standardrepertoire, ist gerade deshalb, ihrer eigenen Oberflächlichkeit wie der ihres Gegenstands wegen, sprechend. Grzegorz Turnau ist ein populärer Krakauer Liedermacher, zumindest aus Świetlickis Perspektive ließe sich auch Kitschbarde sagen. Zbigniew Preisner schreibt mit großem internationalem Erfolg dezidiert neuromantische Filmmusiken. Der Priester, Theologe und Philosoph Józef Tischner war ein Vordenker der Solidarność, im kapitalistischen Polen eine kritische intellektuelle und moralische Autorität. Kurz, die einst von Świetlickis lyrischem Ich beanspruchte Stadt gehört den »klassischen« Dissidenten, dem Kommerz und der – aus seiner Sicht – platten Unterhaltung. Derweil ist das Spektrum zum einen derart weit, dass die frühere Klage, gegen alle zu stehen, erhalten bleibt. Zum anderen ist es implizit schmal, umfasst es doch nur eine Handvoll ungewöhnlich erfolgreicher (und öffentlicher) Figuren. Der vom Desperado-Flaneur zum Taxifahrer, dem Inbegriff gescheiterter künstlerisch-intellektueller Ambition, oder zum Taxipassagier degradierte Rebell vertritt faktisch eine namen- und gesichtslose Mehrheit. Die namen- und gesichtslose Masse freilich war es, aus der in Bespuckt die Anfeindung kam, gegen die sich der Hass rich49 | Lyrics nach Ś wietliki: Cacy Cacy Fleischmaschine. CD-Booklet. © 1996 Music Corner Records: »Pomyliłem się. / Pomyliłem się. / Pomyliłem się. / To miasto nigdy nie będzie należeć do mnie. / Pomyliłem się. / To miasto nigdy nie będzie należeć do mnie. / Pomyliłem się / to miasto należy raczej do / Grzegorza Turnaua, Zbigniewa Preisnera / i księdza Tischnera. / Pomyliłem się. / To miasto nigdy nie będzie należeć do mnie. / Pomyliłem się. / To miasto należy raczej do gołębi do wycieczek. / Pomyliłem się. / Pomyliłem się. / Ja już nie chodzę, ja jeżdżę. / Jeżdżę taksówką. / Pomyliłem się. / Pomyliłem się. / Proszę na mnie nie patrzeć. / Proszę na mnie nie patrzeć, ja wychodzę. / Proszę do mnie nie mówić, ja wychodzę. / Pomyliłem się. / To miasto jest wszędzie. / To miasto nigdy nie będzie moje. / Pomyliłem się...«
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tete, zu der das lyrische Ich dort bereits gehörte. Was auf den ersten Blick abhanden gekommen ist, ist sein vermeinter Exzeptionalismus (»bitte nicht anschauen« / »bitte nicht ansprechen«) und Kampfgeist (»ich hab mich geirrt« / »ich geh fort«). Die Annäherung an Stachuras Prosa kurz vor seinem Selbstmord scheint vollendet. Das aber öffnet den zweiten Blick. Lässt sich die Selbsterniedrigung des Erzählers bei Stachura als christologische Aufladung verstehen, so auch die des lyrischen Ich in Bespuckt 2. Es hat in der Masse, in die es gestoßen ist, nichts verloren, will nach wie vor nicht Masse sein, sondern noch als der nicht mehr Bespuckte, sondern schlicht Ignorierte ein absolutes Subjekt. Dem entspricht die formale Verwandtschaft beider Gedichte, die deutlich hervortritt, wenn man eine drittes aus dem Zyklus zum Vergleich heranzieht: Bespuckt (74) von 2003: Diese Stadt gehörte einst mir. Aber das war einmal. Ich lauf nicht mehr herum, ich fahr nicht mehr herum, ich liege schon. Ich liege und gucke an die Decke. Die Stadt gehörte irgendwann einmal mir so für fünf Minuten. Einst gehörte die Stadt mir. Jetzt gehört sie wieder den Alten und den Jungs aus der Generation NICHTS. Die beschäftigen sich mit sich selbst ficken sich gegenseitig. Die Alten und die Jungs aus der Generation NICHTS. Ich lauf nicht mehr herum, ich liege, hinterm Fenster haben sie mir ein Multiplex gebaut, auf der anderen Seite erweitert sich langsam der Friedhof zu mir, langsam.
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Der Underground, die Wende und die Stadt Einst gehörte die Stadt mir. Jetzt nicht mehr. 50
Bespuckt operiert in einem als »vorerst« konditionierten Präsens, wird dominiert vom Futur der Auslöschungsphantasie. Bespuckt 2 hingegen koppelt das starke Perfekt des Widerrufs mit dem Präsens der Erzählzeit und einem negativen (»die Stadt wird niemals mir gehören«) beziehungsweise schwachen Futur (»ich geh fort«). In Bespuckt (74) ist vom Futur nichts geblieben, oder allenfalls eine Implikation im auf das Ich zuwachsenden Friedhof. Dafür ist das Präteritum (»einst gehörte die Stadt mir«) dominant geworden. Dieser Doppeltendenz von Immobilisierung und Zukunftsverlust mit einem starken Abfall zwischen dem zweiten und dritten Gedicht korrespondiert eine Rücknahme der rhetorischen Dynamik. In Bespuckt (74) ist zumal die expressive Wiederholungskette auf einen bloßen Nachhall reduziert, das Mittel der dynamisierenden, hochgradig obsessiven Redundanzschlaufen, auf die Karol Maliszewskis für Świetlicki geprägter Begriff eines »ritualisierten Realismus« wohl am besten passt.51 Erzeugt das erste Gedicht seine manisch aggressive Grundstimmung durch das litaneihaft gemurmelte, dann in Großbuchstaben herausgebrüllte »bespuckt« sowie die ein- oder mehrfache Repetitio »ich lauf durch die Stadt«, »S o d o m u n d G o m o r r h a«, »der da«, aber auch des Marktes, so reduziert Bespuckt 2 die Aussagen, steigert die nun verzweifelte Manie aber noch einmal mit dem ad nauseam repetierten »ich hab mich geirrt« und »niemals wird die Stadt mir gehören«, verstärkt durch Anaphern in beinahe allen weiteren Versen. In Bespuckt (74) bleiben davon allein Letztere sowie die vierfache Behauptung »einst gehörte die Stadt mir«, langatmiger und weniger eindringlich die Doppelung der »Alten und der Jungs aus der Generation NICHTS« sowie des Mobilitätsverlusts und der Einsargung im Bett – gerade genug, um die Verwandtschaft der Gedichte, die Identität der Sprecherfigur und darüber die rhetorische Leerstelle zu markieren. 50 | Świetlicki, Marcin: Opluty (74). In: Świetlicki: Wiersze, S. 368: »Któregoś dnia to miasto / należalo do mnie. / Ale przestało. / Już nie chodzę, / nie jeżdżę, / już leżę. / Leżę i w sufit patrzę. / To miasto kiedyś / do mnie należało / pięć minut jakieś. // Któregoś dnia / to miasto / należało do mnie. / Teraz ponownie należy do starców / i do chłopców / z generacji / NIC. / Oni nawzajem / się zatrudniają / i pieprzą. / Starcy i chłopcy / z generacji / NIC. / Ja już nie chodzę, / ja leżę, / za oknem / zbudowano mi multikino, / z drugiej strony powoli cmentarz / rozbudowuje się ku mnie, / powoli. / Któregoś dnia to miasto / należało do mnie. // Teraz już nie.« 51 | M aliszewski, Karol: Rytuały egzystencji, rytuały języka. O poezji Marcina Świetlickiego [Rituale der Existenz, Rituale der Sprache. Über die Dichtung von Marcin Świetlicki]. In: D ers .: Nasi klasycyści, nasi barbarzyńcy, S. 62-68, hier 66.
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Erst damit kommt ein Erlöschen der manischen Aggressivität in Sicht – mit dem des lyrischen Ich selbst. Auf der einen Seite von einem Multiplex-Kino bedrängt, öffnet sich ihm auf der anderen gleichsam der Friedhof, den bereits wie in einer Grabkammer an die Decke starrenden, regungslos Ermatteten aufzunehmen. Selbst der rückprojizierte Sieg und Stadtbesitz wird entwertet durch das lapidar ironische »so für fünf Minuten«: Es tut nichts (mehr) zur Sache. Christus kommt nicht wieder, weder als Rächer noch Erlöser. Woran ist er gescheitert? Noch einmal pointiert als Sieg der Klischees und des trivial Abgeschliffenen stellen die Videos zu den weiterhin auch als Songs performten Gedichten den Befund bereits zwischen erstem und zweitem Text aus. Das hart schwarz-weiß gedrehte Video zu Bespuckt zeigt entweder Świetlicki rezitierend auf der Bühne, das Gesicht gespiegelt in einer Spiegelscherbe, oder in der Straßenbahn auf der Strecke nach Nowa Huta. »Klassische« Krakau-Signifikanten spielen kaum eine Rolle. Dagegen ist Bespuckt 2 in warme Gelbtöne getaucht und führt mit clipartigen Wischblenden durch die Krakauer Touristennacht und die morgenleeren Straßen; mit Rynek und Wawel werden zwei einschlägige Reiseprospektschnipsel aufgenommen.52 Schließlich wird ein Symbol desselben Mediums in seiner am aggressivsten auf Konsum getrimmten Variante dem sterbenden Ich als letztes Bild der neuen Stadtwelt ins Auge fallen: das Multiplex-Kino. Der Abstand zu den lyrischen Videos könnte nicht größer sein. Eingängige Konsumierbarkeit aber zeichnet auch die Lieder Grzegorz Turnaus aus, Zbigniew Preisners Filmmusik, selbst etliche der ethischen Reflexionen Józef Tischners. Sie stehen für die »Alten«, zwischen denen und den »Jungs« aus der Generation Nichts (Generacja Nic) sich das Subjekt ähnlich bedrängt fühlt wie von Friedhof und Großkino. Generation Nichts geht derweil auf einen Essay zurück, den der Sänger und Leader der Punk-Band Cool Kids of Death, der 1975 geborene Jakub (»Kuba«) Wandachowicz, Anfang September 2002 im Feuilleton der Gazeta Wyborcza (Wahlzeitung) veröffentlichte und damit eine erregte Debatte anstieß.53 Deren Topoi, aber auch die ästhetischen Verfahren der sie begleitenden, teils provozierenden literarischen Hervorbringungen ähnelten den ungefähr zur gleichen Zeit in Deutschland unter den Stichworten »Pop-Literatur« und Generation Golf, in 52 | In einem Interview antwortete Świetlicki auf die Frage, was die Essenz von Krakau für ihn sei, sinngemäß: das Unveränderliche, schließlich stünden Marienkirche, Wawel und Krakau-Zwierzyniec noch so da wie bei seiner Ankunft. – Walat, Bartosz: Marcin Świetlicki obala schematy bycia pisarzem [Marcin Świetlicki bringt die Muster des Schriftstellerdaseins zu Fall]: www.mmkrakow.pl/338283/2008/12/11/marcin-swietlicki-obala-schematy-byciapisarzem-wywiad?category=news (Letzter Zugriff: 09.04.2014). 53 | Wandachowicz , Kuba: Generacja Nic [Generation Nichts]. In: Gazeta Wyborcza v. 05.09.2002, S. 11-12. Deutsch gekürzt D ers .: Generation Nichts. In: Jahrbuch Polen (2008), S. 18-23.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
Russland um Viktor Pelevins Generation P geführten Auseinandersetzungen.54 Grundmotive waren ästheti(zisti)sche Oberflächlichkeit und gesellschaftliches Desinteresse, Marken- und Konsumkultur, Rückzug aufs Private, Karrierefixiertheit, Drogengenuss und Konformismus, hedonistische Saturiertheit im Westen, kapitalistischer Überlebenskampf im Osten der ehemaligen Kontinentalscheide, allgemein die Lebenswirklichkeit der von den Selbstverständlichkeiten ihres Heranwachsens abgeschnittenen 1970er Jahrgänge. Die poetologischen Vorläufer lassen sich etwa auf American Psycho von Bret Easton Ellis zurückverfolgen. Wandachowicz nun beklagte in seiner Abrechnung mit den postulierten Generationsgenossen namentlich die »gefährliche Ideenlosigkeit« einer Kunst, die sich dem »anonymen Kunden« wie einem »Idol« unterwerfe, deren Produzenten in die »Schützengräben der heiligen Festanstellung« drängten oder gleich in die Werbewirtschaft – eine wiederkehrende Trope des neuen Ekels vor der »fortschreitenden Verdummung«. Es ist hier nicht der Ort, diese Zeitdiagnostik seit der Jahrhundertwende zu sortieren, die öfter unwissentlich als wissentlich, allemal komplexitätsreduziert an Max Horkheimers und Theodor Adornos »Kulturindustrie« anschließt. Mit Blick auf Świetlicki und den Underground ist nur eine zweifache Mehrbödigkeit festzuhalten. Erstens die Ironie, dass nach den Vorwürfen des Privatismus und O’Hara»Barbarentums« das Gedicht Bespuckt (74) »oberflächlich« und »NICHTS« als Etiketten eines radikalutilitaristischen Subjektivismus akzeptiert – und in einer Poetik des hyperkonkreten Benennungszwangs und der Erlebenskolportage reflektiert. Zweitens, und wichtiger, beklagt Świetlickis Lyrik das diffizile Verhältnis von Underground zu Pop nicht einfach – sondern reflektiert es in der Bilder- und Motivwahl, im rhetorischen Duktus und pragmatischen Widerspruch. Nicht nur Bespuckt (74), sondern auch beide Vorgängergedichte sind längst massenhaft konsumierte Videos auf YouTube geworden. Eingängig und angeeignet. Das bedeutet, es gibt diesen Unterschied nicht mehr zwischen Bespuckt und Turnau-Tischner. Die Exklusion ist so allgegenwärtig, dass sich zum Narr macht, wer darüber spricht – die Inklusion so konziliant, dass nur ein Narr sie verweigern könnte. Pop-Lyrik, schreibt Sascha Seiler, greife auf einer ersten Ebene direkt prominente Namen, Filmtitel, Zitate, Label, Reklamezeilen auf – so verfährt Świetlickis wohl bekanntestes »Marken«-Gedicht McDonald’s von 1996.55 Zweitens extrahiere und popularisiere Pop-Lyrik eine Attitüde des rebel without a cause aus dem effektgeladenen, provokanten Underground-Repertoire. Und drittens würden Pop54 | Zur »Frustrationsprosa« junger Schriftsteller aus Osteuropa siehe S chwartz, Matthias: Generation Nichts. Jugendbilder osteuropäischer Frustrationsprosa. In: Osteuropa 11-12 (2013), S. 23-40. 55 | Siehe dazu die Interpretation von S tala , Marian: Jedzenie hamburgerów [Das Essen von Hamburgern]. In: D ers .: Druga strona, S. 205-208.
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Gedichte als Songtexte (lyrics) ein eigenständiges Leben entfalten wie bei Leonard Cohen, Bob Dylan oder Tom Waits.56 Kurz: Alles ist Pop, oder wird dazu, oder stirbt ab. Was die Revolte zeitigt, entspricht nie ihrer Hoffnung. Sie ist im höchsten Maße subjektiv, sinnlos – subjektiv, absolut.
56 | Seiler, Sascha: Pop-Lyrik als Ort der Medienreflexion. In: Literarische Medienreflexionen. Künste und Medien im Fokus moderner und postmoderner Literatur. Hg. v. Sandra P oppe u. Sascha Seiler. Berlin 2008, S. 155-167, hier 156-157.
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Jacek Podsiadłos roadstory nach Bratislava Und wir wussten sofort, dass wir nach Bratislava fahren würden, zu Egon, dem klaren Bezugspunkt am finsteren Firmament unserer Jugend, der mit dem Glanz seiner rotgepunkteten Krawatte mehr als eine dunkle Nacht erstrahlen ließ […].1 Jacek P odsiadło
So, im Stil einer Offenbarung, beginnt Jacek Podsiadło seine Schilderung einer fiktiven Pilgerfahrt nach Bratislava, zu Egon Bondy, dem einstigen spiritus rector des Prager Underground, der aus Protest gegen die Trennung der Tschechoslowakei in die Slowakei gezogen war. Die Erzählung aus dem Jahr 2008 ist eine Reflexion über Bondy, das Schreiben, die Kunst – über Cowboys und Indianer, die Freundschaft, den Zufall und den Tod, über eine Nachbarin mit Gipsbein, Bratislava und das Glück, das aus uneingeschränkter Bewunderung erwachsen kann – wie schon der Titel verspricht: Totale und realistische Danksagungs- und Bittreise zu den heiligen Reliquien des Egon Bondy, Vaters unserer Väter und Apostel der gesundmachenden Arbeit, im Jahre des Herrn 1352 nach rätoromanischer Zählung (Podróż dziękczynno-błagalna, totalna i realistyczna do świętych relikwii Egona Bondy’ego, Ojca Ojców naszych i apostoła uzdrawiającej pracy, roku Pańskiego 1352 według numeracji retorumuńskiej).
1 | P odsiadło, Jacek: Podróż dziękczyno-błagalna, totalna i realistyczna... [Totale und realistische Danksagungs- und Bittreise...]. In: D ers .: Życie, a zwłaszcza śmierć Angeliki de Sancé. Kraków 2008, S. 241-261, hier 245: »I od razu wiedzieliśmy, że pojedziemy do Bratysławy, do Egona, jasnego punktu odniesienia na mrocznym firmamencie naszej młodości, który blaskiem swego krawata w czerwone groszki opromieniał niejedną noc ciemną, […].« – Unveröffentlichte Übersetzung v. Olaf K ühl .
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Der Underground, die Wende und die Stadt
Indes: Die Begegnung zwischen dem Ich-Erzähler und der UndergroundLegende Bondy, Erfinder eben jener im Titel angespielten Methode des Totalen Realismus (Totální realismus), kommt nicht zustande. Jedenfalls nicht als persönliche. Wohl aber, und das wird zu zeigen sein, als ästhetische Annäherung zweier Generationen, als Auseinandersetzung zwischen Underground und Pop.2 Die Überlegungen knüpfen in einem weiteren Sinne an das Thema »Generation« an, hier verstanden als postulierte Ablösewelle von »alt« durch »jung«. So ist Jacek Podsiadło fast 35 Jahre jünger als Egon Bondy und steht für den ostmitteleuropäischen Underground der ausgehenden 1980er und beginnenden 1990er Jahre. Für den war der schon in den 1950er Jahren im Untergrund wirkende Tscheche Bondy eine »Lichtgestalt«.3 Dass die Faszination für Bondy als Jugendidol ungebrochen scheint, suggeriert das Ausgangszitat Podsiadłos, in dem der Tscheche als »heller Bezugspunkt unserer Jugend« fungiert – einer alternativen wohlbemerkt. Namentlich wird es um die dem Underground inhärente Poetik des Scheiterns gehen, dessen Technik eines anschließenden Unterlaufens. Genauer, um Podsiadłos Subvertierung der Trope »Bondy« im Modus grotesk verstiegener Anhimmelung, um bewusst gebrochen gestaltete Kontinuitäten und Weiterentwicklungen der Underground-Ästhetik über die Nachwendejahre hinaus. Jacek Podsiadło, Jahrgang 1964, stromerte eine Zeit lang durch Polen und versuchte sich an verschiedenen Orten und in den unterschiedlichsten Arbeiten: als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter in den Masuren, als Wächter in Warschau, als Journalist für Radio Opole. Er gehörte wie der im vorherigen Kapitel besprochene Marcin Świetlicki zur Gruppe der Dichter, die in der 1986 gegründeten Underground-Zeitschrift bruLion publizierten. 4 Die von Piotr Śliwiński ausgemachten Schlüsselwörter seiner Lyrik sind »Liebe« und »Weg« – oder genauer: »auf dem Weg – zur Liebe« (w drodze – ku miłości).5 Wenn auch sein Bekenntnisgedicht Kon2 | Zu Egon Bondy siehe das entsprechende Kapitel im Buch. 3 | Zur Bedeutung von Bondy anlässlich der Übersetzung seiner Werke ins Polnische siehe Parfianowicz-V ertun, Weronika: Szaman traci siły? [Verliert der Schamane seine Kräfte?]. In: lampa 3 (2013), S. 35-38. – Darin verweist sie auch auf das Bondy-Porträt von S zcz ygieł , Mariusz: Zapaliło się lóżko [Das Bett entzündete sich]. In: D ers .: Zrób sobie raj. Wołowiec 2010, S. 13-47. 4 | Zur Kontextualisierung der bruLion-Dichtung siehe das vorhergehende Kapitel über Marcin Świetlicki. 5 | Ś liwiński, Piotr: Wiersz jako dziennik intymny (O Jacku Podsiadle, 1998) [Dichtung als intimes Tagebuch (Über Jacek Podsiadło, 1998)]. In: D ers .: Przygody z wolnością. Uwagi o poezji współczesnej. Kraków 2002, S. 150-157, hier 154. – Śliwiński versieht dessen Dichtung im Sinne des Barbaren-Prädikats mit entsprechenden Kategorien wie »heidnisch«, »dithyrambisch« und »ausgelassen«. – D ers .: Nic prócz wiersza (O Jacku Podsiadle, 2001) [Nichts gegen die Dichtung (Über Jacek Podsiadło, 2001)] In: Ebd., S. 158-164, hier 158.
5. Vom Glück des Scheiterns: Jacek Podsiadło
fession (Konfesata) weniger umstritten war als Świetlickis Für Jan Polkowski,6 so zeigt es doch eine Richtung seiner Dichtung auf, die sich von der Świelickis durch ihre tief empfundene Religiösität unterscheidet, die zum Lebensprogramm wird. Mag Podsiadło auch stärker als Dichter in Erscheinung getreten sein, allemal bedient sich seine erzählerische Mystifizierung der Bondy-Figur ebenso einer Ästhetik des scheinbar Unfertigen, Hingeklierten – Techniken, wie sie die bruLion-Schreiber programmatisch betrieben, um Authentizität und Individualität zu inszenieren. Ebenso programmatisch lässt seine Reiseerzählung nun zwei Generationen des Underground einander materiell verfehlen – um poetologisch ein Weiterleben des Underground im Gewand des Pop zu postulieren.
O n the R oad nach B r atisl ava Mit dem 2008 erschienenen Band Das Leben, und insbesondere der Tod der Angélique de Sancé (Życie, a zwłaszcza śmierć Angeliki de Sancé) debütierte der Lyriker Podsiadło als Erzähler.7 Schon die Anspielung auf die so populären wie schmalzigen Historienschinken über die Heldin Angélique, die die Französin Anne Golon zwischen 1956 und 1985 auf den Markt brachte, ist programmatisch zu verstehen, geht es doch in der Sammlung nicht zuletzt um ästhetische Verfahren und Idolatrien des Underground respektive Pop. Podsiadło greift für die Begegnung beziehungsweise Nicht-Begegnung seiner Protagonisten auf den klassischen bachtinschen Chronotopos des Wanderns zurück, dessen Pointe darin besteht, dass der Weg zum movens wird. Es geht also weniger um die Strecke von A nach B, sondern um ein Lebensschicksal unterwegs. »Weg« und »Reise« sind schon in Podsiadłos Dichtung von augenscheinlicher Präsenz. Seine Weltenbummler sind allesamt gewissermaßen »Anti-Touristen«. 6 | Beide Gedichte sind die jeweils ersten in der Anthologie: Macie swoich poetów. Liryka polska urodzona po 1960 roku [Da habt ihr eure Poeten. Polnische Lyrik, geboren nach 1960]. Hg. v. Paweł D unin -Wąsowic z, Jarosław K lejnocki u. Krzysztof Varga . Warszawa 1996, S. 119 (Podsiadło) u. S. 157 (Świetlicki). 7 | Tomasz Dalasiński und Piotr Śliwiński lesen Podsiadłos Lyrik als »lyrisches journal intime« (liryczny dziennik intymny). – Ś liwiński: Wiersz jako dziennik intymny. – Dalasiński, Tomasz: Podsiadło – diarysta? Twórczość poetycka Jacka Podsiadły jako liryczny dziennik intymny [Podsiadło – ein Tagebuchschreiber? Das poetische Schaffen von Jacek Podsiadło als lyrisches intimes Tagebuch]. In: podteksty 3 (2010): www.podteksty.amu.edu. pl/podteksty/?action=dynamic&nr=22&dzial=4&id=473 (Letzter Zugriff: 09.04.2014). – Dazu passen auch die Beobachtungen von Joanna Orska, die in Podsiadłos Lyrik ein authentisches Moment plus narrative Qualität ausmacht. Vgl. O rsk a , Joanna: Sezon na leszcza. Autentyk w poezji Jacka Podsiadły [Bleierne Saison. Das Authentische in der Lyrik von Jacek Podsiadło]. In: D ies .: Liryczne narracje. Nowe tendencje w poezji polskiej 1989-2006. Kraków 2006, S. 37-50.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
Podsiadłos Reiseerzählung nun setzt ein mit einer Reflexion über das Schreiben von Romanen, die Authentizität des Geschriebenen und wie es sich anfühlt, eine Romanfigur zu sein. Der Ich-Erzähler will schon seit Längerem eine roadstory verfassen – deshalb begibt er sich überhaupt auf Reisen kreuz und quer durch das östliche Europa und nicht zuletzt die westliche Popkultur. Mit diesem Erzählband schreibt sich der Autor nicht nur in die männlich dominierte Tradition der roadstory ein, sondern verhilft ihm zu weiterer Dominanz in der ostmitteleuropäischen Literatur.8 So war zur ungefähren Zeit der Tscheche Jáchym Topol auf Reisen nach Wołowiec – dem Polen Andrzej Stasiuk einen Besuch abstatten.9 Dessen Selbsterzählungen grundieren wiederum narrative Muster der roadstory.10 Entsprechend der dramaturgischen Kodexverhaftung einer roadstory reproduzieren Topols und Stasiuks Referenzmilieus eines Outsider-Männerbunds nicht nur die klischierten Topoi »maskuliner« Verhaltensbehauptungen als Erkennungssignale der Gleichgesinnten: Man spielt Indianer oder – als deren Platzhalter – Zigeuner; liebt, schreibt und lebt roadstories; säuft; schwärmt für und kämpft um Spielarten aus- und inländischer Punk-, Jazz- und Rockmusik; berauscht sich an Beat und Lost-Generation-Imaginationen. Der anfängliche Reisebegleiter von Podsiadłos Ich-Erzähler ist ein gewisser Patisson, »in die Lektüre des Typoskripts versunken wie ein Gartenkürbis in Essig«.11 Später wird er ersetzt durch Młody, den »Jungschen«; Śliwa, die »Pflaume«; Księżniczka Pankroka, »Punkrock Prinzessin«. Sie reisen in einem alten Mitsubishi, der zeremoniell zur »Kirsch-Rakete« (Wiśniowa Rakieta) umgetauft 8 | Fortbewegung wird den Figuren auf den »Straßen« Mittel- und Osteuropa, zu Fuß, im Auto, mit der Bahn oder zu Wasser ebenso zum Fetisch wie das Glück des Scheiterns. Die Chiffre »Straße« verheißt Freiheit, verspricht Wildnis und Exotik – sei es auch nur die der Sorben in Wolfgang Herrndorfs Tschick (2010). Für die roadstory-Welle stehen auch Jáchym Topols Roman Die Schwester (1994, Sestra, dt. 1998), Andrzej Stasiuks Unterwegs nach Babadag (2004, Jadąc do Babadag, dt. 2005), Jurij Andruchovyčs Zwölf Ringe (2002, Dvanadcjat’ obručiv, dt. 2005), gewissermaßen auch die Schiffsfahrt von Michal Hvorecký Tod auf der Donau (2010, Dunaj v Amerike, dt. 2012), die Autofahrten von Miljenko Jergović wie in Freelander (2007, dt. 2010) oder der Sibirientrip Tote Tiere (2011) von Olaf Kühl. Es gibt mittlerweile auch weibliche ostmitteleuropäische roadstories wie Truck Stop Rainbow (1989, Pera a perutě, dt. 1995) von Iva Pekárková oder jüngst Das Ungeheuer (2013) von Terézia Mora. 9 | Topol , Jachým: Supermarket sovětských hrdinů [Supermarkt sowjetischer Helden]. Praha 2007. – Der Text ist schon 2004 als Nachwort zu einem Stasiuk-Buch unter dem Titel Wie wir auszogen zu Stasiuk. Versuch einer Chronik (Jak jsme táhli za Stasiukem. Pokus o kroniku) erschienen. 10 | S tasiuk , Andrzej: Jak zostałem pisarzem. Próba biografii intelektualnej [Wie ich Schriftsteller wurde. Versuch einer intellektuellen Biografie]. Gładyszów 1998. 11 | P odsiadło: Podróż S. 241: »[...] zatopionego w lekturze maszynopisu jak patison w occie.«
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und mit als weiblich vorgestellten Attribuierungen wie »wild«, »launisch« und »zupackend« versehen wird. An die Bordwand knallt Wodka, nicht Sekt. Im Weiteren fungiert die »Kirsch-Rakete« als eine Art Raumkapsel, in deren Weltabgeschiedenheit sich ungelesene Bücher von und über Bondy stapeln sowie ein hinlänglicher Vorrat Bier das Überleben sichert. So absurd wie das Road-Szenario ist der nachgelieferte Anlass der Reise: Die jungen Polen erhalten per Mail die Nachricht, ein Freund habe am Vortag Egon Bondy seinen Platz in der Straßenbahn in Bratislava angeboten. Die Gruppe macht sich also auf die Reise, denn schließlich habe Egon durch seine »mystische Präsenz« einst den Freunden auf ihrem Weg auf den Berg Karmel den Gedanken eingegeben, diesen Berg so schnell wie möglich für ein Bier zu verlassen – ansonsten wären aus ihnen allen wohl »Ministranten in weißen Strümpfen« geworden. Schon einmal wollten die Polen Bondy besuchen, damals hatten sie einen Termin mit ihm vereinbart, fuhren jedoch nicht, schließlich ist ein Termin der »Feind der Freiheit und Improvisation«.12 Mit geöffneten Flaschen hätte Bondy auf sie gewartet. Aber: »Wir haben versagt.«13 Jetzt also ohne Termin, aber mit der festen Absicht, »Egon Bondy die unmittelbare Gunst zu erweisen«,14 auf einer Pilgerfahrt zu dem »von Egon Bondys Präsenz geweihten Ort«.15 In Olomouc treffen sie auf einen »Interessanten Menschen« (Ciekawy Człowiek), eine Anspielung auf ein gängiges TV-Format, das auch der Club der Polnischen Versager in Berlin für sich nutzt – und das am Ende des Buchs genauer vorgestellt wird. Dieser »Interessante Mensch« initiiert ein weiteres Leitmotiv von Podsiadłos roadstory: der die Reisegesellschaft verbindende Enthusiasmus für Cowboys und Indianer. Erstere würden mit dem Kopf auf einem Kaktus schlafen, das Pferd ihnen als Zudecke dienen. Und hat Old Shatterhand nicht im Liegen, die Winchester auf den Knien, manchen der rousseauschen »edlen Wilden« hinterm Gebüsch erschossen? Gerade das hat er nun bekanntlich nicht. Solche Brüche und Risse, das durchweg unzuverlässige Erzählen und Verblenden – hier von hypertrophen Wild-WestBildern – konstituieren Posiadłos Übersteigerung von Klischees, auch und gerade wo er einen Klischee-Übervater und frühen Grenzgänger zwischen Trivialliteratur und Selbstinszenierung als Pop-Figur wie Karl May einspielt. Also wählt der Ich-Erzähler in Olomouc auch einen übersignifizierten Namen: »Opa Benito«. Es folgt eine längere Passage über die Bedeutung von Namen, durch die ein Mensch mehr werde als er selbst. Eine Entscheidung, die dem Leser wärmstens anempfohlen wird: »Bei dem Namen muss ich an den stolzen 12 | Ebd., S. 247: »Termin jest bowiem wrogiem swobody i improwizacji.« 13 | Ebd.: »Zawiedliśmy.« 14 | Ebd., S. 244: »[...] a cel ten to oddanie hołdu bezpośredniego Egonowi Bondy’emu.« 15 | Ebd., S. 245: »[...] w ramach pielgrzymki do miejsca uświęconego obecnością Egona Bondy’ego.«
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Benito Juárez denken.«16 Der mexikanische Freiheitskämpfer ruft abermals einen Roman Karl Mays auf – und denunziert subtil dessen politische Implikationen sowie zugleich die eigene »Totale Kunst«, sofern Juárez Namenspate für Benito Mussolini stand. Heute, so der Ich-Erzähler wenig später, würde er natürlich lieber »Vaudevill-Bill aus Lousiana« (Wodewilowy Bill z Luizjany) heißen wollen oder – in Anspielung auf Winnetou – »Winnerat« (Winnerat).17 Kommerz, Markt, Staat tangieren sich im selben Autoritarismus. Die Freiheit wird durch sie allemal pervertiert. Jeder Underground wird am Ende Pop, während jeder Pop seinen Gehalt Underground trägt. Gerade hinter Posiadłos Trivia verbergen sich subtile Reflexionen seiner eigenen Ausdrucksweise. Weiter auf der Reise: Die Slowakei erweist sich als Paradies wie aus einem »slowakischen Videoclip«. Bier gibt es im Überfluss, dazu scheint die Sonne. Die Polen auf ihrem Weg zu »Bondy« versitzen die Zeit in Cafés, Kaschemmen, Kneipen des großen »Binnenland-Hafens« Bratislava. Hier treffen sie auf Retoroman: einen Freund mit rumänischen Wurzeln, der mittels einschlägiger Bilder als Zigeuner markiert wird. Und erweisen gemeinsam mit ihm der Hippiebewegung ihre zweifelhafte Referenz: Wir besteigen unsere Steckenpferde, jeder seines, und schweben im Rauchhimmel. Für einen Augenblick sind wir ewig die Hippies und ihre Hemden aus Blümchenvorhängen, die sie den eigenen Müttern gestohlen haben. Ich gerate in Verzückung, knöpfe mein Hemd auf und zücke die Brust und der Jungsche sagt, ich sehe so aus, dass ich allein durch mein Aussehen jedes Folkfestival gewinnen könnte […].18
Allein, die Reisenden haben Bondys Adresse in Polen liegen lassen. Doch treffen sie auf dem Marktplatz von Bratislava zufällig dessen Nachbarin mit Gipsbein, der sie folgen. Bondy ist nicht zu Hause. Dennoch ist die Gruppe keineswegs enttäuscht, im Gegenteil. Man freut sich, nach der Frau aus der Wohnung unter
16 | Ebd., S. 250: »To imię kojarzy mi się z dumnym Benito Juarezem.« 17 | Im Sinne von Pop gestaltet sich auch die Weiterführung des Western-Strangs in Podsiadłos Erzählband, wo in der Geschichte Man kann aus Trauer taub wie ein Stock, stumm wie ein Film und blind wie ein Gänger werden (Ze smutku można stać się głuchym jak pień, niemym jak film i ślepym jak nabój II) auf acht Seiten Titel von Western-Filmen aufgeführt werden, die Anzahl der Treffer in ihnen plus die Anzahl der Nichttreffer, um auf den verbleibenen drei Seiten die Schauspieler-Helden und ihre Schauspieler-Geliebten aufzulisten: »Burt Reynolds mit Sarah Miles, Leon Goodstricker mit Cyndy Preston, James Stewart mit Debra Paget. Robert Redford mit Delle Bolton.« 18 | Ebd., S. 251: »Dosiadamy ulubionego konika, każdy swojego, i bujamy w obłokach dymu. Chwilowo jesteśmy wieczni jak hipisi i ich koszule uszyte z kwiecistych zasłon skradzionych rodzonym Matkom. Rozanielam się, rozpinam sobie koszulę na piersi i Młody mówi, że wyglądam tak, że mógłbym wygrać jakiś festiwal folkowy, [...].«
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Bondy, nun auch noch den »Wand-Nachbarn« kennenzulernen, der direkt neben dem Idol wohnt. Und den Briefkasten filmen zu können.19 Auf der Suche nach einem Nachtlager schließlich erweisen sich die Parkanlagen entlang der Donau als untauglich. Dann jedoch findet die Gruppe eine charmante Wildnis, die sich freilich als Friedhof samt Krematorium entpuppt. Nach längerer Diskussion geht es »vom Leichenhain in einen weniger definitiven Landstrich«20 – in die urbanisierte Wildnis Bratislavas. Mangels Kaktus und Pferd bettet Podsiadłos Erzähler sein Haupt auf einem Maulwurfshügel; als Decke dient der Stadtplan von Bratislava. Am nächsten Tag geht es zurück nach Polen, erneut auf Umwegen: »Die Zeiten mischen sich. Die Wege sind verschlungen. Die Schatten tief.«21
P odsiadło und B ondy : V erfahren und I dol atrien des U nderground respek tive P op Podsiadłos Erzählung ist hochgradig assoziativ, und das gleich auf mehren Ebenen: der lautlichen, der inhaltlichen, der metaphorischen und schreibstrategischen. Sie changiert zwischen einem forcierten Banalismus, hier Bondys Totalen Realismus imitierend, zwischen freundlicher Ironie und einer gewissen religiösen beziehungsweise philosophischen Auratik. Es finden sich Anspielungen auf polnische Kriegslieder aus der Zeit des Warschauer Aufstands, Einlassungen zur Hippiezeit, zu Hollywood-Filmen oder zur Olsenbande (»mächtig gewaltig« – klawo jak cholera), Vergleiche mit dem Konzentrationslager Majdanek. Verdrehte Sprichwörter und Redewendungen, lautmalerische Kombinationen, quasi-autonome Sprachspiele drängen sich vor den Handlungsgehalt. Passagenweise entwickelt die Erzählung einen regelrechten Edward-Stachura-Sog, imitiert buchstäblich auch dessen Erzählweise. Auf diese Art eignet der Text sich das poetologische Modell Egon Bondys an, stellt seine eigene Poetik für eine Weile auf die Seite – indes so ostentativ, dass sie anwesend bleibt und die Aneignung weder Imitation noch Unterwerfung oder Gefolgschaft wird, im Gegenteil: Wenn ich nicht gerade auf einer mystischen, aber auch realistischen Fahrt nach Bratislava gewesen wäre, hätte ich gewiss jetzt in meiner Jagd nach dem Nichts innehalten und ein
19 | Dabei erfahren sie, dass Bondy neben dieser Wohnung auch noch eine Schreibwohnung haben soll. Dazu S zcz ygieł : Zapaliło się łóżko, S. 32. – Dieser wiederum berichtet, dass sich Bondys Schreibsitz in der Bratislaver Neubausiedlung Petržalka befand. 20 | P odsiadło: Podróż, S. 257: »[...] z trupiego zagajnika ku mniej definitywnym krajobrazom.« 21 | Ebd., S. 261: »Czasy się mieszaja. Drogi są kręte. Cienie głębokie.«
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Der Underground, die Wende und die Stadt Gedicht geschrieben, über die Schmetterlinge als die Schäben der Sonne, über silberne Beine, Funktionen des Schicksals und Lotosblüten oder so was in der Art. 22
Mit der (Reise-)Gruppe als außergesellschaftlicher Gemeinschaft, mit dem provozierenden Unsinn, den ostentativen Banalitäten und natürlich der Zentralchiffre »Bondy« sind genug Ingredienzien der Underground-Ästhetik vorhanden, um die Tradionslinie zu markieren – und so den Bruch mit ihr ausstellen zu können. Vor allem die aggressive Profanierung und sexualisierte Vulgarisierung des Underground fehlen, von der schon übersignifizierten Leerstelle »Bondy« im Zentrum zu schweigen. Ähnlich sind die paranoiden Topoi auf eine Art Slapstick reduziert – und erfüllen vordergründig die Prognose, nach dem Ende von staatssozialistischer Totalität und Willkür, auf die der ostmitteleuropäische Underground mit einer Kunst der Totalität reagiert, sei dessen ästhetisches Verfahren obsolet. Podsiadło dazu: Natürlich habe ich keines dieser Bücher [von Egon Bondy] gelesen. Ich bilde mir ein, ich könnte sie irgendwo unter Wegs [sic!] lesen. Dafür habe ich den Titel der Platte »Plastic People of The Universe« viele Male gelesen, den Titel »Egon Bondy’s Happy Hearts Club Bannend«. Ich muss zugegeben, dass ich Egon Bondy während dieser Tour schrecklich lieb gewonnen habe. Ich weiß schon eine Menge über ihn. Ich respektiere ihn und gehe ihm so weit wie möglich aus dem Weg. Meine eigene Phantasie hat mir mehr über ihn gesagt, als ich aus Büchern erfahren könnte. Ihr werdet selbst sehen. 23
Seht selbst – auf diesen Text nämlich, der die Underground-Poetik aufnimmt, um sie zu verabschieden. Pointiert gesagt: Podsiadłos roadstory bewegt sich Richtung Pop. Der Underground, seine Verfahren und Normen, finden sich allenthalben – aber nurmehr als Reminiszenzen in einer ansonsten dezidiert horizontalen roadstory ohne starke vertikale Motive, Bilder oder Strukturen. Mehr noch: Der Erzähler quartiert den Vertreter der Vertikalität, des Underground, offen aus der »Kirsch-Rakete« aus.
22 | Ebd., S. 247: »Gdybym nie był właśnie na trasie mistycznej, ale i realistycznej podróży do Bratysławy, pewnie zatrzymałbym się teraz w swej gonitwie za niczym i napisałbym wiersz, o motylach jako paździerzach słońca, o srebrnych nogach, wykresach losu i kwiatach lotosu albo coś w tym rodzaju.« 23 | Ebd., S. 246: »Oczywiście nie przeczytałem żadnej z tych książek. Łudzę się, że zdążę je przeczytać gdzieś po Drodze [sic!]. Za to wielokrotnie przeczytałem tytuł płyty ›Plastic People of The Universe‹, tytuł ›Zakazany Klub Szczęśliwych Serc Egona Bondy’ego‹. Muszę przyznać, że strasznie polubiłem Egona Bondy’ego podczas tej wyprawy. Sporo już o nim wiem. Szanuję go i omijam z daleka. Z własnej wyobraźni dowiedziałem się o nim wiele więcej, niż mógłbym z książek. Sami zobaczycie.«
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A bschied vom U nderground Der anfängliche Reisebegleiter Patisson darf nicht mit auf die Reise. Er wird als »Goralenseele«, als Mensch der Bergwelt vorgestellt, als ein »schwarzer Charakter unserer heimatlichen Scholle«.24 Er verkörpert den klassischen, selbst gewählten Underground, wird metaphorisch als Höhlenbewohner unter der Erde beheimatet. Und in der Tat: Ohne ihn wird gleich alles leichter, unbeschwerter, sorgenfreier. Der »Jungsche«, sein Ersatz, symbolisiert in den Attributen der stets verfügbaren Kreditkarte und des funktionierenden Handys den generationellen als epochalen Austausch von Underground gegen Pop: Versteht mich nicht falsch, was Patisson angeht. Er trägt das Herz immer auf dem rechten Fleck und die Seele unter der Gürtellinie, und seine Leber schleppt er zweieinhalb Meter hinter sich her. Ein spezifischer schwarzer Rumor geht ihm nicht ab. Wir lieben und schätzen ihn sehr, aber es war nicht mehr auszuhalten mit ihm, nur deshalb mussten wir ihn aus unserer Gruppe ausschließen. Zu seinem und unserem Besten. 25
Spätestens hier indes bekommt das leichthinnige Abschiedsszenario einen Riss. Der Zusatz »zu seinem eigenen Besten« eignet sich die einschlägige Rhetorik moderner Repressionsapparate an. Und dann, expliziter, beginnt der Höhlenmensch ihnen zu fehlen. Seine Erzählungen über unterirdische Pferde und den schwarzen Himmel lassen sich nicht ersetzen durch all die Trivia der Reise. In allen von uns schlage das Herz eines Patisson, heißt es an anderer Stelle. Immer noch, ließe sich hinzufügen. Die Leerstellen, um die der Text so vergnüglich kreist, bekommen etwas Trotziges, Verzweifeltes. Daran anknüpfend ein abschließender Blick auf die bruLion-Formation und ihre Nachfolger. 2012 veröffentlichte Przemysław Witkowski in der Zeitschrift Przekrój (Querschnitt) den Aufruf Die alten Dichter gehören erschlagen. Witkowski wirft hier den Alten – und das sind für ihn die bruLion-Schriftsteller – vor, ihren anarchistischen Gestus verloren und sich dem Literaturbetrieb angedient zu haben. Ihre Gedichte seien hermetisch geworden, gefangen im »Königreich des Privaten und Individuellen«, undekodierbar für den, der sich in den »postmodernen Kodes« nicht auskenne. Dabei gebe es eine junge Generation um Konrad Góra, Szczepan Kopyt und Tomasz Pułka mit einem »echten« linken, kämpferischen Anspruch auf eine andere Gesellschaft. Auf die Frage nach dem bruLion-Lyriker Marcin Świetli24 | Ebd., S. 242: »[...] ten czarny charakter naszych ojczystych gleb, [...].« 25 | Ebd., S. 246-247: »Tylko nie zrozumcie mnie źle, jeśli chodzi o Patisona. Nie jest skąpy ani samolubny, wręcz przeciwnie. Zawsze ma serce na dłoni i dusze na ramieniu, a jego wątroba wlecze się zawsze dwa i pół metra za nim. Nie jest pozbawiony swoistego czarnego honoru. Bardzo go lubimy i szanujemy, ale już nie szło z nim wytrzymać, i tylko dlatego musieliśmy go wykluczyć z naszej grupy. Dla jego i naszego dobra.«
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cki und dem Exilpoeten Adam Zagajewski, erklärte Pułka, wie diese beiden Krakauer, einigermaßen empört, er wolle sich »nicht mit Leichen abgeben«.26 Generationelle Leichenfledderei ist Podsiadłos Ablösebewegung vom Underground mitnichten. Sie ist eine reflektierte Sicht auf ineinandergreifende Zeiten, an diese gebundene Poetiken und deren Weiterentwicklung beziehungsweise Umkodierung. Und so schließt seine roadstory denn auch mit einer Passage, die in ihrer Schreibweise noch ein weiteres Idol der Literatur der Region aufruft: Bohumil Hrabal und seinen bafelnden Erzählstil.27 Mag Podsiadło sich zwar vom Underground verabschiedet haben, in die mitteleuropäische Literaturtradition indes schreibt er sich mit diesem Text gerade erst ein: Irgendwo hinter uns blieb Egon Bondy und seine eigenartige, aber uns nicht mehr ganz so verschlossene Welt, in der jeder Tag vierfach zählte. Bratislava mit seinen Parks und Krematorien, Anna Maria und Ivan, und die Kinder im Haus, in dem ein Baum wächst. Fast vergessen das Bußgeld, das uns in irgendeinem slowakischen Kaff irgendwelche slowakischen Sonderlinge aufdrückten, weil Pflaume Lust auf ein Eis und alle Lust auf Bier bekamen, aber niemand Lust hatte, nach einem Parkplatz für die Kirsch-Rakete zu suchen, schließlich konnte man wie immer fast in der Ladentür parken, so als würde man vom Deck der Kirsch-Rakete einfach einen kosmischen Kirsch-Anker auswerfen, der sich an der Tür des Lebensmittelladens oder an einem kosmischen Baum daneben festhakt und prrr, würdige Vehikelin, gehen wir Bier und Eis kaufen. 28
26 | Witkowski, Przemysław: Trzeba zabić starych poetów [Die alten Dichter gehören erschlagen]. In: Przekrój 12 (2012), S. 42-43. – Etwas versöhnlicher klingt es noch in D ers .: Część I. Mała niebieska książeczka [Teil I. Ein kleines himmlisches Buch]: www.ha.artpl/ felietony/823-przemyslaw-witkowski-czesc-1-mala-niebeska-ksiazeczka (Letzter Zugriff: 09.04.2014). 27 | Bafeln ist die gängige deutsche Übersetzung des von Hrabal geschaffenen Kunstworts »pábit«, mit dem er den ausufernden Redefluss der Erzähler seiner Bücher bezeichnete. Hrabal und Bondy waren eng befreundet. Siehe auch das folgende Kapitel zu Peter Wawerzinek. 28 | P odsiadło: Podróż, S. 260: »Gdzieś za nami został Egon Bondy i jego osobny, ale nie tak całkiem zamknięty dla nas świat, w którym każdy dzień liczy się poczwórnie. Bratysława ze swymi parkami i krematoriami, Anna Maria i Ivan, i dzieci w domu, w środku którego rośnie drzewo. I nieważny już ten mandat, który wlepili nam w jakiejś słowackiej mieścinie jacyś słowaccy pomyleńcy, bo Śliwie się zachciało lodów, a wszystkim chciało się piwa, a nikomu nie chciało się rozglądać za miejscem, gdzie można by prawidłowo zaparkować Wiśniową Rakietę, skoro można było jak zawsze zaparkować ją niemal w drzwiach sklepu, tak, jakby człowiek po prostu rzucał z pokładu Wiśniowej Rakiety kosmiczną wiśniową kotwicę, a ona zahaczała się o drzwi sklepu spożywczego lub kosmiczne drzewo obok i prrr, dostojna wechikulico, idziemy po piwo i lody.«
6. Meine Stadt bin ich sind viele
Peter »Leuchtkäfer« Wawerzinek,
der Bafler vom Prenzlauer Berg das also ist sie – wielange schon treibt dieser dreck mein leib über die dächer die ubahn die jaulend die erde durchpflügt (halbstadt: scheiße du ausfluss du eiter / geiles geschwür brennend im Leib der geifernden jungfer / dass sie dich ausreisst ausätzt: säure drauf – fertig! / du schlammloch1 F rank-Wolf M at thies
Franz Kafka nannte Prag einmal ein »Mütterchen mit Krallen«.2 Das hat etwas Rührendes im Vergleich zu den Ausbrüchen von Frank-Wolf Matthies gegen Berlin: »du schlammloch / zermauert [...] versoffen, verschmiert / von kackepisse-sperma-abgas-benzin [...] asphaltzerrätselte, dreckinsel im dreck- / meer fotzenweiche madonna.«3 Zugleich freilich spricht aus Matthies’ Kraftworten eine hilflose Wut, ästhetische Unbeholfenheit verglichen mit Kafkas subtilem Erschaudern an Prag. Das Gedicht, eine plakativ gebrochene Liebeserklärung an das lyrische Du »Stadt«, steht für eine in dem gemeinhin unter »Prenzlauer Berg« subsumierten Kunstmilieu eher rare und randständige Poetik. Mit Berufung auf einen ihrer Protagonisten, Adolf Endler, hat Gerrit-Jan Berendse auf den bemerkenswerten Umstand hingewiesen, dass die Ost-Berliner Boheme »den urbanen Lokalitäten gerade keinen Einlass in ihre Kunstgebilde gewährte und damit nicht zum Sujet
1 | M at thies , Frank-Wolf: Die Stadt. In: D ers .: Prosa STADT. Berlin 1985, S. 41-43, hier 41. 2 | Franz Kafka an Oskar Pollak (1902). In: K afk a , Franz: Briefe 1902-1924. Hg. v. Max B ro d. Frankfurt am Main 1958, S. 14. 3 | M at thies: Die Stadt, S. 41-42.
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ihres Schaffens werden ließ« 4 – anders etwa als die amerikanische Beat-Literatur oder, wäre zu ergänzen, die Prager Modernen über ein Jahrhundert. Von dieser eigentümlichen Stadtabkehr auszunehmen sind eben Endler und Matthies, zudem Kurt Bartsch, Lothar Trolle, Bernd Wagner, Peter Wawerzinek, die auch nach Lebensvollzug und Habitus, mithin im Sinne des Paradigmas von der »gelebten Kunst« Vertretern von Beat und Underground gleichen. Unruhe, das Transitorische, gesellschaftlich Uneingebundene, Sich-Verweigernde grundieren eine Biografie wie die des 1951 in Berlin geborenen Matthies: Durch die DDR schlug er sich als Dichter, Maschinist, Leichenwäscher, Kellner, Taxifahrer, Dispatcher, Bausoldat, Fernsprecher, Reparaturschuster, Grabenzieher, Eisverkäufer, Filmvorführer, Kameraassistent; wurde politisch verfolgt, verhaftet und wieder freigelassen; 1981 reiste er nach West-Berlin aus. Ähnlich kommt in Peter Wawerzineks autobiografisch geprägtem Roman Moppel Schappiks Tätowierungen aus dem Jahr 1991 der aus Mecklenburg nach Berlin gezogene Moppel Schappik als Briefträger und Kellner daher, Säufer (»Tresenlümmler«)5 und Frauenheld, Kraftfahrer, Totengräber, Hausmeister – mit einer Schreibmaschine ausgestattet und immer in Berlin unterwegs. Denn vor allem ist Moppel eben ein Stadtgänger, der den »Bürgersteig im Blut« hat,6 sich dem urbanen Raum anverwandelt: Er »schnittbogte sein Ich ins Typische der Großstadt ein«.7 Und bleibt doch ein Dörfler mit »mecklenburgischem Watschelgang« – der perfekte teilnehmende Beobachter.8 Zugleich »Empfangsperson« und »Sender«,9 absorbiert er die Geräusche und Gespräche Berlins, gibt sie ineinandergeblendet wieder und droht darüber dem Erzähler, der sich mal als Schöpfer, mal als Beobachter, ein andermal als Verfolger Moppels präsentiert, immer wieder zu entgleiten: »Das Wesen zersplittert mit jedem geschriebenen Absatz«,10 beklagt der sich über seine diffizile Figur. Wawerzineks Berlin-Poetik macht bewusste Anleihen bei Alfred Döblin; mehr aber noch fordert sie den Vergleich mit den Prag-Erzählungen Bohumil Hrabals heraus. Moppel Schappik ginge in seiner polyphonen Unrast und Verzähltheit ohne Weiteres als ein hrabalscher »Bafler« durch: ein Quirl, ein Schwätzer, der die diskursive Hefe treibt. Wo Matthies lyrisch um sich schlägt, wählt Wawerzineks Roman eine ironische, öfter noch komische Stadtprosa, deren Leitmotive Dezentrierung und Ich-Zerteilung sind. Konkret arbeitet der Text sich an der DDR4 | B erendse , Gerrit-Jan: Beat am Prenzlauer Berg. Das Treffen zweier Subkulturen. In: D ers .: Grenz-Fallstudien. Essays zum Topos Prenzlauer Berg in der DDR-Literatur. Berlin 1999, S. 41-58, hier 41. 5 | Wawerzinek , Peter: Moppel Schappiks Tätowierungen. Berlin 1991, S. 129. 6 | Ebd., S. 85. 7 | Ebd., S. 7. 8 | Ebd., S. 135. 9 | Ebd., S. 44. 10 | Ebd., S. 92.
6. Meine Stadt bin ich sind viele: Peter Wawerzinek
dissidentischen Zentralszene in Prenzlauer Berg ab, am geteilten Berlin, dessen östliche Hälfte als »Hauptstadt der DDR« eng und eingemauert, im selben Zug wie horizontal gedehnt und zutiefst provinzialisiert erscheint. Erkennbar wird ein innerhalb Ostmitteleuropas durchaus spezifischer literarischer Underground, der starke ästhetische Bezüge zur Vorkriegszeit wie zu außerdeutschen Subversionspoetiken aufweist, in entscheidenden Punkten indes von ihnen absticht.
S pr ach -S tadt versus S tadt-G ang : P renzl auer -B erg -S zenen Die Sprachkonvention »Prenzlauer-Berg-Szene« suggeriert, im Ost-Berlin der 1980er Jahre habe sich ein definiertes oppositionelles Zentrum artikuliert. Doch den Prenzlauer Berg als eine subversive Strömung oder wenigstens Ausrichtung, gar als DDR-Underground hat es nie gegeben. Vielleicht weniger noch als »Szene«-Milieus andernorts verband die Künstler im und um den Berliner Altbaubezirk ein fassbares Programm, eine zumindest implizit geteilte Utopie, ein gemeinsamer ästhetischer Nenner oder Impuls. Was sich beobachten lässt, sind multiple Gesten der Randständigkeit, das vage Bemühen um nonkonforme Kunst und alternative Lebensformen. In diesem allgemeinen Sinn steht die Chiffre »Prenzlauer Berg« für einen Raum, in dem nicht genehmigte Happenings stattfanden, der Rock- und Punk-Underground sich konzentrierte, man verbotene oder unterdrückte Literatur las und schrieb, Wohnungstheater, inoffizielle Galerien und illegale Zeitschriften gegründet wurden.11 Und, natürlich, in dem freier geliebt, schärfer gestritten, ausgiebiger mit Drogen experimentiert wurde als im Rest der Stadt und des Lands. Rückblickend entwirft Bert Papenfuß seine Prenzlauer Freiheit mit Anklängen an das Rudelmotiv, wie es sich in den Werken und Autonarrativen eines Jáchym Topol oder Andrzej Stasiuk findet: »Wir waren eitel wie edle Wilde, redeten uns schön und erfreuten uns aneinander.«12 Ein Wir, von dem Philip Brady schreibt, es beinhalte »at the simplest level, verbal gestures of collectivity, poets hinting at plurality«.13 Das systemdistanzierte künstlerische Tun habe die Akteure verbunden, unabhängig davon, wie weit sich Auffassungen und Ästhetiken voneinander entfernt hätten: »[...] 11 | Dazu M ann, Ekkehard: Untergrund, autonome Literatur und das Ende der DDR. Eine systemtheoretische Analyse. Frankfurt am Main u.a. 1996, hier S. 129-130 u. 141. – Ebenso B öthig , Peter: Grammatik einer Landschaft. Literatur aus der DDR in den 80er Jahren. Berlin 1997. 12 | Papenfuss , Bert: Entliebung. In: Die Addition der Differenzen. Die Literaten- und Künstlerszene Ostberlins 1979 bis 1989. Hg. v. Uwe Warnke u. Ingeborg Q uaas . Berlin 2009, S. 15-16, hier 15. 13 | B rady, Philip: Prenzlauer Berg – Enklave? Schrebergarten? Powerhouse? In: Prenzlauer Berg. Bohemia in East Berlin? Hg. v. Philip B rady u. Ian Wallace . Amsterdam-Atlanta 1995, S. 1-17, hier 5.
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poems, differently exploring and expressing a sense of shared activity.«14 Bradys analytische Außenperspektive zeigt eine gewisse schweißtreibende Mühe, seinen großen ganzen Gegenstand zu konstituieren. Eine weitreichende Homogenisierung des Kiezes leisteten ironischerweise auch seine späteren, teils renegatischen Verächter, die nach der Wende einen »Schrebergarten der Stasi« (Wolf Biermann) beziehungsweise, größer gedacht, eine »Stasi-Plantage« (Adolf Endler) ausmachten, eine »Käseglocke« (Peter Laudenbach), von »Provinz«, »Versteck« oder »Enklave« sprachen.15 Kurz, bei dem Singular »Prenzlauer Berg-Szene« handelt es sich nicht zum wenigsten um ein Konstrukt der Deutungskämpfe ex post, die zum Teil die Zerklüftung, über die sie hinwegschreiben, gerade bestätigen. Derweil durchziehen die als neuerliche querelles allemandes apostrophierten Literatenkämpfe der 1990er Jahre eine bemerkenswert rurale Bildsprache, von den zitierten Pflanzenmetaphern zu späteren Debatten um eine »westliche Kolonialisierung« des Bezirks. Da ist zum einen der Anwurf, wie dörflich, ländlich-sittlich der klatschhaft zerfaserte, bis zum letzten Protestästheten stasiunterwanderte »Kiez« doch gewesen sei;16 zum anderen das von den damaligen Texten beglaubigte Leiden an der semantischen Verkleinerung Berlins durch Mauer, SED und Piefke-Ästhetik. Ein Leiden an der »Landesstadt« Berlin – die doch ohne (großstädtische) Alternative war. Beide, die dissidentische wie die postdissidentische Poetik kultivieren einen urbanen Selbsthass, der letzten Endes die BerlinAbstinenz ihres Augenmerks motiviert, wo sie ihn nicht offensiv ausspielen. Für einen dieser Literaturstränge hat sich das Adjektiv »sprachkritisch« eingebürgert, dem eben Gerrit-Jan Berendse seinen »Stadt-Strang« innerhalb der OstBerliner oppositionellen Literatur gegenüberstellt. Die Sprachkritiker, zumeist jüngere, linguistisch orientierte Autoren wie Stefan Döring, Jan Faktor und Bert Papenfuß suchten über obsessive Sprachzerlegung einen Weg, gegen das Provinzielle anzuschreiben. Ihre theoretisch durchdrungene Lyrik verwendet Mundarten und Dialekte, fremdsprachliche und altdeutsche Einsprengsel, Umgangssprachliches und Lautmalerisches, Jargon und Argot, Sexismen, Fäkalien. Die Gedichte wenden, sezieren und parodieren politische Worthülsen; sie rhythmisieren über Enjambement, Strophenauflösung, regelwidrige Interpunktion und ellenlange Aufzählung. Kurz, sie bedienen sich avantgardistischer Stilmittel, die 14 | Ebd. 15 | Den Anstoß zur Debatte gab B iermann, Wolf: »Laß, o Welt, o laß mich sein!« Rede zum Eduard-Mörike-Preis. In: Die Zeit v. 15.11.1991, S. 73-73, hier 73. – L audenbach, Peter: Die Käseglocke Prenzlauer Berg. In: Berliner Zeitung v. 25./26.11.1995, S. 39. 16 | Die Schriftsteller Sascha Anderson und Rainer Schedlinski waren Informelle Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit und zugleich Inspiratoren der Szene. Dazu u.a. MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg. Hg. v. Peter B öthig u. Klaus M ichael . Leipzig 1993. – Die Stasi in der deutschen Literatur. Hg. v. Franz H uberth . Tübingen 2003.
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auch der Underground präferiert. Ganz analog wurde dieses »Kwehrdeutsch«17 als hermetisch und hochgradig selbstreferenziell kritisiert, auch für sein Misstrauen gegenüber dem lyrischen Subjekt. Die Stadt ist hier metaphorisch schlecht greif bar; eigentlich existiert sie so wenig wie der sprechende Einzelne. Vielmehr geht es in den Texten um die Heterophonie des Sprechens selbst, einen radikalen Ästhetizismus, der weder einen Flaneur noch anderen Beobachter braucht oder wünscht – etwa in Stefan Dörings east days in lost berlin,18 dessen Verse eher das (mögliche) Sprechen über die »Zwiestadt« (Uwe Kolbe)19 erkunden als diese selbst. Damit unterscheidet sich Dörings Berlin-Imagination fundamental von derjenigen eines Wawerzinek: Er verweigert sich der Stadt gleichsam zugunsten der Metaebene einer vordergründig ortlosen Sprache. Indes ist deren Polyphonie genuin urban. Auch die poetischen Verfahren der sprachkritischen Untergrund-Dichter verlaufen strukturell parallel zu denen des an »klassischen« Underground-Konzepten orientierten Stadt-Strangs. Erstere blenden Wortbedeutungen, Satzglieder, Verszeilen dergestalt über- und ineinander, dass die Gedichte wirken, als wären sie mehrfach zerschlagen worden. Analog zerlegen und verblenden Letztere ihre Bilder von der Oberfläche des »ersten« und »zweiten« Berlin, der Ober- und Unterstädte, um das eine ins andere zu überführen – mit Alfred Endler: »Ja geh, Ich hol mir mit dem Straßenpumpenschwengel / Zum Trost die Stimmen jener zweiten Stadt nach oben.«20 Zum zweiten fanden Prenzlauer Berg, Alltag, Mauer und Regime auch in der sprachkritischen Lyrik statt – wiewohl hochartifiziell kodiert. Das provozierte den Vorwurf, gerade diese Kunst habe den Prenzlauer Berg zu einem ästhetischen wie Milieughetto gemacht. So ätzten Heiner Müller und Volker Braun gegen die jüngere Dichtergeneration als »Scheinexistenzen« und »Neutöner«, die in ihren 17 | H asenfelder, Ulf Christian: »Kwehrdeutsch«. Die dritte Literatur in der DDR. In: Neue deutsche Literatur 1 (1991), S. 82-93. 18 | D öring , Stefan: east days in lost berlin. In: D ers .: Heutmorgestern. Gedichte. Berlin 1989, S. 78: »durstdurchdunstet mit aerosolen / auraten grad zur atemnot wir / das fehl unserer lichtung // stausäulenhallen / taub die a’s und o’s / gehen wir weiter / […] / diese wut setzten wir uns auf / jene macke zogen wir uns an / in solchen schulen flohen wir / immer wieder zu erkennen // nachts flammwerk anzu-stecken / fest wir im talglicht des tages / decken wir uns, ach dreck / zu, gegenseitig, voreinander / die blässen unserer blössen.« – Das Gedicht gehört zum Zyklus weilen (1985-1988). 19 | Siehe das mit einer Widmung an FWM (Frank-Wolf Matthies) versehene Gedicht von K olbe , Uwe: Berlin. In: D ers .: Vaterlandkanal. Ein Fahrtenbuch. Frankfurt am Main 1990, S. 77: »In Zwiestadt ausgeworfen / gespannt zwischen Sperrmüll / und Kinderstrich, die glimmende Asche / zum Zeichen der Einheit, / die Asche der Augen: Zeichen, / […] / Du schlägst dir selbst ins Gesicht / in Rom, in Westberlin, und ich / find Futter im staatlichen Rollgras. / Gib Feuer, Freund, / wir zünden die Eine gemeinsam an.« 20 | E ndler, Adolf: Randlage. Nr. 13. Berlin 1980, S. 1.
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Augen vergangene Avantgarden nachäfften, »verspätete Kopien von Moden« und second hand lieferten, Rebellion allenfalls simulierten.21 In fragwürdigem Zusammenspiel mit den erwähnten Stasi- und Schrebergarten-Einlassungen trug die poetologische Kritik dazu bei, den realen locus Prenzlauer Berg in einen polemisierbaren, scheinhomogenen Topos zu überführen. Spätestens Mitte der 1990er Jahre war die Prenzlauer-Berg-Szene in Teilen der Öffentlichkeit zu einer Chiffre für Verrat und selbstgenügsame Abgeschiedenheit, für eine verlogene Provinzialität geworden. Nahezu gleichzeitig setzte ein literaturwissenschaftliches Differenzierungsbemühen ein. Zu Ende des Jahrzehnts schlug Gerrit-Jan Berendse seine Unterscheidung heterogener »Stränge« vor, wobei er der Stadtliteratur attestierte, das vermeintliche Szeneghetto schon zu DDR-Zeiten überwunden zu haben. Ihr »vagabundierendes fiktives Personal« habe die »Amorphisierung des PrenzlauerBerg-Images« vorangetrieben: Es scheint, als ob die Gammler und Penner aus Burroughs’ und Kerouacs Roman in ostdeutscher Gestalt auferstehen. In ihrer offensichtlichen Devianz erheben sie aber nicht einen Dissidenten-Status, sondern leuchten als »Freie« die Grenzen ihrer Möglichkeiten aus. 22
Adolf Endler, Frank-Wolf Matthies, Peter Wawerzinek firmieren bei Berendse als »Ost-Beatniks«, die in Themenwahl und Technik an die amerikanischen Vorgänger anschlossen – ohne sie jedoch zu kopieren. Wenn im Folgenden Wawerzineks Roman analysiert wird und nicht Dörings, Papenfuß’ oder Faktors Lyrik, folgt das dieser Beobachtung. Die explosiv-extrovertierte, ungezügelt das Subjekt des outcast und damit sich selbst überhöhende, manisch sensualistische Urbanität des »Stadt-Strangs« ist Underground-Kunst par excellence.23 Hingegen wäre die Hermetik der Sprachkritik eher in die Genealogie der Avantgarden zu stellen – explizit dessen unbenommen, dass ihre äs21 | M üller, Heiner: Krieg ohne Schlachten. Leben zwischen zwei Diktaturen. Köln 1992, S. 288-291, hier 288: »Das ist so wie bei den holländischen Tomaten, die ohne Boden wachsen, nur mit Luftwurzeln. Das merkst du den Texten an, dünnes Gebäck.« – B raun, Volker: Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität. In: D ers .: Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie. Schriften. Leipzig 1988, S. 95-120, hier 110: »Unsere vermeintlichen Neutöner, Hausbesetzer in den romantischen Quartieren, […], sind wohl gute Anschaffer, die fleißig auf den Putz hauen. Hucker, nicht Maurer.« 22 | B erendse : Beat am Prenzlauer Berg, S. 58 u. 56. 23 | Berendse beschreibt das Schaffens- und Lebenscredo von Endler, ohne das Wort »Underground« zu erwähnen: »Bei ihm werden gerade die beiden zu Dogmen erstarrten Optionen – hie Utopiegläubigkeit, da Dissidententum – als unflexibel und lebensunfähig abgelehnt. In seinem Rückzug stellt er sich gerade den als absurd interpretierten Realien, umarmt sie geradezu, um sie dann mit Füßen zu treten.« – B erendse , Gerrit-Jan: Adolf Endler: Chroniken eines Stadtnomaden. In: B erendse : Grenz-Fallstudien, S. 59-80, hier 63.
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thetische Originalität und Zugehörigkeit zum literarischen Untergrund der DDR allenfalls politisch absichtsvoll negiert werden kann. Und dass sie sich marginal und subversiv zur Hochkultur verhielt, also alles andere als politisch oder poetisch steril war. So weit east days in lost berlin von Döring und die sinnenstrotzende BerlinDichtung eines Matthies auf den ersten Blick auseinander liegen: Beider Verfahren laufen, wie gesagt, parallel. Spezifischer noch, beide trieb das Thema der geteilten Stadt um. Angesichts der innerstädtischen Staatsgrenze stand man vor einer Frage, die sich in keiner anderen Metropole stellte: Ob das überhaupt noch im emphatischen Sinne eine Stadt war, über die man schrieb? Wie umgehen mit dem fortifizierten Riss durch die Topografie, mit der historischen Diskontinuität, einer abgeschnittenen mythopoietischen Tradition? Die Stadt ließ sich als solche nicht mehr nutzen – und ebenso wenig imaginieren.24 Dass in den Nachwendejahren die Berlin-Literatur mit schon hysterischen Hoffnungen auf Renaissance befrachtet wurde, liegt auch in dieser stark empfundenen Anomalie begründet.25 Konkret wurde die Mauer in gebrochenen Biografien und Beziehungen. Auf den Emigrationsschub nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 folgten in der DDR immer neue Krisen; der Fluchtimpuls hielt unvermindert an. Unter den Folgen für die »autonome« oder »andere« DDR-Literatur nennt Ekkehard Mann eine Umschichtung innerhalb der Kunstszene, die mit einer Massenausreise seit 1984 einsetzte. Mit dem Bild vom »Ausbluten der Szene« umschreibt Thomas Ernst diese Zeit.26 Während sich immer mehr Akteure des Untergrunds im Westen niederließen, durften andere ihnen temporär zu Lesereisen folgen; wieder andere hatten Ausreiseanträge laufen oder erhielten Publikationsofferten von West-Verlagen. Das Ergebnis waren Missgunst, Misstrauen, Vereinzelung in einer Szene, die sich ohnehin an Führungsansprüchen, Generationskonflikten und ästhetischen Antagonismen aufrieb.27 Umso mehr, als mit Mauer und innerdeutscher Grenze jeder Opposition die nationale Karte aus der Hand geschlagen war. Prag und Warschau konnten als 24 | Siehe zur Metapher der Grenze in der Literatur des Prenzlauer Berg L eeder, Karen: »ich fühle mich in grenzen wohl.« The Metaphors of Boundary and Boundaries of Metaphor in »Prenzlauer Berg«. In: B rady/Wallace : Bohemia in East Berlin?, S. 19-44. 25 | S teinert, Hajo: »Döblin dringend gesucht!« Berlin-Romane der neunziger Jahre. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Hg. v. Christian D öring . Frankfurt am Main 1995, S. 234-245. – Dagegen S chirrmacher, Frank: Idyllen in der Wüste oder Das Versagen vor der Metropole. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.10.1989, S. L 1-2. 26 | E rnst, Thomas: Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld 2013, S. 401-402. – Ernst fasst die anhaltenden Debatten um die Wertigkeit der Untergrund-Literatur vom Prenzlauer Berg nochmals zusammen, die zwischen »kulturellem Bluff« (Hermann Glaser) und »Vielzahl von Subszenen« (Joachim Walter) changieren. 27 | M ann: Untergrund, S. 256-258.
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Metonymien im Zweiten Weltkrieg besetzter, später sowjetisierter Nationalstaaten aufgefasst werden und die nationale Utopie konnte als umstrittene, aber doch einende symbolische Alternative fungieren. Anders die amputierte Hauptstadt der »sozialistischen Nation« DDR, in der nach Niederlage und Kriegsverbrechen lange keine ernsthafte irredentistische Option bestand. Die Mauer stellte sich ja immer auch als manifeste Konsequenz einer katastrophal an sich selbst gescheiterten Geschichte dar. Das Ergebnis war eine autoaggressiv gewendete »Beißhemmung« – so Jan Faktor – der Oppositionellen gegenüber dem Regime.28 Äußerlich und soziologisch verheert wie sonst nur Warschau, jedoch ohne dessen Kraft und Willen zur Restauration, eignete beiden Berlins eine ahistorische Grundstimmung, zu der Milieuverschiebungen wie die Ansiedlung der intellektuellen Boheme in den ehemaligen Arbeiterbezirken Kreuzberg in Westund Prenzlauer Berg in Ost-Berlin beitrug. Wie um ihren Kern entleert die ehemalige Metropole war, trat nach 1989 und mit dem Auf bruch in die »Berliner Republik« vollends zutage, als der Erstarrung eine eigentümliche Bewegungsumkehr folgte: »Die Stadt, die siebenhundert Jahre lang in ihr Umland wucherte, wächst seit dem Fall der Mauer zum ersten Mal nach innen.«29 Damit einher geht scheinbar ein urban-hedonistisches Lebensgefühl, das Phil Langer bereits in Peter Wawerzineks Moppel Schappiks Tätowierungen angespielt sieht. In der zentripetalen »Berliner Republik« sei es Teil des – medial vielleicht überforcierten – Stadtmythos geworden und stehe in enger Beziehung zu sozialen und ideologischen Rearrangements: »Die Bewegung, die im aktuellen Topos ›Berlin‹ angelegt ist, scheint offensichtlich zu sein: Sie führt ins Zentrum, in die vielbeschworene ›(Neue) Mitte‹, geradlinig, ohne Umwege.«30 Letzteres zumindest steht dem Ethos des wawerzinekschen Romans diametral entgegen. In Moppel Schappiks Tätowierungen hallt vielmehr der Sturz aus der Geschichte deutlich nach. Von den sich anbahnenden Verschiebungen der urbanen Tektonik findet sich vordergründig wenig oder nichts. Wawerzineks BerlinRepräsentation bleibt unterhalb des Epochengeschehens, wie auch Phil Langer bemerkt: Sein Gewimmel der Figuren und Stimmen suspendiere die historische Signifikanz der durchquerten Orte, mache die Wendejahre austauschbar, lasse die historischen Ereignisse bis zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen.31 So reduziert Wawerzinek den Fall der Mauer selbst zur Posse, angedeutet in einer grotesken Szene, die eine Erna Holtfreter dem Erzähler berichtet und mit der »es« 28 | Faktor, Jan: Die DDR-Linken und die tschechische Opposition. In: S imon, Annette/ Faktor, Jan: Fremd im eigenen Land. Gießen 2000, S. 37-47, hier 41. 29 | Wefing , Heinrich: Die neue Mitte Berlins. Binnenkolonisation am Potsdamer Platz. In: Zeitzeichen Baustelle. Realität, Inszenierung und Metaphorik eines abseitigen Ortes. Hg. v. Franz P röfener . Frankfurt am Main–New York 1998, S. 50-55, hier 52. 30 | L anger, Phil C.: Kein Ort. Überall. Die Einschreibung von »Berlin« in die deutsche Literatur der neunziger Jahre. Berlin 2002, S. 22-24. 31 | Ebd., S. 120.
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seinen »verhängnisvollen Anfang« genommen habe. Einmal auf 1972, einmal auf 1983 datiert, spielt Erna Holtfreters Geschichte an der Ecke Oderberger/Eberswalder Straße in Prenzlauer Berg, wo sie von ihrem Fenster aus die »Wachrambos am Betonhorizont« beobachtet. Einer von ihnen ist Moppel Schappik, und er ist es auch, der den ersten Pflasterstein über den Grenzwall schleudert – woraus sich ein surreales »Mauer-Tennis« mit einem unsichtbaren westlichen Gegenspieler entwickelt. In den syntaktisch aufgelösten, interpunktionslosen Bericht eingeflochten sind politisch-historische Signalwörter und Anspielungen (»CIA«, »Pol Pot«, »EndsiegSpannung«, »Whisky« versus »Wodka«, »Dachau«). Geschichte erscheint hier als sinn- und zusammenhanglos in den Text gestreuter Schutt aus Mythentrümmern, prominenten Namen und Produktbezeichnungen, um den herum der Alltag seinen surrealen Lauf nimmt.32 »Die Deutschen haben nichts bewältigt. Die Deutschen sind geschichtslos.«33
I nfiltrierte I dentitäten : M oppel S chappik drifte t durch B erlin (und umgekehrt) Dieser doppelsinnige »Schuttberg« (Ost-)Berlin ist Peter Wawerzineks Obsession, seine Rauschdroge:34 »Als ich in die Stadt kam«, beginnt sein Roman NIX von 1990, »war ich betrunken. Die Häuser lallten. Die Autos torkelten. Die Balkone übergaben sich an der Straßenecke. Eine Ampel sackte zusammen«.35 Diese »erste Konfrontation«, schreibt Andreas Erb, »wird zur kongenialen Begegnung, in der Subjekt und Objekt gleichermaßen berauscht sind«.36 Dem wäre hinzuzufügen, dass nicht eindeutig ist, wer in der Begegnung Subjekt, wer Objekt ist. Ähnlich wie der Ich-Erzähler in NIX sind auch Moppel Schappik und Berlin voneinander berauscht, und geht es entsprechend um eine wechselseitige Einverleibung. So eignet sich Moppel Schappik die Stadt, mit Erb, mittels »rücksichtsloser Konsumbewegungen« an, und namentlich durch »Alkoholexzesse, Drogenexperimente, unzählige und unkontrolliert erlebte Frauengeschichten, insgesamt ein Leben zwischen verschiedenen Jobs, Kneipen, Hinterhö-
32 | Wawerzinek : Moppel, S. 105-115. 33 | Ebd., S. 62. 34 | Siehe zu Döblins Berlin S cherpe , Klaus R.: Von der erzählten Stadt zur Stadterzählung. Der Großstadtdiskus in Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. v. Jürgen F ohrmann u. Harro M üller . Frankfurt am Main 1988, S. 418-437. 35 | Wawerzinek : NIX. Berlin 1990, S. 49. 36 | E rb, Andreas: »Wollte Druck erzeugen und Druckerzeugnisse«: NIX. In: Von Mecklenburg zum Prenzlauer Berg: Peter Wawerzinek. Hg. v. D ems . Essen 2005, S. 23-31, hier 28.
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fen und Mülltonnen«.37 Umgekehrt biegt sich Berlin den Zugezogenen zurecht, der es reflektierend akzeptiert: »Teilzuhaben an der Orthopädie einer x-beliebigen Stadt ist immer auch, sich von ihr versetzt fühlen. Ist demzufolge Entwöhnung des Ich, heißt als Passant dienen.«38 Solches Willfahren führt zu einer Symbiose oder – in der Schelmenhybris des Texts: »Und Berlin ist ohne Moppel Schappik, was eine Brause ohne Kohlensäure ist.«39 Moppel ist ein »City-Affe«. So nennt Wawerzineks Mentor, der 1930 in Düsseldorf geborene, 1955 in die DDR übergesiedelte und 2009 verstorbene Alfred Endler, 40 sich und seinesgleichen: »Langwierige Erörterungen«, heißt es in Endlers Tagebuch, »über Tarzan als den typischen Großstadtmenschen, den City-Affen schlechthin, von Liane zu Liane, von Lokal zu Lokal, von Trottoir zu Trottoir sich schwingend«. 41 Über das Hangeln von Ort zu Ort vollzieht Wawerzinek die Topografie des Prenzlauer Bergs weniger nach, als dass er sie aufweicht. Allemal verlangt seine – wie Endlers und die des Underground allgemein – kognitive Stadtästhetik den Körpereinsatz der Figur. Und des Erzählers, der atemlos hinterdreinhetzend notiert, wann und wo Moppel sein Mittagessen einnimmt, sich Socken kauft, sein Bier trinkt, »Schluckgemeinschaften«42 eingeht. Nebenbei erfahren wir, dass Moppel keine Hemden mag und keine Hochzeiten, wohl aber Schnitzel. Er zeigt sich als Sauf bold und Streuner, als Querulant, Hurenbock und Penner, Handwerker, Quassler, Dissident und Träumer, ein Einzelgänger, der in einem fort Gesellschaft sucht. Einen »Mann der Menge« nennt er sich, 43 anspielend auf Edgar Allan Poes Man of the Crowd, den ewigen Wanderer, dem ebenfalls ein Ich-Erzähler folgt, ohne das Geheimnis der von übler Gesellschaft zu übler Gesellschaft ziehenden Figur lüften zu können. Mit Moppel geht es wie mit der Stadt, mit der er sich rauschhaft vereint: die Fülle der Einzelheiten lässt ihn nicht immer schärfer hervortreten, sondern verschwimmen. Dazu trägt zum einen bei, dass im Text selbst seine Abwesenheit behauptet wird, ganze Reisegruppen einschließlich seines Schöpfers ihm nachspüren, etliches nur aus zweiter Hand erfahren (oder sich selbst ausdenken). Zum anderen treibt der Text ein Identitätsspiel aus immer neuer Spaltung und Aneignung von Moppel alias Schappik alias Moppel Schappik alias Erzähler (alias 37 | D ers .: »Neues gibt es aus den Städten – aus den Städten gibt es nichts!« Peter Wawerzineks Berlin. In: Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Hg. v. D ems . Opladen 1998, S. 167-185, hier 169. 38 | Wawerzinek : Moppel, S. 7. 39 | Ebd., S. 149. 40 | M eyhöfer, Annette: Flaneur in der Sackgasse. Annette Meyhöfer über den Berliner Autor Peter Wawerzinek. In: Spiegel 30 (1991), S. 159-161, hier 161. 41 | E ndler, Alfred: Tarzan am Prenzlauer Berg. Sudelblätter 1981-1983. Leipzig 1994, S. 130. 42 | Wawerzinek : Moppel, S. 11. 43 | Ebd., S. 60.
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impliziter alias empirischer Autor), der mehrfach den Eindruck bekundet, möglicherweise selbst Moppel Schappik zu sein. Meist aber kapituliert er vor der Unkontrollierbarkeit seines Helden, dessen Abenteuer er zu verantworten hat – etwa gegenüber einem Literaturwissenschaftler, der die Geschichte als bloßen Unfug abtut, während Moppels Erinnerungen bis in seine Mecklenburger Kindheit zurückreichen und auch sonst vor autobiografischen Markierungen des empirischen Autors strotzen. Julian Preece liest den Roman denn auch als »Wawerzinek in his various fictional incarnations«. 44 Der 1954 als Peter Runkel in Rostock geborene Wawerzinek gelangte in den 1980er Jahren nach Berlin. Seine Mutter hatte ihn 1956 in der DDR zurückgelassen, als sie in den Westen floh. Bevor er adoptiert wurde, verbrachte er mehrere Jahre in Kinderheimen. Nach einer Lehre als Textilzeichner und einem abgebrochenen Kunststudium verdingte er sich als Totengräber, Mitropa-Kellner, Tischler, Telegrammbote, Hausmeister. Zu Prenzlauer-Berg-Zeiten performte er gemeinsam mit »Matthias« BAADER Holst und unter dem Namen »ScHappy« (sic!) auf Wohnungslesungen eine Art »None-Sense-Pogo« (Peter Geist). Wawerzinek publizierte vor 1989 seine Prosa in inoffiziellen Zeitungen. Wie der Text und die Stadt bleibt Wawerzineks Held Moppel Schappik ungeordnet fragmentarisch. Oder besser wohl: wandelhaft. Ein »Mann der Menge« ist er auch und gerade insofern, als er die ihn jeweils umgebende Szenerie absorbiert und wiedergibt. Angesichts der Vielgestalt und Vielstimmigkeit von Raum und Personal (Korrespondent, Schriftsteller, Friseur, Pförtner, Krankenschwester, Tourist, Wurstesser, Neonazi, Rentner, natürlich zahllose Kellnerinnen und noch mehr Säufer, um eine Auswahl zu nennen) auf seinem Weg funktioniert Moppel Schappik als ein Milieuresonant. Er empfängt und reproduziert die Stimmen der Stadt – so wie der Abfluss, in dem sich alles Gemurmel sammelt, bevor es ins Vergessen rauscht: Die Stille im Hinterhof vermittelt das Gefühl, alle Worte kämen über dem zentralen Abfluss zusammen, das Gesagte vermischt sich mit dem Unausgesprochenen, als putzte sich die Metropole über diesem Becken ihre Zähne, als liefe man Gefahr, vom Strahl eigner Worte, der Wucht aller Worte der Fremden, Toten, längst Vergessenen, hinweggespült zu werden, inmitten von Johlen, Pfeifen, Stottern, Schreien, Gestammel und klarster Wortwahl ZACK ausgelöscht, fortgelutscht zu werden. 45
Eben durch Moppels wiedergebendes Aufnehmen freilich bleibt das Abgespülte erhalten. Mehr noch: Im Existentialismus der Tätowierungen bleibt alles erhalten. Nichts wird Geschichte. Weder eine Zeit noch eine Identität, keine Stimme kann 44 | P reece , Julian: »Was Eigenes sagen«. The Many Autobiographies of Peter Wawerzinek. In: »Whose Story?« Continuities in Contemporary German-Language Literature. Hg. v. Arthur Williams , Stuart Parkes u. Julian P reece . Bern u.a. 1998, S. 67-83, hier 68. 45 | Wawerzinek : Moppel, S. 134.
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ein absolutes Recht beanspruchen, und entsprechend montiert der Text Gedichte des Großvaters ein, Zeitungsausschnitte, einen Briefwechsel der Mutter, Poeme, Arztberichte, Vernehmungsprotokolle oder eine über die Umfrage »TYPISCH HIERZULANDE« generierte Auflistung bekannter wie abwegiger DDR-Realia. Berlin ist denn auch nicht nur Hauptstadt, sondern »Überhauptstadt« 46 und im massenhaft Konkreten nachgerade ahistorisch verallgemeinerbar. Die Versuchung ist groß, eben daraus, aus den mannigfaltigen Stadtprägungen Moppel Schappiks Identität sich zusammensetzen zu sehen, etwa im Sinne der titelgebenden Tätowierungen: als schriebe die Stadt sich ihm wortwörtlich ein – »gerbte« ihn, wäre wohl eine naheliegende Metapher im Underground-Duktus. Als »identity in blood and ink« betrachtet die Kulturhistorikerin Kim Hewitt Tätowierungen, 47 als Zeichen der Abgrenzung und Exklusion, freiwillig gewählte oder aufgezwungene Identitätsmarker, denen – theoretisch – eine schmerzhafte Prozedur vorausgeht. In diesem Sinne liest auch Andreas Erb Moppels Tätowierungen als »Stadt-Male«, und Moppel als einen von der urbanen Erfahrung gezeichneten Körper. Und doch will dieses Bild zum Text so recht nicht passen. Moppel Schappik und fast mehr noch sein leidgeprüfter Erzähler muss allerhand mitmachen, doch ein Leidensprozess, gar eine schmerzhafte Initiation, von einer identitätsstiftenden zu schweigen, findet sich nicht. Ebensowenig eine Aggressivität des Stils, wie sie die meisten anderen der hier erörterten Texte kennzeichnet. Selbst die genreübliche Beschimpfung der Spießer und »Normalottos« 48 fällt ironisch oder treffender wohl: ulkig aus. Auch der permanente Alkoholkonsum wirkt beflügelnd, hat wenig mit dem zu heiliger Selbstzerstörung überhöhten Suff der Helden eines Venedikt Erofeev oder Vladimir Makanin gemein. Die letzten Sätze der eigentlichen Erzählung vor einem abschließenden Poem lauten: Am Tag der sprechenden Stadt ist Moppel Schappik wieder besoffen, schreit unflätige Sachen zu frühester Stunde durch schläfrige Gassen, torkelt an zwei dösenden Bürgern vorbei, macht die nächste Flasche auf, zuscht und raucht und benutzt die ganze Stadt als Aschenbecher. »Ist sich nicht gram«, sagt uns Marie, »hat wohl die Nacht zuviel geschwafelt, die Klappe nicht still gekriegt, oh wenn man bloß Reporter wäre.« 49
Moppel, der Text, ist weder sich noch der Welt ernsthaft gram. Hier wird weder aus Wut oder Verzweiflung noch zu höheren symbolischen Zwecken getrunken, sondern aus Spaß daran, aus Spaß am Dasitzen, Aufnehmen und Schwafeln – und der Text, der dabei entsteht, hat vor allem Spaß an sich selbst. Damit siedelt
46 | Ebd., S. 8. 47 | H ewit t, Kim: Mutilating the Body. Identity in Blood and Ink. Bowling Green 1997. 48 | Wawerzinek : Moppel, S. 49. 49 | Ebd., S. 155.
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er näher an der sprachkritischen Dichtung, als Gerrit-Jan Berendses Differenzierung zunächst meinen lässt. Und doch bleibt die Kluft bestehen. Denn vordergründig bis zur Albernheit sprachverspielt (»MAMOR STEIN und EISEN bricht, aber meine Prosa nicht«),50 hat Wawerzineks ästhetisches Verfahren einen genuin politischen Effekt: Er verweigert sich jedem Pathos, selbst dem residualen der Ironie. Programmatisch heißt es auf der ersten Seite, wie oft schon habe Moppel im Traum mit Michail Lermontov parliert »über just das ICH DIE HELDEN DER NEUEN ZEIT? Ein Roman der Heiterkeit«.51 Nichts von dem ostentativen, schwersinnig-blockierten Künstlertum eines Petrovič, den Vladimir Makanin in Underground oder Ein Held unserer Zeit (Andegraund, ili Geroj našego vremeni) seine Auseinandersetzung mit Lermontov führen lässt. Instruktiv auch der Vergleich mit einem anderen jungen Mann, der auf Berlin trifft: »Und Dächer waren auf den Häusern, die schwebten auf den Häusern, seine Augen irrten nach oben: wenn die Dächer nur nicht abrutschten, aber die Häuser standen gerade.«52 Verängstigt flüchtet Franz Biberkopf in die Hausflure, um den Schock des städtischen Gewimmels zu verarbeiten – in dem er sich zunächst immer weiter verliert, bis er schließlich doch noch zu sich findet. Gerade weil Wawerzineks technische Anleihen bei und Anspielungen auf Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz von 1929 so überdeutlich sind, fällt der eklatante Unterschied auf: Als geradezu klaffende Leerstelle fehlt in Moppel Schappiks Tätowierungen das für Avantgarde und Underground so zentrale Motiv des Scheiterns, Versagens und Untergehens. Mehr noch, es wird als Persiflage angespielt und offen negiert: Was die Moppels anbelangt, so schapprike Kerle haben von Früh auf dauernd Pech. Egal, was sie beginnen, es endet ungut oder komisch. [...] Richtige Moppels saugen stets neben der Brustwarze und werden zum Erstaunen der Eltern satt, stoßen wunderschön auf, zeigen sich wohlgenährt […]. Sie gedeihen am Ungeschick, werden durch Scheitern schön. 53
Weniges könnte Moppel Schappik ferner liegen, als das Leiden an der Stadt, der Moderne, seiner Nicht-Identität. Der Text zelebriert vielmehr den Ich-Verlust an die Stadt als lustvoll. Er reflektiert die radikale Poetik einer Verschränkung von Welt, Text, Erzähler, Figur(en) und Autoreninformation nicht einmal als einen Verlust, sondern eher als eine Befreiung, ja Ermächtigung. Eingedenk der schappikschen Sentenz vom Berlin ohne Moppel als Brause ohne Kohlensäure ist alles
50 | Ebd., S. 156. 51 | Ebd., S. 7. 52 | D öblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. München 311992, S. 10. 53 | Wawerzinek : Moppel, S. 77-78. – Vgl. zum Aspekt des Scheiterns auch das Kapitel über den Club der Polnischen Versager.
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andere als ausgemacht,54 welche der verschlungenen Instanzen je welche markiert und damit setzt – »tätowiert«. Mit dieser hochartifiziellen Pathossabotage aber gestaltet Wawerzinek seine Antwort auf die politischen Implikationen des historischen Nachkriegsberlin – in just dem Moment, zu dem die (National-)Geschichte nach Berlin zurückkehrt. Die eminent politische Vorentscheidung des Romans, den Wawerzinek schon in den 1980er Jahren zu schreiben begonnen hatte, besteht darin, diese Rückkehr auf der Oberfläche nachgerade vehement zu ignorieren, auf einer anderen Ebene das Historische kleingeraspelt, um seine Dignität gebracht in den Text zu streuen und so zu sterilisieren. Entsprechend werden einschlägige Techniken und Sujets des Underground genutzt, zugleich zentrale Topoi ersetzt oder unterlaufen: Moppel Schappiks Tätowierungen ist in einem dialektischen Sinn Anti-Underground. Namentlich gilt dies für das hochgradig pathosanfällige Motiv der vertikalen Markierung einer existenziellen Exklusion. Das Berlin der Tätowierungen kennt sie nicht. Es ist flach – jedoch in einer Technik der Raumbehandlung, die erkennen lässt, dass es die Vertikale des Underground ist, die hier in die Horizontale gewendet wurde.
H orizontale »B erlin « Moppel Schappiks Tätowierungen erschien 1991 in der Unabhängigen Verlagsanstalt Ackerstraße mit etlichen Collagen in Schwarz-Weiß. Sie bestehen aus zerteilten, neu zusammengesetzten und übermalten Plänen der Bezirke Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Mitte. Etwa blickt der Leser durch ein hingetuschtes Fenster samt Blumentopf auf eine Karte mit nachgezogener S-Bahn-Linie von der Jannowitzbrücke zum Alexanderplatz (Abb. 1). Oder er bekommt ein zerrissenes Herz in unterschiedlich dunklen Grautönen gezeigt; der Riss geht genau durch den Planeintrag »Prenzlauer Berg« hindurch. Einmal sind die Kartenfetzen zwischen Blöcken nüchtern-rationalen Karopapiers arrangiert; ein andermal verlaufen sie in eine aquarellähnliche, quasi-organische Abstraktion. Eine Wegskizze führt von Planschnipsel A nach Schnipsel B durch ein entfernt neuronal wirkendes, dichtes Liniengewirr auf weißem Grund (Abb. 2). Und schließlich, am Ende des Buchs, schwebt ein runder Stadtplanausschnitt, abermals mit der Inschrift »Prenzlauer Berg«, inmitten naiv weiß auf schwarz gedruckter Sterne: der Mond. Die Tätowierungen evozieren zweierlei emotive Assoziationen, die der Dialektik des Anti-Underground entsprechen: Beklemmung und Befreiung – Willkür und Paranoia. Auf der einen Seite rufen sie einen offenen, (mental) gestaltbaren Raum auf, das Umherschweifen (dérive) eines Guy Debord, der 1957 im Guide psychogéographique de Paris Stadtpläne zerlegte und rearrangierte. Wie der Situationist Debord erzeugt Wawerzinek mit seinen Collagen Irritation und Innehal54 | Ebd., S. 149.
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ten, Desorientierung, stellt eingefahrenes Stadtwissen in Frage und funktioniert ein nüchternes Informationsmedium in doppelbödige Kunst um.55 Wawerzinek lädt – wie Debord – eine »objektive« Repräsentation von Raum mit dessen gefühlter Wahrnehmung auf. Allerdings nicht mit derjenigen Moppels. Abb. 1: Blick auf Prenzlauer Berg Zwischen Text und Illustrationen besteht eine bezeichnende Inkongruenz. Denn während Moppel die Stadt in weiten Kreisen durchschweift, absorbiert und wiedergibt, konzentrieren sich die Collagen und insbesondere diejenigen, in denen der Bezirksname prominent erkennbar ist, auf Prenzlauer Berg. Die Collagen konterkarieren Moppels Empfänger-Sender-Status, verstummen ihn und verweisen ihn gleich einem bösartigen Kommentar in die enge, zerrissene Prenzlauer-Berg-Szene zurück. Wenn der Kiez in der letzten Illustration mondgleich über allem schwebt, ist das ebenso unheimlich wie der geheimnisvoll beobachtete und in die Karte gezeichnete Laufweg. Letzterer wirkt durch seine an Agenten- oder Detektivgeschichten erinnernde Optik, lässt zudem an Paul Austers verstörende Identitätsspielerei City of Glass denken, in der ein psychotischer Theologieprofessor eine geheimnisvolle Botschaft in den Stadtplan von New York läuft.56 Die visuelle Repräsentation des Raums fungiert als Einfallstor des Bedrohlichen und Repressiven in den anarchisch-heiteren Text. Das korrespondiert mit dem gespalteten Verhältnis des empirischen Autors zum Prenzlauer Berg. Peter Wawerzinek spielte eine periphere Rolle, gelangte
55 | D ebor d, Guy: Theorie des Umherschweifens. In: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Hg. v. Roberto O hrt. Hamburg 1995, S. 64-67. – Dazu auch O hrt, Roberto: Peripherie und Zentrum bei den Situationisten. In: Peripherie ist überall. Hg. v. Walter P rigge . Frankfurt am Main-New York 1998, S. 267-274. 56 | »OWEROFBAB«, »The Tower of Babel« lautet der fußgängerische Hinweis des verrückten Theologen in City of Glass, entschlüsselt von seinem Verfolger, einem Schriftsteller.
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nie in einen der inner circles: zu radikal, zu impulsiv, theoretisch unversiert.57 Er selbst kommentierte später öffentlich, wiewohl leicht kryptisch: Die Prenzlauer-Berg-Szene muss endlich als das gewertet werden, was sie von Beginn an war – ein überladener Frachter, ein Hirnschiff, eine Barkasse, die sich selbst für etwas Größeres hielt. Gechartert von einer Crew, die sich als Ziel der Reise sah und nach außen vorgab, nach A. R. Penck-Hausen unterwegs zu sein. A wie Anmut, Anhöhe, Anarchie. R wie Ruhe, Ruhm und Rum. 58
Abb. 2: Wegskizze Anderthalb Jahrzehnte zuvor hatte Wawerzinek 1995 in der Erzählung Mein Babylon den Schriftsteller A. durch den »babylonischen Bezirk« geschickt. Ohne das eindeutig markierte Berlin explizit zu benennen, wird in atmosphärisch und poetisch dichter Insiderprosa mit der stagnierenden DDR einerseits, dem oppositionellen Habitus der Prenzlauer-Berg-Künstler andererseits abgerechnet. Und Anspielungen finden sich auch bereits in den Tätowierungen, wo Moppel Schappik bei einer inoffiziellen Wohnungslesung aus seinem Personalausweis vorträgt und damit einen hysterischen Begeisterungssturm unter den pseudosubversiven »Alt- und Neu-Ginsbergen« auslöst.59 Oder wo der Opportunist Heinz Günti Lechz, halb Spitzel, halb Revoluzzer, in endlosem Laberflash Signalwörter aus der Wendezeit mit trunkenem Politisieren und wüster Gesellschaftskritik vermengt, während der Erzähler betont, diese seine 57 | Jan Faktor dazu: »Echte Szene-Rebellen (damit meine ich diejenigen, die nicht nur die Ästhetik, sondern auch die Ästhetiker persönlich attackierten und durch unverzeihliche Dinge – für die Attackierten auch künstlerisch unverzeihlich – beleidigten) wie Peter Wawerzinek oder Leonhard Lorek wurden ausgegrenzt und belächelt.« – Faktor, Jan: Sechzehn Punkte zur Prenzlauer-Berg-Szene. In: MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg. Hg. v. Peter B öthig u. Michael K laus . Leipzig 1993, S. 91-111, hier 100. 58 | Wawerzinek , Peter: Naschen vom Pudding der Apokalypse. Ein Abgesang auf den Prenzlauer Berg. In: Tagesspiegel v. 20.09.2010, S. 23. 59 | Wawerzinek : Moppel, S. 147-148.
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»literarische Figur« nicht zu mögen, sich aber auch nicht von ihr distanzieren zu können. Er zähle zu den »Lechzern«, deren Worte nunmehr zum »Zahnbelag« derjenigen würden, die ihm für eben diese Worte einige Monate zuvor noch die Zähne ausgeschlagen hätten: »Und deswegen mag ich meine neue literarische Figur nicht, sie redet mir zuviel.«60 Prenzlauer Berg als »psychogeografisches« Konzept ist zugleich unheimlich und verächtlich. Die Passagen strahlen einen Zentralitätsund Dominanzanspruch innerhalb der ästhetischen Opposition aus, der steril, borniert und doch unentrinnbar wirkt – ähnlich der Macht der Oberstadt in der Ästhetik der Vertikalen. Eine explizite Achsenverschneidung bietet Wawerzineks Fenstercollage (Abb. 1): Der Blick durch den Rahmen verlängert sich nicht in der erwartbaren Horizontalen, sondern zur vertikalen Draufsicht auf die kartografische Stadtabstraktion. Die stärkere Irritation indes geht von dem Blumentopf im Vordergrund des kompakten, derweil im Ausschnitt dezentrierten Ost-Berliner Zentrums aus. Fern und irreal liegt es jenseits der Geranien- oder Stiefmütterchen-Innerlichkeit. Moppel Schappiks Tätowierungen betreibt eine unterschwellige, dafür umso wirksamere Provinzialisierung Berlins. Die Technik, derer Wawerzinek sich dazu bedient, ist eine fortwährende Kontrastierung bis ins Mythische getriebener Verheißungen mit banaler Realität. Im Fall der Collage meint das den Kontrast zwischen Stadtzentrum, seiner eingezeichneten Attraktionen und der Zimmerpflanze. In einer Suada über die Schäbigkeit hinter den eingeschliffenen Stereotypen (Urbanität, Herz mit Schnauze, Zukunftszugewandtheit) heißt es: »Vor der Schaufensterscheibe stehen die Landesbewohner und schauen ihrer Hauptstadt zu, wie sie sich ein weiteres Vanilleeis kommen lässt und einschiebt.«61 Ein Privileg von der Mondänität einer Kleinstadt. Die »Hauptstadt der DDR« verschließt sich gegenüber dem Land, zieht Ressourcen an sich, um künstlich ein repräsentatives Zentrum zu züchten – und bleibt dennoch eine »öde Orgie aller Nachkriegszeiten«,62 Provinz in Zeit und Raum. Sieht Phil Langer in Moppel Schappiks Tätowierungen die »Goldenen Zwanziger« angespielt, zum einen durch die Referenzpoetik des Alexanderplatz, zum anderen in der Thematisierung pluralistischer und hedonistischer Lebensweisen, erkennt Susanne Lendaff in dem Text treffender ein Ost-Berlin als »Projektionsort für die Provinzler«.63 Einschließlich Moppels. Eingangs heißt es hoffnungsvoll erregt: »Denn die Stadt ist gemacht für Publikum. Und das Publikum liebt will
60 | Ebd., S. 52-58. 61 | Ebd., S. 62. 62 | Ebd. 63 | L endaff, Susanne: Hauptstadtphantasien. Berliner Stadtlektüren in der Gegenwartsliteratur 1989-2008. Bielefeld 2009, S. 217-226, hier 223.
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die atemraubende Sensation aller Sensationen. Die Sensationssensationen. Das ist die Stadt.«64 Später dann: Es muss ihm jemand eingeredet haben Berlin, so hieß es damals, wäre die einzige Stadt, in die man ziehen könne. Von dort aus, sagten die Hardliner der Reiselust, müsse man nach London, New York oder gleich nach Australien. Und so wurde der Prenzelberg ein bisschen Kanadischer Wald, der Friedrichshain roch nach Mittelmeer, die U-Bahnen fuhren alle irgendwie ein bisschen Richtung Rom und Athen. Wer einmal am Müggelsee die Füße ins Wasser setzte, würde ganz bestimmt im Atlantik surfen.65
Die verzweifelten Versuche, in der einstigen Metropole einen Hauch London, New York, Sydney oder Rom zu erhaschen, sind samt und sonders lächerlich wirkende Illusionen: Es bleibt beim Müggelsee in Köpenick. Gerrit-Jan Berendses Befund amorpher Grenzen in Moppel Schappiks Tätowierungen lässt sich dahingehend präzisieren, dass einerseits der Raum imaginär zur großen Welt hin geöffnet, anschließend wieder verengt wird, was das Eingeschlossensein quälender, unzumutbarer macht. Andererseits wird eine Abschließung Berlins gegen sein Hinterland behauptet, die der Text selbst durch die Anwesenheit des aus Mecklenburg zugezogenen Moppel und die Alltagspräsenz von Provinzialismen jeglicher Form widerlegt. Das auf die Erde geholte Berlin dehnt sich in die ostdeutsche Fläche und verschmilzt mit ihr. Noch einmal zugespitzt werden Verheißung und Enttäuschung, wo es konkret um das Zentrum der Stadt geht. Roland Barthes hat dessen außerordentliche symbolische Funktion darauf zurückgeführt, dass die konzentrisch angelegten Städte Europas mit der westlichen Metaphysik korrespondieren. Das Zentrum repräsentiere einen Ort der Wahrheit: »Ins Zentrum gehen heißt die soziale ›Wahrheit‹ treffen, heißt an der großartigen Fülle ›Realität‹ teilhaben.«66 An anderer Stelle schreibt Barthes dem folgerichtigen Drang der Peripherie in dieses Zentrum eine erotische Komponente zu. Erotik gemeint als Begegnungsverlangen, das das Stadtzentrum zum »Ort des Austauschs« mache, der wiederum als Formung begriffen der Jugend vorbehalten sei. »Mehr noch, das Stadtzentrum wird immer als Raum erlebt, in dem subversive Kräfte agieren und aufeinandertreffen, Kräfte des Bruchs und Kräfte des Spiels.«67 Es ist der Ort, an dem man den Anderen trifft, selbst zum Anderen wird, einen Spiel-Raum erfährt, der die Revision fest gefügter Identitätscluster erlaubt.
64 | Wawerzinek : Moppel, S. 7. 65 | Ebd., S. 43. 66 | B arthes , Roland: Stadtzentrum, leeres Zentrum/Ohne Adressen. In: D ers .: Das Reich der Zeichen. Frankfurt am Main 1981, S. 47-61, hier 47. 67 | D ers.: Semiologie und Stadtplanung. In: D ers.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt am Main 1988, S. 199-209, hier 207.
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Wie viele Helden des Underground erlebt Moppel Schappik dieses Versprechen als gebrochen. Ein Zentrum habe längst die Funktion, seine Besucher zu hypnotisieren, sie einzulullen und nur ihre oberflächlichsten Bedürfnisse zu befriedigen. Es täuscht, betrügt, gibt vor: Ein Zentrum ist der beste Teppich einer Stadt, unter den alle Notstände gekehrt werden. Es kommt ohne den Kübelgestank der weiterentfernten Umgegenden aus, meidet die rußharte Debatte um Krankheit und Smog, Maikäfersterben und Zuckerknappheit.68
Die Realität, das »wahre« Leben, findet sich allenfalls am Rand, nie in der polierten Mitte, die sich nur zugänglich gibt, aber zutiefst korrumpiert ist. Und übrigens auch nicht unter ihr, wie es Heiner Carow mit Aufnahmen der U-Bahn-Gänge und Unterführungen unterhalb des Alexanderplatzes 1989 in dem DEFA-Film Coming Out suggeriert. Unter dem Stadtteppich der Tätowierungen herrscht das Schweigen des Weggekehrten. Abb. 3: Collage Marx-Engels-Platz Im Roman kommt die Staatsbühne der DDR um den Alexanderplatz denn auch kaum vor, einige Male indes sehr prominent. Das eine Mal folgt der eben angekommene Moppel dem touristischen Herdeninstinkt ins Zentrum und gibt dem Text Gelegenheit, angesichts des Ensembles aus Monumentalität und Inszenierungswahn, Überwachung und Disziplinierung »die praktische Unbrauchbarkeit all dieser geballten Scheusslichkeit festzuhalten«.69 Zugleich denunziert die Faszination des naiven Landeis Berlins Mitte einmal mehr als erzprovinziell. Ein zweites Mal ist sie absichtsvoll dezentriert in der bereits erwähnten Fenstercollage zu sehen. Und schließlich zeigt eine weitere Collage einen schwarz-räudigen Hund Haufen auf dem Stadtplan verteilen, von denen der größte auf den Marx-Engels-Platz fällt. (Abb. 3) Ansonsten wirken die Gegend und insbesondere der literaturgeschichtlich übersig68 | Wawerzinek : Moppel, S. 28-29. 69 | Ebd., S. 29.
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nifizierte Alexanderplatz in den Tätowierungen diffus, wie geschrumpft und ihrer reklamierten Zentralbedeutung ostentativ entkleidet – dezentriert. Moppel Schappiks Tätowierungen operiert mit einschlägigen Topoi und Techniken, mit den ästhetischen Verfahren des Underground: Paranoia, gefeierte Körperlichkeit, Beschmutzung und Ich-Zersplitterung, Umkehr spatialer Hierarchien sowie Denunziation des Etablierten als ästhetisch wie politisch illegitim. Die Spezifik des Romans besteht darin, dass der Text jeden Anflug von Larmoyanz und Pathos umgehend komisch unterläuft, es jedenfalls versucht. Statt ein Unten gegen ein Oben zu setzen, gegebenenfalls auch in horizontaler Re-Kodierung wie bei Ivan Martin Jirous oder Andrzej Stasiuk, schiebt Wawerzinek die Antagonismen horizontal ineinander, analog zu den sich wechselseitig infiltrierenden Identitäten und in einander aufgehobenen narrativen Instanzen. So gelingt es ihm, Zentralitäten aufzulösen, zu provinzialisieren – die der offiziellen Macht wie die einer fast gleichermaßen offiziellen Opposition. Konsequent antihierarchisch, verzichtet der Roman freilich auch auf eine Gegenhierarchie, eine Utopie, wie sie implizit noch in jeder Dystopie steckt. Moppel Schappiks Berlin hingegen ist schäbig, wenig gemütlich und reichlich unübersichtlich, polyphon und vom Unheimlichen durchzogen – bietet ebenso wie der Ich-Verlust aber letztlich eine Lusterfahrung. Phil Langer erblickt darin eine Vorwegnahme des pluralen Hedonismus der »Berliner Republik«. Systematischer im Sinne des oben Gesagten scheint die Lesart als Reflex auf die geteilte deutsche Nachkriegssituation. Allemal ist der Effekt der einer gewissen Zahnlosigkeit. Inspiration und Techniken des Underground sind klar zu erkennen, selbst sein pathetisches Anliegen ist im Hintergrund zu ahnen, jedoch entschärft – wie aus Furcht vor der sich abzeichnenden Rückkehr jener Geschichte, die der Text so handhabbar klein mahlt.
M ontierte S tädte : W awerzinek z wischen D öblin und H r abal Der Allroundkünstler des tschechischen Samizdat, eine der Inspirationsfiguren für den Underground, Jiří Kolář, schrieb, seine Gedichte, Bilder, Partituren, Figuren und Collagen müssten »alles erleben, ertragen und versuchen, was immer der Mensch ertrug und erträgt, was immer er erlebte und erlebt: Geißelung, Schläge, Schindung, Gliederausreißen, Schneiden, Versengung, Fußtritte, Ringen, Beschmutzung mit allem möglichen, von Speichel angefangen bis zu Kot«.70 Ähnlich wie Wawerzinek entgrenzt Kolář die Kunstformen von Wort und Bild, verwendet zumal in seinen Collagen visuelle Techniken, die Wawerzineks Textmontage aus fragmentiertem, surrealem Sprachmaterial unter fortwähren70 | K olář , Jiří: Das Schicksal des Gedichts... In: Jiří Kolář. Hg. v. Wieland S chmie d. Hannover 1969, S. 22.
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dem grammatikalischem, syntaktischem und orthografischem Regelbruch entsprechen. Umso bezeichnender ist die Diskrepanz in Tonfall und Bilderwahl des ästhetischen Programms, wenn Moppel formuliert: Alltägliches Schnarren, Klappern, Klimpern, Zischen, Wummen, Hupen und Quaken, Bröseln, Stinken und verführerisches Duften, Erfrieren, Stolpern, unter der Bauchfalte schwitzen, in die Pobacke kneifen, an den Handflächen ziehen, Herzkrampfen, Kopfjucken, das versäumte Schulterzucken, das nichtgewollte Fühlbare, jeder Sinn und Nichtsinn ist zusammengenommen die Kunst, ihr Ende und Beginn.71
Wie bei Kolář ist kunstfähig »was immer der Mensch erlebt« – nur dass es bei dem einen um Schinden und Gliederausreißen geht, bei dem anderen um Kopfjucken und Pobackekneifen. Im Verhältnis zu anderen Ästhetiken des Underground ist die Wawerzineks auffallend schmerzfrei, harmlos. Ähnlich führen seine formalen, verschiedentlich expliziten Referenzen auf Döblins Alexanderplatz leicht in die Irre: Von den realistischen Leiden Franz Biberkopfs findet sich in Moppel Schappiks Tätowierungen kein Widerhall. Wohl sind beide, der Zuchthäusler Biberkopf und der Dörfler Moppel in die Stadt als Existenzform Geworfene. Beide nutzen diese als »Megaphon« (Harald Jähner).72 Doch während Döblin die montierte Stadt als introspektive (Aus-)Wirkung nutzt, um seine Figur scharf zu konturieren, sie mit einer klassisch modernen Ich-Stabilität ausstattet und darüber allererst leidensfähig macht, bleibt Moppel weitgehend konturlos, löst sich nachgerade gefällig in originelle Splitter auf – in Wohlgefallen. Näher betrachtet steht Wawerzineks Sprachspiel einer gänzlich anderen Stadtdichtung nahe, der Bohumil Hrabals. Auch der Prager Hrabal montiert und verwebt: Prager Legenden mit einem Lehrbuch für Schachkunst und Passagen aus Untersuchungsprotokollen; hochsprachliche Phrasen stehen neben vulgärem Gossentschechisch und der sprachlichen Pluralität der alten Tripolis Praga.73 Richtet Wawerzinek den Blick auf die Kluft zwischen real und sozialistisch im DDR-Alltag, so zeigt sich Hrabal ähnlich 71 | Wawerzinek : Moppel, S. 19. 72 | Jähner, Harald: Stadtraum – Textraum. Die Stadt als Megaphon bei Alfred Döblin. In: In der großen Stadt. Die Metropole als kulturtheoretische Kategorie. Hg. v. Thomas S teinfeld u. Heidrun S uhr . Frankfurt am Main 1990, S. 97-107. 73 | G almiche , Xavier: Die Krise der avantgardistischen Vorstellung des städtischen Raumes. Bohumil Hrabals Montage »Diese Stadt steht in der gemeinsamen Obhut ihrer Bewohner« (1967). In: Imaginationen des Urbanen. Kozeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa. Hg. v. Arnold B artetzk y, Marina D mitrieva u. Alfrun K liems . Berlin 2009, S. 266-289. – James , Petra: La »syntaxe du cri«. Représentation de la multiculturalité urbaine des années cinquante chez Bohumil Hrabal. In: Lieux communs de la multiculturalité urbaine en Europe centrale. Paris 2009 (= Cultures d’Europe centrale 8), S. 173-188.
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am Konflikt tradierter, oft religiöser Alltagsrealität mit säkular-sozialistischen Anforderungen interessiert. Beide typisieren, beide profanieren herrschende und Propagandadiskurse, und beide finden ästhetisch kongeniale Figuren, die die Kommentatorenrolle für sie übernehmen. In Hrabals Fall sind das die »Bafler« (pábitelé), unentwegt quasselnde Vorstadtbewohner aus dem gleichnamigen Erzählband von 1963.74 Hrabal führte den Begriff der »Bafelei« (pábení) auf den Dichter Jaroslav Vrchlický zurück, der es einst für Müßiggang benutzte. Die Bafler sind für Hrabal schlichte Gemüter, deren Monologe ununterbrochen strömen, wie Hefeteig aufquellen. Wie Wawerzinek liebt Hrabal die anspielungsreiche Camouflage, über seine Werke hinweg ausgelebte Verkleidungen des empirischen Autors oder seiner Facetten in alter egos. Als Bafler hyperbolisieren sie ununterbrochen und ungefragt Geschichten, skurrile Streitereien unter Nachbarn, kuriose Todesfälle, Anekdoten und Moritaten, groteskes Kneipengeschwätz, politische Ereignisse, amouröse Eskapaden. Vom Quatschen faszinierte Bohemiens, reden sie notfalls zu sich selbst; überdehnen jede Anekdote ins Maßlose, Groteske, nehmen keine Wahrheit sonderlich genau und sind auf ihren Zügen querstadtein unverwüstlich, wiewohl sie ständig in bedrohliche Situationen geraten. Hrabal selbst kommentierte seine Kommentatoren, die Bafler brächten die Texte zum Schäumen wie Hefe das Bier; »Ozeane zudringlicher Gedanken« würden gegen sie branden.75 In diesem Sinne ist Moppel Schappik-Wawerzinek ein Bafler – der Bafler vom Prenzlauer Berg. Angesichts dessen scheinen drei Einordnungen wichtig. Zum einen, sofern man im Baflertum eine Spielart der faktorschen »Beißhemmung« sehen kann, war diese zwar verbreitet, aber nicht zwingend. Das zeigt der eingangs zitierte Frank-Wolf Matthies, dessen Prosa und zumal Lyrik drastischer, direkter, verzweifelt-aggressiver gebaut ist. Derweil wäre eine Analyse der matthiesschen Poetik auf den hier als »Vertikalität« gefassten ästhetischen Modus hin erst noch zu leisten – während die Tätowierungen gerade indem sie zentrale Underground-Verfahren axial modifizieren das spezifische Dilemma fundamentaloppositioneller Kunst in (Ost-)Deutschland ausweisen.
74 | Das selten gebrauchte Verb pábit bezeichnet eine Beschäftigung mit unnützen Dingen. Der Hrabal-Übersetzer Franz-Peter Künzel griff im Deutschen auf den alten Ausdruck bafeln zurück, was so viel wie »nutzloses Gerede« bedeutet. 75 | H rabal , Bohumil: Autičko. In: D ers .: Můj svět. Praha 1988, S. 354-413, hier 354: »Teprve pábením začne text šumět, teprve tou jistou intuicí se uvádí do pohybu hovor těkající mezi skutečností a neskutečností, mezi vědomím a nevědomím, mezi uměním a neuměním, mezi snažením a nesnažením se.« – Deutsche Übersetzung: »Das Bafeln erst bringt den Text zum Schäumen, bringt durch diese gewisse Intuition überhaupt erst ein Gespräch in Gang, das zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit zerfließt, zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein, zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen Mühelosem und Bemühtem.«
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Zweitens ist der Roman bei aller von Andreas Erb vermerkten Konsumentenhaltung Moppels, die mit einem ausgestellten Oberflächen-»Berlin« kombiniert ist, doch nicht den popliterarischen Berlin-Büchern gleicher Entstehungszeit zuzurechnen. Bezeichnend kommt Susanne Lendaff, die für derlei Verarbeitungen eines magisch-märchenhaften Orts, der metaphorisch ausgelebten Berliner Moden, den Begriff »Surreapolis« fand, auf die Ost-Berliner Produktion durchweg als »Untergrund« zu sprechen.76 Drittens schließlich mögen die Tätowierungen im Rahmen dieser Analyse zurückgenommen erscheinen, mithin näher an Hrabal – dessen verschmitzter Todernst wiederum nah am stillen Horror Kafkas liegt (»Mütterchen mit Krallen«). Dennoch, Szenen wie Moppel in »klassischer« Underground-Manier unter Punks sitzend »ein Gedicht aus Wut und Zähneknirschen« schreibt, in das er presst, »was an Schweiß und Anfall Hupkonzert und Dunst zu ihm dringt«,77 wirken durchaus anstößig. So wie vor allem aber die montierte, rotzig-artifizielle Sprache. So zeigt sich eine Rezensentin ratlos vor der »Unausgegorenheit«, schilt den Stil, die unvollständigen Sätze, die für sich stehenden Verbalkonstruktionen, die »ausgefallenen Kombinationen von Bei- und Hauptwörtern, fahrlässigen Vergleiche, schrillen Bilder«. Das Ganze sei schlicht »Ausdruck einer einzigen Asozialität«. Stellt sich für sie die bange Frage, ob der Held den Zustand von Szene und Land abbilde?78 Womit immerhin die Intention des ästhetischen Verfahrens erkannt ist. Andere Kritiken wählten die Figur des »Allesschondagewesen«, um die Auseinandersetzung mit den Tätowierungen, dem Stadt-Strang der Prenzlauer-BergLiteratur insgesamt abzukürzen. Wawerzinek äffe ästhetische Verfahren nach, die im Westen erfunden und längst ausgereizt worden seien – womit sich die »Ost-Moderne« einmal mehr auf Provinzialismus und ein Verspätungssyndrom reduzieren ließ.79 Zwanzig Jahre später, 2010, erhielt Peter Wawerzinek für seine Autobiografie Rabenliebe den Ingeborg-Bachmann-Preis. Ein Buch über die Kindheit, über die Provinz, in die der Autor sich nach der Wende zurückzog: »[…] weg von der blöden Stadt, den blöden Städtern, ihren blöden Events und Russendiskos, weg vom Suff, dem ich verfalle, wenn ich die Blödheit der Städter atmen muss […].«80
76 | L endaff : Hauptstadtphantasien, S. 459. 77 | Wawerzinek : Moppel, S. 64. 78 | H üfener, Agnes: Ende der Lehrzeit. In: Süddeutsche Zeitung v. 11.11.1995, S. L 8. 79 | P reece : »Was Eigenes sagen«, S. 73: »Wawerzinek is stamped as a GDR writer exercising newly discovered freedoms which were long ago fully explored by Westeners. This is dismissive and belittling and implies a particular form of GDR provincialism.« 80 | Wawerzinek , Peter: Wenn die Eule schlafen geht. In: Telegraph 109 (2003), S. 6871, hier 69-70.
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»Schappik, der auszog keine Lanze für seine Heimat zu brechen«,81 wird bodenständig. Folgt der Sehnsucht, seine »Gedankengänge [zu] begrünen«.82 Ein Wunsch, den Wawerzinek mit den Figuren Andrzej Stasiuks oder Jurij Andruchovyčs gemein hat – die jedoch davonlaufen, um zurückzukehren, auch um den Preis des Untergangs. Wawerzineks Text zieht es vor, in der und an der Provinz zu scheitern. Wie in den Tätowierungen assoziiert und montiert, verschmilzt er dieses Mal Kinderverse und Zeitungsausschnitte über die Vernachlässigung und Tötung von Kindern, Erinnerungsfetzen, Naturbeschreibungen und Reflexionen über die »Mutterlosigkeit«. Dazu Jörg Magenau: Er lässt [seinen Text] mit Wortspielereien aufgehen wie einen Hefeteig, montiert Zeitungsausschnitte von verlassenen Kindern und andere Zitate dazwischen, ohne dass klar würde, was damit bewiesen werden soll, und dehnt ihn durch überstrapazierte Metaphern wie den an allen entscheidenden Lebensstationen pünktlich fallenden Schnee noch weiter aus. 83
Ein Bafler, dem der Witz abhanden gekommen ist. Was bleibt, ist der vielleicht lyrischste, undergroundigste Vers: »TÄNZELT RUFT SCHMETTERT SINGT: Ich bin ein Leuchtkäfer dieser Stadt.«84
81 | Wawerzinek : Moppel, S. 94. 82 | Ebd. 83 | M agenau, Jörg: Mutters Sprache. Bachmann-Preisträger Peter Wawerzinek erzählt in »Rabenliebe« das Drama seiner Kindheit. In: Tagesspiegel v. 18.08.2010, S. 19. 84 | Wawerzinek : Moppel, S. 155.
7. Antikolonialer Mythos, Pop, Punk — und das Ende des Underground? Die Hundesoldaten-Songs der Gebrüder Topol He came dancing across the water With his galleons and guns Looking for the new world And that palace in the sun. N eil Young
Filip Topol, frühpubertärer Gründungsfrontmann der tschechischen Band Hundesoldaten (Psí vojáci), und sein Bruder Jáchym, erster Textlieferant der TeenieFormation, dürften Neil Youngs voranstehenden Verse aus Cortez the Killer gekannt haben. Erstmals 1975 auf dem Album Zuma eingespielt,1 reflektiert der Song die leyenda negra des Kolonialismus, konkret Hernán Cortés’ blutige Eroberung des Aztekenreichs um 1520. Wenige Jahre später taucht der Untergang Tenochtitlans als emblematisches Motiv im Lied Städte (Města) der Hundesoldaten auf. Genau zu sein: 1979 auf Kassette. In Aussagegehalt und Ästhetik hart gegen Youngs Rock-Ballade abgesetzt, motivisch indes ebenso deutlich an sie angelehnt, exemplifiziert Städte den Rekurs auf populäre Mythen zur Überhöhung eines zeitbezogenen Fundamentalprotests als ästhetisches Verfahren. Ein Verfahren, das Hemisphären und politische Regimes übergreift. Rock-Pop, Punk, Underground, heißt das, haben nicht nur eine akzidentielle Schnittmenge, sondern eine systematische. Dabei interessiert hier zumal die Verknüpfung des Mythos mit dem Urbanen. Deshalb und wegen ihrer poetischen Dichte zieht dieses Kapitel vor allem zwei Hervorbringungen der Hundesoldaten heran und bettet sie vergleichend ein: eben Städte, sodann Brennende Tauben (Hořící holubi), ein von Filip Topol geschriebe-
1 | Ich folge hier K ermani, Navid: Das Buch der von Neil Young Getöteten. Zürich 2002, S. 73. – Neil Young nahm das Stück mindestens dreimal auf: 1975 für Zuma, 1979 für Live Rust und 1991 für Weld.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
nes, 1996 eingespieltes Konzeptalbum von überwältigender lyrischer Raffinesse.2 Das eben deshalb die Frage aufwirft, wo der Underground seine historisch-kategoriale Grenze findet.
E t in O stmitteleuropa ego : I ndianer , S chamanen , Tr ance Anlässlich des Erscheinens von Jáchym Topols Roman Die Schwester (Sestra) 1994 schrieb Balduin Winter einen Essay, in dem er feststellt, die »Zeit der hingerotzten Protestsongs« sei endgültig vorüber: Die »unzähligen Geschichten, die mit der Wende auf [Topol] einstürmen, fordern zu einer anderen, breiteren Form heraus«.3 Was Winter meint, wird das anschließende Kapitel über Jáchym Topols Prag-Prosa zeigen. Dass er und sein Bruder Filip die Zeit davor allerdings mit dem »Hinrotzen« von Protestsongs verbracht hätten, widerlegt schon ihr Debütalbum. Denn »gerotzt« ist darauf nichts, schon gar nicht der Text. Die Brüder Topol kommen durch einen regimekritischen Vater, den Dramatiker und Schriftsteller Josef Topol, Unterzeichner der Charta 77, früh mit dem Dissens in Berührung und geraten fast zwangsläufig selbst ins Visier der Sicherheitsorgane. Später wurde ihnen das Studium verwehrt, Jáchym Topol musste unter anderem als Heizer arbeiten; anschließend entzog er sich dem Militärdienst, indem er sich in die Psychiatrie einweisen ließ – nicht der Einzige, der diesen Weg wählte. 1985 gründete er ein Underground-Periodikum, die Revolver Revue, die bis heute als Literatur- und Kulturzeitschrift erscheint. 4 Sieben Jahre zuvor, im April 1978, trug der damals dreizehnjährige Filip Topol auf dem Landsitz Václav Havels in Hrádeček vor einem Auftritt der Plastic People Songs vor, die der drei Jahre ältere Jáchym getextet hatte. Im Jahr darauf gründete Filip mit den Schulfreunden Jan Hazuka (Bassgitarre) und David Skála (Schlagzeug) die Hundesoldaten und zog mit der Formation im November auf
2 | Weitere Alben der Hundesoldaten sind u.a. Barock in Böhmen (Baroko v Čechách, 1982), Geh nicht allein in die Dunkelheit (Nechoď sama do tmy, 1987), Leitmotiv (1991), Brutale Lyrik (Brutální lyrika, 1995), Das Volk der Hundesoldaten (Národ Psích vojáků, 1996), Bei Nachbars heult der Hund (U sousedů vyje pes, 2001). - Siehe die Homepage der Band: www.psivojaci.rock-jazz.cz/cs/diskografie (Letzter Zugriff: 20.03.2014). 3 | Winter, Balduin: Im Klondike des Wilden Ostens. Außer Atem kartographiert Jáchym Topol die Wende zwischen Cheb und Medzilaborce. In: D ers .: Graben im Wort. Literarische Essays zu Böhmen, Mähren, Slowakei. Ottensheim an der Donau 2000, S. 71-81, hier 76. 4 | Dazu auch die Rückschau von Topol , Jáchym: Příběh Revolver Revue. Příspěvek k lepšímu poznání poslední samizdatové generace [Der Fall Revolver Revue. Ein Beitrag zum besseren Verständnis der letzten Samizdat-Generation]. In: Pohledy zevnitř. Česká undergroundová literatura ve svědectvích, dokumentech a interpretacích. Hg. v. Martin M achovec . Praha 2008, S. 85-95.
7. Antikolonialer Mythos, Pop, Punk: Die Hundesoldaten
die IX. Prager Jazztage (Pražské jazzové dny).5 1980 erhielten die Hundesoldaten wie andere Bands der alternativen Musikszene Auftrittsverbot wegen Verbreitung staatsfeindlicher Texte. Anschließend spielten sie unter wechselndem Namen beziehungsweise Kürzeln wie P.V.O im halblegalen Raum, vor allem im Junior Klub Na Chmelnici in Prag-Žižkov. Lieferte Jáchym Topol anfangs einen Großteil der Texte, so gründete er später die Band Nationalstraße (Národní třída), nahm aber gleichwohl weiter Alben gemeinsam mit dem Bruder auf, darunter 1994 eine Tonversion von seinem PragRoman Die Schwester. Im August 2011 gaben die Hundesoldaten ihre Auflösung bekannt, eine Entscheidung nicht zuletzt Filip Topols, dessen exzessiver Lebensstil ihn körperlich ruiniert hatte. Er starb 2013 mit 48 Jahren. Der Bandname Psí vojáci rekurriert auf den Kriegerbund dog soldiers der nordamerikanischen Cheyenne, der durch Thomas Bergers Roman Little Big Man 1964 und dessen Verfilmung von Arthur Penn 1970 mit Dustin Hoffman bekannt wurde. Angeblich aßen seine Mitglieder Hundefleisch, daher die Benennung. Nun sind die Namen, die lesende Teenager ihren Bands geben, eine Sache für sich. Dass indes aus einer nicht abgeheilten Jugendliebe zu Trivia und Trash ein ernstzunehmendes ästhetisches Programm entstehen kann, ist seit Arno Schmidt bekannt und seither von Quentin Tarantino bestätigt worden. In Filip Topols Vorwort zur 1993 edierten Sammlung der Songtexte findet sich der Bandname als Allusion in eine Selbst- als Weltmystifizierung eingewoben, die weit über den pubertätsromantischen Impuls hinausweist: Ich mag nicht über mich schreiben. Ich schreibe über mich in meinen Texten und im Magma der Musik. Im Übrigen überblättere ich meist in Büchern das Vorwort. […] Ich bin zu einem Drittel ein kleiner Hund, zu einem zweiten Mensch und zu einem dritten Wind. Und leider, oder Gottlob, ist das kein Scherz.6
Derweil hatte Jáchym Topol bereits 1988 einer Gedichtsammlung den Titel Landschaft mit Indianern (Krajina s Indiánama) gegeben. Schmidts Landschaft mit Po5 | Organisiert von der Jazzová Sekce (Jazz Sektion) waren die Prager Jazztage auch für andere alternative Musikrichtungen wie Rock und Folk offen. Die Sektion war dem Svaz hudebníku (Verband der Musiker) untergeordnet, aber bis zu seiner Zerschlagung weitgehend eigenständig. Vgl. K ouřil , Vladimír: Jazzová Sekce v čase a nečase: 19711987 [Die Jazz Sektion in guten wie in schlechten Zeiten: 1971-1987]. Praha 1999. 6 | Topol , Filip: Psí vojácí [Hundesoldaten]. Praha 1993, Vorwort: »Nechci psát o sobě. / Píšu o sobě ve svých textech a ve vyvřelinách hudby. / Ostatně, většinou jsem přeskakoval v knihách předmluvy. […] / Jsem z jedné třetiny malý pes, / z druhé člověk a z třetí vítr. / A Bohužel, nebo Bohudík, to vůbec není žert.«
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cahontas klingt deutlich genug an. Topols Texte sind klassischer Underground, handeln vom Leiden in abgerissenen, auch ideologisch kontaminierten Stadtlandschaften. Die lyrischen Subjekte werden verfolgt, von Spitzeln niedergeschlagen, sind paralysiert oder paranoid, halluzinieren, fahren ziellos mit der Straßenbahn und streunen durch die Nacht, wollen ihrer Fremdbestimmtheit entkommen, sind auf der Suche nach der Liebe und Sex. In schreckliche träume (strašidelné sny), einer Ode an Josefine beziehungsweise ihre »Fotze«, beschreibt das lyrische Ich sein Durchwandern schmieriger Buffets, schmutziger Toiletten, der Gleise des Prager Vorortbahnhofs Libeň. Der programmatische Gegen- und Sehnsuchtsort deutet auf Topols spätere Mytho-Poesie voraus: […] die wälder sind voller geister der kopf leer der darm voll wie gern würd’ ich abhauen raubtiere im wasser raubtiere an land raubtiere in der luft sind fast ausgestorben das reisen ist verhältnismäßig sicher. […]7
In mir tut der kopf weh (bolí mě hlava) beweint das lyrische Ich das Schicksal Moby Dicks, gejagt von allen. Und wird selbst zu Moby Dick, gerührt vom eigenen Schicksal. Wobei einschlägiger Kulturpessimismus – »der kopf leer der darm voll«, die ausgestorbenen Raubtiere und die pejorativ gewendete Sicherheit – gepaart mit dem individuellen Bild die kämpferische Ironie bergen, denn immerhin unterliegt am Ende Ahab.8 Ähnlich fungiert das titelgebende Landschaftsbild in ende der welt (konec světa): […] den aschenbecher leeren die spinnen erschlagen und sich frei inspirieren lassen von dem farbigen bild der landschaft mit indianern weil so geht das nicht mehr weiter 7 | Topol , Jáchym: strašidelný sny [schreckliche träume]. In: D ers .: Miluju tě k zbláznění. Brno 1994, S. 111-112, hier 112: »[...] lesy jsou plný duchů / hlava je prázdná střeva plný / chtěl bych odejít / dravci ve vodě dravci na zemi / dravci ve vzduchu / jsou téměř vybiti / cestování je poměrně bezpečný / [...].« 8 | D ers .: bolí mě hlava [mir tut der kopf weh]. In: Ebd., S. 113-114.
7. Antikolonialer Mythos, Pop, Punk: Die Hundesoldaten das geht nicht nein es ist unmöglich immerzu zu warten auf das ende der welt. 9
Mit den Indianer-Referenzen schließen Filip und Jáchym Topol an eine konkrete Tradition der gegenkulturellen Bewegungen der 1960er Jahre an – Little Big Man ist einer der ersten Anti-Western. Und sie schließen allgemein an eine Zivilisationskritik an, deren Muster seit Tacitus’ Germania bereitliegt. Stuart Hall hob schon früh auf diese »pastoral-arkadische« Orientierung der US-amerikanischen Hippies ab;10 Hans-Peter Rodenberg etwa zeichnet den »American Indian Dream« in der Lyrik eines Gary Snyder nach.11 Schlagworte wie »Back to Mother Earth« bezogen ihre lokalspezifische Verbürgung aus einer naiv geklitterten primordialen Vergangenheit, deren utopischer Eskapismus wiederum in der grotesken Verzerrung edel-wilder Landkommunen mündete.12 Zumal Snyder nutzt das Bild des Kojoten, um seinen klischierten Indianern ein Wappen zu verleihen. In Städte werden die Hundesoldaten dieser Tierfigur einen exponierten Rang zuweisen. Beide Male geht es um dieselbe symbolische Umkehr einer Semantik: Dienen Hund, Schakal, später Kojote in »weißen« Sprachkontexten zur Markierung des Feige-Gefährlichen, Räudigen, Niederen – so können sie gerade deshalb zu Totems des natural Dignifizierten werden.13 Die vorausgesetzte und als solche umkehrbare Vertikale ist die eines kanonischen Zivilisationsgefälles, einer Polarität von Zivilisation und Wildheit, die gegennormativ in Ursprung und Menschsein versus Zivilisation gewendet wird.
9 | D ers .: konec světa [das ende der welt]. In: Ebd., S. 128-129, hier 129: »[...] vysypat popelník / pobít pavouky / a nechat se volně inspirovat / barevným / obrazem krajiny s Indiánama / protože / takhle už to dál nejde // to nejde / ne neni [sic!] to možný / pořád čekat / na konec světa.« 10 | H all , Stuart: The Hippies. An American Moment. In: Student Power. Hg. v. Julian N agel . London 1969, S. 170-192. 11 | Rodenberg , Hans-Peter: Gary Snyder oder die Schwierigkeiten eines weißen Indianers Zen-Buddhismus zu leben. In: D ers .: Subversive Poesie. Untersuchungen zur Lyrik der amerikanischen Gegenkultur 1960-1975. Gießen 1983, S. 92-113. 12 | So ordnen Joseph Heath und Andrew Potter den Panindianismus als ein Nebenprodukt der Urbanisierung ein und deuten die Verehrung von »Mutter Erde« als eine »reine Projektion von Gegenkulturideen auf Eingeborenenvölker«. – H eath, Joseph/P ot ter, Andrew: Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur. Frankfurt am Main 2005, S. 325. 13 | Jáchym Topol übersetzte in den 1990er Jahren indianische Mythen ins Tschechische, wobei ihn insbesondere das Hybride der Kojoten-Figur faszinierte. – Topol , Jáchym: Trnová dívka. Pŕíběhy severoamerických Indiánů [Das Dornenmädchen. Geschichten der nordamerikanischen Indianer]. Praha 1997.
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Dabei besteht die spezifische Innovation des Indianer-Topos gegenüber romantischen oder den von der Avantgarde verwandten Ursprünglichkeitsmythen weniger in einer offen esoterischen Aufladung als in der popkulturellen Referenz. Als zivilisationskritische Bezugsgröße dient kein vermeintlich authentischer Überrest wie Fremdvolk, Volkslied, Stammesmaske oder archaischer Empfindenskern, sondern ein von vornherein für den Konsum produziertes und als solches erkennbares Repertoire von Vorgängigkeitsbehauptungen. Es handelt sich mithin um eine doppelte Vertikalitätsumkehr: zum einen der zivilisationsideologischen, zum anderen der Werthierarchie innerhalb der angegriffenen Zivilisation, die zugleich um die Gemachtheit beider Pole weiß. Zumindest wissen kann – und sie nutzt, nicht zuletzt zur Immunisierung gegen historische Kritik. Vor diesem Hintergrund werden ästhetische Verfahren wie das der 1975 gegründeten Budapester Punk-Band Rasende Leichenbeschauer (Vágtázó Halottkémek, VHK) neu lesbar. Wenn deren »Schamanen-Punk« das Symboltier Hund überhöht,14 rekurriert das eben nicht, oder zumindest nicht nur auf eine ethnolokale Tradition, sondern lokalisiert eine zur Verfügung stehende globale Chiffre. Die Leichenbeschauer sind 1983 durch Gábor Bódys Film Nachtlied des Hundes (Kutya éji dala) über Ostmitteleuropa hinaus bekannt geworden,15 in dem der Regisseur Konzertausschnitte der Band verarbeitet und deren Leader, den promovierten Astrophysiker Atilla Grandpierre in der Figur eines Astrophysikers und Musikers spiegelt. Bevor sie 2000 auseinandergingen,16 mischten die Leichenbeschauer psychedelischen Hardcore mit Hundegeheul, Schreien, Percussion und Sprechchören. Sie brachten per Raserei und Trance imaginiert pagane Riten auf die Bühne. Masken und Federschmuck trafen auf Kesseltrommel, Glockenspiel und Geige.17 Ihre Performances umfassten die Verehrung des Hunnenkönigs Attila wie die Lobpreisung nomadischer Existenz und die Anbetung der Sonne, 14 | S zemere , Anna: Up from the Underground. The Culture of Rock Music in Postsocialist Hungary. University Park, Pa. 2001, S. 66-69. 15 | Der Film eröffnete den Rasenden Leichenbeschauern Vertriebswege in den Westen, z.B. über eine Konzerteinladung 1984 von der West-Berliner Punk-Band Tödliche Doris und dem von Jello Biafra geführten Label Alternative Tentacles. Dazu M üller, Wolfgang: Subkultur Westberlin 1979-1989. Freizeit. Hamburg 2013, S. 83-87. 16 | Atilla Grandpierre leitet seit 2005 die Band Galoppierender Wunderhirsch (Vágtázó Csodaszarvas) und seit 2008 Rasende Lebenskraft (Vágtázó Életerő). Der Band-Ideologe setzt mittlerweile auf volkstümliche Instrumente wie Dudelsack, Laute und Zither. Obwohl Ekstase und Trance nach wie vor die Auftritte der Gruppe grundieren, kommen einige Stücke aber auch als psychodelischer Neo-Folk plus Volkstanz daher. Dazu die Websiten www.vhk.mediastorm.hu und www.grandpierre.hu (Letzter Zugriff: 17.03.2014). 17 | Zur Beschreibung der Auftritte siehe P ehlemann, Alexander: Zurück zur Raserei! Von den Rasenden Leichenbeschauern über den Rasenden Wunderhirsch zur Rasenden Lebenskraft. In: GRIMM 1 (2010), S. 134-142. – Vágtázó Hallotkémek. Interview mit Atilla G randpierre . In: Zonic 9 (1997): www.zonic.de (Letzter Zugriff: 21.03.2014).
7. Antikolonialer Mythos, Pop, Punk: Die Hundesoldaten
vergegenwärtigten die Rückeroberung verlorener Paradiese und kosmologische Fragen, die Magie und Elementarkraft der Natur, den Empfang von Signalen aus dem Weltall. Parallel publizierte Grandpierre theoretische Überlegungen zu Mensch und Kosmos, über die emotionale Natur des Universums, die physikalischen Voraussetzungen eines kollektiven Bewusstseins. Eine Art programmatischen Überbau lieferte 1984 Grandpierres Manifest Punk as a Rebirth of Shamanist Folk Music. 18 Unter Berufung auf Béla Bártok und dessen Verständnis einer kreatürlich-freien Volksmusik reklamiert der Text für den Punk, den Radikalismus schamanistischer Ritualmusik zurückzuholen. Beide versetzten Hörer und Band in Ekstase, rückten ihnen die Welt in eine symbolische Ordnung. Punk, so Grandpierre, aktualisiere den in sich stimmigen Radikalismus alter Völker und Kulturen für die Gegenwart: Totem music, the music of shamanistic ceremonies, was truly a working, effectiv magic force for its creators, which led to ecstasy, and, through its force, elevated the participant’s relation to himself and the world into a symbolic order, and thereby the first step toward practical action was made.19
Totem-Musik so verstanden lässt sich auch unter dem Verfahren des »Speaking in Tongues« fassen, das Diederich Diederichsen ausgehend vom Jazz beschreibt. Hier werden Sänger und Performer zum Empfänger oder »Instrument eines höheren Wesens«.20 Grandpierre nun stellt als beider – Totem-Musik und Punk – entfremdetes Anderes die autoritär-rigide »ernsthafte Musik« vor, namentlich die nur vermeintlich revolutionäre Zwölftontechnik. Die möge zwar ein modernes kompositorisches Verfahren sein, schaffe aber keine »authentische« Musik und »neue Kultur« im Sinne einer Verbindung zwischen Künstler und Zuhörer – einer Heilung, in der Terminologie dieses Bandes, der fundamentalen Gespaltenheit der Moderne. Alexander Pehlemann wird das rückblickend als »anti-zivilisatorisches Neo-Barbarentum in urbaner Verklärung« bezeichnen.21
18 | Grandpierres Manifest wurde 1984 in die Budapester Avantgarde-Publikation Gute Welt (Jó világ) von László B eke und Annamária S zőke unter dem Titel »A punkrock összefüggései a sámán-zenével mint népzenével. A művészet mágikus erőinek hatásmechanizmusa« aufgenommen. Deutsch: Die Verbindungen des Punk-Rock zur Schamanenmusik als Volksmusik. Zum Wirkungsmechanismus magischer Kräfte in der Kunst. 19 | G randpierre , Atilla: Punk as a Rebirth of Shamanist Folk Music / The Magic Forces of Art at Work. Englische Übersetzung nach: www.grandpierre.hu/site/2001/09/punkas-a-rebirth-of-shamanist-folk-music-the-magic-forces-of-art-at-work (Letzter Zugriff: 17.03.2014). 20 | D iederichsen, Diedrich: Über Pop-Musik. Köln 2014, S. 219 u. 311-312. 21 | P ehlemann, Alexander: Aber zurück zur Raserei! In: D ers .: Go Ost! Klang-Zeit-Raum. Reisen in die Subkulturzonen Osteuropas. Mainz 2014, S. 125-131, hier S. 131.
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Auf einer anderen Ebene, die in Grandpierres »first step toward practical action« anklingt, deutet die Anthropologin Kathryn Milun die Performance der Rasenden Leichenbeschauer primär als »powerful counter-hegemonic practice«,22 eine gegenkulturelle Intervention im sozialistischen und zugleich nationalpatriotischen ungarischen Staat. Als Kontrast führt sie die 1983 uraufgeführte Rockoper König Stephan (István a kiraly) an, komponiert von Levente Szörényi und János Bródy, Mitglieder der Band Illés (Ensemble) und Fonográf (Phonograf), die alljährlich zum Nationalfeiertag am 20. August auf dem Budapester Gellértberg aufgeführt wird. Das Libretto verherrlicht den Sieg des getauften Königs Stephan über den heidnischen Steppenfürsten Koppány. Milun verwirft die Lesart der aufwendig in Szene gesetzten und bis heute ausgesprochen populären Oper als subversives Bekenntnis gegen den Kommunismus und für einen freien, christlichen Staat. Plausibler sei sie als systemstützend aufzufassen, nämlich als Teil der Integration nationaler Mythen in das staatssozialistische Repertoire und künstlerische Flankendeckung für die damaligen Zentralisierungsbemühungen János Kádárs.23 Diese Aneignung der Christianisierungsgeschichte in legitimitätsbildender Absicht, aber auch der Volksmusik im öffentlichen Kulturleben werde vom hunnisch-awarisch-magyarisch-schamanisch tönenden Punk der Leichenbeschauer herausgefordert. Darin liege das dissidentische Potenzial der Band, das sie ästhetischen und ideologischen Parallelen zum Trotz von Hippies und New Age im Westen unterscheide; allein dem ostmitteleuropäischen Schamanismus eigne ein genuin »gegenhegemonieller« Charakter. Sind die Beobachtungen zu tatsächlicher und Pseudodissidenz überzeugend, so lässt sich an Miluns letztem Punkt zweifeln. Denn wichtiger als der Impuls gegen ein konkretes Regime scheint zum einen das weiter gefasste, dem westlichen analoge antimoderne Ressentiment, zum zweiten die genuin postmoderne Bricolage esoterischer, pseudohistorischer, frei erfundener und zunächst völlig unzusammenhängender Versatzstücke, deren Gemachtheit und Ursprung in populären Imaginationen nicht zu übersehen ist. Insofern unterscheidet Punk sich auch von Zwölftonmusik nicht durch ein Mehr oder Weniger an erkennbarer Artifizialität, sondern durch deren spielerische Unterkomplexität und die Integration volkstümlich-»trashiger« Phantasmen. Der Effekt wiederum ist derselbe wie derjenige des Indianer-Topos, dessen Integration über die Mohawk-Frisuren der 22 | M ilun, Kathryn: Rock Music and National Identity in Hungary. In: Surfaces. Revue électronique 1 (1991), S. 1-24, hier 17-18: www.pum.umontreal.ca/revues/surfaces/ vol1./milun.html (Letzter Zugriff: 21.03.2014). 23 | Juliane Brandt arbeitet am historischen Umgang mit der Figur des Heiligen Stephan heraus, warum die Rockoper so ambivalent gelesen werden konnte. – B randt, Juliane: König Stephan. Eine Rockoper und ihre Lesarten. In: D ies .: Am Rande des Spielfelds. Beobachtungen zur ungarischen Literatur und zu angrenzenden Gebieten. München 2011, S. 231-253.
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Punks Grandpierre denn auch explizit macht. Wobei es sich um eine immunisierte Authentizitätsgeste und doppelte Hierarchieumkehr handelt, die so gegenwie innerzivilisatorisch ist. Grandpierres musikologisches Manifest samt seiner theoretisierenden Reflexion auf Bártok und die Zwölftöner ist im Grunde weniger Kommentar als Teil dieser Ästhetik. Das ist nicht Musik- oder Kulturwissenschaft, sondern Poesie – Pop-Poesie: Since these characteristics came into being not as results of scientific research but in a spontaneous way, from down under, produced by the people, it must have been identical forces in work in calling force these two syndromes with two-three thousand years between them. It also implies that challenging oppression, tragedies in history, defying space and time the forces that called folk art into being are at work today just as much they were when people lived in a natural unity with themselves and their environment. 24
Die Hundesoldaten teilen mit den Leichenbeschauern den expressiven Sprechgesang, die thematische Präferenz für eine vorgeschichtlich-mystische Halbnaturwelt, apokalyptische Visionen, die Verwendung reduzierter, präfabrizierter Bilder des Archaischen. Auch bei ihrer Performance etwa von Städte sind minutenlang skandierte, monothematisch anschwellende Stakkati darauf angelegt, das Publikum in Trance zu bringen. Ivan Martin Jirous fasst das 1986 in einem Bericht über die Band als imbosh art zusammen: Kunst mit Schaum vor dem Maul oder Kunst als Schrei eines zu Tode gehetzten Tiers.25 Die Musik der Hundesoldaten sei indes »geschmeidig«, werde »vom Klavier getragen« und nicht zuletzt den Songtexten, die eine »neue Mythologie« schaffen würden: anachronistisch, exaltiert, hysterisch, expressionistisch, erotisch bis zur Schonungslosigkeit.
D ie koloniale A pok alypse : S tädte Wenn die Hundesoldaten in rund einem Viertel ihrer Songs die Stadt und das Leben in ihr zum Thema machen, unterscheiden sie sich darin nicht wesentlich von anderen tschechischen Bands wie Nationalstraße, DG 307, The Plastic People of the Universe, Garáž (Garage) oder Extempore. In den Stadtsongs der 1980er Jahre sind die Städte verkommen und krank, Zivilisationsmonster voller Gespenster. Die junge Generation tritt als hoffnungslose auf, für die es keine Zukunft außer der Anpassung gibt; die lyrischen Subjekte kommen paranoid daher, ihr urbanes 24 | G randpierre : Punk as a Rebirth of Shamanist Folk Music. 25 | J irous , Ivan M.: Psí vojáci [Hundesoldaten]. In: D ers .: Magorův zápisník. Hg. v. Michal Š pirit. Praha 1997, S. 231-235, hier 231-232. – Jirous führt die Nähe der TopolBrüder zum Expressionismus auf ihren Großvater mütterlicherseits zurück, den Schriftsteller Karel Schulz.
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Leben scheint alternativlos und doch kaum zum Aushalten. Zuweilen mischen sich in die Resignation Widerstand und Ironie.26 Das 1979 von Jáchym Topol verfasste Lied Städte hingegen gibt dem Sujet eine singuläre Wendung. Ein Gesang auf die Unterwerfung und Ermordung der südamerikanischen Ureinwohner, handelt es zunächst von der Zerstörung ihrer Städte, mithin von der Stadt als Unschuldsort, bevor sie wiederum zur Dystopie mutiert, in der die Versklavten zu leben »gezwungen« werden. In 120 Verszeilen entfaltet sich das koloniale Thema zu einem Protestsong im Gewand des Mythos, konsequent universalisiert durch leitmotivische Passagen wie »es wird hier und wieder anderswo sein« (bude to tady a zase jinde): Holpernden Laufs in die Straßen der kranken Masse! / Holpernden Laufs in die Kellerwölbungen der Sehnsucht! / Schütz dich vor dem Glanz! / Das Stürmen auf den Saiten der Runzeln / das ist die Stille / die die Kreise der Hölle öffnet / bis hinein ins Ätzende; / und ohne Kerze / kommt der Tag der Auslöschung / und er vergaß den achten Tag / anzumalen! / wo nur die Sehnsucht / den Rückzug in die Einsamkeit begleitet / und der neunte Tag! – Knecht / auf dass die Körper im Ruhezustand / nicht allein durch Arbeit Früchte tragen / im Sturm schreite dem Wirbel entgegen / wenn unter nächtlichen Dachrinnen / der tosende Wind die Lunge zerreißt / wenn / wenn siebzehn deiner Geliebten / in Regencapes aus den Krankenhäusern / in Schuhen von den Friedhöfen / und hops und jamb und daktyl / und hops und jamb und daktyl / und hops und jamb und daktyl / die Handschuhe der Zukunft tragen / mit Liebe und ohne Gummi in sich eingesunken / während der Stille der großen Feierlichkeit der Selbsternennung / wird es sein im Lande Ohnbrot / und mit blutigem Schaum / und ohne Wege / und über Steine / und auf Händen / und auf Knien / wenn der Fisch ohne Seufzer erschrickt / die Jäger mit Ebergeifer töten / sich die Lichtung zum Todesgesträuch öffnet / und währenddessen / die Natter der Kilometersteine die Straße kreuzt / und nach Süden führt / die Städte vom Fegefeuer häutet und eintritt / in ihre Tore wo die Köpfe / herausgespült und die Zungen gewogen werden / es wird hier und wieder anderswo sein / wir folgen ihr / und kommen uns vor, als seien wir nur die Übrigen, / als würden wir warten, bis das Dach birst / und das Licht hereinbricht / es wird hier und wieder anderswo sein / aber die Schattenarmee verabschiedet sich nur zu leicht / erstarrte Helden der Nacht mit Schwert und Biwak / drängen zurück / es war eine Zeit, die die Hoffnung verschluckte / es wird hier und wieder anderswo sein / Cortés’ Leute kamen trotzdem aus dem Wald / und am siebten Tag kamen die Männer über die Ebene / und sahen die Städte / und griffen die Märkte und Kanäle an / und ihre Hauer zermalmten mit dumpfem Geknirsch die Metallschädel, / sie warteten Jahrhunderte, drängeln sich über die Mauern, dringen in die Hallen, / sie warteten Jahrhunderte, das schluckt gierig der gesättigte Sand / sie warteten Jahrhunderte verstoßen aus den Burgen / breiten im Tode die Arme aus, 26 | Siehe Songs wie Russian Mystic Pop (Opus III–V), Lauf einfach so durch die Stadt (Jen se tak projdi po městě), Geh nicht allein ins Dunkel (Nechoď sama do tmy), Spaziergang (Procházka), Psycho Killer, Kneipe (Hospoda), Kilián Nedory oder in den 1990er Jahren Sagte mir ein Freund (Říkal mi přítel), Brutal Lyric und In die Stadt (Do města).
7. Antikolonialer Mythos, Pop, Punk: Die Hundesoldaten zu guter Letzt wie die Adler / sie warteten Jahrhunderte, anmaßende Freude aufs lange Morden, / auf den Sieg der Freude, warteten sie Jahrhunderte / Gestank breitet sich aus in Nasennüstern / der ausgetrockneten Kehle sie arbeiten / die Gäule des Todes, die Loren des Todes / die Seen des Todes, sie warteten Jahrhunderte / Mitternacht kehrte die Spelunken aus! / bis zur letzten Überfahrt / taumelt der ewig Hungernde / doch auch Manna ging einst nieder / und schlug voller Wut auf die leeren Köpfe auf / Das war bevor wir an den Städten anlangten / von der Finsternis der Türme umgeben und dem speichelverseuchten Mond / und dem ewigen Katzenjammer verbitterter Predigten / und mit einer lauernden Lektion im Rücken / zwangen sie uns die Städte zu durchqueren, / zwangen uns in ihnen zu leben, / das Ufer entkam der Hölle kaum / den Gärten war es unmöglich zu entfliehen / und auch die Höfe hackten sie mit Mauern entzwei / jede Baumallee schwoll zur Straße an / die Jahre in ihnen wurden unerträglich / und wir lasen die Ernte auf / weit von den Hügeln und Hängen / und so zwangen sie uns die Hunde / scharf zu machen / abzurichten / das, was erarbeitet wurde / zum Dank abzugeben / zu gehorchen / das, was angerichtet wurde / zu zerteilen / zu zerschlagen / das, was vollendet wurde / So wurden sie langsam zu / Menschen / die Jahre wurden ihnen unerträglich / wie Hundebäuche voller Wackersteine / kaum jemand kam abhanden / kaum jemand entkam dem Schrecken der Ekelleere, / es war schwer sich im Gelände zu verstecken, wo sie die Tiere töten / in Bücher banden sie kaum Sätze über den ewigen Kampf von Hunger und Hochmut / mit haarendem Buckel und totengräberischer Sicherheit / auf der Küchenjagd über Stock und Stein / und der ewigen Hochmut kalter Nächte / alle Welt mit der ewigen Krankheit des Bittens und dem Zeichen der Ungeheuer / mit kuschligem verkrümmtem Schwanz / dem Zeichen der Ermattung, die hängenden Zungen voll von weißem Krankheitsschleim / nur müde und von Wut verlassen / durch Angst mach weise und stumm / den Hund! / in flackerndem Trab angetrieben zum Lauf / und der Bauch schleift durch den Lehm / schlagt auf die Trommeln aus Hundehaut! / und blast / in die Pfeifen aus Unterschenkelknochen!27 27 | Topol , Filip: Města [Städte]. In: D ers .: Psí vojáci, S. 38-41: »Drkotavým pohybem do ulic nemocného masa! / Drkotavým pohybem k roztouženým kvelbíkům! / Záští k lesku! / Bouřit na strunách vrásnění / to je ten klid /co kruhy pekel otevírá / až ke kyselosti; / a svíce zbaven / přichází den zhášení / a zapomněl přimalovat / osmý den! / kdy odpočinek do samoty / jenom touha provází / a devátý den! – sluhu / aby těla v spočinutí / nejen prací plodila / v bouři vkřič se do vichřice / když pod nočními okapy / zuří vítr trhá plíce / když / když sedmnáct tvých miláčků / v pláštích z nemocnic / v botách ze hřbitovů / á hop á jamb á daktyl / á hop á jamb á daktyl / á hop á jamb á daktyl / nesou rukavice budoucnosti / s láskou a bez gumy / sami v sobě zabořeni / v tichu velkých Slavností Samozvání / bude to v zemi Bezchleba / a s krvavou mošnou / a bez cest / a po kamenech / a po rukou / a po kolenou / kde ryba leká bez sténání / lovci mrtvějí se kančí slinou / průsek otvírá se smrthouštinou / a zatím / užovka patníků křižuje silnici / a jde k jihu / svléká města z očistců a vchází / do nich branou kde se hlavy / vyplachují a kde se váží jazyky / bude to tady a zase jinde / jdeme po ní / a připadáme si, že jsme jen ti ostatní, / jako bysme čekali, až střecha praskne / a až se světlo provalí / bude to tady a zase jinde / ale armáda stínů se přelehko loučí / utkvělí hrdinové noci s meči a tábory / se derou
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Auf der Bühne performen die Hundesoldaten den Song als zehnminütigen, schrillen Sprechgesang. Das refrainartige á hop á jamp á daktyl ruft zugleich ekstatisches, ins Wahnsinnige gezogenes Indianergeheul auf und fertigt den Zivilisations- als Kultivierungsanspruch und Kunstoptimismus mittels der klassisch informierten Semantik in sardonischer Verzweiflung ab. Die Schreie funktionieren wie verstörende punktuelle Soundzeichen, als intervenierende Verfremdung.28 Später verlangsamt sich der Gesang, nimmt durch die Überbetonung der langen Vokale den Charakter eines Klagelieds an. Schlagzeug und E-Gitarre dominieren das Klavier. Die Marschrhythmen variieren in ihrer Geschwindigkeit, beschleunigen in dem Moment, in dem der Text Cortés und seine Männer anspricht, werden langsamer, wo es um das Leben hinter den indianischen Stadtmauern geht. Das Ganze wirkt überartikuliert, »jambisch« und »daktylisch«
zpátky / bylo to chvíli, cos škytal nadějí / bude to tady a zase jinde / Cortésovi lidé přece vyšli z lesa / a sedmého dne muži vyšli na planiny / a uviděli města / a obořili se na trhy a průplavy / a dutě s praskotem drtí špičáky kovové lebky, / čekali věky, derou se po zdech, vnikají do galerií, / čekali věky, to písek hltá lačně sycen, / čekali věky sráženi z hradeb / roztahují paže teprve ve smrti, konečně orli / čekali věky, troufalá radost z dlouhého vraždění, / pro vítěze radost, čekali věky / pach rozšiřuje chřípí uzliny / vyschlého hrdla pracují / koníci smrti, káry smrti / jezera smrti, čekali věky / pelechy vymetla půlnoc! / až k poslednímu přejedení / vrávorá věčně hladovějící / vždyť i mana se jednou snesla / a vztekle udeřila do prázdných hlav / To bylo dřív než jsme došli k městům / obklopeni tmou věží a slintavou lunou / a věčnou kocovinou zahořklých kázání / a s číhavou lekcí za zády / nutili nás projít městy, / nutili nás žít v nich, / těžko se unikalo z pekel nábřeží / nešlo prchnout sady / i dvory přesekali zdmi / každá alej mohutněla v ulicích / roky v nich těžkly / a my sklízeli žeň / daleko od kopců a strží / tak nás nutili psi / zaostřit / zpracovat / to, co bylo uděláno / dát za vděk / vyposlechnout / to, co bylo připraveno / oddělit / přesekat / to, co bylo dokonáno / Tak se pomalu stávali lidmi / roky jim ztěžkly / jak psí břicha plná kamenů / málokdo se ztratil / málokdo vyvázl z hrůzy prázdnohnusu, / bylo těžké se skrýt v krajích, kde zabíjejí zvířata / do knih svázali jen pár vět o věčném boji hladu a pýchy / s pelichavým hřbetem a hrobnickou jistotou / na tom kuchyňském lovu s klackem a kamenem / s věčnou pýchou studených nocí, / kdekdo s věčnou nemocí prosby se znakem potvor / s ocasem schouleným kalivým / znamením zmátořením, jazyky venku bílým hlenem nemoci / jen s únavou a vztekem opuštěni / strachem zmoudřelí a oněmělí / pes! / plápolavým klusem běhy popohání / a břicho vleče do hlíny / na bubny z psí kůže bijte! / a zvučte / na píšťaly z kostí holenních!« 28 | D iederichsen, Diedrich: Über Pop-Musik. Köln 2014, S. 129. – Diederichsen stellt punktuelle wie indexikalische Soundzeichen zumindest teilweise in die Tradition des brechtschen V-Effekts: »In der Pop-Musik handelt es sich um einen Zeichengebrauch, der sie nie oder selten die volle Konsequenz seiner Pragmatik eingesteht oder eingestehen darf.«
7. Antikolonialer Mythos, Pop, Punk: Die Hundesoldaten
kommen quasi wörtlich daher, die Vokale i/í und y/ý am Zeilenende werden betont in die Länge gezogen. Thematisch steht der Song in so auffallender Nähe zu Neil Youngs wenige Jahre zuvor mit Crazy Horse aufgenommener Rock-Ballade Cortez the Killer, von der ihn freilich ästhetisch und poetisch auf den ersten Blick Welten trennen, dass ein Vergleich die Analyse erhellen mag.29 He came dancing across the water With his galleons and guns Looking for the new world And that palace in the sun. On the shore lay Montezuma With his coca leaves and pearls In his halls he often wandered With the secrets of the worlds. And his subjects gathered ’round him Like the leaves around a tree In their clothes of many colours For the angry gods to see. And the women all were beautiful And the men stood straight and strong They offered life in sacrifice So that others could go on. Hate was just a legend And war was never known The people worked together And they lifted many stones. They carried them to the flatlands And they died along the way But they built up with their bare hands What we still can’t do today. And I know she’s living there And she loves me to this day 29 | Die darin implizierte historische Nähe, ja Verwandtschaft zwischen Underground und dem »System Pop« ist bereits angeklungen und wird unten näher betrachtet. Hier kann sie als vorausgesetzt behandelt werden.
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Der Underground, die Wende und die Stadt I still can’t remember when Or how I lost my way. He came dancing across the water Cortez, Cortez What a killer. 30
Youngs Cortez ist wie die meisten seiner Stücke eine ausgedehnte Improvisation und variiert auf der Bühne zwischen zehn und zwanzig Minuten. Es beginnt mit einem instrumentalen Intro, in dem Young auf der Leadgitarre das Leitmotiv einführt. Sein Gesang schließt sich gleichbleibend melancholisch an, begleitet von Schlagzeug, Baß und Rhythmusgitarre; das Ganze ist von melodiöser Getragenheit. Nach dem Aufgreifen der ersten Liedzeilen und dem – meist wiederholten – »What a killer« klingt der Song in einem erneuten Instrumental aus. Narvid Kermani bringt den Eindruck auf den Punkt: Die Verbindung, die aus der wunderschönen, klagenden Melodie, dem betulichen Rhythmus, den jammernden Gitarrenriffs und Neil Youngs dünner Stimme entsteht, ist so stark, dass jede Erschütterung sie nur stabiler erscheinen lässt. 31
Auf gefälligerem Weg erreicht Crazy Horse den von den Hundesoldaten und Leichenbeschauern angestrebten Effekt, spielt sich und ihr Publikum durch eine »Wiederholung des Immergleichen« in Trance und entwickelt mit schlankeren Mitteln doch ekstatische Wucht.32 Oder in der Deutung von Diedrich Diederichsen: Neil Young entfaltet ein »Alphabet des Schroffen«.33 Dieser ästhetischen »Schönheit« samt Reim und Rhythmus entspricht die Young immer wieder vorgeworfene Romantisierung der Indianer, die er in späteren Songs wie Pocahontas (Rust never sleeps, 1979) oder Like an Inca (Trans, 1983) unbeirrt fortschrieb. Raub und Völkermord führt der Text nicht aus, braucht er nicht auszuführen: Die erste Faszination der acht Strophen basiert auf einer simplen Binaritätskonstruktion aus Idylle und dem im Namen Cortés, den »galeons and guns«, dem Zusatz »Killer« enthaltenen, als gewusst vorausgesetzten Überfall von 1519/21 sowie seinen verheerenden Konsequenzen. Als gewusst vorausgesetzt wird aber auch, dass die Azteken ihren erzürnten Göttern Menschen opferten – und daraus ein pastorales Selbstopfer gemacht haben. Schöne Frauen, stolze 30 | Lyrics nach N eil Young /C raz y H orse : Zuma. © 1975 Warner Bros. 31 | Zu diesem Stück u.a. K ermani: Das Buch, S. 77-85. 32 | Ebd., S. 98. 33 | D iederichsen: Über Pop-Musik, S. 122. – Diederichsen zur »dünnen« Stimme: Neil Young als der »bis heute wohl schwächste unter den schwachen Sängern, dessen Stimme tatsächlich mit körperlicher Schwäche korrelierte und der seinen größten Erfolg einer Schallplatte verdankte [Harvest], die er, von schweren Rückenproblemen ans Bett gefesselt, im Liegen aufnehmen musste« (S. 290).
7. Antikolonialer Mythos, Pop, Punk: Die Hundesoldaten
Männer, der Palast in der Sonne, das Volk als Baum: Das Lied operiert mit feststehenden Topoi, Klischees, die als populäre Mythen so abruf bar sind wie Cowboys und Prärieindianer. Und nutzt sie prima facie für eine bittere Zivilisationskritik. Der Bruch kommt nicht erst mit der Einführung eines lyrischen Ich in der vorletzten Strophe, sondern steht dem mystifizierenden Bilderreigen gleichsam voran — bei der Einführung des Mörders: »He came dancing across the water.« Mehr Schönheit und Anmut in einem Bild sind schwer möglich. Analog steckt in der letzten Zeile, meist eher still als aggressiv gesungen oder gar geschrien, so viel verwunderte Resignation wie Anklage, fast ein Funken Zuneigung. Vor allem mit dem Tanz übers Wasser aber ist das binäre Konstrukt längst ausgehebelt, bevor es mit der Frage nach der Identität des Ich endgültig kippt. Ein namenloser Beteiligter, universaler Beobachter, der empirische Sänger, ein Identifikationsangebot an den Rezipienten – mit ihnen allen umfasst dieses Ich wohl den Killer Cortés, der in Abweichung vom Populärwissen nicht nach Gold sucht, dem auffällig Abwesenden in Youngs Repertoire der Conquista-Topoi, sondern »looking for the new world / in that palace in the sun«. Nämlich Utopia. Das lyrische Ich hat zerstört, was es ersehnt, von dem es sich Liebe versprach und weiter verspricht – unerreichbar umso mehr, als es »still can’t remember when / or how I lost my way«. Kermani, der diesen und andere Songs Neil Youngs aus der Perspektive der persischen Mystik liest, drückt es so aus: Wegen dieser Strophe ist Cortez The Killer ein Epos über die Menschheit: ihr unlogisches Festhalten daran, dass das, was ist, nicht alles und Erlösung möglich ist, daran, dass wir geliebt werden, ein Glaube so realistisch wie die Existenz einer aztekischen Prinzessin im heutigen Mexiko-City; die Katastrophe des Anfangs als schemenhafte Erinnerung, die Verstrickung in eine Schuld, von der wir nicht einmal genau wissen, worin sie besteht – im Zweifel darin, ein Mensch zu sein, dem Geschlecht eines Mörders wie Cortez anzugehören. 34
Angesichts dessen geht es an der Sache vorbei, dem Text eine Fehlrepräsentation der historischen Realität im präkolumbianischen Amerika vorzuwerfen. Selbst der konkrete kolonisatorische Mord steht nur vordergründig zur Debatte. Vielmehr geht es um das Problem der Zivilisation an sich, Entwurf und Zerstörung des Utopischen, um das der (modernen) conditio humana, deren Zerrissenheit bis in den Einzelnen reicht, dort erst eigentlich zu sich selbst kommt. Für diese Fallhöhe aber bedarf der Protest des als solchen erkennbaren (populären) Mythos. Wie Young braucht auch Topols Städte wenig mehr als das historische Fragment, eine Namenschiffre – nämlich dieselbe wie bei Young –, um das universale Desaster an eine konkrete Metapher zu binden: die Zerstörung der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlan 1521 und ihre Neuerrichtung durch die Spanier. Wie bei Cortez the Killer gibt der ambivalente, kastastrophal scheiternde Akteur dem Stück sein Gewicht. Und wie eine das poetische Programm kontrastiv pointierende Re34 | Ebd., S. 79.
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plik auf Youngs erste Zeile wirkt die Topols: »Holpernden Laufs in die Straßen der kranken Masse!« Eine verzerrte Spiegelung, ein Dialog über dasselbe Thema – das freilich nicht die Eroberung Mexikos ist, sondern Kermanis Menschheit. Die Hundesoldaten gehen daran, den in Cortez the Killer verbliebenen und von Kermani gefassten Funken Hoffnung auszutreiben. Das beginnt mit der Rücknahme einer individuellen, identifikationsfähigen Hauptfigur zugunsten der »Stadt«. Sie taucht, wie der Plural im Titel es vorausweist, zwiefach auf. Einmal als Stadt der Eroberten, nur noch in der Erinnerung an Märkte, Kanäle und das Flussufer vorhanden, an die Felder außerhalb, kleine Alleen, Gärten, großzügige Höfe, bevor die Okkupanten sie »mit Mauern entzwei [hackten]«. Zum anderen, von der ersten bis zur letzten Zeile dominant, als Stadt der Eroberer, Ort des Grauens, der Gefangenschaft und Qual, die Hölle. Diese Hölle wiederum ist mit einer solchen Vielzahl literarischer Allusionen und Anachronismen (Regencape, Krankenhäuser, Latexkondom) ausgestattet, dass sie den Plural auch allein beanspruchen kann, für die Städte nämlich, die so und nicht anders mehr sind. Vor allem aber verweigert sich Städte der »gebrauchsschönen« Eingängigkeit, die Cortez the Killer zu einer der populärsten Rock-Balladen überhaupt gemacht hat. Das gilt für die Performance ebenso wie für den Text. Hundesoldaten setzen ihren Rezipienten einem überaggressiven, vor Eintritt in eine mögliche Trance grell kakophonen Vortrag schwankender Perspektiven, sezierender Schnitte und entortender Schwenks, unauflösbar verdichteter Bilder aus. Syntaktische Bezüge bleiben im Vagen, Semantiken instabil. Jáchym Topols auswuchernde Sprache sprengt jede Narrativität, die bei Neil Young so elegant erhalten bleibt. Die Bezüge sind subtiler, verrätselter, das Ende ist komprommissloser sowohl in Resignation als auch Anklage. Wiederkehrende Ironie, auf die Cortez the Killer gänzlich verzichtet, macht es nicht erträglicher, sondern schlimmer, indem sie die grundlegende Empathie relativiert, im ätzendem Sprachspaß des »und hops und jamb und daktyl« ästhetische Sinnstiftungsversuche sardonisch verweigert. Operieren beide Texte mit Nicht-Darstellung, so spart Cortez the Killer die Gewalt und Vernichtung aus, um in der Pastorale zu schwelgen, während Städte umgekehrt die Pastorale mit nur wenigen Strichen anspielt und dafür extensiv den Gewalt- als Sprachexzess vergegenwärtigt. Dessen Szenen und Bilder rufen namentlich zwei Referenztexte auf, die hier gegen ihre Chronologik verschmolzen werden: die Apokalypse, kanonisch in der des Johannes, und das Inferno aus Dantes Göttlicher Komödie: »Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer, / Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze, / Durch mich geht man zum Volke der Verlornen.«35
35 | Dante, Alighieri: Göttliche Komödie. Aus dem Italienischen v. Hermann G melin. Stuttgart 2000, S. 14 (III. Gesang, 1-3). In dieser Übersetzung allerdings nicht wie oben »zum Volke der Verlornen«, sondern »zu dem verlornen Volke«.
7. Antikolonialer Mythos, Pop, Punk: Die Hundesoldaten
Die urbane Welt Jáchym und Filip Topols ist eine città dolente, in der das Sonnenlicht (»that palace in the sun«) endgültig fehlt, allenfalls ein »speichelverseuchter Mond« scheint, Armut und Hunger, Entfremdung, Unterdrückung, Stumpfheit herrschen. Und in der die rabiate Schnitttechnik aus dem einmaligen Vorgang der Eroberung / Apokalypse einen anhaltenden Zustand des qualvollen Zu-Tode-Kommens macht, ganz im Sinne mittelalterlicher Jenseitsvorstellungen. Bloß ohne Paradies. Gäule des Todes, Gestank in den Nasennüstern, totengräberische Sicherheit, blutiger Schaum, malmende Hauer, zerknirschte Schädel, die »kranke Masse« des Eingangsverses sind so ewig wie unentrinnbar. Denn draußen, jenseits der Pferchstädte mit ihren zermauerten Höfen, getöteten Gärten, dem gemarterten Ufer und den aufgeschwollenen Alleen liegt nur das »Land Ohnbrot« (Země bezchleba), mit Anklang an Luis Buñuels Las Hurdes – Land ohne Brot (Las Hurdes – Tierra sin pan) von 1932, das pittoresk-brutale Dokument des Sterbens in Nordspaniens Bergen. Die neuen Herren töten die Hunde, um ihre Haut auf Trommeln zu ziehen, auf den ausgehöhlten Knochen zu pfeifen, das konventionelle Indianertier vom aztekischen cóyotl bis zu den dog soldiers der Cheyenne. Schlimmer noch, sie zwingen das lyrische Subjekt, sie abzurichten, »scharf zu machen«: »So wurden sie langsam zu / Menschen.« Krank und geduckt, haarend, ausgehungert beschließt das zum Mensch erniedrigte sterbende Totem den Song als eine Metonymie der universalen conquista. Zugleich ist eindeutiger gestellt, wer das pejorativ Wilde repräsentiert, das letztlich Barbarische: Cortés kommt nicht tanzend über das Wasser, sondern bricht aus dem Wald hervor, um die ursprüngliche Stadt zu zerstören und auf ihren Trümmern den Moloch zu errichten, den wir fälschlich Zivilisation nennen. Die Umkehrung der normativen Hierarchie ist um so viel dramatischer und konsequenter als bei Crazy Horse wie die Ästhetik radikaler und hermetischer. Ob darin, in der verbliebenen Sprache, dem ekstatischen Sprechgesang, ja Geschrei eine neuerliche Hoffnung liegt, ähnlich dem Postulat der Rasenden Leichenbeschauer, im Punk zur verlorenen Einheit der Schamanenzeit zurückzufinden, bleibt unklar. Die schiere Textvitalität und Psychedelik der Performance legen das nahe. Der Text selbst bietet dafür keinen Anhalt. Er besteht allein aus Verzweiflung, überhöht und in ein spezifisches Profil gebracht wie Youngs Protest durch die poetische Mythisierung populärer Topoi der zeitgenössischen Gegenkulturbewegung, die auf einen extensiven Begriff von Kolonialisierung und damit verknüpft ein umkehrbares binäres Schema hinauslaufen. Mit dem vordergründigen Unterschied, dass Youngs Cortez den Mythos einsetzt, um Cortés zu existenzialisieren, Städte ihn jedoch zur Eschatologisierung nutzt. Vordergründig deshalb, weil unter der von beiden Stücken angenommenen und skandalisierten modernen Bedingung Existenz und Eschaton zusammenfallen.
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D as E nde ? Brennende Tauben (Hořící holubi) spielten die Hundesoldaten 1996 ein, sieben Jahre nach der Wende und 27 Jahre nach Städte. Es wird hier in erster Linie betrachtet, um fundamentale Verschiebungen in der Ästhetik der Band kenntlich zu machen und im historischen Kontext zu verorten. Vorab: Die Wut ist verraucht. Während Städte Post-Punk-Rock mit explosiver Sprache, drastischen Bildern, »viszeralem Anspruch«36 und vokalisenreicher Intonation verband, ist Brennende Tauben elektronische Pop-Musik. Zwei esoterisch anmutende Kombinationen aus Xylophon und Orgel bilden den Rahmen, immer wieder kommen Echoeffekte zum Einsatz, lassen Stimmen nachhallen oder überlagern sie. Einmontierte Straßengeräusche korrespondieren mit den Liedtexten, kommentieren oder deuten sie. Insgesamt ist die Komposition geschlossen, musikalisch, aber auch inhaltlich. Die von Filip Topol geschriebenen Songs kreisen aus unterschiedlicher Perspektive um ein und dieselbe Geschichte. Ihre Protagonisten sind »der Fürst«, »der Mann«, »die Frau«, »das Eichhörnchen«, »der Baum«, die titelgebenden brennenden Tauben – und abermals »die Stadt«. Dem Fürsten sind der erste und letzte Song gewidmet: Der Fürst überholte die Straßenbahn – noch weiß er von nichts (Kněž předběhl tramvaj – ještě nic neví) und Der Fürst bekreuzigt sich und die Straßenbahn hält (Kněž se křižuje a tramvaj stojí). Dazwischen stehen sieben Episoden mit Eichhörnchen, Baum und Tauben, sodann fünf »Männerepisoden«: Der Mann betritt die Stadt (Muž vchází do města), Der Mann durchquert die Stadt (Muž prochází městem), Der Mann sieht (Muž vidí), Der Mann wendet sich um und sieht die Frau (Muž se otáčí a vidí ženu) und Der Mann geht zu ihr (Muž jde k ní). Im Einstiegssong überholt der »ahnungslose« Fürst eine Straßenbahn, überquert die Hauptstraße und fühlt unter sengender Sonne das Nichts. Drei gesunde Tauben gesellen sich zu ihm. Das Eichhörnchen beobachtet den Mann und hört und sieht auch bereits die nahenden Tauben, ihre brennend zur Erde fallenden Körper, einen »Feuerregen« (ohnivý dešť). Von einem Himmel, der wie »aufgeschnittenes Zahnfleisch« (vyhřezlá dáseň) aussieht. Später wird der Fürst als »der Mann« die Stadt betreten und sie durchqueren und mit seinen Schritten eine bedrohliche Stille brechen, überall prophetisches Geflüster hören. Zumindest scheint diese Lesart Fürst = Mann möglich. Auch eine Doppelgängerkonstruktion oder gespaltene Persönlichkeiten scheint damit vereinbar.37 Der Mann er36 | D iederichsen: Über Pop-Musik, S. 321. – Diederichsens allgemeiner Befund zur »viszeralen Wirkung verschiedener Elemente der Rock-Musik wie verzerrte Gitarren, Feedback-Effekte, deren Wirkung sich nicht auf das Hörbare beschränkt, sondern die Architektur und die Körper in Bewegung versetzt«, gilt auch für die Bühnen-Performance von Städte. 37 | Topol , Filip: Muž prochází městem [Der Mann durchquert die Stadt]. In: Topol : Psí vojáci, S. 238.
7. Antikolonialer Mythos, Pop, Punk: Die Hundesoldaten
blickt eine vom Himmel gestürzte brennende Taube: »Der Mann blieb stehen / und begann zu schlucken. / In seinem Mund quoll der Geschmack der Stadt.«38 Im folgenden Lied heißt es: […] Und dann begann die Taube sich zu verändern. Im Glanz des wahnsinnig farbigen Feuers wurde sie größer, wuchs in die Höhe verschlankte sich geheimnisvoll. Der Mann war nicht in der Lage auch nur die Augen zu schließen. Er schaute, denn das erbärmliche Geschöpf verwandelte sich in eine wunderschöne Frau. Sie lächelte im Glanz des Feuers, als würden die sie umgebenen Flammen ihm eine solche Liebe vermitteln, dass es dem Mann schier das Herz zerriss. Und der Mann ging los. 39
Der Mann geht auf die Frau zu und umarmt sie, doch: »Das Eis der Stille setzte ein / die Farbe verschwand / und die Umarmung war alles andere als angenehm.« 40 Im letzten Song tritt wieder der Fürst auf, der fühlt, wie seine innere Leere sich füllt, wie sich in ihm eine sanfte Wärme ausbreitet – die ihn zugleich zu versengen droht, sein Herz entflammt. Wie Städte entwirft die streng und rätselhaft durchkomponierte Geschichte in 14 Liedern keine bestimmte, sondern eine mythische Stadt, die indes anders als Tenochtitlan auch nicht mittels Allusionen erschlossen wird. Abermals sind die Ereignisse apokalyptisch, ist die Stadt infernal: »Sie türmte sich vor ihm auf wie ein lepraverseuchter Arm / die Türme und Häuser sahen aus wie warnende Pranken / oder verfaulte Zähne.« 41 Ein Geisterreich, dessen Gebäude atmen, Straßen stinken, auf dem Boden wabert der Morast, von überall her dringen Geflüster, Geräusche und Gerüchte. Doch auch der »Landstrich«, aus dem der Fürst/Mann 38 | D ers .: Muž vidí – [Der Mann sieht – ]. In: Topol : Psí vojáci, S. 239: »Muž se zastavil / a začal polykat. / V ústech mu bobtnala chuť města.« 39 | D ers .: Muž se otáčí a vidí ženu [Der Mann wendet sich um und erblickt die Frau]. In: Topol : Psí vojáci, S. 239: »[…] / A pak se holub začal měnit. / V záři šíleně barevného ohně se protahoval, rostl do výšky / a tajuplně štíhlel. / Muž ani nebyl schopen si zakrýt oči. Zíral, / protože to ubohé stvoření / se proměnilo v překrásnou ženu. / Usmívala se v záři ohně, / jako by mu plameny kolem ní předávaly takovou lásku, že to Mužovi trhalo srdce. / A muž vykročil.« 40 | D ers .: Muž jde k ní [Der Mann geht zu ihr]. In: Topol : Psí vojáci, S. 240: »Nastal led ticha / vytratila se barva / a objetí nebylo nic příjemnýho.« 41 | D ers .: Muž vchází do města [Der Mann betritt die Stadt]. In: Topol : Psí vojáci, S. 238: »Tyčilo se před ním jako náruč lepry / Věže a domy vypadaly jako varovné pařáty / nebo zkažené zuby.«
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kommt, ist »leer« und blechern«, beherrscht von »Stillstand« in diesen »grauenvollen Jahren«, seit denen mit »Sausen«, »Getöse« und »Gestank« die Tauben zu Tausenden brennend vom Himmel stürzen. Nicht ein ruraler Antiurbanismus, sondern allgemeiner Untergang prägt die Motive. So spricht im Song Die Verwunderung des Eichhörnchens und das Gespräch mit dem Baum (Údiv veverky a rozmluva se stromem) das Eichhörnchen bang auf den geliebten, 42 plötzlich kalten und schweigenden Baum ein. In einschlägigen Handwörterbüchern zum Aberglauben gibt es nur wenig aussagekräftige Informationen zur Figur des Eichhörnchen, die für Topols Komposition in Anschlag gebracht werden könnten. Denkbar aber ist die Anspielung auf das Thor zugeordnete Eichhörnchen Ratatösk, das auf den Zweigen des Weltenbaums lebt. Es steht in der nordischen Mythologie als Botschafter zwischen der Welt der Lebenden und der Ahnen, zwischen denen ihm die Vermittlung nicht immer gelingen will. Auch wird es in mythischer Verbindung zum Feuer (rotes Fell) gesehen. Topols Eichhörnchen-Song selbst bleibt vage – in die Musik indes ist am Liedende als indexikalisches Soundzeichen eine Kettensäge montiert, die der Situation Eindeutigkeit verleiht. Dergestalt kommt die Entgegensetzung Natur versus Stadt/Zivilisation zwar wieder ins Spiel, allein nicht als der klassische Gegensatz »gesundes Land« – »krank(machend)e Stadt«, sondern innerhalb des Stadtraums. Dem entspricht die Opposition »heilig« – »profan«: Alle auftretenden Tiere sowie der Baum haben Götter, deren Ratschluss wohl unzugänglich und im Zweifel grausam ist. Allein, die Stadt hat nichts als Fäule, Verkehrslärm und Kettensägen. Der Fürst schließlich entkommt der implizit böswilligen Straßenbahn durch das Schlagen des Kreuzes; der letzte Vers des Albums lautet: »Und die Straßenbahn schaute ihm still hinterher.« 43 Zwei weitere leitmotivisch wiederkehrende Dichotomien sind das bereits angeklungene »heiß« – »kalt« sowie »männlich« – »weiblich«. Wie die vorher genannten sind sie normativ uneindeutig und nicht aneinander gebunden, eher alles durchziehende Prinzipien. So empfindet im Lied der brennenden Taube (Píseň hořícího holuba) diese außer dem Hitzeschmerz eine frierende Kälte, klagt den gnadenlosen Taubengott an, fragt sich, ob sie nun ein Engel sei oder ein Teufel 42 | In der inoffiziellen rumänischen Folk-Szene kursierte übrigens in den 1980er Jahren der populäre Song Das tauchfeste Eichhörnchen (Veveriţa subacvatică) von Mircea Florian, der hier rumänischen Onierismus, äthiologische Motivik und Volkslegenden miteinander verband. Während die in Freiheit lebenden Vögel versteinerte Lieder singen, sich mit ihren zarten Flügeln an der Wasseroberfläche verletzen, an ihr kleben bleiben und schließlich untergehen, vertraut das Eichhörnchen der Wassertiefe, nicht der Oberfläche – aber auch Gerätschaften wie Schippe und Meißel. – D obresc u, Caius: The Phoenix that Could Not Rise: Politics and Rock Culture in Romania, 1960-1989. In: East Central Europe 38 (2011), S. 255-290, hier 279. 43 | Topol , Filip: Kněž se křižuje a tramvaj stojí [Der Fürst bekreuzigt sich und die Straßenbahn hält]. In: F ilip : Psí vojáci, S. 240: »A za ním se tiše dívala tramvaj.«
7. Antikolonialer Mythos, Pop, Punk: Die Hundesoldaten
oder ein fallender Stern. Und wiewohl holub, Taube, im Tschechischen männlich ist, wird als Personalpronomen ona, sie, verwendet – in Vorausdeutung der Frau, die später aus der Asche des Vogels erstehen wird. Sie ist die eigentlich zentrale Figur des Zyklus, damit der Geschlechterdualismus die stärkste Polarität. Sigrid Weigel sieht in ihm die verbindende Struktur des Mythos Stadt. Mauern würden Räume aufspalten, die in erster Linie mit Geschlechtlichkeit zu tun hätten: Stets bleibe das ungezähmte, naturhafte Attribut des Weiblichen außerhalb – ohne wie der männliche Heros die Spaltung durch Abenteuersuche im Chaotischen und Dämonischen ausgleichen, die widerstreitenden Teile des Ich regulierend in Einklang bringen zu können: Die Imagination von Städten als weiblich konnotierte Natur, Körper oder Bilder ist ja nur möglich dadurch, dass die Städte nicht als von weiblichen Subjekten bewohnt oder bevölkert gedacht werden. Ihren Zusammenhalt findet diese Dialektik im Blick des tätigen männlichen Subjekts, ob es nun als Planer, als Eroberer, als Flaneur oder als Autor auf den Plan tritt. 44
In der modernen Großstadt macht Weigel dasselbe Muster aus, nun nicht mehr vor und hinter der Mauer, sondern vermittelt in begrenzten Durchgängen, Passagen, die Öffentliches und Privates, Erlaubtes und Verbotenes nurmehr impliziten Grenzen unterwerfen. Die Stadt wird weiblich als Ort immerforter Penetration. Das Verhältnis der Taubenfrau zur Stadt ist komplexer als eine simple Ineinssetzung. Und doch klingt etwas Ähnliches an. Den Schreib- und Aufführungskontext der Brüder Topol vorausgesetzt ruft der »Fürst« eine doppelte Assoziation auf: den der Stadt mit Prag und der Frau mit der Fürstin und Wahrsagerin Libuše, deren Legende durch den Prager Domdekan Cosmas von Prag im 11. Jahrhundert überliefert wurde. Bei Cosmas ist Libuše die jüngste und klügste Tochter des Herrschers und Richters Krok, von ihm übernimmt sie die Herrschaft und prophezeit die Entstehung einer großen weißen Stadt um ihren Fürstensitz an der Moldau. Als sich die Männer schon bald offen gegen die Herrschaft einer Frau auflehnen, schickt die Fürstin Boten aufs Land, die den Pflüger Přemysl an den Hof bitten. Mit ihm gründet Libuše das Herrschergeschlecht der Přemysliden, das vom Ende des 9. Jahrhunderts bis 1306 über Böhmen herrschte. Seither gilt Libuše als Repräsentanz von Prag, ist dessen dominierende Chiffre. Im Song freilich kommt umgekehrt ein Fürst in die Stadt, wird einfacher Mann und nach seiner kurzen Begegnung mit der Frau wieder Fürst. Die Frau ist schön und anrührend, doch die Umarmung einerseits eisig und quasi-tödlich, 44 | Weigel , Sigrid: Zur Weiblichkeit imaginärer Städte. Eine Forschungsskizze. In: Mythos Metropole. Hg. v. Gotthard F uchs , Bernhard M oltmann u. Walter P rigge . Frankfurt am Main 1995, S. 35-45, hier 36. – Siehe auch D ies .: Weiblichkeit und Stadt. Zur Überkreuzung zweier Diskurse. In: D ies .: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 180-204.
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andererseits vertreibt sie die innere Leere des Fürsten. Oder der Fürst ist analog zu ihrer Phönix-Geschichte ein Auferstandener. Dann ergäbe sich aus seiner »Infektion« mit der Wärme ein spiegelnder Zirkel. Allemal ruft diese Lesart eine weitere Tradition auf, den im Falle Prags besonders intensiv ausgearbeiteten Topos der Stadt als Geliebter. Zumal die Surrealisten haben dieses Sujet geplagt, und unter ihnen namentlich Vítezslav Nezval. In dessen Gedichtsammlung Prag mit den Fingern des Regens (Praha s prsty deště) tritt 1936 das lyrische Ich als fremder Eroberer auf, der sich aus verschiedenen Perspektiven der Stadt nähert, um am Ende zu resümieren: […] Erinnert euch an mich Dass ich lebte und durch Prag spazierte Dass ich Prag zu lieben lernte wie ich es noch nie geliebt hatte Dass ich lernte die Stadt zu lieben als Freundin und als Fremde Dass ich lernte sie zu lieben mit dem freien Herzen eines freien Mannes freier Träume und Sehnsüchte Dass ich lernte sie zu lieben als ein Wesen dem die Zukunft gehört Dass ich lernte sie zu lieben, wie sie bisher noch niemand geliebt hatte Als ihr Sohn und als Fremder. 45
Ein Aufgehen in der Stadt und in vielen Rollen und Aggregaten der Liebe zu ihr: Anja Tippner beschreibt diesen Vorgang als »psychische Transgression«, die im Raum erlaufen werden müsse, den Raum über die Bewegung des Flaneurs allererst entstehen lasse. 46 Dieser bei Nezval schillernd auserzählte Prozess ist in Brennende Tauben auf ein Minimum reduziert, letztlich auf die Stationenmarker der einzelnen Songtitel: Der Mann betritt die Stadt – Der Mann durchquert die Stadt – Der Mann sieht – Der Mann wendet sich um und sieht die Frau – Der Mann geht zu ihr. Angesichts des etablierten Musters kann Filip Topol auf mnemotechnische Enumerationen ebenso verzichten wie auf explizite Spezifizierungen des urbanen Raums und sich auf seine Reinterpretation der fatalen Attraktion konzentrieren. 45 | N ezval , Vítězslav: Praha s prsty deště [Prag mit den Fingern des Regens]. In: D ers .: Básně II. Brno 2012, S. 273-275, hier 274-275: »Vzpomeňte si na mě / Že jsem žil a že jsem chodil po Praze / Že jsem se ji učil milovat jinak než se dosud milovalo / Že jsem se ji učil milovat jako přítelkyni jako cizinku / Že jsem se ji učil milovat svobodným srdcem svobodného muže svobodných snů a tužeb / Že jsem se ji učil milovat jak bytost které patří budoucnost / Že jsem se ji učil milovat jak ji dosud nikdo nemiloval / Jak její syn a cizinec / […].« – Ausführlicher zu Nezvals Prag-Dichtung auch Vojvodík, Josef: Imagines Corporis. Tělo v české moderně a avantgardě [Der Körper in der tschechischen Moderne und Avantgarde]. Brno 2006, S. 340-348. 46 | Tippner, Anja: Prag als »magische Metropole Europas«. Zum Pragtext bei Nezval und Král. In: D ies .: Die permanente Avantgarde? Surrealismus in Prag. Köln-Weimar-Wien 2009, S. 151-169, hier 161.
7. Antikolonialer Mythos, Pop, Punk: Die Hundesoldaten
Tippner bemerkt in ihren Überlegungen zur surrealistischen Prag-Dichtung zudem deren ephemere Poetik des Alltags, die ambivalenten Bewegungsmuster und dezentralisierten Perspektiven, und stellt gleichwohl fest, die Grenzen Prags ließen sich »bei aller Dezentriertheit auch in den Texten der Surrealisten immer noch vom Hradschin aus überblicken«. 47 Ähnlich dezentriert Topol sein Personal, das sich indes gleichermaßen von einer mythischen Zentrale aus »überblicken« lässt, nämlich von der Frau her – oder, wenn man so will, vom Vyschehrad aus, dem Sitz der legendären Fürstin Libuše, dem vorhistorischen Zentrum. An die pagane Frühzeit erinnern auch die Götter des Baums und der Tiere, das Eichhörnchen als Orakeltier aus dem nordischen Volksglauben. Selbst der kreuzschlagende Fürst wirkt in diesem Kontext wie von vorzivilisatorischer Frömmigkeit. Die Taube als Symbol des Heiligen Geists steht zugleich als antikes Symboltier für Liebe, Eintracht und Unschuld. So taucht in der Apokalypse der modernen Stadt abermals ihr untergegangenes Besseres auf, vergleichbar der Imagination des präkolumbianischen Tenochtitlan. Ganz gemäß der Tradition femme fatale und quasi-koloniales Opfer – in Gender-Fragen zeigen Underground-Ästhetiken sich meist ignorant bis zur Stumpfheit. Auf die männliche Berührung hin verblasst und vereist sie, gibt aber das verzehrende Feuer weiter. Indes bleibt die Figur so erratisch und vieldeutig, eine multiple oder absolute Trope wie der Text insgesamt. Distanziert und wissend endet er mit dem Blick der angehaltenen Straßenbahn auf den in Liebe zu Prag entbrannten Fürsten. Ist er erlöst? Oder verdammt? Kathryn Milun attestiert auch den nationalistischen Zügen im Spiel der Rasenden Leichenbeschauer während der 1980er Jahre dissidentisches Potenzial, denn »they remind audiences that it is the animist and not the christian heritage which is more ›deeply‹ Hungarian«. 48 Seither hat Atilla Grandpierre von den Rasenden Leichenbeschauern Abschied genommen, und seine späteren Bandprojekte lassen sich als esoterischer (ungarischer) Ethno-Rock-Folk beschreiben, bei dem der nationalaffirmative den kritischen Impuls überwiegt. Gekoppelt mit einer gewissen Kommerzialisierung, 49 ist die Underground-Qualität beider nach der Wende weitgehend erodiert. Ähnlich, wenn auch deutlich komplexer und ästhetisch avancierter scheint es sich mit den Hundesoldaten zu verhalten. Sowohl Städte als auch Brennende Tau47 | Ebd., S. 169. 48 | M ilun: Rock Music and National Identity in Hungary, S. 22-23. 49 | Sich auf Alexander Pehlemanns Beobachtungen stützend fragt Wolfgang Müller: »Verwandelt sich das, was mit provokantem Künstlerschamanentum einst den real existierenden sozialistischen Beelzebub austreiben wollte, in der frustrierenden Realität des gnadenlosen Hardcore-Kapitalismus in eine ungarisch-nationalistische Version der Wilden Jagd? Verwirrte Männerbünde? Ab wann verliert das Spiel mit Zeichen und Symbolen seine Verspieltheit?« – M üller : Subkultur Westberlin, S. 87.
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ben sind hochgradig artifizielle, entschieden mythopoetische Stadtliteratur. Ihre Negativoptiken nutzen oder implizieren emblematisch-legendäre, dabei populär klischierte Mythenfiguren und Ortsmarker. Sie schaffen mit dem Material aber subjektiv signifizierte Binnen-Topografien, die überzeitlich funktionieren und stark eschatologisch aufgeladen sind. Doch während sich Städte in eine globale gegenkulturelle Motiv- und Klangwelt einschreibt, operiert Brennende Tauben mit nationalen, zumindest lokalen Mythologemen und einer hermetischen Lyrik. Polarität und Wechselwirkung (heilig-profan, heiß-kalt, männlich-weiblich) stehen im Vordergrund, während die vertikalen Bilder Eichhörnchen und Baum, Absturz der Tauben, Emporwachsen der Frau keine dominante oder definierende Rolle spielen. Versatzstücke des Underground bleiben erhalten, namentlich der urbane so anziehende wie abstoßende Schreckensraum. Doch die Apokalypse dient kaum mehr der (erkennbaren) Deutung einer sozialen Realität, der Mythos nicht zur Überhöhung eines wie fundamental auch immer gelagerten Protests. Vielmehr sind beide losgelöst von historischen Referenten, absolut und damit überzeitlich mystisch, dienen einer »reinen« – auch bereinigten – Ästhetik, die das Subjekt-Objekt-Dilemma durch Verschlingung der Pole je nach Geschmack überwindet oder negiert: Das Skandalon der Moderne verschwindet im ewigen Schmerzensspiel der Poesis. Der Underground, hat Jáchym Topol denn auch 1994 postuliert, sei mit dem autoritären Staatssozialismus an sein natürliches Ende gekommen und seither ein allenfalls noch in den Diktaturen Asiens erwartbares Verfahren.50 Dass das in doppelter Hinsicht, nämlich diachron und synchron, Epochenscheide und Systeme übergreifend nicht zutrifft, mithin auch Milun zu widersprechen wäre, ist die Kernthese dieses Buchs. Einer ihrer Gewährsleute ist Jáchym Topol, der Romancier.
50 | Topol , Jáchym: Slalom mezi idejemi. Rozhovor se spisovatelem Jáchymem Topolem [Slalom zwischen den Ideen. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Jáchym Topol]. In: Respekt 25 (1994), S. 10.
8. Zigeuner und Vietnamesen in Prag
Jáchym Topol nimmt Abschied von der Tripolis Praga
Stand wieder da an der Kreuzung. An einer der gewöhnlichsten, einer von denen, die die Zivilisation übers Blaupapier setzt, Straßenbahnen, Omnibusse, Autos, Muttis, Penner, Massen aus der U-Bahn raus und Massen in die U-Bahn rein, Saufbrüder und plärrendes Gezäppel, Alteingesessene, Zigeuner, Schlitzaugen, Bettler und Spitzel, Kinderwagen mit nagelneuen Teilnehmern, Smog.1 Jáchym Topo l
Das ist das Prag Jateks, Held des Romans Engel Exit (Anděl) von Jáchym Topol: Vom einstigen tschechisch-jüdisch-deutschen Stadtmythos Prag ist Mitte der 1990er Jahre wenig geblieben. Entstanden ist ein postsozialistisches Durcheinander der Physiognomien und Rollen, darunter die von Maschinen und »Alteingesessenen« nicht weiter abgesetzten »Schlitzaugen« der Laoten und Vietnamesen, schließlich die Zigeuner – allesamt »Fußvölker der Globalisierung«.2 Topol liefert mit dieser multiprovenienten Melange aber mehr als einen zeitgemäßen Reflex auf Globalisierungsphänomene. Seine Prag-Romane Die Schwester (Sestra) von 1994 und Engel Exit von 1995 vereinnahmen Diversität, um vielmehr den Underground zu erzählen. Entworfen wird eine divided city, die zur Idealstadt des Underground wird, indem sie »reich«, »etabliert«, »offiziell« nur noch als Kontrastebenen braucht, eben weil das under einen ground voraussetzt. 1 | Topol , Jáchym: Engel Exit. Aus dem Tschechischen v. Peter S acher . Berlin 1997, S. 97. – D ers .: Anděl. Praha 1995, S. 68: »Zas stál na křižovatce. Tý nejobyčejnější, tý, co ji civilizace sází přes kopírák, tramvaje, autobusy, auta, mámy a pobudové, davy z metra ven a davy zase sem, ochmelkové i pokřikující drobotina, starousedlíci, cigoši, žluťasové, žebráci i fízláci, kočárky s úplně novejma účastníkama, smog.« 2 | S chmidt-H äuer, Christian: Ei äm Kanake! Und juh! Ein großer, wilder, phantastischer Schriftsteller: Jáchym Topol aus Prag. In: Die Zeit v. 18.02.1999, S. 43.
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Es geht also um die soziokulturelle Entropie des Stadtraums nach der Wende, um eine entmystifizierende Sicht auf Prag – im Gegensatz zum verklärenden Rückblick auf die Tripolis Praga mit ihrem Erinnerungspotenzial, wie es dem dominanten Trend entspräche, das vergangene multikulturelle Erbe der mitteleuropäischen Städte wieder aufleben zu lassen – und sei es nur in der Literatur.
P r ag als lieux communs de la multiculturalité Zur »Textstadt« Prag gehören im 20. Jahrhundert mindestens drei Topoi. Da gibt es erstens das einstige Tripolis Praga, die Dreivölkerstadt der Deutschen, Juden und Tschechen. Zweitens den slawischen Topos von der »Goldenen Stadt« (Zlatá Praha), einer Stadt, die unter den Händen seiner tschechischen Bewohner gedeiht und erblüht. Und es gibt drittens den Topos vom »Magischen Prag« (Magická Praha), dessen Architektur und Geschichte mit Kaiser Rudolf II. verbunden ist, mit seinen Astronomen, seinen Liebhabereien der Alchemie und des Manierismus. Um die Jahrhundertwende wollten sich die deutsche, tschechische und jüdische Kultur gleichermaßen in den Stadttext einschreiben, nicht zuletzt um Deutungshoheit zu erlangen, zielte doch die Idee der Dreivölkerstadt darauf, die deutsch-tschechische Binarität aufzubrechen, die Juden als gleichberechtigtes Volk zu integrieren. Für die Schriftsteller dieser Zeit wurde Prag damit zur mannigfachen Projektionsfläche. Den meisten deutschen und jüdischen war es ein Ghetto, eine Sprachinsel, ein Treibhaus und sie ängstigendes Labyrinth, den tschechischen hingegen lebendige Hauptstadt.3 Die Literatur von Max Brod, Viktor Dyk, Jaroslav Hašek, Franz Kafka, Egon Erwin Kisch, Gustav Meyrink, Franz Werfel ist es denn auch, die den Topos vom multikulturellen Prag bis heute ausmacht – ungeachtet dessen, wie viel die drei Bevölkerungsteile wirklich miteinander zu tun hatten und wie inszeniert die kulturelle, nationale oder sprachliche Differenz letztlich war. 4 An Bildern der goldenen, magischen oder mütterlichen Stadt strickten sie alle, auch noch die Schriftsteller des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Angelo Maria
3 | Weiterführend zum zeitlichen Kontext V lček , Tomáš: Praha 1900. Studie k dějinám kultury a umění Prahy v letech 1890-1914 [Prag 1900. Studie zur Kultur- und Kunstgeschichte Prags in den Jahren 1890-1914]. Praha 1986. – S chmitz , Walter/U dolph, Ludger: Tripolis Praga. Die Prager Moderne um 1900. Dresden 2001. – F ritz , Susanne: Die Entstehung des »Prager Textes«. Prager deutschsprachige Literatur von 1895-1934. Dresden 2005. 4 | Siehe dazu C olombi, Matteo/Ř ezníková , Lenka: Tripolis Praga. Mýty kulturní plurality [Tripolis Praga. Mythen kultureller Pluralität]. In: Evropské město. Identita, symbol, mýtus. Hg. v. Blanka S oukupová , Hedvika N ovotná , Zuzana J urková u. Andrzej S tawarz . Bratislava 2010, S. 64-80.
8. Zigeuner und Vietnamesen in Prag: Jáchym Topol
Ripellino etwa oder Claudio Magris.5 Ihre Hommagen stehen für die in der Literatur überdeterminierte Stadtlandschaft, die auf das Kuriose und Heimelige im Magischen, Mystischen und Morbiden abonniert ist. Zumal das Narrativ von der Dreivölkerstadt Prag zu einem locus communis wurde – einem literarischen Topos und tradierten Element der Rede. Der Tripolis-Topos scheint zu Prag zu gehören wie die Prager Burg, die Karlsbrücke und der Wenzelsplatz. Der in ihm mitschwingende Gedanke einer symbiotischen, friedlichen und künstlerisch über die Maßen produktiven Dreivölkerstadt hat freilich wenig mit der realen Situation jener Zeit gemein. Der Topos findet in vielen Kontexten seine Anwendung, funktioniert als verdichtetes Bild, aber auch als ambivalente Erzählung. In seiner Aktualisierung oder Wiederbelebung nach der Samtenen Revolution schwingt jedoch mehr mit: nämlich das verborgene Ideal einer reinen Monokultur, geteilt allerdings durch drei (und damit insgeheim multipliziert). Übersetzt heißt das, die Rede von der Multikulturalität Prags funktioniert wie ein Erzählstrang, für den es unerheblich ist, wer hier wie und mit wem friedlich oder weniger friedlich zusammenlebte. Im Topos der Tripolis Praga geht es um eine behauptete Multikulturalität, die das Ideal einer Monokultur noch überhöht, als sie sich auf das Deutsche, Jüdische und Tschechische als Einzelnes und Einheit zugleich berufen kann. Indem der Topos also das multi wieder zum mono macht, potenziert er sich.
Topols W endung der K onvention im R oman E ngel E xit Topol aktualisiert Prag als locus communis, indem er die Konvention in eine andere Richtung wendet und die Tripolis zur einer global city des und für den Underground macht. Damit stellt er Prag in ein anderes Licht als zeitnah erschienene Werke von Michal Ajvaz, Daniela Hodrová und Miloš Urban, die – zumal in postmoderner Form – tradierte Stadtzuschreibungen zumindest nicht fundamental verwerfen, obwohl sie alle eine Bewegung weg vom Zentrum vornehmen und im Peripheren eine »monströse (Re-)Mythisierung des Alltags«6 ausmachen. Daniela Hodrová entfernt sich am weitesten, indem sie sich nach Žižkov und Vinohrady orientiert, bodenständige Arbeiterviertel, die, so Eduard Schreiber, »näher an Trauer, näher an Leid, näher an Plagen« sind, »weniger Glanz, weniger Gold,
5 | In Auswahl: R ipellino, Angelo Maria: Praga Magica. Torino 1973. – M agris , Claudio: Prag als Oxymoron. In: Neohelicon 7 (1979/80), S. 11-65. – Auch D emetz , Peter: Die Legende vom magischen Prag. In: Böhmische Sonne, mährischer Mond. Essays und Erinnerungen. Wien 1996, S. 143-167. – D ers .: Prag in Schwarz und Gold. Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt. München-Zürich 1998. 6 | K ratochvil , Alexander: Fastfood und Speed? Beobachtungen zur Popliteratur. In: Ost-West-Gegeninformation 3 (2006), S. 11-14, hier 13.
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weniger Magisches« haben.7 Insofern entzaubert auch Hodrová das Klischee vom »Magischen Prag«.8 In Topols Werk finden sich – wenn überhaupt – nur wenige Sedimente und Konnotationen des deutsch-jüdisch-tschechischen Prag. Topol tauscht in Die Schwester und Engel Exit nicht nur die Akteursgruppen aus, sondern verschiebt mit seinen Akteuren zugleich Wertungen: von der schriftsprachlich geprägten, elitären Prager Moderne geht es über den Slang der Gosse zu den Sprechern einer postbabylonischen »Kanak-Sprache« (sowohl inhaltlich als auch politisch). Dreh- und Angelpunkt seines Romans Engel Exit ist eine Kreuzung im Prager Stadtviertel Smíchov mit dem Namen »Anděl«, der im Deutschen »Engel« bedeutet. Früher stand hier die Apotheke »Zum Engel«, die für die Kreuzung namengebend gewesen sein soll. Smíchov gehört zu Prag V und ist ein einstiger Industrievorort, gelegen auf der linken Moldau-Seite. Vor dem 19. Jahrhundert noch voller Gärten und Villen, war die Gegend zur Jahrhundertwende triste Fabriklandschaft. Später, zu sozialistischen Zeiten, wurde unter der Straßenbahn die Metro verlegt; die U-Bahn-Station erhielt den Namen »Moskovská«.9 Vor einigen Jahren entstanden Büro- und Einkaufskomplexe rund um den Anděl-Platz, das so genannte Smíchov Gate, weshalb das Viertel heute auch als »Westend« Prags bezeichnet wird. Zurück zu Topols Roman. Obzwar ein Drogenroman, ist er weit entfernt von der Provokation, die ein William S. Burroughs in Naked Lunch (1959) auf bot, oder der Wut in Allen Ginsbergs Howl (1955). Der Underground ließ sich ohne Zweifel von der amerikanischen Beat Generation inspirieren, ebenso strukturell nahe dürften ihm aber später auch Werke einer anderen Drogenära gewesen sein, einer vom Punk inspirierten, popkulturell umgesetzten: Trainspotting (1993) von Irvine Welsh zum Beispiel. Wenn man so will, ist Engel Exit auch ein Wendestück, ein Kreuzungs- und Schwellenroman, der zur Umschwungszeit spielt. Jatek, ein ehemaliger Dissident und Künstler versucht nach Drogenentzug und Psychiatrie wieder auf die Beine zu kommen und mit seiner Freundin Ljuba ein »normales« Leben zu führen. Das gelingt ihm nicht. Mit der Geliebten Věra landet er irgendwann im Rausch in 7 | S chreiber, Eduard: Die Suche nach dem Muff. Jenseits des magischen Prag. Bücher von Daniela Hodrová und Peter Demetz über eine europäische Stadt. In: Der Freitag v. 06.07.2001, S. 16. 8 | In Auswahl: Druhé město (1993, Die andere Stadt) von Ajvaz, die Prager Kriminalromane von Urban, darunter Sedmikostelí (1999, Die Rache der Baumeister, dt. 2001), Stín katedrály (2003, Im Dunkel der Kathedrale, dt. 2008) und Lord Mord (2008, Mord in der Josefstadt, dt. 2010). – Die schon im Samizdat verfasste Trilogie Città dolente von Hodrová spielt ebenfalls mit Prags ehemaligem Bewohnergemisch: Podobojí (1991, Das Wolschaner Reich, dt. 1993), Kukly (1991, Im Reich der Lüfte, dt. 1994) und Théta (1991, Theta, dt. 1998). 9 | B öh m, Fritz: 6 mal Prag. München-Zürich 1990, S. 199-202.
8. Zigeuner und Vietnamesen in Prag: Jáchym Topol
Paris, wird dort zum Entdecker einer Wunderdroge, die auf seinem Blut basiert – und darüber wieder in das Drogengeschäft eingebunden. Flankiert werden die narrativen Versatzstücke von der Geschichte um Nadja, einem Mädchen, das bei Zieheltern lebt, von denen sie geschlagen und missbraucht wird. In das Ganze sind Jateks Visionen von und an der Kreuzung Anděl eingebunden, seine Halluzinationen von einem Prag in Flammen, von unterirdischen Schlünden und Welten. Wenn Topol in Engel Exit Stadtlandschaften beschreibt, dann surren die Neonlichter, kreischen Schleifmaschinen und Kreissägen, rumpeln Straßenbahnen, knarren Drähte im Wind, gurgelt es aus Rohren, schrillen Sirenen. Und mittendrin im Geräuschpool der Stadt findet die deutsch-jüdisch-tschechische Vergangenheit Prags marginale Erwähnung: Vor der Synagoge roch es nach Pisse. Seit dem Krieg pisst hier schon die x-wievielte Generation. Im Laubengang aufs verrammelte Haupttor. Dort hängen Mitteilungen aus, er folgte den Buchstaben und erfuhr, dass: der Perun Club weibliche Mitglieder suchte, der Verein für ein schöneres und strahlenderes Prag irgend etwas baute und der Boxverband Tatra Smíchov sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. […] Er hob lieber den Kopf. Er wusste, dass er über der ganzen schillernden, amöbenartigen Kulisse, sagen wir mal: des Alltags, eine hebräisch und tschechisch gemeißelte Inschrift sehn würde: »Friede und Heil dem Fernen und dem Nahen.« Von wegen. Von wegen, dachte Jatek bei sich.10
Die Inschrift an der Synagoge schlägt den Bogen zum Anfang des Buchs, der Schilderung einer Christmette, zu der die gemischte Bevölkerung Smíchvos strömt, und zu seinem Motto, einem Psalm über die Entlassung in die Freiheit.11 Mit der Beschreibung des Bauwerks rekurriert Topol auf die einstige jüdische Bevölkerung Prags und deren verfallendes Erbe. Sein Prag funktioniert an dieser Stelle wie ein Palimpsest oder besser: wie eine Litfaßsäule. Über das Vergangene, die Synagoge, werden neue Schichten geklebt. Zettel, Plakate, Aufrufe künden von anderen Zeiten und Bewohnern, von sozialer, kultureller, politischer Umschichtung, ohne dass das Darunterliegende gänzlich verschwinden würde. Geschlossene und verrottende Gebäude wie die Synagoge stehen ja noch eine Zeit
10 | Topol : Engel Exit, S. 158-159. – Topol : Anděl, S. 109: »U synagogy cítil moč. Od války tu chčije už kolikátá generace opilců. V podloubí na zatlučený hlavní dveře. Jsou tu vývěsky, sledoval písmena, aby se dozvěděl: Klub Perun přijímá členky, spolek Za Prahu krásnější a jasnější buduje a Boxerská jednota Tatry Smíchov je v naprostým klidu. […] Radši zdvihl hlavu. Věděl, že nad vší touhle měňavou amébovitou kulisou, řekněme všedního dne, uvidí hebrejsky i česky vytesaný nápis: ›Mír a zdar dalekému i blízkému‹. To určitě. To určitě, pomyslel si Jatek.« 11 | Psalm 124.7: Unsre Seele ist entronnen wie ein Vogel / dem Netze des Vogelfängers; / das Netz ist zerrissen, / und wir sind frei.
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im Raum, tragen die Spur historischer Erinnerung, auch wenn sie den meisten Passanten nur noch als öffentliche Entleerungsanstalt dienen. Topols Figur zeigt hier zwar Erinnerungshilfen im Kleinen auf, verwehrt sich aber per radikaler Gegenwart jedem Kleister. Die synchronen und diachronen Risse, Antagonismen und Völkermorde bleiben unhintergehbar. Jatek hält den Blick auf die historische Schichtung im Gedächtnis der Stadtbewohner präsent, indem er die sentimentalen Memoria beerdigt. Die Betrachtung des Bauwerks leitet zum Prager Viertel Smíchov im Roman über. Schon was das Wort selbst bedeutet, darüber sind die Meinungen geteilt: Etymologisch gesehen kann es sich auf smíchaný (gemischt) beziehen, aber auch von smát se (lachen) abgeleitet worden sein, so zumindest eine der Legenden. Topol entscheidet sich für folgende Version: Der Spirituosenschmuggler Klestka habe die Smíchover einst mit Spiegeln beschenkt. An dem Morgen sei das Viertel in Gelächter ausgebrochen und der Name Lachstedt geboren worden. Diese Sensation aber habe eine ältere abgelöst, nämlich die exotischen Rituale der Košířer oder Kober Zigeuner, Nachfahren aus Indien und mit den Smíchovern über Kreuz. Später dann habe sich das nächste Volk den Alteingesessenen zugesellt: polnische Chassiden, deren Rabbiner über der Kreuzung einen schwebenden Engel gesehen haben wollen.12 Smíchov erweist sich in diesem Roman als ein über viele Seiten gespannter Ort der Überlappung von Konfessionen, Sprachen, Kulturen und Zeiten. Nicht nur blendet Topol Topoi ineinander, um dadurch ihren Gehalt zu relativieren, sondern der Zuschreibungsgehalt selbst wird immer wieder als unzuverlässig aufgelöst. Der Eindruck, hier schindet jemand überkommene Referenzen, schwindet mit Topols Schilderung der Prager Bewohner. Smíchovs aktuelle Bewohner und diejenigen Prags werden in allen Facetten ihres Scheiterns vorgeführt. In ihrer Gestalt spiegelt sich die Masse der Ausgeworfenen. Sie sind nach der Wende zu Außenseitern geworden: Verlierer, Drogenabhängige, Obdachlose, Dealer, Nutten, Sektenanhänger und zwielichtige Wendegewinnler: »Für jeden von ihnen war eine Welt untergegangen, jeder musste sich eine neue erschaffen, anderswo. Und der Underground in seinen klassischen Kulissen kehrte zu einem seiner ältesten Brennpunkte zurück; er wurde zur Unterwelt.«13 Genau genommen gibt es in Engel Exit den plötzlichen Wandel nicht, jedenfalls nicht für alle. Wenn Jatek die letzten Jahre im spätsozialistischen Prag skizziert, wird eines deutlich: Korruptheit, Brutalität, Widerwärtiges, all das ist nicht 12 | Zu diesem Aspekt Josef Vohryzek, der die Kreuzung auch als »Sodom« bezeichnet. – Vohryzek , Josef: Topolova křižovatka. Archetypální vzorce na dlažbě u Anděla [Topols Kreuzung. Archetypische Muster auf dem Pflaster vom Engel]. In: Otevřený rány. Vybrané studie o díle Jáchyma Topola. Hg. v. Ivo Ř íha . Praha 2013, S. 164-166, hier 165. 13 | Topol : Engel Exit, S. 111. – Topol : Anděl, S. 77: »A underground se ve svých klasických kulisách vrátil k jednomu ze svých nejstarších ohnisek; stal se podsvětím.«
8. Zigeuner und Vietnamesen in Prag: Jáchym Topol
wendespezifisch, sondern gab es zuvor in eben dieser Form. Polizisten, vor denen man auf der Hut zu sein hatte; Arbeiter, die ganz und gar nicht sozialistischen Heldenerzählungen glichen; halb zerfallende Mietskasernen; prügelnde Nachbarn; die Paranoia, für einen Spitzel gehalten zu werden; die Trips in den Tunnel, um den wiederkehrenden Visionen vom Schlund am Engelsplatz zu entkommen. Die aktuellen Stadtbewohner sind im Grunde keinen neuen, sie werden allenfalls sichtbarer, führen die sozialkulturelle Zerklüftung der Stadt vor Augen, machen aus Prag eine klassische divided city: »Auf dem Berg war Schnee, in der Stadt war Matsch. Unten an der Kreuzung wimmelte es von Huren und Zuhältern, Sittichen, Fixern und Menschenschindern, es wimmelte dort von dem Zeugs wie von Insekten in ’ner frischen Wunde.«14 Die Spaltung in oben und unten, den reinen Berg und die dreckigen Straßen spitzt der Roman konsequent topografisch durch das Motiv des Schlunds zu: einem Motiv, das auch für das postsozialistische Moskau Jurij Andruchovyčs oder das Warschau Andrzej Stasiuks eine Rolle spielt. Irgendwie war er da hingekommen. Stand wieder an der Kreuzung Engel EXIT, sah jetzt auch den Schlund, da verschwanden Menschen. […] Beobachtete das Blut, es fiel von den Wolken. Stand da und sah die Menschen, sie verschwanden im Schlund. […] Sah den roten Himmel und blickte um sich. Nahm sich von den Menschen, was ihm diese boten, und in dem Schmerz war ’ne Menge Schiss und Dreck. Ging zum Schlund zurück und hing an der Kreuzung rum. Und der Himmel war rot. Er wusste, dass er’s in sich finden musste … irgendwas, irgendwo im Grund, tief in der Tiefe, die genauso gähnte wie der klaffende Schlund. Griff in sich hinein, nach innen, und wich vor dem Druck der ganzen Straßen, der Menschen zurück.15
Es liegt nahe, den Schlund am Engel als Eingang zur Metro zu identifizieren. Und ebenso, das Bild auf den Roman als Ganzes zu beziehen, von dem sich Jatek am Ende des Buchs lösen wird. Für Martin Putna ist die Bewegung nach unten ein Charakteristikum des topolschen Werks insgesamt. Topols Treppe, so Putna, führe beständig »nach unten, von der Gruppe, die verdächtige Millionengeschäfte tätigt, über die Quasi-Boheme der Untergrund-Halunken bis hin zum Bahnhofs14 | Topol : Engel Exit, S. 117. – Topol : Anděl, S. 81: »Na kopci byl sníh, ve městě břečka. Dole na křižovatce se rojili kurvy a pasáci, úchylové, narkomani, násilníci, rojili se tam jak hmyz v čerstvé ráně.« 15 | Topol : Engel Exit. S. 82-86. – Topol : Anděl, S. 57-59: »Nějak se tam dostal. Zas stál na křižovatce Anděl Exit a teď viděl i jámu, lidé se v ní ztráceli. […] Sledoval krev, padala z oblak. Stál tam a viděl lidi, mizeli v jámě. […] Viděl rudý nebe a díval se. Bral si z lidí, co mu dávali, a bylo v tý bolesti hodně strachu a špíny. Vrátil se k jámě a lelkoval u křižovatky. A nebe bylo rudý. Věděl, že v sobě musí najít… něco, někde u dna, v hloubce zející stejně jako propast jámy. Sahal do nebe, dovnitř, a uhybal před tlakem všech těch ulic, lidí.«
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gebiet der homeless people und den Leuten von der Müllhalde«.16 Der Weg nach unten in Engel Exit ist aber auch wie einer, der mehr als bloßes soziales Abrutschen ist. Als blutrote Vision ist der Schlund für Jatek allgegenwärtig und schließt sich in dem Moment, wo er alles hinter sich lässt, den »Anfang aller Dinge« wagt.
D ie V isualisierung P r ags im U nderground -F ilm Jateks Underground-Visionen finden sich im Jahr 2000 visualisiert in der Romanverfilmung Angel Exit von Vladimír Michálek.17 Mit ihm kam die Poetik des Underground auch auf die Leinwand. Micháleks Verfilmung wird hier als eigenständiger Beitrag zur Underground-Ästhetik verstanden und in die Untersuchung zur Underground-Stadt einbezogen, zumal Topol an der Verfilmung mitwirkte. Kaum ein Film der Nachwendezeit transportierte ein Bild von Prag, das der Stadtvorstellung des Underground näher kam als Micháleks Romanumsetzung. Der Film ist ein umstrittenes Werk der Velvet Generation geworden, gerade weil er den »normalen« Kinogänger mit seinem verstörenden Prag-Bild nicht überzeugen konnte.18 Michálek hat Topols Drogenroman mit Hilfe einer Digitalkamera wie einen Trip realisiert. Ihm gelang damit eine kongeniale Umsetzung des assoziativen Sprachflusses von Topol, der als eine Mischung aus Slang, Vulgarismen und Poesie daherkommt. Die städtischen Konturen sind im Film verwischt. Der halluzinatorische Bilderstrom zeigt so gut wie keine topografische Markierung von Prag. Mit seinem zweiminütigen Vorspann zerbricht der Film als erstes die romantischen Vorstellungen, die sich mit Prag als »goldener Stadt«, als »Mütterchen«, als Tripolis oder Ort der Magie verbinden. Er ist ein Clip aus Bildfolgen, Stimmen, Musikfetzen und Geräuschen. Der Rhythmus der schnellen Schnitte wird akustisch gesteuert, vor allem über die Sirene eines Krankenwagens oder das Geräusch der Straßenbahn. Vladimír Michálek überlagert in seinem filmischen Prolog weihnachtlichen Kitsch, globalen Kommerz und blutiges Schlachten: In Großaufnahmen reduziert die Kamera den Blick sekundenschnell auf einen ster16 | P utna , Martin C.: Jáchym Topol a Martin Komárek: Hněv nad světem nedovykoupeným [Jáchym Topol und Martin Komárek: Zorn über die unerlöste Welt]. In: D ers .: My poslední křesťané. Hněvivé eseje a vlídné kritiky. Praha 1994, S. 209-217, hier 210. 17 | Der Roman Die Schwester wurde 2008 von Vít Pancíř ebenfalls unter Mithilfe von Jáchym Topol verfilmt. 18 | Velvet Generation beziehungsweise sametová generace ist ein Sammelbegriff, der das tschechische Filmschaffen der Jahrzehnte nach 1989 umfasst. Es meint weniger eine Gruppierung denn ein zeitliches Phänomen. So gibt es weder ein gemeinsames Programm noch eine verbindende Ästhetik. Auch deshalb finden sich so unterschiedliche Regisseure unter dem Begriff vereint wie etwa Saša Gedeon, Jan Hřebejk, Vladimír Morávek, Bohdan Sláma, Jan Svěrák – oder eben auch Michálek.
8. Zigeuner und Vietnamesen in Prag: Jáchym Topol
benden Weihnachtskarpfen, auf sein nach Luft schnappendes Maul, den Hund, der die Reste des Karpfens auf der Straße frisst, einen Krankenwagen mit Blaulicht, vorbeihastende Menschen. Immer wieder kommen ähnliche Details in den Blick, bis sich der Fokus von der vorweihnachtlichen Hektik auf den langsamen Tod des Objekts, das ruhige Ersticken des Karpfens verschiebt. In der Bildmontage werden Fischblut, ein Plastikweihnachtsmann zwischen Palmen und das abendliche Rot über Prag leitmotivisch verbunden. Wie Bildeinstellungen montiert sind, kann dem Filmzuschauer räumliche Kohärenzbildung erleichtern oder erschweren.19 In Angel Exit wird die Raumerfahrung des Zuschauers eindeutig verhindert. Erstens fehlen tradierte Symbole von Prag: der Hradschin, die Moldau, die Karlsbrücke, die Kleinseite, der Wenzelsplatz. Der Ort bleibt damit anfangs im Dunkeln. Zweitens wird der chronologische Handlungsablauf durch die harten Schnitte ständig unterbrochen. Drittens gibt es keine sukzessiven Übergänge zwischen den Einstellungen, was die Sequenzialität verstärkt. Viertens muss der Zuschauer einer beweglichen Kamera folgen, die den Raum ununterbrochen schwenkend und zoomend durchstreift. Und nicht nur das, die Schwenks sind Reißschwenks, das heißt sie zeichnen sich durch eine hohe Geschwindigkeit aus. Fünftens zerstört das Tonrepertoire von Straßenlärm, Weihnachtsmusik und Schlachtgeräuschen die Illusion eines in seiner Totalität sichtbaren Raums. Über dieses Netz von Bezügen, Korrespondenzen und Kontrasten gehen dem Zuschauer Rauminformationen verloren. Das alles bewirkt, dass aus dem vorweihnachtlichen Prag in Micháleks Film ein Konglomerat aus Details, Farben, Gesichtern, Bewegungen und Tönen wird. Michálek filmt Prag als Vorstadt der outcasts, wo man auf den Straßen abzockt und tötet beziehungsweise getötet wird. Zur friedlichen Adventszeit wollen seine Bilder jedenfalls nicht passen. Der Zuschauer kommt erst zur Ruhe, wenn der Blick auf den abendlichen, in rotes Licht getauchten Anděl-Platz freigegeben wird und die Geschichte um Mikeš (im Buch: Jatek) beginnt. Die Bilder haben wenig mit der tradierten Multikulturalität Prags zu tun. Und dennoch viel, denn der Filmclip spielt mit den Mythostrümmern der Textstadt gründlicher, als die Romanvorlage, weil er den Mythos überhaupt nicht in Betracht zieht. Vladimír Michálek schuf ein Prag mit unheimlicher Sogkraft, eine autonome Stadtansicht, die wenig mit dem »realen« postsozialistischen Prag zu tun hat, dafür umso mehr mit dem Konzept des Underground. Micháleks Prag gibt sich undurchschaubar, weil es ein Paralleluniversum vorstellt, das Leben von unten filmt. Es geht ums Überleben im Suburbanen: Viele Figuren überleben im Bauch der Stadt nämlich nicht, werden ermordet oder setzen sich den »goldenen Schuss«. Für sie steht eingangs symbolhaft der Tod des Fisches.
19 | M ahne , Nicole: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen 2007, S. 93.
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Die filmische Stadtlandschaft wird dem Überlebenskampf auf der Straße und in den Hinterhöfen angepasst. Sie erfährt in blutroten und blaugrauen Bildspektakeln eine expressionistische Färbung – und schafft eine neue Form von Magie. Morbidität und Mystik, eine Mystik des Underground. Fast möchte man meinen, der Film von Michálek transportiert diese Mystik nachhaltiger als der Text von Topol. Das liegt allerdings nicht allein in der Unterschiedlichkeit des Mediums begründet, sondern auch in einem abweichenden Schlussbild. Im Film ist das Mädchen Nadja als Zigeunermädchen besetzt; im Buch bleibt die ethnische Zuordnung des Mädchens offen. Wie die anderen Figuren ist auch Nadja eine Außenseiterin, erzogen von einer Vettel und vertraut mit heidnischen Praktiken. Nach dem Tod der Alten gelangt sie vom Land in die Stadt zu einem Prager Ehepaar, das sie misshandelt. Im Film rettet Mikeš das Mädchen Nadja und verschwindet mit ihr im Tunnel der Metrostation Anděl. Im Buch indes überlebt Nadja nicht, sondern verbrennt – und nur für Jatek schließt sich der Schlund über der Kreuzung. Mit dem Schlussbild, das die zwei zeigt, wie sie die graublaue Prager U-Bahn verschluckt, sentimentalisiert der Film das Überleben der »Richtigen«. Idealerweise bleiben in der Filmversion diejenigen über, die am wenigsten korrumpiert sind: weder sind sie etabliert genug noch stehen sie allen Regeln fern. Man mag das Ende verkitscht oder pathetisch finden, aber es erlaubt das Weiterbestehen eines »wahren« Underground neben der Prager Unterwelt.
D ie K anakisierung P r ags in D ie S chwester Topols 1994, ein Jahr vor Engel Exit, erschienener Roman Die Schwester wurde lebhaft diskutiert. Seine Sprache, die Verwendung des obecná čeština, von Slang und Argot, das Erzähltempo galten als literarische Entdeckung.20 Zugleich handelte es sich um den Wenderoman der Tschechen, um ein Werk, das historische Bestandsaufnahme und Gegenwartskritik in einem ist. Der Leser wird auf den mehr als fünfhundert Seiten eingebunden in den Bewusstseinsstrom der Hauptfigur Potok, die – wie auch der Name Jatek 21 – durch die Onomatopoetik ihres Namens auf
20 | Zur Sprache des Romans M are š, Petr: »Něma benzina, najn gazka, neni petrol.« Jazyky v románu Jáchyma Topola Sestra [»Benzin gibt’s nich, keine Sprit, Diesel is aus.« Die Sprachen in Jáchym Topols Roman Die Schwester]. In: D ers .: Nejen jazykem českým. Studie o vícejazyčnosti v literatuře. Praha 2012, S. 86-99. 21 | Der Name kann als Mischung aus JA für Jáchym, T für Topol und EK als Endung gesehen werden. Zudem ruft das Wort die Bedeutung von Schlachthaus auf: Jatka. Siehe dazu auch die Erklärung des deutschen Übersetzers in Topol : Engel Exit, S. 14.
8. Zigeuner und Vietnamesen in Prag: Jáchym Topol
den empirischen Autor zurückweist: Topol-Potok.22 Potok meint zugleich auch »Strom« beziehungsweise »Fluss«.23 Potok, ein ehemaliger Underground-Künstler, durchstreift auf der Suche nach der titelgebenden »Schwester«, einer imaginierten, immer im Vagen bleibenden Geliebten, seine Heimatstadt, das postsozialistische Prag. Er gründet dort gemeinsam mit Freunden eine Organisation, die mehr Verbrecherclan denn Freundschaftsbund ist. Die Organisation ist Jugendsekte, meint Familie und Wirtschaftsclub für eine Gruppe von ehemaligen Undergroundlern, Punks, selbsternannten Priestern, Geschäftsleuten, Städtern und Dörflern. Irgendwann muss er untertauchen, wobei ihn seine Wege einer Odyssee gleich erst über Berlin und dann immer tiefer in den Osten Europas führen, von wo er am Ende wieder in Prag landet.24 Potok mischt sich seine Prager Bevölkerung zusammen und ist doch selbst ein Gemisch. Er bietet alle Ingredienzien, um ein »wahrer« Bewohner der Tripolis zu sein: Ihm wird attestiert, er habe »gelbe slawische Flecken«, sei ein »keltischer Somnambule, germanischer Trottel, jüdischer Ganeff, verschlepptes Aids, mein Lieber, beginnende akute Grafomanie«.25 Zu den slawischen, keltischen,
22 | Zur Namensgleichheit Z an d, Gertraude: »Výbuch času« 1989. Jáchym Topol a staronový svět jeho románu Sestra [»Explosion der Zeit«. Jáchym Topol und die alte neue Welt seines Romans Die Schwester]. In: Česká literatura na konci tisíciletí. Bd. 2. Hg. v. Daniel Vojtěch . Praha 2001, S. 793-800. 23 | Rajendra Chitnis bezweifelt diese Parallele allerdings. In Übereinstimmung mit Antonín Alenka vermutet auch er hinter Jícha, einem Bekannten der Hauptfigur Potok, »a self-parodic past incarnation of Topol«. – C hitnis , Rajendra A.: Literature in PostCommunist Russia and Eastern Europe. The Russian, Czech and Slovak Fiction of the Changes, 1988-1998. London-New York 2005, S. 109-110, hier 109. 24 | Vgl. dazu A lenka , Antonín: Já jsem někdo jiný! Čili Agent Jícha potká v Potoku syna člověka [Ich ist ein Anderer! Oder Agent Jícha trifft in Potok den Menschensohn]. In: Literární noviny 29 (1994), S. 6 – Bílek , Petr A.: Topolův román... uličnický... [Topols Roman... ein Gassenhauer...]. In: Tvar 16 (1994), S. 17-18. – H řebíček , Petr: Jáchym Topol: Sestra. In: Postmodernismus v umění a literatuře. Hg. v. Vladimír N ovotný. Plzeň 2003, S. 89-97. – N ovotný, Vladimír: Postmoderní profanace apokalyptického tématu. Ruská krasavice Viktora Jerofejeva a Sestra Jáchyma Topola [Postmoderne Profanierung eines apokalyptischen Themas. Russische Schönheit von Viktor Erofeev und Die Schwester von Jáchym Topol]. In: D ers .: Mezi moderností a postmoderností. Úvahy o typologii české prózy z konce tisícileté. Praha 2002, S. 45-59. – Správcová , Božena: Nadbytečné výlety Jáchyma Topola [Die überflüssigen Ausflüge des Jáchym Topol]. In: Tvar 13 (1995), S. 21-22. – Š anda , Zdeněk: Proměna narativu Jáchyma Topola [Zum Wandel des Narrativs bei Jáchym Topol]. In: Svět literatury 26-27 (2003), S. 197-202. 25 | Topol , Jáchym: Die Schwester. Aus dem Tschechischen v. Eva P rofousová u. Beate S mandek . Berlin 1998, S. 65. – D ers .: Sestra. Brno 1994, S. 47: »[...] žlutý slovanský skvr-
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germanischen und jüdischen Wurzeln gesellt sich noch das Künstlertum, die aus dem Mix der Kulturen vorausgesetzte Kreativität. Der aus diesen Zuschreibungen extrapolierte Verdacht, Potok führe die Traditionen des »Alten Prag« quasi-biologisch in sich fort, wird sich nicht halten. Andere Indizien bestätigen, dass Potok wie ein Transkultureller im Sinne Wolfgang Welschs angelegt ist. Welsch verwirft homogenisierende und separierende Ideen von Idealkultur zugunsten einer Annahme von Kultur als Verflochtenheit. Das ist an sich nicht ungewöhnlich, nur bezieht er dies bereits auf den Einzelnen. So fange die ununterbrochene gegensätzliche Durchdringung der Kulturen nicht erst auf einer gesellschaftlichen Makroebene an. Vielmehr hätten wir schon auf der individuellen Mikroebene die transkulturelle Prägung aller Individuen und diese als »kulturelle Mischlinge« zu denken: Daher gibt es nichts schlechthin Fremdes mehr. Alles ist in innerer oder äußerer Reichweite. Und ebenso wenig gibt es noch schlechthin Eigenes. Authentiziät ist Folklore geworden, ist simulierte Eigenheit für andere, zu denen der Einheimische längst selbst gehört. 26
In Topols rotziger Diktion heißt das: Gott schicke das »abgerissene Arpad-Volk«27 in die europäischen Metropolen mit seinen Bälgern, damit die, die in den Städten leben, sehen, dass Armut stumpf macht. Zigeuner sind auch für den Erzähler die edlen Wilden der Neuzeit, »barfüßige Braunhäute«28 und »balkanougrofinnische Romawaldtypen«.29 Ihre Konkurrenten, was die Ausbreitung im städtischen Raum anbelangt, sind Asiaten, denen, glaubt man der Hauptfigur, die Zukunft gehöre. Diese ethnische Gemengelage der Stadt bezieht sämtliche Varianten von Differenz ein, spielt mit ihnen bis zur Unkenntlichkeit beziehungsweise Indifferenz. Der Roman entfaltet seitenlang ein Plädoyer für das Nomadentum, die NichtZugehörigkeit, die Un-Eindeutigkeit. Nichts ist wie es scheint, und deshalb muss auch nichts überhöht werden – keine Ethnie, keine Kultur, keine Sprache. Im Roman entpuppen sich bettelarme Rumänen aus dem Lager als portugiesische Diebe, ein bulgarischer Theologiestudent als indische Hexe, Armenier auf der ny, keltskej somnambul, germánskej trotl, židovskej ganef, přechozenej AIDS, ty frajírku, počínající surová grafománie, [...].« 26 | Welsch, Wolfgang: Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen. In: Information Philosophie 2 (1992), S. 5-20, hier 11. – Siehe auch D ers .: Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26 (2000), S. 327-351. 27 | Topol : Die Schwester, S. 607. – Topol : Sestra, S. 426: »[...] a tak lstivej Bog rozeslal do světa, do metropolí, tyhle votrhaný cigy [...].« 28 | Topol : Die Schwester, S. 607. – Topol : Sestra, S. 426: »ty bosory snědý«. 29 | Topol : Die Schwester, S. 57. – Topol : Sestra, S. 41: »[...] no, většinou to byly takový balkánskougrofinskolesní romský typy, [...].«
8. Zigeuner und Vietnamesen in Prag: Jáchym Topol
Flucht erweisen sich als verwilderte Aserbaidschaner, serbische Dissidenten als bosnische Moslems. Das Fazit der Figuren lautet: »Wir sind alle Kanaken. Die Megarasse aus dem Tunnel.«30 Indes: Chinesen, Laoten, Vietnamesen oder das Bergvolk der Homong – woher auch immer sie kommen, sie bleiben am Rand und rinnen, auf Prags Straßen gespuckt, direkt weiter in dessen Untergrund – und füttern Potoks Underground. Dort heißt er sie willkommen in seiner Organisation. Diese treibt die Durchmischung der Kulturen, die Globalisierung Prags auf zynische Weise voran: »[…] in unseren Erdgeschossen und Kellern gab es ein kleines Initiationslager für die Laoten ... und Bastardbohemia kriegte ’ne frische Dröhnung Asien in seine verkalkten Venen.«31 Der Underground funktioniert im Roman als Metarasse oder Synthetikethnos. »Wir sind alle Kanaken«, ein »Kanakenkönigreich« heißt, wir sind ein Volk, sind eines Stammes.32 Haltung wird ausgestattet mit der Dignität von Ethnos und Nation. Zugleich stattet der Text das fluide Tunnelvolk auf dem Weg der Rassenmetapher mit der Dignität von Ethnos, und darüber letztlich Nation aus. Das heißt, er macht es im Zeichensatz der Moderne satisfaktionsfähig in der Liga legitimierter Kollektive. Nationen, Imperien und Regionen teilen nicht zuletzt eine horizontale Phantasie des Raums. Topols »Megarasse aus dem Tunnel« hingegen kommt von unten – wie hier ganz allgemein vertikale Bilder und Bewegungen dominieren, etwa in der Sedimentierung lokaler Vergangenheiten, ihrer Überwucherung und Unterwanderung. David Williams führt Topols Fokussierung auf den Stamm (tribe) darauf zurück, dass der Roman zur Literatur einer europäischen Ruinenlandschaft gehöre. Deren Werke zeigten gespaltene Nachwendegesellschaften als Stammesgemeinschaften, in denen es diejenigen gibt, die es geschafft, und diejenigen, die versagt haben: »[…] Topol’s [novel] confirms the existence of a ›tribe‹ of east Europeans, to whom I have previously refered as Trümmerleute or ›people of the ruins‹.«33 Williams nun liest den topolschen Zusammenschluss der Kanaken weniger als
30 | Topol : Die Schwester, S. 292. – Topol : Sestra, S. 213: »Všichni jsme Kanaci. Megarasa z tunelu.« 31 | Topol : Die Schwester, S. 59. – Topol : Sestra, S. 43: »[…] v našich přízemích a sklepech byl malej zasvěcovací laoskej tábor… a bastardí Bohemie dostávala do zkornatělejch tepen čerstvou asijskou dávku.« 32 | Diese Form der Selbst-Kanakisierung deckt sich mit Befunden, die Dirk Uffelmann für die jüngere polnische Migrationsliteratur angestellt hat. – Uffelmann, Dirk: Selbstorientalisierung in Narrativen polnischer Migranten. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 1 (2009), S. 153-180. 33 | Williams, David: Writing Postcommunism. Towards a Literature of the East European Ruins. London 2013, S. 146.
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ethnischen Stamm, der mit einer Zunge spricht, sondern als politische Klasse, als »international underclass«.34 Topol indes schafft für die Stadt, nicht nur für Prag, ein anderes kollektives Konstrukt und mit ihm eine subkulturelle Option, keine hochkulturelle. So sind auch die »Huren ein Stamm«. Wenn aber alle Kanaken sind, dann ist egal, wer mit wem schläft, wer woher kommt und wohin geht. Einzig – und das ist die Verbindung zum Underground – die Haltung zählt, das Misstrauen gegen jegliche autorisierte, auf Eindeutigkeit pochende Äußerung. Gleichwohl, »Wir sind alle Kanaken« bezieht sich nicht eindeutig auf alle und alles, sondern auf diejenigen Bewohner der anderen Stadt, der unterirdischen, die für Touristen zum Beispiel verschlossen bleibt – und auch für den »normalen« Stadtbewohner, wer wie auch immer diesen klassifizieren mag. »Wir sind alle Kanaken« lässt sich aber auch global spannen – ohne die Marginalisierung der Wir-Gruppe aus dem Blick zu entlassen: Die bleibt im Begriff des »Kanaken« eingefangen. Im Unterschied zum Gros der Prag-Literatur leistet Jáchym Topol mit seinem Prag einen postidentitären Zusammenschluss kultureller, sprachlicher und sozialer Zerrissenheiten, der zwar auf das Prag der Nachwende ausgerichtet ist, sich aber nicht auf es beschränkt, sondern als megalomanische städtische Vision funktioniert. Eben damit entwirft er das heutige Prag als Idealstadt des Underground.35 Der Idealstadt mangelt es aber wie jedem Ideal an der Umsetzung. Die funktioniert auch hier nur im Kleinen. So zeugen die letzten Seiten des Romans von der Zunahme des Rassismus in und außerhalb Prags und von der Durchsetzung eines kategorialen Reinheitswahns, der im Völkermord – einem großen Thema des Buchs – endet: einem Progrom an den Zigeunern. Topol beschließt seine tour de force mit einem Blick auf die wendezeitlichen Verschiebungen im Stadtbild, in dem die Protagonisten des Underground sich aufs Neue behaupten müssen. Ein Blick, der auf die Glas- als Westphobie bei Andrzej Stasiuk vorausweist: Am Goldenen Kreuz waren viele wundersame Gebäude gewachsen, das heißt so viele waren es eigentlich auch wieder nicht, aber so funkelnd und verglast, wie sie waren, erweckten sie beim Fußgänger, der mit einem Schlag unter einen niedrigeren Horizont gedrückt wurde, den Eindruck von großer Zahl, […] und ich prallte ab. Das konnte ich nicht fassen, ich 34 | Ebd., S. 147. 35 | In eine andere – dystopische – Richtung geht 1997 Egon Bondys Roman Cybercomics, der 2045 in Prag spielt und einer dunkelhäutigen Heldin mit Hackerqualitäten folgt, die einem geplanten Genozid der (Welt-)Mafia auf die Spur kommt. In der sprachlichen Anlage durchaus vergleichbar, ist Bondys Prag indes durch und durch korrumpiert und wird über das Wort »Tristesse« (smutek) eingeführt: Tristesse, die von den Dächern rinnt, die Straßen überschwemmt, den Geruch Prags ausmacht, ja wie Smog den ganzen Landstrich überzieht. – B ondy, Egon: Cybercomics. Brno 1997, S. 5.
8. Zigeuner und Vietnamesen in Prag: Jáchym Topol war doch trainiert auf Flure, Mauern, Löcher und Versenkungen, […] und dann nix wie rein! Aber das zog hier nicht. Keine Garage, keine Gitterstäbe, kein Dienstboteneingang, und die Wände von dem Skyscraper waren glatt […]. 36
Dass die Einschreibung des Underground in die Stadt gegen Ende des Romans mehr als eine funktionale ist, tritt am Umgang mit der Sprache zu Tage. Topols Figuren sprechen miteinander in einer »Metasprache« oder auch »Megasprache« (megamluva), in die »verschiedene Wörter von ausgerotteten Menschen geschlechtern« integriert werden.37 Über die Sprache wiederum wird sprachheimatliche Diversität geschaffen, die außerhalb konkreter städtischer Räume liegt. Letztere sind dann nur noch Stichwortgeber, um Wörter aus den Tiefen der Erinnerung zu holen. Für Potok das Credo seines zu schreibenden Romans: Aber ich würde es auf kanakisch schreiben. Auf dem Korpus einer sich verändernden Welt, auf den Ruinen der gewesenen Zeit würde ich ein berühmtes Kapitel des kanakischen Schrifttums begründen. Des neuen, postbabylonischen Kanakisch. Und: wennschondennschon. Ich werde das Buch in dem brutalen Postbabylonisch schreiben, wie ich es aufgeschnappt habe während meines Bummels durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. […] und auf den Kisten, besser gesagt, auf den Haufen von Kisten mit dem Buch würde stehen Fragile! Very fragile! Only for Kanaks!38
Topol bietet eine entmystifizierende Sicht auf das postsozialistische Prag als vormalige Super-Chiffre für Mitteleuropa – im Gegensatz zur nostalgischen Aktualisierung der habsburgischen Tripolis. Sind (habsburgerisches) Imperium und (mitteleuropäische) Region dem der Nation funktionskomplementäre Begriffe einer strukturell aggressiven Selbstverständigung, dann werden sie in Topols Prag-Literatur zugunsten eines Lokalen Globalismus aufgelöst. Dieser erweist sich 36 | Topol : Die Schwester, S. 634. – Topol : Sestra, S. 444-445: »Na Zlatým kříži vyrostly mnohý podivuhodný budovy, vlastně jich moc nebylo, ale jak byly lesklý a prosklený, působily na chodce, rázem vtlačený pod nižší obzor, dojmem mnohosti a to silně zvyšovalo všelijaký komplexy méněcennosti […] a já narazil. Zdálo se mi to neuvěřitelný, vždyť jsem cvičenec chodeb, zdí, děr i propadlišť, […] di! Ale tady to nešlo. Ani garážema, ani žádným mřížovým, ani vchodem pro služebnictvo a stěny skajskrejpru byly hladký… […].« 37 | Topol : Die Schwester, S. 634. – Topol : Sestra, S. 444: »[…] pietně jsme zařazovali různý slova vyhynulejch pokolení do megamluvy, […].« 38 | Topol : Die Schwester, S. 310. – Topol : Sestra, S. 226: »Ale napsal bych ji kanacky. Na těle měněnýho světa, na troskách bejvalýho času bych započal slavnou kapitolu kanackýho písemnictví! Dalšího postbabylónskýho. A když už: tak už. Napíšu tu knihu surovou postbabylónštinou, tak jak jsem ji pochytil na svejch toulkách v minulosti, přítomnosti i budoucnosti. [...] a na bednách, spíš hromadách beden s knihou by bylo napsáno Fragile! Very fragile! Only for Kanaks!«
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als nicht postimperial, sondern von Grund auf unimperial, indem er spatiale Referenzen verweigert oder vertikalisiert. So entsteht ein Prag als Durcheinander von phantastischem Jederlei, das zur subkulturellen Urbanität des »Kanakentums« verschwimmt. Einer Chiffre, die nicht mehr historisch, sondern präsentistisch operiert. Darin steckt ein, wenn man will, romantischer Überschuss. Doch anders als in zahlreichen fiktionalen oder geschichtsregionalen Repräsentationen des historisch plurikulturellen Mitteleuropa wird ihm mit den Mitteln einer aufgerauhten Ästhetik und ironischen Grundhaltung die sentimentale Spitze gebrochen. Darin unterscheidet sich Topol von Schriftstellern wie Andrzej Stasiuk oder Jurij Andruchovyč.
9. Ein Abstecher nach Moskau
Vladimir Makanins Untergrund-Phantasien,
oder Das Untergründige als Masche Mit ihrem kleinen Verstand hatte sie zu schnell gerochen, dass ich unter ihr stand, wenn man ein grobes, also soziales Maß anlegte. Sie war zwar gefallen (im klassischen Sinne), aber nur auf die Erde, tief, genau vor die Füße. Ich dagegen war Underground, unter der Erde, war zu sehr in mir – das machte sie mit ihrer kurzen Erfahrung hellhörig.1 V ladimir M ak anin
So setzt der Ich-Erzähler in Vladimir Makanins 1998 erschienenem Roman Underground, oder Ein Held unserer Zeit (Andegraund, ili Geroj našego vremeni) ein spezifisches »Oben« und »Unten« gegeneinander: als Existenzen inner- versus außerhalb der gegebenen Welt.2 Das sozial Unterirdische kommt so als eschatologisch erhaben daher. Indem der Erzähler seinen eigenen Status noch unterhalb der gesellschaftlichen Vertikalen veranschlagt, wird sein Absturz zum metaphysisch-moralischen Höhenflug. Die Koketterie mit dem sozialen »Unten« als Ca-
1 | M ak anin, Wladimir: Underground, oder Ein Held unserer Zeit. Aus dem Russischen v. Annelore N itschke . München 2003, S. 227. Die deutsche Übersetzung basiert auf einer vom Autor gekürzten Fassung. – M ak anin, Vladimir: Andegraund, ili Geroj našego vremeni. Moskva 1998, S. 171: »Своим скромным умишком она как-то слишком быстро смекнула (вдруг почувствовала), что я ниже ее, если мерить меркой грубо, то бишь социально. Падшая (в классическом смысле), она всего-то пала на землю, низко, у самых ног. Я же, если сравнивать, был андегрaунд, был под землeй, был слишком сам в себe – вот чтo ее, с ее недоопытом, настораживало.« 2 | Der Roman wurde 1998 in der Zeitschrift Znamja (Das Banner) publiziert, bevor er im Moskauer Verlag Vagrius erschien.
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mouflage eines Lebens in Wahrheit (»zu sehr ihn mir«) postuliert einen Sturz von existenzieller Größe, wenn nicht eschatologischer, luziferischer Dimension. Aus dieser Warte scheint das »nur« auf die Erde gefallene Mädchen als Repräsentantin eines zurück gelassenen gesellschaftlich Banalen, das im Kern infantil ist (»ein grobes Maß«, »mit ihrem kleinen Verstand«, »mit ihrer kurzen Erfahrung«). Man kommt schwer umhin, in dieser Geste schmerzverzerrten Dünkels selbst etwas Pubertäres auszumachen. Der Kniff des Romans, der als das literarische Ereignis des Erscheinungsjahres gefeiert wurde,3 besteht nun darin, einen solcherart klischierten Underground zugleich affirmativ zu nutzen und als Masche auszustellen – und ihn darüber hinaus literaturhistorisch zu dignifizieren.
D er unerlöste U nderground -H eld , das K ellerloch und die L iter atur Underground ist nicht Makanins erster Roman, der um eine vertikale Raummetapher zentriert ist. Bereits 1991 entwirft Das Schlupfloch (Laz) eine Doppelstadt aus Oberfläche und Untergrund. 4 Beide Texte belegen einerseits, dass Makanin keinen Grund sieht, den Topos mit der Perestrojka um seine Relevanz gebracht zu sehen. Dies umso mehr, als beide Texte den künstlerischen Underground in eine Traditionslinie rücken, die weit hinter den Staatssozialismus zurückweist. Bereits im Titel spielt Makanin auf zwei russische Großromane an: Michail Lermontovs Ein Held unserer Zeit (Geroj našego vremeni) von 1840 und – weniger auffällig – Fedor Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Untergrund (Zapiski iz podpol’ja) von 1864.5 Diese ostentative, wiewohl gebrochene Traditionsbehauptung gibt dem Roman einen Subtext mit, dem zufolge Poetiken von Underground ihrer Konstitutionslogik nach der condition moderne überhaupt angehören – und mit ihnen ästhetische Strategien, die es erlauben, etablierte räumliche Hierarchien zu bestreiten. In diesem Sinn liest Hinderk Emrich Dostoevskijs Kellerloch als »Metapher für ein höheres Bewusstsein, ein Bewusstsein außerhalb der Unmittelbarkeit 3 | Stellvertretend Bujda , Jurij: Chod Makanina. Ego novyj roman uže stal glavnym literaturnym sobytiem goda [Makanins Spielzug. Sein neuer Roman ist jetzt schon das wichtigste Literaturereignis des Jahres]. In: Izvestija v. 26.05.1998. 4 | M akanin, Vladimir: Laz. Povesti i rasskazy [Das Schlupfloch. Geschichten und Erzählungen]. Moskva 1998, S. 283-362. – D ers .: Das Schlupfloch. Aus dem Russischen v. Karen G örnitz . Kiel 1991. 5 | Zu Lermontov und Makanin siehe Brintlinger, Angela: The Hero in the Madhouse. The Post-Soviet Novel Confronts the Soviet Past. In: Slavic Review 1 (2004), S. 43-65, hier 49: »As Lermontov highlighted the hero fort the late romantic era, Makanin is trying to identify what kind of hero lives in fin-de-siècle post-Soviet Russia.«
9. Ein Abstecher nach Moskau: Vladimir Makanin
eines ›abstrakt‹ tätigen Lebens«.6 Matthias Thibaut geht in der Auslegung einen Schritt weiter. Für ihn verdeutlichen die Paradoxien des Kellerlochmenschen, dass »das von sich selbst überwältigte Allmachtsgefühl der empfindsamen Romantik und das Ohnmachtsgefühl des modernen Ich, das sich, seiner transzendentalen Begründungen endgültig verlustig, nun in masochistischem Enthusiasmus der Wirklichkeit überantwortet, Momente ein- und derselben Bewegung sind«.7 Damit schließt das Makanin-Kapitel direkt an die eingangs angestellten Überlegungen zu E.T.A. Hoffmanns »Keller«-Erzählung an. Es wird zu zeigen sein, dass sich auch Makanins Protagonisten an der Verheißung einer umfassend inklusiven, also nicht nur alle, sondern den ganzen Menschen umfassenden und vereinenden Gesellschaft abarbeiten. Sie entdecken darin eine Chimäre, eine Aporie der Moderne. Beide Texte fassen ihren Befund in eine radikal vertikalisierte Leitmetaphorik, der ein expliziter historischer Resonanzboden verliehen wird. Damit binden sie das ästhetische Phänomen »Underground« an eine Zeit, die es nach landläufiger Auffassung nicht kannte. In Underground durchstreift die Zentralfigur Petrovič, ein ewig klammer, abgehalfterter Schriftsteller, das Moskau der 1990er Jahre.8 Er ist ein »bemooster UGler«,9 ein Underground-Künstler, der seinen Unterhalt mehr schlecht als recht verdient. »Die Gänge sind mein Reich.«10 Und: »Sie lebten in Wohnungen, ich auf Gängen«,11 bringt Petrovič sein Dasein auf einen Nenner: transitorisch, peripher.
6 | E mrich, Hinderk M.: Physiognomik des Psychischen. Zur Theorie der »Mimesis«. In: Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik. Hg. v. Claudia S chmölders . Berlin 1996, S. 227-246, hier 232. 7 | Thibaut, Matthias: Dostojewskijs Aufzeichnungen aus einem Kellerloch (1864). Hypertrophie der Reflexion und Wirklichkeitsschwärmerei. In: D ers.: Sich-selbst-Erzählen. Schreiben als poetische Lebenspraxis. Untersuchungen zu diaristischen Prosatexten von Goethe, Jean Paul, Dostojewskij, Rilke und anderen. Stuttgart 1990, S. 135-150, hier 150. 8 | Siehe u.a. L at ynina , Alla: Legko li ubit’ čeloveka? Literatura kak velikij virus [Ist es leicht, einen Menschen zu töten? Literatur als großer Virus]. In: Literaturnaja gazeta 17 (1998), S. 12. – N emzer, Andrej: Kogda? Gde? Kto? O romane Vladimira Makanina: Opyt kratkogo putevoditelja [Wann? Wo? Wer? Über den Roman von Vladimir Makanin: Versuch eines kurzen Reiseführers]. In: Novij mir 10 (1998), S. 183-195. – E rmolin, Evgenij: Čelovek bez adresa. Roman Vladimira Makanina »Andergraund, ili Geroj našego vremeni« kak kniga poslednich slov [Ein Mensch ohne Adresse. Vladimir Makanins Roman »Underground, oder Ein Held unserer Zeit« als Buch der letzten Worte]. In: Kontinent 98 (1999), S. 322-350. 9 | M akanin: Underground, S. 520. – Makanin: Andegraund, S. 377: »замшелый агэшник«. 10 | M akanin: Underground, S. 358. – Makanin: Andegraund, S. 263: »Коридоры – это ж мое.« 11 | M ak anin: Underground, S. 22. – M ak anin: Andegraund, S. 19: »Они живут в квартирах, а я в коридорах.«
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Der Underground, die Wende und die Stadt Mein Gedanke (ein jugendlicher Pfeil, das stimmt schon) flog auch schon damals höher. An seiner Spitze blitzte schon damals [zu Sowjetzeiten] der hehre Gedanke von den Gottesnarren und Spaßmachern, die vom Machtwechsel der Regenten unabhängig sind. Der Underground als Begleitung, als göttliche Eskorte der eitlen Menschheit.12
Petrovič ist ein Unerlöster, ungeachtet aller gesellschaftlichen Veränderung – und zugleich ein resignierter, zur »Eskorte« reduzierter Erlöser. Womit im Grunde die Erlösbarkeit des Menschen innerhalb der Geschichte, das »Projekt der Moderne« insgesamt in Abrede gestellt ist. Funktioniert Underground auch oder vor allem als zeitdiagnostisch-realistischer Moskau-Roman, so lässt Das Schlupfloch eine konkrete Lokalisierung offen und reflektiert eher die romantische Schreibstrategie einer historisch unspezifischen, phantastischen Durchchiffrierung. Makanin führt seinen Protagonisten Ključarev (etwa: »Schlüssler« oder »Öffnersen«) in eine tatsächliche Parallelwelt unterhalb seiner unbenannten Metropole, genau genommen in einen Erdbau, bewohnt von Künstlern und Intellektuellen. Trotz dieser auf den ersten Blick unverwandten poetologischen Dispositionen teilen beide Texte neben ihrer wie selbstverständlichen Verankerung im Stadtraum den Gegenstand des (künstlerischen) Untergrunds. Vor allem aber teilen sie als zentrales Spannungsmoment den Umkehreffekt aus dessen soziotopologischer Verortung »Unten« und der ästhetisch-eschatologischen Behauptung »Oben«. Den Funktionsmodus dieses Moments hat Christiane Schuchart klar gesehen: Mit »oben-unten« wird eine räumliche Relation für die ideologische und soziale Modellbildung genutzt und damit für die Deutung von Wirklichkeit. […] Vielmehr erhält in Andegraund das Unten bzw. die Unterwelt die Bedeutung des Erhabenen, Wahren (semantisches Paradox: das Erhabene im Unten) durch die geistige und materielle Unabhängigkeit des Untergrunds.13
Der entscheidende, hier ungenannte Punkt ist indes, dass das »semantische Paradox« nicht einfach für sich bleibt, sondern auf eine fundamentale Aporie verweist – eine Aporie, die bereits hinter der oben angesprochenen Aufwertung des Kellerlochs bei Dostoevskij steht.
12 | M akanin: Underground, S. 629. – M akanin: Andegraund, S. 452: »Моя мысль (юнeшская стpела, это верно) уже и в те времена летела, забирая все-таки выше. На eе острие уже тогдa сверкала высокая мысль о юрοдивых и шутах, независимых от смены властей. Андегpаунд как сопровождение – Божий эскоpт суетного человечествa.« 13 | S chuchart, Christiane: Intertextualität in Vladimir Makanins »Andegraund, ili Geroj našego vremeni«. Wiesbaden 2004, S. 52.
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Anders als die anderen hier vorgestellten Künstler gehörte der 1937 geborene Vladimir Makanin derweil selbst vor der Perestrojka weder zum künstlerischen Underground noch zum politischen Untergrund. Wenn auch nicht durchgängig gelitten, so war er doch nicht politisch verfolgt; Makanins Bücher wurden gedruckt und besprochen. Indes war er kein sozialistischer Vorzeigeschriftsteller; durchaus einer, der abseitige Themen wählte und soziale Zerklüftung beschrieb, der experimentelle Formen bevorzugte.14 Biografisch, heißt das, hat der empirische Autor Makanin nicht teilgenommen an dem für den »totalen« Underground charakteristischen Zusammenspiel von Marginalisierung und Selbstmarginalisierung und wird auch literaturhistorisch nicht unter diesem Rubrum geführt.15 Wenn nun Makanins Petrovič die klassischen Züge einer Underground-Existenz aufweist, zumal die herausgestellten paranoiden und schizophrenen Momente, deutet Schuchart dies als »literarische Projektion einer nicht verwirklichten Lebensvariante des Autors Makanin«.16 Der Text selbst freilich erlaubt über weite Strecken auch das Gegenteil, lässt sich als sarkastische Satire auf die hohle Anmaßung der Underground-Pose lesen. Eben darin besteht seine bereits angespielte Doppelbödigkeit: Indem er Spekulationen provoziert, ob es sich nun um das fiktive Ausagieren eines nicht gelebten Lebens handelt, um die eingestandene Bewunderung einer verpassten Haltung oder um eine kalkulierte Denunziation eines Lebensentwurfs, gestaltet der empirische Autor Makanin einen Text, der ästhetische Modi des Underground zugleich nutzt, benennt und verwirft. 14 | Makanin gehörte z.B. nicht zu den Autoren des Almanachs MetrOpol’ (1979), der die literarische Entwicklung in der Metropole Moskau abbilden sollte, indem er unveröffentlichte oder im Samizdat kursierende Texte etablierter und weniger bekannter Schriftsteller versammelte. Mehr dazu im Rückblick von erofeev, Viktor: Desjat’ let spustja [Vor zehn Jahren]. In: Literaturnyj al’manach MetrOpol’. Moskva 1991, S. 5-13. 15 | Makanin wird meist der »Moskauer Schule« (Moskovskaja škola) zugerechnet. Siehe dazu Rollberg, Peter: Interview mit Wladimir Makanin. In: Weimarer Beiträge 10 (1987), S. 1658-1674, hier 1670-1671. – Auch ein späteres Interview mit Elisabeth Rich ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Vgl. Rich, Elisabeth: South Central Review 3-4 (1995), S. 92-107. Hier beklagt Makanin, dass seine Bücher zwar offiziell gedruckt werden konnten, ihn die eigentlich relevanten Literaturzeitschriften aber nicht publizierten. 16 | S chuchart : Intertextualität, S. 238. – Das übrigens meinen auch weitere Kritiker, darunter A rchangel’ski j, Aleksandr: Gde schodilis’ koncy s koncami. Nad stranicami romana Vladimira Makanina »Andeground, ili Geroj našego vremeni [Wo sich alles zusammenfügt. Zum Roman »Underground, oder Ein Held unserer Zeit« von Vladimir Makanin]. In: Družba narodov 7 (1988), S. 180-195, hier 184. – Auch Mark Amusin sieht in diesem Werk, anders als in den vorhergehenden, die Möglichkeit gegeben, den Helden als alter ego des Autors anzusehen: A musin , Mark F.: Alchimija povsednevnosti. Očerk tvorčestva Vladimira Makanina [Die Alchemie der Alltäglichkeit. Abriss zum Schaffen von Vladimir Makanin]. Moskva 2010, S. 303-304.
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Petrovič also streift durch ein heruntergekommenes Moskau der 1990er Jahre. Als früherer Underground-Künstler steht er zwischen der neu etablierten Schriftstellergilde und ehemaligen Literaturfunktionären. Zwei von ihm begangene Morde, der darauf folgende Rauswurf aus dem Wohnheim, die Unterbringung im Obdachlosenasyl und eine anschließende Einweisung in die Psychiatrie bilden das Handlungsgerüst. Als Komplementärfigur mit Doppelgängercharakter funktioniert Petrovičs Bruder Venja, ein politisch verfolgter Maler mit genialischen Zügen, der noch zu sowjetischer Zeit in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Petrovič ist ausschließlich in typischen Übergangsräumen, eben »Gängen«, untergebracht, die im Jargon benannt werden: Wohnheim (obščaga), Asyl (bomžatnik), Psychiatrie (psichuška).17 Sein einziger Besitz und ihm stete Begleitung ist eine Schreibmaschine, die seine vorherige Existenz als Schriftsteller markiert, doch schreibt Petrovič nichts und hat dementsprechend auch nichts zu veröffentlichen. Letzteres aber ist vor allem seiner Haltung geschuldet, wie er zugibt: Und als nach Gorbatschows Veränderungen Menschen des Undergrounds hier und dort aus dem Untergrund heraussprangen, sich kurz besannen und dann bei Tageslicht mit aller Kraft einen Namen machten (und zu Sklaven dieses Namens, zu Invaliden der Vergangenheit wurden), da blieb ich einfach ich. Ich brauchte nichts nachzuholen. Die Versuchung, Buch um Buch herauszugeben, Posten zu bekleiden, eine Zeitschrift zu leiten, war zunächst nichts weiter, als eine Verführung und dann banale Routine.18
Spontane Momentaufnahmen, unzählige Figurenporträts, Klammereinschübe, sich überlagernde Erinnerungssequenzen, reflektierende Passagen, variierende Wiederholungen geben dem Roman indes etwas Handlungsloses, Fragmentarisches, Flüchtig-Beliebiges. Schuchart attestiert ihm ein im Vergleich zu früheren
17 | Ausführlich zum Topos bzw. Chronotopos »Psychiatrie« siehe B rintlinger : The Hero in the Madhouse, S. 51 u. 57: »In Makanin the psychiatric hospital is a refuge of another sort – conditions in his hospital are abysmal and the orderlies are sadistic, but ultimately the stark environment, like a stripped-down version of outer society, forces Petrovich to confront the most basic of human needs – the need for empathy. […] the madhouse shows its two manifestations for the novel: as a place of involuntary and underserved incarceration for the brother, Venia, and for Petrovich as a place where the line between therapy and punishment has been blurred.« 18 | M akanin: Underground, S. 537. – M akanin: Andegraund, S. 388: »И когда после горбачевских перемен люди андеграунда повыскакивали там и тут из подполья и стали, как спохватившись, брать, хватать, обретать имена на дневном свeту (и стали рабами этих имен, стали инвалидами прошлого), я осталься как я. Мне не надо было что-то наверстывать. Искушение издавать книгу за книгой, занять пост, руководить журналом стало лишь соблазном, а затем и пошлостью.«
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Texten Makanins außergewöhnliches »intertextuelles Allusionspotenzial«,19 angefangen beim Titel selbst, und zieht einen Begriff heran, den einst Andrej Bitov für seine eigenen Romane geprägt hat, roman-punktir. Dessen Kompositionsprinzip ist die punktierte Linie, das heißt es werden Momente eingefangen, die – scheinbar lose aneinandergefügt – erst am Ende eine sinnhafte Linienführung offenbaren. Analog verhält es sich mit der Topografie des Romans. Die flüchtigen Orte, die Petrovič erlebt, bilden nicht nur seine unstete Situation ab, sondern lassen sich zu einem Riss Moskaus, ja Russlands verbinden. Zuweilen bekräftigen sie auch je für sich dieses metonymische Potenzial. So das Wohnheim, in dessen oberen Etagen die Bessersituierten leben, in den unteren Stockwerken die Wegrangierten (und »auf den Gängen« Petrovič). Mit der Wurzel »(all)gemein« beinhaltet obščežitie – obščaga über den Umstand des zufälligen Beieinanderwohnens hinaus den Gedanken einer formbaren »Wohngemeinschaft«. Konkret indes wird diese Gemeinschaft eher als unförmige und unformbare Masse vorgestellt – deren einzelnes Glied gleichwohl permanent seiner Entbergung ausgesetzt ist. Das Wohnheim ist ein Ort, an dem herumgeschlichen, belauscht, ausgeplaudert und verraten wird, behaust von ehemaligen Spitzeln und kommunistischen Funktionären, Arbeitslosen und Wendegewinnlern, Bettlern und Prostituierten, gestrandeten Künstlern, dekorierten Schriftstellern, nicht zuletzt Durchschnittsbürgern. Unversehens spreitet die Moskauer obščaga sich zu einem Makrokosmos »Russland« auf, in dem es um die »Eroberung von Territorium« geht, hier abgedeckt über die magische Formel »Quadratmeter«.20 Als »punktierte Linie« lässt sich schließlich die intertextuelle Spur beschreiben, die Makanin durch seinen Roman legt. Die Kapitelüberschriften allein weisen bereits einen modernen russisch-sowjetischen Kanon aus, spielen außer auf Dostoevskij und Lermontov auf Michail Bulgakov, Anton Čechov, Venedikt Erofeev, Nikolaj Gogol’, Maksim Gor’kij, Aleksandr Solženicyn, Ivan Turgenev an. Makanin räumt der Literatur eine für seine Figur identitätsstiftende Wirkung ein. Sie ist die Schablone, in die Petrovič derart eingepasst wird, sich einpasst, dass Leben und Phantasmagorie eins werden. Das korrespondiert mit Vorstellungen des »totalen« Underground, geht jedoch in die gegensätzliche Richtung: Geben Künstler um den Moskauer Konzeptualismus wie Il’ja Kabakov, Andrej Monastyrskij oder Dmitrij Prigov als Ziel vor, die Hochkultur zu subvertieren, deren Bildungsfesten und Kunstideale,21 so erachtet Petrovič die kanonische russische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts als seinen »kollektiven Richter«. Besticht diese Literatur doch durch ihren »Nach-
19 | S chuchart : Intertextualität, S. 6. 20 | Ebd., S. 46. 21 | Dazu die Textauswahl: Präprintium. Moskauer Bücher aus dem Samizdat. Hg. v. Günter Hirt u. Sascha Wonders. Bremen 1998.
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hall« – dem sich Petrovič unterwirft, und dem er mit den Markern »Dostoevskij« und »Lermontov« unterworfen wird.22 Der »reale« Petrovič lebt die »fiktive« Texterfahrung von deren Prosa. Er ist in ein literarisches Referenzsystem eingeschlossen, das etwa seine Morde samt der sie auslösenden Momente Dostoevskijs Verbrechen und Strafe (Prestuplenie i nakazanie) von 1866 replizieren lässt. Als Figur wiederum ist Petrovič nicht nur anagrammatisch, sondern auch charakterlich entlang Lermontovs Pečorin aus Ein Held unserer Zeit konstruiert.23 Petrovič ist weniger kalkuliert als Pečorin, in Vielem aber gleichen sich beide Zeithelden: in der passiven Sicht auf den Lauf der Geschichte, in ihrer Verweigerungshaltung, ihrer Selbstentblößung, ihrem fehlenden Heroismus, ihrer misanthropen Grundhaltung, ihrer gepflegten Langeweile und Gleichgültigkeit, ihrem überzeugten und gefeierten Anderssein. Bei Petrovič gipfelt das in Freude über die Ablehnung eines Manuskripts mit den Worten: »Das Wörtchen anders, angewandt auf einen Autor, war eine schmeichelhafte Auszeichnung – […].«24 Und doch erinnert Petrovič an Dostoevskijs ganz und gar präironischen »Kellerlochmenschen«, dessen Reflexionen über einen Untergrund, der innerer, ja existenzieller Natur ist.25 Die Texte Lermontovs und Dostoevskijs werden hier reinszeniert als Reaktionen auf basale Probleme einer zerteilten Epoche. 22 | Die von Holt Meyer unter Muschiks Underground gebündelten »Solisten«, zu denen u.a. Dmitrij Dobrodeev, Sufar Gareev und Anatolij Gavrilov gehören, werden hier nicht behandelt. Sie konnten erst Anfang der 1990er Jahre in der Zeitschrift SOLO abgedruckt werden; ein verbindliches Programm eint sie nicht. Meyer schreibt ihnen zu, konzeptionelle Nachkommen Leonid Dobyčins und der Leningrader Spätavantgarde zu sein und macht in ihrer Prosa eine »Durchmischung von Land und Stadt, von Peripherie und Zentrum, von Folklore und Hochkultur, Muschik und Großstadtmelancholiker« aus. Aus dem Gruppenanspruch, »offiziell unannehmbare« (und bewusst nicht: »inoffizielle«) Literatur zu schreiben, ließe sich durchaus ein Underground-Schema herauspräparieren. Dem geht Meyer indes nicht nach; für ihn gibt es »in Russland keinen ›Underground‹ mehr, denn die offizielle sowjetische Kultur ist zusammen mit dem sowjetischen Staat endgültig zusammengebrochen«. – Muschiks Underground. Neue russische Prosa aus der Moskauer Zeitschrift »Solo«. Hg. v. Holt M eyer u. Alexander M ichailow. München-Zürich 1993, hier S. 273-279. 23 | Vgl. dazu die von Holt Meyer herausgestellten Grundmodi von Lermontovs Werk, die sich ohne Weiteres auf Makanins Roman applizieren lassen: »Wandern (stranstvie), Aufzeichnung und Seltsamkeit (strannost’) kann man die motivisch-thematische Trias im Mittelpunkt des Geroj nennen.« – Meyer, Holt: Romantische Orientierung. Wandermodelle der romantischen Bewegung (Russland): Kjuchel’beker – Puškin – Vel’tman. München 1995, S. 154. 24 | M ak anin: Underground, S. 531. – M ak anin: Andegraund, S. 384: »Применитeльно к автору другой было лестным наградным отличием – […].« 25 | Zu Dostoevskijs hier beschriebenem Untergrund als »the key to the understanding of all his work« siehe B eardsley, Monroe C.: Dostoyevsky’s Metaphor of the »Underground«. In: Journal of the History of Ideas 3 (1942), S. 265-290, hier 289.
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In Makanins Romankosmos nimmt sich Petrovič als geradezu »klassischer« Undergroundler aus.26 Sein vermeintlich – oder immer schon – »anachronistisches Beharren auf dem Unterground-Status«,27 seine halsstarrige Verabsolutierung der Kunst als umfassender Lebensausdruck und sein Anstemmen gegen die Hoheit des Gebotenen machen ihn zu einem romantischen Helden, dem das Phantasma persönlicher Integrität so viel bedeutet, dass er selbst vor einem Mord nicht zurückschreckt. Seine kompromisslose Sicht auf das in Nicht-Schreiben gipfelnde Schreiben hebt ihn aus der Masse der Romanfiguren empor, dazu das Nachdenken über den Underground als Unterbewusstsein der Gesellschaft, die leitmotivische Kontrastierung von »Ich« und »Sie«, von Individuum und Vielheit. Entsprechend kennt er und bricht doch zugleich den Geniediskurs, wie er aus der Romantik tradiert ist: Jeder UGler sagt bestimmt hin und wieder »Genie«, »genial«, »wir sind beide Genies« und dergleichen. Dieses (für andere) rasierklingenscharfe Wort sprechen wir ganz selbstverständlich aus und stehen mit ihm seit jeher auf vertrautem Fuß. Ohne das Wort »Genie« gibt es keinen Underground. 28
Verweist der gängige russische Terminus podpol’e einmal auf einen Raum unterhalb des Hauses, meist den Keller, zum anderen auf den politischen Untergrund, so meint der titelgebende Underground spätestens seit den 1970er Jahren eine ästhetische Disposition, und namentlich ein künstlerisches Lebens- als Schaffensgefühl – analog dem romantischen Geniekult. Makanin situiert Underground in einer Epoche, die Lebenshaltung und Schaffen konzeptuell aneinander bindet. Der Untergrund wird bei ihm ein sinnkonstituierender Raum. Wie schon Dostoevskijs »Kellerlochmensch«, ein intellektueller Beamter mit Schreibambitionen, seine Selbstgespräche beziehungsweise seinen »quasi-dialogischen Erzählmonolog«29 dem Leser als eine existenzial-ästhetische confessio vorlegt, »vermacht« der vorgeblich nicht schreibende Petrovič seinen Zuhörern ein Konvolut aus ununterbrochener Erzählung und vorgeblich
26 | In Makanins Erzählungen Der Mann mit den zwei Gesichtern (Portret i vokrug, 1978) und Zwei Einsamkeiten (Odin i odna, 1988) gibt es bereits einen Igor Petrovič. Petrovič führt in Underground weder Vor- noch Nachnamen. 27 | S chuchart : Intertextualität, S. 55. 28 | M akanin: Underground, S. 157. – M akanin: Andegraund, S. 121: »Всякий агэшник вpемя от времени непpеменно говорит ›гений‹, ›гeниально‹, ›мы оба гении‹ и тому подобное. Это (для многих прочих) бритвенно-остpое слово мы произносим запросто, находясь c ним в cвойских и в давних – в лаcковых отношениях. Без слова ›гений‹ нет андеграунда.« 29 | S chmi d, Wolf: Der Textaufbau in den Erzählungen Dostoevskijs. Amsterdam 1986, S. 268.
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Gehörtem: Beide Figuren entblößen sich gewissermaßen über den Erzähl- als Kolportageakt.30 Der »Kellerlochmensch« – in der englischen Übersetzung underground man – und der Undergroundler sind eines Stammes, einer Konfession (oder Konfessionsbereitschaft): »Der in Moskau und Petersburg entstandene Stamm der Kellerlochmenschen ist ebenfalls ein Kulturerbe.«31 Weiters bescheinigt Petrovič dem Underground, Vorfahren in der Einsiedelei und im Dissens zu haben. Seine Reihung führt vom Einsiedler, dem »inneren Emigranten« über die »wirklichen« Emigranten und Dissidenten hin zum Underground. Hat man sich dieser Lebenshaltung einmal verschrieben, gibt es kein Zurück, das nicht Abtrünnigkeit, ja Verrat an der Sache – der modernen conditio humana – wäre. Petrovičs Verräter gehört zum Typus »arriviertes Schwein«, […] verdient sein Geld auf dem Buckel unterirdischer Schriftstellerschatten, wie andernorts Geld auf dem Buckel malochender Bergarbeiter verdient wird. […] Er zupft auch hie und da ein Stückchen Kohle aus unserer Haut – sammelt, schabt und schmiert sich ganz schnell seine Hängebacken damit ein, um schwärzer zu wirken und mit blitzend weißen Augäpfeln einem ausgezehrten Bergmann zu gleichen, der soeben den Schacht verlassen hat. 32
Makanin löscht nie den umgekehrt-hierarchischen Verweis des Worts »Unten« aus. Hinter den »UG« zurückgefallen, ist es hier der aus dem Schacht gekrochene Bergmann, der den etablierten Dissidenten par excellence symbolisiert: ein Aura-Pirat. Als unwahrhaftige Marktschreier der Wahrhaftigkeit sind die alten, klassischen Dissidenten längst abgesichert posierende Bewohner des »Oben«. Zur Traditionslinie des »Unten« gehört eben auch Unduldsamkeit gegen die sich kanonisierende Tradition – den »Verräter« am Keller. Solch normativ gemeinter Verhandlung des Raums in Underground entspricht die erwähnte punktierte Zeichnung Moskaus. Wohlbekannte Plätze und berühmte Straßennamen werden ausgespart. Einzig die – punktuell auftauchende – Metro erhält eine exponierte Stellung als Schnittstelle zwischen Toponymie und Mythos. Karlheinz Kasper schreibt dazu: »Moskau taucht in dem Roman nur als Untergrund auf, ist der Ort des Mythos von den zu Nachtwächtern gewordenen 30 | Hier lässt sich auch das Konzept der Literatur als Beichte einbeziehen. Siehe S asse , Sylvia: Wortsünden. Beichten und Gestehen in der russischen Literatur. München 2009. 31 | M ak anin: Underground, S. 256. – M ak anin: Andegraund, S. 191: »Племя подпольных людей, порожденное в Москве и Питере, – тоже наследие культуры.« 32 | M ak anin: Underground, S. 246-247. – M ak anin: Andegraund, S. 184: »[…] берет белой pучонкой нашу андегpаундную угольную пыль, грязь, гарь. Он прихватывает и какого-никакого уголька, въевшегося нам в кожу, – собиpает, cocкребывает и бысpто-бысpто обмазывает свои висячие щеки, но еще и лоб, шею, плечи, руки, чтобы почернее и чтобы посверкивающими белками глаз (хотя бы) походить на тощего гoрняка, только-только вылезшего из забоя.«
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Intellektuellen und des konzentrierten kollektiven Unterbewusstseins der zweiten Kultur.«33 Von einer im wirtschaftlichen Aufschwung begriffenen Großstadt ist im Roman wenig zu spüren. Im Gegenteil, präsentiert werden abseitige Räume, randständige Lagen und Gebäude, die nah genug am Zentrum sind, immer erreichbar für Petrovič über die U-Bahn.34 Das unterirdische Verbundsystem Metro spiegelt die oberirdischen Gänge im Wohnheim: Wie hässlich wurde in diesen Jahrzehnten in Moskau gebaut, oben, auf der Erde, und wie gelungen (mit schwindender, aber nicht endgültig verschwundener Bilderbogenästhetik) hatte man die Metro gestaltet, Station um Station – unten, unter der Erde. Emotionale Geborgenheit unter der Erde empfinde nicht nur ich. Viele zieht es innerlich hierher, unter die Gewölbe, weg von den Tagesaugen. Warum?35
In der Antwort auf dieses »Warum?« erfährt die von Kasper angespielte Idee der »zweiten Kultur« als Unterbewusstsein der Gesellschaft ihre Überhöhung: »Der Underground ist das Unterbewusstsein der Gesellschaft. Und die Meinung des Underground ist immer gebündelt. So oder so hat sie Bedeutung.«36
D as U ntergründige als gescheiterter G egenentwur f Vor Underground skizziert Makanin in Das Schlupfloch eine Stadt, deren Untergrund omnipräsent ist – jedoch weniger als Unterbewusstsein der Gesellschaft denn als gescheiterter Gegenentwurf. Auch dort kann Kunst nur unterhalb des politisierbaren Raums gelingen, nicht neben ihm, nicht in der »bürgerlichen Ordnung« und ihren Geselligkeitsräumen. Das Schlupfloch zeigt eine ganze Parallelgesellschaft unter der Erde. Zutritt verschafft sich der Protagonist Ključarev, ein Durchschnittsbürger mit intellektuellen Ambitionen, über eine immer enger werdende Öffnung – das Schlupfloch nach Unten = Oben. 33 | K asper, Karlheinz: Das literarische Leben in Rußland um 1998. Erster Teil. Favoriten, Provokateure und Trendsetter. In: Osteuropa 5 (1999), S. 452-469, hier 453. 34 | S mith, G. S.: On the Page and on the Snow: Vladimir Makanin’s »Andegraund, ili Geroi nashego vremeni«. In: The Slavonic and East European Review 3 (2001), S. 434458, hier 437. 35 | M akanin: Underground, S. 374. – M akanin: Andegraund, S. 275: »Как отвратительно строили эти десятилетия в Москве наверху и как неплохо (с теряющейся, но не потерянной до конца лубочной эстетикой) лепили метро, cтанцию за cтанцией – под землей, внизу. Подземность чувств – не только мое. Душа многих тяготеет сюда, под своды, от дневних глаз подальше. Почему?« 36 | M ak anin: Underground, S. 651-652. – M ak anin: Andegraund, S. 468: »Андеграунд – подсознание общeства. И мнение андеграунда так или иначе сосредоточено.«
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Das Setting ist eine halb verlassene Stadt, in der die Leute sich vor der einbrechenden Dunkelheit in Sicherheit bringen. Die Telefonverbindungen sind gekappt, die Läden verriegelt, ihre Schaufenster zerschlagen, Benzin ist aus. Einige haben sich aufs Land retten können, der Rest verkriecht sich so gut er kann. Der »soziale Ingrimm«,37 offensichtlich Auslöser der Misere, nimmt immer mehr zu – und richtet sich insbesondere gegen die in der Stadt verbliebenen Intelligenzler. Das Stück spielt während der Abenddämmerung und endet, bevor die Nacht einbricht. In dieser Zeit zwängt sich Ključarev mehrfach durch einen Einschlupf in die Erde, um in einem erleuchteten Saal zu landen – eine Reminiszenz an Dostoevskijs Kristallpalast.38 Unten erwartet ihn eine funkelnde Welt, in der es alles gibt – vor allem aber Gespräch und ausreichend Licht. Es ist geschmackvoll eingerichtet dort unten, hell und gemütlich: wie »in der guten alten Puschkinzeit«.39 Die Bewohner sehen sich durch ungenannt bleibende Umstände gezwungen, von der anderen Hälfte des Landes abgeschnitten zu leben: »So ist es nun mal. Wir leiden ja darunter. Jenes Leben dort ist auch unser Leben.« 40 Solche Bekenntnisse aus einer versunkenen Welt kommen allerdings formelhaft daher, werden wiederholt leicht dahingesagt. Die Reden der unterirdischen Palastbewohner erschöpfen sich schnell in Geschwätzigkeit und leeren Floskeln. Dennoch fühlt sich Ključarev vom unteren Leben angezogen – nicht allein des reichen Warenangebots wegen. Ključarev nennt es den »Gedankenfluss«. Für ihn sind die dort kultivierte Erhabenheit der Rede, die Existenz im Wort, wodurch sich der Mensch von »kriechenden und sich verkriechenden Kreaturen« abhebt, 41 wie ein belebendes Elixier. Er lauscht den Reden, schätzt den Gesprächsgeist, ja himmelt die Deklamierenden geradezu an. Den Akt, in dem er sich in das Schlupfloch zwängt, nennt er einen »männlichen« – wiewohl man sich eher an einen Geburts- als einen Zeugungsvorgang erinnert fühlt. 42 Doch passt die wenig originelle, etwas ordinäre Metapher zu dem Durchschnittscharakter, als den Makanin seinen »Schlüssler« angelegt hat: eine Figur, »nicht zu klug und nicht allzu einfältig«, das »alter ego der Durchschnittsintelligenz«. 43 Dafür, in 37 | M ak anin: Das Schlupfloch, S. 89. – M ak anin: Laz, S. 328: »социальная ярость«. 38 | Dazu ausführlicher A melung , Roland: »Kellerloch« und »Kristallpalast« in Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Kiel 1985. 39 | M ak anin: Das Schlupfloch, S. 14. – M ak anin: Laz, S. 290: »[…] прекpасных пушкинских времен.« 40 | M ak anin: Das Schlupfloch, S. 13. – M ak anin: Laz, S. 289: »Так получилось. Мы ведь страдаем. Та жизнь – это тоже наша жизнь, […].« 41 | M ak anin: Das Schlupfloch, S. 79. – M ak anin: Laz, S. 323: »[…] не просто ползущие или вползающие сушества.« 42 | M ak anin: Das Schlupfloch, S. 150. – M ak anin: Laz, S. 358: »[…] что земля как женщинa, как молодая, может быть, женщина, a он как мужчина, совеpшаюший свое вечное мужское дело.« 43 | Rollberg: Interview mit Wladimir Makanin, S. 1665-1666.
9. Ein Abstecher nach Moskau: Vladimir Makanin
das untergetauchte Paradies zu gelangen, setzt Ključarev auch die Unversehrtheit seines Körpers aufs Spiel, denn das Loch, durch das er steigt, scheint von Stunde zu Stunde enger zu werden. Makanins Ober- und Unterwelt bedingen und reflektieren einander – und sterben gemeinsam: Oberhalb, in der Stadt, lebt man inzwischen ohne Strom und weitgehend im Dunkeln; unterhalb brennen zwar die Straßenlaternen, aber den Bewohnern geht der Sauerstoff aus. Draußen beziehungsweise Oben herrscht »die Masse«, der Mob, die Herde, vor deren Regiment Makanins Protagonist und seine Freunde fliehen. Die Masse wird von ihnen gefürchtet, ihre Manipulierbarkeit, ihre finstere Härte, die sie selbst erhaltene Bereitschaft zu Aufstand und Wut. Unten hingegen ist die Masse nur ein Gesprächsthema, allerdings das beherrschende. Diskutiert wird über das Gemeinwesen, die Allgemeinheit und über die Frage, ob man die Masse trotz allem lieben oder einfach hassen solle. Das Schlupfloch bietet zunächst eine etwas platte Parabel auf den ausgehenden Sozialismus und seine verkehrten Parallelwelten. Der Roman spiegelt die drei Wahlmöglichkeiten – die »offizielle« Tristesse, den nach unten abgehobenen Dissens und das Exil, hier als Flucht »auf das Land«. Das changierend enge Loch mag man sich als Zensor vorstellen, vor allem aber wohl als dramatisches Element der klaustrophoben Untergangsstimmung begreifen. Als Birgit Harreß das Schaffen Dostoevskijs poetisch-anthropologisch untersuchte, las sie dessen Kellerloch als Existenzmetapher, als im Erdhaften wurzelnden Raum, menschliche Innenwelt oder – in Berufung auf C.G. Jungs Archetypenlehre – Schatten. Der Kellerlochmensch strebe nicht nach dem Ideal Lev Tolstojs, wonach sich »der Mensch bei der Arbeit von seinen um sich selbst kreisenden Gedanken entfernen soll«, im Gegenteil. Und er bevorzuge Orte, »die in sich geschlossen, der Gesellschaft aber zugänglich sind«. 44 Diese Klassifizierungen des Kellerlochs lassen sich auf die Gesellschaft in Makanins Schlupfloch eins zu eins übertragen. 45
44 | H arress , Birgit: Mensch und Welt in Dostoevskijs Werk. Ein Beitrag zur poetischen Anthropologie. Köln-Weimar-Wien 1993, S. 122 u. 135. 45 | Horst-Jürgen Gerigk, der den Kellerlochmenschen als »Paradoxalisten« beschreibt, liest ihn als Gescheiterten, der sein Scheitern als Freiheit verkauft. Er habe seine eigene Unfreiheit gewählt, »weil er nur in ihr seine Freiheit sehen kann«. – G erigk , Horst-Jürgen: Dostojewskis »Paradoxalist«. Anmerkungen zu den Aufzeichnungen aus einem Kellerloch. In: Das Paradox. Eine Herausforderung abendländischen Denkens. Hg. v. Roland H agen büchle u. Paul G eyer . Würzburg 2002, S. 481-497, hier 486-487. – Eine ähnliche Argumentation verfolgt Tomáš G lanc in seinem Dostoevskij-Vorwort: Všežravý text o bezpředmětné svobodě [Ein Allesfressertext über die belanglose Freiheit]. In: D ostojevskij, Fjodor M.: Zápisky z podzemí. Praha 1998, S. 3-6: »Es handelt sich um ein eigentümliches, extremes Modell von Freiheit, das sich gegen seinen Träger wendet, der sich diese Freiheit im Kampf gegen die entfreiheitlichenden Mechanismen der eigenen Umgebung ertrotzte.«
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Als Underground konzipiert ist sein puškinesker Raum unter der Erde indes gerade nicht. Ein wahres Leben unterhalb des falschen wie in E.T.A. Hoffmanns Keller ist hier nicht zu entdecken. Vielmehr gibt es »Oben« wie »Unten« Spuren einer anonymen, mit Versatzstücken genuiner Underground-Ästhetik operierenden Ungebärdigkeit: »Natürlich zieren bisweilen auch Kritzeleien der Jugendlichen die Wände. Halbwüchsige sind doch überall gleich. Nichts bereitet ihnen größeres Vergnügen, als sich mit Vulgär- und Kraftausdrücken unter Beweis zu stellen.« 46 Ključarev beobachtet, dass diese Zeichen oder Graffiti gleich wieder übermalt werden, der Kampf um die Raumhoheit in beiden Welten geführt wird – und von den jeweils Etablierten gewonnen. Offensichtlich sind die Kritzler der eigentliche Underground, eine infantile Gruppierung innerhalb des Dissenses, die sich ab und an Gehör zu verschaffen versteht, aber dennoch im Dunkeln bleibt, dass heißt unterhalb des »zweiten Umlaufs«. Das eigentliche Fazit des Texts jedoch ist nochmals resignativer. Trotz aller Sympathien bleibt Ključarev in keiner von beiden Welten, sondern schafft sich einen eigenen Raum in der Erde, eine Privathöhle. Vorgeblich beginnt er sie zu graben, um die eigene Familie in Sicherheit zu bringen, falls diese ihre Wohnung verlassen muss und auf sich gestellt ist. Das Erdloch am Rande einer Hochhaussiedlung, oberhalb einer Schlucht, ist ein Ort zum Überleben, Überwintern außerhalb aller Gesellschaft. Doch während Ključarev sich fast tierähnlich einbuddelt, gelangt er zu immer tieferen Bewusstseinszuständen, die eine weitergehende intrinsische Motivation offen legen: »Was soll man machen, es ist weniger das Unbewusste als vielmehr das Unterbewusste, das Erd-Denken, das sich, ohne sich darüber vor sich selbst Rechenschaft abzulegen, fremde Erfahrungen zu eigen macht, – das ist es, was ihn treibt.« 47 Spricht daraus bereits lebensästhetische Ernüchterung – keine Originalität, kein Bewusstsein, keine Authentizität, sondern das einschlägige Lamento über die etablierte Moderne, so summiert Ključarev anlässlich der Beerdigung eines Freundes seine Erfahrungen mit dem Eskapismus abwärts als Illusion, hinter der sich unentrinnbar der Tod verbirgt: Anfangs ähnelt ihr schwarzer Schlund noch dem Einschlupf, dem Loch, dann wird die Grube für kurze Zeit geräumig und verspricht eine Höhle zu werden, aber schließlich gewinnt dann
46 | M ak anin: Das Schlupfloch, S. 15. – M ak anin: Laz, S. 290: »Конечно, есть иногдa мальчишечьи надписи. Подростки всюду одинаковы и с удовольствием пробуют себя на границе матa и речи.« 47 | M ak anin: Das Schlupfloch, S. 35-36. – M ak anin: Laz, S. 301: »Что поделать, не столько интуитивное, сколько подинтуитивное, земляное мышление, которое вбирает чужой опыт, даже не доложив cвоему собственному сознанию, – вот что его ведет.«
9. Ein Abstecher nach Moskau: Vladimir Makanin die tote rechteckige Form Oberhand über die Weite des Erdenraums, und die Grube wird zu dem, was sie in diesem Augenblick sein will: ein Grab. 48
Die Welt in Schlupfloch ist nicht nur verkehrt, indem die Oberstadt öde, verlassen und gefährlich ist, die Unterstadt elitär abgehoben. Sie ist zudem vollständig hoffnungslos: Das untergründige Reich verheißt nur auf den ersten Blick eine Utopie, ein Glücksmoment in existenzieller Not, das es in der Horizontale nicht geben kann. 49 Tatsächlich jedoch ist die Hoffnung okkupiert von Bewohnern, die der Text als zynische Schwätzer denunziert. Nur scheinbar interessiert am Schicksal der »Normalen«, sind ihre Reden zwar wendig und interessant, aber ohne Gehalt, geschweige Wirkung auf die Außenwelt. Das Licht bleibt allein ihres – und verbraucht den Sauerstoff. Die nach unten verzogene Intelligenz reagiert, so ein Wachtraum Ključarevs, auf die Verödung ganzer Stadtstriche, indem sie Tausende von Blindenstöcken nach oben wirft für die Zeit, wenn dort auch die letzte Glühbirne erloschen ist. Ključarev nun reagiert seinerseits mit der den ästhetischen Kern des Underground kennzeichnenden Doppelgeste des Ausgeschlossen-Seins und Selbst-Ausschlusses. Denn er könnte in beiden Welten bleiben. Die verfinsterte oberirdische steht dem verängstigten Einzelnen wie der meuternden Masse ohnehin offen. Doch auch die noch eine Weile im Licht lebende untere Welt stellt ihm ein Bleiben frei. Beide Freiheiten indes sind Freiheiten zum Tode. Ključarev, der das erkennt, schließt mit beiden ab und gräbt mit der eigenen Höhle wissentlich ein Grab. Die Verheißung einer Erlösung, die Utopie, ist chimärisch, denn der Grundkonflikt der Moderne wurzelt in einer Aporie, die am Ende nicht lösbar ist.
48 | M ak anin: Das Schlupfloch, S. 105. – M ak anin: Laz, S. 336: »[…] сначала зев ямы похож на лаз, на дыру, затем на какое-то время яма делаeтся емкой и обешает cтать пешeрой, но затем меpтвенная форма прямых углов овладевает земляным прострaнством, и яма станoвится тем, чем и хочет сейчаc быть: могилой.« 49 | Sally Dalton-Brown sieht in Makanins Erzählung auch eine Gesellschaft, die »devastatingly seamed through its middle, divided into two isolated segments, unable to function, each equally doomed, not only by circumstances, but also by an inability to work together, to help one another […].« Ihre Lesart betont allerdings die Hoffnung auf Überwindung dieses Zustands. Dergestalt interpretiert sie die Männergruppe, die ihren Freund begräbt – den widrigen Umständen zum Trotz – als zukünftige Brüderschaft (brotherhood). – Dalton -Brown, Sally: Inefectuell Ideas, Violent Consequences. Vladimir Makanin’s Portrait of the Intelelligentsia. In: The Slavonic and East European Review 2 (1984), S. 216232, hier 230-231.
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P e trovič als S chablone einer U nderground -F igur ? Im Grunde ist mit diesem Befund auch der spätere »UGler« Petrovič bereits gescheitert. Dessen Rückkehr in das Wohnheim fordert denn auch mehrere Lesarten heraus. Einerseits haben wir hier die Inklusion des Außenstehenden, die Auflösung der Aporie. Doch mit dem freudigen Empfang, der Petrovič bei der Wiederaufnahme in den Schoß der Gemeinschaft widerfährt, stellt Makanin die anfangs aus den Fugen geratene Ordnung wieder her, macht Petrovič abermals zu einem von vielen und nivelliert dessen behauptetes Anderssein, indem er es ihm bequem macht. Das happy end beinhaltet zugleich eine Absage an das Konzept von einem Underground, wie er hier verstanden wird – als Inszenierung einer existenziellen Subversionsästhetik, als Ästhetik eines Willens zur Spaltung und Totalität der Kunst. Was bleibt ist eine Masche. Auch Makanins Underground arbeitet mit Banalismus und Vulgarismus, mit Obszönität und Brutalität als ausgestellten Aspekten, mit der Erhebung, ja Verabsolutierung des Alltäglichen, Banalen, vielfach Anstößigen. Petrovičs niedere Bedürfnisse »Fressen«, »Saufen«, »Ficken« werden ausgiebig verhandelt und nachgerade sakralisiert. Seine Bewegung durch Moskau gleicht einem Hangeln von Saufgelage zu Saufgelage, grundiert von einem farcehaft beschworenen Schriftstellermythos: Ich wurde also gebraucht. Und zwar gerade in meiner Eigenschaft als Versager, als scheinbarer Schriftsteller, weil das Ansehen des Schriftstellers in der frühen postsowjetischen Zeit immer noch hoch war – so aufgebläht und hoch, dass die Leute aus dem Heim, wäre ich ein echter Schriftsteller mit gedruckten Büchern gewesen, dessen Foto in ein oder zwei Blättchen erschien, sich nicht getraut hätten, an meiner Tür zu läuten, nicht einmal im Suff. 50
Petrovič bedient die Schablone einer Underground-Figur, die zugleich Dostoevskijs große Narren in Christo absorbiert wie auch Lermontovs verzweifelte Zyniker und qua Namen als »Sohn Peters«, als Inbegriff des modernen Russland ausgewiesen wird – samt Aleksandr Puškins Dämonologie des Ehernen Reiters (Mednyj vsadnik). Das Ganze ist ein intertextuelles, bis zur Persiflage stilisiertes Mythenbündel.
50 | M ak anin: Underground, S. 21. – M ak anin: Andegraund, S. 19: »Так что я был нужен. Нужен как раз и именно в качестве неудачника, в качестве вроде бы писателя, потому что престиж писателя в первые постсоветские времена был все еще высок – так раздут и высок, что, будь я настоящим, с книгами, с фотографиями в одной-двух газетенках, они бы побоялись прийти, позвонить в мою дверь даже и спьяну.«
9. Ein Abstecher nach Moskau: Vladimir Makanin
Als solches entfaltet der exhibitionistische Nicht-Held deklamierend die auf die Romantik zurückgehende Vision vom Schriftsteller als Vordenker und Prophet, führt sie aber praktisch ad absurdum. Seine Selbstentblößungen stoßen eher ab, als dass sie Empathie auslösen; sein Pathos tönt unerträglich hohl. Derweil transportiert die Überklischierung ein basales Scheitern, das Scheitern der vertikalen Option, ins Lächerliche. Strukturell führt sie die Überzeichnungen der Schlupfloch-Parabel und Ključarevs platte Schwärmerei für die untergetauchten Intelligenzler fort. Das Skandalon der Uneigentlichkeit ist unentrinnbar. Und es ist weder ein Signum der sozialistischen oder postsozialistischen Gesellschaft noch ein Resultat des historischen Umbruchs von 1989 und später. Vielmehr weisen die ostentative Einbettung in die literarische Tradition und deren massenhafte Aneignung und Verarbeitung den historisch-systematischen Ort der ästhetischen Not aus: Es handelt sich um die unhintergehbare Aporie der Moderne. Hubert Spiegel hat Makanins Underground rezensierend dessen Wohnheim einen »Mikrokosmos« genannt, »in dem das ganze Land gespiegelt wird« und der »Dantes Fegefeuer« gleiche, »eine Kleinbürger- und Proletenhölle, in der Suff, Gewalt und dumpfe Sexualität herrschen«.51 Die Falle, die der Text stellt, und in die Spiegel mit seiner Rezension tappt, ist die des Exotismus. Während Underground in dieser Studie als ästhetischer (urbaner) Kommentar zum Dilemma der Moderne gelesen wird, reduziert der Roman sich in der Rezension auf eine Abbreviatur des zeitgenössischen Russland als Inbegriff einer außerzivilisatorischen Unordnung. Dabei mag es sich auch um einen naheliegenden Auslagerungsversuch allgemeiner Problematiken moderner Gesellschaften handeln. Vor allem aber beteiligen Text wie Rezensent sich an einem Spiel mit der vermeintlichen zivilisatorischen Exotik Osteuropas, das interne wie externe Diskurse über die Region zumal nach 1990 grundiert, sei es als Teil politischer Identitätsstiftung, sei es als kulturelle Vermarktungsstrategie. Zu denjenigen, die die Exotik der Peripherie offensiv mit Underground-Ästhetiken verflechten, gehören neben anderen Jurij Andruchovyč und Andrzej Stasiuk. 1993 greift Andruchovyč in seinem Roman Moscoviada (Moskoviada) zudem auch den Wohnheim-Topos auf und entwirft ein Bild Moskaus, das Makanins Dystopie noch in den Schatten stellt. Und auch dieser Roman bezieht Wohnheim, Hauptstadt und das zerschlagene Imperium metonymisch aufeinander.
51 | S piegel , Hubert: Blick aus der Moskauer Gosse auf ein Panorama der Zerstörung: Wladimir Makanins bewegender Roman »Underground, oder Ein Held unserer Zeit«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 07.10.2003, FAZ-Buchmessenbeilage.
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10. »Tscherboslowaten, Rumängolen, Schwiechen«
Jurij Andruchovyčs Moskau als Junk Space der Kulturen Junkspace ist das, was übrig bleibt, wenn die Modernisierung ihren Lauf genommen hat, oder präziser, die Gerinnung während des Fortschreitens der Modernisierung, ihr Fallout.1 R em K oolhaas
Verbindet der Ort der Handlung Jurij Andruchovyčs 1993 publizierten Roman Moscoviada (Moskoviada) mit Vladimir Makanin, so siedeln Ästhetik, zahlreiche Motive und deren Behandlung frappierend nah an Jáchym Topols Prag-Büchern: die Topoi der Rasse, der ethnischen Vermischung und unzuverlässigen Askription; der Reflex zerstörter Reinheitsvorstellungen in einer drastischen, poetischen Sprache; ein Underground, der Unterwelt ist.2 Während jedoch Topols zu dekonstruierende Referenzgröße die geschlossene Tripolis Praga bildet und Makanin ohnehin eine russische Binnenperspektive wahrt, untersucht Moscoviada ein postimperiales Trauma. Andruchovyč erörtert einen zerstörten Großraumgedanken und dessen Alternativen, womit er wiederum in die Nachbarschaft von Andrzej Stasiuk rückt. Indes erweist sich seine postkoloniale Underground-Wende-Stadt-Phantasie als ästhetisch radikaler, nicht zuletzt durch eine intertextuelle Einbettung in das lyrische Werk des Autors. Dort nämlich bietet Andruchovyč einen urbanen Gegenentwurf zu seinem Verheerungsbefund in Moscoviada: das galizische Lemberg, 1 | K oolhaas , Rem: Junkspace. Eine ellenlange Analyse im übelriechenden Raum der Unzumutbarkeit. In: Der Freund 1 (2006), S. 17-32, hier 17. 2 | A ndruchowy tsch, Juri: Moscoviada. Aus dem Ukrainischen v. Sabine S töhr. Frankfurt am Main 2006. – Das Original erschien unter A ndruchovyč , Jurij: Moskoviada. IvanoFrankivs’k 2000. Der Roman wurde schon 1993 in der Kiewer Zeitschrift Sučasnist’ (Gegenwart) publiziert.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
dereinst latinisiert zu Leopolis. Bei Andruchovyč steht es für die eigentliche, die europäische Stadt. Dieses Spiel des Gesamtwerks mit abgrenzend aufeinander bezogenen Gegenständen, Gattungen und Tonarten lässt Andruchovyčs Poetik ausgeprägter postmodern wirken als die eines Topol, von Stasiuk oder Makanin zu schweigen. Derweil weisen die Biografien Ähnlichkeit auf. Wie Topol entstammt Jurij Andruchovyč dem Umfeld des sowjetzeitlichen künstlerischen Underground. Geboren 1960 in Ivano-Frankivs’k, begann er in den 1980er Jahren Gedichte im ukrainischen Samizdat (Samvydav) zu schreiben und ab 1985 auch in staatlichen Publikationshäusern wie dem Komsomol-Verlag Molod (Jugend) offiziell zu veröffentlichen. Im selben Jahr gründete er in Lemberg mit Viktor Neborak und Oleksandr Irvanec’ die Performance-Gruppe BU-BA-BU, deren Name programmatisch für Burleske, Balagan und Buffonade stand und »Durcheinanander« oder »Chaos« konnotiert.3 Kritiker bezeichnen den Stil von BU-BA-BU auch als »ukrainischen Neo-Barock«. 4 Verortet ist er qua Manifest im Urbanen.5 Die Lesungen der Gruppe kombinierten Lyrik mit Ballett und klassischem Orchester, mit Lichtkunst, Kostümierung, Rock und Punk.6 Angetreten aus einer Position der subkulturellen Marginalität, gelang es BU-BA-BU, bald als ein zentrales Phänomen der Jugendkultur wahrgenommen zu werden.7 Die »Bubabisten« inspirierten neoavantgardistische Tabubrecher wie die Kiewer Formation Propala hramota (Verlorene Bildung), die Performance-Gruppen Červona fura (Roter Sattelschlepper) in Charkiv und LuHoSad in Lemberg.8 Wie BU-BA3 | Tamara Hundorova definiert die Gruppenaktionen als Underground-Kultur und spezifiziert: »Philosophically and aesthetically, this literature was influenced by high avant-garde culture, but it also practiced forms characteristic of mass culture.« – Hundorova , Tamara: The Canon Reversed. New Ukrainian Literature of the 1990s. In: Journal of Ukrainian Studies 1-2 (2001), S. 249-270, hier 259. – Zur Beschreibung einzelner Aktionen, darunter das Rock-Happening Chrysler Imperial, siehe Hrycak , Alexandra: The Coming of »Chrysler Imperial«. Ukrainian Youth and Rituals of Resistance. In: Harvard Ukrainian Studies 5 (1997), S. 63-91. 4 | I vashkiv, Roman: Postmodern Approaches to Representation of Reality in Ukrainian and Russian Literatures. The Prose of Yuri Andrukhovych and Viktor Pelevin. In: Journal of Ukrainian Studies 1 (2007), S. 37-61, hier 42. 5 | Dazu siehe die Statements in den BU-BA-BU-Textsammlungen: N eborak , Viktor: Vvedennja u BU-BA-BU [Einführung in BU-BA-BU]. L’viv 2001. – A ndruchovyč , Jurij/Irvanec ’, Oleksandr/N eborak , Viktor: BU-BA-BU. Vybrani tvory. Hg. v. Vasyl’ G abor. L’viv 2007. 6 | Ausführlicher dazu A ndryczyk , Mark: Bu-Ba-Bu: Poetry and Performance. In: Journal of Ukrainian Studies 1-2 (2002), S. 257-272. 7 | H undorova , Tamara: Kitč i literatura. Travestiji [Kitsch und Literatur. Travestien]. Kyjiv 2008, S. 235-248, hier 245. 8 | Wörtlich meint LuHoSad so viel wie »Obstwiese«, zusammengesetzt aus »Wiese« (luh) und »Garten« (sad), verbunden durch ein »o«. Die Kombination spiegelt aber auch die An-
10. »Tscherboslowaten, Rumängolen, Schwiechen«: Jurij Andruchovyč
BU griffen diese Traditionen der amerikanischen Beat Generation auf und interpretierten sie für sich, darunter insbesondere die Inszenierung des Künstlers als outcast. Im Vergleich zu anderen Underground-Schriftstellern ist Andruchovyčs entsprechendes Autonarrativ zurückgenommen, kreist aber gleichfalls um die Anklage einer »uneigentlichen«, ästhetisch ignoranten »Macht«. Und wiewohl weniger existenziell oder extrovertiert, verabsolutiert auch er den Alltag, seine oppositionspoetischen Selbst-Inszenierungen, lebt aus einem Totalitätsverlangen der poetischen Äußerung, integriert Kunst und Leben und spiegelt diese potenziell gewalthafte Umfasstheit ästhetisch.9 Die »Verbindung von allem mit allem« nennt Andruchovyč diese Werkmaxime. An der Textoberfläche manifestiert sie sich durch »phonetische Effekte, rhythmische Schärfe des Rock ’n’ Roll, Reichtum, Genauigkeit und – das Wichtigste – absolut innovative und überraschende Reime, eine drastische und selten gebrauchte Lexik, in der Archaisches neben Slang und euphorische Erhabenheit neben grenzenloser Obszönität« steht.10 Die Realität, der diese Ästhetik entspricht, ist die des Junk Space.
fangsbuchstaben der Mitglieder: Ivan Lučuk, Nazar Hončar und Roman Sadlovsky. – Dazu im Überblick K ratochvil , Alexander: Aufbruch und Rückkehr. Ukrainische und tschechische Prosa im Zeichen der Postmoderne. Berlin 2013, S. 71. 9 | Aus generationeller wie thematisch-motivischer Sicht lohnt sich ein Vergleich mit der Stadtprosa von Serhij Žadan. In Anarchy in the UKR (2006) fungieren das ostukrainische Charkiv und die Industrieregion Donbas als urbane Spielplätze der Figuren. – H ofmann, Tatjana: Serhij Žadans »postproletarischer Punk«. Verweigerung einer homogenen Kulturalisierung des urbanen Raumes. In: Unter der Stadt. Subversive Ästhetiken in Ostmitteleuropa. Hg. v. Mónika D ózsai, Alfrun K liems u. Darina P oláková . Köln-Weimar-Wien 2014, S. 198-225. 10 | A ndruchowy tsch, Juri: Etwas weiter, als die Sprache erlaubt. In: Engel und Dämonen der Peripherie. Essays. Frankfurt am Main 2007, S. 109-115, hier 113. – A ndruchovyč , Jurij: Trochy dali, niž dozvoljaje mova. In: D ers.: Dyjavol chovajeťsja v syri. Vybrani sproby 19992005 rokiv. Kyjiv 2006, S. 168-173, hier 171: »Моя тодішня концепція вірша […] передбачала фонетичну ефектність, рок-н-рольну-гостроту ритмічної структури, багатство, точність і – головне – цілковиту іновативність і несподіваність рими, драстичну й рідко вживану лексику, що в ній архаїка сусідувала б зі сленгом, а ейфорійна піднесеність – із межовою обсценністю. Так і уявлявся мені той зв’язок усього з усім, вказувати на який буцімто і є присначенням поезії.«
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M osk au und der J unk S pace der K ulturen Junkspace. Eine ellenlange Analyse im übelriechenden Raum der Unzumutbarkeit lautet der Titel eines architekturkritischen Essays von Rem Koolhaas: »Junkspace ist das, was übrig bleibt, wenn die Modernisierung ihren Lauf genommen hat, oder präziser, die Gerinnung während des Fortschreitens der Modernisierung, ihr Fallout.«11 Abgeleitet von Space Junk, dem von Menschen im Weltall hinterlassenen Müll, meint Junk Space die Entropie des ausufernden urbanen Wildwuchses. Er schafft über Spiegelflächen Orientierung ab, generiert endlose, quasi-nahtlose Gebäude, ersetzt Physiognomien durch reine Physis. Mit Hilfe funktionaler Hindernisse, die zugleich ästhetische Störungen darstellen, kanalisiert er Menschenströme, macht unwirtliche Leerstellen zu Orten des Aufenthalts. Seine Prototypen sind Flughäfen, beshoppte Bahnhofshallen, Tankstellen, Einkaufscenter, Bürokomplexe. »Junk Space ist autorlos, doch überraschend autoritär.«12 Einem Despoten gleich verrührt er das Hohe mit dem Niedrigen, das Private mit dem Öffentlichen – alles mit allem. Heraus kommt ein formlos-beliebiges »Flickwerk permanenter Zusammenhanglosigkeit«,13 in dem »Hierarchie durch Akkumulation, Komposition durch Addition« ersetzt wird.14 Das gebaute Gewölle bildet die Nutzeroberfläche der Städte und strukturiert den Alltagsvollzug ihrer Bewohner, Freizeit und Kultur, die Sprache. In Osteuropa ist es Teil jenes »Turbo-Urbanismus«, den Kai Vöckler in den Nachwende-Städten des Balkan ausmacht,15 und der auf die von Karl Schlögel pittoresk beschriebene »Welt der Basare« folgt.16 Junk Space ist der entdifferenzierte, ubiquitäre und uniforme Gebrauchsraum, der nach dem Erlöschen des bürgerlich-liberalen wie des autoritär-utopischen Gestaltungswillens die Stadt kolonisiert, ein architektonisches Pendant des convenience food. Der koolhaassche Befund unterscheidet sich grundlegend von Beobachtungen Thierry Bardinis. Dessen Konzept des Junk Ware bezieht sich zwar auch auf das, was übrig bleibt, wenn die Modernisierung ihren Lauf genommen hat. Indes sind die Überreste für ihn Fragmente mit einem per se kreativen Potenzial, deren Recycling nur noch aussteht. Kein Müll also, sondern – gemessen an der Genetik – die 98,5 für die Proteinkodierung unwichtigen Prozente, die dennoch ein unhintergehbares Informationspolster bilden, ohne dass vorhergesehen werden 11 | K oolhaas: Junkspace, S. 17. 12 | Ebd., S. 26. 13 | Ebd., S. 18. 14 | Ebd. 15 | Vöckler, Kai: Prishtina is Everywhere. Turbo-Urbanismus als Resultat einer Krise. Berlin 2008. 16 | S chlögel , Karl: Marjampole oder: Die stille Verfertigung Europas. In: D ers .: Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte. München-Wien 2005, S. 9-34, hier 19.
10. »Tscherboslowaten, Rumängolen, Schwiechen«: Jurij Andruchovyč
kann, welches Element dies im Einzelnen betreffen wird. Für Bardini erstreckt sich der Paradigmenwechsel in der Genetik auf den Bereich der Kultur insgesamt, nicht zuletzt auf das Archiv oder das Internet. Junk Ware wird damit zur master trope (westlichen) Kulturdenkens: »Junk is the organizing principle of that which cannot be organized, the operating mode of that which has no function (yet). Junk is, and, I claim, junk rules.«17 Anders die Sicht von Koolhaas auf den Junk Space, dessen Beobachtungen das pointieren, was sich ästhetisch reflektiert auch bei Topol und zumal Stasiuk findet. Am konsequentesten in eine Literatur der vollendeten Dystopie jedoch verwandelt sie Andruchovyč. Dessen Bilder sind zunächst »konventionell«. Das Moskau in Moscoviada ist eine Stadt der »tausendundeinen Folterkammer«, »Vorposten des Ostens zur Eroberung des Westens«, die »letzte Stadt Asiens, vor deren betrunkenen Alpträumen die entkräfteten und germanisierten Monarchen panisch flohen«. Sie ist die »Stadt von Syphilis und Hooligans, beliebtes Märchen bewaffneter Penner«:18 Sie kann nur fressen, diese Stadt der vollgekotzten Hinterhöfe und der windschiefen Bretterzäune […]. Stadt der Verluste. Es wäre gut, sie dem Erdboden gleichzumachen. Wieder die dichten finnischen Wälder zu pflanzen, die es hier früher gab, Bären, Elche, Rehe anzusiedeln – auf dass sie bei den moosüberwachsenen Kreml-Ruinen äsen, auf dass Barsche in den zu neuem Leben erwachten Wassern der Moskwa schwimmen, wilde Bienen in tiefen duftenden Höhlungen emsig Honig sammeln. Man muss diesem Land Ruhe gönnen vor seiner verbrecherischen Hauptstadt.19
Ausscheidungen, Ruin, Peripherie; Kulturraumbehauptungen als Unterwerfungsgeschichte; naturromantische Vernichtungs- als Erlösungshoffnung: Die inzwischen bekannten Motive sind hier intim verwoben mit dem Topos eines
17 | B ardini, Thierry: Junkware. Minnesota 2011, S. 24. 18 | A ndruchow y tsch: Moscoviada, S. 89-90. – A ndruchov yč : Moskoviada, S. 57: »Це місто тисячі та одної катівні. Високий форпост Сходу перед завоюванням Заходу. Останнє місто Азії, від п’яних кошмарів якого панічно втікали знекровлені та германізовані монархи. Місто сифілісу та хуліганів, улюблена казка озброєних голодранців.« 19 | A ndruchow y tsch: Moscoviada, S. 89-90. – A ndruchov yč : Moskoviada, S. 57: »Воно вміє тільки пожирати, це місто забльованих подвір’їв і перекошених дощаних парканів […]. Це місто втрат. Добре б його зрівняти з землею. Насадити знову дрімучі фінські ліси, якi тут були раніше, розвести ведмедів, лосів, косуль – хай пасуться довкола порослих мохами кремлівських уламків, хай плавають окуні в ожилих московських водах, дикі бджоли хай зосереджено накопичують мед у глибочезних пахучих дуплах. Треба цій землі дати спочинок від її злочинної столиці.«
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geborstenen Imperiums, dessen überdauerndes Erbe eine alles und jeden einschließlich des Texts und seiner Sprache erfassende Aggressivität ist. Mit dem aus Galizien stammenden Literaturstudenten Otto von F. kommt zunächst ein Kind seiner verlorenen Gegenwelt in dieses Moskau. Mark Andryczyk liest ihn als Otto von (Ivano-) Frankivs’k.20 Diese Stadt bildet – wie andernorts im Text auch noch Lemberg – eine verklärungsfähige Kontrastfolie zu Moskau. Wiewohl kein Name fällt, fragt der erschütterte Otto einen russischen Gesprächspartner, als der ihm fünfzig Jahre alte Postkarten aus Otto von F.s. Heimatstadt zeigt: »Was haben sie mit ihr angestellt?!«21 Otto kann die Stadt auf den Fotos nicht wiedererkennen, so »schön« (europäisch) sei sie dereinst gewesen. Den Russen wirft er sinnlose Zerstörungswut, den Ukrainern servile Anpassungsmentalität vor: »Der natürliche Wunsch, sich so schnell wie möglich in Großrussen zu verwandeln, hat gewisse Mutationen ausgelöst«, die bis nach Lemberg manifest seien. Wobei »Blässe« und »Schweinsäugigkeit« noch die freundlicheren Beschreibungen der bereitwillig zu »Großrussen« mutierten Ukrainer sind.22 In seiner Rage entwirft Otto das vergehende koloniale Zentrum Moskau als Ort der Nicht-Ordnung, außerhalb jeglicher Ordnung – und eignet ihr das Aufhebende des Naturraums Steppe an, eine existenzielle Macht der Entdifferenzierung, der Verschlingung und Vernichtung: Aber jetzt, wo ich inmitten einer von Pfählen und Stacheldraht begrenzten Steppe saures Bier trinke, wo der Wind von allen Seiten an meinen nassen Haaren reißt, wo mich ringsumher das endlose asiatische, Entschuldigung, eurasische Flachland, Entschuldigung, Land mit seinen eigenen Rechten und Gesetzen umgibt, ein Land, das es vermag, nach Westen zu wachsen und dabei kleine Völker, ihre Sprachen, Gebräuche, ihr Bier zu schlucken, auch große Völker zu schlucken, ihre Kapellen und Kaffeehäuser zu zerstören [...] kann ich nicht einfach die Hände in den Schoß legen [...]. 23
20 | A ndrycz yk , Mark: Three Posts in the Center of Europe. Postmodern Characteristics in Yuri Andrukhovych’s Post-Colonial Prose. In: Ukraine at a Crossroads. Hg. v. Nicolas H ayoz u. Andrej N. L ushnyck y. Bern 2005, S. 233-252, hier 240. 21 | A ndruchow y tsch: Moscoviada, S. 60. – A ndruchov yč : Moskoviada, S. 38: »Що вони з ним зробили?!« 22 | A ndruchow y tsch: Moscoviada, S. 61. – A ndruchov yč : Moskoviada, S. 39: »Вочевидь, природне бажання наших предків якомога швидше випнутися у великороси призвело до певних пристосуванчих мутацій.« 23 | A ndruchow y tsch: Moscoviada, S. 60. – A ndruchov yč : Moskoviada, S. 38: »Але зараз, коли я п’ю кисле пиво посеред пустиря, обгородженого стовпами й колючим дротом, коли вітер зусібіч шмагає моє мокре волосся, коли навколо –суцільна велика азійська, перепрошую, євразійська, рівнина, перепрошую, країна, зі cвоїми власними правилами й законами, і ця країна має здатність рости на захід, поглинаючи маленькі народи, їхні мови, звичаї, пиво, поглинаючи також великі народи,
10. »Tscherboslowaten, Rumängolen, Schwiechen«: Jurij Andruchovyč
Letzteres ist eine Floskel. Wie seine Pendants in so vielen Underground-Texten »unternimmt« auch der im Weiteren durchaus ambivalent gezeichnete Protagonist von Moscoviada zunächst nichts, sondern durchquert beobachtend, schreibend, saufend und delirierend den Stadtraum. Dieser wird abermals in zentralen Passagen vertikal konturiert, wobei sich Oben und Unten spiegeln, abwechseln, verkehren können. Der Untergrund, das sind geheime Wohnheim- und Kaufhauskatakomben, geheime Regierungstunnel und Metroschächte. Zu den literarischen Bezugsgrößen dieser Orte zählen Dante, Homer und Vergil – wie auch für das, was in ihnen vorgeht. Apokalyptisches, Untergang, Verfolgungswahn, Doppelung, weniger abgefedert denn gesteigert durch Karneval, Klamauk und groteske Phantastik aus dem Repertoire der BU-BA-BU-Poetik. Otto von F. bezieht ein Wohnheim, studiert Literatur am Gorki-Institut,24 schreibt an einem ukrainischen Versepos und verfasst Briefe an König Olelko II. von Kiew. An einem verregneten Frühlingsmorgen verlässt er das Studentenwohnheim, um mit einem Freund eine subversive Zeitung für Moskau zu gründen. Allerdings verschiebt er das Treffen, um Trinken zu gehen. Außerdem will er im Kaufhaus Welt des Kindes ein Geschenk besorgen, landet aber erst in einer Bierhalle,25 dann bei der russischen Schlangenbändigerin Galja, später in einer Imbissbude, der U-Bahn und im Keller des Kinderkaufhauses, wo er in die Fänge des Geheimdienstes gerät. Mit Mühe kann er dessen Riesenratten durch die Metro entkommen, sieht oberhalb Moskaus Straßen in sintflutartigen Niederschlägen untergehen und rettet sich knapp in den Kiewer Bahnhof, von wo er den Nachtzug zurück in die Heimat nimmt – nachdem er sich zuvor in seiner Not erschossen hat und nun von unterwegs »zornig, leer, mit einer Kugel im Kopf«26 dem König von seiner »verpatzten Weltreise«27 berichtet. руйнуючи їхні каплиці й кав’ярні, […] то я не можу склавши руки просто спостерігати […].« 24 | Im Nachwort zur deutschen Ausgabe beschreibt Andruchovyč seinen Aufenthalt an eben diesem Gorki-Literaturinstitut in Moskau: »Moskau war also Zentrum des Imperiums und Zentrum seines Untergangs zugleich.« – A ndruchow y tsch: Moscoviada, S. 221-223, hier 222. 25 | Zu urbanen Topoi wie Kneipe bzw. Bierhalle siehe S evruk , Alexej: Urbanistický prostor v románové tvorbě Jurije Andruchovyče [Der urbane Raum im Romanwerk von Jurij Andruchovyč]. In: Putování současnou ukrajinskou literární krajinou. Prozaická tvorba představitelů tzv. »stanislavského fenoménu«. Hg. v. Tereza C hlaňová u.a. Červený Kostelec 2010, S. 81-100, hier 87-90. – Sevruk appliziert das tschechische Kulturwort hospoda (Kneipe), seit dem 19. Jahrhundert verstanden als öffentlicher Kommunikationsraum, in dem Tschechisch gesprochen und verhandelt wird, auf Andruchovyčs Topoi. 26 | A ndruchow y tsch: Moscoviada, S. 215. – A ndruchov yč : Moskoviada, S. 138: »Злий, порожній, до того ж із кулею в черепі.« 27 | A ndruchowy tsch: Moscoviada, S. 215. – A ndruchovyč : Moskoviada, S. 138: »[...] завершую свою невдaлу довколасвітню подорож.«
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Die Schluss- und Schlüsselsequenz des Romans bildet ein Bankett in den Katakomben des KGB mit anschließendem Symposium der Toten. Maskiert als Iwan der Schreckliche, Katharina die Große, Lenin, Feliks Dzeržinskij treten die heimlichen Machthaber Russlands auf und planen die Wiederherstellung des Imperiums, ja seine globale Expansion. Geister der Vergangenheit, lassen sie sich nicht austreiben, gleich gar nicht in einer Zeit, die das Unterste nach oben kehren wird, wie einer der Maskierten prophezeit. Einhellig fordern die Unterweltgrößen – Deportationen. Waren Verbannung und Zwangsmigration seit je Teil der Moskau-Petersburger russischen Politik, so erreichten sie ihren Höhepunkt unter der Diktatur Stalins: Mehr als sechs Millionen Menschen wurden innerhalb des Landes »umverteilt«: Kriminelle, Deviante, Oppositionelle, zu Klassenfeinden erklärte soziale Gruppen, suspekte Ethnien wie Esten, Wolgadeutsche, Krimtataren oder Inguschen, schließlich Ansiedler für die 1945 von Polen und Deutschland annektierten Vertreibungsgebiete. Nun wird die Deportation zur Parole der buchstäblich in die Unterwelt verdammten Monster der russischen Geschichte. Durch Vertreibungen, so die Altvorderen, würden die amputierten Glieder des Reichs wieder zusammenwachsen. Kulturelle Vermischung sei der Schlüssel zur Wiedergewinnung des Imperiums. Um dessen Zerfall aufzuhalten, seien die Völker Europas und Asiens noch einmal gründlich durchzuwalken: Indem wir die Idee von der großen Völkerwanderung unterstützen, werden wir das Entstehen ganz neuer, chimärischer Nationen und Völkerschaften befördern, mit so verdrehten Namen, dass sie sich ihrer selbst schämen werden: Rossijaken, Ukralier, Karelo-Mingrelen, Tscherboslowaten, Rumängolen, Niederbaidschaner, Schwiechen, Greden, Franzusbeken, Kurdofranken, Judoschwaben und Karpartoruthen. 28
Der Namensbrei als semantische Macht (»dass sie sich ihrer selbst schämen werden«), als koloniale Identitätszerstörung durch Entdifferenzierung und zu imperialen Zwecken: Andruchovyčs onomatopoetische Groteske entspricht in wesentlichen Zügen dem, was Junk Space ist und wie er funktioniert. Nur fällt der kolonialen Deprofilierung hier nicht primär der beschriebene Stadtraum zum Opfer. Was sich vielmehr abzeichnet, ist ein umfassender Junk Space der Kulturen, in dem aus authentischer Zugehörigkeit unwirtlich-beliebige Durchgangsräume der Askription werden. Zugleich »autorlos und autoritär«, wie bei 28 | A ndruchow y tsch: Moscoviada, S. 202-203. – A ndruchov yč : Moskoviada, S. 129-130: »Всіляко підтримуючи ідеї великого переселення, ми досягнемо виведення цілком нових і химерних націй та народностей з настільки покрученими назвами, що вони самі будуть їх соромитися: росіяків, укралійців, карело-мінгрелів, чербословатів, румунголів, нідербайджанців, швеків, гредів, французбеків, білошвабів, курдифранків, жиздоболів та карпатських русинів.«
10. »Tscherboslowaten, Rumängolen, Schwiechen«: Jurij Andruchovyč
Rem Koolhaas, ist auch diese Bewegung ohne Weiteres als Chiffre für eine postsozialistische alias postmoderne kulturkoloniale Imperialität überhaupt zu verstehen.29 Allerdings nur, insofern ihre Advokaten eben chimärisch-phantastische Untergrund-Gestalten beziehungsweise figurierte Geschichtsmächte sind – und Russland hier bei aller konkreten Denunziation in der Figurenrede Otto von F.s beschrieben wird. Analog lassen sich scheinbar eindimensional russophobe Skizzen wie die New Yorker Emigrantenszenerie in Andruchovyčs Essay von 2001 Romanze mit dem Universum (Roman z universumom) als Befund eines global-kulturellen Junk Space lesen: »Und schon bist du mittendrin, alles erwacht zu neuem Leben, es verfügt über die superbiologische Fähigkeit, sich zu reproduzieren: Schapkas, wollene Kopftücher, Stöße in den Rücken, schmutziger Schneematsch unter den Füßen, Alla Pugatschowa, Kunstleder, Goldzähne, […].«30 Nur wandern Junk-Phänomene eben nicht auf einer west-östlichen Einbahnstraße, sondern werden polyzentral produziert und reproduziert, und sind Kunstleder und Alla Pugatčova dem städtischen Alltag um keinen Deut zuträglicher als McDonald’s oder die Shopping Mall. Beides, die postulierte »Unzumutbarkeit« des Massenkulturellen wie die präkonstruktivistische Implikation einer bedrohten Authentizität verweisen abermals auf die romantische Wurzel und Grundierung von Underground-Ästhetiken allgemein. In Moscoviada freilich wird das als reine Resignation artikuliert – was angesichts der auf Übermächtigung gerichteten Zentraltrope der Imperialität nahezu zwingend ist. Es bleibt weder bei der Machtphantasie der geisterhaften Geschichtsgranden noch beim abstrakten Bild. Vielmehr hat sich der Galizier Otto von F. – eben noch die Schweinsäugigkeit der moskowisierten Lemberger beklagend – den rassischentropischen Duktus längst angeeignet. Der Text nämlich spitzt die imperiale Korruption seines Protagonisten szenisch zu, der nicht ohne Grund seinen deutschen Namen samt dem Patronym Wilhelmowytsch (Vil’hel’movyč / Вільгельмович) trägt. In den Tiefen des Wohnheims hört Otto Gesang, geht ihm nach und findet die duschende Madagassin Tatnaketea. Er nähert sich ihr, umfasst sie, und sie
29 | Auf diesem Abstraktionsniveau nähert sich der Imperialitätsbegriff (wie auch der des Kolonialen bei Rem Koolhaas) dem umfassend (global-)gesellschaftsanalytischen bei H ardt, Michael/N egri, Antonio: Empire. Cambridge 2000. 30 | A ndruchowy tsch, Juri: Romanze mit dem Universum. In: A ndruchowy tsch: Engel und Dämonen, S. 132-166, hier 150-151. – A ndruchovyč , Jurij: Roman z universumom. In: A ndruchovyč : Dyjavol chovajet’sja v syri, S. 25-41, hier 40: »И ось ти вже там, усередині, і все це оживає, наділене якоюсь супербіологічною здатністю до самовідтворення: шапки-вушанки, пухові хустки, штовхання у спину, брудне снігове місиво під ногами, Алла Пугачова, шкірзамінник, золоті зуби, […].«
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beugt sich, ohne ihn anzusehen, vor »wie Sklavinnen es tun«.31 Welcher Nation oder Partei sie angehöre, ihre Rasse interessiere ihn nicht, erinnert sich später der Student: »Im Gegenteil – ich fand es schön, dass sie eine andere Hautfarbe hat. Mit meinem Glied habe ich für einige unvergessliche Minuten Kontinente, Kulturen, Zivilisationen vereinigt.«32 Was erstens heißt, dass ihn die Hautfarbe sehr wohl interessiert, und zweitens in einem archetypisch kolonialen Sinn, als dunkelhäutiges Begattungsobjekt. Was Otto zur rassenübergreifenden Erfüllung eines »Kulturen aller Welt vereinigt euch« phantasiert, exekutiert die Machtlogik der imperialen Gespenster. Indes ist Otto verlogener, weil er sich als deren Opfer sein angeeignetes Tätertum nicht eingesteht. Per-Arne Bodin liest diese und weitere Sexszenen des Romans als Ausdruck europäischen und internationalen Begehrens, das sich auf das untergehende Imperium richtet. So symbolisiert die russische Gespielin Galja für ihn ein mit der Ukraine vereinigtes Russland, steht die Freundin Astrid für den »Westen« und die dunkelhäutige Tatnaketea »represents the international theme in the novel«.33 Bodin ignoriert in dieser Sichtweise, dass selbst Otto von F.s späterer Gesprächspartner Saško, ein Geheimdienstler, ihn wegen Tatnaketea zur Rede stellt und eindeutig der Vergewaltigung und des Rassismus bezichtigt.34 In der Vergewaltigungsszene bleibt Tatnaketea passiv-stumm, dem physischen und semantischen Handeln ihres Vergewaltigers ausgesetzt – der die Parallele zwischen ihrer scheinbaren Bereitwilligkeit und der beklagten Adaptibilität der Ukrainer an das Großrussentum nicht erkennen kann (oder will). Er schwärmt vielmehr ganz im Stil imperialer Apologetik von einer Vereinigung der Kulturen, Kontinente und Hautfarben. Nur um wenig später neuerlich die Tragik des Imperiums in dessen Bestreben auszumachen, das »Unvereinbare zu vereinen«.35 Junk Space, schreibt Koolhaas, »gibt vor zu vereinen, doch tatsächlich splittert er auf«.36 Vor allem das Bewusstsein derjenigen, die in ihm leben.37 31 | A ndruchowy tsch: Moscoviada, S. 23-25, hier 24. – A ndruchovyč : Moskoviada, S. 1516, hier 16: »[…] віддається так, як віддаютья рабині […].« 32 | A ndruchowy tsch: Moscoviada, S. 59-60. – A ndruchovyč : Moskoviada, S. 38: »Більше того – мені було приємно, що в неї не такий колір шкіри. Своїм членом я на декілька незабутніх хвилин поєднав далекі континенти, культури, цивілізації.« 33 | B odin, Per-Arne: The End of an Empire: On Iurii Andrukhovych’s Novel Moskoviada. In: From Sovietology to Postcoloniality. Poland and Ukraine from a Postcolonial Perspective. Hg. v. Janusz K orek . Huddinge 2007, S. 93-102, hier 99. 34 | A ndruchow y tsch: Moscoviada, S. 153. – A ndruchov yč : Moskoviada, S. 97. 35 | A ndruchow y tsch: Moscoviada, S. 62. – A ndruchov yč : Moscoviada, S. 39: »[…] поєднати непoєднуване […].« 36 | K oolhaas: Junk Space, S. 26. 37 | Insofern handelt es sich nicht einfach um »Reserviertheit« gegenüber dem »antikolonialen« Diskurs vom Vielvölkerstaat Sowjetunion, wie Alexander Kratochvil feststellt, sondern um die Verheerung, die das Koloniale nicht zuletzt für die Kolonialisierten mit sich
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Moscoviada zeigt den Kollaps einer Utopie zur Dystopie, schlimmer noch, in Entropie. Die – auch hier vertikal in Szene gesetzte – Skandalisierung von Macht und Exklusion geht über die verzweifelte Aporie der soweit behandelten Underground-Kunst hinaus durch die Vergewaltigerwerdung des Vergewaltigten. Die Entfremdung wird historisch, sozial und kulturell ubiquitär, zwischen Opfern und Tätern entdifferenziert, darüber uniform – ein imperialer, unentrinnbarer Junk Space der Kulturen. Solomija Pavlyčko nennt Otto von F. denn auch den innerlich zerrissensten Protagonisten der jüngeren ukrainischen Literatur: »Hating [Moscow], he also hates himself, his weakness, his inner emptiness. Ukrainian prose has never had a hero this empty and alienated.«38
Z weierlei Tod im D runk S pace : O tto und V enedik t Otto von F.s Odyssee durch die russische Hauptstadt ist derart gewalthaft, besäufnis- und deliriensatt, dass die Rezenten nicht umhin kamen, in den »alkoholbefeuerten Monologen«39 einen Verweis auf Venedikt Erofeevs inzwischen kanonische Reise nach Petuški (Moskva-Petuški) von 1973 zu erkennen. 40 Erofeevs im Samizdat kursierendes Poem habe wohl, so Wolfgang Schneider, »torkelnd Pate gestanden für diese spätsowjetische Phantasmagorie, in der die Trunkenheit zum Weltzustand wird«. 41 Trunken freilich macht in beiden Texten nicht allein der Alkohol, auch die Stadt versetzt in rauschartige Zustände – ein nachgerade klassischer Topos der Moderne. Gleichwohl handelt es sich um ausgeprägte Trinkerbücher, die das einschlägige Motiv der drogeninduzierten Entgrenzung selbst für Underground-Maßstäbe ausufernd nutzen – eben den Suff zum »Weltzustand« erheben. In Reise nach Petuški versucht der noch verkaterte Held des Poems namens Venička (Venedikt), in der Früh auf dem Kursker Bahnhof alkoholischen Nachschub zu besorgen, steigt dann in den Vorortzug nach Petuški, wo er allerdings nie anbringt. – K ratochvil , Alexander: Postkoloniale Lektüre postmoderner ukrainischer Literatur. In: Anzeiger für Slavische Philologie 36 (2010), S. 31-73, hier 47. 38 | Pavlychko, Solomea: Facing Freedom. The New Ukrainian Literature. In: From Three Worlds. New Ukrainian Writing. Hg. v. Ed H ogan . Boston 1996, S. 11-18, hier 17. 39 | Magenau, Jörg: Der Geheimdienst der Gespenster. In: Süddeutsche Zeitung v. 05.10.2006, S. 18. 40 | So auch U ricki j, Andrej N.: Moskva-Kiev. In: Znamja 12 (2001), S. 217-218. – Urickij bezeichnet den Text als »Roman-Palimpsest« auf einen »Palimpsest-Roman«. Allerdings sieht er die Unterschiede mehr in der Figurengestaltung. So liest er Venedikt als Dichter, Otto als Ukrainer, noch dazu als einen »naiven Provinzler«, durchdrungen von »nationalem Pathos«. 41 | S chneider, Wolfgang: Mit Bubabu wird alles gut. Juri Andruchowytsch feiert die Trunkenheit als Weltzustand. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.09.2006, S. 52.
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kommt. Am Ende des Tages schließlich landet er wieder in Moskau, wird dort von vier Männern verfolgt und schließlich unweit des Kreml in einem Treppenhaus ermordet. Während der Bahnfahrt indes schwadroniert Venička ununterbrochen: über Philosophie, Literatur und europäische Kunst, über Ethnopsychologie und den sowjetischen Alltag, über das Trinken, die Frauen, die russische »Seele« und Gott. Dirk Uffelmann, der Erofeevs Text als »Alkoholiker-Poem« klassifiziert, macht in ihm eine »metyphysische Erhöhung des Alkoholkonsums« aus und liefert eine »alkoholisch-christologische Doppellesart«, indem er das Poem in den Kontext der Kenose stellt. 42 Erofeevs christusähnlicher Ich-Erzähler steht für ihn in der Tradition der Selbsterniedrigung qua Leid: »Der erniedrigte Christus liefert das Modell für den Habitus des Helden wie für die Abbildungsformen des Poems.« 43 Über den Suff hinaus verbindet Venička und Otto von F. die unerfüllte Erlösungshoffnung »Zug«, der horizontale Ausweg. Otto von F. nimmt – mit einer Kugel im Kopf – schließlich am Ende des Tages die Eisenbahn, das Verkehrsmittel, das allererst das Imperium zusammenband, ins heimatliche Kiew. 44 Für Erofeevs Helden ist es die Vorortbahn nach Petuški, deren Haltepunkte den Text gliedern – ohne, dass klar würde, ob es eine delirierte oder tatsächliche Tagesreise ist. Allemal, Petuški, den dortigen friedlichen Vogelgesang und duftenden Jasmin, die heilende Provinz erreicht er so wenig, wie Otto anders denn im Leichenwaggon Moskau verlässt. Erofeev, der selbst eine Underground-Biografie als Heizer, Wärter, Fernmelder, Straßenarbeiter und Alkoholiker fern des offiziellen Literaturbetriebs lebte, schuf mit Die Reise nach Petuški einen automythisierenden Text, der sich nahtlos in die hier vorgestellten fügt. Auch sein Protagonist und Namensvetter positioniert sich abseits des Systems: »Ich bleibe unten, und von unten spucke ich auf eure Leiter des gesellschaftlichen Aufstiegs.« 45 42 | Uffelmann, Dirk: Venička, oder kenotische Intertextualität bei Erofeev. In: D ers.: Der erniedrigte Christus. Metaphern und Metonymien in der russischen Kultur und Literatur. Köln-Weimar-Wien 2010, S. 791-852, hier 796 u. 812. – Das Kapitel bietet zugleich einen Überblick über die Entstehungs- und Deutungsgeschichte des Poems. Uffelmann verweist insbesondere auf die Christus-Motive im Text, die ihn vom Ende aus gelesen auch als »Passionsgeschichte« bestehen lassen (S. 813). 43 | Ebd., S. 810. 44 | S chenk , Frithjof Benjamin: Die Produktion des imperialen Raumes: Konzeptionelle Überlegungen zu einer Sozial- und Kulturgeschichte der russischen Eisenbahn im 19. Jahrhundert. In: Mastering Russian Spaces. Raum und Raumbewältigung als Probleme der russischen Geschichte. Hg. v. Karl S chlögel . München 2011, S. 109-127. 45 | Jerofejew, Wenedikt: Die Reise nach Petuschki. Ein Poem. Aus dem Russischen v. Natascha Spitz . München 82002, S. 37. – E rofeev, Venedikt: Moskva-Petuški. Poema. Moskva 2007, S. 32: »Я остаюсь внизу и cнизу плюю на всю вашу общественную лестницу.«
10. »Tscherboslowaten, Rumängolen, Schwiechen«: Jurij Andruchovyč
Veničkas Reise führt ihn durch einen zunehmend konturlosen, halluzinierten Drunk Space, dessen Stationen, oder besser Stadien, über Ortsnamen der Strecke nach Petuški markiert sind – um schließlich wieder auf dem Kursker Bahnhof zu enden, dessen Vorplatz, Restaurant und Schnapsladen zu Beginn der Erzählung gleichsam als Zentralort Moskaus geschildert werden. Jeder Weg durch die Stadt, berichtet Venička, habe ihn bislang unweigerlich zum Kursker Bahnhof geführt; nicht ein einziges Mal sei es ihm hingegen gelungen, den Kreml ausfindig zu machen. Nun, zum Schluss hin und auf der Flucht vor vier obskuren, wie aus dem Nichts aufgetauchten Verfolgern – sieht er unvermittelt den Hort der Macht »in seiner ganzen Herrlichkeit« vor sich »erstrahlen« – »wo ich den Kursker Bahnhof nötiger brauche als irgendetwas auf der Welt...!« 46 Svetlana Geisser-Schnittman deutet die Figuren als Anspielung auf die vier apokalyptischen Reiter, figuriert von Marx, Engels, Lenin und Stalin. 47 Sie werden aber auch als Referenz auf die vier Soldaten gelesen, die Christus kreuzigten. 48 Auch Venička stirbt in Moskau. Die vier holen ihn ein, drücken ihn zu Boden und bohren ihm einen schraubenzieherähnlichen »gewaltigen Pfriem mit hölzernem Griff« in den Hals. 49 Mit dem Stich bricht der Redeschwall des Ich-Erzählers ab. Es liegt nahe, bei der Mordwaffe an eine Setzerahle zu denken, mit der im Buchdruck der fertige Satz ausgebunden, also gesichert wird.50 Venička – die Romanfigur – hatte nie eine Chance. Der Kreml war immer da. Die Engelsstimmen, die seine Halluzinationen durchziehen, waren immer schon mit der Macht im Bund. Die Ausflüge nach Venedig und Paris, London und New York, die er im Gespräch gegenüber seinen Mitreisenden unternahm, waren nur: Poesie. Und der Kursker Bahnhof, Tor zur Rettung, entzieht sich ihm einer Fata Morgana gleich in dem Moment, in dem er ihn wirklich benötigt. Moskau lässt ihn so wenig entkommen wie den gleichermaßen fuselbeseelten Otto von F. Auch in dessen Geschichte ist eine der letzten Stationen ein Bahnhofsvorplatz, hier der des Kiewer – und abermals tritt ein Engel als Todesbote auf. Doch kann Otto sich, post mortem die steppenhaft-windige, in einer Sintflut versinkende Stadt verlassend, auf seiner Holzklassenliege zureden, es gehe nach Hause (»Denn ich fliehe 46 | Jerofeje w: Die Reise nach Petuschki, S. 159. – E rofeev : Moskva-Petuški, S. 138: »Кремль сиял перед мной во всем великолепии. […] И вот теперь увидел – когда Курский вокзал мне нужнее всего на свете.« 47 | G ajzer -Šnitman [Geisser-Schnittmann], Svetlana: Venedikt Erofeev, »Moskva-Petuški« ili »The Rest is Silence«. Bern u.a. 1989, S. 229. 48 | Dazu U ffelmann: Venička, oder kenotische Intertextualität, S. 813. 49 | J erofejew : Die Reise nach Petuschki, S. 162. – E rofeev : Moskva-Petuški, S. 141: »[…] гомадное шило с деревянной рукояткой […].« 50 | Uffelmann: Venička, oder kenotische Intertextualität, S. 817: »Als Todesursachen werden mehrere im Poem angegeben; da ist einmal das Würgen und Durchstechen der Kehle – in einer physiologischen Lesart als der typische Tod des Alkoholikers durch Kehlkopfkrebs ausdeutbar – und das Festnageln am Boden.«
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nicht, sondern kehre heim.«) – und von einer europäischen Ukraine an der Donau träumen. Einen tödlichen Fremdkörper im Leib hat auch er, und doch überlebt ein Geist-Etwas, das von Hoffnung reden kann: »Hauptsache, bis morgen überleben. Bis nach Kiew kommen.«51 Das postmoderne Verfahren des verdoppelten, damit geöffneten Endes setzt Moscoviada entschieden gegen die im Mordwerkzeug metaphorisch inszenierte und mit dem letzten Satz bekräftigte Abgeschlossenheit der Reise nach Petuški: »Seither habe ich das Bewusstsein nicht mehr erlangt und werde es auch nie mehr erlangen.«52 Venička geht unter in einem stabil vermachteten, unentrinnbaren Stadtraum. Ottos Tod fällt in das Zerbrechen dieses imperialen Gefüges und lässt entsprechend einen Lichtspalt. Dem korrespondiert eine weitere historisch-poetische Differenz, nämlich in der Vertikalen-Behandlung. Erofeev verlegt sie in die Figur. Veničkas vergebliche horizontale Bewegung lässt ihn immer tiefer in sich selbst abstürzen, bis in Bewusstseinslosigkeit und Tod als konsequenteste Form des Hinab. Keine »positive« Figur, sondern schäbig, räudig, versoffen, halbirre bleibt er gleichwohl eindeutiges Opfer der »Verhältnisse«. Es sei denn, die Stimme aus dem Off wird mit dem Konzept der Kenose als »minimale Repräsentation von Auferstehung, von Kontinuität post mortem« gelesen. Was bleibe, so Uffelmann, sei das »aus der christlichen Botschaft bekannte Paradox«: »Entweder ist er nicht bei Bewusstsein, dann spricht er nicht, oder er spricht und hat (irgendeine Form von) Bewusstsein.«53 Anders Andruchovyčs moralisch kontaminierter Otto von F., der zunächst selbst kolonialer Täter wird, dann in einen grotesken Untergrund steigt und dort denselben Mächten begegnet, die Venedikt töten. In einer weiteren intertextuellen Referenz verlegt Andruchovyč selbst das Denkmal für Kuzma Minin und Fürst Dmitrij Požarskij, an dem Venedikt sich zu orientieren versucht, vom Roten Platz in sein phantasmagorisches Unten. Dort nun lässt er Otto ein Gemetzel unter den imperial Maskierten anrichten – die sich als sägemehlgefüllte Puppen, als »Popanze« und »Symbole« erweisen. Dann erschießt er sich selbst, um den entfesselten Rattenschergen zu entgehen. Es folgt der Aufstieg zum Bahnhof und die beschriebene Öffnung des Endes. Während Erofeev also den Underground seinem Protagonisten einschreibt, externalisiert Andruchovyč ihn und eröffnet Otto so Handlungsspielräume, im Guten wie im Bösen. Zugleich ist die Unterwelt in Moscoviada kein gegen eine entfremdete Oberfläche konstrastierter Ort der Wahrhaftigkeit, sondern der Raum, in dem die tatsächlichen Verbrechen – auch Ottos – geschehen, in dem der impe51 | A ndruchow y tsch: Moscoviada, S. 215. – A ndruchov yč : Moskoviada, S. 138: »Бо я сьогодні не втікаю, а повертаюся. […] Головне – дожити до завтра. Дотягнути до станції Київ.« 52 | Jerofeje w: Die Reise nach Petuschki, S. 162. – E rofeev : Moskva-Petuški, S. 141: »[…] и с тех пор я не приходил в сознание, и никогда ни приду.« 53 | U ffelmann: Venička, oder kenotische Intertextualität, S. 842-843.
10. »Tscherboslowaten, Rumängolen, Schwiechen«: Jurij Andruchovyč
riale, völkerverschlingende Junk Space der Kulturen ja erdacht und lanciert wird. Moscoviada lässt sich als Absage an den klassischen sowjetischen Underground lesen, die dessen Mittel und Motive fortschreibt, seine Wertungen indes verkehrt: Der ästhetischen Opposition wird pseudo-heroische Resignation attestiert, die letztlich auf Begünstigung des imperialen status quo hinausläuft, wenn nicht auf Partizipation. Im Gegensatz dazu vermag der kolonial zwar verführbare, »wesentlich« aber »europäisch« disponierte Galizier Otto sich der Vereinnahmung zu entziehen – wenn auch nur um den Preis seines Lebens. Seinem Sprechen indes gelingt gar die Flucht aus Apokalypse und postkolonialer Entropie.
K itsch , I ronie und E uropa . O der : O h L emberg! Der Maskenball der Machtgestalten ist nur eines von zahlreichen Motiven und Verfahren, die Moscoviada den karnevalesken Konzepten des »Bubabismus« verdankt. Tamara Hundorova ordnet beides einem popkulturellen Schreiben zu, das aus venezianischem und postkolonialem einen spezifischen »Karnevalkitsch« generiert.54 BU-BA-BU »versteckte« sich, so Hunderova weiter, keineswegs im Untergrund, sondern eroberte mit Verfahren wie der Theatralisierung der Dichtung, deren Einbindung in Sound-Artistik und Rock-Musik rasch das Jugendtheater in Kiew, dann das Operntheater von Lemberg, schließlich die Ukraine als Ganzes. Das gelang der Gruppe nicht zuletzt, indem sie nationale Gemeinplätze popkulturell verkitschte, ukrainischen Patriotismus mit Ironie durchsetzte, eine unterhaltsame, doppelbödige Lyrik präsentierte, deren zentrales Verfahren »a kind of paronomastically-oriented double-meaningness of words, phrases, and images« darstellte.55 Mehr noch, die sowjetische Verfalls- und Wendezeit ließ die »Bubabisten« mit radikalkreativem Spielwitz, eingängigen Provokationen, sexualisierten Metaphern, nicht zuletzt dank eines losgelassenen Einklangs mit dem ebenfalls jungen Publikum einen doppelten Status erringen als Symbolgestalten der Demokratisierung – und Pop-Stars.56 54 | H undorova : Kitč i literatura, S. 236. 55 | N aydan , Michael M.: Ukrainian Avant-Garde Poetry Today: Bu-Ba-Bu and Others. In: The Slavic and East European Journal 3 (2006), S. 452-468, hier 457. 56 | Kennzeichnende Elemente dieses Spiels mit vermeintlicher Intimität und Enthobenheit, mit der Zeichensprache der nach wie vor unheimlichen Autoritäten und mit übermütigem Nonsens waren insbesondere ein P-Dreiklang-Rollenspiel als »Prokurator« (Neborak), »Pesetenhüter« (Irvanec’) und »Patriarch« (Andruchovyč); andererseits die Selbstinszenierung als narzisstische Idole, die ostentativ unbescheiden einen Platz im ukrainischen Kunstkanon beanspruchten. – Über die ästhetischen Auswirkungen: »Eclecticism still reigns: formalism, free verse, rap-influenced recitation all thrive side by side. The principal transformation in poetry, as well as in prose, had not to do with form but with diction. In
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Hundorova führt den Erfolg von BU-BA-BU auf eine zwischen Affirmation und Subversion geschickt changierende Instrumentalisierung von – gebrochenem – Kitsch zurück. Namentlich macht sie in den Produktionen Jugendkitsch aus, Nationalromantik, populäres Christentum, soft-satanistische Anzüglichkeiten, Kosakenkitsch und, natürlich, raubeinigen Rock und zuckrigen Pop. Wobei Kitsch meint: klischierte, überladene Bilder, die auf starke emotive Assoziationen setzen und namentlich serielle Imitationen von Idylle, Harmonie und Einssein (mit der Natur, der Heimat, der Gemeinschaft, in der Liebe, mit sich) massenhaft konsumierbar machen. Der »Bubabismus«, darin ganz postmodern, zerspiegelt die Illusionen des Kitsch, übersteigert die Geschmacklosigkeiten, um sie so zu subvertieren – aber auch von ihrer Marktgängigkeit zu profitieren. »Bubabismus« kokettiert – und das unterscheidet ihn vom Kabarett, dessen Übersteigerungssatire dramatisch entschlossener daherkommt. Am nächsten steht er noch einer konzeptualistischen SozArt, die von der amerikanischen PopArt inspiriert staatssozialistische Kanones zu unterlaufen sucht, indem sie autoritär verfügte Ikonen entweiht, Obrigkeitsparolen rekontextualisiert, epigonal »Unvereinbares« verblendet. Entsprechend attestiert Hundorova den »Bubabisten« einen aufklärerischen Impuls, da sie die dämonische Seite des Kitsches kenntlich machen, »auf der Bühne zeigen, wie leicht die Maskerade zum Putsch wird, ein Putsch sich als Maskerade entpuppt«.57 Auch Moscoviada vollzieht diese burleske Ambiguität literarisch nach. Wenn die russischen Geschichtsgeister von imperialer Völkerverständigung delirieren, mindestens so selbsttrunken wie der besoffene Otto, dann liegt das Dämonische dieses postsozialistischen Kitsches offen zutage. Derweil konzentrierte sich BU-BA-BU zunächst auf die »postmoderne« ukrainische Gesellschaft, die sie, so Hundorova, als »infantil, narzisstisch und kritischer Selbstreflektion gegenüber verschlossen« diagnostizierte – eben im Verfahren der ästhetischen Übersteigerung zu Persiflage und Selbstpersiflage.58 Bei näherem Hinsehen freilich ist das nur ein Aspekt dieser Poetik. Eine deutlich zurückgenommenere, konziliantere, ja liebevolle Ästhetik – und mit ihr ein anderes Underground-Konzept – verwendet Andruchovyč, wo es um seinen Gegenentwurf zur postimperialen Dystopie Moskau geht: Galizien, dessen Städte, und allen voran Lemberg.
the last years, urban sounds, anxieties, cynicism, and crude humor have won admission to the palace – no, make that the pub – of art.« – Pavlychko: Facing Freedom, 14. – Siehe auch N aydan, Michael M.: Ukrainian Literary Identity Today. The Legacy of the Bu-Ba-Bu Generation after the Orange Revolution. In: World Literature Today 3-4 (2005), S. 24-27: »They offered a vibrantly alternative creative energy to a young, urban audience that, following decades of cultural stagnation under the Soviets, thirsted for newness and innovation.« 57 | H undorova : Kitč i literatura, S. 245. 58 | Ebd., S. 248.
10. »Tscherboslowaten, Rumängolen, Schwiechen«: Jurij Andruchovyč
Lemberg spielt im Werk Jurij Andruchovyčs eine tragende Rolle.59 In Exotische Vögel und Pflanzen (Ekzotyčni ptachy i rosliny) widmet Andruchovyč ihr 1991 etliche Balladen, jeweils versehen mit einem Motto aus Ivan Kryp’jakevyčs Historischen Spaziergängen in Lemberg (Istoryčni prochody po L’vovi) von 1935; die Etüden mit Bauwerk (Novi etjudy budivel’) im selben Band kartieren die Stadt entlang prominenter, teils heterotopischer Einrichtungen: Kaserne, Bahnhof, Universität, Gruft, Bibliothek, Heilanstalt und Planetarium. Über zehn Jahre später versammelte Lieder für den toten Hahn (Pisni dlja mertvoho pivnja) zwischen 1999 und 2004 entstandene Gedichte, die deutlich weltläufiger referenziert sind, und doch immer wieder nach Lemberg zurückkehren. Die Ästhetik ist »undergroundiger« als die der frühen, ein wenig verträumten Lyrik. Es wird mehr gesoffen, gekotzt, gefickt und gezetert. Der Rhythmus pulsiert stärker; die Titel (im doppelten Sinn: der Band gibt sich bewusst als Platte) spielen mit Deep Purple und California Dreaming oder rufen über einen Neil Diamond-Song Quentin Tarantinos Pulp Fiction auf – Englisch sind sie allemal.60 Das mit der Apokalypse kokettierende And The Third Angel Sounded schließlich avancierte zum »Lemberg-Song«, nachdem die 1989 von Ljubomir Futorski gegründete Band Toter Hahn (Mertvyj Piven’) es in den Alben Lieder vom Toten Hahn (Pisni Mertvoho Pivnja) und Made in ЮA (Made in USA) vertonte.61 Expliziter spricht Andruchovyč Lemberg als Chiffre des Zentrum-Peripherie-Ringens im 2003 publizierten Roman Zwölf Ringe (Dvanadcjat’ obručiv), vor allem aber den Mitteleuropa-Essays an. In einem dieser Essays, Das Stadt-Schiff (Misto-korabel’),62 versucht Andruchovyč 1999, den »verschiedenen« Lembergs Verbindendes abzuringen. Einerseits bleibt das deutsch-jüdische Lemberg anders als das polnische Lwów, das sich vom ukrainischen L’viv unterscheidet, das nichts mit dem lateinischen Leopolis verbindet. Andererseits repräsentiert Andruchovyč Lemberg als ein historisches Ganzes – ein Geister-, ja Narrenschiff. Gerade weil von Konkurrenz und Koexistenz (von »Unvereinbarem«) durchwebt, lassen sich 59 | Die Stadt als solche ist auch Thema in den ersten Gedichtbänden Himmel und Plätze (Nebo i plošči, 1985) sowie Downtown (Seredmistja, 1989). 60 | Im Vorgriff auf das Kapitel über Andrzej Stasiuks Warschau ist hier eine ellenlange Hommage an Stasiuk zu erwähnen (»Stasiuk ist Stasiuk ist Stasiuk ist Stasiuk ist Stasiuk«, postuliert der Einstiegsvers). 61 | Zum Zusammengehen von Musik-Underground und Lyrik siehe das Interview von A damek-S chyma , Bernd: Lieder für einen toten Hahn. Musikliterarische Phänomene in der Ukraine. In: Zonic 20 (2013), S. 203-210. 62 | A ndruchowy tsch, Juri: Das Stadt-Schiff. In: D ers.: Das letzte Territorium. Essays. Aus dem Ukrainischen v. Alos Woldan. Frankfurt am Main 2003, S. 28-37, hier 33. – Kursorisch zur Lemberg-Literatur siehe Woldan, Alois: Der Stadttext von Lemberg/Lwów/L’viv/Leopolis als Beispiel einer regionalen Identität. In: Herausforderung Osteuropa. Die Offenlegung stereotyper Bilder. Hg. v. Thede K ahl , Elisabeth V yslonzil u. Alois Woldan. Wien 2004, S. 122-134.
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seine Leerstellen, die Kampfplätze, der Starrsinn und die Kreativität des Nebenund Durcheinander diverser Bevölkerungsgruppen dramatisch zelebrieren. Gelegen auf einer Wasserscheide zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer erinnere Lemberg an eine Arche, voll beladen mit gefährdeten Arten. Über das geteilte Wappentier wiederum bringt Andruchovyč eine Verbindung mit Venedig zustande, rückt seine »Arche« in den heiteren, kultivierten Süden – wiewohl für beide Bilder das Wasser fehle, da die Poltava längst in die Kanalisation verbannt sei. Eine Liebeserklärung in freundlicher Ironie. Zugleich löst Andruchovyč hier die historischen Konfliktlinien weitgehend auf. Zwar klingt die Vorstellung von Lemberg als »ukrainischens Piemont« an, doch ohne dass die Gegenimagination der »polnischen Bastion« benannt würde – der Feind wird gleichsam verschwiegen.63 Vielmehr schwelgt der Text förmlich in der historischen, weitgehend verschwundenen beziehungsweise auf die russisch-ukrainische Kombination reduzierten Polyethnizität Lembergs und der Ukraine. Wie bei der Völkervision in Moscoviada ist das poetische Prinzip das der Reihung, doch anders als dort nicht in hämischer Verballhornung, sondern in einer sorgfältig komponierten, lautmalerischen Lyrik der tatsächlichen Benennung von Ukrainern, Polen, Juden und Deutschen. Noch die chronologisch fernsten ethnischen Splitter werden aufgenommen (Goten, Alanen, Kelten); einst verfemte Gruppen gleichberechtigt eingesetzt (Zigeuner, Tataren, Türken); mythische Stämme zumal aus der Odyssee (Zyklopen, Lestrigonen) ebenso hinzugefügt wie ganz und gar abwegige (Basken, Etrusker, Äthiopier) oder nicht-ethnische Kollektive (Kapuziner, Karmeliter, Rosenkreuzer, Argonauten) hinzugefügt. Mit heiterer Leichtigkeit wird die ganze Welt auf die Arche Lemberg verfrachtet, ihre leicht meschuggene, liebenswerte Vielfalt gerettet – die Stadt als Gegenvision zum imperialen Junk Space der Kulturen chiffriert. Poetisch verfährt Andruchovyč wie die polnische kresy-Literatur, wie jede Literatur, die mehr oder weniger nostalgisch Raumverluste verhandelt. Die kresy – die verlorenen Ostgebiete Polens, vordem die Grenzmarken der historischen Rzeczpospolita beider Adelsnationen – dienten seit der Romantik als definierender Topos und zugleich als mythischer Garant der polskość, der Polonität. Eine poetologische Eigenheit klassischer kresy-Texte, etwa von Tadeusz Konwicki, Czesław Miłosz oder Józef Wittlin, ist die Vorliebe für die Eisenbahn und den an diesen Raum-Klassiker der Heterotopie gebundenen Eskapismus. Eine weitere der Heimkehr-Topos – zurück in die Wälder Litauens, die polnisch-heimeligen Gutshöfe, die Straßen von Lemberg. Und sie alle verbindet eine gemeinsame Poetik, die sich in obsessiver Katalogisierung und Inventarisierung der verlorenen
63 | Rudolf, Mark A.: »Polnische Bastion und ukrainisches Piermont«. Lemberg 17721921. In: Lemberg – Lwów – L’viv. Eine Stadt im Schnittpunkt europäischer Kulturen. Hg. v. Peter F ässler, Thomas Held u. Dirk Sawatzki. Köln-Weimar-Wien 1993, S. 75-91.
10. »Tscherboslowaten, Rumängolen, Schwiechen«: Jurij Andruchovyč
Gebiete zeigt, wie sie auch Andrzej Stasiuk und Jurij Andruchovyčs Werken über Mitteleuropa eignet. Derweil bieten Andruchovyčs Gedichte einen Umgang mit dem Topos Underground, der sich eher an das mit Ivan Wernisch etablierte Muster einer »Stadt über den Gängen« anschließt, die weit weniger lebendig erscheint als ihr Unteres.64 Das soll abschließend an einem Beispiel näher ausgeführt werden, um Andruchovyč in dieser Tradition zu verorten. Stellvertretend sei Unterirdischer Zoo (Pidzemne zoo) aus Exotische Vögel und Pflanzen – ebenfalls vertont von Toter Hahn – vorgestellt. Die Ansiedlung des Unterirdischen Zoos in Lemberg ist eine implizite: Dem Gedicht steht ein Vers von Bohdan-Ihor Antonyč voran: »Unterhalb der Stadt, wie in Märchen, leben Wale, Delfine und Molche […].«65 Der Lemke Antonyč lebte selbst in Lemberg und gilt als einer der bedeutendsten Lyriker der ukrainischen Moderne; Andruchovyč erweist ihm immer wieder seine Referenz. In den letzten Lebensjahren wurde für Antonyč die Stadt zum Thema, wiewohl er stets eine gewisse urbanitätsskeptische Distanz wahrte, auch ästhetisch. Namentlich hat Magdalena Marszałek darauf hingewiesen, dass er in seiner Stadtdichtung vorher an ruralen Gegenständen erprobte Belebungsverfahren beibehielt, tote Materie kinetisiert, Statuen etwa, Fauna und Flora in seine Stadtbilder einwebt. Die dunklere, apokalyptischere Einfärbung der späten urbanen Poetik deutet Marszałek allerdings nicht als Bruch, sondern als Verschiebung innerhalb des Werks.66 In dem vierstrophigen Gedicht Unterirdischer Zoo nun greift Andruchovyč den Antonyč-Vers in der Form eines Mottos auf und spinnt ihn dann weiter, greift auf dessen Bilder und phantastische Verfahren zurück. Unterhalb der Stadt tummeln sich nicht allein Wassertiere, sondern auch »Löwen, schläfrig und gelb«, »fliegende Zebras«, es »flattern die Schatten von Affen«, finden sich »Mammuts, sanftmütig wie Kühe, / und Mastodone. Gleich einem warmen Sumpf / wogen steinerne Wälder von Tieren, / die hierher geflüchtet vor Jägern.« Die letzte Strophe dann verlässt das Paradies und ruft wie schon angedeutet im Wort »steinern« zu Ende der dritten Strophe den Untergrund als Prinzip auf: Im Untergrund der Stadt leben Menschen. Pilger und Spießer. Die ihre Flügel in Ärmeln verbergen. – Erneut dreht sich das Rad 64 | Siehe die Einleitung im Buch und dort die Abschnitte zu Ivan Wernisch. 65 | A ntonyč , Bohdan-Ihor: Surmy ostann’oho dnja [Die Fanfaren des jüngsten Tags]. In: D ers .: Povne zibrannja tvoriv. L’viv 2009, S. 240-241, hier 241: »Живуть під містом, наче у казках, кити, дельфіни і тритони.« 66 | M arszałek , Magdalena: Imagination, Konstruktion und Mythographie. Bohdan-Ihor Antonyč und die ukrainische Spätmoderne. In: Spätmoderne. Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa. Bd. 1. Hg. v. Alfrun K liems, Ute R assloff u. Peter Z ajac . Berlin 2006, S. 211-225, hier 217.
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Der Underground, die Wende und die Stadt der lasterhaften faden Freuden für einen Groschen, alles ist gleich – das Bier am Marktstand, Hochzeitsgeigen, Laternen, Hufeisen, Küsse, Tränen, Liebe und Finsternis… Im Untergrund der Stadt. Nur die Stadt gibt es nicht mehr.67
Andruchovyčs Zoo-Gedicht impliziert eine die Natur verleugnende Oberflächenstadt, genauer: eine Zivilisation des billigen Zeit- als Lebensvertreibs. Dem steht ein strotzendes, friedlich-sinnenfrohes Paradies gegenüber – das freilich schon von der Titelzeile an kontaminiert ist, handelt es sich doch um einen »Zoo«, ein artifizielles Arrangement also. Entsprechend bereitet die antithetische Bilderverschränkung »gleich einem warmen Sumpf / wogen steinerne Wälder von Tieren« die Korruption des Untergrunds durch das entfremdete Stadtleben vor, das in der letzten Strophe rotiert. Wobei zwei Lesarten vom vermeintlichen Zivilisationsfortschritt als Abstieg nebeneinander bestehen können: die klassische eines ewigen (»erneut dreht sich das Rad«) historischen Zirkels auf der Zeitachse, und die eines einmaligen Herabrotierens des Nichtigen. Allemal, die (obere) Stadt ist nicht mehr. Sei es, weil sie nun nach unten gekehrt buchstäblich von der Oberfläche verschwunden ist. Sei es, weil ohne ihr phantastisches Anderes von einer Stadt im emphatischen Sinne keine Rede mehr sein kann. Indes scheint es weder notwendig noch sinnvoll, die Deutungen als allgemeine Zivilisationskritik oder als Kommentar zum konkreten Vorgang des »Urbizits« (Karl Schlögel) durch Weltkrieg und Sowjetisierung gegeneinander auszuspielen. Ähnlich liegt qua Motto und Werkkontext ein Bezug zu Lemberg nahe, doch lässt sich genauso gut an fast jede andere sowjetisierte mitteleuropäische Stadt denken – ebenso wie an das spätere Bild der Völkerarche gegenüber der modern-verheerten, zum Junk Space nivellierten Polyethnizität des Raums. Auf einer anderen Ebene konnotiert das Gedicht den Untergrund individualpsychologisch: »In den Löchern unserer Seelen« verortet der letzte Vers der ersten Strophe den untergründigen Zoo. Die Kondition der Stadt (Lemberg) ist gleichzeitig die ihrer Bewohner. Beziehungsweise, die Denunziation des historischen Entfremdungsprozesses übersetzt sich in eine der Ich-Unterwerfung unter – fa67 | A ndruchowy tsch, Juri: Werwolf Sutra. Gedichte. Aus dem Ukrainischen v. Stefaniya P tashnyk . Heidelberg 2009, S. 23-24. – A ndruchovyč , Jurij: Ekzotyčni ptachy i rosliny z dodatkom Indija. Kolekcija viršiv. Ivano-Frankivs’k 2002, S. 90-91: »Живуть під містом леви, жовті й сонні. / Сховала їх розпечена трава. / Летючі зебри, антилопи й коні / цвітуть на дні пасовищ і саван. / Живуть також під містом крокодили. / Заплутані в ліан солодкі жили, / тріпочуть тіні мавп або папуг. / І сотні сотень мух, мурах, ропух. / […] / Живуть під містом люди. І прочани, / і міщухи. І крила в рукавах. / Розкручується знову копійчане / порочне коло вицвілих розваг, – / усе так само. Пиво ярмаркове, / скрипки весільні, ліхтарі, підкови, / цілунки, плач, кохання і пітьма... / Під містом. Тільки міста вже нема.«
10. »Tscherboslowaten, Rumängolen, Schwiechen«: Jurij Andruchovyč
denscheinige – gesellschaftliche Gepflogenheiten (»das Bier am Marktstand«, »Hochzeitsgeigen«, »Küsse, Tränen und Finsternis«). Verfahren wie Motiv sind der Moderne seit je vertraut. Zu den Bewohnern des dergestalt polyvalenten Underground zählen auch Menschen. Das Gedicht nennt »Pilger und Spießer«. Auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Kombination, auf den zweiten eine überaus doppelbödige. Der Pilger scheint vordergründig einleuchtend: ein Konventionsflüchtling, der sich zur Wanderschaft nach dem Heiligen losreißt – doch warum lebt er am festen Ort? Und kann Wolfram von Eschenbachs Parsival nicht auch als Fanatiker gelten, ein Scout und Pionier zwar, aber des Zivilisatorischen? Kaum anders der Spießer, dem das kulturelle Vernakular blasierte Mediokrität, Kunstfeindlichkeit und autoritäres Duckertum zuschreibt, gemeinhin in eine Wohnung projiziert voller funktionslosem oder spitzenbesetztem Gerät: paradigmatischer Konsument des »faden« Groschenlasters. Etymologisch freilich handelt es sich um den bewaffneten Bürger, der (mit dem Spieß) sein Gemeinwesen verteidigt; etwas allgemeiner wurzelt ukranisch міщух (Bürger) in місто (Stadt) – ähnlich dem polnischen mieszczuch, von Samuel Bogumił Linde als »Spießbürger« angeführt. Beide Schimpf bezeichnungen sind Ausdruck ständischer, ruraler und doktrinärrevolutionärer Ressentiments gegenüber freien Bürgern. Also auch potenzielle Kodenamen urbaner Selbstbehauptung? Stadttheoretisch interessanter ist dennoch der Pilger. Er reist als Gläubiger in die Stadt – nach Boris Groys bereits ein moderner Tourist. Im Essay Die Stadt auf Durchreise gesteht Groys »wahre« (!) Dauerhaftigkeit allein der utopischen Stadt zu, seien greif bare Städte doch ihrem Prinzip nach vorläufig. Die utopische Stadt hingegen liege außerhalb geschichtlicher Horizonte. Allein der Pilger erlebt zwischen Ankunft und Weiterreise, zwischen jeder Ankunft und Weiterreise, eine vermeintlich statische Ewigkeit, die eben sein Ziel ist – vorausgesetzt, er reist weiter. Denn nur solange kennt er kaum den Anfang, gewiss kein Ende, keine Geschichte des Orts, sondern nur seine eigene. Deshalb Groys: »Der Tourismus ist die Maschine zur Verwandlung des Vorläufigen ins Monumentale.«68 Der Tourist bepilgert die dauerhaften Monumente einer Stadt – beziehungsweise monumentalisiert en passant seine Pilgerstätten, die alles sein können, ein Monument, ein Grab, eine Einkaufsstraße, ein Szeneviertel. Die moderne Metropole, so Groys weiter, war einst zukunftsgerichtet, sich selbst verbessernd, vorläufig. Umgekehrt erschien ihren Bewohnern »die Provinz« monumental im Sinne von unveränderlich. Der Pilger war der erste, der es – buchstäblich – anders sah. Zwischen ihm und dem Touristen indes hat sich das Monumentale noch einmal verlagert: aus dem Raum in die Person. Seither monumentalisiert der Reisende sich selbst. Städter wie Nichtstädter reisen ständig, um »füreinander monumental
68 | G roys , Boris: Die Stadt auf Durchreise. In: D ers .: Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters. München-Wien 1997, S. 92-108, hier 95-96.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
auszusehen«.69 Beide aber wählen nicht die Selbstreflexion als »vertikale Bewegung aus der Begrenztheit des Eigenen zum Universalen und Transzendenten«, sondern entscheiden sich vielmehr für eine »unendliche horizontale, touristische Reise von einem Monument zum anderen« und bleiben so »unüberwindbar schizophren«.70 Andruchovyč bevorzugt das vertikale Modell, die Reise in die Unterstadt als eine in die Tiefe der urbanen Seele. Wenn der Text dort Pilger und Spießer ortet, kurz bevor das Obere ins Untere, das Banale ins Lebendige rotiert und die Stadt verloren geht, dann offeriert er eine bemerkenswert skeptische, differenzierte Aneignung des städtischen U-Topos. Diese Ergänzung wäre zu machen, wenn Tamara Hundorova Andruchovyč bescheinigt, nicht nur die Dekadenz in die ukrainische Postmoderne eingetragen und deren Affinität zu Metaphysik und Apokalypse weiterentwickelt zu haben,71 sondern vor allem die mythisch-märchenhaften Hoffnungen eines Antonyč fortzuspinnen.72 Umso zutreffender scheint diese Beobachtung indes mit Blick auf die galizische gleich (mittel-)europäische Stadt als ganze. Sie bildet ein nahezu ungebrochen idealisiertes Leitmotiv der Gedichte wie Essays und ist namentlich die Kontrastfolie in Moscoviada. Da sind die bereits erwähnte Postkarte, die permanente (Selbst-)Zuschreibung Ottos als Galizier, wiederholte Reflexionen einer entsprechenden Kulturdifferenz. Eine davon sei exemplarisch zitiert. In programmatischer Verdichtung setzt sie die Antagonie zweier Welten bis in die Nuancen von Tonalität, Duktus und Bildsprache in Szene. Otto, noch morgendlich nüchtern, wird von seinen Freunden in eine Bierbar gelotst: Als alter Galizier, Otto von F., hast du dir eine Bierbar immer als eine gemütliche und trockene Höhle in einer altertümlichen gepflasterten Straße vorgestellt, ein sympathisches Teufelchen mit wohlgerundetem Bauch auf dem Aushängeschild, gedämpftes Licht, leise Musik und ein Kellner, der die unerhörte Wortverbindung »Sie wünschen, bitte?« gebraucht. [...], das Gegenteil von nass, wild, Krach, Bumm, Angst, Putsch, Not. Stattdessen die Bierbar in der Fonwisin-Straße: eine unbegreifliche Konstruktion, eine auf- und zusammenklappbare Pyramide, eine Art Hangar in der großen asiatischen Steppe, von der ersten Mai-Melde überwuchert. Ein Hangar für Säufer. Hier starten sie zu ihren Kampfeinsätzen. 69 | Ebd., S. 108. 70 | Ebd. 71 | Hundorova , Tamara: ProJAvlennja slova. Dyskursija rann’oho ukrajins’koho modernizmu [Das sICHzeigende Wort. Zum Diskurs des frühen ukrainischen Modernismus.]. L’viv 1997, S. 118. 72 | Antonyč greift z.B. in seinen Sammlungen Grünes Evangelium (Zelena Jevangelija, 1938) und Rotationen (Rotaciji, 1938) auf ein Arsenal aus der Ozeanologie sowie auf »Unten«-Metaphern zurück wie Schacht, Untergrund, Tiefe, Grund, Unterirdisches, etwa in Predigt für die Fische (Propovid’ do ryb), In den Grund (Do dna), Am Grund der Stille (Dno tyši).
10. »Tscherboslowaten, Rumängolen, Schwiechen«: Jurij Andruchovyč Tausende finden hier Platz. Eine ganze Säuferdivision mit ihren Generälen, Obersten, Leutnants [...] eine gigantische Kläranlage vor den Toren der Hölle [...] eine apokalyptische Orgie für Gaumen und Blase.73
Militarismus, Rohheit, Unwirtlichkeit, essenzielle Unzivilität – Asien: Die seitenlange Suada wider den moskowitischen Junk Space variiert nicht nur einschlägige Zentrum-Peripherie-Konzepte, denen sich seither namentlich Andruchovyčs Roman Zwölf Ringe und die Mitteleuropa-Essays verstärkt zugewendet haben. Sie weist auch bereits voraus auf die der antiimperialen/postkolonialen Ästhetik inhärente Potenz, selbst wieder autoritäre Gegenbehauptung zu werden. Bevor diese Potenz systematisch erörtert wird, soll dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie anhand eines Moscoviada kongenialen ästhetischen Orts nachgegangen werden: Andrzej Stasiuks Warschau.
73 | A ndruchowy tsch: Moscoviada, S. 41-42. – A ndruchovyč : Moskoviada, S. 26-27: »Ти гадав, Отто фон Ф., поплівшися у хвості за старими галичанськими уявленнями, що пивбар – це обов’язково затишна і суха печера на старовинній брукованій вуличці, де на вивісці симпатичний Чортик із округлим від зловживань кендюшком, де тьмяне світло, неголосна музика, а кельнер вживає незбагненне словосполучення ›прошу пана‹? [...] куди не досягає дощ, грім, бум, мор, страх, путч, глад? Натомість маєш – пивбар на Фонвізіна, якась незбагненна конcтрукція, збірна-розбіpна піраміда, щось наче ангар посеред великого азійського пустиря, зарослого першою травневою лободою. Ангар для пияків. Звідси вони вилітають на бойові чергування. І поміститися їх тут може кілька тисяч. Ціла пияцька дивізія зі своїми генералами, полкoвниками, лейтенантами [...] такий собі колосальний відстійник перед брамою пекла [...] апокаліптична забава для горлянок і сечових міхурів.«
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11. Städte der Ebene und ihre urbane Verheerung Andrzej Stasiuks postsozialistisches Warschau [Sie] probten die Landung, die imaginäre Eroberung der Innenstadt mit ihren Wundern, ihrem Glanz und ihrer Pracht. Aus Łochów, aus Małkinia, Pustelnik, Radzymin, aus Poświętny, Guzowacizna und Ciemny, aus all diesen Käffern mit den Hähnen morgens um fünf, mit den Schuppen und dem flachen, gepflügten Horizont, an dem statt der Sonne der Schatten der Großstadt aufging, wie eine Fata Morgana, vervielfacht durch die Erzählungen derer, die dort gewesen waren, […].1 A ndrzej S tasiu k
Andrzej Stasiuk liest man zumal hier, im Nachbarland, in erster Linie als Zeugen des Nichturbanen, einer vergehenden, pittoresk-tristen, »authentischen« Peripherie, der seine Figuren bevorzugt in Galizien erfrieren lässt. Sein 1999 erschienener Warschau-Roman Neun (Dziewięć) jedoch steht Jáchym Topols und Jurij Andruchovyčs urbaner Prosa in poetischer Rasanz und Topologie – im doppelten Wortsinne – bezeichnend nahe. Auch Stasiuk verwendet Underground-Techniken der Selbst-Exklusion, Verwischung oder Verblendung, der »Verschmutzung« des 1 | S tasiuk , Andrzej: Neun. Aus dem Polnischen v. Renate S chmidgall . Frankfurt am Main 2002, S. 115-116. – D ers.: Dziewięć. Wołowiec 2003, S. 97: »[…] próbowali desantu, imaginacyjnej konkwisty Śródmieścia z jego cudami, blaskiem i splendorem. Z Łochowa, z Małkini, z Pustelnika, z Radzymina, z Poświętnego, z Guzowacizny i Ciemnego, z tych wszystkich pipidów z kogutami o piątej rano, remizą i płaskim zaoranym horyzontem, gdzie zamiast słońca podnosił się cień wielkiego miasta niczym pustynna fatamorgana zwielokrotniona opowieściami tych, co byli […].« – Eigentlich wollte Stasiuk das Buch Według Pawla (Gemäß Pawel) betiteln, womit die Figur Paweł in den Vordergrund gerückt wäre, entschied sich aber für Dziewięć, angeblich weil es seine neunte Publikation war. – C zapliński, Przemysław: Wara od Stasiuka! [Hände weg von Stasiuk!]. In: Polityka v. 13.11.2011, S. 48-50.
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Zentrums, um sozial-vertikale und horizontal-kulturelle Marginalitätspostulate aufeinander zu beziehen. Anders als Andruchovyč und Topol jedoch erörtert Stasiuks urbaner clash of civilizations weder Ethnien noch Sprachen oder Religionen, sondern setzt in seinem Warschau Stadt und Land in Spannung, Zentrum und Peripherie eines (national integren) »Inlands«. Sein Warschau ist keine ethnisch zerfaserte, sondern im Gegenteil eine ethnisch indifferente, implizit ethnisch geschlossene Stadt – der ein »eigentlich« zugehöriges (Hinter-)Land als vielstimmig, vielstämmig und vielfältig Positives gegenübersteht. Das schließt an einen locus classicus der Moderne in ihrer Fin-de-siècle-Ausprägung an, den Stasiuk in seinen Mitteleuropa-Essays noch einmal zuspitzt: das Unbehagen an der Stadt als solcher. Genau diesem Unbehagen soll am Bild von den Städten der Ebene und ihren urbanen Verheerungen nachgegangen werden, wobei es nur hintergründig um die Frage nach dem »Oben« und »Unten« der Stadt gehen wird. Vielmehr interessiert Stasiuks Blick auf Warschau als eine Stadt, der der Untergang qua Standortwahl eingeschrieben ist.
A ndrze j S tasiuk und der U nderground Stasiuk gehört wie Topol und Andruchovyč in einen weiter verstandenen Underground. Seine ersten Publikationen entstammen dem Umfeld der Zeitschrift bruLion, die es darauf anlegte, die polnische Öffentlichkeit mit ihren Themen zu brüskieren.2 Narrative Muster des Underground grundieren denn auch die spätere Selbsterzählung Stasiuks in seinem autobiografisch angelegten Essay von 1998 Wie ich Schriftsteller wurde (Jak zostałem pisarzem). Darin kultiviert Stasiuk – vom marginalisierten Rand der Kultur herkommend – seinen harten »Aufschlag« in ihrer »Mitte«. Er erzählt, wie er die Schule abbrach; wie er aus der Armee desertierte, aufgegriffen und inhaftiert wurde; wie er sich jahrelang mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt; wie er nebenher schrieb – und schließlich Warschau den Rücken zukehrte.3 Dergestalt schreibt sich Stasiuk in die performative Poesie des Underground ein, ohne das Wort selbst verwenden zu müssen, und gibt dieser Einschreibung eine abschließende antiurbane Wendung, auf die zurückzukommen sein wird.
2 | Zur bruLion-Formation und deren ästhetischen Prämissen siehe das Kapitel über Marcin Świetlicki. 3 | S tasiuk , Andrzej: Jak zostałem pisarzem (próba autobiografii intelektualnej). Czarne 1998. – D ers .: Wie ich Schriftsteller wurde. Versuch einer intellektuellen Biographie. Aus dem Polnischen v. Olaf K ühl . Frankfurt am Main 2001.
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Der autobiografische Text, von Stasiuk auch als »Chronik einer geistigen Werdung« 4 bezeichnet, spielt auf der Klaviatur »damals« versus »heute«. In Schleifen bedauert der Chronist, dass es heute nicht so wie damals ist, dass es »so nie wieder« sein wird, dass »das Zeiten waren«. Wo darin die Linie zwischen Ironie und Larmoyanz zu ziehen ist, eins sich hinter dem anderen verbirgt, ist letztlich – rezipientenabhängig – das moderne, vom Underground perfektionierte Spiel mit dem Pathos und dessen Brechung. Entsprechend der dramaturgischen Kodexverhaftung eines vorwiegend männlich geprägten Underground reproduziert auch Stasiuks Referenzmilieu die klischierten Topoi »maskulinen« Verhaltens, die wie schon bei Podsiadło und Topol als Erkennungssignale der Gleichgesinnten funktionieren: Verehrung für Indianer und Zigeuner, Bewegung im Modus eines roadmovie und der Musik, naturhafte Chriffrierung der Outsider-Bünde: »Wir lebten wie Tiere. In Rudeln.«5 Ähnlich Topol mit seiner Organisation zelebriert Stasiuks Erzähler einen nur vordergründig gebrochenen Elitismus des rituell verbürgten Tribalen: »Ums Verrecken hätten wir nicht Volk sein wollen. Auch so fühlten wir uns auf unklare Weise als Auserwählte. Da spielten ziemliche Stammesgesetze mit rein.«6 In der Wirkung wie rauschhaft reiht der Text die Signale aneinander: Zigarettenmarken und Wodkasorten, Kneipennamen, Bands und Liedermacher, Songs, Schriftsteller und Werke, Schlagermelodien und konkrete Orte. Mirjam Goller liest Stasiuks confessio als »postautobiografische Schriftstellerbiografie«, in der Trip und Reise, Raum und Rausch analog gesetzt werden: Raum und Reise sind das Narkotikum. Dementsprechend deutet Goller das Bekenntnis für und die Bewegung in die Peripherie auch als einen »positiv umgewerteten Entzug«.7 Zuvor jedoch nimmt Stasiuks auto-essayistische roadstory gleichsam die (spät-)popkulturelle, phänomenologisch-zitative Technik eines Bret Easton Ellis 4 | S tasiuk : Wie ich Schriftsteller wurde, S. 74. – S tasiuk : Jak zostałem pisarzem, S. 70: »kronika pewnej formacji duchowej«. – Das im Deutschen gewählte »Formation« scheint mir weniger treffend als die hier verwendete, prozessorientierte »Werdung« im Sinne von »Formierung«. 5 | S tasiuk : Wie ich Schriftsteller wurde, S. 11. – S tasiuk : Jak zostałem pisarzem, S. 11: »Żyliśmy jak zwierzęta. W stadzie.« 6 | S tasiuk : Wie ich Schriftsteller wurde, S. 130. – S tasiuk : Jak zostałem pisarzem, S. 122: »Za cholerę nie chcieliśmy być ludem. I tak w jakiś niejasny sposób czuliśmy się wybrani. Dość plemienne prawa tym rządziły.« 7 | G oller, Mirjam: »Die Melancholie der Peripherie umarmte uns wie die allerbeste Geliebte.« Metaphysische Geographien in Andrzej Stasiuks Logbuch. In: Exklusion. Chronotopoi der Ausgrenzung in der russischen und polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Wolfgang Stephan K issel u. Franziska Thun -H ohenstein. München 2006, S. 289-303. – Zur Rauscherfahrung bei Stasiuk auch P örzgen, Yvonne: Berauschte Zeit. Drogen in der russischen und polnischen Gegenwartsliteratur. Köln-Weimar-Wien 2007, S. 188-197.
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oder Christian Kracht »proletkulturell« auf. Indem am rückblickenden Ende ein Ich-Geflecht aus Gelesenem, Gehörtem und Eingenommenem bleibt, entwirft der Text einen nachgerade idealtypischen Helden des Underground als Pendant des pop-modernen angry young dandy.8 Der hier wie dort durch gezielte Ostentation markierte Stellenwert von Rausch, Ausscheidungen und Gewalt weist zurück auf die Themen Beschmutzung und (Selbst-)Zerstörung, letztlich auf einen existenziellen Ästhetizismus des Ekels und die nurmehr transgressiv zu behauptende subjektive Souveränität, wie etwa Georges Bataille sie denkt.
N eun und die I nvasion W arschaus von den R ändern her Stasiuks Romanfiguren durchlaufen, durchhasten, durchfahren Warschau zu Fuß, im Bus, in der Straßenbahn vom Rand bis zum Zentrum und wieder zurück. Was der Text derweil am Straßenrand auffährt, sind »Un-Orte« im wahren Sinne von Marc Augé. Während die Handlung den Figuren folgt, fügt sich die Stadt selbst zu einer weiteren, ungenannten Hauptfigur des Romans.9 Die Geschichte beginnt damit, dass der erfolglose Kleinhändler Paweł eines Morgens in seiner verwüsteten Wohnung aufwacht. Im weiteren Verlauf treten ohne nähere Einführung aus der Stadt hervor: Jacek, ein Gelegenheitsdealer, mit dem Paweł befreundet ist; dann Bolek, ein skrupellos-neureicher Geschäftemacher, der mit diesem eine Rechnung offen hat; später der Schlägertyp Blondyn, im Deutschen »der Blonde«, sowie der friedliche Paker vom Lande, deutsch »Packer«. An weiblichen Charakteren: Boleks Gespielin Syl; Irina, eine russische Prostituierte reiferen Alters; die schlichte Verkäuferin Zosia, die in Pawełs Laden
8 | Stasiuk schließt an diese Quasi-Autobiografie 2010 ein Tagebuch an: Tagebuch danach geschrieben (Dziennik pisany później). Es handelt sich um Reiseaufzeichnungen aus Südosteuropa, wobei sich der Erzähler eher als »Aufzähler« denn »Erzähler« begreift (S. 96). Und von Fern den »Schatten« der Heimat wie einen »Atompilz« sieht, ein »gigantisches Trugbild«, godzillagleich und schicksalhaft, ein »gemartertes Stück Festland« (S. 124-126). Um dann im letzten Drittel anzuknüpfen an den Duktus der roadstory von einst (S. 131-133). – S tasiuk , Andrzej: Tagebuch danach geschrieben. Aus dem Polnischen v. Olaf K ühl . Berlin 2012. 9 | Beata Czechowska betrachtet Paweł als die Hauptperson des Romans, den sie wie Josef K. eingeschlossen in einem Stadtraum deutet, in einer »kafkaesken Situation«. Neben den Figuren macht sie als neunte die Stadt aus. Darüber hinaus befasst sie sich mit der Zahlenmystik des Romans (Buslinien, Straßenbahnstrecken, Hausnummern, Zeitangaben). – C zechowska , Beata: (Pod-)świadomość czasu contra (meta-)fizyka liczb. Czasoprzestrzenne konteksty w »Dziewięć« Andrzeja Stasiuka [Das (Unter-)Bewusstsein der Zeit kontra (Meta-)Physik der Zahlen. Zeiträumliche Kontexte in »Neun« von Andrzej Stasiuk]. In: Slava Occidentalis 64 (2007), S. 65-72.
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angestellt ist; endlich die überkandidelte Esoterikanhängerin Beata, eine Freundin von Jacek. Sie alle leben in mehr oder weniger unerfreulichen Umständen, sind miteinander auf die eine oder andere Weise verbunden und treiben den Leser kreuz und quer durch Warschau, zumal dessen Vororte und Ränder, aber auch Parkanlagen, leitmotivisch über Straßen und Kreuzungen, von einer Bar in die nächste Kneipe – ohne jemals anzukommen. Einige bestehen die Prüfungen der Urbankultur, andere sterben. Das Personal wird weder aus seinen misslichen Lagen befreit, noch widerfährt ihm narrative Gerechtigkeit. So werden Figuren gejagt, vergewaltigt, zusammengeschlagen, eingesperrt oder überfahren. Dann bricht der Roman ab. Für Przemysław Czapliński Grund genug, die Leserschaft in einer Rezension vor Stasiuks Roman, den er als Krimi liest, zu warnen: vor seinen losen Fäden, dem übermäßigen Gebrauch von Vulgarismen, der einfachen Figurenzeichnung, einer ziellos-mäandernden Parabel und Simultankonstruktion zu vieler Geschichten.10 Anwürfe, auf die der Underground – wie der Pop – es klassischerweise anlegt. Agnieszka Wiencek macht diese Verwurzelung denn auch explizit, wenn sie Neun seiner Konstruktion nach als »Schmierheft-Roman« (powieść-brulion) bezeichnet, mit deshalb angemessen unabgeschlossener Handlung, zahlreichen verlorenen Fährten und erzählerischen Finten, situiert in einem von der Mafia okkupierten Warschau, in dem per se nichts Gutes gelingen kann.11 In der Tat bleibt Neun psychologisch wenig ausgearbeitet, bedient sich einer explosiven Sprache, eines rasanten Erzählduktus, verblendet Räume mit Figuren, Erhabenes mit Obszönem, Integritätshoffnung mit Zerfall. Vor allem aber spaltet der Roman dieses Warschau vertikal in Ober- und Unterstadt – und setzt zugleich horizontal Zentrum gegen Randlage, Stadt gegen Land. Stasiuks Nachwende-Warschau besteht aus Zugezogenen und bekommt jeden Morgen »eine frische Dröhnung«12 Land, so wie Topols Prag seine Dröhnung Asien erhält. Die Invasion des (Stadt-)Zentrums erfolgt durch die und aus der Peripherie. Diese schickt »Kundschafter«, die sich in Gruppen – also »Rudeln« – in den Warschauer Hochhausgürteln niederlassen, um näher an die »Mitte« zu rücken. Die Mitte erweist sich jedoch als eine »Fata Morgana«, worunter die Randbewohner aus der »Ebene« die Innenstadt und ihre Geschäfte verstehen. Allein, sie landen allenfalls auf dem Różycki-Basar, also neuerlich am Rand. Zudem ist ihre Bewegung keine eingleisige, führen doch alle Vorstöße der Peripherie in die Stadt gleich wieder zurück: »Die Schnellzüge brachen in die vier Richtungen des Landes auf. Die Eilzüge rollten nach der nächtlichen Fahrt in 10 | C zapliński: Wara od Stasiuka! 11 | Wiencek , Agnieszka: Dziewięć a struktura antycznej tragedii [Neun und die Struktur der antiken Tragödie]. In: Światy nowej prozy. Hg. v. Stanisław Jaworski . Kraków 2001, S. 61-81, hier 78. 12 | Topol , Jáchym: Die Schwester. Berlin 1998, S. 59.
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den Hauptbahnhof ein. Nichts hinzufügen, nichts wegnehmen.«13 Das Hin und Her bringt keinen wirklichen Austausch hervor. »Die Peripherie soll nicht ins Zentrum hereingeholt werden, sondern sie wird selbst zum alternativen Zentrum erhoben«, schreibt Christian Prunitsch mit Blick auf Stasiuks Gesamtwerk.14 In Neun freilich ist die Peripherie noch nicht vom unhintergehbar Anderen zur Alternative geworden. Der verwischte Stadt-Land-Saum markiert zunächst einmal nur das Scheitern sowohl der zivilen Expansion als auch der ruralen Invasion. Erst in den Mitteleuropa-Essays wird Stasiuk diese Spannung lösen zugunsten einer Umgewichtung, einer achselzuckenden Untergangsphantasie: Warschau oder auch Moskau, beides »Metropolen der Ebene«, sei die Einebnung bereits qua Standortwahl eingeschrieben. Auch Neun legt Warschau steppenhaft an – ähnlich Andruchovyčs Moskau. Die erzählte Beziehung zum Umland evoziert die einschlägigen Assoziationen von »anbranden«, »durchwehen« und »ansanden«. Wo der Roman das Fatum des Orts direkt adressiert, wählt er indes eine historisch-vertikale Bildsprache und zieht, abermals wie Andruchovyč, aber stärker noch an Topol gemahnend, einen doppelten Boden ein: Gänge, Katakomben, Unterführungen. Aus denen brechen nach Art von Michael Jacksons Video Thriller die Zombies nach oben: Ach, scheiß auf das Gericht, das wird’s sowieso nicht geben. Aber die Auferstehung. Überall. Auf der Marszałkowska platzt der Asphalt, und sie kriechen raus, in der Allee gehen die Gehwege aus den Fugen, und so weiter, überall. Du sitzt bei McDonalds in der Świętokrzyska, ziehst dir deinen Big Mac rein, und plötzlich, peng, Linoleum, Beton, alles klitzeklein, eine Leiche, die nächste, überall, am Kreisel, in der Passage, im Sächsischen Garten weicht das Gras zur Seite, und sie sprießen aus dem Boden wie Pilze oder wie diese deutschen Gartenzwerge aus Gips, auf dem Aufständischen, auf dem Paradeplatz, endlich mal Parade, […]. Oh, da wird’s nicht so höflich zugehen wie früher auf den Friedhöfen in Wólka, in Bródno oder in Wola, wo es lotterleer ist und sie mit gefalteten Händen in gleichmäßigen Reihen liegen, so, wie man sie hingelegt hat ... Hier wird’s ganz anders.15 13 | S tasiuk : Neun, S. 243. – S tasiuk : Dziewięć, S. 203: »Ekspresy ruszały w cztery strony kraju. Pospieszne po całonocnej jeździe wtaczały się na Centralny. Nic dodać, nic ująć.« 14 | P runitsch, Christian: »Ostatni obwarzanek Rzeczypospolitej.« Andrzej Stasiuk und die Ränder der polnischen Kultur. In: Zeitschrift für Slawistik 1 (2005), S. 45-57, hier 48. 15 | S tasiuk : Neun, S. 92-93. – S tasiuk : Dziewięć, S. 77-78: »No, chuj z sądem, i tak go nie będzie. Samo zmartwychwstanie. Wszędzie. Na Marszałkowskiej pęka asfalt i wyłażą, w Alejach rozłażą się chodniki i tak samo, wszędzie. Siedzisz na makdonaldzie na Świętokrzyskiej, wpieprzasz swojego bigmaka, a tu sru! gumoleum, beton, wszystko w drobiazgi, i trup, a tam następny, wszędzie, na rondzie, w Pasażu, w Saskim trawa na boki i wychodzą jak grzyby albo jak te niemieckie krasnale z gipsu, na placu Powstańców, na Defilad, nareszcie defilada, […]. O, nie będzie tak grzecznie, jak kiedyś, jak na cmentarzach, na Wólce, na Bródnie, na Woli, gdzie pusto i nikogo, a w dodatku w równych rządkach ze złożonymi rękami, tak jak ich kładli… Tu będzie inaczej.«
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Stasiuk kehrt in Neun Unterstes zuoberst, lässt Totgewähntes emporkriechen. Sein Totentanz mahnt, dass Untergekehrtes hartnäckig sein kann, und konzipiert darüber Warschau als axialen Schnittpunkt, in dem sich das horizontale und das vertikale Marginalitätstrauma überkreuzen, um das Verdikt der Zeit sichtbar zu machen: die Verheerung. Stasiuk übersetzt die Achsen der Verzweiflung ineinander wie kaum einer der hier verhandelten Autoren. Warschau fungiert bei Stasiuk als vollendetes urbanes Desaster, als ZombieStadt, wie er 1998 im Essay Logbuch (Dziennik okrętowy) detaillierter ausführt. Dort nennt er die Idee, »die Hauptstadt über den Leichen aufzubauen und aus dem ganzen Land Waggonladungen von Ziegeln heranzuschaffen«, die wiederum aus »Städtewracks« stammten, ein »makabres Auferstehungsfest«, zu dem dann die Dörfler aus den Randzonen eingeladen werden.16 2008, zehn Jahre später, wird Sylwia Chutnik das Nekropolis-Thema weiblich grundieren. Ihr Roman Weibskram (Kieszonkowy atlas kobiet) konzentriert sich auf Frauenschicksale im Warschauer Stadtteil Ochota, genauer in der Opaczewska-Straße. Unter ihren Maria-Variationen findet sich die Geschichte der Jüdin Maria Wachelberska (Wachelberg), der die Flucht aus dem Warschauer Ghetto durch die Kanalisation, den »Kanal«, gelang. Die als Meldegängerin den Terror der Deutschen überlebte, um dem der Russen zum Opfer zu fallen. Tagtäglich geht sie nun über den einstigen Gemüsemarkt, auf dem ihre Mutter starb, als sie die Tochter vor den Vergewaltigern schützen wollte: Das ist keine Pilgerfahrt nach Auschwitz, wo man ein paar frische Blumen an einer Baracke niederlegt. Das ist die persönliche Konfrontation mit dem Schlachthof, auf dem sie selbst, ihre Mama, ihre Freundinnen, ihre Nachbarn die Hauptrollen gespielt haben. Das vergisst man nicht, nein.17
16 | S tasiuk , Andrzej: Logbuch. In: A ndruchowy tsch, Juri/S tasiuk , Andrzej: Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa. Aus dem Polnischen v. Martin P ollack . Frankfurt am Main 2004, S. 79-145, hier 121. – D ers.: Dziennik okrętowy. In: A ndruchowycz, Jurij/S tasiuk , Andrzej: Moja Europa. Dwa eseje o Europie zwanej Środkową. Wołowiec 2001, S. 77-140, hier 117: »Cóż to był za pomysł wznosić stolicę na trupach i zwozić z całego kraju wagony cegieł wygrzebane z innych miast-wraków i w końcu zwabić na ten makabryczny festyn zmartwychwstania rzesze wieśniaków, które biorąc w posiadnie truchło miasta, urzeczywistniały dziejową sprawiedliwość.« 17 | C hutnik , Sylwia: Weibskram. Aus dem Polnischen v. Antje Rit ter -Jasińska . Berlin 2012, S. 78. – D ies.: Kieszonkowy atlas kobiet. Kraków 2008, S. 95: »To nie pielgrzymka do obozu koncentracyjnego w Oświęcimiu, gdzie do baraku kładzie się kilka świeżych kwiatów. To pojedyncze zmierzenie się z rzeźnią, gdzie w rolach głównych występowała ona sama, jej mama, jej koleżanki, sąsiedzi. To się pamięta, tak.« – Der polnische Buchtitel lautet im Deutschen wörtlich »Taschenatlas der Frauen«.
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Chutnik lässt ihre Maria im ehemaligen Bombenkeller dahinmodern, nicht ohne ihr die Mutter – »Mutter Warschau« – trostspendend an die Seite zu stellen. Und ihre Erzählstimme verkneift sich nicht, diese Begegnung im »Kellermoder« mit der Ahnenfeier (Dziady) von Adam Mickiewicz zu kontrastieren. Mit dem romantischen Totenreigen also, der einen zuvorderst männlich-nationalen Widerstandsgeist befeuert hatte. Das ist wie bei Stasiuk mehr als ein Anschluss an kritische Positionen zum Wiederauf bau nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg.18 Anders als etwa Jurij Andruchovyč interessiert Stasiuk die ehemals sowjetische Prägung der Stadt kaum. Es geht ihm um keine konkrete, sondern um Expansion als machtpolitische Kolonisierung im metaphorischen, allgemeinen Sinn. Mit dem Topos der Expansion schließt er wiederum an Tadeusz Konwickis Warschau-Roman Die polnische Apokalypse (Mała apokalipsa) von 1979 an. Dessen Kolonisierungsphantasma zentriert sich um den Warschauer Kulturpalast, einen »städtebaulichen Gift-Ort« im Sinne Ioan Augustins, eine: Stätte, die aufgrund gewaltsamer Einwirkungen […] einer Kohärenz, urbanen Logik sowie eines menschlichen Maßstabs entbehrt und die aufgrund ihrer baulichen Dimension […] auch auf die Umgebung abstrahlt, so dass daraus vergiftete Orte werden, die aufgrund der Verbreitung dieser giftigen »Keime« ebenfalls allmählich ihren Charakter verlieren.19
Der gigantische Palast der Kultur, ein »Geschenk« an das polnische Volk, wurde in den 1950er Jahren von sowjetischen Architekten abseits des historischen Stadtzentrums geplant und errichtet; sein Turm misst 230 Meter; 2007 wurde er als Baudenkmal deklariert. Als Ikone stalinistischer Bauplanung und kommunistisches Symbol dominiert er Warschau wie Warschau-Diskurs bis in die Gegenwart. Dominik Bartmański geht einen Schritt weiter, interpretiert das für Augustin kontaminierte Bauwerk als ein »modernes Totem« und warnt vor dem Ineinsfallen von Symbolischem und Diskursivem. Der Palast habe wegen seines »kulturellen Verweigerungspotenzials« überlebt, das nun einmal nicht zu kontrollieren sei, anders als der Umgang mit ikonischen Gebäuden, die errichtet, zerstört oder gestaltet werden können.20 18 | Igor Ostachowicz nutzt das Sujet 2012 in seinem phantastischen Roman Die Nacht der lebenden Juden (Noc żywych Żydów), der von Kritikern in der Erzähltradition eines Quentin Tarantino gesehen wird (u.a. von Justyna Sobolewska). Auch hier geht es um die Toten der Vergangenheit, mit denen – oder über deren Überresten – auf dem WarschauFriedhof nicht folgenlos gelebt werden kann. Das Ganze ist angelehnt an Erzählstrategien, die am ehesten denen eines Computerspiels entsprechen. 19 | I oan, Augustin: ScarCity. In: Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus. Hg. v. Boris G roys , Anne von der H eiden u. Peter Weibel . Frankfurt am Main 2005, S. 364-403, hier 376. 20 | Bartmański, Dominik: Ein p/ostmodernes Totem. Wie man als kommunistische Ikone den Kommunismus überdauert. In: Spielplätze der Verweigerung. Gegenkulturen im östli-
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Stasiuk vernachlässigt anders als Konwicki die Palast-Ikone,21 indes verbindet beide Schriftsteller der Blick auf Warschau als Stadt der Ebene, der Versteppung und Verheerung – womit sie einen diametral entgegengesetzten Weg zu dem Warschau-(Krimi-)Klassiker einschlagen: Leopold Tyrmands Der Böse (Zły) von 1955. Dessen Werk idealisiert gewissermaßen das stalinistische Warschau der 1950er Jahre als eine »Gauner-Romanze« im Stile der brechtschen Dreigroschenoper. Bei Stasiuk und Konwicki hingegen ist Asien angekommen in Europa: »Meine Stadt ähnelt dem berühmten Irkutsk. Einst war es eine verkrüppelte, europäische Stadt, heute ist es ein gesunder, asiatischer Ort. Ich bin Gefangener dieser Stadt.«22 Und auch Konwicki nimmt das Motiv der jahrhundertelangen Nekropolis wieder auf: In dieser Stadt, die seit ihren Anfängen behindert ist, von Besetzern vergewaltigt, von Eroberern gevierteilt, von asiatischen Horden gewürgt. Irgendwann bin ich in diese Leiche hineingekrochen. 23
Agata Anna Lisiak hat diese Überformung und Unterwerfung ostmitteleuropäischer Städte für die Zeit nach der Wende untersucht und die Figur des Kolonisators aus dem Westen stark gemacht.24 Analog liest Stasiuk das heutige Warschau vor allem als eine westlich kolonisierte Stadt – in seinen Essays noch deutlich ausgeprägter als in Neun. Das erzählende Ich in Wie ich Schriftsteller wurde, das chen Europa nach 1956. Hg. v. Christine G ölz u. Alfrun K liems. Köln-Weimar-Wien 2014, S. 202-221, hier 221. – Zur aktuellen Debatte um den Kulturpalast aus postkolonialer Perspektive siehe O milanowska , Małgorzata: The Palace of Culture and Science and Defilad Square in Warsaw. In: The Post-Socialist City. Continuity and Change in Urban Space and Imagery. Hg. v. Marina D mitrieva u. Alfrun K liems. Berlin 2010, S. 120-139. 21 | Siehe in Referenz auf Konwicki z.B. S tasiuk : Neun, S. 39: »Zwischen den nackten Ästen der Ahornbäume schimmerte der Kulturpalast und warf einen riesigen Schatten, in dem die halbe Stadt Platz finden könnte, wenn die Häuser Schulter an Schulter stünden. Doch nicht diese Art Schutz suchte er.« – S tasiuk : Dziewięć, S. 33: »[…] a pomiędzy nagimi gałęziami klonów przeświecał Pałac i rzucał ogromny cień, w którym mogło się zmieścić pół miasta, gdyby stanęło ramię przy ramieniu. Lecz nie takiego szukał schronienia.« 22 | K onwicki, Tadeusz. Die polnische Apokalypse. Aus dem Polnischen v. Gabriele H anus sek . Frankfurt am Main 1982, S. 189. – D ers .: Mała apokalipsa. Warszawa 1979, S. 159: »Moje miasto przypomina sławny Irkuck. Kiedyś było kalekim miastem europejskim, dziś jest zdrowym kiszłakiem azjatyckim. Jestem w niewoli tego miasta.« 23 | K onwicki: Die polnische Apokalypse, S. 188. – K onwicki: Mała apokalipsa, S. 159: »Grodzie kalekim od zarania, gwałconym przez okupantów, ćwiartowanym przez zaborców, dławionym na arkanie azjatyckich hord. Wpełzłem kiedyś do tego trupa.« 24 | L isiak , Agata Anna: Urban Cultures in (Post)Colonial Central Europe. West Lafayette 2010. – Neben Warschau untersucht sie auch Berlin, Prag und Budapest unter dem Aspekt einer doppelten Kolonialisierung.
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schon immer alles Böse aus den Metropolen kommen wähnt,25 macht im eben gelegenen, ausgelieferten Warschau eine Entropie der Fremdherrschaft aus: Die Westler »kamen in ein Land der Abertausend Spiegel, fanden sich zwischen riesigen Glasflächen wieder […], und konnten endlos ihr vervielfältigtes Spiegelbild betrachten.« So sei »ihr« Europa umgeben von einem »Kordon aus Spiegeln«.26 Ist Glas, das mythische Medium der Täuschung, der Werkstoff, den Stasiuk mit dem Westen verbindet, so chiffriert die Verspiegelung der Stadtlandschaft die Rückwirkung jener Eigenwahrnehmung Polens, die Maria Janion in ihrer Studie Das unheimliche Slawentum (Niesamowita słowiańszczyzna) diagnostiziert. Die Autorin verweist hier auf das »koloniale Vorrücken« des Christentums, das zu einer »latinisierten Verwestlichung« der polnischen Kultur geführt habe. Daraus resultiere ein Vergessen beziehungsweise Verdrängen byzantinischer wie heidnisch-slawischer Einflüsse. Kulturelle Unbehaustheit, so die zentrale These der Argumentation, erzeugt freudsche Unheimlichkeit.27 Janion operiert mit beiden Begriffen, um Polens Verarbeitung seiner historischen Doppelrolle zu beschreiben: als (von Russland und dem »Westen«) kolonialisiert auf der einen, als Kolonisator (der Ukraine, Litauens und Weißrusslands) auf der anderen Seite. In der kollektiven Erinnerung wurde Janion zufolge daraus eine Gefangenschaft zwischen Selbsterniedrigung und Überhebung, zwischen den mythischen Figuren des ewigen Opfers und der ewigen Antemurale. Der polnischen Literatur wirft sie denn auch vor, trotz »frommer Wünsche und verlogener Beteuerungen« sei ihr Polen »kein multikulturelles Land«, sondern ein »armer, flacher und überwiegend national-katholischer Monolith«.28 Man muss diesen Statusbefund mitdenken, will man die stasiuksche Glasals Westphobie einordnen: Sie verdoppelt und radikalisiert den pessimistischen Gedanken der Ebene noch einmal, indem Neun diese geschlossene, psychisch versiegelte Flachheit des kolonisierten Kolonisators in einer Art Drehung um 25 | S tasiuk : Wie ich Schriftsteller wurde, S. 49: »In der Provinz hatte das Volk mehr Vertrauen zur eigenen Obrigkeit. Das Böse kam immer aus den Metropolen. So ist es bis heute. Das weiß jeder.« – S tasiuk : Jak zostałem pisarzem, S. 47: »Lud na prowincji bardzej ufał swojej władzy. Zło zawsze przychodziło z metropolii. Tak jest do dzisiaj.« 26 | S tasiuk : Logbuch, S. 118-119. – S tasiuk : Dziennik okrętowy, S. 115: »Trafiali do krainy tysiąca luster, pomiędzy wielkie szklane płaszczyzny, w niekończące się amfilady przetopionego krzemu, wypolerowanej stali i aluminium i bez końca mogli oglądać swoje zwielokrotnione odbicia. […] Jakby ich Europa odgrodzona była kordonem zwierciadeł. […] Zawsze, gdy myślę o zachodzie Europy, myślę najpierw ›szkło‹. Nic innego nie przychodzi mi do głowy.« 27 | Janion, Maria: Niesamowita słowiańszczyzna. Fantazmy literatury [Das unheimliche Slawentum. Literarische Phantasmen]. Kraków 2006, S. 13-18. – Stasiuk wird sich 2010 Janions Befund anschließen, wenn er Südosteuropa und Polen ineins blendet in S tasiuk : Tagebuch danach geschrieben, S. 124-175. 28 | Janion: Niesamowita słowiańszczyzna, S. 330.
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90 Grad als verspiegelte Fassade wiederholt und die Figuren des Romans so in eine autorlose, intentionsfreie Irre führt. Damit wird eben jenes fremd-distanzierte Autoritäre erzeugt, das auch die urbane »Fata Morgana« der Nachwendezeit strukturiert. Als solche greift die verglaste, autorlose Stadt auf ihre eigenen Ränder über. Das postsozialistisch boomende Warschau kommt seltsam dörflich, pagan und rural daher – jedoch ohne dass in den korrumpierten Vororten noch »Land« im Sinne einer idealisierbaren Pluralität und Authentizität zu erblicken wäre. Stasiuk kontaminiert vielmehr die Topografien über metonymische Inbezugsetzungen von Stadt und Land, Stadtzentrum und Stadtvierteln, über Geruchswahrnehmungen und Verkehrsbilder, aber auch über brechende visuelle Bezüge: Freitag morgen, das heißt, wie immer zogen von Ochota nach Praga, von Żoliborz nach Mokotów und umgekehrt Schnüre von Autos, und es kamen einem geometrische Assoziationen in den Sinn. Die Häuserflächen schoben sich übereinander, um sich schließlich an die Fläche des Himmels zu lehnen. Das Licht im Osten zerbröckelte an den geraden Rändern der Dächer. Unten lag Schatten. Die Pfützen waren noch nicht getaut, das Eis spiegelte sich im Glas, das Glas vervielfachte sich in den blitzenden Flächen, die sich gegenseitig so lange vervielfachte Bilder schickten, bis schließlich eines von ihnen seine Augen traf. 29
Maria Janions Monolith ist hier zerbrochen, nichts aber an seine Stelle getreten, nurmehr Dystopie geblieben.30 Die Einschmelzung der Topografien von Stadt und Umland, die Verwischung großstädtischer Konturen und die Privilegierung der Peripherie gegenüber dem Zentrum als Handlungsort bedingen die urbane Dislokation der Figuren: Sie haben, ganz wörtlich, keinen festen Ort mehr. Die horizontal-geografische und vertikal-soziale Exklusion bedingen, spiegeln und verschärfen einander.
29 | S tasiuk : Neun, S. 238. – S tasiuk : Dziewięć, S. 198-199: »Piątkowy poranek, czyli jak zwykle z Ochoty na Pragę, z Żoliborza na Mokotów i odwrotnie ciągnęły sznury samochodów, a do głowy przychodziły myśli z dziedziny geometrii. Płaszczyzny domów zachodziły kolejno na siebie, by w końcu oprzeć się o płaszczyznę nieba. Wschodnie światło kruszyło się na prostych krawędziach dachów. W dole leżał cień. Kałuże jeszcze nie rozmarzły, lód odbijał się w szkle, szkło zwielokrotniało się w błyszczących płaszczyznach, które przesyłały sobie nawzajem pomnożone obrazy tak długo, aż w końcu któryś z nich trafiał do jego oczu.« 30 | Evelyn Meer sieht in Stasiuks Neun noch eine gewisse Heterogenität Warschaus gegeben, die sie im sozialen und kulturellen Status der Figuren verankert. Dabei verweist sie auf die Stellen, in denen die Vororte Warschaus als »Dritte Welt« bezeichnet werden. – M eer, Evelyn: Die Dezentralisierungstendenzen in der polnischen Prosa nach 1989. Dissertation, Universität Regensburg, Regensburg 2006: www.epub.uni-regensburg.de/10465/ (Letzter Zugriff 09.04.2014).
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Keine der Figuren aus Neun ist situiert, gesellschaftlich akzeptiert – wobei jenseits sozialer Randständigkeit das unter ihnen universale Kriminelle die genuin asoziale (Selbst-)Ausschließung markiert. Um die Bedeutung des Verbrechens für den Romantext näher zu erhellen, sei auf die Stadtphilosophie Walter Benjamins zurückgegriffen. Genauer: auf die Betrachtung zur Nähe von Flaneur und Detektiv, zur Präformation des Letzteren im Ersten.31 Nun wird Neun kaum als Krimi gelesen, eher als (Stadt-)Gesellschaftsroman, abermals ähnlich den Romanen Jáchym Topols oder Jurij Andruchovyčs. Wie dort gibt es zwar Kriminalität, Raub, Mord, Diebstahl, Drogenhandel und Sexualdelikte, einen weiten Fächer von Klein- und Großverbrechern – aber eben keinen »Fall«, der zu lösen wäre, keinen Aufklärer, keinen Plot. Es fehlt mithin die handwerkliche Struktur einer detective story aus anfänglichem Ordnungsverlust, (individueller) Aufklärungsarbeit und (zumindest teilweiser) Wiederherstellung der Ordnung. Damit einhergehend fehlt die Metonymisierung des Ordnungsverlusts in einem Verbrechen beziehungsweise Verbrechenskomplex. In einem allgemeiner gefassten Zugriff jedoch bestimmt etwa Bart Keunen die Beziehung zwischen Stadt und Krimi: Urban crime fiction is organized by the actions of heroes who are tested for their ability to survive in urban culture […]. Crime novelists often refer to spatial settings which compensate for the loss of collective value systems. 32
Unter diesem Aspekt ist der Roman urban crime fiction in Reinform. Stasiuks Prüfung seiner Figuren auf Überlebensfähigkeit im sozial dystopischen Stadtgelände ist ein veritabler Rütteltest. Der Unterschied zu seinen Pastoralen, um es vorwegzunehmen, besteht darin, dass die Figuren in Neun dort – also in die Stadt – »eigentlich« nicht hingehören. Ihr Überlebenskampf ist ein in der und gegen die Uneigentlichkeit geführter. Zugleich entwirft Stasiuk seine Figuren als aktualisiert-verzerrte Varianten des reflektierenden und beobachtenden Flaneurs. Flaneure freilich, die den dandyesken Touch verloren haben, weil sie gehetzt und nicht bummelnd im unwirtlich Zerstörerischen wandern. Gleichwohl finden sie Zeit zu beobachten, ihre Beobachtungen zu bedenken und samt ihrer Abstraktionen und Deutungen ausgiebig mitzuteilen. So lässt sich Paweł als historisch-urbanistischer Detektiv lesen, zugleich ein Verfolgter, dessen Flucht ziellos bleibt: Das ist es, was im postsozialistischen Warschau aus dem Flaneur-Detektiv geworden ist. Er ist ein man of the crowd, der die Menge indes nicht sucht, um in ihr erfahrend aufzugehen, 31 | B enjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Bd. 1. Frankfurt am Main 1983, S. 554. 32 | K eunen, Bart: Moralism and Individualism in Urban Fiction. A Deleuzian and Bakhtinian Critique of Spatial Transgressions in Contemporary Crime Novels. In: Literature and Space. Spaces of Transgressiveness. Hg. v. Jola Š kul j u. Darja Pavlič . Ljubljana 2004 (= Sondernummer Primerjalna književnost), S. 105–119, hier 113.
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sondern um unterzutauchen, sich zu verbergen. Sein Beobachten ist um die Intention gebracht. Der Begriff geht auf Edgar Allan Poes The Man of The Crowd von 1840 zurück, das von einem Großstadtbeobachter handelt, der seinen Beobachtungsposten im Caféhaus verlässt, um einem Mann mit unter der Kleidung auf blitzendem Dolch quer durch die Stadt bis in die randwärts gelegenen Vergnügungsviertel zu folgen. Es gibt aber kein (sichtbares) Verbrechen, keine Tat. Der Erzähler steckt die Verfolgung auf. Für ihn wird der geheimnisvolle Alte zum man of the crowd – einem »ewigen Wanderer«, einem »Geist des Verbrechens« auf der Suche nach Gesellschaft, nach Ent- und Verbergung im Urbanen. Gegen die benjaminsche Gleichsetzung von Flaneur und Detektiv spricht eben die schon erwähnte Intention: auf der einen Seite der absichtslose Flaneur, auf der anderen der Detektiv als Inbegriff des höchst absichtsvoll beobachtenden und sich bewegenden Stadtteilnehmers – vergleichbar mit Poes Verfolger aus dem Caféhaus. Für den von außen beobachtenden Betrachter sind die beiden Figuren ununterscheidbar, was übrigens auch in der Absicht des Detektivs liegt. Harald Neumeyer verweist darauf, dass Benjamin offensichtlich eine Komponente in seinem Vergleich übersehen habe: Da Benjamin den Flaneur gleichfalls, auch und gerade in seiner Grenze zum Gaffer, als Beobachter versteht, kann er den Detektiv problemlos als eine Erscheinungsform des Flaneurs veranschlagen, in der sich lediglich die »Schaulust« »in der Beobachtung konzentriert«. 33
Neumeyer zweifelt, ob Benjamins daran gebundene These, dass jede Spur den Flaneur auf ein Verbrechen führen werde, die Figur noch adäquat bestimmen kann. Für Neumeyer ist ein Flaneur, der eine Spur verfolgt, kein Flaneur mehr. Auch Stasiuks Paweł ist kein Aufklärer bei der Arbeit – aber er funktioniert strukturanalog, wobei Rätsel, Gefahr und Allgegenwart des Verbrechens diese Analogie atmosphärisch absichern. Nicht eine Tat wird hier verfolgt, sondern »das« Kriminelle. Stasiuks Erzählmuster ist kein whodunit, sondern ein überhoch gehängtes, in der Tat gesellschaftsromanhaftes what happened. Das erlaubt dem Text, den Leser durch Pawełs Augen und Körper die Stadt fühlen zu lassen, ihre disparaten, flüchtigen Informationen aufzunehmen – Spuren, deren Entschlüsselung schwer fällt. Streng genommen ist eine Aufklärung unmöglich geworden. Benjamin war noch überzeugt, die Stadt wenn nicht im Foto, so im Film einfangen zu können. Ähnlich meinte er in Berliner Chronik, ihr »Weichbild« – die bauliche Silhouette einer Stadt – lasse sich nicht mehr von den Gleisen und Bahnhöfen »aufrollen«, sondern allenfalls vom Auto aus.34 Damit blieb ein Rest Unterscheidbarkeit zwischen Stadt, Suburbia und Land, ein wie verflossenes Weichbild auch immer. Der 33 | N eumeyer, Harald: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne. Würzburg 1999, S. 34. 34 | B enjamin, Walter: Berliner Chronik. Frankfurt am Main 1988, S. 17.
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Passageort »Bahnhof« als Einmündung hat sich zwar überlebt, doch erlaubt es das flexiblere Auto, andere – wenn auch vielfältige und amorphe – Übergänge zu erfahren. Bei Stasiuk nun kommen auch Bahnhöfe, der Wilnaer, der Ost- und der Hauptbahnhof, wieder prominent ins Spiel. Doch deren Tunnel, Überdachungen und Unterführungen bilden keine Entrees, die der Reisende durchquert, bevor sich ihm der Blick auf »etwas« eröffnet. Vielmehr unterscheiden sie sich epistemologisch nicht von den Busstationen, Straßenbahnhaltestellen, Kreuzungs- und Knotenpunkten, auf denen sich zumal die Quasi-Hauptfigur Paweł immer wiederfindet. Es handelt sich faktisch um Un-Orte; Orte, die zugleich stark durchreguliert und amorph sind. Sie sind zwar Passageorte, klassische Nicht-Orte, wie sie Marc Augé beschreibt, deren Markierung schwach und deren Charakter durchlässig ist. Doch führen sie zu nichts. Es schließen sich keine Orte an, sondern lediglich der nächste Zwischenraum. Stasiuks Nachwende-Warschau besteht nur noch aus Transitzonen, Orten, an denen mit Augé der Mensch sich provisorisch beschäftigt: Wellnesscenter, Shoppingmalls, Verkehrsmittel, die so zu »beweglichen Behausungen« werden und eine Welt konstituieren, »die solcherart der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist«.35 Der Gedanke eines Weichbilds ist allenfalls noch als Leerstelle im Sehnsuchtshaushalt des Betrachters auszumachen. Dergestalt in eine vollkommene Dystopie zerronnen, verliert Stasiuks Warschau seinen Objektcharakter und tritt in den unheimlichen Status eines Subjekts, eben den der ungenannten Figur des Romans. Mit deutlichen Anklängen an den romantischen Schauerroman anthropomorphisiert der Text die Stadt, ihr Inventar, ihre Wohnungen und Geschäfte: Die Busse haben Bäuche zu schleppen und jagen die Menschen mit ihren Hupen. Die Strombügel der Straßenbahn »schütten elektrische Sterne in die Bethlehemsche Nacht«.36 Die Stadt »liegt auf der Lauer«,37 »Wohnblocks wachsen in die Erde«38 und Straßenkreisel »schnaufen wie eine große kranke Luftröhre«.39 Gerüche und Geräusche, selbst Bauelemente dringen in die Körper der Figuren, verleiben sich ihnen ein, machen sie sich, der Stadt gleich: »Als glitte ein Wind über seine Eingeweide, als wäre er
35 | A ugé , Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main 1994, S. 93. 36 | S tasiuk : Neun, S. 18. – S tasiuk : Dziewięć, S. 16: »pełen elektrycznych gwiazd sypanych [...] ku betlejemskiej nocy«. 37 | S tasiuk : Neun, S. 23. – S tasiuk : Dziewięć, S. 20: »miasto przyczaja się«. 38 | S tasiuk : Neun, S. 31. – S tasiuk : Dziewięć, S. 26: »bloki wrastały w ziemię«. 39 | S tasiuk : Neun, S. 75. – S tasiuk : Dziewięć, S. 64: »dyszy jak wielka chora tchawica«.
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innen hohl, angefüllt mit herausgerissenen Teilen der Stadt, mit Bruchstücken der Landschaft, als liefe ein beschleunigter Stummfilm durch ihn hindurch.« 40 Die Stadt als kaputtes Lebewesen und die Figur als zerstörter Stadtteil. Sie wird zur Herausforderung oder Prüfung, erweist sich als überlegener, feindseliger Mitspieler, der seine Bewohner in sein existenziell verheertes Nicht-Sein herabzieht. Das geht deutlich über eine radikalisierte Form von Spiegelungstechnik hinaus.
W ie viel J unges P olen steck t in S tasiuks N eun ? Stasiuks Horrorszenario, das, was er seinen Figuren zumutet, erinnert an ein einschlägiges Thema (nicht nur) der polnischen Moderne: das Unbehagen an der Stadt, wie es insbesondere das Junge Polen (Młoda Polska) artikulierte – anders als die Skamandriten um Julian Tuwim oder später die Avantgarde-Dichter. 41 Wojciech Gutowski bescheinigt der Literatur des Jungen Polen, die um die Jahrhundertwende den modernistischen Umbruch in der polnischen Literatur einleitete, gar einen »dezidierten Antiurbanismus«. 42 Ungeachtet des programmatischen Verwerfens städtischer Lebensformen war die Stadt doch das Thema auch dieser Gruppierung. Das urbane Chaos, den Untergang durch die Stadt und in ihr kleidete sie bevorzugt in Motive und Symbole, die das Verderben ins Existenzielle, Metaphysische hoben. Ähnlich wie Neun lebt die Poesie des Jungen Polen aus der Spannung zwischen der Faszination am Urbanen und einer nachgerade verzweifelten Klage über seine Verheerungen. Erst der den Modernisten nachfolgende Krakauer Konstruktivismus eines Tadeusz Peiper und Julian Przyboś sah dann in der städtischen Zivilisation die schöpferische Verfügungsgewalt über das Kreatürliche, in der Natur das Gestaltlose, das der Formung durch den (urbanen) Menschen bedarf.
40 | S tasiuk : Neun, S. 40. – S tasiuk : Dziewięć, S. 34: »Jakby wiatr ślizgał się po wnętrznościach, jakby był pusty w środku, wypełniony jedynie oderwanymi kawałkami miejskiej przestrzeni, fragmentami pejzażu, jakby sunął przez niego przyspieszony niemy film.« 41 | Baranowska , Małgorzata: Urbanizm, Antyurbanizm [Urbanismus, Antiurbanismus]. In: Słownik literatury polskiej XX. wieku. Wrocław-Warszawa-Kraków 1992, S. 1151-1154, hier 1151: »In der modernistischen Literatur und der des Jungen Polen finden sich starke antiurbanistische Akzente. Doch allem Antiurbanismus zum Trotz [...] wird die Stadt zu ihrer Hauptfigur […]. – Einen gewissen Hang zum Antiurbanen macht Wojciech Ligęza auch in der späteren polnischen Exildichtung aus: L igęza , Wojciech: Jerozolima i Babilon. Miasta poetów emigracyjnych [Jerusalem und Babylon. Städte der Exildichter]. Kraków 1998, S. 166. 42 | G utowski, Wojciech: Symbolika urbanistyczna w literaturze Młodej Polski [Urbane Symbolik in der Literatur des Jungen Polen]. In: Miasto-Kultura-Literatura wiek XIX. Hg. v. Jan Data . Gdańsk 1993, S. 189-211, hier 189.
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Die Parallelen zwischen Stasiuks Roman und dem Jungen Polen sind in einer Passage aus Neun mit Händen zu greifen, in der Jacek einen Spaziergang hinaus aus der Stadt unternimmt, der ihn ins Grüne führt: Als er sich umwendet, erblickt er Warschau und sieht, »dass im Osten der Himmel sich rötete, ein purpurfarbener Glanz aufstieg und die schwarzen Umrisse der Stadt sich abzeichneten«. 43 Deren Linien erinnern ihn an aus dem Ozean auftauchende Berge. Nach diesem Blick auf die Metropole verliert Jacek die Entschlusskraft zum Verlassen der Stadt und er kehrt um. Seine resignativ-autoritäre Moral: »Die Menschen sollten bleiben, wo sie geboren sind.« 44 Die Szene korrespondiert intim mit Leopold Staffs Sonett Die Traurigkeit der Stadt (Smutek miasta) von 1910. Dort verlässt das lyrische Ich gedanklich »die schmutzige Innenstadt«, wo selbst »die Häuser ersticken«. Trost ist deren Tristesse nur vordergründig abzugewinnen. Die von der Sonne angestrahlten Schornsteine glänzen allenfalls »trügerisch« in einer als statisch, beengt, versteinert und verschmutzt präsentierten Stadtwelt. Dieser Eindruck wird kontrastiert durch die Rückbesinnung des lyrischen Ich auf die vitale Energie, die im ruhig dahinfließenden ländlichen Rhythmus liegt. Der imaginierte Gang in die Natur, aufs flache Land verheißt ihm Ankommen, selige Ganzheitlichkeit: Mit klammem Herz in der Brust, voll Schmutz wie die Stadt, Wo in engen Gassen, laut wie ein Mühlenschlund Der Häuser Atmen erstickt: zur Abendstund Schau traurig aus dem Fenster ich, wie’s draußen öd und matt. Ich sehe rote Dächer und Schornsteine grau, Die die Westsonne verziert mit trügerischem Gold Unter dem Himmel aus Rauch… Und irgendwo, schön und hold Freie Ebenen, rauschende Bäume, dunkelblau. Schwer zu glauben an ein bisschen taubenetztes Gras, Hier, wo einzig der Spatz sich erinnert an das freie Maß Der Natur, wenn mit dem Flügel an die Rinne er schlagen muss. Und so wenig nur kann jetzt reichen zum Glück: In die Dämmerung, den Sonnenuntergang barhäuptig ein Stück Entlang am grünen Ufer, am ruhigen, vorabendlichen Fluss. 45 43 | S tasiuk : Neun, S. 154. – S tasiuk : Dziewięć, S. 129: »[...] zobaczył, że na wschodzie niebo czerwienieje, podnosi się purporowy blask i wstają czarne kontury miasta.« 44 | S tasiuk : Neun, S. 154. – S tasiuk : Dziewięć, S. 129: »Ludzie powinni zostać tam, gdzie się urodzili.« 45 | S taff, Leopold: Smutek miasta [Die Traurigkeit der Stadt]. In: D ers.: Wiersze zebrane. Bd. 2. Warszawa 1955, S. 188: »Z sercem ściśniętym w piersi, jak śródmieście brudne,
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Das Wissen um die Existenz der Natur jenseits des urbanen Molochs erlöst das lyrische Ich aus den Realitäten von Straßendickicht, Häuserschluchten und überfüllten Mietskasernen – wie der gewisse Jenseitsglaube seinen Träger schon im Diesseits der existenziellen Zumutung erhebt. Für den Symbolisten Staff galt, »je trister und beengender die Gesellschaft empfunden wurde, umso metaphysisch offener wurde die Natur konzipiert. Zufluchtsort des sezessionistischen Individuums, wird sie so radikal zur Gegenwelt aufgebaut, dass auch die Menschen aus ihr verschwinden«. 46 Die Antwort der Avantgarde auf Antiurbanismus und methaphysischen Eskapismus formulierte Julian Przyboś programmatisch pointiert, dass die Flucht in den Schoß der Wiese die Ordnung des Straßenpflasters verrate. 47 Ganz so einfach freilich liegen die Dinge nicht. Staffs Sonett suggeriert das Glück in einer Landschaft, deren Vollkommenheit aus vollkommener Sprachform erwächst. 48 Dergestalt ist der geträumte Abendspaziergang keine Rückkehr in das bloß Naturhafte. Wie schon Jahrzehnte zuvor bei Charles Baudelaire erfährt das Natürliche mit seiner formvollendeten Verherrlichung zugleich seine Überwindung durch das Künstliche. Es ist dieser Wechselbezug von Kunst und Natur, nicht platte Naturvergötzung, die am Ende auch die Stadt lebbar macht für den Menschen.
/ Gdzie się w uliczkach wąskich, a gwarnych jak młyny / Brakiem tchu duszą domy: w wieczornej godziny / Smętek patrzę przez okno, jak podwórze, nudne. // Widzę czerwone dachy i szare kominy, / Które zachodnie słońce stroi w złoto złudne / Pod niebem szarym z dymu… A gdzieś, hen, są cudne / Błękity, szumne drzewa i wolne równiny. // Jak trudno wierzyć choćby w rośną trawę polną / Tu, gdzie jedynie wróbel przypomina wolną / Przyrodę, skrzydłem tłukąc się o rynien ścieki. // A tak mało do szczęścia teraz starczyć może: / Iść w zmierzch z głową odkrytą pod zachodnią zorzę / Zielonym brzegiem cichej, przedwieczornej rzeki.« 46 | O lschowsky, Heinrich: Lyrik in Polen. Strukturen und Traditionen im 20. Jahrhundert. Berlin 1979, S. 56. – Olschowsky bezieht seine Bemerkung hier auf einen anderen Dichter aus dem Umfeld des Jungen Polen: auf Kazimierz Tetmajer. 47 | P rzybo ś, Julian: Der Mensch über der Natur. In: Der Mensch in den Dingen. Programmtexte und Gedichte der Krakauer Avantgarde. Hg. v. Heinrich O lschowsky. Berlin 1986, S. 84-87. – Das Manifest ist unter Człowiek nad przygodą 1926 in der Zeitschrift Zwrotnica (Die Weiche) erschienen. 48 | S taff, Leopold: Die Genesung des Jahrhundertendes. Studie zur Literatur der jüngsten Vergangenheit. In: Jahrhundertwende. Literatur des Jungen Polen 1890-1918. Hg. v. Maria P odraza-Kwiatkowska . Leipzig-Weimar 1979, S. 151-152, hier 152: »Wirke also auf die Veredelung und Hebung der Kultur ein, wie immer du es vermagst, mit der Kunst, der Wissenschaft, der Beredsamkeit deines Mundes und deiner Augen. Wenn du ohne Religion bist, so bekenne dich zur ›Religion der Kultur‹. Helles kann nur in einem hellen Raum sein, Warmes nur in einer warmen Atmosphäre. Glücklich sein kann man nur in einer glücklichen Umgebung.«
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In Wie ich Schriftsteller wurde wirft Stasiuk dem Jungen Polen und namentlich Leopold Staff und Stanisław Przybyszewski »Phrasendrescherei« vor. Die unfreundliche Sentenz geht leicht unter in der schier endlosen Aneinanderreihung von Werken und Dichtern, die das erzählende Ich mal mehr, mal weniger bewundernd ausbreitet. Sie nimmt sich merkwürdig aus angesichts der Fluchtbewegungen aufs Land, die die Figuren in Neun sowie in anderen Werken Stasiuks, unternehmen – ihrer bedingungslosen Bewunderung jedes »Kaffs« im Umkreis von Warschau. Dass Stasiuk an die spezifische Stadtfeindlichkeit der »phrasendreschenden« polnischen Modernisten anschließt, weist indes vor allem die sprachliche Bearbeitung des Themas aus. Stasiuks Warschau in Neun ist in all seiner urbanen Hässlichkeit ein hochpoetischer Raum. Die Brutalität der Beschreibung wird immer wieder über lyrisch den Raum strukturierende Metonymien aufgefangen. Zahlreiche der angesprochenen Anthropomorphisierungen sind fast zärtlicher Natur. Ihre synkretistischen Überlagerungen generieren die erwähnte Ortlosigkeit – und erlauben dem erzählten Raum so zugleich, sich ins Metaphysische zu weiten wie Staffs Spaziergang. Stasiuk schafft »kombinatorische Räume des Ineinander« und »aleatorische Konfigurationen des Disparaten«, 49 die über ein reines Unbehagen an der Stadt hinausgehen. Warschau mag verflucht sein – und ist doch begehrenswert. So wenn der Ruch des Wohlstands sich über die Metropole und von dort aus über das Land legt und der Metropole eine unausweichliche immaterielle Präsenz verleiht: Jetzt schaute er Richtung Bracka und spürte ein Verlangen. Es schwebte in der Luft. Denn jedes Ding, jeder Gegenstand strahlte, schied einen immateriellen Duft aus, der durch die Schaufensterscheiben drang und sich wie Rauch, Nebel oder schweres Gas dahinzog. Er erfüllte die schmale Rinne der Straße, stieg über die Dächer der Innenstadt, und der Wind nahm ihn mit und verteilte ihn über alle Stadtteile. […] Und die ferne, traurige Peripherie, die armseligen Hütten in Wygoda. Die hoffnungslose Bauweise aus Bruchziegeln und Sauerkrautplatten in Białołeka, das barmherzige Grün von Siekierki, das all die Häuser bedeckte, in denen man im Winter in einen Eimer im Flur pisste, […]: all das musste diesem Duft erliegen, denn er kam vom Himmel und erfüllte die Träume, und ein Leben ohne Träume ist daneben wie ein Schuh ohne Absatz. 50 49 | Brüggemann, Heinz: Konstruktion urbaner Raum-Bilder/Bild-Räume aus synkretistischer Lizenz in (romantischer) Moderne und Postmoderne. In: Stadtformen. Die Architektur der Stadt zwischen Imagination und Konstruktion. Hg. v. Vittorio Magnago L ampugnani u. Matthias N oell . Zürich 2005, S. 22-38, hier 26. 50 | S tasiuk : Neun, S. 58-59. – S tasiuk : Dziewięć, S. 49-50: »Teraz patrzył w stronę Brackiej i odczuwał pożądanie. To unosiło się w powietrzu. Bo każda rzecz, każdy przedmiot promieniował, wydzielał z siebie niematerialną woń, która przenikała szyby witryn, gablot i snuła się jak dym, mgła albo ciężki gaz. Wypełniała ciasne koryto ulicy, wznosiła się na dachy Śródmieścia, wiatr ją porywał i rozwlekał po niebie nad wszystkimi dzielnicami. […]
11. Städte der Ebene: Andrzej Stasiuk
Stasiuk wie Staff sublimieren ihre urbane Verzweiflung über hochartifizielle dichterische Verfahren. Beide weiten ihre städtischen Räume ideell ins Land als vermeintlich Anderes. Ist dies bei Staff schon Kunst, so erscheint das Land bei Stasiuk »authentisch«, allerdings in einer von der Stadt gar nicht so verschiedenen Unerträglichkeit, vor allem im selben Bombast des Sprachvermögens gestaltet. Und es ist korrumpierbar: Das Land träumt von der Stadt, wie es umgekehrt der urbanen Textur als Projektionsfläche dient. In beiden Fällen greift es zu kurz, von einer »Stadt-Land-Dichotomie« als Chiffre eines Wertekonflikts auszugehen, wie Elżbieta Rybnicka ihn zur Gegenüberstellung von Fremdheit versus Eigenheit, Zivilisation versus Natur, Modernisierung versus Natur verknappt.51 Zwar macht Stasiuks crime fiction bereits erste Schritte auf das Land als Gegenmodell zum Verbrechen der postsozialistischen Großstadt zu. Dorthin, wo es, wie einer seiner Protagonisten feststellt, noch Einkaufsnetze gibt, die von Generation zu Generation weiter gereicht werden. Wo gesät, geerntet und eingeweckt wird. Dennoch, Neun zieht seine Figuren stets zurück ins Zentrum, ihren Untergang wohl einkalkulierend – wenn das Prinzip der Zentralität ohnehin alles durchdringt, ist anderswo oder anders kein Sein möglich: Ihre Spuren breiten sich nach allen Seiten aus wie ein Spinnennetz, […], sie kriechen den flachen Raum entlang, aber früher oder später kommen sie hierher zurück, ins Zentrum, in die Mitte, es wäre Wahnsinn, sich nur an den Rändern zu bewegen, viereckige, achteckige, kreisförmige Routen zu wählen. Also mussten früher oder später alle in den Tunnel kommen, […]. Irgendwo ganz in der Mitte musste eine Achse sein, wo die Stadt Anlauf nahm, eine Achse und ein magnetischer Punkt, denn sonst wäre doch längst alles in atomisierten Dreck zerfallen […] wie durch einen Ventilator gejagte Scheiße. Und als er wieder an der Toilette […] vorbeikam, begriff er, […] dass er von Anfang an im Zentrum der Stadt sein wollte, in ihrem Nabel, in ihrer Pupille, in ihrem Arschloch, dass die Phantasie ihm immer blendende und irreale Bilder der Innenstadt unter die Nase gehalten hatte, in denen Glanz und Kälte zu einer idealen Fata Morgana übernatürlicher Form zerschmolzen. 52 I dalekie smętne peryferie, lepianki na Wygodzie. Beznadziejne rękodzieło rozbiórkowych cegieł i supremy w Białołęce, miłosierna zieleń Siekierek, kryjąca te wszystkie domy, w których w zimie szczało się do wiadra w sieni, […] – to wszystko musiało ulec tej woni, bo przychodziła z nieba i wypełniała sny, a życie bez marzeń jest do dupy, jak but bez obcasa.« 51 | R ybnicka , Elżbieta: Modernizowanie miasta. Zarys problematyki urbanistycznej w nowoczesnej literaturze polskiej [Die Modernisierung der Stadt. Ein Abriss der urbanistischen Problematik in der polnischen Gegenwartsliteratur]. Kraków 2003, S. 41. 52 | S tasiuk : Neun, S. 156-157. – S tasiuk : Dziewięć, S. 130-132: »Pomyślał sobie, że ich ślady rozsnuwają się we wszystkich kierunkach niczym pajęczyna, rozpełzają się w płaskiej przestrzeni, ale zawsze prędzej czy później powracają tutaj, do samego centrum, do środka i byłoby szaleństwem poruszać się jedynie po obrzeżach, wybierać czworokątne, ośmiokątne, koliste, okrężne trasy. No więc prędzej czy później w tym tunelu przynajmniej raz w życiu musieli znaleźć się wszyscy […] Gdzieś tam w samym środku musiała być oś, na
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Erst Stasiuks Hinwendung zur Peripherie – dem einschlägigen Galizien – bietet eine Erlösung im nicht guten, nicht naiv geordneten Land, das der zeitgemäßen Resignation nicht entgeht, aber dennoch »authentisch« bleibt. Auch dessen Wahrhaftigkeit weist eine – oft tödliche – Fehlerhaftigkeit auf. Aber anders als Warschau ist die Stadt nicht der Fehler. Mit dem Befund der Unerlösbarkeit, des existenziellen Skandals entradikalisiert sich im späteren Erzählwerk Stasiuks die Dislokation der Protagonisten. Es verlieren sich namentlich die vertikalen Reflexe der »schrecklichen« Ebene und der doppelte Boden, die Neun zum Underground-Roman machen. In Galizien erzählt Stasiuk in der Tat vom »platten Land« ohne eine radikal-verstörende Vertikalisierung – und aus Verzweiflung wird süffige Melancholie.
której rozpędzało się miasto, oś i punkt magnetyczny, bo przecież inaczej wszystko by się rozpirzyło w drobne chujki […] jak gówno wrzucone w wentylator. […] I gdy znów mijał kibel […] pojął, że […] od początku pragnął znaleźć się w środku miasta, w jego pępku, w jego źrenicy, w jego dziurze w tyłku, że wyobraźnia podtykała mu pod nos lśniące i nierealne obrazy Śródmieścia, w których blask i chłód stapiały się w idealną fatamorganę nadprzyrodzonych kształtów.«
12. Epilog: Aggressiver Lokalismus
Andrzej Stasiuk und Jurij Andruchovyč
als Verwalter der Provinzen Was hat Riga mit Odessa, was Bukarest mit Witebsk, was Breslau mit Belgrad, was Leningrad mit Berlin, was Lodz mit Prag zu tun? Aber die Tatsache, dass sie alle auf der Karte des mittleren und östlichen Europa eingezeichnet sind, ist doch von Belang. Es besagt, dass sie Punkte auf einem großen geschichtlichen Schauplatz waren und dass sie auf die eine oder andere Weise davon gezeichnet worden sind.1 K arl S chlöge l
So Karl Schlögel, der diese Städtelandschaften einer großen Leserschaft nahe gebracht hat. Ohne Frage, Schlögel romantisiert, essenzialisiert Mittel- und Osteuropa. Gleichwohl wahren seine feuilletonistischen Verstöße gegen den akademischen Komment eine letzte Distanz, fast Scheu vor dem interpretativen Übergriff. Das mag die Objektivitätserwartung an den akademischen Text bedienen und einer taktvollen Selbstbeschränkung als »Auswärtiger« zuzuschreiben sein, nicht zuletzt aber wohl einem liebevollen Verhältnis zum Urbanen. Anders Jurij Andruchovyč und Andrzej Stasiuk. Romantisch inspiriert erweisen sich auch sie. Doch während ihre Texte – schon dem Genre geschuldet – von Schlögels freundlich-dichten Vergegenwärtigungen durch scharfkantige Sprache und Bilder abstechen, stehen sie zudem in einem sozionarrativen Gegensatz zu Schlögels urbaner Textur. Sie beziehen eine Position, die im Folgenden als Aggressiver Lokalismus zu fassen versucht wird. Auch der Ukrainer Andruchovyč und der Pole Stasiuk betreiben eine literarische Exotisierung und Identisierung von (exotischem) Selbst und Gegenstand, indes auf eine offensive Weise, die auf den Underground im Spätsozialismus und 1 | S chlögel , Karl: Neue Urbanität im neuen Europa. In: D ers .: Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte. München-Wien 2005, S. 183-199, hier 187.
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Der Underground, die Wende und die Stadt
dessen urbane Poetik verweist. Allein, in einer forcierten Volte überhöhen Andruchovyč und Stasiuk nicht nur die »eigene« Region und deren abgelegene Seiten, sondern schreiben zugleich »ihre« Städte konsequent ruraler, paganer, eben »lokaler«, ja lassen sie zu metropolitanen Dörfern mutieren – zu Mittelpunkten oder Zentren eines Peripheren, das immer wieder in sie drängt, um sie am Ende einzunehmen – wie an Stasiuks Neun und Andruchovyčs Moscoviada in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt. Diese Wendung gegen die ästhetisch-politische Fundamentalkonstitution des Underground soll im Weiteren skizziert werden. Die Idee, auch die Essays von Andruchovyč und Stasiuk mit dem Konzept des Underground zu konfrontieren, zielt darauf ab, dessen (möglichen) Weg über die Epochenkluft von 1989 zu verfolgen. Der politisch-historische Kontext indes, in dem dieser literarische Befund erstellt wurde, liegt zeitlich vor der rechtswidrigen Annektion der Krim durch Russland.
D as E inschmel zen der Topogr afie Die zuvor besprochenen Stadtromane beider Autoren multiplizieren und verflechten die Zentrum-Peripherie-Achsen, mit denen die »klassische« UntergroundKunst operiert. Das Einschmelzen der Topografie findet in ihnen auf einer horizontalen und einer vertikalen Achse der Exklusion beziehungsweise SelbstExklusion statt. Mit der horizontalen Exklusion ist eine geografische gemeint, mit der vertikalen eine soziale. Neben die Stadt-Unterstadt-Perspektive, die in versus out als Radikal von oben versus unten fasst, tritt der Gegensatz Metropole-Provinz sowie West-Ost. Letztere sind horizontale Kategorien, deren Einsatz bei näherer Betrachtung indes Spezifika der vertikal argumentierenden Ästhetik des älteren Underground adaptieren. Geschärft wird dadurch der immer schon offensive Doppelgestus von Viktimität und Superiorität. Die Steigerung dieses Zentralmoments aus Marginalität und Selbstmarginalisierung geschieht in den Essays indes wesentlich im Modus der emphatischen Einschreibung eines Land-Stadt-Dipols in die vordem primär intra-urbane Absetzung. Gleichwohl bleibt es die urbane Textur, auf der sich die dimensionale Ergänzung manifestiert. Indem das Motiv der horizontalen Randständigkeit das des – wörtlich verstanden – Sub-Urbanen weniger ablöst als erweitert, verfolgt es das Grundanliegen, »offizielle« Zentrumsbehauptungen zu unterlaufen, sozial verbürgte Raumhierarchien zu bestreiten. »Zentrum« und »Peripherie« werden hier von gesellschaftlichen Annahmen zu Metaphern der Exklusion. An der Exklusion leidet das erzählende Ich offensiv, es vergrundsätzlicht sie erhöhend beziehungsweise münzt sie in eine restaurierte Underground-Poetik um. Das Verfahren in den Essays von Andruchovyč und Stasiuk ist dem der Stadtromane analog: Es werden zum Zentrum konkurrierende Orte ästhetisch generiert, die im öffentlichen Verständnis den privilegierten widersprechen – nun aber solche sind, die nicht mehr dezidiert im städtischen Kern liegen, wiewohl
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normativ »darunter«. Sie liegen vielmehr im selben Schriftzug »daneben« – in der Provinz oder im Westen. Wandte der ältere Underground sich gegen eine selbst bereits urbane »Kolonialisierung des städtischen Raums«,2 setzte also die Stadt als universalgesellschaftliche Metonymie ein, so nutzen Andruchovyč und Stasiuk sie eher als gebrochen-brechenden Spiegel einer wesentlich transurbanen Gesellschaft. Beide Male geht es gegen die Organisation des Raums durch politischen Oktroi, soziale Konvention oder kommerziellen Imperativ, jedenfalls gegen eine Macht, gegen Kanonisiertes und Etabliertes – oder Behauptungen davon. Es geht um ein Unterlaufen, das seine eigene Marginalisierung immer schon voraussetzt und seinen Widerstandsimpuls folgerichtig ästhetisch autoaggressiv verfasst. Paul Virilio schätzt die Zukunft der Städte pessimistisch ein. Es werde immer mehr (große) transnationale Staaten mit unsichtbaren Grenzen geben und (kleine) nationale mit sichtbaren Schlagbäumen. Ersatzentitäten wie Nation und Kultur würden zerbröseln, und der Mensch werde nirgendwo zu einer Wohnhaftigkeit finden. Metropolen sind in Virilios Szenario längst zu Hauptstädten der Hauptstädte geworden, zu einer Art Weltstadt geronnen. Im selben Atemzug prognostiziert Virilio die Aufhebung des Landes, so das Fazit am Ende seines Ritts durch die Jahrhunderte: War da zuerst noch der Stamm als Dorf, folgten das moderne Dorf, später dann der Marktflecken, die bürgerliche Familie, die nach der industriellen Revolution zur Kernfamilie schrumpfte, und in der postindustriellen Megapole schließlich das »alleinerziehende Elternteil« beziehungsweise das »fallengelassene Individuum«.3 Jáchym Topol indes belebt den Stamm – der für Virilio am Anfang der Entwicklung steht – in »seinem« Prag aufs Neue. Seine »kanakische« Meta-Rasse aus den Prag-Romanen der 1990er Jahre ruft ein urbanes Gegenkonzept auf, das wesentlich auf tribale Haltung zielt. Andruchovyč und Stasiuk schaffen in ihrer Stadtprosa dagegen postindustrielle Metropolen, wie sie Virilio prophezeit, die als Riesenareale auf das Land übergreifen – und umgekehrt. Sei es durch ihren alles verschlingenden Steppencharakter wie Andruchovyčs Moskau oder durch das Warschau erobernde Umland in Stasiuks Krimi.
M itteleuropa und die A utorität der R egion In ihren Essays wiederum stemmen sich ihrerseits Andruchovyč und Stasiuk gegen die Verwässerung der ländlichen Randzonen Mitteleuropas. Von den Essays heißt es, sie würden »aus den verrottenden Milieus poetisches Kapital eher 2 | L efèbvre , Henri: Die Revolution der Städte. Frankfurt am Main 1976, S. 27. 3 | V irilio, Paul/Brausch Marianne: Randgruppen. Ein Gespräch. In: Mythos Metropole. Hg. v. Gotthard Fuchs, Bernhard M oltmann u. Walter P rigge . Frankfurt am Main 1995, S. 89-97, hier 96.
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schlagen als aus einer [...] westlichen Gesellschaft«. 4 Und weiter, dass dem Leseinteresse im Westen der Schuss »ostalgischer Existenzialismus« zu Gute komme.5 Es sind Zitate wie das folgende aus Stasiuks Logbuch (Dziennik okrętowy) von 2004, die den »westlichen« Leser ansprechen: Im Zentrum zu leben bedeutet, nirgends zu leben. Wenn es überallhin gleich nahe oder gleich weit ist, wird der Mensch von einer Abneigung gegen das Reisen erfasst, weil die ganze Welt zunehmend einem einzigen großen Dorf gleicht.6
Stasiuk hebt in dieser Ausführung zur Nivellierung der europäischen Landschaft allgemein ein Moment hervor, der seinen speziellen Reiseraum »Mitteleuropa« für ihn überhaupt erst reisenswert, ja lebenswert macht: Er spricht von einem »nach wie vor nicht gezähmten Raum«.7 Dem, und das unterstreicht den Gegensatz zur gleichmachenden Mitte, ein Wappen gebühren würde, das aus »Halbdunkel« auf der einen und »Leere« auf der anderen besteht: »Ein schönes Wappen mit etwas undeutlichen Konturen, die man mit seiner Vorstellung ausfüllen kann. Oder mit Träumen.«8 Andruchovyč steht dem in Nichts nach, wenn es um die Herausstellung dessen geht, was dunkel und geheimnisvoll ist am östlichen Mitteleuropa. Stärker als Stasiuk aber geht es ihm auch um urbane mitteleuropäische Zentren, allen voran Lemberg, die von einer untergegangenen Welt zeugen, in der Kulturen, Sprachen, Konfessionen, Ethnien noch mehr oder weniger friedfertig miteinander, immerhin aber gemeinsam auf einem Territorium lebten. Standen in den vorhergehenden Kapiteln mit Moskau und Warschau zwei Metropolen im Verhältnis zu der sie umgebenden Provinz im Mittelpunkt, gesellt sich ihnen in den Essays ein weiterer Raum hinzu: die Region Mitteleuropa. An eben diesem Topos wird ein Widerstandsimpuls wirksam, der sich gegen die Stadt als solche, als Zentrum, Mitte oder ins Unendliche gewendetes Objekt richtet. Die Stichwortliste von Andruchovyč zu Mitteleuropa ist lang. Zum Zentrum eignet es sich für ihn indes nicht, denn es ist »eine Provinz«. Eine Provinz freilich, so lautet der – schon in der Einleitung zitierte – entscheidende Nachsatz, »wo jeder weiß, dass er sich in Wirklichkeit im Zentrum befindet, denn das Zentrum ist überall und nirgends, so dass man aus den Höhen und Tiefen des eigenen 4 | F etz , Bernhard: Wenn aus Inland Ausland wird. »Neun«: Andrzej Stasiuks Roman einer Zeitenwende. In: Neue Zürcher Zeitung v. 08./9.06.2002, S. 58. 5 | K illert, Gabriele H.: Die Furie der Verwestlichung. Die Manien und Antipathien des ostalgischen Existenzialisten Andrzej Stasiuk. In: Die Zeit v. 04.04.2002, S. 42. 6 | S tasiuk , Andrzej: Logbuch. In: A ndruchow y tsch, Juri/S tasiuk , Andrzej: Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa. Aus dem Polnischen v. Martin P ollack . Frankfurt am Main 2004, S. 79-145, hier 87. 7 | Ebd., S. 102. 8 | Ebd., S. 105.
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Arbeitszimmers ruhig auf alles andere einschließlich New York und Moskau herabblicken kann«.9 Treffender hätte er es kaum auf den Punkt bringen können, das kultivierte Gefühl des Mitteleuropäers, im Zentrum Europas zu leben, an einer Peripherie und doch umgeben von Ost und West. Denn Wegdenken, ausblenden ließen sich Paris und London, Berlin, Moskau und New York für die Mitteleuropäer nie, zumal nachdem Wien, gefolgt von Budapest, Prag und Warschau infolge der politischen Rupturen des 20. Jahrhunderts auch relativ an Metropolencharakter verloren hatten. Die dichterische Auseinandersetzung mit dem Streben nach einem unerreichbaren Zentrum relativierte im Gegenzug immer auch Heimat. Andruchovyč knüpft damit an die Überlegungen zu Mitteleuropa an, die vor ihm eine Phalanx von Schriftstellern angestellt hat. »Autorität« der Region könnte das Stichwort lauten, wenn man die Diskurse über Mitteleuropa zusammendenkt. Gemeint ist hier in doppeltem Wortsinn eine Region mit einer Autorschaft, die zugleich Autorität einfordert – weniger die analytischen Regionaldiskurse der Geschichts- und Politikwissenschaft als vielmehr die poetischen Referenzen auf Milo Dor und Danilo Kiš, György Konrád und Milan Kundera, Claudio Magris und Czesław Miłosz.10 Als eine der wohl prominentesten Stimme sei hier Milan Kundera genannt, der wie Andruchovyč zwar die Veränderlichkeit der Region herausstellt, dann aber auf das gewollt Randständige abhebt: Mitteleuropa ist polyzentral, es zeigt sich aus der Perspektive Warschaus anders als aus der Perspektive Wiens, aus der Perspektive Budapests, aus der Perspektive Ljubljanas. Drittens: Mitteleuropa ist niemals intentional eine gewollte Einheit gewesen. […] Die Kulturen der einzelnen Völker hatten zentrifugale, separatistische Tendenzen, sie schauten viel lieber auf England, Frankreich, Russland als aufeinander; und wenn sie sich gleichwohl (oder eben deshalb) ähnlich waren, geschah das ohne oder gegen ihren Willen.11 9 | A ndruchowy tsch, Juri: Zeit und Ort oder Mein letztes Territorium. In: Ders.: Das letzte Territorium. Essays. Aus dem Ukrainischen v. Alois Woldan. Frankfurt am Main 2003, S. 6071, hier 69. – A ndruchovyč, Jurij: Čas i misce, abo moja ostannja terytorija. In: Ders.: Dezorijentacija na miscevosti. Sproby. Ivano-Frankivs’k 2006, S. 118-126, hier 125: »[…] це така провінція, де кожен знає, що він насправді перебуває в самому центрі, бо центр є ніде і всюди водночас, а тому з вершин і низин власної робітні може цілком спокійно дивитися на все інше включно з Нью-Йорком чи якоюсь Москвою.« 10 | Eine übersetzte Auswahl: M iłos z, Czesław: West- und östliches Gelände. Köln 1961. – K i š, Danilo: Mitteleuropäische Variationen. In: Lettre International 11 (1990), S. 12-15. – K onrá d, György: Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt am Main 1985. – M agris, Claudio: Donau. Biographie eines Flusses. München 1988. – D or, Milo: Mitteleuropa – Mythos oder Wirklichkeit. Auf der Suche nach der größeren Heimat. Salzburg 1996. 11 | K undera , Milan: Einleitung zu einer Anthologie oder Über drei Kontexte. In: Die Prager Moderne. Erzählungen, Gedichte, Manifeste. Hg. v. Květoslav C hvatík . Frankfurt am Main 1991, S. 7-22, hier 18.
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In Un occident kidnappé wollte Milan Kundera Mitteleuropa geografisch ebenso wenig festgezurrt wissen, wie diejenigen, die sich vor und nach ihm zu Wort meldeten.12 Durchgängig stand vielmehr eine ideelle Lokalisierung zur Debatte, die romantisierend, vielfach nostalgisch Mitteleuropa mythisierte, bisweilen in Verbindung mit einem gewissen (über-)ausgestellten didaktischen Zug.13 Der Mythos »Mitteleuropa« lässt sich lapidar kennzeichnen mit Begriffen wie multikulturell par excellence; polyethnisch und polyglott sowieso; rational jenseits des Rationalismus; magisch geheimnisvoll; provinziell, aber nicht eng; modernefähig gerade durch Geschichtsbesessenheit; intellektuell viril qua Traditionsbewusstsein.
E mpires oder K under a liest Pal ack ý : E in E xkurs »Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen.«14 So der tschechische Historiker und Politiker František Palacký am 11. April 1848 in seinem Absagebrief an den Fünfziger-Ausschuss, das Vorparlament der Frankfurter Paulskirche. Zwei Gründe gibt Palacký an, der Versammlung fern zu bleiben: Zum einen werde in Frankfurt die deutsche Sache betrieben, und wie honorig und demokratisch das Anliegen auch immer sei – er als »Böhme slawischen Stammes« müsste »heucheln oder sich verleugnen«, reiste er an den Main. Gerade weil dort ein Volksbund an die Stelle des reichischen Fürstenbundes treten solle. Palacký weiter über sich und seinen »Stamm«: Dieses Volk ist zwar ein kleines, aber von jeher ein eigentümliches und für sich bestehendes; seine Herrscher haben seit Jahrhunderten am deutschen Fürstenbunde Teil genommen, es selbst hat sich aber niemals zu diesem Volke gezählt […]. Die ganze Verbindung 12 | D ers .: Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas. In: Kommune 7 (1984), S. 43-52. 13 | Kundera benutzt Mitteleuropa auch als Synonym für den »Westen« – im Unterschied zu Stasiuk und Andruchovyč. Zu diesem Vergleich K ola , Adam: Kategorija »Zentral’noj Evropy« v tvorčestve Milana Kundery, Jurija Andruchovyča i Andžeja Stašjuka [Die Kategorie »Zentraleuropa« im Schaffen von Milan Kundera, Jurij Andruchovyč und Andrzej Stasiuk]. In: Evropa 2 (2002), S. 131-147, hier 148. – Kola verwendet die auf Zygmunt Bauman zurückgehende Kategorie der »Detemporalisierung des Raums« für die TouristenFiguren von Stasiuk und Andruchovyč. Während Letztere »klassische« Raumreisende seien, identifiziert Kola Kundera als Reisenden im »Labyrinth der Bibliothek«. 14 | Palack ý, Franz: E ine Stimme über Österreichs Anschluß an Deutschland. An den Fünfziger-Ausschuß zu Handen [sic!] des Herren Präsidenten Soiron in Frankfurt a.M. In: D ers .: Österreichs Staatsidee. Reprint der Ausgabe Prag 1866. Wien 1974, S. 79-86, hier 83.
12. Epilog: Aggressiver Lokalismus Böhmens zuerst mit dem Heil. Römischen Reiche, dann mit dem deutschen Bunde, war von jeher ein reines Regale, von welchem das böhmische Volk, die böhmischen Stände kaum jemals Kenntnis zu nehmen pflegten.15
Damit ist das historische Dilemma der Paulskirche benannt – und zugleich das der deutschen Geschichte für über ein Jahrhundert: Nationale Demokratie und imperiale Tradition stoßen sich. Palackýs zweiter Grund: So sehr der Großhistoriker einer »tschechischen Nation« Selbstbestimmung und kulturelle Achtung forderte – so sehr widerstrebte Palacký der Verfall der Donaumonarchie. Am Ende, nach dem dualistischen Österreich-Ungarischen »Ausgleich« von 1867 freilich war er nurmehr resigniert. 1848 derweil schrieb Palacký noch: Sie wissen, welche Macht den ganzen großen Osten unseres Weltteils inne hat; Sie wissen, dass diese Macht, schon jetzt zu kolossaler Größe herangewachsen, von Innen heraus mit jedem Jahrzehnt in größerem Maße sich stärkt und hebt, als solches in den westlichen Ländern der Fall ist und sein kann, dass sie, im Innern fast unangreifbar und unzugänglich, längst eine drohende Stellung nach Außen angenommen hat, […]; dass jeder Schritt, den sie auf dieser Bahn noch weiter vorwärts machen könnte, in beschleunigtem Lauf eine neue Universalmonarchie zu erzeugen und herbeizuführen droht, d. i. ein unabsehbares und unnennbares Übel, eine Kalamität ohne Maß und Ende, welche ich, ein Slawe an Leib und Seele, im Interesse der Humanität deshalb nicht weniger beklagen würde, wenn sie sich auch als eine vorzugsweise slawische ankündigen wollte.16
Es ist diese Vision der, mit Edmund Burke, »overwhelming power and ambition of Russia«,17 von der Palacký zu seiner eingangs zitierten Verteidigung habsburgischer Imperialität gelangt: »Denken Sie sich Österreich in eine Menge Republiken und Republikchen aufgelöst – welch ein willkommener Grundbau zur russischen Universalmonarchie!«18 Palacký bietet damit in verdichteter Form zwei Optionen »kleiner Völker« sich zu »Imperien« zu verhalten: Ablehnung und Denunziation als hypertrophe Tyrannis einerseits, Bejahung als ethnisch indifferenter Schutzraum andererseits. Beides sind Pole einer Skala, Imperialität zu repräsentieren. Und um Repräsentationsweisen von imperialen oder postimperialen Zusammenhängen geht es hier
15 | Ebd., S. 80-81. 16 | Ebd., S. 82. 17 | B urke , Edmund zit. nach Z ernack , Klaus: Polens Einfluß auf die Wandlungen des europäischen Staatensystems von den Teilungen bis zur Reichsgründung. In: Das europäische Staatensystem im Wandel. Strukturelle Bedingungen und bewegende Kräfte seit der Frühen Neuzeit. Hg. v. Peter K rüger . München 1996, S. 123-130, hier 123. 18 | Palack ý : Eine Stimme über Österreichs Anschluß, S. 85.
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– nicht um historische Analysen des Soseins von politischen und sozialen Machtstrukturen. Das tendenziell selbstviktimisierende Label »kleines Volk« ist relativ und normativ. »Klein«, und darin liegt die normative, tendenziell akkusatorische Aufladung, meint in etwa: bedroht. Genauer: »imperial« bedroht. Was aber ist ein Imperium? Unter Umgehung der etymologisch-historischen und politisch-theoretischen Komplexitäten in den Raum gestellt: Ein Imperium ist das institutionell Andere des Nationalstaats. Erst die Idee des Nationalstaats macht Imperien im modernen Sinn sichtbar und problematisch. Sie erscheinen primär als politische Entitäten, denen es nicht gelingt, partikulare kulturelle Identitäten und spatiale Referenzmuster auszuschalten oder sie zu ideologischen Ergänzungsräumen umzufunktionieren, zumindest aber ihre institutionelle Ausformung zu verhindern. Festzuhalten ist vorderhand allein Marc Beissingers Befund, dass ein Imperium im Wesentlichen eine Größe ist, die erfolgreich als Imperium gelabelt wurde. Im Guten, öfter aber im Bösen.19 Imperium wie Region sind dem der Nation funktionskomplementäre Begriffe einer strukturell aggressiven Selbstverständigung. Das mag allgemein für spatial gerahmte Narrative gelten.20 Während der Topos repressiver Imperialität sich im 20. und 21. Jahrhundert weitgehend stabil erhält, sinkt der des Völkerwohnheims in nostalgische Vergangenheitsbetrachtung ab. Er wird aber gleichzeitig in geschichtsregionalen Einordnungen aktualisiert – wie in Kunderas Un occident kidnappé. Dass Milan Kundera ein viel zu komplexer Schreiber ist, um ihn auf seinen Occident-Essay zu reduzieren, versteht sich ebenso wie die intellektuelle Unzulässigkeit, Palacký auf den Frankfurter Brief herunterzubrechen: Aber was nun ist eine kleine Nation? Ich schlage folgende Definition vor: Eine kleine Nation ist jene, deren Existenz in jedem x-beliebigen Moment in Frage gestellt werden kann, die untergehen und verschwinden kann – und die darum weiß. 21
19 | B eissinger, Mark R.: Rethinking Empire in the Wake of Soviet Collapse. In: Ethnic Politics after Communism. Hg. v. Zoltan B arany u. Robert G. M oser . London 2005, S. 4-45 u. 236-241. 20 | Friedrichs, Anne/M esenhöller, Mathias: Imperial History. In: Transnational Challenges to National History Writing. Hg. v. Matthias M iddell u. Lluis Roura . Basingstoke 2013, S. 164-201, hier 189: »If the imperial imagination was either ousted by nationalizing conceptions of the past or proved their resource or complement, the best chance for imperial or quasi-imperial history to weather the age of national history lay exactly in its modal analogies and semantic proximity to the latter, and regional, areal and continentalist histories show parallel patterns.« 21 | K undera : Un occident kidnappé, S. 48.
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Kundera, insofern legitimer Erbe Palackýs, spielt mit seinem Mitteleuropa-Konzept dieselben Karten des »guten« und »bösen« Imperiums – mit dem »kleinen Volk« als Joker. Darüber freilich tradiert er Palackýs duplizierten Imperiumsbegriff. Da gibt es einerseits das Dark Empire, den Sowjetimperialismus, eine Art Kreuzung aus Joseph Conrad und Franz Kafka. Und andererseits den aus einem streckenweise schlicht ahistorischen Habsburg-Bild gewonnenen Mythos »Mitteleuropa«. Kundera spielt so einen Traum transnationaler Gemeinsamkeit gegen einen Alp universaler Konformität aus. Es handelt sich um ein Abgrenzungsbemühen, das stellenweise deutlich über Sowjetkritik hinaus ins antirussische Ressentiment wandert. Beide freilich, »Mitteleuropa« wie seine Bedränger, sind harmonisierende, sentimentale Chimären. Kein Imperium erhielt sich je allein auf dem Weg (kultureller) Repression. Und keine Nation (er)fand sich ohne Anschluss an die diskursiven Universalien ihrer Zeit. Indes hat Kundera lediglich eine längst eingeschliffene – genannt seien etwa Friedrich Naumann, Giselher Wirsing und Oskar Halecki – Übersetzung postimperialer Abgrenzungs- und Machtansprüche popularisiert. Betrachtet man die einschlägigen Raumbegriffe näher, ist in jedem »Zentral-Europa«, »Zwischen-Europa«, »Ost-Mitteleuropa« oder eben »Mitteleuropa« ein solcher Anspruch geronnen. Die in ihnen zutage liegende Referenz an die ehrwürdige (»goldene«) Mitte war durchaus programmatisch gemeint, sollte »Mitteleuropa« doch zuallererst das Label »Osteuropa« abwehren und wählte nicht nur Kundera den Grundakkord »barbarische Russen« – »weise Mitteleuropäer« – »ignoranter Westen«. Damit ist zugleich das Meta-Narrativ angesprochen, das dem Konstruktionsbemühen um »Mitteleuropa« vorausliegt, ihm vorausliegen muss, insofern eine Mitte Pole fordert: die Ost-West-Dichotomie. Der Nähe triadischer Sprechfiguren zu integrativen Konzepten folgend, wird »Mitteleuropa« gegen diese und zugleich eine Reihe weiterer, teils mit ihr assoziierter Oppositionen in Stellung gebracht: gegen das Dilemma von Freiheit und Gleichheit, Anarchie und Diktatur, Fortschritt und Enthausung. Mitteleuropa erscheint dabei weniger als dialektische Synthese denn als beste aller alternativen Welten zwischen den Radikalen. Ein solches Ost-West-Narrativ grundiert auch die Essays von Andruchovyč und Stasiuk, ihren Leitfaden der »ontologischen Unmöglichkeit einer Verständigung zwischen Ost und West«.22 Kommt das Konstrukt einer solchen Situation in-between zwangsläufig nicht ohne den außerregionalen Bezug aus, so wird Mitteleuropa von Andruchovyč und Stasiuk doch prägnanter als in früheren Debatten als postmoderner third space profiliert, der mehr ist als ein Zwischenraum, zugleich fluid, instabil und dehnbar, gewiss in einer Position existenzieller Ausgesetztheit und davon bedroht, zerrieben zu werden.
22 | A ndruchow y tsch, Juri: Mittelöstliches Memento. In: A ndruchow y tsch /S tasiuk : Mein Europa, S. 9-74, hier 28.
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Er ist indes im selben Maße mehr als ein Eingeklemmtes, ein spezifisch Eigengewichtiges – eine Art Zentrum eigenen Rechts, ließe sich pointieren. Die Anklänge an postkoloniale Konzepte eines positiv besetzten »dritten Raums« der Aushandlung, der Interferenz und Übersetzung sind offenkundig. Andruchovyčs und Stasiuks Lob der Peripherie nun ist nicht das erste in der mitteleuropäischen Literatur, man denke an die polnische Literatur der »kleinen Heimatländer« (małe ojczyzny) und die verschiedenen Dorfliteraturen. Doch ist bei beiden die Sprache ostentativ rauer, artifiziell brutalisierend und vulgär. Ihre Bilder und Figurenführung sind unmittelbarer, auf ihre Art unbarmherzig distanzlos. Diese ästhetischen Verfahren schließen unmittelbar an den im urbanen Zentrum operierenden Underground an. Was mithin auf den ersten Blick nostalgieentleert scheint, transportiert eine zutiefst pathetische MitteleuropaRepräsentation. Deren Pathos führt wiederum eine kaum zurückgenommene Grundaggressivität mit sich – auch das im Anklang an Gestus und Poetik des Underground. Letztlich geht es den Identitätstexten beider um das Verlangen nach spezifischer Integrität und um die Verteidigung einer eigenen »Westlichkeit«. Es geht um die Verwerfung des »Ostens« und die Herausstellung einer Eigentümlichkeit als (relativer) Nachwende-Osten. Das Ergebnis entspricht der nun bereits bekannten Selbst-Exklusion – und bestätigt, beabsichtigt oder nicht, einmal mehr das, was der »Westen« im für ihn exotischen »Osten« schon immer sah oder (vermeintlich) sehen wollte: eben das antiurbane, pagane Feld, gegen das Karl Schlögel seine bunte Städtelandschaft ins Feld führt. Insofern ist es eher bittere Pointe als genuine Volte, wenn Andruchovyč aggressiv-autoaggressiv schreibt, bei Mitteleuropa handele es sich dann doch wieder nur um eine »amerikanische Erfindung enttäuschter Dissidenten«.23
A ggressiver L ok alismus Vor diesem Hintergrund noch einmal zum Umgang Andruchovyčs und Stasiuks mit der Stadt, dem Urbanen als Chiffre des Zentralen allgemein und dessen Verhältnis zum »Land«. Das Syntagma des Aggressiven Lokalismus meint dabei eine Schreibhaltung, die das Lokale autoritär über das Globale setzt, mithin die amorph gewordene Autorität des Junk Space Stadt. Drei Schreibstrategien seien abschließend und zusammenführend angeführt, denen die Stadtdarstellungen in Moscoviada und Neun sowie in den Essays folgen, und die sich an Grundkonstellationen von Underground und Pop rückbinden lassen: die Obsession der Benennung, die Penetranz der Provinz, schließlich die literarische Marginalisierung und Identisierung von Selbst und Gegenstand.
23 | A ndruchow y tsch: Zeit und Ort, S. 66.
12. Epilog: Aggressiver Lokalismus
Erstens: Nachgerade manisch wirken die Benennungsorgien in den Essays mehr noch als in den Romanen, wo Orte, Flüsse oder Flüsschen, Schriftsteller, Marken, Ethnien, Sprachen passagenlang gereiht werden – ein Verfahren, das vor allem in nostalgischen Zusammenhängen Anwendung findet. Alois Woldan spricht von Operationen der »Katalogisierung und Inventarisierung«.24 Mark Andryczyk nennt das Prinzip, einem Begriff aus der Musik folgend, sampling. Er beschreibt, wie Andruchovyč Eigenständiges, ursprünglich Separiertes anders arrangiert und darüber einen neuen Sinnzusammenhang herstellt.25 Von der Musik ausgehend lässt sich ein Schritt weiterdenken. Das Mitteleuropa beider Autoren kommt wie ein »Multisampling« daher.26 Aus Einzelabschnitten von Tönen, Instrumentalversionen, Soundeffekten, Refrains entwickelt sich in der Pop-Musik das so genannte »Mapping«. Bei Andruchovyč und Stasiuk entstand über dieselben Mechanismen ein literarisches »Mapping« von Mitteleuropa. Auf diesen und anderen Wegen entwerfen Stasiuks und Andruchovyčs Texte wahre Raritätenkabinette eines »Mitteleuropa«, das ein Abonnement hält auf das Skurrile, das Groteske, Morbide und Magische. Es entsteht ein hyper-chiffriertes, stark klischierendes Signifikantengewebe, das vermeintlich nur der Erfahrungsgenosse – im Zweifel ein Landsmann, aber nicht notwendigerweise – zu dekodieren vermag. Darin liegt ein Gestus, der die Autorschaft über die Region unterstreicht, sie für sich reklamiert und zugleich mit der eigenen Unverstandenheit, der Unverständlichkeit der Sprachen, Stummheit der Topoi und dem Voraussetzungsreichtum der Witze kokettiert. Der Mythos bleibt stets dunkel genug, um seinem Schöpfer qua Herkunft das milde, traurige Lächeln der wissenden Instanz zu sichern. Die primär aus der ländlichen Peripherie gegriffene oder als Ruralisierung in die Stadt geblendete nomenklatorische Fülle insinuiert zudem, dass die Provinz allein noch einen ausufernden Zeichenreichtum bereithalte, der im Zentrum längst verbraucht sei. Stasiuks – in Anlehnung an Jáchym Topol – »frische Dröhnung«27 Land, die allmorgendlich ins Zentrum zirkuliert, um dort bestenfalls zu »Vorstadt« zu degenerieren, ist ebenso Zuwanderungsfolge aus der exo24 | Woldan , Alois: Regionale Identität am Beispiel von Andrzej Stasiuk und Jurij Andruchovyč. In: Polonistik im deutschsprachigen Bereich. Aufgaben und Perspektiven ihrer Entwicklung. Hg. v. Danuta R y tel-K uc , Wolfgang F. S chwarz u. Hans-Christian Trepte . Hildesheim u.a. 2005, S. 295-309, hier 229. 25 | A ndrycz yk , Mark: Three Posts in the Center of Europe. Postmodern Characteristics in Yuri Andrukhovych’s Post-Colonial Prose. In: Ukraine at a Crossroads. Hg. v. Nicolas H ayoz u. Andrej N. L ushnyck y. Bern 2005, S. 233-252, hier 237. 26 | G rossmann, Rolf: Collage, Montage, Sampling – ein Streifzug durch (medien-) materialbezogene ästhetische Strategien. In: Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Hg. v. Harro S egebrecht u. Frank S chätzlein . Marburg 2005, S. 308-331. 27 | Topol , Jáchym: Die Schwester. Berlin 1998, S. 59.
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tismenstrotzenden Peripherie wie die Nationenchimären in Moscoviada – aber auch Andruchovyčs Aufzählung, wer sich einst alles im regionalen Oberzentrum Lemberg niederließ: darunter »Arnauten, Argonauten, Tataren, Türken, Araber, Schotten, Tschechen, Mauren, Basken, Skythen, Karaimen, Chasaren, Assyrer, Etrusker, Kelten, Goten, Weiße und Schwarze Kroaten« und so weiter.28 Das Zentrum ist je relativ, der Artenreichtum indes stets außerhalb. Eine Seite später freilich wird die »fröhliche ethnische Mischung« als das beschrieben,29 was sie neben aller Mythenbildung eben auch war: nicht idyllisch, nicht schmerzlos. Gleichwohl, diese Namenwucherungen, Garant für die Existenz und Authentizität des erzählten Raums, in den Stadtraum hinein und dessen zugleich betriebenes Einschmelzen macht das ikonografische Arsenal, die Physiognomien, Ruinenlandschaften und Orte zugleich einzig und verwechselbar.30 Die Totalität der Aufzählung generiert ein Gesamtbild, das wiederum das Einzelne im Ganzen aufhebt und auf dem Wege erst eine signifikante Ausstattung des Mythos »Mitteleuropa« wie oben beschrieben herauf beschwört. Zweitens: Die Provinz bedrängt die Stadt, penetriert sie über Gerüche und Menschenmassen, zerrt sie ins Provinzielle. Mit der erzählerischen Abwendung von ethnisch indifferenten, zumindest kulturell kompakt als solche erfahrbaren Städten zugunsten historischer Vielvölkerstädte wie Lemberg oder Czernowitz weichen Andruchovyč und Stasiuk auf den ersten Blick konsequent auch topografisch ins Plurale der Provinz. Christian Prunitsch schreibt denn auch: »Die Diversität der Peripherie substituiert in zunehmendem Umfang den tradierten Monismus des Zentrums.«31 Allein, die Pluralität der Peripherie erscheint letztlich als eine ebenso behauptete wie der Verblendungsbefund für die metropolitanen Zentren. Zum Kontrast sei noch einmal Topols Roman Die Schwester (Sestra) angeführt: Topol entwirft Prag als postsozialistisches Durcheinander, in dem gleichfalls Alteingesessene neben Neuankömmlingen leben, darunter indes Vietnamesen und 28 | A ndruchow y tsch, Juri: Das Stadt-Schiff. In: A ndruchow y tsch: Das letzte Territorium, S. 28-37, hier 33. 29 | D ers .: Carpathologia Cosmophilica. Versuch einer fiktiven Landeskunde. In: A ndr uchow y tsch : Das letzte Territorium, S. 12-27, hier 23. 30 | Zum aggressiven Schreibduktus auch Rojek , Przemysław: »Coś musi zostać odrzucone, by to, co pozostało, zyskało na znaczeniu.« Prozy środkoeuropejskie Andrzeja Stasiuka – zatrata i odzysk [»Es muss etwas weggetan werden, damit das, was zurückbleibt, an Bedeutung gewinnt.« Die mitteleuropäische Prosa von Andrzej Stasiuk – Verlust und Wiederverwertung]. In: Ćwiczenia z rozpaczy. Pesymizm w prozie polskiej po 1985 roku. Hg. v. Jerzy Jarzębski u. Jakub M omro. Kraków 2011, S. 409-460. – Rojek weist auf das Paradox von Empathie und Aggression hin: Erst fege Stasiuk den Raum liebevoll leer, um ihn dann neu beschreiben, aggressiv in Besitz nehmen zu können. – Diesen Hinweis verdanke ich Dawid M atelski. 31 | P runitsch, Christian: »Ostatni obwarzanek Rzeczypospolitej.« Andrzej Stasiuk und die Ränder der polnischen Kultur. In: Zeitschrift für Slawistik 1 (2005), S. 45-57, hier 48.
12. Epilog: Aggressiver Lokalismus
Amerikaner, die mitsamt den Tschechen in einer subkulturellen Urbanität des »Kanakentums« nicht mehr historisch, sondern präsentistisch global vom Multiethnischen ins ethnisch Unbenennbare verschwimmen. Keine Zuschreibung geht hier am Ende auf, so dass die Rede von der Vielfalt obsolet wird. Demgegenüber operiert Stasiuk 1998 in Wie ich Schriftsteller wurde (Jak zostałem pisarzem) sowohl mit der historischen Dimension als auch einem regionalspezifisch pluralisierten Herkunftsraum der »kleinen Vaterländer«. Er gibt nun aber der Inbesitznahme Warschaus durch seinen Rand anders als in Neun eine eineindeutige Richtung zu Lasten der zirkulären: Niemand aus der Innenstadt zog nach Praga, aber es musste mit irgendwas bevölkert werden. Da nahm man die Söhne und Töchter Masowiens und Podlesiens. […] Daher die Lyrik und Melancholie. Weiden, Flötenklang, Hirtenknabe, Kuh, Herbstnebel und Rauch über den Kartoffeläckern. 32
Im Vergleich mit dem Roman hat die Stadt einschließlich ihrer Mitte gleichsam ihre Abwehrkraft gegenüber dem Ruralen und Provinziellen verloren, wird aus der Anklage des Junk Space von Rem Koolhaas eine Vision von dessen Okkupation durch das platte Land, die Ebene, wie sie vordem nur Ahnung blieb: der Triumph der Region über die Vorposten des ihr Äußerlichen durch die Sabotage des metropolitanen Charakters. Mit Blick auf den Underground stellt auch das eine Verletzung etablierter Raumbehauptungen dar – indes unter Absage an den urbanen Charakter des Underground. Die dimensionale Ergänzung ist endgültig zur Achsendrehung aus der vertikalen in die horizontale Opposition geworden. Das fügt sich in die Reisebeobachtungen Jean Baudrillards in Amérique von 1986 ein, in denen dieser die amerikanischen Wüsten als Signum »absoluter Horizontalität« liest, wo Unterschiede nivelliert, Kulturen fragil und oberflächlich sind. Salt Lake City und sein Gegenstück Las Vegas stehen bei Baudrillard für urbane Wüstenkonstrukte, die als Metaphern der Leere die Horizontalität zu bannen suchen.33 32 | S tasiuk , Andrzej: Wie ich Schriftsteller wurde. Versuch einer intellektuellen Biographie. Aus dem Polnischen v. Olaf K ühl . Frankfurt am Main 2001, S. 27. – S tasiuk , Andrzej: Jak zostałem pisarzem. Proba autobiografii intelektualnej. Radom 1998, S. 26: »Nikt ze Śródmieścia nie wyprowadzał się na Pragę, a czymś trzeba ją było zaludnić. To się zaludniało synami i córami Mazowsza i Podlasia. […] Stąd a liryka i melancholia. Wierzby, fujarka, pastuszek, krówka, jesienne mgły i dymy na kartofliskach.« 33 | Baudrillard, Jean: Vanishing Point. In: D ers.: Amerika. München 1995, S. 7-22, hier 11. – Für Baudrillard ist die »Unkultur der Wüste« indes nur eine scheinbare; sie wird unterlaufen durch eine sich in der Natur zeigende »gigantische Anhäufung von Zeichen rein geologischer Herkunft«. Wobei er diese Form von »magischer Präsenz« nicht als bloß naturgegeben interpretiert, sondern als dem Menschen vorausgehende, qua Erosion auch kulturell zu lesende »Sprachblöcke« (S. 12-13).
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Der Underground, die Wende und die Stadt
Andruchovyč und Stasiuk dichten ähnlich die Stadt als das Fremde, hier als von Osten gekommene Industrialisierung und Plattenbebauung, von Westen eingeschleppte Konsumüberflutung und Verglasung, jedenfalls Verhunzung. Demgegenüber werten sie das »Eigene« der Region, die Provinz auf zu einem Slow Space und phantasieren dessen Inbesitznahme. Vom Underground-Pessimismus der Exklusion und Selbst-Exklusion sind lediglich der Topos der euphorischen Marginalität und die Aggressivität geblieben. Geblieben ist nicht das darin ursprünglich eingeschriebene, die Aggressivität erst legitimierende Scheitern. Die bewusst auf die Provinz konzentrierte Verteidigung Mitteleuropas stellt eine im Kern anti-urbane Raum- als Machtphantasie dar. Wenn sie nunmehr Städte privilegiert, die in das idealisierte Schema einer multikulturellen Vergangenheit passen, so interessieren diese weniger als Städte oder Metonymien der sozialen Machtfrage, denn als Prismen einer re-ethnisierten, gegen »fremdländische« Zivilisation gesetzten Fläche. Drittens: Schließlich noch eine Bemerkung zu Schreib- als Marktstrategien. Man kommt schwer umhin, und in der Erörterung des nomenklatorischen Rauschs ist es angeklungen, bei der Rezeption der Texte einen mitgedachten Rezipienten mitzudenken. Dahin gehört auch die Beobachtung, dass der neuerliche Aufschwung einer Mitteleuropa-Literatur im Nachwendejahrzehnt vom deutschen Feuilleton gelinde gesagt wohlwollend begleitet wurde. Doch auch die Literaturwissenschaft operiert mit Einordnungen wie »Inbegriff des Posthistorischen, des A(na)chronischen und des Provisorischen«, wie Magdalena Marszałek und Matthias Schwartz.34 Nach allem oben Gesagten, scheint der Begriff des Neu-Historischen, offensiv Identitären treffender.35 Ob die Texte indes geopoetisch, geopolitisch oder geokulturologisch angelegt sind, muss die Analyse im Einzelnen zeigen, wie Susi Frank für Carpathologia cosmophilica von Andruchovyč festgestellt hat, der »[m]it als Geopoetik ausgegebenen geokulturologischen Mitteln – Rekreation und Festschreibug eines mit diesen Toponymen bezeichneten geokulturellen Raums – […] das geopolitische Ziel der kartografischen und faktischen Verschiebung der EU-Grenze an die Ostgrenze der Ukraine« verfolgt.36 Hier soll die Unterscheidung nicht weiter ausgeführt 34 | M arszałek , Magdalena/S chwartz, Matthias: Imaginierte Ukraine. Zur kulturellen Topographie in der polnischen und russischen Literatur. In: Osteuropa 11 (2004), S. 75-86, hier 82. 35 | Im Postulat »mein Europa« sieht Arkadiusz Bagłajewski nicht nur die Konstruktion eines neuen Mythos Galizien anklingen, sondern auch schon einen Ausdruck neuer (gemeinsamer) Identitätsfindung aufscheinen. – B agł ajewski, Arkadiusz: Mit Galicji a idea »mojej Europy« (Stasiuk-Andruchowycz-Topol). In: Kresy – dekonstrukcja. Hg. v. Krzysztof Trybu ś, Jerzy K ał ą żny u. Radosław O kulicz-K ozaryn . Poznań 2007, S. 69-87. 36 | F rank , Susi K.: Geokulturologie – Geopoetik. Definitions- und Abgrenzungsvorschläge. In: Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen. Hg. v. Magdalena M arszałek u. Sylvia S asse . Berlin 2010, S. 19-42, hier 38.
12. Epilog: Aggressiver Lokalismus
werden, ebenso wie die Frage beantwortet, was für ein »Europa« Andruchovyč und Stasiuk in ihren Essays entwerfen.37 Skepsis weckt allein eine bedenkenlose Abnahme der Selbst-Positionierungen, fügt sie sich doch wie ein Puzzlestückchen ins andere mit einer gewissen Vergesslichkeit gegenüber der Vergangenheit »Mitteleuropas« zur Kennzeichnung deutscher imperialer Ergänzungsräume – als sei da eine Geschichte postmodern camoufliert in Wiedererrichtung begriffen, gleichsam als narrativer Ergänzungsraum einer zentralen Nachfragestruktur nach dem »Fremden«. Derart misstrauisch geworden zum Ende noch einmal Jáchym Topol. Dessen Roman Die Teufelswerkstatt (Chladnou zemí) von 2009 spricht aus, was in den Reaktionen auf Andruchovyč und Stasiuk meist ausgeblendet bleibt, wenn es heißt, für den westlichen (lies: deutschen) Leser sei Mitteleuropa terra incognita, liege es doch abseits seiner touristischen Routen. Topols Roman ätzt aus der Gegenwarte. Sein Ost-Tourist ist der »Pritschensucher« (pátrači po pričnách): […] manche von ihnen hatten sich auf eigene Faust auf den Weg gemacht, meist irgendwohin gen Osten, mit Rucksack und der elterlichen Kreditkarte in der Tasche … sie durchkämmen die feuchten Mauerreste irgendwelcher Ruinen, auf der Suche nach Spuren, in Polen, Litauen, Russland … einfach überall, wo uralte Massengräber massenhaft vorkommen, wie Tropfen von Schwärze fielen sie in die unterirdischen Bäche des geheimnisvollen Kontinents, der für sie der Osten darstellte […]. 38
Man könnte auch sagen, der »geheimnisvolle Kontinent« ist das durchaus eigene, dunkel exotisierbare, vorgeblich unterbewusste Eigentlichkeitsverlangen, eines nach »Schuld« und »Sühne«. Wo Topol dem Impuls des von ihm abgeschriebenen Underground nichtsdestoweniger weiterfolgt, finden die Adressaten von Mitteleuropa-Texten im Verfahren Stasiuks oder Andruchovyčs zwar noch dessen Skandalonästhetik. Nicht mehr indes den Skandal der Subversion flächiger Inte37 | Dazu u.a. M arszałek , Magdalena: Der Schriftsteller als Geograph und Gastarbeiter. Die literarische Kartographie Andrzej Stasiuks. In: Germanoslavica 1-2 (2010), S. 146156. – Marszałek betrachtet Stasiuk hier aus postkolonialer Perspektive, der MimikryVerfahren nutze, um sich dem wirtschaftlich überlegenden Westen anzudienen. Dafür inszeniere er den Osten als Provinz, den Westen als Zentrum (S. 153-154). Ihr Fazit: »Der Autor spricht von einer internalisierten Position des ›Anderen‹ aus, etwa nach dem Motto: Wenn für Europa das innere ›Andere‹ nicht unverzichtbar ist, dann soll dieses zumindest mit einer eigenen Stimme sprechen können« (S. 156). 38 | Topol , Jáchym: Die Teufelswerkstatt. Aus dem Tschechischen v. Eva P rofousová . Berlin 2010, S. 46-47. – D ers.: Chladnou zemí. Praha 2009, S. 33: »[…] někteří se ovšem vydali na cestu, někam na Východ, na vlastní pěst, s batohem a kreditkou od rodičů v kapse... a pátrali u vlhkých ruin někde v Polsku, na Litvě, v Rusku... prostě všude, kde jsou dávné masové hroby častým zjevem, tihle hledači se jak kapky černě vsakávali do podzemních potoků tajemného kontinentu, kterým jim byl Východ [...].«
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grale wie (Geschichts-)Region, Nation und Kulturlandschaft. Statt dass eine vertikal-soziale narrative Ordnung die horizontal-geografische unterläuft, wird die Letztgenannte instrumentalisiert und bestätigt. Im selben Zug verliert beider Ästhetik die spielerische, lustvolle Grundhaltung des »klassischen« Underground zugunsten eines Aggressiven Lokalismus. Beider Erfolg mit ihrem erzählerischen wie essayistischen Werk basiert nicht zuletzt darauf, dass sie jeweils »ihre« Text-Räume auf dem Weg einer konsequenten Exotisierung mythisch überhöhen. Das kommt im – wenn auch unscharf gehaltenen – Gewand einer postimperial-sentimentalen Regionsbehauptung daher – für die eine bezeichnende Hinwendung des Erzählens zu einschlägig assoziierten Vielvölkerstädten wie Lemberg oder Czernowitz steht.39 Eine Art recherche de l’espace perdu. Oder eben nicht perdu. Eher paradise regained. Sofern eine Dekodierung vorgesehen ist, schließlich zielt das impressionistisch gehaltene Identitätsraum-Bild auf einen Überwältigungseffekt. Denn beider Werke durchzieht ein larmoyant-autoritärer Gestus, der eine postimperiale Region reklamiert (und die Autorschaft darüber). Der zugleich mit der eigenen Unverständlichkeit kokettiert, mit einer »kleinen« Sprache, mit der halben Stummheit seiner Topoi, mit dem Voraussetzungsreichtum seiner Pointen. Neuerlich steht den Reminiszenzen vom Typus pittoreske Vielfalt oder Wohnheim der Kulturen eine repressive Imperialität gegenüber. Kolonisierend kommt sie dieses Mal aus dem Westen, dessen Universalmarken und spiegelverkleidete Architektur nicht als Befund oder gar Versprechen vorgestellt werden, sondern ästhetisch als Verheerungsszenarien auf bereitet werden – so namentlich in Stasiuks Warschau-Imaginationen. Auf der anderen Seite existiert ein postsowjetisch-amorpher Osten fort, dessen Chaos ins Unzivile, Kriegerische kippt. Was bleibt, ist die Anarchie der Mitte. Nachbemerkung: Geisteswissenschaftler operieren immer in politischen Kontexten. Vor diesem Hintergrund würde ich heute einiges in dem vorstehenden Kapitel anders formulieren. Das betrifft weniger den analytischen Gehalt als seine politischen Implikationen und mögliche Missverständlichkeit – oder Missbrauchbarkeit – nach den Ereignissen auf dem Kiewer Majdan, der rechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und in einem fortdauernden Klima der Aggression und Geschichtsverfälschung. Es scheint mir indes ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit und wissenschaftlichen Konsistenz, den Text in seiner ursprünglichen Form zu belassen. A.K., Juni 2014
39 | F riedrichs/M esenhöller: Imperial History, S. 169: »The idea of historical regions allowed for a translation of postimperial fantasy into claims to dominance, or at least influence – of transnational past into international ambition, legitimated as a continuation of longue durée cultural affinities.« – Dazu auch das Fazit S. 187-189.
13. Prolog: »Metropole — Masse — Metzgerei«
TotArt, Orange Alternative und andere Köche
am »Brei der Semantik«
Wer in den späten 1980er Jahren durch Wrocław ging, dem konnte ein ubiquitäres Graffiti kaum entgehen: der Zwerg.1 Das hingekrakelte Signet fand sich allerorten, besonders prägnant auf den Flächen weißer Farbe, mit der die Polizei damals regimekritische Parolen an den Mauern übertünchte. Hinter dem Signet stand eine Wrocławer Bewegung, die sich seit 1981 Orange Alternative (Pomerańczowa Alternatywa) nannte und bald Nachahmer in anderen Städten Polens fand; einer ihrer Inspiratoren war Waldemar Fydrych, nome de guerre en plume »Major – Kommandant der Festung Breslau«.2 Sein Credo: 1 | Der Urheber des Fotos ist als Egon Fietke ausgewiesen. Die Abbildung stammt aus: Pomarańczowa Alternatywa / The Orange Alternative / Die Orange Alternative. Unter Mitarbeit v. Agnieszka C ouderq u.a. Warszawa 2008, S. 32. 2 | Seit den 1970er Jahren nutzt Fydrych den Namen »Major«. Angeblich geht er auf die Zeit zurück, als Fydrych die Einberufung zum Militär umgehen wollte, indem er eine psychiatrische Störung vortäuschte. Damals habe er seinen Psychologen »Colonel« genannt, sich selbst »Major«. – C ioffi, Kathleen M.: Alternative Theatre in Poland 1954-1989. Amsterdam 21999, S. 173-178, hier 175.
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Der Underground, die Wende und die Stadt Die Straße ist eine Stätte der Konfrontation, eine Stätte der Begegnung, sie ist ein Komplex gewisser paranoider Vorstellungen, die in den Menschen stecken, sie kann auch ein harmonisches Phänomen sein, wenn das Wirken auf der Straße in Form eines Happenings stattfindet. 3
Bereits zuvor und später inszenierte Major Straßenaktionen, die häufig mit Verballhornungen des Regimesprech operierten und einen konsequenten Nonsenscharakter durchhielten. Der orangefarbene Zwerg jedoch wurde seine erfolgreichste, überdauerte die Wende und fand Eingang in das (kommerzialisierte) Lokalkolorit. Zunächst indes stellte er eine aufgrund ihrer vermeintlich harmlosen Ironie schlagende Reaktion auf die Versuche der Obrigkeit dar, den – ganz wörtlich – Text des öffentlichen Raums zu beherrschen, unter anderem eben durch Löschungen. Derweil zeigt das bedeutungsleichte Spiel der Orangen Alternative mit dem Absurden und dem Nonsens konzeptuelle Parallelen zu Projekten der Gruppierung TotArt, die in den 1970er Jahren im Trójmiasto-Gebiet der Städte Gdańsk, Gdynia und Sopot wirkte. 4 Beider Aktionskunst wiederum gründet in den historischen Avantgarden, bezieht sich bewusst auf Expressionismus, Konstruktivismus, Futurismus, Surrealismus und Dadaismus. Anders als die übrigen Medaillons dieses Bandes bietet das folgende nur eine begrenzte Analyse ausgewählter Werke, führt eher in eine ästhetische Traditionslinie ein, die zur Einordnung des im folgenden Kapitel behandelten Clubs der Polnischen Versager hilfreich scheint. Insofern ist es eine Art Prolog. Dem entspricht der herangezogene Quellentypus: Es handelt sich überwiegend um die Kunstform des Manifests.
Tadeusz P eiper und die S tadt als O rganismus 1922 veröffentlichte der Konstruktivist Tadeusz Peiper in der Zeitschrift Zwrotnica (Die Weiche) ein Manifest unter dem Titel Metropole. Masse. Maschine (Miasto. Masa. Maszyna). Darin stellt Peiper – ähnlich wie Georg Simmel 1903 in Die Großstädte und das Geistesleben – fest, der Mensch sei physiologisch zwar nicht für die Stadt gemacht, sie hemme seinen Bewegungsdrang, schränke seinen auf 3 | F ydrych, Waldemar: Ich entdeckte einen Diamanten in Berlin in der zerberstenden Mauer. Gespräch mit Waldemar Fydrych. In: Skorupski, Jan Stanisław: …um die Polen zu verstehen. Die längste Ballade der Welt. Berlin 1991, S. 68-84, hier 71. 4 | Zum Einfluss des Absurden siehe Romanienko, Lisiunia A.: Antagonism, Absurdity, and the Avant-Garde. Dismantling Soviet Oppression through the Use of Theatrical Devices by Poland’s »Orange« Solidarity Movement. In: Humor and Social Protest. Hg. v. Marjolein’t H art u. Dennis B os . Cambridge 2007, S. 133-151, hier 134: »It was the dramaturgical interactions inspired by the avant-garde theatrical performance genre known as Theatre of the Absurd that significantly contributed to the dismantling of Soviet repression.«
13. Prolog: »Metropole – Masse – Met zgerei«
Horizont und Weite ausgelegten Blick ein und biete ihm schlechte Luft zum Atmen. Und dennoch: »Der Organismus des Menschen passt sich der Stadt an, die Stadt passt sich dem Organismus des Menschen an.«5 Ja, aus der wechselseitigen Annäherung ergäben sich neuartige emotionale Beziehungen zwischen Mensch, Maschine und Metropole. Peiper ruft auf zur »Bejahung der Stadt, ihres tiefsten Wesens, dessen, was spezifische Eigenschaft ihrer Natur ist, was sie von allem anderen unterscheidet und infolgedessen nicht gemessen werden darf mit ästhetischen Maßstäben, die anderen Bereichen entlehnt sind«.6 Namentlich betont er den kulturell-schöpferischen Zug der Stadt; zeige sie sich auf den ersten Blick lebensfeindlich amorph, so habe sie doch eine »konstruktive organische Struktur«.7 Zu sehen an der Architektur, dem Zusammenleben in der Masse, den Verkehrsströmen – nicht zuletzt in ihrer Dichtung: Masse und Maschine seien moderne Phänomene, die auf die Kunst fruchtbar zurückwirkten. Ihre Prinzipien wie Zweckmäßigkeit und Konstruktivität gelte es auf die Kunst zu übertragen: »Das Bauen eines Kunstwerks ist die Überführung des Chaos in die Ordnung, sie nimmt die Willkür in die Zucht.«8 Damit verabschiedet Peipers Poetik den romantisch inspirierten Vergangenheitskult und Überschwang der Gefühle, die Epik der Wiedergabe und bloße Rhetorik, um in konstruktivistischer Manier auf strenge Formgebung zu setzen, sprachliche Komprimierung, Verknappung, Drängung. Sie allein würden schließlich eine »Mimik des Innersten« (mimika głębi) im Ausdruck der Oberfläche dynamisch repräsentieren. Zugleich zeigt er sich fasziniert von kollektiven Wahrnehmungsformen, postauratischer, weil reproduzierbarer Kunst. Metropole. Masse. Maschine wurde umgehend harsch angegriffen. Seine Kriker warfen dem programmatischen Kopf der Krakauer Avantgarde »Urbanismus« vor;9 traditionstreue Schriftsteller wie Stefan Żeromski machten eine schädliche Kopie 5 | P eiper, Tadeusz: Stadt. Masse. Maschine. In: Der Mensch in den Dingen. Programmtexte und Gedichte der Krakauer Avantgarde. Aus dem Polnischen v. Heinrich O lschowsky. Hg. v. D ems. Leipzig 1986, S. 59-81, hier 65. – D ers.: Miasto. Masa. Maszyna. In: Zwrotnica 2 (1922), S. 23-31, hier 25: »Organizm człowieka przystosowuje się do miasta a miasto przystosowuje się do organizmu człowieka.« 6 | P eiper: Stadt. Masse. Maschine, S. 66. – P eiper: Miasto. Masa. Maszyna, S. 25: »Chodzi o przytakiwanie miastu, jego najgłębszej istocie, temu co jest specyficzną własnością jego natury, co go odróżnia od wszystkiego innego i co skutkiem tego nie powinno być oceniane miarami estetycznemi, zapożyczonemi z innych dziedzin.« 7 | P eiper: Stadt. Masse. Maschine, S. 69. – P eiper: Miasto. Masa. Maszyna, S. 27: »Niewątpliwie już one mogłyby sugerować nam ideę organiczności konstrukcyjnej.« 8 | P eiper: Stadt. Masse. Maschine, S. 67. – P eiper: Miasto. Masa. Maszyna, S. 26: »Budowanie dzieła sztuki jest to sprowadzanie chaosu do porządku, zmuszanie dowolności do ładu.« 9 | R ybnicka, Elżbieta: Budowanie miasta. Poetyka konstruktywistyczna [Das Erbauen einer Stadt. Konstruktivistische Poetik]. In: Dies.: Modernizowanie miasta. Zarys problematyki urbanistycznej w nowoczesnej literaturze polskiej. Kraków 2003, S. 228-253, hier 229-230. – In
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westeuropäischer Muster aus, eine Unterminierung polnischer Nationalkultur durch »fremde« Einflüsse, einen aus dem kosmopoleischen Raum vorgetragenen Angriff auf den autochthon-ruralen Geist der einheimischen Kunst. Peiper wehrte sich und polemisierte seinerseits gegen ein ängstliches Beharren der Gegner in Rückständigkeit.10 Mehr als sechzig Jahre später griff die Danziger Formation TotArt mit einem Happening Peipers Titel auf: Metropole. Masse. Metzgerei (Miasto. Masa. Masarnia). Der verballhornende Rekurs signalisiert eine Abgrenzung nicht nur über die Generationen, sondern zugleich zwischen zwei Spielarten des Modernismus: Die Kunst von TotArt orientiert sich eher an surrealistischen und dadaistischen Verfahren; ihre Ästhetik des »semantischen Breis« (semantyczna bryja) steht Peipers Poetik diametral entgegen.
Tot A rt liest P eiper Das Happening Metropole. Masse. Metzgerei am Abend des 23. Mai 1986 in der Universität Danzig gilt als Gründungsmoment von TotArt. Die Aktion verantworteten damals Paweł (Koñjo) Konnak und Zbigniew Sajnóg;11 wenig später stießen noch Dariusz (Brzóska) Brzoskiewicz, Paweł (Paulus) Mazur und Wojciech Stamm alias Lopez Mausere dazu – der dann in den 1990er Jahren den Berliner Club der Polnischen Versager mitbegründen sollte. Die Gruppierung nannte sich Transistorische Formation Totart (Tranzystoryjna Formacja Totart) und organisierte im Großraum Danzig unter allerdings wechselnden Namen Zeitschriften, Aktionskunst, Lesungen und Konzerte.12 Paweł Konnak beschrieb die Gründungs-Performance rückblickend als »postkünstlerisches Ereignis«. Die Bühne habe ausgesehen wie der »Traum eines Paranoikers«: an der Wand rosafarbene Transparente mit Aufschriften »Der Große Sajnóg« (Wielki Sajnóg) und »Der Große Trottel« (Wielki Dureń); die Aula geWas heißt »Urbanismus« (Co to znaczy »urbanizm«), veröffentlicht 1931 in Linia (Linie), wehrte sich Peiper auch gegen die Klassifizierung »Urbanist«; ihm war der Begriff zu weit gefasst. 10 | O lschowsky, Heinrich: Lyrik in Polen. Strukturen und Traditionen im 20. Jahrhundert. Berlin 1979, S. 29-30. – Zu Peipers Position auch Waśkiewic z, Andrzej Krzysztof: W kręgu »Zwrotnicy«. Studia i skice z dziejów krakowskiej Awangardy [Im Kreis der Weiche. Studien und Skizzen aus der Geschichte der Krakauer Avantgarde]. Kraków 1983, S. 69-80. 11 | Ebenfalls an der Aktion beteiligt waren Artur (Kudłaty) Kozdrowski, Bogdan Kubat, Tomasz Zając und andere. – Den Namen Totart führt im Übrigen auch eine Moskauer Gruppe um Natal’ja Abalakova und Anatolij Žigalov, die das Konzept des »Nichtstuns« als »reine Handlung« verfolgen. – Ursprünglich unter »totart« geführt, finden sich weitere Schreibweisen im Polnischen. Hier wurde analog zu »SozArt« und »PopArt« der Begriff »TotArt« verwendet. 12 | F leischer, Michael: Overground. Die Literatur der polnischen alternativen Subkulturen der 80er und 90er Jahre. München 1994, S. 84-88.
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schmückt mit Gipsmasken von Sajnóg und Zeitschriften Konnaks; auf der Bühne performte Sajnóg im Gummimantel dekadenzverdächtigen »Punk-Nihilismus«.13 Primitivistische Malerei, Masken und Wikingerhelme, Körperbemalung und Kostümierung, pornografisches Material bestimmten diese wie weitere Aktionen des »metaphysischen Anarchismus«, dessen Autoren an anderer Stelle proklamierten: »Wir ziehen in den Krieg! Es kann Opfer geben!«14 Abb. 1: TotArt: Vorderseite des Manifests Die Aktionen von TotArt waren durchweg manifestlastig, und als solches ist auch der Handzettel zu Metropole. Masse. Metzgerei gekennzeichnet (Abb. 1-2). Als erstes fällt indes ein Abzählvers zwischen Kindergekrakel ins Auge: »ecie pecie ecie pecie / tobie leci mnie / NIE LECI/ raz dwa trzy / miesiączkę masz ty«, im Deutschen etwa: »Eeene meene Muh / und bluten tust du / NOCH LANGE NICHT / drei zwei eins / das Regelblut ist deins.«15 Der typografisch von diesem Rahmen abgesetzte Text erinnert an ein hektografiertes Thesenpapier; die eingezeichneten Nägel oder Schrauben mögen auf ein an die Wand oder Tür genageltes Pamphlet à la Martin Luther anspielen, oder aber auch auf Julian Przyboś’ Gedichtsammlung Schrauben (Śruby) von 1925, ein Schlüsselwerk des Konstruktivismus.
13 | Zu Geschichte und Wirken der Gruppe siehe S kiba , Krzysztof/Janiszews ki, Jarosław/ K onna k, Paveł Koñjo: Artyści. Wariaci. Anarchiści. Opowieść o gdańskiej alternatywie lat 80. [Künstler. Verrückte. Anarchisten. Die Geschichte der Danziger Alternative der 1980er Jahre]. Warszawa 22011, S. 2-10 u. 87-89. 14 | Ebd., S. 8. 15 | Siehe zur grafischen Gestaltung und zum Wortlaut des Manifests den Band von F leischer : Overground, S. 85-87. Ich folge hauptsächlich der Übersetzung ins Deutsche von Michael Fleischer. Die Übertragung des Abzählreims stammt von mir. Das polnische Original ist oben abgedruckt.
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Der Text selbst untergliedert sich in »Das kategorisch negative Manifest in Sachen dessen, was hier passiert« (Stanowczy manifest negatywny w sprawie tego, co się tu odbywa) und »Das provisorisch positive Manifest in Sachen dessen, was hier passiert« (Prowizowiczny manifest pozytywny w sprawie tego, co się tu odbywa). Im weiteren Verlauf kalauert der Text mit den Kategorien »These«, »Antithese« und »Prothese« als »Situationsmanifeste« (manifesty sytuacyjne), bringt dergestalt Pariser Situationisten ins Spiel. Abb. 2: TotArt: Rückseite des Manifests Näherhin wird dann ausgeführt, worum es TotArt, der Totalen Kunst, nicht geht: nicht um »ästhetische Zuckungen«, nicht um »vorausgesetzte Zeitlinien«, nicht um das »unsinnige Postulat der Neuheit«; schon gar nicht um die Gleichsetzung von Leben und Kunst; nicht um die »fremde« Gemeinschaft; nicht um die »Ausrichtung aufs Publikum«: TotArt ist sich selbst Gemeinschaftskörper genug. Und: »[D]as ist kein FLUXUS.« Entscheidend scheint der Zeitbegriff. Mit dem »unsinnigen Postulat der Neuheit« und den »vorausgesetzten Zeitlinien« werden Traditionen programmatisch abgelehnt – und ausgiebig zitiert, von den Situationisten über die FLUXUS-Variation auf René Magritte bis hin zu der Hegel-/Marx-Veralberung von These-AntitheseProthese. Und eben Tadeusz Peiper. Während Peiper mit einem zukunftsgewandten Terminus der »Jetzt-Zeit« (teraźniejszość) innerhalb des klassisch-modernen Fortschrittsparadigmas operiert, entwirft TotArt einen außerhistorischen Ist-Zustand, ein Gleichgewicht oder eine Kreuzung »aprozessualer regressiver Züge mit progressiven«. Zeit verliere »ihren Sinn in Situationen ohne Anfang und Ende« – was wiederum das Konzept des détournement, der sinn- als machtbrechenden Rekontextualisierung der Situationistischen Internationale und namentlich Guy Debord aufruft, genau zu sein: selbst für ein détournement nutzt. Begeistert sich Peiper für das Kühne, Neue und feiert dessen konstruktiven Impuls, dekonstruieren TotArt qua Überdrehung, Nonsens, Ironie und zitierender Amalgamierung nicht nur die Imagination gerichteter Entwicklung, sondern
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den Zeithorizont als deren Prämisse. Darin steckt der Witz des vordergründig witzig-witzlosen Zitierspiels: TotArt löst alle Distanzen und (Zeit-)Hierarchien auf zwischen Tradition und Avantgarde, zwischen Avantgarde, Neo- und Postavantgarde, zwischen Zentrum und Peripherie: »[…] es hat keinen Sinn irgendwas irgendjemandem zuzuschreiben das Aufzeigen der Quellen das Abstecken der Richtung.« Nur folgerichtig spielt auch die Stadt keine prominente Rolle mehr – oder sonst ein Ortstopos. Mit der Zeit wird der Raum flüssig. Werden »Urbanität« und »Neuheit« als Wert- oder Unwertchiffren ersetzt durch »Adäquatheit«. Adäquatheit, heißt es an anderer Stelle, sei der »TotArt-Container«.16 In diesem Sinne postuliert TotArt weniger ein Allumspannendes im Sinne von Universalphilosophie oder Universalkunst denn die Entropisierung poetischer Akte. Auf die Negation als »These« folgt die Position als »Antithese«. Der Handzettel formuliert sie im proklamatorischen Rhythmus: »TotArt ist adäquat, also […]« heißt es mehr als zehn Mal hintereinander – um in der doppelten Verneinung eines »Supplement Nummer 3« zu enden: »TotArt ist ein Betrug, der nicht existiert.« Und, in einem wenig später formulierten Text: »Ein Tot-System totalisiert die Gesellschaft, eine Tot-Gesellschaft produziert eine Tot-Kunst.«17 Kurz, TotArt nutzt das bereits erwähnte, im Umfeld der Gruppe entworfene Verfahren des »semantischen Breis« (semantyczna bryja),18 um die Sinnerfassung von Ausgesagtem systematisch zu sabotieren. Erzählungen, Gedichte sind wie das Manifest syntaktisch und oberflächenlogisch korrekt – indes derart mit Aussagen aus anderen Sinnzusammenhängen kontaminiert, dass sie es nicht mehr zulassen, den Punkt zu benennen, ab dem sie semantisch kippen, über die Persiflage und Unauflösbares ins Alberne driften. Das beginnt im Fall des Handzettels Metropole. Masse. Metzgerei bei dem détournement der ersten beiden Peiper-Worte im Titel vermittels der Ersetzung der abschließenden maszyna durch masarnia, Metzgerei oder Schlachthaus. Während die Korrespondenz mit dem Regelblut im rahmenden Abzählvers opak bleibt, lässt sich hier über mięso (Fleisch) eine assoziativ-semantische Hängebrücke zur Menschwerdung Gottes schlagen, der Fleischwerdung des logos, die vergleichbar wacklig weiterführt zu Richard Sennetts Deutung der Entstehung der jüdisch-christlichen Stadt als Transsubstantiation, als Geist- zu Fleisch- zu Steinwerdung.19 Eine lesartliche Hängepartie, in der Tat.
16 | S kiba /Janiszewski/K onna k: Artyści. Wariaci. Anarchiści, S. 13. 17 | Ebd., S. 26. 18 | Das Konzept des »semantischen Breis« stammt von der Gruppe Sie pinkelten mir in die Mitte (Zlali mi się do środka). – Dazu F leischer : Overground, S. 90-95. 19 | S ennet t, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Berlin 1994, S. 460.
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Konnak erblickt in den Wikingerhelmen und pornografischen Gewaltphantasien der TotArt-Performances einen »sarmatischen Underground« (sarmacki underground),20 der nahtlos an den frühneuzeitlichen Sarmatismus anschließt, an alttradierte Sonderheitsideologeme, die abstoßen, was nicht konservativ, nicht xenophob, nicht katholisch, nicht messianistisch erscheint. Und der genau damit die Minoritäts-Behauptung obstruiert. Michael Fleischer hat nicht zuletzt deshalb unter dem Begriff »Overground« eine analytische Demystifizierung der polnischen Underground-Poetiken versucht. Fleischers Titelpointe »Overground« dürfte indes den Punkt verfehlen. Denn da ist abermals der Zeitaspekt und das détournement: Wo Fleischer mit peiperschem Ernst auf eine Entwicklung schaut, Linien zieht, hat TotArt eben diesen Traditionsbegriff längst aufgegeben und zieht das Sarmatische – oder einen beliebigen anderen Zeichensatz – zur Rekontextualisierung heran und damit zur Depontenzierung. Darüber beginnt TotArt eine übermütig-verzweifelte Verhohnepiepelung des Politischen und seiner konkurrierenden Inklusionsversprechen. Genau das ist Underground.
Z werge und P olitik . O range A lternative in W rocł a w Die Orange Alternative entstand nach den Studentenstreiks 1981 und übernahm den Namen wie die Signalfarbe von den Bulletins der Streikenden, die Waldemar »Major« Fydrych und andere herausgaben.21 Der 1953 geborene Kunsthistoriker Fydrych konzipierte damals Aktionen, bei denen Künstler den Studenten einen Unterstützerbrief Lenins vorlasen, vor dem Affengehege im Zoo Hymnen auf Stalin sangen oder zum Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution durch Warschau spazierten, Toilettenpapier und Damenbinden verteilten. Generell legte die Alternative ihre Nonsens-Street-Happenings bevorzugt auf kommunistische Feier- und historische Gedenktage, streute zur Verwirrung aber auch Kirchenfeste und Erinnerungsdaten der Opposition in ihren Kalender ein.22 20 | S kiba /Janiszewski/K onna k: Artyści. Wariaci. Anarchiści, S. 102-104 u. 193. 21 | Wieso die Wahl auf orange fiel, ist nicht verlässlich überliefert. Oft wird die Farbe als Mischung zwischen der (roten) Linken und den (gelben) Katholiken interpretiert. – F ydrych: Ich entdeckte einen Diamanten, S. 71-72: »Ich erinnere noch an die Orang-Utans in Afrika und an die Apfelsinen.« 22 | Für Beschreibungen der Aktionen siehe u.a. C ourder q, Agnieszka: Die Orange Alternative. Von der dialektischen Kunst des Happenings, politische und soziale Veränderungen herbeizuführen. In: Spielplätze der Verweigerung. Gegenkulturen im östlichen Europa nach 1945. Hg. v. Christine G ölz u. Alfrun K liems . Köln-Weimar-Wien 2014, S. 129-152. – B runer, Lane M.: Carnivalesque Protest and the Humorless State. In: Text and Performance Quarterly 2 (2005), S. 136-155, hier 143-145. – K enne y, Padraic: How the Smurfs Captured Gargamel, or, A Revolution of Style. In: D ers .: A Carnival of Revolution. Central Europe 1989. Prince-
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Nach der Wende zog Fydrych sich zurück, ging 1990 nach Paris, um sich später zum Präsidenten der Exilregierung Polens zu ernennen.23 Allmählich verloren die Zwerge ihre subversiv-ambivalente Kraft und wurden zu Stadtmaskottchen samt einem Bronze-Denkmal in Wrocław; die orangfarbenen Reminiszenzen gerieten in die Nähe einer politischen Trash-Kultur:24 War der Zwerg in den 1980er Jahren eine fulminant unpathetische Bildformel der Stadtaneignung und eben deshalb so erfolgreich, wandelte er sich nun zum pathetischen Widerstandssymbol. Die Happenings der Orangen Alternative verliefen strukturell parallel zu vergleichbaren Aktionen in anderen Städten Ostmitteleuropas, fügen sich allgemein in die Phalanx euro-amerikanischer subkultureller Kunst.25 Für die meisten von ihnen dürften dieselben Schaffensprämissen gelten, wie sie Kathleen Cioffi für die Orange Alternative ausmacht: »They rejected professionalism, lyricism, irony, and Romanticism, and embraced amateurism, satire, defiance of the authorities, and above all, laugther.« Konzeptkunst als »hybrid guerrilla theatre«.26 Ähnlich erkennt Berenika Szymanski in Fydrychs Kunst weniger Sozialprotest als theatrale Rebellion, die namentlich außerhalb des romantisch inspirierten, messianisch aufgeladenen Widerstands der Solidarność zu verorten sei.27 Seien doch die Zwerge »subversiv«, als »Wesen der Imagination« in die »praktische Welt« ein-
ton-Oxford 2002, S. 157-194. – Tyszka , Juliusz: The Orange-Alternative. Street Happenings as Social Performance in Poland under Martial Law. In: New Theatre Quarterly 56 (1998), S. 311-323. – P ecza k, Mirosław: The Orange Ones, The Street, and The Background. In: Performing Arts Journal 2 (1991), S. 50-55. – F ydrych, Waldemar: Żywoty Mężów Pomerańczowych [Die Leben der Orangen Männer]. Wrocław 2002. 23 | Fydrych stieg später wieder in den politischen Alltag ein, bewarb sich in den 2000er Jahren um das Amt des Stadtpräsidenten von Warschau mit der Losung »Zwerg for President«. Die Aktion wurde filmisch von Mirosław D embiński begleitet: Zwerg for President (Krasnoludek Prezydentem, 2003). 24 | Weniger zugespitzt siehe das Fazit von Ż ak , Natalia: Przedmowa [Vorwort]. In: Pomerańczowa Alternatywa – Happeningiem w komunizm / Happening against Communism by the Orange Alternative. Kraków 2011, S. 10-12, hier 12. – Der Aufsatzband behandelt auch die künstlerischen Wurzeln der Bewegung (u.a. ihre Dada-Politik, Bezüge zu slowakischen Künstlern wie Ján Budaj sowie zur Amsterdamer Provo-Bewegung). 25 | Nennen ließen sich weitere urbane Interventionen im östlichen Europa seit den 1960er Jahren, u.a. die »Flecken-Aktionen« von Vladimír Boudník in Prag; die polnische Akademie für Bewegung (Akademia Ruchu, A.R.) und ihr Street-Happening »Happy Day«; die Fake-Poster des Slowaken Ján Budaj sowie Jiří Kovandas Aktionen auf den Straßen von Prag. 26 | C ioffi: Alternative Theatre in Poland, S. 174. 27 | S z ymanski, Berenika: Das Durchbrechen des Ritualisierten: Die Orange Alternative oder Der friedliche Aufstand der Zwerge. In: D ies .: Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989. Vom Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarność. Bielefeld 2012, S. 209-258, hier 215.
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gebrochen.28 Dagegen betont Bronisław Misztal den durchaus politischen Gehalt der Orangen Alternative: Das »›non-political‹ profile of the Orange Alternative should be read as if the movement opted for the true alternative«. In diesem Sinne sieht er in ihr eine genuine »soziale Bewegung« (social movement).29 Die Debatte reicht freilich zurück in die aktive Zeit der Alternative selbst, zu der vermeintlich ernsthaftere Oppositions- und Streikführer wohl anerkannten, dass sie »politischer« als TotArt war, gleichwohl ein Leichtgewicht oder schlechthin lächerlich. Wenige sahen es wie später Jan Przyłuski: »The Orange Alternative are the yesman of Solidarity, uncompromising provocateurs, intelligent enough to apply the method of non-violence and to achieve measurable effects.«30 Wenn keine interpretatorische Klarheit, so doch einen gewissen Begriff von Fydrychs Kunst- und Politikverständnis mag das 1981 von ihm verfasste Manifest des Sozialistischen Surrealismus (Manifest surrealizmu socialistycznego) vermitteln (Abb. 3). Auf einer basalen Ebene schließt es sich André Bretons einschlägigem Diktum an, es könne kein anderes Verhältnis zu dieser Welt geben als das der Auflehnung. Konkret wird der Leser gleich eingangs angesprochen: »Es lohnt sich herauszufinden, ob der Krebs des Rationalismus schon Dein Hirn zerfressen hat.«31 Es folgen eher vage, bereits zu Pseudoprovokationen abgeschliffene Gemeinplätze, dass Phantasie und Imagination unbegrenzt seien, Analphabeten die klügeren Menschen, Verlierer die besseren sowieso; das Tor der Psychiatrie könne einen surrealistischen Sozialisten ebenso wenig aufhalten auf seinem Weg nach draußen wie die schon besiegten Vernunft-Denker und Politiker dieser Welt. Derweil habe der Surrealismus die schlimmste Zeit auf städtischen Aborten überstehen können: »[W]o ergibt sich ein so enger Zusammenhang zwischen Erleichterung und ästhetischer Erkenntnis«? Philosophische Traktate werden zurückgewiesen, realistische Erzählwerke ebenso zugunsten einer »Welt in Zeitungsausschnitten«. Und, in schöner SpontiManier: »Welchen Sinn hat es zu leiden, wenn man sich freuen kann.« Schließlich die raunende, wenig kohärente, indes nicht sonderlich beunruhigende Drohung: »Wir haben für Euer geordnetes Wissen ungewöhnlich perfide Dinge vorbereitet. Zählt nicht darauf. Hier ist keine Rede von Erbarmen.«
28 | Ebd., S. 222. 29 | M isz tal , Bronisław: Between the State and Solidarity. One Movement, Two Interpretations. The Orange Alternative Movement in Poland. In: The British Journal of Sociology 1 (1992), S, 55-78, hier 75-76. 30 | P rz yłuski, Jan: DADA Politics. Art of Action and the Orange Alternative Movement. In: Pomerańczowa Alternatywa – Happeningiem w komunizm, S. 28-69, hier 64. 31 | F ydrych, Waldemar Maria: Manifest surrealizmu socialistycznego. In: Pomerańczowa Alternatywa / The Orange Alternative / Die Orange Alternative, S. 23-25. – Ich folge der Übersetzung ins Deutsche von Tina Wünschmann. Das polnische Original ist oben abgedruckt.
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Abb. 3: Manifest: Waldemar Fydrych
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Das Ganze atmet eine gewisse aufgesetzt rebellische, eklektizistische Harmlosigkeit, auch im ästhetischen Programm, das abermals an Breton und dessen Postulat anschließt, der »gute Geschmack« stelle einen »ausgesprochenen Makel« dar: »Im schlechten Geschmack meiner Zeit gehe ich weiter als jeder andere, ich versuche es jedenfalls.«32 Dessen ungeachtet wird die Orange Alternative später nie den irritierenden, ja schmerzhaften Nonsensgrad erreichen, den TotArt mit weit weniger gestischem Aufwand erzielt. Im Manifest des Sozialistischen Surrealismus springt gerade einmal die neoavandgardistisch aufgewärmte Idee heraus, dass, da die Welt ein »Kunstwerk« sei, also auch der Polizist an der Straßenecke zur Kunst gehöre. Nichtsdestoweniger lässt sich Fydrychs poetische Haltung zumindest ihrer Intention nach unter jene ästhetischen Strategien rubrizieren, für die der Begriff der »subversiven Affirmation« geprägt worden ist. Sylvia Sasse und Caroline Schramm verstehen darunter ein »Bewohnen der Diskurse in der Sprache der Diskurse«,33 ein »Sich-Bemächtigen« dieser Sprache und ihre Überschreitung als permanente Grenzverschiebung, immer auch im auf den (machtvollen) Diskurs gerichteten Begehren.34 Dazu zu zählen wären etwa Egon Bondys Totaler Realismus (Totální realismus) oder Ivo Vodseďáleks Peinliche Poesie (Trapná poezie), nicht zuletzt Poetiken der sowjetischen SozArt sowie der westlichen PopArt. Unbesehen aller Unterschiede geht es stets um ein In-Frage-Stellen über vordergründiges Ernst-Nehmen und Aufgreifen: Schreibweisen werden simuliert und umkodiert; Symbole und Ikonografien rekontextualisiert; Massenaufmärsche, Demonstrationen und Losungen »realistisch« abgebildet – und darüber surrealistisch gewendet: subvertiert. Ob es sich im Einzelfall um mehr als läppische Gesten handelte, um Subtilität oder Naivität, gesteigerten Radikalismus oder ästhetizistisches Duckmäusertum, war im Westen und den verschiedenen osteuropäischen Zentren so umstritten wie in Wrocław. So im Fall von Dieter Kunzelmanns Münchner Subversiver Aktion und der Idee eines »unverblendeten« homo subversivus, der auf allgegenwärtige Repression mit einem unterwandernd experimentellen Leben reagieren sollte.35 Zumindest das westdeutsche Bürgertum nahm es für bare revolutionäre Münze und reagierte hysterisch. Oder hinsichtlich der Pariser Situationisten mit ihren psychogeografischen Stadtgängen, die Routen freilegen, ein Irritationsmoment schaffen sollten. In Berlin wiederum ging die Auseinandersetzung über die Sektoren- als Blockgrenze hinweg. 32 | B reton , André: Erstes Manifest des Surrealismus (1924). In: Manifeste des Surrealismus. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 9-43, hier 20. 33 | S asse , Sylvia/S chramm, Caroline: Totalitäre Literatur und subversive Affirmation. In: Die Welt der Slaven XLII (1997), S. 306-327, hier 317. 34 | Ebd., S. 318. 35 | R eimann, Aribert: Dieter Kunzelmann: Avantgardist, Protestler, Radikaler. Göttingen 2009, S. 99.
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1984 reagierten Bert Papenfuß, Jan Faktor und Stefan Döring ebenfalls mit einem Manifest, Zoro in Skorne, auf die sinnentleerte Sprache sozialistischer Slogans, indem sie einzelne Passagen in Rotwelsch verfassten, darunter den Titel ihres Texts, der übersetzt Das Unbehagen in der Kunst lautet. Zusammengewürfelt bis zur inhaltlichen Unverständlichkeit, hochgradig fragmentiert und bewusst »unkontrolliert« gestaltet, verkündete das Trio, »nicht unter- sondern tumultan« sei seine »mutuale Empörung«. In einem Hieb auf die etablierte dissidentische Intelligenz heißt es, Politik lasse sich nicht mit Anti-Politik begegnen,36 ihr sei »weder mit Alternativ-, noch mit Anti-, noch mit sonst welchen APolytiken beizukommen […], lediglich mit UNKONTROLL-/Lierbarkeit in etwa einem Schalxtum«. Mit fluoreszierenden Konzepten, dem Fließend-Flüssigen.37 Bereits zuvor hatte Faktor in seinen Überlegungen zur Trivialpoesie ausgeführt, Subversion meine Reduktion und Zusammenhangszerschlagung, Klarheit der Sprache, Benennung des Hässlichen (»der poetische Dreck«), Selbstbefriedigung und Exhibition – Abscheu vor Engagement wie Lautmalerei, vor Rhythmus, vor Assonanz.38 Angesichts solcher Positionscocktails kritisierten ältere Vertreter die jüngere Dichtergeneration als »Neutöner«, die vergangene Avantgarden nur nachäffen würden. So heißt es bei Volker Braun in seiner eingangs schon zitierten Kritik an den Prenzlauer-Berg-Dichtern: In dem Schüttgut werden Reize, Assoziationen, Anstöße geliefert; in dem bedeutenden Wortmüll sind verschwiegene Gefühle und Gedanken deponiert, die uns, selbstredend, mehr zu sagen haben als die gestanzte Festtagskunst. Technisch die Wiederholung des geistlosen Handbetriebs der Avantgarde, niedrige Verarbeitungsstufe. 39
Nach der Wende wurde daraus der Vorwurf einer »simulierten Rebellion«. 40 Ein Vorwurf, der ein Verlangen nach pragmatischer Widerstands- oder Revoltenpoetik ausdrückt, das Papenfuß, Faktor und Döring gerade nicht bedienen wollten – sondern auf dem Prinzip des »semantischen Breis« beharrten. 36 | György Konráds Großessay »Antipolitik« erschien zwar erst ein Jahr später bei Suhrkamp, indes bereits früher andernorts; der systematisch-kritische Begriff ist ohnehin älter. 37 | B öthig , Peter: Grammatik einer Landschaft. Literatur aus der DDR in den 80er Jahren. Berlin 1997, S. 90-102. – Abdruck des Manuskripts Zoro in Skorne auf den Seiten 94-97. 38 | Faktor, Jan: Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens. Frankfurt am Main 1990, S. 87-102. 39 | B raun, Volker: Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität. In: D ers.: Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie. Schriften. Leipzig 1988, S. 95-120, hier 110. 40 | M üller, Wolfgang: Die Kunst der (simulierten?) Rebellion. Zur Lyrik des Prenzlauer Bergs. In: GDR-Bulletin 2 (1992), S. 21-26.
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Irgendwo hier, zwischen Revolte und Simulation, poetischem Radikalismus und radikaler Ästhetik, zwischen Punk, TotArt, Zwergen-Aufstand und Postsurrealismus tut sich jene Kluft auf, aus der schließlich der Club der Polnischen Versager klimmen wird. Und mit ihm die Frage nach den Optionen des Underground seit 1989.
14. »Alles begann in Danzig!«
Der Berliner Club der Polnischen Versager
Unsergleichen gibt es nicht viele in der Stadt. Ein paar nur, vielleicht einige zehn. Der Rest, das sind Menschen des Erfolgs, kühle und kaltblütige Spezialisten […]. Wir lassen den Terror der Vollkommenheit jener Anderen über uns ergehen. Ihre Gegenwart schüchtert uns ein. Denen ist es nur recht so, denn sie leben in der Angst, das Schaffensmonopol, das sie für sich reklamieren, zu verlieren.1 P olnische Versager
»Der Sinn der Wiederholung ist ihre Sinnlosigkeit«,2 heißt es 1996 bei David Forster Wallace in Infinite Jest. Nach diesem Rezept spinnt der Berliner Club der Polnischen Versager sub- beziehungsweise gegenkulturelle Traditionen ad absurdum weiter zu einem Kultus der ostentativen Sinnverachtung. Paradigmatisch inszenieren Piotr Mordel und Adam Gusowski unter dem Reihentitel Ein Gespräch mit einem interessanten Menschen im Schnitt vierminütige Interviews als leerritualisierte Persiflageschleife. Der eine fragt, der andere gibt den »interessanten Menschen« – Lech Wałęsa, Reinhold Messner, »Wolfgang Amadeus Chopin«, August den Starken, »Lord« Darth Vader.
1 | Polenmarkt. Bund der Polnischen Versager e.V. Das kleine Manifest. In: Kolano 15 (2000), S. 5. – Eine Fassung des Manifests findet sich unter Mały Manifest auf Polnisch schon in Heft 3 (1996) auf der Titelseite: »Takich jak my nie jest wielu w tym mieście. Zaledwie kilku, może kilkunastu. Reszta to ludzie sukcesu, zimni i spokojni profesjonaliści […]. Żyjemy pod terrorem doskonałości Tamtych. Ich obecność onieśmieła nas. Jest im to na rękę, bo lękają się utracić monopol na tworzenie, który sobie uzurpują.« 2 | F oster Wallace , David: Unendlicher Spaß. Aus dem Amerikanischen v. Ulrich B lumen bach . Köln 2009, S. 170.
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Den neodadaistischen Effekt verstärkend, spielen die Interviews zudem mit der Kulisse Berlin, deren Erkennungsorte einerseits ausgestellt, andererseits falsch angesprochen werden: Schloss Charlottenburg wird als Winterresidenz von August dem Starken ausgewiesen; der Funk- firmiert als Eiffelturm; ein typischer Altbaukeller steht für einen Maschinenraum ein, für das Atelier des Künstlers soundso oder ein Hygieneinstitut; ein Umland-See gibt das überflutete Oderbruch. Es öffnen sich Text-Bild-Scheren, deren Komik den Topos einer globalisierten Beliebigkeit und urbanen Verwischung zugleich markiert und unterläuft, karikiert und affirmiert. Analog jongliert der Club mit ethnischer Zuschreibung als soziokulturellem Befund, wobei es vorderhand dahingestellt sei, ob Polen oder polskość als das Allpolnische per se mit Versagen kurzgeschlossen wird oder diese Polen (nicht zuletzt als Polen) versagen. Allemal verweist der Flirt des Clubs mit dem gesellschaftlichen Versagertum auf Traditionen des Underground – wie die Versager auch im Einzelnen mit Selbst-Exotisierungen, dem Sexus der Hermetik, anstößiger Heroen-Profanierung und Sinnvernichtung operieren. Zugleich ethnisiert und translokalisiert der Club der Polnischen Versager das Konzept, verschiebt es aber vor allem von einer Attitüde zum Postulat. Zumal Mordel und Gusowski re-arrangieren bei näherem Hinsehen »klassische« Motive und Verfahren des Underground zu postironischer Unterhaltung von ultimativer Redundanz. Die ausgestellte Routinisierung schleift die Versager-Provokation ab: ein Domestizierungseffekt, der eine Art Underground-Imitat hervorbringt – oder Post-Pop.3 Der systematische Ort dieser Beobachtungen wird am ehesten im Vergleich erkennbar. Bei Gründung des Clubs im Herbst 2001 war der popkulturelle Versager schlechthin, Homer Simpson, längst zur etablierten Marke geworden und hatte begonnen, darüber einen erheblichen Teil seines subversiven Potenzials zu verlieren. Der Weg der Simpsons zur paradigmatischen Dominanz über den Mainstream der Comic- und Jugendunterhaltung reflektiert die Transformation des »wilden« in family-Pop sowie die Domestizierung seiner Underground-Anklänge. 4 Zugleich illustriert er namentlich die abnehmende Provokationskraft ausgestellter Versagensbehauptungen, schließlich sind gereizte Debatten um das jugendgefährdende role model Bart Simpson (»underachiever and proud of it«) seit den 1990er Jahren verklungen. Die Ostentation sozialen Versagens, bedeutet das, taugt offenkundig nicht mehr als Mittel zur Skandalisierung vertikaler Exklusion. Sollte sich diese Annahme bestätigen, wäre mit dem Skandalon dem ästhetischen Verfahren des Underground seine zentrale raison d’être entzogen. Damit
3 | Schlagendes Beispiel hierfür ist die »Autobiografie« des Clubs von G usowski, Adam/ M ordel , Piotr: Der Club der polnischen Versager. Reinbek bei Hamburg 2012. 4 | Siehe u.a. dazu den Band: Homer Simson Marches on Washington: Dissent through American Popular Culture. Hg. v. Timothy M. Dale u. Joseph J. F oy. Kentucky 2010.
14. Club der Polnischen Versager: »Alles begann in Danzig!«
ist der Hintergrund umrissen, vor dem sich das letzte Kapitel der Poetik des Clubs der Polnischen Versager zuwendet.
W urstmenschen , V ersager und ein M anifest wider die Z umutung der P erfek tion Der Club, das waren anfangs die polnischen Künstler Joanna Bednarska und Mariusz Bednarski, Adam Gusowski, Piotr Mordel, Leszek Herman Oświęcimski und Wojciech Stamm alias Lopez Mausere, der aus der Danziger TotArt-Bewegung kam. Bereits in den 1980er Jahren nach Berlin gelangt, gründeten sie hier am 1. September 2001 um 5.45 Uhr den Klub Polskich Nieudaczników – das Datum lehnt sich an den Überfall der Wehrmacht auf Polen an.5 Erst in der Torstraße in Berlin-Mitte, später in der ebenso zentral gelegenen Ackerstraße veranstalten die Polnischen Versager Konzerte und Dance-Abende, organisieren bilinguale Lesungen, Ausstellungen und Filmvorführungen. Sie geben die polnischsprachige Zeitschrift Kolano (Knie) heraus, betreiben den Versager Verlag (Wydawnictwo Nieudaczników), moderieren auf Radio Multikulti (RBB) die Leutnant-Show mit Adam Gusowski und Piotr Mordel. Schließlich findet sich in dem auf Deutsch und Polnisch vorliegenden Roman Der Klub der polnischen Wurstmenschen (Klub Kiełboludów) von Leszek Herman Oświęcimski eine Art Manifest der Gruppe.6 Manifest wie Namensgebung kokettieren mit einer Bejahung, wenn nicht Nobilitierung des Scheiterns, verbürgt mittels einer propagierten und auch durchgehaltenen Trash-Comedy-Ästhetik des »je schlechter desto besser« – hinter der freilich rasch ausgeklügelte Kompositionen sichtbar werden. Ein Schlüssel zu deren Funktionieren liegt in der Folie Deutschland beziehungsweise Berlin: Die Pointe des poetischen Programms besteht eben in der Verschränkung von ethnischer Zuschreibung und sozialer Behauptung. Zunächst, so banal das klingt, bedarf es dazu einer (Groß-)Stadt, in der Immigration ein Thema ist oder zum Thema gemacht werden kann, mithin einer kritischen Masse von Zuwanderern, die das Spiel mit dem Außenseiterstatus des (polnischen) Migranten allererst anschlussfähig macht. Dirk Uffelmann erblickt 5 | Zu den Anfängen siehe u.a. H elbig -M ischewski, Brigitta/G raszewicz , Marek: »Blödsinn begeisterte Berlin« oder wie der Club der Polnischen Versager die deutsche Presse verwirrt. In: Berühungslinien. Polnische Literatur und Sprache aus der Perspektive des deutsch-polnischen Austauschs. Hg. v. Magdalena M arszałek u. Alicja N agórko. Hildesheim-Zürich-New York, S. 315-323. 6 | O święcimski, Leszek Herman: Klub Kiełboludów. Berlin 2002. – Herman, Leszek: Der Klub der polnischen Wurstmenschen. Aus dem Polnischen v. Adam Gusowski u. Michał S zalonek . München 2004. – Der Name »Oświęcimski« fiel in der Übersetzung weg; verschiedentlich befindet sich im polnischen Buchtitel auch anstelle des korrekten »ó« verfremdend ein »ö«.
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denn auch in der »Präsenz einer Migrationscommunity in der Mehrheitsgesellschaft« ein ausschlaggebendes Moment dafür, dass das Konzept des Clubs aufging.7 Derweil entstehen und wachsen Städte seit jeher durch Zuwanderung, aus dem Umland, aus Provinzstädtchen und Grenzorten, dem rechtlichen Ausland, aus anderen Metropolen, »fremden« Kulturen, entfernten Kontinenten. Auch die institutionelle Verfassung sowie milieuhafte Selbstorganisation der Ankömmlinge als communities gehört ebenso zur (europäischen) Stadtgeschichte wie daraus resultierende Spannungen mit den länger Ansässigen. Gleichermaßen hinzu kommen Entfremdungsgefühle, Bemühungen um Selbstbehauptung, eine existenziell erfahrene dislokative Kraft und deren Verarbeitung. Hingegen ergibt sich eine Spezifik der (abermals europäischen) Moderne aus forcierten und obrigkeitlichen Homogenisierungsbemühungen, typisierend gesprochen zunächst in konfessioneller, später in rechtlicher, endlich in nationaler Absicht, die Linien und Modi von Inklusion und Exklusion definieren. Die Voraussetzung der Polnischen Versager liegt schließlich in einer postnationalistischen diskursiven Situation, in der die spätmoderne Vision einer national geschlossenen (Stadt-)Gesellschaft weiterhin gewusst, jedoch nurmehr eingeschränkt geglaubt wird. Akzeptanz, wenn nicht Affinität zu kultureller Pluralität sind bereits gängige Münze, können aber noch Avantgardismus reklamieren. Die zweite Voraussetzung dafür, dass eine Ästhetik wie die des Clubs verfängt, besteht im Vorhandensein einer »Szene« sowie einer hinreichend großen Zahl von Adressaten, die sich vom Spiel mit dem Versagen provozieren lassen – oder darin einen Reiz entdecken. Die sich im Zweifel selbst als unbefriedigend etabliert sieht, als gescheitert oder vom Scheitern bedroht – gemessen an ihren eigenen oder internalisierten Fremderwartungen. Es handelt sich um ein Szenekapital, das weniger ethnisch denn sozial gebunden ist, mit Bezug zur und Resonanz in der Mehrheitsgesellschaft. In diesem Sinne also ist Berlin der nicht wegzudenkende Ort, an den die Dislokations- und Versagensbehauptungen, das Credo des Clubs gebunden sind. Entsprechend zentral steht die Stadt in dessen Kunstkonzept. Sie wird behauptet als Arena einer Widerspruch fordernden Exklusion, eklatant im Roman Klub der polnischen Wurstmenschen. Ihre Topografie und Semiotik spielt eine tragende Rolle namentlich in der Reihe Gespräche mit einem interessanten Menschen. Und endlich garantiert Berlin auf einer Metaebene, als Veranstaltungs- und Perkussionsraum, den tatsächlichen Erfolg der Versager. Zunächst einmal repräsentiert Berlin pars pro toto die stereotyp behauptete deutsche Perfektion. Nicht minder ironisch setzen sowohl die Zeitschrift Kolano als auch Oświęcimskis Manifest-Roman vor dieser Kontrastfolie das Klischee der Polen in Szene als unrettbare Romantiker, Trinker und passionierte Schnurrbart7 | U ffelmann, Dirk: Selbstorientalisierung in Narrativen polnischer Migranten. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 1 (2009), S. 153-180, hier 177.
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träger, die sich pausenlos mit ihren nationalen Genies brüsten. Zu den Deutschen schauen sie offen oder insgeheim auf, halten sie für selbstbewusst, zielstrebig, arbeitsam und konsequent – sich selbst hingegen für unvollkommen, schüchtern und unsicher. Vehikel dieses satirischen Abarbeitens deutsch-polnischer Auto- und Heterostereotype ist die Geschichte dreier »Wurstmenschen«, die in einem polnischen Labor aus Wurstmasse geschaffen wurden, um als Lebendware die deutsche Zollgrenze zu überwinden, dabei aufgegriffen werden, jedoch fliehen können. Hermann Wurstmann (»der Große«) gelangt nach Berlin und schlägt sich mit Hilfsjobs durch. Markus Schnauzel (»der Dünne«) arbeitet in einem Hospiz und bildet sich in einer Klosterbibliothek im Teutoburger Wald fort. Adalbert Pien (»der Dicke«) wird von einem Bauern an Sohnes Statt angenommen. Alle drei, gern bezeichnet als »gepökelte Mitarbeiter«, 8 »geräucherte Wesen«9 und »potenzielle Opfer eines westeuropäischen Metzgers«10 teilen eine gewisse Schreib- und Alkoholsucht. Schließlich treffen sie in Berlin wieder zusammen, und der Roman endet mit einer Verbrüderung in der Torstraße 66 – dem Club der Polnischen Versager. Berlin erscheint dabei in klassisch moderner Manier und Metaphorik als menschenverschleißende Körpermaschine: Die Menschen verlassen ihre Häuser und vereinen sich auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeit in einem größeren Bach, dann zu kleineren Flüssen, die zu einer Bahnstation führen, um von dort in die Aterien und Verkehrsknoten aus Straßenbahnen, Bus- und U-Bahn-Linien zu gelangen. Alles verläuft in der Regel reibungslos und mechanisch. Die Ordnung kann nur gelegentlich von einer kaputten Rolltreppe oder einem liegenden Menschen gestört werden, um den herum Sanitäter mit Reanimationsapparaturen wirbeln.11
Die selbst klischeehafte Anleihe beim modernen Großstadtroman zur Inszenierung eines Deutschland-Klischees im Duktus des romantischen Schauers vor der Metropole steht für Oświęcimskis Technik, hoch- und popkulturelle Anspielungen, Verfahren und Elemente zu mischen. So walzt er die Gegenständlichkeit von Reportage und Reisebericht ins Banale aus; nutzt Versatzstücke des Spionageromans, der Groteske wie der Schmonzette; fügt comicartige Schnipsel ein; plagi8 | H erman: Klub der polnischen Wurstmenschen, S. 105. 9 | Ebd., S. 108. 10 | Ebd., S. 112. 11 | Ebd., S. 38. – O święćimski: Klub Kiełboludów, S. 32: »Ludzie wychodzą z domu, dołączają do innych obywateli, idących do roboty i szkół, i tak, tworząc już spory strumyk, dochodzą do swoistych rzek, biegnących do stacji kolejki; by potem wpaść do głównych arterii w postaci węzłów komunikacyjnych, w których przecinają się nitki linii autobusowych, tramwajowych i metra. Wszystko odbywa się na ogół płynnie i mechanicznie. Porządek ten może zakłócać czasem awaria schodów ruchomych albo leżący człowiek, wokół którego kręcą się ssanitariusze z przyrządami do reanimacji.«
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iert und parodiert Friedrich Nietzsche und Stanisław Przybyszewski; erläutert Karol Dąbrowskis Theorie der »Positiven Desintegration«. Vor allem aber analysiert der Text das TotArt-Konzept der »Schüttesie«. Dieser im Erzählgang entwickelte Schlüsselbegriff lässt sich wiederum auf den Roman selbst und die Kunst des Clubs insgesamt beziehen: […], denn die Formen, die sie annimmt, sind metaphorischer Gestalt, Pseudoformen – zufällige semantische und architektonische Konstellationen. In der Schüttesie verwirklicht sich also am besten die – ursprünglich in der Volksdichtung und im Spiel bestehende, dann in der Kultur verloren gegangene – Verbindung von Ästhetik und Existenz.12
Entsprechend funktioniert der Roman als Teil einer Performance, wenn der Text seinen Autor, die Übersetzer, ja eine ganze Autorengruppe als Begründer des »Klubs der Wurstmenschen« inszeniert, dem in der Realität der Club der Polnischen Versager entspricht, der wiederum das Manifest des Romans aus der ClubZeitschrift Kolano als Referenz aufgreift. Begleitet der Roman seine Wurstschelme noch durch halb Deutschland, so konzentriert Kolano sich auf Berlin als Folie, auf der Migration abgebildet wird. Vollends gilt das für die Gespräche mit einem interessanten Menschen.
G espr äche mit einem interessanten M enschen Die von Piotr Mordel und Adam Gusowski gespielten Gespräche mit einem interessanten Menschen beruhen auf dem Prinzip der Wiederholung, des strukturellen running gags: Orte werden visuell verballhornt; die Interviewfiguren verbindet außer dem Namen und einigen chiffrenhaften Kostümstücken wenig mit ihrem realen Paten; die Kommunikation gerät zum Tanz im Dada-Raum – oder scheitert flachweg. Danach erklärt der Interviewer (Gusowski) sie für gelungen und lädt zur nächsten Folge mit der Retro-Phrase »wenn es wieder heißt«.13 Derweil ist die Ausstattung auf dem Niveau eines Laubenpiepersketches, die Sprache ostentativ ungeskriptet und verzögert, die Pointensetzung betont unspitz. Das Ganze wirkt tastend und tapsig, an Ausdrucksmitteln, an Ressourcen 12 | Ebd., S. 66. – O święćimski: Klub Kiełboludów, S. 55: »[…], bo formy, które przybiera, są kszałtami metaforycznymi, pseudoformami – przypadkową konstelacją semantyczną i architektoniczną. W poezji zlewnej urzeczywistnia się zatem najpełniej – pierwotnie istniejące w poezji ludycznej i zabawie, lecz zagubione w kulturze – zespolenie estetyki i egzystencji.« 13 | Auf YouTube finden sich inzwischen mehr als fünfzig »Gespräche«. Sie werden von Mordel und Gusowski seit 2008 meist in Berlin aufgezeichnet und hochgeladen. Im Schnitt gibt es zwischen 200 und 1.000 Zugriffe. Mittlerweile wechseln die Interviews auch zwischen Polnisch und Deutsch.
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und zuweilen Witz limitiert. Indes kann der Zuschauer faktisch nicht entscheiden, ob das Versager-Paar floskelverseuchte Prominenteninterviews persifliert – oder die Persiflagen floskelverseuchter Prominenteninterviews persifliert. Der Kurzvorstellung des »Gastes«, stets Mordel, durch Gusowski folgt in der Standardchoreografie die Frage, wo man sich befinde, was der Zuschauer im Hintergrund sehe, woraufhin der Interviewte eine hanebüchene Lokalisierung vornimmt. So sitzt Gusowski mit Mordel als Dieter Kosslick vor dessen neuem Berlinale-Palast – einem windschiefen Anbau auf einem Hinterhof. Mit Darth Vader spricht er im Maschinenraum des vaderschen »Firmen-spaceship« – einem Heizungskeller. Reinhold Messner (»Mässner«) antwortet auf dem Gipfel des Himalaya: einer verschneiten Berliner Parkanlage; im Hintergrund stapfen Spaziergänger durchs Bild. »Energiebaron« Tomasz Omietański zeigt auf sein Berliner Kernkraftwerk – das Zeiß-Großplanetarium an der Prenzlauer Allee. Ähnlich verhält es sich mit den Gastfiguren: Bekannte Namen werden verballhornt oder mit einer neuen Rolle ausgestattet, beziehungsweise absurde Kunstfiguren erhalten einen berühmten Namen. Bedřich – hier in der polnischen Schreibung Bedrzych – Smetana ist »Bergbauspezialist« und brüstet sich, Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Lichtenberg erbaut zu haben. Das Etikett Willy Wonka, in der realen Fiktion exaltierter Besitzer einer Schokoladenfabrik, 2005 gespielt von Johnny Depp in Charlie and the Chocolate Factory, heften Gusowski-Mordel einem biederen Berlinale-Mitarbeiter an, Brandschutz- und Frauenbeauftragter in Personalunion, der sämtliche Festivalfilme ansehen und die derweil auswärts Latte macchiato trinkende Jury entsprechend beraten muss. Wo Name und öffentliche Rolle in etwa übereinstimmen, entfaltet der interviewte Piotr Mordel zuverlässig eine groteske Geschichte, mal satirisch, mal einfach nur kalauernd. So plant sein Karl Dedecius, richtig vorgestellt als Übersetzer, die Gründung einer Sprachschule mit Hauptsitz in Tropical Islands, einer künstlichen Tropenwelt mit Sandstrand bei Berlin. Dort wolle er »rechtsextreme junge Erwachsene und infantile Alte« in englischen, russischen und polnischen Schlachtrufen unterrichten, da das Brüllen verfassungsfeindlicher Parolen auf Deutsch verboten worden sei. Der in Chile forschende Mirosław Kopernikus berichtet, er schütze die Erde vor Bedrohungen aus dem All, und warnt namentlich vor einer Riesenkartoffel, die mit Lichtgeschwindigkeit auf die Erde zurase und mitten ins Internet einschlagen werde – und spielt auf den »Spitznamen« der Gebrüder Kacziński an. Ein zentrales Leitmotiv schließlich ist die Polonität. Beide, Journalist Gusowski und Interviewpartner Mordel, sprechen deutsch mit polnischem Akzent. Die Gäste sind überdurchschnittlich oft Polen.14 Daneben tut sich ein Panoptikum an Kunstfiguren auf. Der Kommunikationsdesigner Piotr Slavny etwa, vorgeblicher 14 | Außer den bereits erwähnten kommt etwa der Jazz-Trompeter Tomasz Stańko in die Sendung, oder Graf Atanazy Raczyński, polnischer Graf und preußischer Diplomat, in dessen Besitz sich einst das Grundstück befand, auf dem das Reichstagsgebäude
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Erfinder der Berliner Social Marketing-Kampagne Be Berlin, oder der Millionär Jozef Skorniak, »reichster Mann der Ackerstraße«, der »in Leergut investiert«: Er kauft Bierflaschen auf. Dr. Bartek »Psycho« Kempinsky, Leiter der Außenstelle der Polnischen Akademie der Wissenschaften für Psychologie und Sport, arbeitetet als Dopingentwickler im Feld des »Psychodoping«. Sein Kollege Dr. Sebastian Apostel sitzt in OP-Kittel und Mundschutz vor einer Münztoilette alias »urbanen Schönheits-OP-Box«, die die kosmetische Chirurgie in Deutschland revolutionieren und dramatisch verbilligen soll. Es sind diese Charaktere, die den Polnischen Versagern das freieste, oft das feinste Spiel mit der Groteske erlauben. Wie die Orte vorgeben, etwas anderes zu sein, meist etwas Größeres, Schöneres, Beeindruckenderes, als sie sind, berichten Mordels Gast-Figuren von unglaublichen Erfolgen und noch abstruseren Plänen – Vertreter eines unterschätzten Volks von Weltrang, über deren geniale Einfälle und phantastische Erfindungen Interviewer Gusowski routinemäßig staunt. Der stereotype Topos vom polnischen nationalen Größenwahn wird ironisch gespiegelt auf biografische Selbstüberschätzung. Deren Absurdität freilich bleibt stets sympathisch, eine Koketterie mit dem Verrückten, eben nicht (Deutsch-)Perfekten – wie umgekehrt das immer wieder unter falschen Etiketten eingeblendete Berlin aus seiner oft angestrengten Metropolenambition auf den Boden der schäbigen Tatsachen gebracht wird. Tiefer indes nicht: Die Ästhetik der Gespräche zwischen Amateurismus, Dada, Surrealismus, Trash und Anti-Schönheit bedient sich ausgiebig im Arsenal des Underground – auf dessen schmerzhafte Effekte, die krasse, verstörende Geste zur Markierung eines existenziellen Skandals zielt sie nicht ab. Damit wirft die Nähe der Verfahren die Frage auf, inwieweit hier nicht eher eine Verallgemeinerung des Affronts von gestern zur verfügbaren Konvention von heute vorliegt, ein hilfloses Hantieren der Erben mit stumpf gewordenen Waffen. Anders gefasst: Der Club der Polnischen Versager ermöglicht es, die eingangs im Buch zitierte These Jáchym Topols von der Unmöglichkeit eines Underground im postideologischen Zeitalter noch einmal neu zu wenden. Der wohl berühmteste Pole, den Mordel und Gusowski zu Wort kommen lassen, ist Lech Wałęsa. Vor einem musealisierten Abschnitt der Berliner Mauer, die diesmal als das vorgestellt wird, was sie ist, äußert der Widerstandsheros in monotoner Sprachschleife neunmal innerhalb von drei Minuten: »Alles begann in Danzig!« Die Auflösung kommt im letzten Gesprächsviertel: »[…], wo ich eine Autobahnbau-Firma gegründet habe.« Dazu, erklärt Wałęsa, habe er (!) Deutschland vereint und die Mauer gestürzt, um Betonschutt für seine Straßen zu gewinnen. Sollte der Bau sich verzögern, werde, versprochen, die Mauer selbstverständlich »eins zu eins« wieder hingestellt.
errichtet wurde. Da Raczyński seit über hundert Jahren tot ist, wird er liegend in seiner Familiengruft – abermals ein Keller – interviewt.
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Das Stück wurde im Herbst 2009 gedreht und spielt an auf die auch in Berlin präsente Kampagne der polnischen Regierung »Es begann in Danzig«15 vom selben Jahr, mit der zum 20jährigen Jubiläum des Mauerfalls Polens Vorreiter- und Schlüsselrolle für den epochalen Umbruch von 1989 ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden sollte. Zu Beginn und zum Ende informiert ein Lauf band am unteren Bildrand: »20 Jahre Mauerfall. Eine Sondersendung des ARD-Hauptstadtstudios und der Polnischen Welle Deutschland mit Lech Walesa [sic!].« Die Satire erhält einen zusätzlichen surreal-persiflierenden Dreh, indem Mordel und Gusowski das Gespräch auf Deutsch führen, diese originale Tonspur aber nur herabgeregelt im Hintergrund laufen lassen, während beide den exakt selben Text in Studioakustik und mit den leichten, tastenden Verzögerungen einer Simultanübersetzung darübersprechen, einschließlich einer für ein deutsches Publikum erläuternd gemeinten Fehlaussprache »Herr Wałęsa – Herr Walesa«. Indem die Folge bei durchgehaltener »Nonsens-Poetik«16 die formale Journalismus-Imitation noch einmal forciert sowie das Stilprinzip der Wiederholung (»Alles begann in Danzig«) inkorporiert, bringt sie die Reihe gleichsam auf den Punkt. Da ist zunächst die doppelte Sinnvernichtung durch wörtlichen Non-Sens und Wiederholung. Konsequent serialisiert, wahren die Gespräche ihre stets gleiche Struktur aus Vorstellung des »interessanten Menschen«, Pseudolokalisierung, Interview als Gesprächsverweigerung oder Aberwitz samt der Kluft zwischen Aussage und Optik, Verabschiedung des Gasts mit guten Wünschen und Einladung des Zuschauers zum nächsten Interview. Bleibt das einzelne Gespräch ästhetisch belanglos, so summiert sich die Reihe insgesamt zum hochkondensierten Abbild einer Nachrichten- oder Talk Show in ihrer Ritualfunktion und banalisiert eben dieses Ritual, unterläuft den selbstreklamierten Status von Fernsehen als demokratischem Informationsmedium. In sich sinnfrei, generiert es nurmehr Pseudosinn mittels öffentlich-medialer Autoritätsanmaßung. Die Prätention der Sachgemäßheit, die Nachrichtensendungen als Genre eingeschrieben ist, wird als fetischisierte Illusion ausgewiesen. Zugleich erzeugt die verlässliche Zirkelstruktur nicht Monotonie, sondern garantiert Spannung über Variation. Damit bewegen die Gespräche sich in den Parametern eines Minimalismus, dessen Grundidee Brian Eno mit »Wiederholung ist eine Form der Veränderung« zusammenfasste.17 Dem entspricht nicht zuletzt die spärliche Ausstattung mit readymades und Platzhaltern, wenn zum Beispiel eine x-beliebige Perücke August den Starken signalisiert. Dem entspricht 15 | Ursprünglich war offensichtlich der auch im Film verwendete Slogan »Alles begann in Danzig« vorgesehen: www2.polskieradio.pl/zagranica/il/news/artykul97601.html (Letzter Zugriff: 02.05.2012). 16 | H elbig -M ischewski /G raszewicz : »Blödsinn begeisterte Berlin«, S. 316. 17 | B rian, Eno zit. nach Ross, Alex: The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören. München-Zürich 2009, S. 562.
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zugleich aber auch die rhetorische, stark reduzierte, langsame Sprechweise, die stillen Instrumentals in Vor- und Abspann. Die Komik entsteht dann aus dem befreienden Spannungsverlust, wenn die Abweichung eintritt. Darüber hinaus korrespondiert die minimalistische Anlage mit einem vom Underground vielfach aufgegriffenen, weiterentwickelten und resignifizierten Motiv: dem des Flaneurs. Aufs Ganze der Reihe besehen, lassen sich die Gespräche als eine auf Vier-Minuten-Formate gebrachte Neufassung des Flanierens lesen. Auch Gusowski und Mordel bewegen sich beobachtend durch eine Stadt und lassen sie dergestalt in spezifischer Deutung entstehen – nur dass nicht die Bewegung gezeigt wird, sondern der »Halt« an immer neuen Orten. Gleichwohl bewirkt diese Gangart des Sprungs ein deutlich weniger ausgeprägtes Gefühl der Diskontinuität oder Zersplitterung als etwa Andrzej Stasiuks qua Sprache zerfetztes Warschau. Dafür eröffnet das Medium Film eine ganz eigene Form der Entortung durch die erwähnte Text-Bild-Schere und die Fehldeklaration des Gezeigten. In etlichen Fällen bewirkt das eine eigenwillige Verwebung und Entgrenzung, die sich in Beziehung zu Roland Robertsons Terminus glocalization setzen und als ein glokales Stadt-Heimatbild begreifen lässt.18 Den Bezeichnungen geht es wie den zugewanderten Akteuren des Verfahrens: Sie werden aus Kontexten in aller Welt gerissen und in einen Berlin-Text inseriert, der dadurch selbst ein anderer wird – ein ultimativ von den Einfügungen angeeigneter. Ein Vorgang, der etwa bei Jáchym Topol tragisch-dystopisch verhandelt wird, kommt hier beiläufig komisch und minimalistisch gelassen daher. Der Widerspruch liegt dem Zuschauer zutage, berührt indes die Protagonisten nicht – wohl aber die behauptete Stadt. Deren verbale Ausblendung hinter Rekursen auf globale Metropolensignale (der »Eiffelturm«) beziehungsweise deren Einblendung in Glanzversprechungen (ein Keller für ein Raumschiff) lässt Berlin im Kontrast kleinstädtisch, ja provinziell, allemal gewöhnlich und durchaus beliebig erscheinen. Auch darin der Underground-Praxis folgend, präsentieren Mordel und Gusowski sich selten vor Berliner Haupt- und Symbolorten, bevorzugen das Alltägliche, Schäbige – Heterotopien von Michel Foucault und Nicht-Orte (non-lieux) im Sinne Marc Augés. Bezeichnet Ersteres anti-utopische Räume, deren internes Ordnungsprinzip sie zum Anderen der Gesellschaft macht (hier: Friedhof, Pissoir, Keller, Gruft, Kammer), so meint das Zweite symbolisch schwach markierte Orte, oft von eher transitorischem Charakter, die wenig identitätsstiftend und geschichtsbindend wirken – die namenlosen Straßen etwa, auf denen etliche Gespräche stattfinden, die unwohnlichen Wohnungen mit Überputzleitungen, Rohren und alten Waschbecken, abblätternder Tapete und bröckelndem Putz.
18 | Robertson, Roland: »Glocalization.« Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity. In: Global Modernities. Hg. v. Mike F eatherstone , Scott L ash u. Roland Robertson . London 1995, S. 25-44.
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Abermals jedoch stechen ästhetische Verfahren und Effekte umso dramatischer von denen des klassischen Underground ab. Die Form ihrer Aneignung generiert weder aus dem ärmlichen Ruin noch der außersozialen Markierungsund Bedeutungslosigkeit der Orte ein Erschrecken oder gar eine Anklage. Mehr noch: Ihre Fehlansprache als etwas Größeres, Bedeutendes transportiert ein Hoffnungsgefühl, so als könne ja noch etwas daraus werden – wie aus den aberwitzigen Ideen mancher Gesprächspartner. Ein Hoffnungsgefühl, wohlgemerkt: keine Hoffnung. Um mit Pierre Bourdieu zu sprechen: Das Fernsehen ist ein »phantastisches Instrument zur Aufrechterhaltung der symbolischen Ordnung«,19 dessen »symbolische Gewalt, [...] sich der stillschweigenden Komplizität derer bedient, die sie erleiden«.20 Fernsehen weckt also gute Laune im eigentlich lamentablen Dasein. So medienkritisch die Gespräche sich deshalb wie oben unternommen lesen lasen, so sehr greifen sie doch die Unterhaltungsstruktur des Fernsehens auf. Über die Jahre also leisten die Interviews als Gesamtkunstwerk eine veritable Durchquerung des städtischen Raums – machen die Stadt Berlin zu ihrem diskursiven Raum. Was hier zunächst einmal wörtlich verstanden sein soll, nicht von discourse ausgehend, sondern von discurrere. Wolfgang Müller-Funk hat in einem Vergleich von Thomas Bernhards Gehen aus dem Jahr 1971 und Barbi Markovićs Bernhard-Parodie Ausgehen (Izlaženje) von 2006 auf die Konnotationen »etwas durcheilen«, »etwas durchstreifen« hingewiesen und discurrere beschrieben als eine »Form der Bewegung, die durch ein bestimmtes Diskursregime kanalisiert, geregelt und unterworfen wird«.21 So auch die Polnischen Versager, die auf ihrem virtuellen Großspaziergang ein Gesprächsnetz über Berlin legen. Das wiederum macht die Gespräche zum Teil einer diskursiven Praxis im Sinne Foucaults: Sprache wird an einen Ort gebunden, der mal eine Institution sein kann, mal ein Denkmal, ein Schuppen, ein Feld oder eine Straße – und der in verschiedenen Berlin-Diskursen sehr unterschiedlich stark ausfällt. Je nachdem unternehmen die Gespräche dann eine potenziell diskursaushebelnde Neumarkierung oder inszenieren als Diskurssetzer die lokale Erstansprache. In beiden Fällen handelt es sich um rein chimärische Unbotmäßigkeiten, denn der eigentliche Ort, um den es geht, sind denn auch die Gespräche selbst: Sie bilden in sich eine Heterotopie. Ihre Klientel ist der eingeweihte Zuschauer, der die Filme auf You Tube betrachtet, eben in einem anti-utopischen Raum, der ein internes Ordnungsprinzip und einen eigenen Zeitlauf besitzt, technisch offen, semantisch isoliert ist. In diesem Raum nun geht es immer wieder um ein Motiv, das bereits mehrfach angeklungen ist, nun aber genauere Betrachtung verdient: um Exotik. 19 | B ourdieu, Pierre: Über das Fernsehen. Frankfurt am Main 1998, S. 20. 20 | Ebd., S. 21. 21 | M üller -Funk , Wolfgang: Kontext, Intertextualität und Übersetzung. Thesen und Hypothesen samt einer exemplarischen Analyse: Thomas Bernhards Gehen, Barbi Marković’ Izlaženje. In: Literatur im Kontext. Ein gegenseitiges Entbergen. Hg. v. Herbert Van Uffelen. Wien 2010, S. 143-162.
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N icht -P rovok ation Wenn Dirk Uffelmann dem Club der Polnischen Versager bescheinigt, seine »künstlerische Strategie geht über die Selbstimmunisierung hinaus; sie mausert sich zu erfolgreichem Kulturmanagement«,22 dann hat er weniger die konkrete Kunst der Versager vor Augen als das Meta-Konzept des Clubs selbst. Es mag Zufall gewesen sein, dass sich der Club unweit der »Tanzwirtschaft Kaffee Burger« ansiedelte, einem unter dem Motto »Prenzlauer Berg jetzt auch in Mitte« von Akteuren der dortigen Szene übernommenen Lokals in der Torstraße.23 Im Burger hielt Wladimir Kaminer, laut Selbstbeschreibung »privat ein Russe, beruflich ein deutscher Schriftsteller, ist er die meiste Zeit unterwegs«,24 regelmäßig Lesungen und legte zur »Russendisko« auf. Die räumliche Nähe erwies sich zugleich als eine strukturelle der aufmerksamkeitsökonomischen Strategien und Metaebene des ästhetischen Verfahrens: Bei Kaminer wie den Polnischen Versagern stellen sie ab auf gezielte Selbstexotisierung. Als der Club der Polnischen Versager gegründet wurde, geisterte durch die deutsche und polnische Presse, dass die »slawische Seele« Einzug nehme in das kühl-kalkulierende Berlin, dass die »Barbaren aus dem Osten« den »Preußen« Melancholie und Zweifel in ihren Leistungs- und Perfektionswahn streuen würden.25 Später wurde dem Club ein »typisch polnischer« Humor attestiert, dem das deutsche Publikum weitgehend irritiert gegenüber stehe, wie Brigitta Helbig-Mischewski feststellte: Dieser Humor sei »in der deutschen offiziellen Kultur (Interdiskurs) immer noch schwer vermittelbar, ungleich schwerer als die Attraktivität der ›slawischen Seele‹«.26 Feuilleton, Kritik, teils auch akademische Auseinandersetzung reproduzierten und produzierten eine Stereotypenkette, die die Rezeption des Projekts in eine zumindest stark formatierte Richtung lenkte. Womit sie dessen ethnokulturelle Semiotik weniger erörterten als übernahmen. 2003 gab Adam Gusowski seinerseits der Berliner Zeitung ein Interview. Auf die Frage, was denn Versagen meine, antwortete er: »In der polnischen Märchenliteratur hat der Schwächere am Ende das Glück. So ist es ja auch im russischen Märchen, Iwan ist der jüngste Bruder von dreien, dumm, ungeschickt und ziemlich trottelig.«27 Ein Hinweis auf slawische Traditionsbestände, der zum einen 22 | U ffelmann: Selbstorientalisierung, S. 170. 23 | Dazu siehe: www.kaffeeburger.de (Letzter Zugriff: 10.06.2014). 24 | Dazu siehe: www.beta.russendisko.de/de/russendisko/ueber-uns/wladimir-kaminer (Letzter Zugriff: 10.06.2014). 25 | Zusammenfassend zu den Reaktionen siehe Helbig -M ischewski/G raszewicz : »Blödsinn begeisterte Berlin«, S. 316-320. 26 | Ebd., S. 321. 27 | Zitiert nach einem Interview mit Oświęcimski und Gusowski, das Anita W ünschmann führte: »Das gelang nicht, jenes gelang nicht. Was du auch anfasst, es gelingt nichts. Nichts gelingt.« In: Berliner Zeitung v. 04./05.01.2003, S. 4-5.
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übersieht, dass die Apologie des Unterlegenen kein Merkmal des russischen oder polnischen Märchens ist, sondern des Genres. Kein ethnisches, sondern ein narratologisches Phänomen. Märchen jeder Kultur kennen den Sieg des Versagers. Genau zu sein, kann der tröstliche, zugleich Demut einfordernde und Hoffnung spendende Überraschungseffekt der Machtverkehrung, die Kunde vom Sieg des Kleinen und Unterschätzten über den Gewaltigen als ein Charakteristikum des Märchens überhaupt gelten. Zum anderen verwandelt der ethnostereotype Märchenrekurs sich eben die moralische Überlegenheitsbehauptung an, die im Märchen dem Kleinen, scheinbar Naiven, dabei mit reinem Herzen tiefer Blickenden eignet. Und überspielt eine Geschichte des Erfolgs wie die ihr zugrunde liegenden Mechanismen. Denn eine künstlerische Erfolgsgeschichte ist der Club, so wie die anderer begabter Migranten zumal seit 1990. Für Deutschland kommen unmittelbar die in Ungarn geborene Terézia Mora in den Sinn, die Tschechin Libuše Moníková, der in Bosnien herangewachsene Saša Stanišić, der aus Bulgarien stammende Ilija Trojanow, die Japanerin Yoko Tawada, natürlich Wladimir Kaminer oder Feridun Zaimoglu. Vielfach im Kindesalter nach Deutschland gekommen oder zweisprachig aufgewachsen, haben sie die zeitgenössische deutsche Literatur mitgeprägt. Hans-Peter Kunisch hat das Phänomen früh und aggressiv, dabei zugleich luzide und unanalytisch in der Süddeutschen Zeitung kommentiert. Der Erfolg dieser Autoren rühre nicht zuletzt aus der »romantisch-exotischen Schlagseite« ihrer Lebensläufe, die so gar nichts mit dem deutsch-autochthonen Leiden an der »eigenen schäbigen Biografie« zu tun habe: Die »interessante« Biografie wird, in den Zeiten der Schicksalslosigkeit des lesenden Mittelstands, neben dekorativer Visage zum medientechnisch wichtigsten Text junger Schriftsteller. Ausländer, die aus den »spannenden« Regionen kommen, in denen noch Geheimnisvolles geschehen könnte, haben da einen Standortvorteil. 28
Von der unfreiwillig komischen Fehlleistung »Standortvorteil« abgesehen, dürfte der grundlegende Irrtum in der an tradierte Aversionen gegen »Mediokrität«, »Mitte« und »(Klein-)Bürgertum« gemahnenden Annahme einer »Schicksalslosigkeit des lesenden Mittelstands« liegen – wobei wohl Mittelschicht gemeint ist oder Virginia Woolfs Kinder of educated men. Vielmehr scheint das Schicksal dieses Milieus ein Movens der zu beobachtenden ästhetisch-poetologischen Verschiebung auszumachen, die unter anderem der Rede von einem Ende des Underground Plausibilität verleihen könnte. Zum zweiten sind die Waschzettelviten von Autoren »mit Migrationshintergrund« im Kontext einer Literaturbewerbung zu relativieren, die allgemein mit 28 | K unisch, Hans-Peter: Eine Ankunftsliteratur anderer Art. Der selbstbewusste Auftritt der neuen Ausländer in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Süddeutsche Zeitung v. 22.03.2000, LIT 1.
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»interessanten« Marginalitätserfahrungen operiert, sei es als »Möbelpacker« (Clemens Meyer) oder »Beleuchterin in einem Off-Theater« (Antje Rávic Strubel), von Fernreisen und Auslandsaufenthalten zu schweigen (Christian Kracht). Dennoch liegt in Kunischs Ausfall ein Hinweis, dem sich nachzugehen lohnt. Etliche Protagonisten einer als solcher ausgewiesenen Migrationsliteratur verheißen zum einen Herkunftsländerkunde, zum anderen, Deutschland mit »fremdem Blick« unter die Lupe zu nehmen. Unter den Lupen sitzen diejenigen ohne »romantisch-exotischen« Lebenslauf – und goutieren den Bericht über ihre vertraut-befremdlichen Gepflogenheiten: Ein duplizierter colonial gaze mit einem kräftigen Schuss Narzissmus. Die Außenbeobachter eignen sich das Selbst-Exotisierungsbedürfnis der Beobachteten an, die ihre Beobachter bei hinreichend befremdlicher Befremdung mit einem Literaturpreis bedenken. Heikel wird dieses diskursive Abkommen, wenn es ethno-nationalisierte Rhetoriken zementiert, den minoritären Ort des Anderen und dessen Rollenfunktion im Produktionsprozess eines durchaus narzisstischen Differenzfetischismus. Wenn es bei Wolfgang Welsch heißt, »Authentiziät ist zum Bestandteil der Folklore geworden,«29 dann wäre zu präzisieren: des Folkloregeschäfts einer naturalisierenden Zuschreibungsindustrie. Birgit Menzel und Ulrich Schmid schreiben über Kaminer im Kaffee Burger: »Kaminer holt seine deutschen Klienten genau dort ab, wo sie mit ihren eigenen Klischees über den Osten stehen.«30 Ähnlich bescheinigt Uffelmann der jüngeren polnischen Migrationsliteratur und namentlich dem Club der Polnischen Versager eine den Diskurs der Majorität parodierend aufnehmende, aktiv betriebene »Selbst-Asiatisierung« oder »SelbstBarbarisierung«.31 Sein Fazit: Für Erfolg und dessen Ausbleiben mag größere oder geringere literarische Qualität eine Rolle spielen, doch sollte man sich hüten, diesen Nexus zu verabsolutieren; wie die Erfolgsgeschichte des Versager-Clubs zeigt, gibt es bestimmte Konjunkturen für paradoxe Selbstnegativierungen. 32
29 | Welsch, Wolfgang: Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen. In: Information Philosophie 2 (1992), S. 5-20, hier 11. 30 | M enzel , Birgit/S chmid, Ulrich: Der Osten im Westen. Importe der Populärkultur. In: Osteuropa 5 (2007), S. 3-21, hier 20. – Siehe zu Kaminers Prosa auch H ausbacher, Eva: Zwischen Kosalik und Kafka: Vladimir Kaminer – ein russischer Star der deutschen Literatur. In: D ies.: Poetik der Migration. Transnationale Schreibweisen in der zeitgenössischen russischen Literatur. Tübingen 2009, S. 247-280. – Wanner, Adrian: Wladimir Kaminer: A Russian Picaro Conquers Germany. In: The Russian Review 64 (2005), S. 590-604. 31 | U ffelmann, Dirk: Konzilianz und Asianismus. Paradoxe Strategien der jüngsten deutschsprachigen Literatur slavischer Migranten. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 2 (2003), S. 277-305. 32 | U ffelmann: Selbstorientalisierung, S. 177.
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Abermals ist einordnend zu relativieren. Stellt man Funktion und Logik des Topos »Ethnie« für den Moment auf die Seite, erscheint der Club der Polnischen Versager als ein lokalkulturelles Label unter vielen. Er fügt sich in eine Landschaft »polyzentrisch organisierter Archipele und Allianzen lokaler Szenen«, wie sie Susanne Binas aus musikwissenschaftlicher Perspektive unter dem Begriff soundshifts für praktisch alle europäischen Metropolen konstatiert. Binas zufolge koexistieren und interagieren die verschiedenen Musikszenen längst, sind an die Stelle eingeschworener Anhängerschaften getreten, die sich mittels eines über Jahre akkumulierten Gruppenwissens definieren. Sie sind Akteure mit multiplem Orientierungsvermögen und in einem flüchtigen Nachtleben. Während stetig Clubs und Labels entstehen, expandieren, eingehen, wiedereröffnen, mischen sich Richtungen, Stile, lokale und regionale und globale Sounds. Die Grenzen sind fluid, heben sich auf. Die Dance-Kultur pflegt denn auch einen »emphatischen Begriff vom Transkulturellen und Hybriden«.33 In dieser Realität operiert auch der Club, der ja nicht nur ein polnischer, sondern vielleicht sogar mehr und spezifischer noch ein Berliner ist. Wobei das Geschehen in der Tor- beziehungsweise Ackerstraße und die ortsfreie Produktion nicht zu trennen sind. In einer theoretisch und empirisch aufmerksamen Betrachtung stellt Christian Höller zwar fest, dass die »weitläufige Geografie flottierender ›Pop Imageries‹ [...] topografisch einer zunehmend technisierten CyberWelt eingeschrieben«, jedoch »stets auch an manifeste individuelle Schauplätze gebunden« ist.34 Dieses Sicheinschreiben in den und Mitschreiben am Stadttext Berlin, das oben bereits unter dem Stichwort »Glokalisierung« angesprochen wurde, sei hier noch einmal aufgegriffen. Mordel und Gusowski arbeiten ausgiebig und intensiv mit den Zeichensätzen »Berlin« und »Polen versus Deutschland«. Zumal Ersterer ist indes für ihre Rezipienten kaum mehr anders als globalisiert zu verstehen. Entsprechend produzieren, reproduzieren und unterlaufen die Versager in ihren »schizonationalen« Veranstaltungen, so der Werbetext zur Leutnant-Show, zwar nationale Stereotype am laufenden Band – beschränken sich aber bei Weitem nicht auf deutsch-polnische Topoi. Vielmehr beziehen sie insbesondere Fernsehproduzenten, Filmstars, Musiker und Sportler aus aller Welt ein, also das ubiquitäre, unbedingt (auch) zu Berlin gehörige Personal und Chiffrenfeld einer globalen Populärkultur. Im Anschluss an diese wählen sie immer wieder Inszenierungen, für die Brigitta Helbig-Mischewski zweifelsohne treffend analysiert, sie hyperbolisierten Gefühle der Erniedrigung und Degradierung, denen sich Migranten aus Ost33 | B inas, Susanne: sound-shifts. Kulturelle Durchdringung als Voraussetzung und Resultat der Schaffung von bedeutungsvollen Unterschieden und Differenz. In: Popkulturtheorie. Hg. v. Jochen B onz . Köln 2002, S. 64-76, hier 70-72. 34 | H öller, Christian: Leben in, mit, durch und trotz Pop. Immersion, Entgrenzung, Refokussierung und Überdruss als Umgangsformen mit der gegenwärtigen Popkultur. In: Ebd., S. 77-93, hier 90.
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europa in Deutschland ausgesetzt sehen. Auch ist ihr darin zu folgen, dass die »Transformation der Erniedrigung« in der jüngeren polnischen Migrationsliteratur über eine »imaginäre Radikalisierung eigener Andersheit« hin zu einer ins Kosmische, Metaphysische getriebenen verläuft. Die eigene Fremdheit wird auf exotisierte Phantasiewesen, den klassischen alien übertragen, in dem sich die ursprünglich konkrete Verschiedenheit ins Universal-Menschliche aufhebt, in die anthropologische Grundkonstellation des in eine feindliche Umwelt (und eben nicht nur ein abweisendes Umfeld) geworfenen Individuums.35 Die Pointe jedoch besteht darin, dass stark analoge Mechanismen von Diedrich Diederichsen für die afro-amerikanische Community der 1950er Jahre als Zusammenhang von Rassismus, Diasporaerfahrung und der Produktion von Nomadologie-Kitsch, Science Fiction und Pop-Musik beschrieben worden sind.36 In ihrem Aufschwung sei die »moderne Exzentrik« unter Harlems Boheme immer wieder auf ihr Schwarzsein zurückgeführt worden – statt auf die jeder Avantgarde-Bewegung inhärente Exzentrizität. Lernte der eine Künstler, sich mit dem Stereotyp abzufinden, so der andere, mit ihm als einer Ressource zu spielen. Letzterer, bei Diederichsen der Exzentriker, »operiert sozusagen in einer Schwarzen zugeordneten Rolle, die er sowohl für das weiße wie für das eingeweihte schwarze Publikum auf unterschiedliche Weise zu unterlaufen versucht, ohne sich leisten zu können, die Überzeugungskraft einer seiner Rollen wirklich zu gefährden«.37 Ähnlich der Club der Polnischen Versager, der in allen oben besprochenen Hinsichten Ethnisierung in seine ästhetischen Strategien einbindet – mit der Folge, dass die Club-Aktionen nicht als popkulturelle Bezugnahmen, die sie vor allem sind, gelesen werden, sondern als polnisch essenzialisiert und als Topos konventionalisiert. In erster Linie jedoch handelt es sich – auch bei dem vermeintlich »polnischen« Humor – um ein Berlin-glokales Konzept von Pop. Der Club hat sich ganz treffend benannt: »Polnisch« ist bloß ein Attribut. Den Kern seiner Kunst bezeichnet das Hauptwort »Versager«. Der Underground kalkuliert soziales Scheitern ein, das Versagen im bürgerlichen Blick und überhöht es gar. Schließlich lehnt er den gesellschaftlichen Oberbau grundsätzlich ab und nimmt seine eigene Exklusion hin, ja geht von ihr allererst aus – auch wenn schließlich die meisten seiner systemoppositionell 35 | H elbig -M ischewski, Brygida: Penis v opałach. Doświadczenia kastracji i strategie odzykiwania mocy w literaturze kilku migrantów polskich w Niemczech [Penis in der Klemme. Kastrationserfahrung und Strategien zur Rückgewinnung von Macht in der Literatur einiger polnischer Migranten in Deutschland]. In: Teksty Drugie 6 (2009), S. 160-173, hier 172. 36 | D iederichsen, Diedrich: Verloren unter Sternen. Das Mothership und andere Alternativen zur Erde und ihren Territorien. In: Loving the Alien. Science Fiction, Diaspora, Multikultur. Hg. v. D ems. Berlin 1998, S. 104-133, hier 120-121. 37 | Ebd., S. 114: »Dieselben Eigenschaften, die jeden anderen Künstler als typisch avantgardistisch kennzeichneten, galten bei schwarzen Avantgardisten als typisch schwarz.«
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gemeinten Ästhetiken vom Mainstream absorbiert wurden. Derweil speist sich die regenerative Kraft, immer neue Poetiken der Randständigkeit ins Feld zu führen, aus einem fundamentalen Unbehagen am sozialen So-Sein, aus einer Unhinnehmbarkeit der vertikalen Exklusion als epochalem Skandal, dem nicht eingelösten Versprechen der Moderne. Immer voraussetzend, dass diese selbstexklusive Skandalisierung des Gegebenen wohl abgelehnt, vielleicht nicht begriffen wird – der Fehdehandschuh aber als solcher verstanden wird. Der Versager-Begriff des Clubs ist anders gelagert. Als das Projekt mit launiger Unkorrektheit am 1. September 2001 um 5 Uhr 45 antrat, wurde die slawische Auflockerung des preußischen Perfektionismus vergnügt willkommen geheißen. Zu dem Zeitpunkt waren Rock & Pop bereits musica franca von Downing Street bis Zehlendorf und war »Kanak Sprak« etabliert als Teil einer Differenzindustrie des »Mainstreams der Minderheiten«.38 In Berlin waren 30.000 polnische Bürger gemeldet,39 Illegale und Naturalisierte nicht gerechnet. Die meisten davon setzten eher auf Arbeit und Qualifikation als auf ihr »Nationalgenie«. Die Auto- und Heterostereotypen der Versager waren von Beginn an chimärisch, sentimental gegen einen Popanz begehrend. Der Club behauptet Subversion, indem er längst historische Klischees ausspielt. Sie verfangen, weil sie einer entsicherten Gesellschaft Normalität vermitteln und das ethnokulturelle Narrativ so anheimelnd retro daherkommt. Im Jahr 2000 schrieb der Club sein Motto, das nochmals abschließend aufgegriffen werden soll: Unsergleichen gibt es nicht viele in der Stadt. Ein paar nur, vielleicht einige zehn. Der Rest, das sind Menschen des Erfolgs, kühle und kaltblütige Spezialisten […]. Wir lassen den Terror der Vollkommenheit jener Anderen über uns ergehen. Ihre Gegenwart schüchtert uns ein. Denen ist es nur recht so, denn sie leben in der Angst, das Schaffensmonopol, das sie für sich reklamieren, zu verlieren. 40
Nichts an diesem Programmsatz stimmt – zudem war er eben wegen seiner larmoyanten Unwahrheit im damaligen Milieu um die Torstraße ausgesprochen zustimmungsfähig. Wenn hier von einem Versagen die Rede sein kann, dann von einem ästhetischen: Das Verhältnis des Clubs der Polnischen Versager zum Underground erweist sich als poetisch parasitär. Wäre zuletzt zu fragen, ob es sich um Pop handelt, etwa im Sinne Christian Höllers, der eine Verschiebung von »einem dechiffrierenden Umgang mit Pop auf einer Art Metaebene hin zu einem eher reflexiven Umgang auf inszenatorischer Ebene« beobachtete. 41 38 | Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Hg. v. Tom H olert u. Mark Terkessidis . Berlin-Amsterdam 1996. 39 | Dazu siehe: www.aric.de/interkulturell/polenstatistik.html (Letzter Zugriff: 09.04. 2014). 40 | Polenmarkt, S. 5. Original siehe Fußnote 1. 41 | H öller : Leben in, mit, durch und trotz Pop, S. 83.
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Upgrading, oder Die Entropierung des Underground Unser Projekt ist für mich die Möglichkeit, sich mit falschem Patriotismus auseinanderzusetzen und der materiellen und geistigen Armut Bulgariens zu entledigen. Nicht zuletzt wird dies eine Menge Leute anpissen – und darum geht es mir auch, einen Skandal heraufzubeschwören, vor allem bei uns zu Hause. Es ist eine Geste des Punk, absichtlich primitiv und vulgär, fäkal pubertär.1 E lena J elebova
Das von Elena Jelebova verteidigte Kunstwerk Bulgarien steht für das Upgrading, das »Auftauchen« des Underground im »Oben«, in der Salonfähigkeit, wie sie sich namentlich an politischem Mäzenatentum ablesen lässt. Bulgarien war Teil eines größeren, von der Tschechischen Republik finanzierten Werks namens Entropa, das im Januar 2009 im Brüsseler Ministerratsgebäude enthüllt wurde. Jelebovas Beitrag repräsentierte ihr Land als eine Collage türkischer Steh- oder Hockklos. Der Schönheitsfehler: Elena Jelebova gibt es nicht. Aus Anlass ihrer EU-Ratspräsidentschaft hatte die Regierung der Tschechischen Republik bei dem Prager Underground-Künstler David Černý eine Arbeit in Auftrag gegeben, für die Černý 27 Künstler aus den 27 EU-Ländern rekrutieren sollte, um den jeweiligen Landesumriss in einer Skulptur so zu gestalten, dass die Nation nicht nur über die Silhouette, sondern zudem anhand gängiger Zuschreibungen symbolisiert würde. Vor der Realisierung legte Černý dem Außenministerium einen Katalog vor, der Skizzen der 27 Plastiken enthielt, Beschreibungen der einzelnen Projekte, die Namen der beteiligten Künstler und ihre Biografien. Keiner der politischen Auf-
1 | Siehe zur Projektbeschreibung u.a. die Website des Künstlers: www.davidcerny.cz (Letzter Zugriff: 09.04.2014).
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traggeber scheint sich an dem eigenwilligen Titel Entropa gestoßen zu haben oder daran, dass ihr Koordinator ihn kaum weiter erläuterte. Černýs Katalog basierte auf dem politüblichen Euro-Vokabular: Europa stelle dank seiner geteilten Geschichte und Kultur ein vielfältiges Ganzes dar; seine Zivilgesellschaften seien miteinander in mannigfachen Netzwerken verbunden; Staaten und Regionen fügten sich zu einem komplexen Großraum aus tausend Unterschieden, angefangen bei vermeintlichen Kleinigkeiten wie lokalen Essgewohnheiten. Die vorgeschlagene Großplastik beschreibt der Text als EU-Puzzle, das diese Diversität abbilden wolle: eine Installation von 16 mal 16 Metern, ein Europa-Rahmen aus Röhren mit den Länderskulpturen als Puzzlestücken. Würden Teile herausgelöst, verlöre der Rahmen seinen Zweck – ihre Justierung. Die Ausführung wurde genehmigt. Nach der Enthüllung beschwerte sich als erstes Bulgarien über seine Verkloung. Dann monierten die Deutschen, dass ihre Autobahnen an ein Hakenkreuz erinnerten. Auch Polen fand sich in dem Kartoffelacker nicht recht wieder, auf dem vier katholische Priester eine Regenbogenfahne aufrichteten. Schweden war in einem Ikea-Paket verschwunden; Holland in der Nordsee, aus der nur noch eine Handvoll Minarette ragte; auf dem Fußballfeld Italien kopulierten Gli Azzurri mit dem Ball; Litauens barocke Putten pinkelten über die Grenze; das notorisch vereinigungsskeptische Großbritannien fehlte. Zum eigentlichen Skandal aber wurde, dass Černý die 27 internationalen Kollegen nie angesprochen hatte – sondern sich mit befreundeten Künstlern und Kunsthistorikern zusammengesetzt, Namen, Lebensläufe, Skizzen und Projekterläuterungen von A bis Z fingiert hatte. Die Skulptur war keine Repräsentation Europas, sondern eine verballhornende Repräsentation solcher Repräsentationen und ihrer Absurdität. Und es war eine Provokation mit Ansage: Entropa spielt den Begriff gleichverteilter Strukturlosigkeit aus, die sich in geschlossenen Systemen zwangsläufig einstellt, wie er aus den Natur- über die Sozialwissenschaften längst ins Alltagsvokabular gewandert ist und mit Chaos, Sinnverlust, Desinformation verbunden wird: »Jede nicht perfekt isolierte Tasse mit heißem Kaffee, jeder Stern, jede Mikrobe produziert Entropie und müllt das Universum immer mehr damit zu.«2 Natürlich wussten Černý und seine Freunde, dass die »Fälschung« spätestens mit der Enthüllung des Werks ans Licht kommen würde, ja sollte: »We knew the truth would come out. But before that we wanted to find out if Europe is able to laugh at itself. […] We do not want to insult anybody, just point at the difficulty of communication without having the ability of being ironic.«3 Es gab in der Tat schallendes Gelächter, manches Lob, mehr wütende Kritik und am Ende eine kleinlaute Entschuldigung der tschechischen Regierung an 2 | R auchhaupt, Ulf von: Entropie. Zeit, Tod und schmutziges Geschirr. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 03.09.2006, S. 64. 3 | Siehe dazu: www.davidcerny.cz (Letzter Zugriff: 09.04.2014).
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alle Beleidigten. Sie hätte es freilich wissen können: Seit David Černý 1991 berühmt wurde, indem er ein Panzerdenkmal rosa anmalte, hatte er nicht eine politisch schmerzfreie, unironische Arbeit abgeliefert. Gleichwohl haben Černýs Auftragsarbeiten nur noch wenig mit seinen früheren Underground-Aktivitäten gemein. Auch der Entropa-Aktion fehlt der radikale Kern, das Pathos: Sie spielt nurmehr mit glimmrigen Scherben. Wo sie auf vordergründig anstößige, letztlich launige Weise ausstellt, dass Identitätsbehauptungen nicht mehr als Fabrikationen sind oder alberne Klischees, geht ihr die Verzweiflung ab, die den Glutkern der Kunst eines Jurij Andruchovyč oder Andrzej Stasiuk bildet und sie das identitär Lokale aggressiv verteidigen lässt. Damit ist noch einmal ein Phänomen angesprochen, das schon in der Einleitung berührt wurde und mit einem vagen Hinweis auf postmoderne Stilpräferenzen unterschätzt wäre: das Upgrading des Underground oder die mehrfache, sich als eine Doppelhelix vorzustellende Dialektik von subversiven Ästhetiken und der Absorptionsfähigkeit des Mainstream insbesondere demokratischer Marktgesellschaften – einschließlich der Klage über eben diese Vereinnahmungs- und Verwertungsmechanismen aus den jeweiligen Gegenkulturen. Černýs Kunst illustriert und bestätigt Sascha Lehnartz’ eingangs angeführte Beobachtungen. 4 Derweil eint beide Ebenen – die performative und die deskriptive – eine grundsätzlich distanzierte, ironische Haltung: nämlich dass die Moderne in ihrer epistemologischen, ästhetischen und sozialen Aporie aushaltbar sei. Dass ihre Absorptionsfähigkeit genau so wenig zu bedauern oder zu feiern sei wie ihre Tendenz, immer neue Poetiken der Anklage zu ersinnen, mit changierender Inklusion und Exklusion zu hadern. Der Skandal ist erträglich – so er denn überhaupt einer ist.5 Ob man darin nun einen neuen Stoizismus oder blanke Leichtfertigkeit erblickt, allemal lautet die Implikation: Mit der Perzeption ihrer Aporie ist die Konstitutionslogik der Moderne beseitigt, zumindest stillgestellt. Damit aber auch die Phantasie einer gestaltbaren Zukunft und die daraus abgeleiteten Hoffnungen und Ängste, der Mythos des Politischen und nicht zuletzt das spannungsvolle Abarbeiten an Entfremdung, Subjektivität, Inklusion. Vordergründig fügt sich das in die Befunde eines Diedrich Diederichsen: »Das ist immer die Dialektik zumindest von Subkulturen in der Pop-Musik gewesen: Sie hatten seit je ein Begehren nach Mainstream, dem sie die eigene Undergroundigkeit verkauften, womit sie dann anschließend ein Problem bekamen.«6 In einer radikal individualisierten Gesellschaft würden Produkte und Produk4 | Vgl das Kapitel zu E.T.A. Hoffmann. 5 | L ehnartz , Sascha: Global Players. Warum wir nicht mehr erwachsen werden. Frankfurt am Main 2005, S. 127-160. 6 | D iederichsen, Diedrich: Ausverkauf der Seele. Das Ende des Underground. In: fluter. Magazin der Bundeszentrale für Politische Bildung v. 22.01.2003: www.fluter.de/de/sub kultur/thema/1522/ (Letzter Zugriff: 09.04.2014).
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tionsweisen des vormaligen Underground zu einer neutralisiert-normativen Größe – aus dem Begriffspaar Mainstream-Underground leite sich »keine generelle kulturelle Oppositionalität« mehr ab: »[D]iese Unterscheidung [hat] äußerlich, formal gesehen ihre allgemeine Bedeutung als Kulturbeschreibung verloren.«7 Andererseits kommen derlei Betrachtung früheren Überlegungen etwa Peter Bürgers zur Avantgarde mit ihrem Wechselspiel von Emanzipation und Re-Integration recht nah, 8 oder Ilona Schäckels Fazit zur Prenzlauer-Berg-Szene, dass »die einst ›untergründig‹ verankerte Literatur« schon vor der Wende »in den Sog des offiziellen Diskurses« geraten sei.9 Soll heißen, das »Vorbei« mag ebenso gut einen tatsächlich profunden Wandel ansprechen wie selbst – auf nicht-emphatische Weise – in die Tradition der »Klage« gehören. Dem sei hier noch einmal – und teilweise resümierend – ausgehend von Jáchym Topols Bemerkung nachgegangen, dass es mit dem Underground nach der Wende aus sei, er mit der Ablösung repressiver Apparate durch Marktlogiken und -zwänge seine Daseinsvoraussetzung verloren habe. Wobei Topol gerade nach der Wende mit Die Schwester einen Roman vorgelegt hat, der Prag als einen hochvertikalisierten Stadtraum entwirft und in jeder Hinsicht Underground-Ästhetiken fortnutzt. Seine These vom Ende des Underground weist denn auch vier einschlägige Verzerrungen auf. Zum einen übersieht er mit der Genealogie des Underground dessen Verschlingung mit der condition moderne, mit deren konstitutiver Aporie, mit der Subjekt-Objekt-Spaltung, der Kluft zwischen geöffnetem Erwartungshorizont und Erfahrungspotenzialen, dem Aufeinanderstoßen von Inklusionsversprechen und Entfremdung – und deren Gesellschaftssysteme übergreifenden Epochencharakter. Zum zweiten verkennt er die spezifische Aufladung der von ihm selbst forcierten Vertikale-Metaphorik im Kontext des modernen Inklusionsversprechens und unterschätzt damit das Skandalisierungspotenzial von Underground-Behauptungen, solange dieses Versprechen im Raum steht und mit ihm die Phantasie einer gestaltbaren Zukunft, der Mythos des Politischen – wofür es, abermals, keiner »totalitären Diktatur« bedarf, vielmehr jede Moderne hinreicht.10 7 | Ebd. 8 | B ürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt am Main 1974. 9 | S chäkel , Ilona: Sprachgewand(t). Sprachkritische Schreibweisen in der DDR-Lyrik von Bert Papenfuß-Gorek und Stefan Döring. Bremen 1999, S. 43: »Auch jenseits dieser ›bestimmten Szene‹, das mussten die Lyriker vom Prenzlauer Berg ab Mitte der 80er Jahre immer häufiger feststellen, erwiesen sich ihre Sprach- und Tabubrüche von gestern als konsumierbar. Subkulturelle und hochkulturelle Strömungen näherten sich einander spürbar an, Darbietungsformen der Happening-, Performance- und Avantgarde-Kunst fanden ihren Weg in die offiziellen Kulturinstitutionen.« 10 | Martin Pilař schließt seinen Befund zum Underground 1999 übrigens mit der Bemerkung ab, dass dieser offensichtlich in der Lage sei, unter heutigen Bedingungen wei-
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Drittens entgeht ihm folgerichtig das Dilemma moderner gegenkultureller Interventionen: Ihre Sisyphos-Struktur ist keine akzidentielle Korruption, sondern systematisch angelegt, nämlich als Reflexion jener Umstände, auf deren Konstitutionslogik sie reagieren. Als anklagendes Kind der Moderne kann der Underground deren Dynamik nicht entkommen, wird im Einzelnen von ihr bildlich immer neu nach »Oben« getrieben – und erdenkt als Ganzes immerfort neue Ästhetiken des »Unten«. Sein poetischer Anlass ist nicht nur grundsätzlich, sondern zudem autoregenerativ. Viertens schließlich verlässt Topol sich mit seinem Diktum auf einen starken Topos, der einen anderswo schwer zu greifenden Wandel erzählbar macht, bei näherem Hinsehen indes nicht trägt. Gemeint ist das Ende des Blocksystems und damit des autoritären Staatssozialismus – die hier metaphorisch für die Umbrüche gesetzte Wende als vermeintlich singuläre Erfahrung. Ereignisgeschichtlich mag das seinen Sinn haben, in der strukturellen Pointe geht eine solche Exzeptionalisierung »des Ostens« fehl. Zum einen, weil fundamentale Wende- im Sinne von Entsicherungserfahrungen und Versuche zu ihrer Verarbeitung sich auch außerhalb Ost- und Ostmitteleuropas finden. Namentlich die jüngeren Postmodernismus- und Globalisierungsdebatten handeln von nichts anderem. Zum zweiten, weil Absorptionsmechanismen und ihre Denunziation in demokratischen Marktgesellschaften zwar ausgeprägter, jedoch nicht deren Monopol sind. Ein in seiner Individualität metonymisch lesbares Beispiel aus dem hier präsentierten Material bietet Vladimir Makanins Petrovič, wenn er einen vordem zum Underground gehörigen, nun aber arrivierten Schriftsteller beschimpft: […] verdient sein Geld auf dem Buckel unterirdischer Schriftstellerschatten, wie andernorts Geld auf dem Buckel malochender Bergarbeiter verdient wird. […] Er zupft auch hie und da ein Stückchen Kohle aus unserer Haut – sammelt, schabt und schmiert sich ganz schnell seine Hängebacken damit ein, um schwärzer zu wirken und mit blitzend weißen Augäpfeln einem ausgezehrten Bergmann zu gleichen, der soeben den Schacht verlassen hat.11
terhin »seine« Poetiken fortzuführen. – P ilař , Martin: Underground. Kapitoly o českém literárním undergroundu [Kapitel über den tschechischen literarischen Underground]. Brno 1999, S. 98. 11 | M ak anin, Wladimir: Underground, oder Ein Held unserer Zeit. Aus dem Russischen von Annelore N itschke . München 2003, S. 246-247. – M ak anin, Vladimir: Andegraund, ili Geroj našego vremeni. Moskva 1998, S. 184: »[…] берет белой pучонкой нашу андегpаундную угольную пыль, грязь, гарь. Он прихватывает и какогоникакого уголька, въевшегося нам в кожу, – собиpает, cocкребывает и бысpто-бысpто обмазывает свои висячие щеки, но еще и лоб, шею, плечи, руки, чтобы почернее и чтобы посверкивающими белками глаз (хотя бы) походить на тощего гoрняка, только-только вылезшего из забоя.«
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Abtrünnigkeit, Verrat, Ausbeutung und Aura-Piraterie: Das entspricht den Vorwürfen an die Aufsteiger-Ästhetiken in den kommerziellen Mainstream des Westens. Und dennoch mag an den Ahnungen eines »Vorbei« etwas dran sein, lässt man das Systemargument einmal hinter sich. In diesem Zusammenhang ist Lehnartz’ Essay instruktiv weniger als Analyse denn als Quelle, und namentlich der Haltung des Texts wegen – eben jener Leichtigkeit, mit der er das Pathos der »Gegenkulturen« unterläuft. Es steckt darin eine Gleichgültigkeit, wenn nicht ein genuines Unverständnis für die Krämpfe der Moderne. Angesichts dessen mag es nicht so sehr ein globaler Konsumkapitalismus an sich sein, der die Umkonstituierung ausmacht. Schließlich bezeugen ja noch die Abgesänge auf seine Einhegbarkeit, dass die Gestaltungsphantasie fortlebt, die Utopie der Inklusion. Es sind vielmehr Anzeichen eines zunehmenden Unverständnisses für den skandalisierenden Impuls des emphatisch Unterirdisch-Heteronomen, aus denen sich eine Erosion des modernen Glaubens an die Geschichte herauslesen ließe. So wandelt sich, um ein prominentes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit zu wählen, der Status der für den Underground so zentralen Stadt in dem 2007 vom Unsichtbaren Komitee (Comité invisible) publizierten Manifest-Essay L’insurrection qui vient grundlegend. Sie erscheint als horizontal ausgewucherte Krake aus »musealen Hyperzentren und Naturparks«, aus »Großwohnanlagen und riesigen landwirtschaftlichen Betrieben«, aus »Industriegebieten und Siedlungen«: »Die Metropole will die Synthese des ganzen Territoriums« zu einer »einzige[n] urbane[n] Fläche.«12 Im Anschluss an Jurij Lotmans Überlegungen zur Semiosphäre und Impulslosigkeit ihres jeweiligen Zentrums, macht das Komitee in dessen innerer und äußerer, perspektivisch restloser Expansion gegen seine Peripherien ein Universalwerden kultureller Sterilität aus. Hätten die überkommenen Stadtkerne und Innenstädte »lange Zeit Stätten des Aufruhrs« dargestellt, so seien auch sie seither von Konsum und Tourismus korrumpiert und eingeschrieben ins »Organigramm der Metropole«. Der »kommende Aufstand«, den die Autoren gegen diese horizontale Totalität entwerfen, soll nun weder einem manifest vertikal inszenierten Untergrund noch der überwältigten Peripherie entspringen, sondern lokalen oder punktuellen, mobil vernetzten, explizit deterritorialisierten Kommunitäten. Eher als an den Underground schließt das einerseits deutlich an klassische systemoppositionelle Doktrinen an. Das Ziel der kommenden Gemeinschaft ist ein kämpferisches, revolutionäres, gesellschaftsbestimmendes. Kein primär skandalisierender, zunächst »zweckfreier« Zusammenschluss von Gleichgesinnten – wie in Egon Bondys »Gemeinschaft der Invaliden« oder bei den »Wochenendlern« von Ivan Martin Jirous. Andererseits ist außer der ästhetisch verarbeiteten auch die soziologisch-vertikale Oppositionsseite, ja jede relational-spatiale Metaphorik (oben/unten, vorn/hinten, drinnen/draußen) verschwunden zugunsten amorpher Ortlosigkeitsbilder. Geradezu folgerichtig heben ein apokalyptischer 12 | Unsichtbares K omitee: Der kommende Aufstand. Hamburg 2010, S. 35-43, hier 35-36.
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Ton, eine nicht mehr als Allusion zu entschärfende Endzeitsprache den Text aus der Sphäre des Politischen und Historischen. Entgegen dem Anschein handelt es sich um kein vom modernen Geschichtsversprechen getragenes oder beleidigtes, eben politisches Manifest, sondern um die poetische Untergangsphantasie einer auf alles gerichteten, damit richtungslosen Wut, eine Prophetie. Wörtlicher war die Utopie als Nicht-Ort lange nicht zu lesen. Ein letztes Bild. 2013 kam Bong Joon-hos Snowpiercer in die Kinos. Abermals eine Apokalypse, wie sie generell die Kunst, das gesellschaftliche Gespräch überhaupt verstärkt zu beschäftigen scheinen. Zum Setting, einer vereisten Erde, auf der nur noch wenige Menschen in einem unentwegt den Planeten umkreisenden Zug überdauern, schreibt Dietmar Dath: Am Zugende leben Zerlumpte und Perspektivlose, vorne sitzt der Ingenieur – die Metapher ist vorzüglich, weil sie mit dem längst nicht mehr zeitgemäßen, schon gegen Ende des Feudalismus im Grunde erledigten vertikalen Muster »Ihr da oben – wir da unten« aufräumt und es durch eine horizontale, von allerlei Durchgangssperren regulierte Ordnung ersetzt, in der die Leute umso angeschmierter sind, je weiter sie gegenüber der unablässig vorwärtsdrängenden sozialen Gesamtdynamik zurückfallen. Nur in Fahrtrichtung, heißt das, nehmen Energie und Information zu, die Leitgrößen der beiden Achsen, an denen entlang sich heute das verwirklicht, was in überschaubaren Zeiten »Entwicklung der Produktionskräfte« hieß.13
Wie ich mich zu Daths Annahme eines mit »dem Feudalismus im Grunde erledigten vertikalen Musters« verhalte, geht aus den zurückliegenden Seiten hervor. Derweil scheint mir der Blick für Innovation und Gehalt der horizontalen Metapher treffend. Sollte sie mehr als einen Ausreißer der Gegenwartsverarbeitung darstellen, wäre in der Tat die Epochenfrage gestellt und von Postmoderne und Posthistoire noch einmal anders zu reden: als von der Zeit nach der Utopie und dem Skandal ihrer Aporie. Die Betrachtung der Poetik des Underground hätte dann die Moderne noch einmal neu in den Blick gebracht als antipragmatisches Intervall. Sofern – und nur sofern – die umfassende Inklusion, E.T.A. Hoffmanns »Vereinigung der Seelen«, aus dem Horizont der kulturellen Phantasie schwindet und die ästhetischen Verfahren des Underground in der Tat so unlesbar werden wie sie es in der Frühen Neuzeit gewesen wären. Was immer noch wünschenswerter scheint als die Degeneration des Begriffs zu einer Sammelchiffre für allerhand mehr oder minder randständige queer acts. Der Underground war viel mehr: Aisthesis eines mit aller poetologischen Härte ausgefochtenen Grundkonflikts der Moderne.
13 | Dath, Dietmar: Und wenn der ganze Schnee verbrennt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 01.04.2014, S. 11.
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Z um Thema von der A utorin erschienen Prag im Wandel der Medien. Lyrische, akustische und »optische Zufahrtsstraßen in das Wesen der Stadt«. In: Imaginationen des Urbanen. Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa. Hg. v. Arnold Bartetzky, Marina Dmitrieva u. Alfrun Kliems. Berlin 2009, S. 157-180. Tsiganes et Vietnamiens à Prague. Les adieux de Jáchym Topol à la Tripolis Praga. In: Lieux communs de la multiculturalité urbaine en Europe Centrale. Hg. v. Delphine Bechtel u. Xavier Galmiche. Paris 2009, S. 189-204. The Golden City and the Golden Shot. Images from Prague after the Velvet Revolution. In: The Post-Socialist City. Continuity and Change in Urban Space and Imagery. Hg. v. Marina Dmitrieva u. Alfrun Kliems. Berlin 2010, S. 104-117. Aggressiver Lokalismus. Undergroundästhetik, Antiurbanismus und Regionsbehauptung bei Andrzej Stasiuk und Jurij Andruchovyč. In: Zeitschrift für Slawistik 2 (2011), S. 197-213. Aggressiver Lokalismus – Lokaler Globalismus. Postmoderne Stadt-Poetiken in Ostmitteleuropa (Stasiuk, Topol, Beňová). In: Die Lust an der Kultur/Theorie. Transdisziplinäre Interventionen. Für Wolfgang Müller-Funk. Hg. v. Anna Babka, Daniela Finzi u. Clemens Ruthner. Wien-Berlin 2013, S. 462-473. Underground und Generation. Jacek Podsiadłos Reise nach Bratislava. In: Osteuropa 11-12 (2013), S. 71-86. Die Stadt gehört mir! Marcin Świetlicki als Krakauer Dichter-Rebell. In: Konturen der Subjektivität in den Literaturen Ostmitteleuropas im 20. und 21. Jahrhundert. Hg. v. Valéria Lengyel. Hildesheim-Zürich-New York 2013, S. 119-135. (mit Mathias Mesenhöller) Vertikalität als Metapher und der historische Ort des Underground. Eine Erzählung E.T.A. Hoffmanns. In: Unter der Stadt. Subversive Ästhetiken in Ostmitteleuropa. Hg. v. Mónika Dózsai, Alfrun Kliems u. Darina Poláková. Köln-Wien-Weimar 2014, S. 16-26. Städte der Ebene und ihre urbane Verheerung. Andrzej Stasiuks postsozialistisches Warschau. In: Unter der Stadt. Subversive Ästhetiken in Ostmitteleuropa. Hg. v. Mónika Dózsai, Alfrun Kliems u. Darina Poláková. Köln-WienWeimar 2014, S. 239-256.
Abbildungsnachweise
Umschlag: Screenshot aus Anděl Exit (CZ 2000). Regie: Vladimír Michálek. © BUC-FILM Praha. Mit freundlicher Genehmigung. S. 85: Machovec, Martin: Od avantgardy přes podzemí do undergroundu. In: Alternativní kultura. Příběh české společnosti 1945-1989. Hg. v. Josef Alan. Praha 2001, S. 155-199, hier 180. © Kalligrafická kronika Plastic People. S. 201: Wawerzinek, Peter: Moppel Schappiks Tätowierungen. Berlin 1991, S. 15. © Peter Wawerzinek. S. 202: Wawerzinek, Peter: Moppel Schappiks Tätowierungen. Berlin 1991, S. 37. © Peter Wawerzinek. S. 205: Wawerzinek, Peter: Moppel Schappiks Tätowierungen. Berlin 1991, S. 59. © Peter Wawerzinek. S. 329: Zwerg-Graffiti. In: Pomarańczowa Alternatywa / The Orange Alternative / Die Orange Alternative. Unter Mitarbeit v. Agnieszka Couderq u.a. Warszawa 2008, S. 32. © Egon Fietke. S. 333: TotArt-Manifest: Vorderseite. In: Fleischer, Michael: Overground. Die Literatur der polnischen alternativen Subkulturen der 80er und 90er Jahre. München 1994, S. 85. S. 334: TotArt-Manifest: Rückseite. In: Fleischer, Michael: Overground. Die Literatur der polnischen alternativen Subkulturen der 80er und 90er Jahre. München 1994, S. 86. S. 339: Fydrych, Waldemar Maria: Manifest surrealizmu socialistycznego. In: Pomerańczowa Alternatywa / The Orange Alternative / Die Orange Alternative. Unter Mitarbeit v. Agnieszka Couderq u.a. Warszawa 2008, S. 23.
Personenverzeichnis
Abalakova, Natal’ja B. 32 Adorno, Theodor Wiesengrund 174 Ajvaz, Michal 237 Amusin, Mark F. 255 Anderson, Sascha 43, 190 Andruchovyč, Jurij I. 31, 58, 79, 210, 241, 250, 267, 269-291, 293, 294, 298, 300, 304, 363, Andryczyk, Mark 274, 323 Antonyč, Bohdan-Ihor 287, 290 Apollinaire, Guillaume (eigentl. Apolinary de Wąż-Kostrowski) 93, 103 Archleb, Vladimír (Rachel) 133-150 Archlebová, Tamara 144 Arndt, Ernst Moritz 75 Atkinson, Kate 40 Attila, »König« der Hunnen 216 Augé, Marc 35, 36, 296, 306, 352 Augustin, Ioan 300 Auster, Paul 201 BAADER Holst, Matthias (eigentl. Matthias Holst) 197 Bachmann-Medick, Doris 64 Bachtin, Michail M. 179 Bagłajewski, Arkadiusz 326 Baran, Marcin 154, 155 Barańczak, Stanisław 153 Bardini, Thierry 272-273 Barthes, Roland 35-36, 65, 204 Bartmański, Dominik 300
Bártok, Béla 217, 219 Bartsch, Kurt 188 Bataille, Georges 86, 123, 296 Batrouvid (eigentl. Luboš Drožď) 90 Baudelaire, Charles 30, 36, 67, 93, 113114, 148, 158, 309 Baudrillard, Jean 325 Bauman, Zygmunt 318 Bednarska, Joanna 345 Bednarski, Mariusz 345 Beissinger, Marc 320 Benešová, Mirka 85 Benjamin, Walter 36, 67, 80, 93, 304305 Beňová, Jana 138-139 Benýšek, Zbyněk 119 Berendse, Gerrit-Jan 187, 190, 192, 199, 204 Berger, Thomas 213 Bernhard, Thomas 36, 353 Bhabha, Homi K. 63, 71, 76, 77 Biafra, Jello (eigentl. Eric Reed Boucher) 216 Biermann, Wolf (eigentl. Karl Wolf) 190, 193 Binas, Susanne 357 Bitov, Andrej G. 257 Blatný, Ivan 103 Bodin, Per-Arne 278 Bódy, Gábor 216 Böhringer, Hannes 65-66
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Der Underground, die Wende und die Stadt
Bolton, Jonathan 50-51, 121-122 Bondy, Egon (eigentl. Zbyněk Fišer) 9, 10, 15, 21-22, 31, 37, 42, 51, 65-68, 70, 79, 85-106, 107, 108, 110, 111, 114, 118, 119, 122, 123, 131-132, 140, 177179, 181-184, 186, 248, 340, 366 Bong, Joon-ho 367 Boudník, Vladimír 68, 94, 337 Bourdieu, Pierre 353 Bowie, David (eigentl. David Robert Jones) 120 Brabenec, Vratislav (Vráťa) 118, 119, 125, 128, 131 Brady, Philip 189-190 Brandt, Juliane 218 Braun, Volker 191, 341 Brecht, Bertolt 163-164, 222, 301 Breton, André 338, 340 Brikcius, Eugen 109, 112, 115, 119, 120 Brod, Max 236 Bródy, János 218 Brzoskiewicz, Dariusz (Brzóska) 332 Budaj, Ján 337 Bulgakov, Michail A. 86, 257 Buñuel, Louis 227 Burek, Tomasz 154 Bürger, Peter 364 Burke, Edmund 319 Burroughs, William S. 21, 192, 238 Bursa, Andrzej 15, 69, 155, 168
Cale, John
120 Captain Beefheart (eigentl. Don Glen Van Vliet) 120 Carow, Heiner 205 Cave, Nick (eigentl. Nicholas) 95 Čechov, Anton P. 257 Černý, David 361-363 Červenka, Miroslav 54 Chadima, Mikuláš 87 Chitnis, Rajendra 245 Chutnik, Sylwia 299-300 Cioffi, Kathleen 337
Cohen, Leonard 175 Cortés, Hernán (auch Hernando) 211, 220, 222, 224-225, 227 Cosmas von Prag (Cosmas Pragensis) 102, 231 Curtius, Ernst Robert 33 Czapliński, Przemysław 153, 297 Czechowska, Beata 296
Dąbrowski, Karol 348 Dalasiński, Tomasz 179 Dalton-Brown, Sally 265 Dante Alighieri 27, 35, 226, 267, 275 Dath, Dietmar 367 Debord, Guy-Ernest 67, 200-201, 334 Dedecius, Karl 349 Deleuze, Gilles 41 Deml, Jakub 111 Depp, Johnny (eigentl. John Christopher) 349 Detering, Heinrich 120 Deutschmann, Peter 41-42 Diamond, Neil Leslie 285 Dickens, Charles 33 Didi-Hubermann, Georges 148 Diederichsen, Diedrich 53-55, 217, 222, 224, 228, 358, 363 Döblin, Alfred 188, 199, 207 Dobrescu, Caius 55 Dobrodeev, Dmitrij B. 258 Dobrovodský, Augustín (Gusto) 137, 139, 144 Dobyčin, Leonid I. 258 Döhl, Reinhard 27 Donald, James 22 Dor, Milo (eigentl. Milutin Doroslovac) 355 Döring, Stefan 190-193, 341 Dostoevskij, Fedor M. 25, 34, 51, 252, 254, 257-259, 262, 263, 266 Duchamp, Marcel 52 Dunin-Wąsowicz, Paweł 162 Dyk, Viktor 131, 236
Personenverzeichnis
Dylan, Bob (eigentl. Robert Allan Zimmerman) 120-121, 175 Dzeržinskij, Feliks E. 276
Eliot, T. S. (eigentl. Thomas Stearns) 103 Ellis, Bret Easton 174, 295 Éluard, Paul (eigentl. Eugène-ÉmilePaul Grindel) 92 Emrich, Hinderk 252 Endler, Adolf 187-190, 191, 192, 196 Engels, Friedrich 47, 281 Eno, Brian 120, 351 Erb, Andreas 195, 198, 209 Erbe, Günter 142 Ernst, Thomas 27, 32, 60, 193 Erofeev, Venedikt V. 198, 257, 279282 Eschenbach, Wolfram von 289
Faktor, Jan
43, 190, 192, 194, 341 Feldek, Ľubomír 139 Fleischer, Michael 26, 68, 336 Florian, Josef 107, 111 Florian, Mircea 230 Forster Wallace, David 343 Foucault, Michel 35-36, 75, 87, 352-352 Frank, Susi K. 326 Freud, Sigmund 302 Fuest, Leonhard 36-37 Fydrych, Waldemar (Major) 329-330, 336-340
Gareev, Sufar
258 Gavrilov, Anatolij N. 258 Gedeon, Saša 242 Geertz, Clifford 61-62 Geisser-Schnittmann, Svetlana (Gajzer-Šnitman) 281 Geist, Peter 54, 197 Gellner, František 109 Gerigk, Horst-Jürgen 263 Ginsberg, Allen 21-22, 238
Glanc, Tomáš 263 Glaser, Hermann 193 Goethe, Johann Wolfgang von 74 Gogol’, Nikolaj V. 257 Goldstein, Richard 78 Golon, Anne (eigentl. Simone Changeux) 179 Gombrowicz, Witold 44 Gor’kij, Maksim (eigentl. Aleksej M. Peškov) 257 Góra, Konrad 185 Grandpierre, Atilla (auch Attila) 216219, 233 Groch, Erik 139 Groys, Boris E. 142, 289 Gruša, Jiří 131 Guattari, Félix 41 Guski, Andreas 142 Gusowski, Adam 343-359 Gutowski, Wojciech 307
Habaj, Michal 136 Habermas, Jürgen 28, 74-75, 124 Halecki, Oskar 321 Hall, Stuart McPhail 78, 215 Harreß, Birgit 263 Hašek, Jaroslav 236 Hassan, Ihab Habib 34 Havasréti, József 25 Havel, Václav 47-51, 53, 118-119, 212 Havlíček Borovský, Karel 109 Hazuka, Jan 212 Heath, Joseph 215 Hecken, Thomas 77-79 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 48, 334 Heidingsfelder, Markus 79-80 Helbig-Mischewski, Brigitta (auch Brygida Helbig) 354, 357 Herbert, Marcuse 30 Herbert, Zbigniew 154, 158-160, 163, 165, 167, 169 Herrndorf, Wolfgang 180
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Der Underground, die Wende und die Stadt
Hewitt, Kim 198 Himmler, Heinrich 153 Hłasko, Marek 155 Hlavsa, Milan (Mejla) 118, 120, 125 Hodrová, Daniela 237 Hoffman, Dustin 213 Hoffmann, E.T.A. (eigentl. Ernst Theodor Amadeus) 71-81, 132, 143, 253, 264, 367 Holert, Tom 32-33 Höller, Christian 357, 359 Hollstein, Walter 79 Homer 275 Hončar, Nazar 271 Horkheimer, Max 174 Horváth, Ivan 134, 136 Hrabal, Bohumil 41-42, 91, 94, 186, 188, 207-209 Hřebejk, Jan 242 Hronský, Jozef Cíger 134 Hrušovský, Ján 134 Hundorova, Tamara I. 270, 283-284, 290 Hutka, Jaroslav 117, 119, 131 Hvorecký, Michal 180
Irvanec’, Oleksandr V.
270 Iwan der Schreckliche (Ivan Groznyj), Zar von Russland 276
Jakobson, Roman O.
121 Janion, Maria 302-303 Jánošík, Juraj 149 Jarmusch, Jim (eigentl. James) 95 Jastrun, Tomasz 156 Jergović, Miljenko 180 Jesenská, Milena 68, 89 Jesenský, Janko 134, 136, 139, 149 Jirous, Ivan Martin (Magor) 25, 50-53, 90, 96, 106, 107-132, 140, 206, 219, 366 Juárez, Benito 182 Jung, C.G. (eigentl. Carl Gustav) 263
K abakov, Il’ja I.
257
Kádár, János 218 Kafka, Franz 33, 187, 209, 236, 321 Kainar, Josef 103 Kaminer, Wladimir W. 354, 355, 356 Karásek, Svatopluk (Sváťa) 116, 119 Karlík, Viktor 119 Kasper, Karlheinz 260 Katharina die Große, Zarin von Russland 276 Kermani, Navid 224-226 Kerouac, Jack 21, 192 Keunen, Bart 304 Kilcher, Andreas 110 Kiš, Danilo 317 Kisch, Egon Erwin 296 Klejnocki, Jarosław 153 Knížák, Milan 46 Koch, Milan 66, 85-87, 97, 98, 106, 110 Koehler, Krzysztof 154 Kola, Adam 318 Kolář, Jiří 103, 206 Kolnai, Aurel 145, 150 Konnak, Paweł (Koñjo) 332-333, 336 Konrád, György 317, 341 Konwicki, Tadeusz 286, 300-301 Koolhaas, Rem 269, 272-273, 277, 278, 325 Kopáč, Radim 111 Koppány, Stammesfürst der Árpáden 218 Kopyt, Szeczepan 185 Kornhauser, Julian 153 Koschorke, Albrecht 61, 63-64 Kosslick, Dieter 349 Kovanda, Jiří 337 Kozdrowski, Artur (Kudłaty) 332 Kracauer, Siegfried 36 Kracht, Christian 296, 356 Kramer, Andreas 27 Kratochvil, Alexander 278 Krejcarová, Jana (Honza) 68, 89, 102
Personenverzeichnis
Kreuzer, Helmut 24, 78 Kryp’jakevyč, Ivan P. 285 Kubat, Bogdan 332 Kühl, Olaf 180 Kukorelly, Endre 25 Kundera, Milan 44, 124, 317-318, 320321 Kunisch, Hans-Peter 355-356 Künzel, Franz-Peter 208 Kunzelmann, Dieter 340
Langer, Phil
194, 203, 206 Laudenbach, Peter 190 Lefebvre, Henri (auch Lefébvre) 6163, 70 Lehnartz, Sascha 80, 363, 366 Lendaff, Susanne 203, 209 Lenin, Vladimir I. (eigentl. Uljanov) 276, 281, 336 Lermontov, Michail Ju. 199, 252, 257, 258, 266 Lethen, Helmut 26 Libánský, Abbé 24 Ligęza, Wojciech 307 Lindner, Roland 79 Lisiak, Agata Anna 301 Liška, Tomáš 115, 119 Lopatka, Jan 66 Lorek, Leonhard 202 Lotman, Jurij M. 61-63, 366 Lučuk, Ivan V. 271 Luhmann, Niklas 75 Lukáč, Emil Boleslav 137 Luther, Martin 333
Machovec, Martin
22, 119 Machulka, Vratislav (Quido) 119 Macura, Vladimír 129 Magenau, Jörg 210 Magris, Claudio 237, 317 Magritte, René 334 Makanin, Vladimir S. 25, 198, 199, 251-267, 269, 270, 365
Maliszewski, Karol 154, 172 Mann, Ekkehard 193 Mann, Thomas 157, 158 Marcelli, Miroslav 34, 140, 142 Marković, Barbi 353 Marszałek, Magdalena 287, 326 Martinů, Bohuslav 126, 127 Marx, Karl 47, 75, 281, 334 Mausere, Lopez (eigentl. Wojciech Stamm) 332, 345 Matala de Mazza, Ethel 124 Matthies, Frank-Wolf 187-188, 192, 193, 208 May, Karl (eigentl. Carl Friedrich May) 181-182 Mazur, Paweł (Paulus) 332 Meer, Evelyn 303 Menninghaus, Winfried 149-150 Menzel, Birgit 356 Messner, Reinhold Andreas 334, 349 Meyer, Clemens 356 Meyer, Holt 258 Meyrink, Gustav 236 Michálek, Vladimír 242-244 Mickiewicz, Adam 300 Miłosz, Czesław 152, 154, 167, 286, 317 Milton Yinger, John 78 Milun, Kathryn 218, 233-234 Minár, Pavol 135, 138 Minin, Kuz’ma 282 Misztal, Bronisław 338 Moholy-Nagy, László 148 Monastyrskij, Andrej V. 257 Moníková, Libuše 355 Mora, Terézia 180, 355 Morávek, Vladimír 242 Mordel, Piotr 343-359 Mráz, Andrej 135 Müller, Heiner 191 Müller, Lothar 26, 95 Müller, Wolfgang 233 Müller-Funk, Wolfgang 353 Muszyński, Bartosz 156
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Der Underground, die Wende und die Stadt
Nancy, Jean-Luc
123-125 Napoleon Bonaparte, Kaiser Napoleon I. 74 Naumann, Friedrich 321 Neborak, Viktor V. 270 Němec, Jiří (Starý) 66, 119 Neumeyer, Harald 113-114, 305 Nezval, Vítězslav 93, 98, 103, 104, 232 Nietzsche, Friedrich 149, 348 Niżyńska, Joanna 155, 161 Norwid, Cyprian Kamil 157, 158 Novomeský, Laco 134, 136-137, 139 Nowakowski, Marek 155 Nutall, Jeff 122
O’Hara, Frank
154, 161, 174 Orska, Joanna 157-158, 179 Ostachowicz, Igor 300 Oświęcimski, Leszek Herman 345, 346-347
Paetzold, Heinz 34 Palacký, František 318-321 Panas, Paweł 156 Pánek, Fanda (eigentl. František) 119 Papenfuß, Bert (auch PapenfußGorek) 42, 189-190, 192, 341 Parsons, Talcott 75, 78 Pastier, Oleg 139 Patočka, Jan 25, 47, 50-52 Pavlyčko, Solomija D. 279 Pawelec, Dariusz 159, 160 Pawlak, Antoni 156 Pehlemann, Alexander 217, 233 Peiper, Tadeusz 307, 330-332, 334-335 Pekárková, Iva 180 Pelevin, Viktor O. 174 Penn, Arthur 213 Peroutka, Ferdinand 131 Petrivý, Tomáš 139 Picasso, Pablo 148 Pilař, Martin 22, 26, 68, 111, 364 Piłsudski, Józef 157, 158
Pioro, Tadeusz 154 Piussi, Lucia 141 Platon 110, 113-114 Plíšková, Naděžda 119 Podsiadło, Jacek 152, 154-155, 167, 177186, 295 Poe, Edgar Allan 136, 196, 305 Polkowski, Jan 156, 158 Pompe, Anja 77 Poničan, Ján 136 Potter, Andrew 215 Poussin, Nicolas 147-149 Požarskij, Dmitrij M., RjurikidenFürst 282 Preece, Julian 197 Preisner, Zbigniew 169, 170, 173 Prigov, Dmitrij A. 70, 257 Prunitsch, Christian 298, 324 Przyboś, Julian 307, 309, 333 Przybyszewski, Stanisław 310, 348 Przyłuski, Jan 338 Pugatčova, Alla B. 277 Pułka, Tomasz 185-186 Puškin, Aleksandr S. 266 Putna, Martin C. 112-113, 119, 241
Raczyński, Atanazy (Athanasius), Graf 349 Rávic Strubel, Antje 356 Reed, Lou (eigentl. Lewis Allan) 120 Reisel, Vladimír 134 Reynek, Bohuslav 111 Richter, Ludwig 135 Ripellino, Angelo Maria 103, 237 Robertson, Roland 352 Rodenberg, Hans-Peter 215 Rössler, Josef (Bobeš) 25 Rousseau, Jean-Jacques 24, 34, 181 Rozwadowski, Jan 155 Ruda, Frank 76 Rudolf II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, König von Böhmen und Ungarn 236
Personenverzeichnis
Rybnicka, Elżbieta 160 Rymkiewicz, Jarosław Marek 160
Sabrow, Martin
29 Sadlovsky, Roman 327 Safranski, Rüdiger 72 Ságlová, Zorka 120 Said, Edward W. 63 Sajnóg, Zbigniew 332-333 Sandburg, Carl August 103 Sanders, Edward (Ed) 115 Sasse, Sylvia 34, 55, 340 Schäckel, Ilona 364 Schedlinski, Rainer 43, 190 Schiller, Friedrich von 74 Schlegel, Friedrich 124 Schlögel, Karl 272, 288, 313, 322 Schmid, Herta 49 Schmid, Ulrich 356 Schmidt, Arno Otto 213 Schneider, Christian 48-49 Schneider, Wolfgang 279 Schramm, Caroline 340 Schreiber, Eduard 237 Schuchart, Christiane 254-256 Schulz, Karel 219 Schwanhäußer, Anja 35 Schwartz, Matthias 326 Seifert, Jaroslav 93 Seiler, Sascha 174 Sennett, Richard 335 Sevruk, Alexej 275 Simmel, Georg 330 Skála, David 212 Skalický, Miroslav (Míra) 116, 119, 131 Škvorecký, Josef 31-32 Sláma, Bohdan 242 Slavík, Otakar 119, 126-127, 131 Śliwiński, Piotr 155-156, 161, 178, 179 Smrek, Ján 134, 137 Snyder, Gary 215 Sobolewska, Justyna 300 Soja, Edward W. 63
Sokrates 110, 113 Solženicyn, Aleksandr I. 47, 257 Sontag, Susan 21, 39, 95, 145, 147, 149, 150 Sosnowski, Andrzej 154 Spiegel, Hubert 267 Stachura, Edward 155, 161, 167-168, 171, 183 Staff, Leopold 308-311 Stala, Marian 155 Stalin, Iosif V. (eigentl. Džugašvili) 276, 281, 336 Stanišić, Saša 355 Stańko, Tomasz 349 Stankovič, Andrej 23, 111, 119, 133-134, 137, 139, 140 Stasiuk, Andrzej 31, 57, 79, 180, 189, 206, 210, 241, 248, 250, 267, 269, 270, 273, 291, 293-312, 313-328, 352, 363 Stephan I., König von Ungarn 218 Strýko, Marcel 139 Sturm, Helmut 67 Švantner, František 134 Svěrák, Jan 242 Svoboda, Richard 23 Świetlicki, Marcin 37, 151-175, 178, 179 Szelényi, Iván 164 Szlosarek, Artur 154 Szörényi, Levente 218 Szymanski, Berenika 337
Tancer, Jozef
138 Tarantino, Quentin Jerome 213, 285, 300 Tatarka, Dominik 147 Tawada, Yoko 355 Tekieli, Robert 153 Terkessidis, Mark 32, 33 Tetmajer, Kazimierz (eigentl. Przerwa-Tetmajer) 309 Tippner, Anja 28, 232-233 Tischner, Józef 169, 170, 173, 174
377
378
Der Underground, die Wende und die Stadt
Tönnies, Ferdinand 123 Topol, Filip 211-234 Topol, Jáchym 20, 30-33, 79, 87, 180, 189, 211-234, 235-250, 269, 270, 273, 293, 294, 295, 297, 298, 304, 315, 323, 324, 327, 350, 352, 364-365 Topol, Josef 212 Trávníček, Jiří 110 Trešňák, Vlastimil (eigentl. Walter Kirschen) 104 Trolle, Lothar 188 Turgenev, Ivan S. 257 Turnau, Grzegorz 169, 170, 173, 174 Tuwim, Julian 161, 165, 167-168, 307 Tyrmand, Leopold 301
Uffelmann, Dirk
247, 280, 282, 345-
346, 354, 356 Urban, Jan 47 Urban, Miloš 237 Urickij, Andrej N. 279
Válek, Miroslav 139 Vámoš, Gejza 134 Velikonja, Nataša 30, 32 Vergil 35, 275 Vietta, Silvio 33 Virilio, Paul 315 Vlček, Josef 103 Vöckler, Kai 272 Vodseďálek, Ivo 15, 22, 68, 90, 340 Voják, Karel 115, 119 Vrchlický, Jaroslav 208 Wagner, Bernd
188 Waits, Tom (eigentl. Thomas Alan) 120, 175 Wałęsa, Lech 343, 350-351 Walser, Robert 36 Walter, Joachim 193 Wandachowicz, Jakub (Kuba) 173-174 Warburg, Aby 148
Warchol-Schlottmann, Małgorzata 155 Warhol, Andy (eigentl. Andrej Varhola) 78, 120 Wasilewska, Wanda 157-158 Wawerzinek, Peter (eigentl. Peter Runkel) 187-210 Weigel, Sigrid 231 Welsch, Wolfgang 246, 356 Welsh, Irvine 238 Werfel, Franz 236 Wernisch, Ivan 13, 39-40, 57-59, 64, 68, 287 Whitman, Walt (eigentl. Walter) 103 Wiencek, Agnieszka 297 Wilde, Oscar 147 Williams, David 247 Wilson, Paul (Pavel) 89, 117, 119 Wilsonová, Helena (Helenka) 117 Winter, Balduin 212 Wirsing, Giselher 321 Witkowski, Przemysław 185 Wittlin, Józef 286 Wojaczek, Rafał 155 Woldan, Alois 323 Woolf, Virginia 355
Young, Neil
211, 223-227
Žadan, Serhij V.
271 Zagajewski, Adam 186 Zahradníček, Jan 111 Zaimoglu, Feridun (Zaimoğlu) 60, 355 Zajac, Peter 35, 140-141, 147 Zając, Tomasz 332 Zajíček, Pavel 25, 119, 122 Zand, Gertraude 27, 53, 95 Zappa, Frank 120 Żeromski, Stefan 331 Zeyer, Julius 98 Žigalov, Anatolij N. 332 Zola, Émile 33
Edition Kulturwissenschaft Rainer Guldin Politische Landschaften Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität Oktober 2014, 296 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2818-0
Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven Februar 2015, ca. 360 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9
Inga Klein, Sonja Windmüller (Hg.) Kultur der Ökonomie Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen September 2014, 308 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2460-1
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3) ANZ2574.p 383509983322
Edition Kulturwissenschaft Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2015, ca. 190 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten April 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8
Christoph Wulf Bilder des Menschen Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur November 2014, 270 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2949-1
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