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German Pages [260] Year 2013
Unter der Stadt Subversive Ästhetiken in Ostmitteleuropa
Herausgegeben von Mónika Dózsai, Alfrun Kliems, und Darina Poláková unter Mitarbeit von Henrike Schmidt
2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Das dieser Publikation zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG0710 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den einzelnen Autoren.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Umschlagabbildung: Crazy Crime „Panenka“ © 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22139-3
Inhaltsverzeichnis
Mónika Dózsai/Alfrun Kliems/Darina Poláková Vorwort .............................................................................................. 7 Underground-Ästhetiken im 19. Jahrhundert Alfrun Kliems/Mathias Mesenhöller Vertikalität als Metapher und der historische Ort des Underground Eine Erzählung E. T. A. Hoffmanns .................................................. 16 Gertraude Zand „Wende“ und „Underground“ im 19. Jahrhundert Das Jahr 1848 und ein Notizheft von Božena Neˇmcová .................... 27 Im Untergrund des Urbanen Inga Probst Ganz unten Wolfgang Hilbigs Schreibstrategien des Untergrunds ....................... 42 Stephan Krause Ein ungeheuerlicher Stadtbewohner im Untergrund Zu Minotaurus von Péter Nádas ......................................................... 54 Valéria Lengyel Subversive Bedeutsamkeit Das Prosagedicht Umgestaltung eines Bahnhofs von Ágnes Nemes Nagy ............................................................................ 72 Torsten Erdbrügger Die Oberflächlichkeit des Untergründigen Zum Umgang mit der Zeichenhaftigkeit von Bunkern ..................... 88
Städte als Gedächtnis József Havasréti Der Golem in Budapest Die Wiedergeburt einer jüdischen Legende in der ungarischen Neoavantgarde .................................................................................... 106 Birgit Krehl Mythos oder Mythosanalogie? Das „alte“ Breslau in den Kriminalromanen Marek Krajewskis .......... 115 Peter Zajac Underground, Overground Bratislava und der gläserne Berg ......................................................... 139 Christine Gölz Jáchym Topols ostmitteleuropäische Heterotopologie Memoria-Untergrund im Gedenkstätten-Thriller Die Teufelswerkstatt ............................................................................. 166 Stadt-Wenden Tatjana Hofmann Serhij Žadans „postproletarischer Punk“ Verweigerung einer homogenen Kulturalisierung des urbanen Raumes ........................................................................... 198 Darina Poláková Transparenzen des Raumes oder die „wendige“ Stadt Ein Ausflug von Jáchym Topol ........................................................... 226 Alfrun Kliems Städte der Ebene und ihre urbane Verheerung Andrzej Stasiuks postsozialistisches Warschau ................................... 239 Autorenverzeichnis ............................................................................. 257 Personenregister ................................................................................. 259
Vorwort
Das meiste geschieht unter der Stadt. Péter Nádas begegnet im Keller einer Budapester Mietskaserne einem Minotaurus. E. T. A. Hoffmann hat im Souterrain des Hauses, in dem er die Beschießung Dresdens 1812 übersteht, ein Gemeinschafts- und Erweckungserlebnis. Ein namenloser Flaneurs-Nachfahre bei Jáchym Topol begibt sich in eine rauschhafte Tiefenperspektive unter die Stadtoberflächen von Prag – vielleicht, das bleibt offen, während ein anderer Protagonist Topols in Weißrussland durch eine bunkereske Gruft voller Gebeine und Untoter des Holocaust irrt. Derweil vertikalisiert Andrzej Stasiuk auch das oberirdische Warschau in seiner hochpolitischen Ästhetik, und ähnlich spielt Serhij Žadans postproletarischer Punk mit Oben-untenAllusionen in der Ostukraine, genauer: im Umfeld des postsozialistischen Charkiv. Vertikalität, lautet die These dieses Bandes, ist kein beiläufiger Topos, sondern ein zentrales Thema der Moderne beziehungsweise eines ihrer ästhetischen Stränge. So wie die Stadt und vielleicht mehr noch das Adjektiv „urban“. Ist Heinz Paetzold zufolge dem „heutigen Wortgebrauch von urban noch der normative Klang einer kosmopolitischen Weltläufigkeit abzulauschen“, so führt er unter dem Lemma „Urbanität“ der Ästhetischen Grundbegriffe dazu weiter aus, dass diese Weltläufigkeit einen „ästhetischen Kern“ enthalte: „das zwanglose und spielerische Umgehen des Menschen mit seinem sinnlichen und geistigen Vermögen, das durch den gesellschaftlichen Verkehr in der städtischen Lebenswelt stimuliert wird und sich in ihr auch verkörpert“.1 Underground-Kunst als paradigmatische Form einer subversiven Poetik nimmt sich in oft aggressiver Expressivität die Freiheit zu solch zwanglosem und spielerischem Umgang, behauptet dabei zugleich, eine repressive Normativität verwehre eben dies gemeinhin. Dass im Zuge dessen immer wieder urbane Orte des „Unten“ zu zentralen Tropen avancieren, Vertikalität eine poetologische Schlüsselrolle spielt, ist kein semantischer Zufall oder Taschen-
1 Paetzold, Heinz: Urbanismus. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 6. Hg. v. Karlheinz Barck u. a. Stuttgart–Weimar 2005, S. 281–311, hier 282–283.
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spielertrick, sondern reflektiert die Radikalität der Exklusionsbehauptung respektive die der behaupteten Exklusion. Das Unten des Underground ist mithin weit mehr als ein (politisch induziertes) Versteck oder eine akzidenzielle Metapher für Repressionseffekte; vielmehr konstituiert es eine mythische Topografie. Eine „Mythopografie“, die auf den allgemeinen Bilderhaushalt der Künste zurückgreifen kann: Treffend beobachtet Helmut Lethen in seinem Essay Fern vom Untergrund, kaum eine Literatur komme ohne „Schächte, Stollen, Keller und Höhlen“ aus. Wenn die Romantiker sich indes gar als „Bergingenieur der Seele“ definieren konnten, so wird klar, dass das infrage stehende Repertoire hier eine neue Zentralität erlangt.2 Im – wie gesagt, radikalen – Fall des Underground schlägt sich darin eine ästhetisch-moralische Präferenz nieder, die Gertraude Zand als ein „eigenständiges – qualitativ bestimmtes – semantisches Feld“ beschreibt, welches „das Erdige, Niedrige, Primitive, Dunkle, Unheimliche und Irrationale“ privilegiere: „Wesenhaft wird dem Underground zugesprochen, dass er sich auch im moralischen und philosophischen Sinne ,unten‘ befindet: als dantesches Inferno und teuflische Unterwelt, als Welt der Triebe und Lüste, der Irrationalität und des Unbewussten; auch die Unterwelt im kriminellen Sinne ist eine hierher gehörende Ausformung des Begriffs.“3 Die Pointe freilich besteht darin, dass in einer Umwertung der Konventionen die heterodoxen Niedrigkeiten samt ihrer Sammeltrope „unten“ normativ bis zur ausschließlichen Bejahbarkeit aufgewertet werden. In der Betrachtung Thomas Ernsts: Die Underground-Literatur entspricht dem subversiven Verfahren des Untertauchens, um auf dem Weg produktive Verweigerung zu betreiben, den Bruch von Systemregeln wie von systemgenerischen Normgefügen.4 In diesem, starken, Sinne kann der Terminus „Underground“ – ganz ungeachtet seiner divergierenden, je aktuellen und kontextabhängigen Verwendungen – keine Klammer für die folgenden Stücke bieten – wohl aber einen erkenntnisleitenden Fluchtpunkt. Die überwiegend literaturwissenschaftlichen Beiträge setzen sich mit subversiven oder als subversiv intendierten Ästhetiken auseinander, einem „Unten“ als Chiffre des „Gegen“, die 2 Lethen, Helmut: Fern vom Untergrund. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 1 (2007), S. 45–56, hier 50 u. 56. 3 Zand, Gertraude: Totaler Realismus und Peinliche Poesie. Tschechische Untergrund-Literatur 1948–1953. Frankfurt am Main u. a. 1998, S. 149. 4 Vgl. dazu demnächst erscheinend Ernst, Thomas: Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld 2013.
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nicht zwingend einem ostmitteleuropäischen Underground zuzuordnen sind. Sie gehen jedoch historischen Orten, Praktiken und Ästhetiken nach, die mit dem Untergründigen in einem weiteren Sinne „spielen“, und verhandeln darüber namentlich auch den literarischen Umgang mit dem Stadtgedächtnis von Budapest, Prag, Warschau, Breslau, Bratislava oder Minsk. Vor allem unternimmt der Band eine explorative Sichtung, um dem systematisch Gemeinsamen von Schriftstellern des 19. Jahrhunderts wie E. T. A. Hoffmann und Božena Němcová, postsozialistischen Bestsellerautoren wie Jáchym Topol, Andrzej Stasiuk und Serhij Žadan, der ungarischen Neoavantgarde, den bereits zu Klassikern avancierten Péter Nádas, Ágnes Nemes Nagy oder Wolfgang Hilbig auf die Spur zu kommen. Dass es ein solches Gemeinsames gibt, die zugrunde liegende These, wird im ersten von zwei Beiträgen zu Vertretern der Romantik argumentiert, mit denen der Band einsteigt. Stadtmenschen sind sie beide, E. T. A. Hoffmann, Geisterseher der deutschen Spätromantik und Stammgast bei Lutter & Wegner am Berliner Gendarmenmarkt, ebenso wie Božena Němcová, grande dame des tschechischen Biedermeiers, die die Männer Prags verführte – zum Leidwesen von deren Ehefrauen. Die Stadt als literarisches Thema dominiert indes nur bei Hoffmann, während Němcová in ihren Veröffentlichungen das national verlässlichere Dorf feierte. Hingegen bleiben ihr erotisch grundiertes „Notizheft“ und die Briefe, beides nach Anlage und Form nicht minder literarische Unterfangen als die fiktionalen Publikationen, im urbanen Kontext. Anhand der Poetiken – aber auch des Lebensentwurfs – von Hoffmann und Němcová wird hier diskutiert, ob und inwieweit sich für das 19. Jahrhundert bereits von Underground-Ästhetiken sprechen lässt. Alfrun Kliems und Mathias Mesenhöller greifen auf E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Dichter und der Komponist (1813) zurück, um den historischen Ort der Vertikalität als Metapher zu eruieren. Auf dem Weg der Mikroanalyse eines Textes der deutschen Romantik nehmen sie eine systematische Einordnung des Underground vor und argumentieren, dass dessen Ästhetiken auf eine fundamentale Antinomie der Moderne reagieren, wie sie bereits zu deren Beginn sichtbar und von Hoffmann verarbeitet wurde. Ebenfalls mit Blick auf das 19. Jahrhundert verlängert Gertraude Zand die Begriffe „Wende“ und „Underground“ zurück und setzt die privaten, bislang unveröffentlichten Aufzeichnungen der tschechischen Schriftstellerin Božena Němcová in Beziehung zum „Wendejahr“ 1848. Nach der Niederschlagung der von ihr aktiv unterstützten Revolution war die zuvor umworbene Němcová gezwungen, in Verstecken zu leben, fand sich an der gesellschaftli-
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chen Peripherie wieder. Dieses Leben im Untergrund reflektierte sie vor allem in ihrem Notizheft – womit hier bereits ein paradigmatischer Doppelaspekt von „Untergrund“ in radikaler Form in den Blick kommt, nämlich der des politisch-konspirativen Abtauchens und der persönlichen Entscheidung für eine soziale Randexistenz. Die folgenden vier Beiträge widmen sich dem Untergrund des Urbanen im 20. Jahrhundert und dokumentieren die Vielgestaltigkeit des Gegenstandes. Den Auftakt bildet Wolfgang Hilbig, dessen in der DDR entwickelten Schreibstrategien des Underground sich Inga Probst widmet. Hilbig, der ewigbewusste Außenseiter, verräumlichte die eigene Zerrissenheit, indem er seine Figuren durch labyrinthische Gangsysteme schickte, in unterirdische Räume von Fabrik- und Heizungskellern, welche die in Endlosschleife perpetuierten Handlungs- und Symbolräume seiner Texte bilden. Darüber wird der Untergrund nicht nur zur Chiffre des Absturzes und der Unterwelt, sondern auch zum Ort der Begegnung mit sich selbst, den Tiefen der eigenen Psyche. In dieser Prosa des Untergründigen, der Bodenlosigkeit und des Abgrundes sieht Probst mit Hilbig einen Autor am Werk, der den Underground wortwörtlich nimmt. Ebenfalls in Budapest anverwandelt Péter Nádas einen weiteren Mythos des Unten, den Minotaurus (1979). In seiner von Stephan Krause erörterten Erzählung versetzt Nádas ihn in den Keller eines Mietshauses, wo ihn Mária und József vor den Nachbarn verbergen. Ist der Minotaurus des Mythos in dem außerhalb der Siedlungen gelegenen Labyrinth des Daedalos eingesperrt, so liegt der Ort seiner Gefangenschaft bei Nádas unter der (modernen) Stadt. Etwa gleichzeitig mit Hilbig verhandelt Ágnes Nemes Nagy in ihrem Prosagedicht Umgestaltung eines Bahnhofs (1981) ein fiktives Großprojekt: den Umbau eines städtischen Bahnhofs. Valéria Lengyel lenkt mit ihrem close reading des Stückes den Blick auf die ungarische Lyrik der Spätmoderne. Nemes Nagy subvertiert hier mit Mitteln der Ironie und Entpersönlichung einen klassischen Topos der Stadtdichtung. Sie entwirft den Stadtkörper tatsächlich als einen solchen, verwandelt mittels einer ausgestellten anthropomorphisierenden Metaphorik die Stadt in einen empfindsamen Organismus aus „verquälten Häusern“, „gedunsenen Gleis-Schweißnähten“, „schlaffen Straßenbahnen“, denen nun Fremdkörper wie Folterwerkzeuge appliziert werden. Torsten Erdbrügger wendet sich der Oberflächigkeit des Untergründigen zu, die er paradigmatisch im Bauwerk des Bunkers verkörpert findet. Erdbrügger kontextualisiert zum einen die (Bunker-)Architektur als Signifikanten des Nationalsozialismus kulturwissenschaftlich wie (literatur-)psy-
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chologisch; zum anderen befragt er sie nach ihrer Funktion für das aktuelle kulturelle Gedächtnis. Die von ihm vorgestellten Inszenierungen der Bunkertopografie oszillieren zwischen affirmativer Faszination und kritischer Rückführung der Bunkersignifikanten ins Gedächtnis. Städte als Gedächtnis des Unten bilden das gemeinsame Thema der nächsten vier Beiträge. So macht Józef Havasréti in der ungarischen Neoavantgarde der 1980er-Jahre einen neuen Golem aus, geschaffen von György Kozma. Wie Hilbig ein Außenstehender, ein Peripherer selbst in der für sich schon marginalen Alternativkultur, arbeitet Kozma mit Ironie und Groteske, um seinen künstlichen Menschen, das schizophren geratene Tanzwunder Vaslav Nijinsky, in Analogie zum Prager Golem des Rabbi Löw zu setzen. Die Aktualisierung manifestiert eine Verwebung von ästhetischem Aktivismus und politischem Anarchismus mit den spirituellen Inhalten des jüdischen Messianismus, mithin eine mystische Tiefendimension der Budapester Neoavantgarde. Birgit Krehl hinterfragt gängige erinnerungskulturelle Verortungen der in den späten 1990er-Jahren erschienenen Breslau-Krimis von Marek Krajewski. Sie zeigt, dass Krajewski weder eine blumenbergsche Arbeit am Mythos leistet noch den Mythos vom „alten“ Breslau wiederbelebt, vielmehr mythosanaloge Verfahren nutzt, die seine Romane an das Populäre und Paraliterarische heranrücken. Insofern scheint es zweifelhaft, wenn Autor wie Publikum die Entscheidung für das – deutsche – Vorkriegs-Breslau als subversive Provokation ausgeben. Danach lenkt Peter Zajac den Blick auf Jana Beňovás Bratislava, genau zu sein auf die Plattenbausiedlung Petržalka, und schlägt einen Bogen vom Bild des Aquariums über den gläsernen Berg hin zum Untergrund als Underground – um das Konzept des „Overground“ einzuführen. Er argumentiert zum einen, dass der abgetrennte, in sich begrenzte, visuell durchlässige Raum des stofflich undurchlässigen Aquariums sowie des gläsernen Berges in der slowakischen Literatur kein verwaistes Motiv darstellt. Zum anderen zeigt er, wie Beňová dieses Motiv wirkungsvoll mit einem anderen Standardtopos der Gegenwartskultur verflicht, der Siedlung als Gegen-Ort des etablierten Stadtnarrativs. Anschließend begibt Christine Gölz sich mit Jáchym Topol auf die Reise von Theresienstadt (Terezín) über Prag nach Minsk, um den Memoria-Untergrund im „Gedenkstätten-Thriller“ oder „Vernarbungsprojekt“ Die Teufelswerkstatt (2009) zu untersuchen. In Topols Roman steigen die Protagonisten in den Untergrund hinab, wo die dort freigelegten Toten zu sprechen begin-
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nen. Die urbanen Handlungsorte liegen als (Flucht-)Punkte auf dem Weg des namenlosen Protagonisten, der sich sowohl in der Handlungsgegenwart als auch in seiner Erinnerung sowie zwischen den drei Städten hin und her bewegt. Dabei erweisen sich die horizontal angelegten Raummarken nicht nur als Orte des Transits und Stationen einer Flucht, sondern darüber hinaus als flüchtig, der Umdeutung, der Zerstörung und dem Vergessen unterworfen. Diese horizontale Flüchtigkeit kontrastiert der Roman mit einer vertikalen Schichtung als spatialem Prinzip, die flachen Raum in Geschichte speichernde Städte, genauer mehrdimensionale Memoria-Stätten verwandelt. Unter den Begriff „Stadt-Wenden“ lassen sich die letzten drei Beiträge des Bandes bringen. Tatjana Hofmann liest Serhij Žadans „postproletarischen Punk“ als Verweigerung gegenüber einer Homogenisierung urbaner Raum-Kultur, wobei Žadans Kunst zugleich metonymisch für ein bestimmtes Konzept „Ostukraine“ auftritt. Seine Anstößigkeit liegt im Verzicht auf einen empirisch erfahrbaren und in der Erinnerung zu bewahrenden Raum überhaupt: Vielmehr besteht sein urban space nur noch als immaterieller Rezipient eines imaginären soundscape, konstituiert sich statt über eine historischsemantische Konstruktion als eine je momentane klangliche Medialität. Abermals Topol wendet sich Darina Poláková zu und macht in der Erzählung Ausflug zur Bahnhofshalle (1993) eine „wendige“ Stadt aus; ein Bild, dem sie unter dem Leitbegriff der „Transparenz“ nachgeht. Topol konstruiert nach Poláková einen mentalen streetview, der nicht nur von Schaulust, sondern vor allem von einer intervenierenden Durchdringung der urbanen Materialität geleitet wird, eben „Transparenz“ erzeugt: Effekte, die sich als Resultat einer Interaktion zwischen dem Blick und seinem Objekt „Stadt“ ergeben. Topols Spaziergang des losgelassenen Auges durch eine „wendige“ Stadt subvertiert so den forciert kapitalisierten urbanen Raum einer postsozialistischen Gesellschaft. Nicht unähnlich analysiert Alfrun Kliems Andrzej Stasiuks WarschauRoman Neun (1999) als Poetisierung einer postsozialistischen urbanen Verheerung. Auf bezeichnende Weise erscheint Stasiuks Warschau dabei nicht als ethnisch zerfaserte, sondern im Gegenteil ethnisch indifferente, implizit ethnisch geschlossene Stadt – der ein (Hinter-)Land der Eigentlichkeit als vielstimmig, vielstämmig und vielfältig Positives gegenübergestellt wird. Das schließt an einen locus classicus der Moderne an, den Stasiuk in seinen Mitteleuropa-Essays noch einmal zuspitzt: das Unbehagen an der Stadt als solcher. Ein Unbehagen, in dem längst eine Metonymie des Unbehagens der
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Moderne an sich selbst entdeckt worden ist – wie es mit der romantischen Skandalisierung ihrer basalen Antinomie einsetzte. Der Band exploriert Möglichkeiten, das Unheimliche und Beunruhigende des Urbanen, das vielmals im Bild des Unteren und mythisierten Unterirdischen, das oft mit einem sozialen Unten Hand in Hand geht, zu beschreiben. Zugleich weist er freilich Optionen aus, eine vertikalisierende Poetisierung der Stadt zu unterlaufen beziehungsweise für sich abzulehnen, so S erhij Žadans popkulturelle Beschreibung der Ostukraine, namentlich des postsozialistischen Charkiv. Es geht uns nicht um eindeutige Befunde, sondern um erste Schritte in der hier einführend skizzierten Richtung. Wir erhoffen uns davon einen frischen Impuls für die ebenso ausgedehnte wie zum Verständnis der Moderne nach wie vor zwingende Stadtforschung auch über Ostmittel europa hinaus.
Danksagung Der vorliegende Band versammelt zum einen literaturwissenschaftliche Beiträge zu der Konferenz „Die Stadt, die Wende und der Underground. Gegenkulturelle Interventionen in Ostmitteleuropa“, die im Dezember 2009 am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) sowie in der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig (GfZK) stattfand. Zum anderen sind Texte von Kollegen und Kolleginnen des Leipziger Forschungsprojektes „Spielplätze der Verweigerung. Topografien und Inszenierungen von Gegenöffentlichkeit“ aufgenommen worden, ebenfalls angesiedelt am GWZO. Unser Dank gilt allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Konferenz, allen Beiträgern und Beiträgerinnen für ihr Engagement, ihre Anregungen und die Bereitschaft, sich auf das Thema einzulassen. Weiterhin danken wir dem GWZO Leipzig, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (SMWK), die die Konferenz und den Druck finanziert haben. Für die sorgfältige und kritische Redaktion der Beiträge bedanken wir uns bei PD Dr. Henrike Schmidt. Ebenfalls Dank gebührt Sara Charusta und Natalia Kepesz, die das Personenregister erstellt haben. Und nicht zuletzt möchten wir uns beim Böhlau Verlag für seine Unterstützung bedanken.
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Redaktionelle Hinweise Auf die Doppelnennung femininer und maskuliner Formen als Form der sprachlichen Gleichstellung wurde – mit Ausnahme des Vorwortes – aus sprachökonomischen und stilistischen Gründen verzichtet. Stattdessen haben wir uns für die Verwendung von Kurzformen im Plural entschieden. Zudem wurden die Beiträge an die Vorgaben der neuen Rechtschreibung angepasst. Das betrifft auch die Zitate. Mónika Dózsai/Alfrun Kliems/Darina Poláková
Alfrun Kliems/Mathias Mesenhöller
Vertikalität als Metapher und der historische Ort des Underground Eine Erzählung E. T. A. Hoffmanns
The hither and thither of the stairwell, the temporal movement and passage that it allows, prevents identities at either end of it from settling into primordial polarities. (Homi Bhabha)1
Homi Bhabhas Lokalisierung der Drittraum-Kultur im Treppenhaus bietet ein schönes Bild für einen Schwellenort des Austauschs, der Hybridität und Flüchtigkeit. Die gewählte Bildlichkeit weist jedoch noch eine zusätzliche Besonderheit auf: Die Verbindung zwischen den Polen ist eine vertikale und spielt so mit der Vorstellung (unsicher) hierarchisierter Werte und Kulturen. Bhabhas The Location of Culture (1994) zeigt und analysiert eine Vielzahl solcher (literarischer) Orte als Topoi. Das Konzept des Underground ist gleichfalls ein solcher Topos. In seiner vertikalen Metaphorik liegt aber noch eine andere, weit grundsätzlichere Annahme geborgen als in Bhabhas anti-essenzialistischer Dynamisierung der räumlichen Dichotomien. Sie zu entschlüsseln, erlaubt es, den Underground historisch einzuordnen und darüber seinen geschichtsphilosophischen Kern freizulegen. Das soll hier auf dem Weg der Mikroanalyse einer Erzählung – tatsächlich einer dramatisch eingekleideten ästhetischen Reflexion – aus der deutschen Romantik vorgenommen werden. Dieser Intention liegt die Annahme zugrunde, dass Underground-Kunst auf ein Fundamentalproblem der Moderne reagiert, wie es bereits zu deren Beginn sichtbar wurde. Underground verarbeitet diese Provokation ästhetisch.
1 Bhabha, Homi: Introduction: Locations of Culture. In: Ders.: The Location of Culture. London–New York 1994, S. 1–18, hier 4.
Vertikalität als Metapher |
Die Erzählung und ihr Grundkonflikt Im Dezember 1813 erschien in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Dichter und der Komponist.2 Zu der Zeit sah Hoffmann sich noch mehr als Komponist denn als Schriftsteller. Die Erzählung geht in ihrer Entstehung denn auch auf ältere Überlegungen zur romantischen Oper und insbesondere zum Verhältnis zwischen Librettist und Komponist zurück. Diese kunsttheoretischen Erörterungen fasste Hoffmann nun als Dialog und gab diesem eine dramatische Rahmenhandlung – die indes eine doppelte Lesart und dem Text einen ins Grundsätzliche gehenden kunsthistorischen, ja zeitphilosophischen Kommentar ermöglicht.3 Der Inhalt der Erzählung ist rasch skizziert: Der Hauptteil schildert, wie sich zwei Freunde nach langer Trennung in einer umkämpften Stadt wiederbegegnen. Ferdinand, der Dichter, hat beim Militär reüssiert, während Ludwig, ein Komponist, ärmlich und zurückgezogen lebt. Sie wechseln für ihr Gespräch in das „kleine Seitengemach“ eines Caféhauses. Dort legt Ferdinand die Armierung ab und der erwähnte kunsttheoretische Dialog entspinnt sich. Ludwig argumentiert einen Primat der Musik über das Wort, und Ferdinand gibt ihm in der Sache wiederholt recht – da schallt von draußen der „Generalmarsch“ herein und Ludwig wechselt die Ebene: Was soll aus der Kunst werden in dieser rauen stürmischen Zeit? Wird sie nicht, wie eine zarte Pflanze, die vergebens ihr welkes Haupt nach den finstern Wolken wendet, hinter denen die Sonne verschwand, dahinsterben?4
Ferdinand aber greift zu Uniform und Waffen und schilt Ludwigs Unfähigkeit, im Krieg „den ehernen Riesen“ zu erkennen, der „unter die Verwahrlosten“ trete und eine „Morgenröte“ des Glaubens, der Hingabe und damit der Kunst verheiße. Dann bricht er auf in die Schlacht.
2 Hoffmann, E. T. A.: Der Dichter und der Komponist. In: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 1. Frankfurt am Main 2003, S. 752–775. 3 Einige der Beobachtungen, auf die das Weitere sich stützt, folgen einer von Rüdiger Safranski vorgeschlagenen Lesart und biografischen Einordnung der hoffmannschen Erzählung: Safranski, Rüdiger: E. T. A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten (1984). München–Wien 42007, S. 279–291. 4 Hoffmann: Der Dichter und der Komponist (wie Anm. 2), S. 773 (Kursivsetzung nicht im Original).
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Diesem Hauptteil vorangestellt ist eine furiose Eröffnung: „Der Feind war vor den Toren“, hebt der Text an, „das Geschütz donnerte rings umher, und feuersprühende Granaten durchschnitten zischend die Luft“.5 Angstbleiche Bürger rennen um ihr Leben – während Ludwig in seiner Dachstube eine Partitur vollendet. Erst als eine Granate einen Teil des Daches fortreißt, folgt Ludwig den übrigen Bewohnern in den Keller des Hauses: Hier war die ganze Hausgenossenschaft versammelt. In einem Anfall von Liberalität, die ihm sonst gar nicht eigen, hatte der im untern Stock wohnende Weinwirt ein paar Dutzend Flaschen seines besten Weins preisgegeben.6
Die Frauen bringen „manches köstliche Stück“ aus ihren Speisekammern, „man aß – man trank – man ging aus dem durch Angst und Not exaltierten Zustand bald über in das gemütliche Behagen, wo Nachbar zu Nachbar sich [schmieget]“. Leute, „die, sich auf der Treppe begegnend, kaum den Hut gerückt, saßen Hand in Hand beieinander, ihr Innerstes in wechselseitiger Teilnahme aufschließend“.7 Schließlich endet das Bombardement, und am nächsten Morgen rücken die Angreifer in die Stadt – mit ihnen Ferdinand, dem Ludwig nun begegnet. Die Figur des Ludwig steht zentralen Positionen und nicht zuletzt der Lebenssituation des empirischen Autors Hoffmann zumindest nahe. In Ferdinand ist der Jugendfreund Gotthard Friedrich von Hippel zu erkennen, gleichfalls ideologisch wie biografisch. Auch das überraschende Wiedersehen in Dresden hat stattgefunden, allerdings ein halbes Jahr vor der Schlacht um die Stadt, während der Hoffmann in der Tat ein dem geschilderten ähnliches Erlebnis mit der Hausgemeinschaft hatte. Der Ausgang des militärischen Konfliktes hingegen weicht von dem historischen ab, wie sich Hoffmanns auktorialer Erzähler überhaupt der konkreten politisch-militärischen Konstellation gegenüber frappierend indifferent zeigt, in deutlicher Absetzung von Ferdinands glühend patriotischer Figurenrede.8 Was der Text derweil höchst kritisch reflektiert, ist ein struktureller Wandel, der hinter dem Tageskonflikt und seinem Ausgang steht.
5 Ebd., S. 752. 6 Ebd., S. 752–753. 7 Ebd., S. 753. 8 Safranski: E. T. A. Hoffmann (wie Anm. 3), S. 284–285.
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Die Erzählung kreist im Kern um das Verhältnis von Kunst und Politik. Oder genauer: um Möglichkeiten des Ästhetischen, sich zum Politischen zu verhalten. Vordergründig geht es zwar um das spezifischere Verhältnis zwischen (Opern-)„Dichter und Komponist“, und Hoffmanns L udwig preist dabei die Musik als eine holistische, den genialischen Zugriff privilegierende Kunst.9 Zugleich macht er dem Dichter-Freund ein Versöhnungsangebot, seien am Ende doch „Dichter und Musiker die innigstverwandten Glieder einer Kirche“.10 Doch das Angebot verfängt nicht, und indem der Text dieses Scheitern mit dem Krieg zusammenführt, schafft er mehr als einen spannungssteigernden Hintergrund. Vielmehr erweisen sich die direkte Intervention des Krieges in die kunsttheoretischen Erörterungen wie zuvor seine Ursächlichkeit für Ludwigs Kellererlebnis, vor allem aber dieses Erlebnis selbst, als Ausdruck eines grundsätzlichen Konfliktes: Was wird aus den ästhetischen Hoffnungen und Optionen angesichts einer ausgreifenden Expansion des Politischen? Denn nichts anderes ist der Krieg hier: radikale Politik, das Politische in seiner reinen Wucht und Eingriffsmacht. Daher auch die Indifferenz gegenüber konkreten Feindbildern: Aus der Perspektive des Textes ist der Krieg, ist die Politik selbst das Problem. Schicksal und Schicksals-Drama, was das solle, hatte wenige Jahre zuvor Napoleon Bonaparte Johann Wolfgang von Goethe gefragt: „Die Politik ist das Schicksal.“11 Diese Verabsolutierung des Politischen gehört unter die Signa turen der Moderne. Sie folgt deren Entdeckung der Geschichte im engeren Sinne, der Grundannahme einer Entwicklung hin auf eine geöffnete, gestaltbare, jedenfalls fundamental „andere“ Zukunft jenseits vergangener und bestehender Verhältnisse und Vorbilder. In der Moderne wird Politik zum Kampf um diese Zukunft, oder zumindest wird sie so aufgefasst, mythisiert. Darin besteht ihre spezifische Dignität – und zugleich ihr totales, totalitäres Potenzial: Das Politische ist expansiv geworden, es okkupiert Leidenschaften, Hoffnungen, Wünsche, die vormals in der politischen Öffentlichkeit noch nichts zu suchen hatten. Hoffmann bekommt es zu tun mit einer Politik, die sich anschickt, „totalitär“ zu werden.12 9 Hoffmann: Der Dichter und der Komponist (wie Anm. 2), S. 757. 10 Ebd., S. 759. 11 Goethe, Johann Wolfgang von: Unterredung mit Napoleon. In: Goethe. Hamburger Ausgabe. Bd. 10: Autobiographische Schriften II. München 122003, S. 546. 12 Safranski: E. T. A. Hoffmann (wie Anm. 3), S. 273–274.
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Gegenüber diesem Anspruch und Potenzial hat sich die Kunst bei Hoffmann zu verhalten. Nicht anders als etwa Friedrich Schiller verabsolutiert er nun umgekehrt diese: zum umfassenden Ausdruck von und Platzhalter für „Menschsein“, für das Leben – wobei ihm dies zuallererst für die Musik galt, die für ihn die Kunst war. Darin aber besteht der Aussagegehalt der Kellerszene von Hoffmann: Hier gelingt, was im Gespräch mit Ferdinand scheitert, das Glück eines ästhetischen „Einklangs der Seelen“ im Ausdruck ihres „Innersten“ – desselben „Innersten“, das Ludwig zuvor in seine Partitur gelegt hat. Und das sich für die Dauer des Gesprächs mit Ferdinand aufschließt, bis dieser wieder in seine Uniform steigt. Ferdinands Kriegslyrik indes bleibt Ludwig verschlossen. Kunst des Lebens oder politische Kunst, so ließe sich der Gegensatz zusammenfassen. In einem weiteren Horizont gehört Der Dichter und der Komponist somit einem Diskurs an, der als konstitutiv für die Moderne gelten kann. Um es mit Jürgen Habermas zuzuspitzen: Der Diskurs der Moderne hatte seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts unter immer wieder neuen Titeln ein einziges Thema: das Erlahmen der sozialen Bindekräfte, Privatisierung und Entzweiung, kurz: jene Deformationen einer einseitig rationalisierten Alltagspraxis, die das Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende Kraft der Religion hervorrufen.13
Oder, anders und mit stärkerem Bezug auf die angesprochene Entdeckung der Geschichte und die Erhöhung des Politischen gewendet: die Heilung der Kluft, hervorgerufen durch die Entkopplung von „Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“,14 wie sie Reinhart Koselleck konstatiert hat. Entfremdete Subjektivität, epistemologische Spaltung und objektiviertes Leben konstituieren das Leiden der Moderne an sich selbst, die condition moderne und ihren Dichotomienhaushalt vom deutschen Idealismus über Karl Marx bis zu Michel Foucault und Jürgen Habermas. Als Konflikt zwischen Kunst als Leben auf der einen Seite, Politik und Entfremdung auf der anderen, bilden sie auch das Thema in Der Dichter und der Komponist. 13 Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne: Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main 1985, S. 166. 14 Koselleck, Reinhart: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1989, S. 359–375.
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Die horizontale und die vertikale Option Hoffmann spielt drei Optionen der Kunst – des Lebens – im Angesicht der modernen Spaltung durch. Zunächst Ferdinands politische Ästhetik: die Kunst im Sinne des Krieges und der Krieg als Stimulanz der Kunst. Die Erzählung verwirft diese Option. Anhand der Person Ludwigs werden zwei Ausweichbewegungen dagegengesetzt, eine horizontale und eine vertikale. Das Wiedersehen, die Hoffnung freundschaftlich-intellektueller Vereinigung führt Dichter und Komponist in eines der bei Hoffmann notorischen Seitengemächer. Dort kommt das Gespräch zustande, nachdem Ferdinand die Insignien seiner politischen Rolle abgelegt hat. Es wird offen und intensiv geführt – und scheitert am Ende dennoch. Mitten hinein fährt der Militärmarsch, Ferdinand greift nach seiner Rüstung und spricht abschließend vom Wesen des Krieges im Duktus eines Ernst Moritz Arndt, was nach dem gefühlvollen Austausch blechern und hohl klingen muss. Die innere Vereinigung der musischen Freunde bleibt aus, und das trotz des Ausweichens aus dem öffentlichen Raum. Vielmehr erweist sich dieser als horizontal unentrinnbar, ist das Private, der bürgerliche Rückzugsraum eine Chimäre, ein Austausch-Ort, der keinen Austausch gewährleistet, weil jederzeit das ÄußerlichObrigkeitliche hineinfahren und über die Rollen der Sprecher bestimmen kann. Die bürgerliche Gesellschaft erweist sich hier nicht als Gegenüber von Politik, sondern in deren Verfügbarkeit. Dem nun ist das Kontrastszenario einer gelungenen Vereinigung vorangestellt. Die vor dem Beschuss des Politischen in den Keller geflohenen Hausbewohner finden es in einer vertikalen Ausweichbewegung, die sie in einen „exaltierten Zustand“ von Tanz und Erzählung, Mitteilung und Großzügigkeit führt – eine konkrete Utopie, wenn man so will. Bezeichnenderweise fand das reale Erlebnis Hoffmanns, das der literarischen Szene zugrunde liegt, im von Bhabha ausgespielten Treppenflur statt.15 Die Verlegung in den Keller ist Teil seiner metaphorischen Verarbeitung. Das ästhetisierte Leben ist aus einer existenziellen Angst geboren, einem Ausnahmezustand – doch nicht aus Ferdinands Begeisterung für ihn, sondern aus Entsetzen, aus Flucht vor dieser Zumutung. Es ist ganz gleich, wer „oben“ siegt: Ästhetisches Leben, Kunst kann ohnehin nur unterhalb des politisierbaren Raumes gelingen, nicht neben ihm, nicht in der bürgerlichen Ord15 Günzel, Klaus: E. T. A. Hoffmann. Leben und Werk in Briefen, Selbstzeugnissen und Zeitdokumenten. West-Berlin 1979, S. 261–262.
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nung und ihren Geselligkeitsräumen. Die ganze Schärfe dieser Annahme und damit die Verbindung zum Underground des späten 20. Jahrhunderts kommt in den Blick, führt man sich die Aufladung der sozialen Vertikalen im Selbstverständnis der Moderne vor Augen. Die Metaphorik des „Darunter“ reagiert auf eine spezifisch moderne Vorannahme, nämlich die von der Freiheit des Horizontalen. Diese Norm muss mitgelesen werden, um das instruktive Moment der Erzählung für eine Verortung von Underground-Konzepten in der Moderne freizulegen. „Oben“ und „Unten“ waren in den Ständegesellschaften der Frühen Neuzeit scharf akzentuiert. Doch wurde diese soziale Hierarchie als die natürliche Ordnung der Dinge begriffen und wurden folgerichtig Standeszugehörigkeit, Privilegiengenuss und Partizipationsausschlüsse entschieden eindeutiger und statischer imaginiert, als sie tatsächlich verteilt waren. Im Gegensatz dazu verhieß die moderne revolutionäre Fantasie eine rechtlich und bis zu einem gewissen Maße auch materiell egalitäre („Bürger“-)Gesellschaft, die für Austausch und Ausdruck offen, mithin umfassend inklusiv und eben wesentlich horizontal verfasst war. Indem Underground schon semantisch ein verschlossenes „Oben“ voraussetzt, postuliert er durch schiere Existenz das Scheitern dieses Versprechens. Er lässt sich als performative Artikulation des Vorwurfs begreifen, dass ein „Unten“ fortbestehe, und zwar nicht nur als ein graduell schlechter Gestelltes, sondern als ein grundsätzlich Exkludiertes. Diese vehemente Doppel-Geste des Ausgeschlossen-Seins und Selbst-Ausschlusses, die im ästhetischen Kern von Underground-Konzepten steht, ist in einer Ständegesellschaft unverständlich, wo solche Exklusionen als „natürlich“ gelten. In einer modernen Gesellschaft hingegen bezeichnet die vertikale Sonderung einen Skandal. Um genau zu sein, markiert sie das Skandalon in deren Konstitution: Zerspaltung und Entfremdung sind der Moderne nicht kontingent, sondern bilden ihre unhintergehbare Aporie. So auch in Hoffmanns Der Dichter und der Komponist. Die lebensästhetische Rettung in die konkrete Utopie des Bombenkellers mag ein Glücksmoment in existenzieller Not ausmalen, eindeutig ist jedoch die Aussage: Es kann dieses Glück in der Horizontale nicht geben. Die Verheißung einer umfassend inklusiven, und das heißt nicht nur alle, sondern den ganzen Menschen umfassenden und vereinenden Gesellschaft ist chimärisch. Der Grundkonflikt der Moderne ist am Ende nicht lösbar. Der Underground tritt an, immerhin Kunstwerk und Leben ineinander aufzuheben – und die Wunde offenzuhalten. Das unterscheidet ihn von revolutionären Konzepten, aber auch von Drittraum-Modellen, wie sie B habha
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vorstellt. Erstere erhoffen sich immerhin von Umsturz und Rebellion eine verbesserte Gesellschaft; Letztere wiederum versprechen sich von der Auflösung räumlicher Entitäten zumindest eine „Linderung“ gesellschaftlicher Konflikte.
Das Dilemma von „Underground“, „Pop“ und „Gegenkultur“ Underground als Konzept und Begriff steht für das 20. Jahrhundert in einer engen Verbindung mit einem Cluster verwandter Termini wie „Pop“, „Sub-“ und „Gegenkultur“. Die Verbindung der Begriffe führt zunächst schon auf der semantisch-inhaltlichen Ebene in ein Dilemma: Will der Underground erfolgreich in die Kultur der Oberwelt intervenieren, muss er dauerhaft „nach oben“ – und hört eo ipso auf zu sein. Was zugegeben nach einem rhetorischen Trick klingt, könnte gleichwohl einen treffenden Kern haben, der das resignative Fazit der h offmannschen Erzählung noch einmal ausleuchtet. Thomas Hecken widmet entsprechend in seinem kürzlich erschienenen Überblick über die Popkultur einen längeren Abschnitt auch dem Underground.16 Hecken trägt der inneren Heterogenität beider Phänomene Rechnung und belässt sie im Vagen, verzichtet auf eine Definition seines Gegenstandes. Einen Umriss immerhin, was Pop nicht sei, bietet Anja P ompe: Pop sei keine Strömung, dafür mangele es ihm an Originalität der ästhetischen Verfahren. Ebenso wenig sei er eine Bewegung, da ihm ein normatives Programm und organisatorischer Zusammenschluss fehlen. Und schließlich sei er keine Mentalität im Sinne einer politisch-ästhetischen Protesthaltung, sondern ein Projekt ohne die Notwendigkeit teleologischer Vollendung, insofern „Pop in der Vorläufigkeit seines Resultats ebenso vollkommen wie eigenständig ist“.17 Underground und Pop teilen wesentliche strukturelle Merkmale. Auch der Underground stellt keine Strömung im Sinne eines charakteristischen, einheitlichen Stils dar und lässt sich ebenso wenig als programmatische Bewegung fassen. Das Dritte hingegen, Underground als eine politisch-ästhetische
16 Hecken, Thomas: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009. Bielefeld 2009, S. 167–258. 17 Pompe, Anja: Pop als Avantgarde. In: Dies.: Peter Handke. Pop als poetisches Prinzip. Köln–Weimar–Wien 2009, S. 13–72, hier 25.
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Protesthaltung, eine Mentalität – ähnlich der Bohème, wie sie Helmut Kreuzer interpretiert – lässt sich argumentieren.18 Das führt zurück zu Heckens Underground-Kapitel, das mit einer Betrachtung der Neoavantgarde beginnt: Als deren Vertreter par excellence und zugleich des Underground werden die Situationisten vorgestellt. Dem Pop begegneten diese allerdings trotz aller Übereinstimmung der ästhetischen Mittel und Gesten selbst mit Ablehnung, warfen ihm Konsumzwang, Kulturfetischismus und Anpassung vor. Derweil schlägt Hecken auch Andy Warhol mit seinen Filmen der 1960er-Jahre dem Underground zu. Als indes die Zuschauer in die Filme Warhols zu strömen begannen, titelte die New York Times: „The Underground Overflows.“ Hecken verhandelt Pop und Underground in changierenden Zusammenhängen, indem er mal Termini wie Gegenkultur und counter culture nutzt, dann wieder mit Theorien der Subkultur eines Stuart Hall, Milton Yinger und Talcott Parsons argumentiert, schließlich Phänomene wie folk rock und rock music, Hippies und die Neue Linke zusammenbindet. Das ist nicht einfach terminologische Lässlichkeit, sondern reflektiert außer politischen, performativen und ästhetischen Nähen das angesprochene Dilemma: Eine erfolgreiche Intervention des Abseitigen und Untergründigen setzt den Weg nach oben, in die Mitte voraus, auf dem es sich zu verlieren droht. Zumal in Amerika kehrte sich die Gefährdung noch um und ein überaus aneignungsstarker Mainstream zwang die Subkulturen früh in eine fortgesetzte Fluchtbewegung. Mitte der 1970er-Jahre schrieb Richard Goldstein: No sooner is a low-rent, low harassment quarter discovered, than it appears in eight-color spreads on America’s breakfast table. The need for the farther-out permeates our artistic involvement. American culture is a store window which must be periodically spruced and re-dressed. […] The new bohemians needn’t worry about opposition these days; just exploitation.19
Eine mit der Argumentation von Hecken vergleichbare Überlagerung von Underground, Sub-, Alternativ- und Popkultur findet sich bereits 1997 in den Berliner Blättern. Indes geht hier der Autor Roland Lindner insofern begriffsnäher vor, als er die Präfixe ernst nimmt: Subkultur meint für ihn nicht nur eine „Unter-Einheit“ der Kultur, sondern auch Untergründiges, greifbar in 18 Kreuzer, Helmut: Die Bohème. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart 1968. 19 Richard Goldstein zitiert nach Hecken: Pop (wie Anm. 16), S. 217.
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der Leitkategorie des Primitivismus. Dessen emblematischer folk hero sei der Zigeuner – eine Figur, die sich in Egon Bondys Underground-Werken ebenso findet wie in denen Andrzej Stasiuks, Jurij Andruchovyčs und Jáchym Topols. Als solche operiert sie durchgängig mit den Allusionen Vagabund, Abenteurer, hobo und outlaw, Anti-Bürger – spielt aber auch auf den „Heiligen Barbaren“ an. Die Identifikationsfiguren gleichen in ihrer exzentrischen Marginalität Vertretern der Boheme,20 wiewohl Lindner eine spezifische Affinität zum Subterranen beobachtet, das mit dem Subversiven zusammengebracht den Begriff des Underground füllen könnte. Nichtsdestoweniger entscheidet er sich für den Klammerterminus der Subkultur, ähnlich wie eine Neuauflage von Walter Hollsteins Buch Der Untergrund aus dem Jahr 1976, die drei Jahre später als Die Gegengesellschaft neu erschien – zu stark mögen die politischkriminellen Konnotationen des Untergründigen in jenen Jahren gewirkt haben. So uneindeutig das terminologische Feld, so kleinteilig zerfasert präsentiert sich die in einem weiten Sinne „gegenkulturelle“ Szenerie. Eine Vielzahl, de facto wohl die Mehrheit ihrer Protagonisten sah sich jedoch systematisch mit dem hier als Strukturproblem des Underground angerissenen Dilemma zwischen Folgenlosigkeit und entkernender Aneignung konfrontiert. In Global Players beschreibt Sascha Lehnartz 2005 aus der Warte eines beobachtenden Teilnehmers am popkulturellen Betrieb diese mehrfache Dialektik von subversiven Jugend- und Oppositionskulturen und ihrer meist erfolgreichen Absorption in den Mainstream. Dabei thematisiert er auch die Klage über eben solche Vereinnahmungs- und Verwertungsleistungen aus den jeweiligen „Gegenkulturen“ beziehungsweise ihren (oft generationellen) Nachfolgern.21 „Gegenkultureller“ Fundamentalprotest erweist sich so als das ergiebigste Zeichenreservoir eines je zeitgenössischen Mainstream. Ob sich darüber die Gesellschaft verändert und das Politische folgen muss, oder ob es umgekehrt Veränderungen in Gesellschaft und Politik sind, die darüber entscheiden, wann eine ästhetische Innovation verallgemeinert wird beziehungsweise verpufft, sei dahingestellt.
20 Lindner, Rolf: Subkultur. Stichworte zur Wirkungsgeschichte eines Konzepts. In: Berliner Blätter 15 (1997), S. 5–12. 21 Lehnartz, Sascha: Global Players. Warum wir nicht mehr erwachsen werden. Frankfurt am Main 2005, S. 127–160.
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Hier ist von Belang, dass Underground-Konzepte, indem sie die Aporie der Moderne skandalisieren, sich als anklagende Kinder der Moderne deren Konstitutionslogik nicht entziehen können. Im Namen der uneingelösten Vollinklusion müssen sie immerfort neue Ästhetiken des „Unten“ erdenken. Dies gilt umso mehr angesichts einer frappanten Fähigkeit moderner (wie postmoderner) Gesellschaften, Subversion und Konfrontation zu absorbieren, ja zu verschlingen, ihr Entfremdungspotenzial in der Konsequenz indes noch zu steigern. Die Aporie der Moderne ist nicht nur grundsätzlich, sie ist zudem autoregenerativ. Vor diesem Hintergrund liest sich E. T. A. Hoffmanns der Der D ichter und der Komponist als explorative Skizze der Underground-Kunst. Wenn Walter Benjamin hundert Jahre später einschlägig postuliert, Kommunismus sei die Politisierung des Ästhetischen, Faschismus die Ästhetisierung des Politischen,22 so weist der hoffmannsche Dialog beide Strategien als kaum unterscheidbar aus. Vielmehr stellt sich für ihn das Ästhetische, wo es sich mit dem Politischen einlässt, als dessen kunstvernichtender Totalisierungstendenz gegenüber allemal wehrlos dar. Das zeigt er plastisch an Ferdinand, dessen Kunst im Dienste des Volkskrieges seinerzeit durchaus eine neue, sozusagen gegenkulturelle Position markierte. Doch selbst das ästhetizistisch-antipolitische Versöhnungsbemühen Ludwigs unterliegt den letzten, erniedrigenden Worten Ferdinands: Der Text selbst beginnt und endet denn auch mit dem erzpolitischen Wort „Feind“. Bleibt die „konkrete Utopie“ des Kellers – die indessen ganz wörtlich zu begreifen ist als ein „Nicht-Ort“. Hoffmann versucht denn auch gar nicht, sie in die Oberwelt expandieren zu lassen.
22 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936). Frankfurt am Main 2003, S. 42–44.
Gertraude Zand
„Wende“ und „Underground“ im 19. Jahrhundert Das Jahr 1848 und ein Notizheft von Božena Neˇmcová
Božena Němcová gilt als die tschechische Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts, wenn nicht als die tschechische Schriftstellerin schlechthin. Ihr Werk gehört zum Kanon der tschechischen wie der Weltliteratur. Ihre Biografie allerdings ist durch viele Brüche gekennzeichnet, deren radikalster durch die politische Wende des Jahres 1848 bedingt war: Vorher im Zentrum der tschechischen nationalen und reformorientierten Bewegung, fand sich Němcová nach der Niederschlagung der Revolution an der gesellschaftlichen Peripherie wieder und führte in den 1850er-Jahren ein Leben im Untergrund, das seine Spuren auch in einem bisher nicht veröffentlichten Notizheft hinterlassen hat. Božena Němcová wuchs als Barbara Pankl in einer Familie auf, die am unteren Rand der Gesellschaft situiert war: Der Vater war Kutscher und Stallmeister, die Mutter Wäscherin im Dienste der Herzogin von Sagan. Dem Mädchen wurde eine überdurchschnittlich gute Bildung zuteil; die Schlossbibliothek von Ratibořice (Ratiborschitz) stand ihm ebenso zur Verfügung wie Bibliothek und Gesellschaft der Familie des herzöglichen Gutsverwalters in Chvalkovice (Chwalkowitz), wo „Fräulein Betty“ auch Klavierspielen, gutes Benehmen, Nähen, Kochen und andere Fertigkeiten erlernte. Durch die Hochzeit mit dem patriotisch gesinnten Finanzbeamten Josef Němec fand Němcová Eingang in den Kreis national engagierter tschechischer Bürger und Intellektueller sowie Zugang zur tschechischen Sprache und Kultur. In den Jahren zwischen 1842 und 1845 bewegte sie sich in den Salons der besseren Prager Gesellschaft, ehe ihr Mann nach Domažlice (Taus) und Všeruby (Neumark) versetzt wurde. Auch dort widmete sich das Ehepaar der nationalen und kulturellen Agitation und hielt K ontakt nach Prag. Am Zenit des sozialen Aufstieges, als Němcovás erste Gedichte und ihre Bilder aus der Gegend von Taus (Obrazy z okolí domažlického) unter dem Namen Božena Němcová veröffentlicht wurden, malte Josef Vojtěch Hellich 1845 ein Porträt, das sie als Dame der besseren Prager
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Gesellschaft zeigt. Dieses Bild hat die Němcová-Rezeption nachhaltig geprägt.1
Politische Wende und Aktivität Das Jahr 1848 brachte jedoch eine radikale Wende: Als Aktivist der Revolution wurde Němec degradiert und erst nach Nymburk (Nimburg), dann in das rein deutschsprachige Liberec (Reichenberg), 1850 schließlich – auf eigenen Antrag – in die Slowakei versetzt. Trotz einer vorangegangenen Amnestie begannen 1853 neuerliche behördliche Untersuchungen gegen Němec wegen Beteiligung an der Revolution: 1854 wurde er angeklagt, 1855 nach einem Disziplinarverfahren entlassen, dann kurzfristig in Kärnten reaktiviert und 1857 schließlich pensioniert. Damit verbunden waren schwere finanzielle Einbußen: Sein Gehalt wurde herabgesetzt, und weil Němcová in Prag zurückblieb, musste man zwei Haushalte und einige Reisen finanzieren. Němcová verdiente mit schriftstellerischer Erwerbsarbeit dazu, war aber auch auf die Hilfe von Freunden und Gönnern angewiesen. Wie man der Korrespondenz entnehmen kann, musste sie zeitweise hungern und frieren; aus Mangel an Kleidung und Schuhwerk konnte sie manchmal nicht aus dem Haus gehen. Němcová kämpfte nicht nur mit materiellen Schwierigkeiten, sie war auch von den politischen Repressionen nach dem März 1848 betroffen: Veranstaltungen wurden verboten, Zeitungen und Zeitschriften eingestellt, Publikationen zensiert und Personen, die sich für die demokratischen und nationalen Ziele der Revolution eingesetzt hatten, wurden verhaftet, schikaniert, bespitzelt und aus der Öffentlichkeit verbannt. Josef Němec, der den Behörden laut Polizeiberichten als „Ultratscheche“ galt,2 wurde seit 1853 observiert; Božena Němcová seit 1854.
1 Havel, Rudolf: Božena Němcová očima současníků [Božena Němcová in den Augen der Zeitgenossen]. In: Božena Němcová ve vzpomínkách. Hg. v. R udolf Havel. Praha 1961, S. 9–12, hier 10. 2 Kořalka, Jiří: Společensko-politické okolnosti působení Boženy Němcové v rozporuplném desetiletí po roce 1848 [Die gesellschaftspolitischen Umstände des Wirkens von Božena Němcová in der widerspruchsvollen Dekade nach dem Jahr 1848]. In: Božena Němcová. K 140. výročí smrti. Hg. v. Eva Wolfová. Praha 2002, S. 65–78, hier 73.
„Wende“ und „Underground“ im 19. Jahrhundert |
Viktorie/Vítězka Paulová berichtete unter dem Decknamen Antonietta/ Antonie Záleski über die Ansichten und Aktivitäten der Němcová,3 die in den Polizeiberichten als „in der ganzen Umgebung als exaltierte Tschechin und Volksaufwieglerin“ bekannte,4 „sehr überspannte tschechische Literatin“ bezeichnet wird, die „an den politischen Umtrieben des Nemec […] Anteil hatte“.5 Němcovás Korrespondenz wurde von der Zensur gelesen und teilweise einbehalten. 1859 wurde bei ihr eine Hausdurchsuchung vorgenommen und noch nach der Verfassungsänderung von 1860 blieb das Ehepaar Němec im Verzeichnis der Observierten. Němcová wurden das Festhalten an den politischen Zielen der Revolution, nationale Agitation und Panslawismus vorgeworfen. Sie interessierte sich in der Tat für alle slawischen Völker und Kulturen, besonders für die Slowakei, die sie zwischen 1851 und 1855 insgesamt viermal bereiste – nicht nur um ihren Mann zu besuchen, sondern auch um eigene Kontakte zu pflegen und Material für die slowakischen Märchen zu sammeln, die 1857/58 erschienen. Zudem hielt Němcová, die keine vordergründig politischen Aktivitäten plante,6 in einer allgemeinen Atmosphäre von Angst und Misstrauen, in der sogar die radikalen Demokraten verstummt waren, ihre Kontakte mit den Protagonisten von 1848 aufrecht. So verkehrte sie zum Beispiel mit den Mitgliedern des Nationalausschusses und Aktivisten des Slawenkongresses František Palacký und František Ladislav Rieger, mit dem Philosophen Ignác Jan Hanuš, der wegen „Verbreitung des umstürzlerischen Hegelianismus“ und „Herabwürdigung der positiven Gottesfürchtigkeit“ 1852 seine Professur in Olomouc (Olmütz) verlor,7 oder mit dem Journalisten Karel Havlíček Borovský nach seiner Rückkehr aus der Internierung in Brixen im Jahre 1855. Němcová und ihr Mann nahmen 1856 an Havlíčeks Begräbnis teil, das 3 Hlavačka, Milan/Rossová, Marcela: Kultura a moc v době neoabsolutismu: Božena Němcová pod dohledem (mužovým a policie) [Kultur und Macht in der Zeit des Neoabsolutismus: Božena Němcová unter Aufsicht (von Ehemann und Polizei)]. In: Božena Němcová. Život – dílo – doba. Hg. v. Milan Horký und Roman Horký. Česká Skalice 2006, S. 71–78, hier 73. 4 Život Boženy Němcové. Dopisy a dokumenty. Bd. 4: Dvě léta persekuce (1853– 1854) [Das Leben von Božena Němcová. Briefe und Dokumente. Bd. 4: Zwei Jahre der Verfolgung]. Hg. v. Miloslav Novotný. Praha 1956, S. 37. 5 Ebd., S. 29. 6 Hlavačka/Rossová: Kultura a moc v době neoabsolutismu (wie Anm. 3), S. 75. 7 Lexikon české literatury. Osobnosti, díla, instituce. Bd. 2/I: H–J [Lexikon der tschechischen Literatur. Personen, Werke, Institutionen]. Hg. v. Vladimír Forst u. a. Praha 1993, S. 67–70 (Schlagwort „Ignác Jan Hanuš“), hier 68.
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nicht nur von der Trauergemeinde, sondern auch von der Polizei als nationale Manifestation betrachtet wurde. Angeblich legte Němcová einen Lorbeerkranz auf den Sarg, der als Dornenkranz gedeutet wurde;8 ihr Mann wurde für seine Teilnahme an dem Begräbnis acht Tage inhaftiert.
Lebensphilosophie und Untergrund Gesellschaftlich befand sich Němcová in den 1850er-Jahren im Untergrund – das war nicht nur ein Ergebnis der politischen Verfolgung, sondern auch ihrer Lebenshaltung:9 „Sie war nicht nur Opfer der nationalen Verhältnisse, sondern vor allem und hauptsächlich ihrer Weltanschauung und ihrer gesellschaftlichen Einstellung“, konstatiert die führende Němcová-Forscherin Jaroslava Janáčková.10 Němcová erhob Anspruch auf eine selbstbestimmte Existenz, ging einige außereheliche Liebesbeziehungen ein und verstieß, als ihr Mann in die Slowakei versetzt wurde, gegen die in einem Gesetz von 1811 festgeschriebene Pflicht des ehelichen Zusammenlebens.11 In Fragen der Kindererziehung verwirklichte sie ihre eigenen, liberalen Vorstellungen ebenso wie in der Verfolgung ihrer Projekte und Ansprüche als Schriftstellerin. Darüber hinaus war sie um ökonomische Unabhängigkeit bemüht. Mit diesem Streben nach einem selbstbestimmten Leben stellt Němcová 8 Siehe dazu Macura, Vladimír: Sen o trnové koruně [Der Traum von der Dornenkrone]. In: Ders.: Český sen. Praha 1998, S. 119–128. 9 Der Begriff „Underground“ wird hier historisch verstanden als Bezeichnung für eine alternative Kultur der 1950er- bis 1980er-Jahre, die im repressiven Klima der McCarthy-Ära in den USA entstand und in den 1960er-Jahren auch in die tschechische Kultur Eingang fand. Während der Underground in den USA schon in den 1960er-Jahren über die Hippiebewegung transformiert und kommerzialisiert wurde, hielt sich der alternative, subversive Charakter unter den Bedingungen der kommunistisch regierten Tschechoslowakei bis 1989. Hier wird der ahistorische Begriff „Untergrund“ allgemein als Bezeichnung für einen Raum verwendet, der sich relational „unterhalb“ einer hermetisch abgeschlossenen Oberfläche und auch qualitativ „unten“ befindet. 10 Janáčková, Jaroslava: Božena Němcová a sestry Rottovy (ve světle nových pramenů a souvislostí) [Božena Němcová und die Rott-Schwestern (im Licht neuer Quellen und Zusammenhänge)]. In: Česká literatura 5 (2005), S. 493–517, hier 512. 11 Lenderová, Milena: Božena Němcová mezi souhlasem a revoltou. Několik spíše náhodných myšlenek [Božena Němcová zwischen Zustimmung und Revolte. Einige eher zufällige Gedanken]. In: Božena Němcová (wie Anm. 3), S. 79–85, hier 80.
„Wende“ und „Underground“ im 19. Jahrhundert |
einen spätromantischen Frauen-Typus dar, der nicht zu den Vorstellungen von Feminität der 1850er-Jahre passte. Letztere repräsentiert etwa Karolína Světlá, die als Inbegriff der Selbstverleugnung und Selbstaufopferung gilt.12 Světlá und ihre Schwester Sofie Podlipská, beide Töchter der wohlhabenden Prager Familie Rott und ehemalige Busenfreundinnen von Němcová, wandten sich im Laufe der 1850er-Jahre ebenso von ihr ab wie viele andere Damen der besseren Prager Gesellschaft. Auch Josef Němec fand den unkonventionellen Lebensstil seiner Frau inakzeptabel. In einem Brief von 1855, als sich Němcová gerade in der Slowa kei aufhielt, beschwerte er sich: „Du aber fliegst zu deinem Vergnügen in den Bergen herum und scherst dich einen Dreck um den Haushalt und um die Dinge, um die du dich vor allem kümmern solltest.“13 Auf der anderen Seite stehen der Erfolg des Romans Die Großmutter (Babička) und das Ansehen seiner Autorin, das auch Němec zu schätzen wusste. Diese Ambivalenz erfasst der deutsche Schriftsteller und Biograf Carl Wilhelm Otto August von Schindel in Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts:14 Einige tadeln fast jede Schriftstellerei der Frauen, als ihrem eigentümlichen Berufe fremd, und sprechen ihr alles Verdienst ab, da sie nur, von Eitelkeit geleitet, glänzen wollen, und darüber die Pflichten der Haushaltung und Kinderzucht vernachlässigen und unglückliche Ehen befördern. […] Es fehlt aber auch nicht an Stimmen, welche diese Erscheinung als einen Beleg der fortschreitenden Kultur unseres Zeitalters und einer glücklichen Generation preisen, und sich in schmeichelnden Lobeserhebungen der schriftstellernden Frauen im Allgemeinen ermüden.15
In einer Kritik, deren zweiter Teil an die oben zitierten Vorwürfe von Josef Němec erinnert, formulierte der deutsche Literaturhistoriker Karl Barthel im Jahr 1853: 12 Macura, Vladimír: Sen o rozkoši [Der Traum von der Lust]. In: Ders.: Český sen (wie Anm. 8), S. 168–182, hier 177. 13 Jiří Němec zitiert nach Hlavačka/Rossová: Kultura a moc v době neoabsolutismu (wie Anm. 3), S. 75: „[…] ty ale lítáš pro své vyražení po horách a čerta starého o domov dbáš a o věci, které přede vším jiným mají být tvojí starostí […].“ 14 Dieser Titel erschien 1823–1825 in drei Bänden in Leipzig. 15 Carl von Schindel zitiert nach Tebben, Karin: Soziokulturelle Bedingungen weiblicher Schriftkultur im 18. und 19. Jahrhundert. In: Beruf: Schriftstellerin. Schreibende Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. v. Ders. Göttingen 1998, S. 17–46, hier 31.
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[…] dass das Kontingent der Weiber, welche sich unberufenerweise in die Öffentlichkeit wagen, entweder aus hässlichen und hysterischen alten Jungfern […] oder aus saloppen Hausfrauen und pflichtvergessenen Müttern besteht, deren Haushaltsbücher – wenn sie überhaupt welche führen – in Unordnung, deren Stuben, Küchen, Speisekammern und Weißzeugschränke im Tohuwabohu-Zustand, deren Modistinnenrechnungen groß, aber unbezahlt und deren Kinder physisch und psychisch ungewaschen sind.16
Untergrund und Gemeinschaftlichkeit Nicht nur im Streben nach einem selbstbestimmten Leben auch um den Preis der politischen Verfolgung und der gesellschaftlichen Ächtung, sondern auch im Bemühen, diesen Anspruch mit Gleichgesinnten zu teilen, kann man eine Parallele zum späteren Underground finden: „Der Traum von Božena Němcová war eine Gemeinschaft des Gesprächs, der Freundschaft und der Liebe nach dem romantischen Konzept der Geselligkeit von F riedrich Schlegel.“17 Das öffentliche Leben in den Salons, etwa der Familien Frič und Staněk, war nach 1848 empfindlich eingeschränkt. An seine Stelle trat für Němcová die sogenannte Böhmisch-Mährische Bruderschaft (Česko-moravské bratrstvo), zu deren Gründung der mährische Augustiner und Revolutionär František Matouš Klácel Ende 1848 aufgerufen hatte. Im Gründungsjahr 1849 trat als erstes Mitglied Božena Němcová bei. Insgesamt hatte der Bund etwa 30 Mitglieder in Böhmen und Mähren, darunter den Arzt und Protagonisten des Slawenkongresses Jan Helcelet.18 Deklariertes Ziel des Bundes war die praktische Verwirklichung des Ideals der Brüderlichkeit, weshalb man sich mit „bratře“ (Bruder) und „sestro“ (Schwester) anredete.19 Allerdings löste sich 16 Ebd., S. 33. 17 Zajac, Peter: Božena Němcová: Faktúra, kontrafaktúra, fraktúra [Božena Němcová: Faktur, Kontrafaktur, Fraktur]. In: Božena Němcová a její Babička. Sborník příspěvků z III. kongresu světové literárněvědné bohemistiky. Hg. v. Karel Piorecký. Praha 2006, S. 187–196, hier 194. 18 Weitere Mitglieder waren die weniger bekannten Veronika Vrbíková, Mína Fischerová und František Tomáš Bratránek, aber auch Žofie Rottová, die nachmalige Schriftstellerin Sofie Podlipská. 19 Englová, Jana: Die Zusammenarbeit sächsischer, tschechischer und deutschböhmischer Demokraten im Frühjahr 1849. In: 1848/49. Revolutionen in Ostmittel europa. Hg. v. Rudolf Jaworski und Robert Luft. München 1996, S. 303–312, hier
„Wende“ und „Underground“ im 19. Jahrhundert |
die Bruderschaft schon 1851 auf – wie es scheint, auch wegen einer Affäre Němcovás mit Helcelet. Im Kreis der Böhmisch-Mährischen Bruderschaft machte sich Němcová mit den Ideen des Jung- beziehungsweise Links-Hegelianismus und des utopischen Sozialismus bekannt. 1849 verfasste der Literat und „Aufklärer“ Klácel die sogenannten Briefe eines Freundes an eine Freundin über den Ursprung des Sozialismus und Kommunismus (Listy přítele přítelkyni o původu socialismu a komunismu), die erste tschechische Abhandlung über dieses Thema. Sie wurde anonym in Klácels Moravské noviny (Mährische Nachrichten) publiziert, adressiert war sie an Němcová unter deren Wahlnamen Ludmila (Klácel nannte sich übrigens Ladimír, Helcelet – Lubomír, für ihn verwendete Němcová auch das russische Ivan).20 Dem Interesse für soziale Fragen blieb Němcová treu, einige ihrer späten Publikationen widmen sich der Lage der Arbeiterschaft in den böhmischen Fabriken, zum Beispiel in der Baumwoll-Spinnerei in Česká Skalice (Böhmisch Skalitz). Nach der Auflösung der Böhmisch-Mährischen Bruderschaft 1851 formierte sich Mitte der 1850er-Jahre ein neuer Freundeskreis, die sogenannte Frič-Gefolgschaft (Fričova družina), dem sich auch die etwas ältere Němcová anschloss. Josef Václav Frič war 1848 als Revolutionsführer auf die Barrikaden gegangen und 1849 wegen Hochverrats zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt worden. 1854 kehrte er nach einer Amnestie aus der Haft im slowakischen Komárno (Komorn) nach Prag zurück und lebte dort bis zur neuerlichen Verhaftung 1858. Er sammelte junge radikale Demokraten um sich, darunter den Puškin-Übersetzer und Hanka-Schüler Václav Čeněk Bendl und den Medizinstudenten Hanuš Jurenka, die Mitte der 1850er-Jahre Němcovás vertrauteste Freunde waren. Frič initiierte den mit 1855 datierten Almanach Lada Nióla.21 Den Titel des Almanachs erläuterte der Herausgeber als eine Verbindung von „Lada“, der Tochter der Sonne, und deren Tochter „Nióla“ (auch als „Morena“ oder „Morana“ bekannt), die als Hoffnung für ein baldiges Aufblü309. – Im Umfeld von Karel Slavoj Amerling bezeichnete man sich übrigens ganz ähnlich als „duchobratr“ (Geistesbruder) oder „duchosestra“ (Geistesschwester). Siehe Macura: Sen o rozkoši (wie Anm. 12), S. 178. 20 Die Böhmisch-Mährische Bruderschaft hatte auch Kontakte zum russischen Revolutionär und Anarchisten Michail Bakunin. Er kam Anfang Juni 1848 nach Prag, nahm als einziger Russe am Slawenkongress teil, unterstützte den Aufstand der Tschechen gegen die Habsburger und zog nach dessen Niederschlagung ins schlesische Vratislav (Breslau) weiter. 21 Lumír 50 (1854), S. 1199 (Rubrik „Z Prahy“).
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hen der slawischen Poesie aus der Unterwelt auf die Erde geschickt wurden. Lada Nióla war der einzige literarische Auftritt der demokratischen Jugend, und er wurde von der zeitgenössischen Kritik mit dem Vorwurf des „Kosmopolitismus“ und „heineschen Zynismus“ abgelehnt. Němcová war darin unter dem Pseudonym Ludmila z Hrádku (Ludmila aus Hrádek) mit der Erzählung Die Schwestern (Sestry) vertreten.22 Einer der interessantesten Texte Němcovás findet sich in einem von Hand geschriebenen Bändchen, das sie Frič zusammen mit anderen Verehrerinnen zu Neujahr 1856 widmete. Němcovás vierteilige lyrische Skizze Vier Jahreszeiten (Čtyri [sic!] doby) unterscheidet sich grundsätzlich von allen bis dahin bekannten Publikationen der Autorin: Sie ist offen autobiografisch und bis zur Obszönität freizügig. Selbst der beschenkte Frič kritisierte in seinen – wiewohl erst Jahrzehnte später verfassten – Erinnerungen: „Der Beitrag unserer Božena ist eine Art verrückte Beichte von ihr, die sich nicht für die Öffentlichkeit schickt.“23 Mehr von dem, was „sich nicht für die Öffentlichkeit schickt“, findet man in Němcovás Korrespondenz, die in der zweiten Hälfte der 1850er-Jahre zum bevorzugten Ausdrucksmittel der Schriftstellerin wurde, besonders in den berühmten, nie abgeschickten drei letzten Briefen an Vojtěch N áprstek, in denen Němcová von ehelichen Gewaltszenen erzählt oder von der Handhabung der Damenbinden, die sie wegen ihrer Unterleibskrankheit tragen musste. Aber auch ein bisher nicht veröffentlichtes Notizheft gibt ein intimes Zeugnis über das letzte Jahrzehnt ihres Lebens.
22 Noch eine Randbemerkung zur ambivalenten Stellung Němcovás: Im gleichen Jahr 1855 publizierte sie die Erzählung Karla im repräsentativen Almanach Böhmische Perlen (Perly české), der schon ein Jahr zuvor anlässlich eines Besuches von Franz Joseph I. und Elisabeth in Prag entstanden war und das Idealbild eines habsburgtreuen tschechischen Volkes zeichnete. Auch hier firmierte sie unter einem Pseudonym (Štěpán Danieli). Vgl. Lexikon české literatury. Osobnosti, díla, instituce. Bd. 3/II: P–Ř [Lexikon der tschechischen Literatur. Personen, Werke, Institutionen]. Hg. v. Jiří Opelík u.a. Praha 2000, S. 865–866 (Schlagwort „Perly české“), hier 866. 23 Josef Václav Frič zitiert nach Život Boženy Němcové. Dopisy a dokumenty. Bd. 5: Slavný rok 1855 (Vydání Babičky, čtvrtá cesta na Slovensko) [Das Leben von Božena Němcová. Briefe und Dokumente. Bd. 5: Das berühmte Jahr 1855 (Die Herausgabe von Die Großmutter, die vierte Reise in die Slowakei)]. Hg. v. M iloslav Novotný. Praha 1957, S. 361: „Příspěvek naší Boženy jest její blouznivou jakousi zpovědí, jež pro veřejnost se nehodí.“
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Private Offenbarung und Provokation: Das Notizheft Das Notizheft beziehungsweise Zápisník besteht aus 167 nicht durchgehend beschriebenen, offensichtlich nachträglich gebundenen und nummerierten Blättern.24 Es beinhaltet kurrent geschriebene deutschsprachige Textabschriften und Zitate sowie eigene Einträge, die meistens in tschechischer Sprache und in Lateinschrift geschrieben sind – Namen, Adressen, Fremdwörter, Blumennamen, Rezepte, Stationen von Zugstrecken, Aus- und Aufgabenlisten, Witze, Redensarten, Listen von eigenen veröffentlichten und nicht veröffentlichten Texten, Verzeichnisse von Sprüchen, Vergleichen, Schimpfwörtern, Germanismen, Slowakismen und slowakischen Sprichwörtern, Übersetzungen, politische und intime Notizen oder Arbeitsnotizen. Ein einziger Eintrag hat erzählenden Charakter: Er beschreibt einen Ausflug auf die Burg Kokořín (Kokorschin) und die Erinnerung an den verstorbenen Sohn Hynek (139b–143b). Das Notizheft kann man aufgrund des Neben-, ja Durcheinanders verschiedenster Textsorten als Vorläufer der tschechischen Tagebuchliteratur des 20. Jahrhunderts sehen, an deren Anfang Jakub steht: als eine Durchdringung des praktischen Lebensalltags mit künstlerischen und intellektuellen Reflexionen, als Einheit von Leben und Werk, wie sie auch für den tschechischen Underground des 20. Jahrhunderts typisch ist. An Umfang überwiegen Abschriften aus fremden Texten, die Němcová entweder nur ausgeliehen hatte oder die von der Zensur verboten waren. Im ersten Fall handelt es sich vor allem um Erzählungen von Adalbert Stifter, die seitenweise von Němcovás Hand, manchmal auch in der Handschrift von Václav Bendl oder Hanuš Jurenka niedergeschrieben sind; Němcovás Interesse an der Natur, die in den ausgewählten Passagen von Stifter geschildert wird, schlägt sich auch in einer Abschrift von Johann Wolfgang von Goethes Die Natur oder von Auszügen aus Mathias Jacob Schleidens Die Pflanze nieder. Zur zweiten Kategorie gehören Texte von Autoren wie George Sand, Heinrich Heine oder Karl von Gutzkow, deren Werke von den österreichischen Zensurbehörden zumindest teilweise mit einem „damnatur“ (wird verurteilt) oder „erga schedam“ (gegen Erlaubnisschein) belegt waren.25 Beson24 Die folgenden Textstellen aus Notizheft werden mit der Blattnummer sowie dem Kleinbuchstaben a für die Vorderseite und b für die Rückseite angegeben. Quelle: Zápisník, Památník Národního Písemnictví, Fond Boženy Němcové. 25 Quelle: http://www.univie.ac.at/censorship/ (Letzter Zugriff: 28.12.2012).
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ders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang eine Abschrift von Karel Havlíčeks Dichtung Das Lied von Vladimír (Píseň o Vladimírovi, 104a–106b), später bekannt als Die Taufe des Heiligen Vladimír (Křest svatého Vladimíra),26 die im Brixener Exil entstanden war und in den 1850er-Jahren nicht veröffentlicht werden konnte. Neben den genannten, politisch verfolgten Literaten zitierte Němcová auch radikale Denker wie den Anarchisten Pierre Joseph Proudhon oder Vertreter des utopischen Sozialismus wie Charles Fourier und Henri de Saint-Simon. Němcová nahm selbst eine liberale bis anarchistische Haltung ein, für die sie zwar nicht politisch kämpfte, die sie aber in ihrem Lebensalltag umsetzte und die auch in Notizheft zum Ausdruck kommt: Das mit Bleistift notierte Zitat „O Freiheit der Seele, wer kann dich, ohne wahnwitzig zu sein, hemmen wollen!“ ist mit Tinte nachgezogen (92b), ein paar Zeilen weiter setzt Němcová fort: „[…] was er am meisten fürchtet, ist, durch die Macht der Gesetze auf die Ruhe der Sklaven verwiesen zu werden“ (92b).27 Durch Unterstreichung hervorgehoben ist der Eintrag „Heautonomie“ als „Selbstbestimmung des erwachsenen Geistes, der nämlich sich selbst Gesetz ist“ (2b).28 Němcová erhebt Anspruch nicht nur auf Selbstbestimmung, sondern auch auf ein erfülltes Liebesleben. Unter „Hedonismus“ notiert sie sich: „[D]as Ziel des Menschen ist die Lust (hedone). Der Weiseste und Tugenhafteste [sic!] ist jener, der dem rechten Wohlgefallen am meisten entsprechen kann“ (2a). Dazu passend auch den Spruch: „[D]ie Tugend muss eine alte Jungfer sein, dass sie niemand haben will“ (42b).29
26 Dazu sei eine Stelle aus einem Brief an Václav Bendl aus dem Jahr 1857 zitiert: Němcová, Božena: Korespondence III. 1857–1858 [Korrespondenz III. 1857– 1858]. Hg. v. Robert Adam u. a. Praha 2006, S. 76: „Ty Tyr. elegie znáš? – Vždyť jsem Ti to jednou dala opsat, ne? – Ještě dostanu celou Vladimiriádu – a to Ti pak dám také opsat […].“ – Němcová, Božena: Mich zwingt nichts als die Liebe. Briefe. Hg. v. Eckhard Thiele. München 2006, S. 204: „Die Tiroler Elegien kennst Du? – Die habe ich doch einmal für Dich abschreiben lassen, nicht wahr? – Ich werde noch die ganze Wladimiriade bekommen – die lasse ich dann auch für Dich abschreiben, […].“ 27 Der Autor dieser beiden Zitate konnte leider nicht identifiziert werden. 28 Im Original: „Svévladství ducha dospělého, jenž totiž sám svým jest zákonem.“ 29 Im Original: „Cíl člověka jest slasť (hedone). Nejmoudřejší a nejcnostnější jest ten, kdo umí vyhověti nejvíce pravé libosti.“ / „Cnost musí být stará panna, že ji nikdo nechce.“
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Das Gefallen der Literatin an den sinnlichen Freuden des Lebens und ihre Sehnsucht nach Liebe belegen etliche Zitate und Lebensweisheiten, zum Beispiel „Wer vor Liebe und Licht weicht, der ist weltenweit vom ewigen Sein“ (83b) oder Gedichte aus Georg Friedrich Daumers Sammlung Hafis, deren Titelheld den Typus eines weisen Genussmenschen verkörpert, wie etwa in den folgenden Zeilen (39b): Mit der Kutte, das ist wahr, Reimt sich unser Wandel schwer. Aber uns’re Seele trägt Lange keine Kutte mehr.
Nachdem die früheren Kontakte zur Prager Gesellschaft aus politischen Gründen abgebrochen waren und sich die Böhmisch-Mährische Bruderschaft, der Němcová als führende Protagonistin angehört hatte, nicht zuletzt durch ihr Verschulden aufgelöst hatte, schloss sich die Autorin, wie erwähnt, dem Kreis um Josef Václav Frič an. Sie hoffte, hier die Idee von einem Bund des Geistes umsetzen zu können, wie sie ihn in Karl von Gutzkows großem Zeit- und Gesellschaftsroman Die Ritter vom Geiste kennengelernt hatte.30 Eine zentrale Rolle spielten dabei Hanuš Jurenka und Václav Čeněk Bendl. Mit Jurenka hatte Němcová ein Verhältnis, ihn vor allem betrachtete sie als einen „Ritter vom Geiste“ im Sinne Gutzkows. Doch wurden ihre Hoffnungen enttäuscht: Nach Beendigung seines Studiums verließ Jurenka 1855 Prag und ging erst nach Galizien, 1856 als praktischer Arzt nach B řeznice (Bresnitz). Bendl war ein Bohemien, der das Gymnasium abgebrochen und die Matura extern nachgeholt hatte. 1854–1855 gab er die satirische Zeitschrift Rachejtle (Die Rakete) heraus, in der auch Němcová publizierte; 1856 verließ auch er Prag und trat in das Priesterseminar in České Budějovice (Böhmisch Budweis) ein, weil er seinen Lebensunterhalt nicht mehr anders bestreiten konnte. Für den Umgang mit den beiden mindestens zehn Jahre jüngeren Studenten Bendl und Jurenka wurde Němcová von der Prager Gesellschaft mit 30 Auch das Motto zu Němcovás Die Großmutter, ein – leicht abgewandeltes – Zitat aus Karl von Gutzkows Die Ritter vom Geiste, ist im Notizbuch notiert: „Daraus siehst du, dass die Armen nicht so ganz elend sind, wie wir uns denken; sie haben wirklich mehr Paradies als wir uns einbilden und selbst besitzen“ (42a).
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besonderer Verachtung bestraft. Für sie selbst war es aber die Zeit einer intensiven gemeinschaftlichen geistigen Beschäftigung; zusammen mit Jurenka und Bendl verfasste sie für Rachejtle, wo sie mit Auslegung der Geschichte (Výklad historie) und Kaffeegesellschaft (Kávová společnost) auch eigene satirische Texte publizierte, die Gemeinschaftsarbeit Die Blumensprache (Květinomluva).31 Und auch in Notizheft finden sich Einträge, die als Gemeinschaftsarbeit bezeichnet werden können: An manchen Stellen wechseln sich beim Abschreiben die Handschriften ab, an anderen wiederum kommunizieren die Freunde unmittelbar über das Notizheft miteinander. Die Atmosphäre ihrer Zusammenkünfte beschreibt Němcová in einem Brief an Bendl aus dem Jahre 1857, als sie unterhalb des Emmausklosters wohnte: Gerade in der Nacht vorher habe ich von Euch beiden geträumt. Wir waren unterm Emmauskloster auf der Pawlatsche: Sie lagen auf dem Kanapee und rauchten. Ich saß im Sessel und Jura auf dem Boden, den Kopf in meinen Schoß gelegt; ich kraulte ihn im Haar, sah schweigend zum Sternenhimmel, er schnaubte nur so; und Sie rauchten und rissen Witze. – Ich schlug Ihnen vor, ein paar Verse auf uns zu improvisieren. Sie überlegten kurz, dann warfen Sie die Zigarre über die Pawlatsche und standen auf – und huben in sehr pathetischem Ton eine humoristische Improvisation über unser Dreiblatt an. Jura hat schrecklich gelacht, fiel Ihnen um den Hals und […] wollte Sie zu sich auf den Boden hinabziehen; Sie aber fielen sehr galant vor mir auf die Knie […].32
Die intime Atmosphäre des Notizbuches ist eindeutig erotisch aufgeladen. Jurenka etwa schreibt folgende Zeilen aus einem Gedicht von N ikolaus
31 Dieser Text konnte als Gemeinschaftsarbeit von Jurenka, Bendl und Němcová identifiziert werden. In: Lexikon české literatury (wie Anm. 22), S. 1196 (Schlagwort „Rachejtle“). 32 Němcová: Mich zwingt nichts als die Liebe (wie Anm. 26), S. 204. – Němcová: Korespondence III (wie Anm. 26), S. 73: „Právě tu noc se mně o vás obou zdálo. Byli jsme pod Emauzy na pavlači; vy jste ležel na kanapičku a kouřil. Já seděla na sesli a Hanuš seděl na zemi a hlavu měl položenou na mém klíně; já se mu prohra bávala ve vlasech, dívala se mlčky na hvězdnaté nebe, on funěl jen tak, vy jste kouřil a dělal vtipy. – Já vám navrhla, abyste udělal na tu naši situací nějakou improvizaci; vy jste se chvíli rozmýšlel, pak jste odhodě cigáro přes pavlač se pozvedl – a začal patetickým tónem velmi humoristickou improvizaci na náš trojlist. Júra [= Jurenka] se hrozně smál, popadl Vás okolo krku a […] chtěl Vás k sobě stáhnout na zem. Vy ale jste velmi dvorně spustil se přede mne na koleno […].“
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Lenau nieder, das den Titel Wunsch trägt (95b): und ich bedecke selig wie er dein liebes Antlitz, den schönern Himmel, mit feurigen Küssen.
Im Laufe der letzten Zeile verändert sich die Schrift (wie unter dem Einfluss von feurigen Küssen). Andernorts hält Jurenka fest: „[I]ch war gänzlich unfähig, jenen beliebten, interessanten Unsinn von mir zu geben, der oftmals durch das Ohr des Mädchens sich in ihr Herz eingeschlichen hat“ (53a).33 Oder: „[S]chreiben Sie das über die Karpaten hier in dieses Buch“ (94b).34 Der letzte Eintrag setzt das gemeinsame Wissen voraus, worauf sich die Anspielung bezieht – aus dem Zusammenhang lässt sich aber auch hier ein erotisches Erlebnis vermuten, denn in der unmittelbaren Umgebung befinden sich Gedichte aus Heines Romanzero im Sinne folgender Zeilen (94b): Auf seiner Schulter erblickt sie auch – Und sie bedeckt sie mit Küssen – Drei kleine Narben, Denkmäler der Lust Die sie einst hineingebissen.
In der Abschrift eines Textes von George Sand befinden sich Einschübe,35 die vermutlich aus Jurenkas Feder stammen (92b, 93a, 93b): Allein nie hätte ich gedacht, dass du wagen würdest, am heiligen Familien herde zwischen der Mutter und ihren Kindern, dem erhabenen Bande, das die Vorsehung sogar beim Tiere gereinigt │: aj hleďme, jakpak to ví Sandová více nežli všechni přírodozpytci dohromady :│[schau, wie da die Sand mehr weiß als alle Naturforscher zusammen] und veredelt zu haben scheint, zu wüten! […] Du wirst nie einen Geliebten antreffen, der nicht eifersüchtig auf dich ist, das heißt, der nicht mit dir geizt, dich nicht 33 Im Original: „Bylť jsem zhola neschopen vydávati ze sebe onen oblíbený, zajímavý nesmysl, jenž častokráte skrze ucho dívčino do srdce jejího se vkrádá.“ 34 Im Original: „Napíšte to o Karpatech sem do té knížky.“ 35 Die Einschübe sind, wie im Original, in │: Klammer :│gesetzt.
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quält und sich nicht misstrauisch, ungerecht und despotisch gegen dich zeigt. – │: Namentlich da er aus den Prämissen gerechten Grund dazu hat :│O Liebe, du bist also nicht eine Religion? Du hast also weder Offenbarungen │: halt ein Barbar, wo sind deren mehr als in der Liebe :│noch Gesetze, noch Propheten?
Gerade die an- oder eingefügten Textstellen sind oft unkenntlich gemacht, etwa nach Jurenkas Übersetzung der Grasmücke (Fauvette) von George Sand aus dem Französischen unter dem tschechischen Titel Pěnice. Im angefügten Postscriptum von Bendl kann man gerade noch die ersten Worte entziffern: „Das kann nur eine Dame …“ (81a).36 Der Rest ist unleserlich. Manche Seiten sind zur Gänze übermalt, wobei die Frage offenbleiben muss, wer die Streichungen wann und aus welchem Grund vorgenommen hat (82a). Mit dem Russisten Bendl lernte Němcová die kyrillische Schrift, die sie in Notizheft verwendete, um verfängliche Notizen (in tschechischer Sprache) zu kodieren, zum Beispiel über das Ableben des russischen Zaren Nikolaus I. im Jahre 1855, aber auch um offensichtlich intime Angelegenheiten festzuhalten (120b): „3/8 прв. сет. – 4. див. – 5 рап там. – 10. вече у Гер. – 12. у нь тушени – 14. исто. рад. – 16. дру. – 17. у нь – 21. у нас – 23. пот. – 24. пр.“ Da hier die Wörter auch abgekürzt sind, ist eine zuverlässige Rekonstruktion ebenso wenig möglich wie bei den eingeschwärzten Passagen.
Resümee Für Božena Němcová brachte das Jahr 1848 eine radikale Wende, die sich sowohl auf ihre gesellschaftliche Position wie auch auf ihre familiäre Situation und auf ihr künstlerisches Schaffen auswirkte. Nach den großen literarischen Erfolgen Němcovás Mitte der 1850er-Jahre setzte eine Zeit der Krise ein, aus der vor allem persönliche Lebenszeugnisse wie die umfangreiche Korrespondenz und das Notizheft erhalten sind. Sie geben ein exzellentes Zeugnis der Durchdringung von Leben und Schreiben, vom Ideal einer freien und selbstbestimmten Lebensgestaltung, die sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzt, und von gemeinschaftlichen performativen Kunstakten, die als Vorläufer der kulturellen Praktiken des Underground angesehen werden können.
36 Im Original: „To může jen dáma […].“
Inga Probst
Ganz unten Wolfgang Hilbigs Schreibstrategien des Untergrunds
In jenem beharrlichen Sommer – und wetterleuchten von ferne, vielleicht die mündungsfeuer der panzer vor prag, in jenem beharrlichen sommer – und wir auf dem wasser, natürlich mit planken unter den jesuslatschen: Ein treffen der dichter sollte es werden […]. (Andreas Reimann)1
Wolfgang Hilbig ist kein Protagonist der Underground-Szene. Der zum Einzelgänger stilisierte Schriftsteller, der sich mit jedem Schreibakt mühsam aus seiner Arbeiterexistenz herausschält und doch immer wieder in das „Milieu“ zurückfällt, distanzierte sich nicht nur vom offiziellen Kulturbetrieb der DDR, sondern stand auch den inoffiziellen Literaturkreisen in Leipzig und Berlin skeptisch gegenüber. So bleiben seine Teilnahme an privaten Lesungen und die Veröffentlichung in selbst verlegten Zeitschriften die Ausnahme. Dies gilt auch für die Rezitation seiner Gedichte anlässlich der im Juni 1968 von Siegmar Faust initiierten, nicht genehmigten „Motorbootlesung“ auf einem Leipziger Stausee – „ein treffen der dichter“, das bis zum heutigen Zeitpunkt Teil der (inszenierten) Erinnerung an die gegenkulturelle Szene Leipzigs ist, wie der anspielungsreiche Titel des eingangs zitierten Gedichtes Beitrag zur Legende von Andreas Reimann deutlich macht.2 Wie auch Birgit Dahlke betont, steht der ewige Außenseiter Hilbig – weder anerkannter Intellektuel 1 Reimann, Andreas: Beitrag zur Legende. In: Ders.: Bewohnbare Stadt. LeipzigGedichte. Leipzig 2009, S. 25–27, hier 25. 2 Die Einübung der Außenspur. Die andere Kultur in Leipzig 1971–1990. Hg. v. Uta Grundmann, Klaus Michael und Susanna Seufert. Leipzig 1996, S. 137–138.
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ler und „Kopfarbeiter“ noch „sprachloser“, weil bildungsferner Proletarier – in der wechselseitigen Abgrenzung am Rand beider Daseinsformen, an dem sich ein Abgrund auftut.3 Als solcher ist dieser die verräumlichte Manifestation der schmerzhaften Zerrissenheit, die in alle Figuren als alter ego des Autors hineingeschrieben wird, repräsentiert durch die von einem labyrinthischen Gangsystem umgebenen unterirdischen Räume der Fabrik- und Heizungskeller, welche die in Endlosschleife perpetuierten Handlungs- und Symbolräume der Texte Hilbigs bilden. Damit wird der Abgrund nicht nur zur Chiffre des Absturzes und der Unterwelt, sondern auch zum Ort der Begegnung mit sich selbst in den Tiefen der eigenen Psyche. Diese Prosa des Untergründigen, der Bodenlosigkeit und des Abgrundes zeigt Hilbig als UntergrundAutor, der den Underground wörtlich nimmt. Diesem literalen Verständnis von Underground entsprechend unternehmen die folgenden Ausführungen eine Erkundung der Tiefendimensionen exemplarischer Texte Hilbigs und offerieren so ein topografisches Gedankenspiel. Absicht ist, die unterschiedlichen, vertikal gedachten Bedeutungsschichten abzutragen und als Schreibstrategie(n) des Untergrunds zu benennen. Diese lassen sich nicht auf eine bestimmte Schaffensphase oder singuläre Texte des 2007 verstorbenen Schriftstellers reduzieren, sondern basieren auf einem Verständnis des hilbigschen Œuvres als in sich geschlossener Motiv-, Stoff- und Figur(en)-Komplex, der ein zusammenhängendes Textsystem bildet.
OBEN/Unter-grund oder unsicherer Grund Untergrund verweist nicht nur auf das, was sich unter der Erdoberfläche – im Verborgenen – befindet, wie das grimmsche Wörterbuch zeigt, sondern bezeichnet im Deutschen auch den oberirdischen Grund, den (Erd-)Boden an sich.4 In diesem Sinn handelt es sich beim Untergrund zunächst um die Oberfläche, auf der die Protagonisten eines Großteils der Texte Hilbigs unmotivierte und ziellose Exkursionen unternehmen, durch eine vom Braun 3 Dahlke, Birgit: Den Untergang beschreiben: Zur Lyrik und Prosa Wolfgang Hilbigs vor und nach 1989. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 8 (2009), S. 12–29. 4 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 24. Leipzig 1854– 1960, Spalten 1589–1596: „Untergrund: 1) der boden: ein hügel … auf felsigem untergrund […] (erdboden) […] 2) erdschicht innerhalb des bodens.“
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kohletagebau devastierte Landschaft voller kriegszerstörter oder dem Verfall preisgegebener Fabrikruinen. Dabei wandern sie auf einem ausgekohlten, porösen und ausgehöhlten Untergrund, sodass jederzeit ein jähes Einbrechen droht. Die Randgänge an Abraumkippen und Schlackebergen werden als lebensgefährlicher Spaziergang „auf verbrauchter Materie […] auf Abraum“ beschrieben,5 der als Chiffre einer Geschichts- und individuellen Erinnerungslosigkeit lesbar ist: Dort, wo Siedlungen und mit ihnen sämtliche zivilisatorische Spuren zugunsten des Kohleabbaus ausgelöscht werden, ist eine dauerhafte, identifikatorische Stabilität vermittelnde Verwurzelung unmöglich. So sind die Figuren auf ihren Wegen durch die öden Ebenen des finis terrae auf der Suche nach einer in den Abgründen des zuoberst gekehrten Untergrunds verlorenen Zeit: „Vor mir taten sich Abgründe auf, deren Tiefen das Mondlicht kaum erreichte … hier hatte das Dörfchen W. gelegen.“6 Abgesehen vom instabilen Grund der Halden und Tagebauschluchten ist die Gefahr, die Bodenhaftung zu verlieren, oftmals an die durch Schlaflosigkeit und Alkohol beeinträchtigten Bewusstseinszustände der Protagonisten gekoppelt, die letztlich an der Bewältigung des stupiden Alltags und ihrer Identitätssuche scheitern. Wie in der Erzählung Fester Grund gleiten dem Ich-Erzähler nicht nur banale Alltagsgegenstände wie Bierglas oder Kaffeetasse aus der Hand, sondern in einem somnambulen Zustand geistiger Verwirrtheit zwischen Traum und Dämmer kommt ihm mit dem Zeitgefühl jegliche Verbindung zur Außenwelt abhanden. Schließlich droht auch der Boden nachzugeben: Als ich die Stufen erklomm, war ich unsicher […] unsicher auf den Füßen, da ich die Einbildung nicht loswerden konnte, die Dielen unter mir hätten sich, nach einigen Sekunden merkwürdigen Schlingerns, in eine Neigung […] begeben, auf der ich fürchten musste, den Halt zu verlieren und seitwärts abzugleiten …7
5 Hilbig, Wolfgang: Die Kunde von den Bäumen (1992). In: Ders.: Werke III. Erzählungen. Hg. v. Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Frankfurt am Main 2010, S. 203–281, hier 210. 6 Ebd., S. 264–265. 7 Hilbig, Wolfgang: Fester Grund (1984). In: Ders.: Werke II. Erzählungen und Kurzprosa. Hg. v. Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Frankfurt am Main 2009, S. 339–347, hier 341.
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Bei den Bildern eines unsicheren Stands auf vermeintlich festem Untergrund geht es also nur vordergründig um ab- und einbrechende Oberflächen einer entmenschlichten Landschaft. Vielmehr sind sie Ausdruck eines als Existenzbedrohung empfundenen Schlingerns auf brüchigem Grund, bei dem Bewusstseinsbeeinträchtigungen in Form von Apathie und Alkoholismus nur die sichtbaren Zeichen einer tief verwurzelten Entfremdung und Verunsicherung sind: „Es ist kein Boden unter meinen Füßen!“8
Abstieg In der Tristesse der sozialistischen Arbeitswelt und der in Paralyse mündenden Unfähigkeit, sich von dieser zu befreien, formiert sich Hilbigs Werk. Keine der dilettierenden Schriftstellerfiguren erreicht den Status des allgemein anerkannten Künstlers, und ihr Schreiben am Arbeitsplatz und in der Freizeit bleibt ein solipsistischer Akt im Verborgenen, der sich nicht an ein Publikum wendet, sondern selbstreferenziell nur einen einzigen Leser hat, „und dieser Leser war ich selbst“.9 In der Konsequenz ziehen sich die Protagonisten allen Aufstiegsversuchen zum Trotz immer wieder in ihr Ureigenstes zurück: das proletarische Milieu, verdichtet im Elternhaus der thüringischsächsischen Tagebauprovinz „unter eine[r] brennende[n] Lampe […] in einer winzigen verqualmten Wohnküche“.10 Die geschilderte Welt ist weder die von staatlicher Seite ideologisierte einer „herrschenden“ Arbeiterklasse, wie sie in der Literatur des „Bitterfelder Weges“ beschworen wurde, noch das sozialromantische Milieu einer von Pathos und Selbstbewusstsein durchdrungenen Arbeiterkultur, sondern eine kollwitzsche Welt sozialer und geistiger Verelendung, des Verschleißes und der Stagnation, nicht im urbanen Umfeld der (Industrie-)Städte, sondern in der Peripherie, die die Ballungszentren mit Energie in Form von Braunkohle versorgt. Hilbig verklammert so das (wechselseitige) Abhängigkeitsverhältnis von Peripherie und Zentrum mit der Position seiner als Schriftsteller dilettierenden und delirierenden Protagonisten, die eine gesellschaftlich periphere Stellung einnehmen (müssen). Indem die Arbeiterklasse – geleitet vom Bewusst 8 Hilbig: Die Kunde von den Bäumen (wie Anm. 5), S. 220. 9 Ebd., S. 214. 10 Hilbig, Wolfgang: Der Nachmittag (1995). In: Hilbig: Werke II (wie Anm. 7), S. 535–545, hier 538.
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sein, „einer enterbten, macht- und geistlosen Klasse anzugehören“11 – nicht heroisiert, sondern als Subproletariat demaskiert auftritt, wird ein erneuter Abgrund transparent. Dieser klafft zwischen dem „Werktätigen“-Diskurs, der alle sozialen Schichten nivellieren soll, und dem habituellen Selbstverständnis der Arbeiterschaft, ihres Zeichens eine „Diktatur des Proletariats“ ausübend, von der sie selbst jedoch nichts weiß: „Und wenn man ihnen vierzig Jahre lang versucht hatte einzureden, dass sie das Werk, an dem sie teilhatten, selbst bestimmen sollten, so hatten sie es doch nicht verstanden.“12 Somit wird als weitere Tiefendimension auf den „fünften Stand“ der Unterschicht Deklassierter und Unterprivilegierter verwiesen. Diese sub alterne Gruppe Ausgestoßener hat keine artikulierbare Stimme und ist dazu degradiert, einen Gegenraum zu bilden, mithilfe dessen sich in binärer Unterscheidungslogik die herrschende Macht konstituieren kann. Dieser Untergrund als sozialer Ort eines irreversiblen Abstiegs ist auf eine eindimensionale Blickrichtung „von unten nach oben“ festgelegt. Im konstitutiven, auch von einer als klassenlos apostrophierten Ordnung nicht überwundenen Unten, von dem sich das Oben des Proletariats absetzt, sammeln sich Gruppen, die nicht in der Einheitsgesellschaft der DDR aufgegangen sind: Es gab verhältnismäßig viele Undeutsche … […] in unserer Straße, Tschechen, Polen, Kroaten, Familien, die vor dem Ersten Weltkrieg, oder schon um die Jahrhundertwende, aus Osteuropa zugewandert waren. Es gab kaum deutsche Namen in dieser Straße, mein Großvater, der …] aus Polen nach Deutschland gekommen war, sprach polnisch und russisch mit den Leuten unseres Viertels. Dieses Viertel war verrufen […] und noch heute […] heißt es, man kommt von da hinten.13
Mithilfe topografischer Metaphern werden die gesellschaftlichen Abgründe als Ort derjenigen beschrieben, die qua Herkunft marginalisiert und zum „Anderen“ des Gesellschaftsdiskurses stigmatisiert werden. Ins Abseits – mit anderen Worten: ins Verborgene – verdrängt und so zur Unsichtbarkeit verurteilt, leben diese in der Erkenntnis, „dass es nicht mehr tiefer hinabgeht“.14 11 Ders.: Der Brief (1981). In: Hilbig: Werke II (wie Anm. 7), S. 191–260, hier 198. 12 Ders.: Die Erinnerungen (1996). In: Hilbig: Werke II (wie Anm. 7), S. 546–565, hier 563. 13 Hilbig: Der Brief (wie Anm. 11), S. 207. 14 Hilbig: Der Brief (wie Anm. 11), S. 206.
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UNTEN/Under-ground15 oder Keller, Kesselhaus, Labyrinth was haben wir vergessen im Untergrund, Hammer oder Sichel oder Zirkel16
Sinnbild des unteren Endes der Gesellschaft ist die konkrete Lokalität des Kellers, die in Hilbigs Texten mehr als ein spärlich beleuchteter Ort ist, wie die Erzählung Die Flaschen im Keller zeigt. Hier werden die Kellerräume, zum Bersten gefüllt mit über Jahre hinweg gesammelten Flaschen, zum archetypischen Ort der Bedrohung erhoben. Die ungereinigten, mit klebrig-gärenden Rückständen überzogenen Flaschen sind nur eine Erscheinungsform des Unheimlichen, das an seinem buchstäblichen Ort – dem Keller – jenes ursprünglich Vertraute repräsentiert, das im Akt der Verdrängung entfremdet und deshalb zum Platzhalter für das Fremde, Unterdrückte und Abseitige gemacht wurde.17 Ohne an dieser Stelle die psychoanalytisch inspirierte Deutung der (Wein-/Bier-)Flaschen, „obszöne Reihen und Schichten bildend“,18 weiter zu vertiefen, soll das Unheimliche über die groteske Überzeichnung hinaus als Teil eines poetischen Konzeptes verstanden werden, dessen Ort der Untergrund ist. Denn nicht zuletzt sind es die Keller der Berliner Mietskasernen, die als genius loci der hilbigschen Textlandschaft lesbar sind. Wie Hilbigs Roman „Ich“ zeigt, sind die „reich verzweigten und unübersichtlichen Gänge […] unter dem Pflaster der Stadt Berlin“ bevorzugter Aufenthaltsort des Protagonisten M. W.19 Dieser ist kein Flaneur,20 der das Spazierengehen in den Straßen als unmittelbaren Sinneseindruck und mithin als 15 Siehe die englische Bedeutung: „Underground“: Below the surface of the earth / under the earth’s surface // below the surface of the ground / subterranean / subsoil. In: Longman Dictionary of Contemporary English. [o. O.] 42005. – The Oxford English Dictionary. Oxford 21989. 16 Braun, Volker: Bodenloser Satz. Frankfurt am Main 1990, S. 40. 17 Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Ders.: Studienausgabe Bd. 4. Psychologische Schriften. Hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt am Main 71989, S. 241–274, hier 264. 18 Hilbig, Wolfgang: Die Flaschen im Keller (1987). In: Hilbig: Werke II (wie Anm. 7), S. 374–381, hier 375. 19 Ders.: „Ich“. Frankfurt am Main 52002, S. 14. 20 Erneut wird so auch der soziale Unterschied zum privilegierten, selbstdarstellerischen Aristokraten aufgerufen, dessen dandyhafter Müßiggang sich fundamental vom Arbeitsleben und Überlebenskampf des Proletariers unterscheidet. Vgl. Keidel, Matthias: Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion. Würzburg 2006, S. 13.
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ästhetisches Erlebnis auffasst. Vielmehr handelt es sich bei dieser Figur um einen Getriebenen, der im Verborgenen der nach den Abwässern und Fäkalien riechenden Unterwelt Berlins sein verkanntes Schriftstellerdasein in einer schizophrenen Doppelexistenz mit seiner Funktion als IM der Staatssicherheit vereint. Während sich M. W. in der städtischen Topografie Ostberlins immer tiefer in seine Observationen eines inoffiziellen Literaturzirkels verstrickt, verändert das System der Kellergänge seine Funktion. Es stellt nicht nur den Schauplatz des kriminell motivierten Abtauchens in den Untergrund dar, sondern zunächst einen Zufluchtsort, der durch seine Unwirtlichkeit und permanente, unsichtbare Bedrohung aber zunehmend seiner Schutzfunktion beraubt und letztlich zu M. W.s Falle wird: „Dieser Ort hier unten war der letzte, an dem ich mit mir allein gewesen war. Eine einzige Figur war es, die hier unten mit Beobachtung zu rechnen hatte: ich selbst … beobachtet von mir selbst.“21 Das (Keller-)Labyrinth, Symbol des (Irr-)Weges der eigenen Psyche und gleichzeitig auf die Desorientierung M. W.s im Spitzel-Verwirrspiel verweisend, wird so zum Austragungsort einer Konfrontation des mehrfach gespaltenen Subjektes „Schriftsteller/Spitzel/Arbeiter“ mit sich selbst. Ohne erlösenden Ausgang ist dieses Labyrinth ein Gefängnis, das seinen Insassen nicht fest-setzt, sondern zur ziellosen Bewegung zwingt.22 Unter der Oberfläche der Stadt, „wo so viele Tausend Tonnen von Finsternis aufbewahrt wurden“,23 wird das Innerste der „Hure Babylon“ von M. W. als Schoß einer „monströsen Vettel“ imaginiert, der er „unter die Röcke gekrochen“ ist.24 Dieses Negativ der „Hauptstadt der Republik“, auf ihrer Oberfläche Gegenwärtigkeit hervorbringend und damit dem Vergessen zuarbeitend, verbirgt „aus Schamgefühl vor der Welt“ ein brüchiges, morsches Fundament,25 das im Morast der Geschichte verankert ist und auf den eigenen Untergang bereits vorausdeutet. Zuvor als eine Art Enthüllungsroman über die Durchdringung der urbanen Subkultur des Prenzlauer Bergs durch die Stasi rezipiert, ist „Ich“ mittlerweile als ein Text kanonisiert, der das Zerr-
21 Hilbig: „Ich“ (wie Anm. 19), S. 41. 22 Zur Symbolik des Labyrinths vergleiche Głowiński, Michał: Mythen in Verkleidung. Dionysos, Narziß, Prometheus, Marchołt, Labyrinth. Frankfurt am Main 2005, S. 172–185. 23 Hilbig: „Ich“ (wie Anm. 19), S. 30. 24 Ebd., S. 249. 25 Ebd.
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bild eines Staates gestaltet und als baudrillardsches Simulacrum ad absurdum führt. Aber auch die Underground-Szene wird satirisch überspitzt als elitäre Gruppierung vorgeführt, deren interner Diskurs vorgibt, „dass man begeisterter Leser Foucaults war und dass es in der Folge davon zur Pflicht gerann, auch noch Derrida oder Paul de Man zu lesen“.26 Der Protagonist gibt der selbst gewählten Isolation des Untergrunds den Vorzug gegenüber privaten Veranstaltungen des Undergrounds. So ist der Weg für eine Poetik des Untergrunds bereitet: Über das (satirische) Verweisspiel mit semantischen und metaphorischen Überschneidungen zwischen Untergrund und Underground hinaus stellt diese dem Großstadt-Text eine labyrinthische Unterwelt gegenüber. Vom Kellermotiv ausgehend kann der subterrane Schauplatz auf das Kesselhaus ausgeweitet werden, womit der Heizer – mehr als eine bloße Anspielung auf Franz Kafkas Erzählung – zum Symbol der Kellerexistenz überhaupt stilisiert wird. Die im Topografischen realisierte Metapher des sozialen Status wird über die unwiderrufbar in die Tiefe verwiesene Existenz des Heizers, der innerhalb der Betriebshierarchie ganz unten agiert, wieder aufgenommen: […] dieser Betriebsteil, dieser letzte wacklige Eckzahn aus dem verlorengegangenen Gebiss der Arbeiter- und Bauernmacht, war die Arbeitsstelle der Straffälligen, der Alkoholiker und derjenigen, die den Aufstand gegen die Betriebshierarchie geprobt hatten, alles Leute also, die außer Sichtweite geschafft werden mussten.27
Außerdem stellt sich die Frage der Subjektkonstituierung am verrußten Ort des abgeschiedenen Kesselhauses erneut. Während sich die Identitätssuche des Subjektes in „Ich“ anhand des Spitzel-Motivs verkompliziert und einen weiteren Bruch erfährt, wird die Fragmentarisierung des Subjektes in der Erzählung Der dunkle Mann schließlich mithilfe des Doppelgängermotivs bis zur letzten Konsequenz – als Fortführung des im Labyrinth gefangenen „Ich“ – zu Ende gedacht: Sie kulminiert in der Ermordung des unheimlichen Zwillings. Als der Ich-Erzähler, seit Tagen von einem geheimnisvollen Unbekannten verfolgt und in diffuse Gespräche über seine DDR-Vergangenheit verwickelt, 26 Ebd., S. 22. 27 Hilbig: Die Erinnerungen (wie Anm. 12), S. 550.
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in seinem Gegenüber sich selbst erkennt – „Ich versuchte mich zu erinnern, wie er ausgesehen hatte […] und merkwürdigerweise blickte ich dabei in den Spiegel“ –,28 tötet er ihn. In Form des Selbstgesprächs macht der Ich-Erzähler sein Gegenüber, das er als Widersacher und Konkurrenten wahrnimmt, zu einem Objekt, indem er sich durch den performativen Akt des An- und Aussprechens selbst entäußert. Diese „Selbstbeobachtung“ eskaliert jedoch in einem Zweikampf und dem Mord am zweiten Ich.29 Als „etwas Fremdes aus dem Ich hinausprojiziert“,30 wird in Hilbigs Erzählung also ein abgespaltener Teil des Eigenen zum Fremden degradiert, ermordet und anschließend vernichtet. In einem Befreiungsakt wird die Leiche in den bereits vor langer Zeit erkalteten Schacht des Heizkessels einer stillgelegten Fabrik geworfen. Genau am Ur-Ort jener Kellerexistenz, der ebenso konstituierend wie sinnstiftend für Hilbigs „Arbeiter-Autoren“ ist, stürzt der Erzähler einen Teil seines Selbst in jene Tiefen, aus denen er stammt: Ich warf seinen Körper in den Füllschacht des mittleren Kessels, […] sein Gesicht sah ich nicht mehr, es war durch den Spalt der Innenwände gefallen, seine Stirn lag in der uralten Schlacke. Dann zerrte ich den Kohlewagen über den Schacht […] dröhnend und fauchend, eine ungeheure Staubwolke verbreitend, schoss die zerfallene ausgetrocknete Rohbraunkohle […] in den Kessel und füllte ihn bis weit über die Hälfte … der Leichnam war nicht mehr zu sehen. Alles, was er über mich gewusst hatte – während ich von ihm gewusst hatte, dass er mir sehr ähnlich gewesen war – war mit einem Mal verschwunden.31
Durch das im Schreibakt hervorgebrachte und dann ermordete alter ego wird mit dem – Roland Barthes zitierenden – Tod des Autors als Selbst-Mord der Topos des Untergrunds als Ausdruck tiefster seelischer Abgründe lesbar. Das Unten ist der Ort eines Verdoppelungsspieles und zugleich Schauplatz einer
28 Hilbig, Wolfgang: Der dunkle Mann (2002). In: Hilbig: Werke II (wie Anm. 7), S. 573–611, hier 599. 29 Freud: Das Unheimliche (wie Anm. 17), S. 258. 30 Ebd., S. 259. 31 Hilbig: Der dunkle Mann (wie Anm. 28), S. 610–611.
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„Spaltungsfantasie“,32 die durch den im Schreibakt ausgeführten Macht- und Tötungstrieb artikuliert und ausagiert wird.
Mundus Subterraneus: Unterwelt und Apokalypse Von den bodenlosen Abgründen multipler Identitätskonstruktionen führt der Weg zum Abstieg in die mythischen Unterwelten Dantes und der A eneis. Hier liegt eine weitere Bedeutungsschicht, die als letzte Tiefendimension der Texte Hilbigs beleuchtet werden soll. Alte Abdeckerei, ein in Traumsequenzen zergliederter Spaziergang durch die Tagebauebenen, ist eine Reise in den Abgrund, bei der in einem einzigen alptraumhaften Akt der Zerstörung die Erdoberfläche über den Bergwerkstollen, mit denen das gesamte Gebiet unterhöhlt ist, einbricht: „Es war geschehen, dass sich eines Nachts die Erde auftat und, unter furchtbarem Getöse, jene alten […] Werksteile […] von ihrem Antlitz tilgte.“33 Mit dieser katábasis wird der Topos des Untergrunds einer apokalyptischen Klimax zugeführt,34 bei der mitsamt der Erdoberfläche die Ruinen des Industriezeitalters, verdichtet in der Chiffre des Schachtes Germania II, in einem Inferno untergehen. Im Bild des alles verschlingenden „Mahlstroms“ – ein intertextueller Verweis auf Edgar Allan Poe – gerät die Oberwelt in einen Strudel, „alles mit sich reißend, um noch tiefer in die Erde zu fahren“.35 Die labyrinthischen Katakomben aus „Ich“ und die Kohle und Arbeitskraft verschlingenden Kessel der Heizkeller werden so mythisch aufgeladen und als Hades inszeniert,36 der als binäres Gegenüber der Oberwelt der Lebenden ein Totenreich ist, in „dem sich die Vergangenheit sammelt“.37 Diese wiegt so schwer, dass der Grund unter ihr immer mehr hinabsackt: „Worüber schrit32 Mit diesem Schlagwort hat Gerald Bär seine Studie zum Doppelgängermotiv überschrieben: Bär, Gerald: Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm. Amsterdam–New York 2005. 33 Hilbig, Wolfgang: Alte Abdeckerei (1991). In: Hilbig: Werke III (wie Anm. 5), S. 113–203, hier 192. 34 Vgl. folgende ausführliche Erarbeitung der Bedeutung der katábasis als literarisches Motiv: Platthaus, Isabel: Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne. München 2004. 35 Hilbig: Alte Abdeckerei (wie Anm. 33), S. 194. 36 Zur metaphorischen Wechselwirkung von Industrie und Hölle in der Literatur siehe Platthaus: Höllenfahrten (wie Anm. 34), S. 29–33. 37 Ebd., S. 10.
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ten wir denn tatsächlich hinweg: über Verschwiegenes, über Verschwundenes, über das Schweigen in unseren Gedanken.“38 Auch die Kindheitserinnerungen, die der Erzähler während seines Abstiegs in die Unterwelt aufruft, werden von den Signifikanten des kulturellen Gedächtnisses überlagert, wobei deutlich wird, dass diese Gedächtnissplitter, ebenfalls im Abwärtssog mitgerissen, frei taumelnde Zeichen des kollektiv Verdrängten sind: „Derweil das bestialische Land, von dem ich umgeben war, die scheusslichen Wahrheiten einer Unterwelt heraufbeschwor, die nur wenige Zentimeter unter dem Gras begann.“39 Im Wissen um die Abgründe der Vergangenheit brechen diese „scheuss lichen Wahrheiten“ im Moment der Katastrophe hervor. Leitmotivisch gleich mehrfach kodiert, werden sie immer wieder aufgerufen: „Rampe“, „Gleise“, „Rollen von Eisenbahnzügen“, „Abdeckerweiden“, „Seife“.40 An diesem unterirdischen Ort der Angst ist all das aufgehoben, was verdrängt wurde – in dem Augenblick jedoch, in dem das Oberirdische in der Tiefe verschwindet, wird das Vergessene schließlich in eine eindimensionale Dauerpräsenz überführt. Was zuvor im Keller des Gedächtnisses verschlossen war, drängt nun herauf und wird allgegenwärtig.
Ganz unten: Resümee Geschult an der Poetik des Unheimlichen E. T. A. Hoffmanns, dem (romantischen) Bergwerkmotiv sowie der gothic novel und auf ein intertextuelles Repertoire zurückgreifend, das sich aus der klassischen Moderne eines Samuel Beckett und James Joyce speist, schreibt sich Wolfgang Hilbig in die Tradition jener Literatur ein, der das Untergründige als konkreter Locus und (!) Topos immanent ist. So vermischen sich in seinem Werk erstens die existenzielle Erfahrung des Lebens in der „Unterschicht“ und das Ringen um Anerkennung als Schriftsteller, zweitens steht die ebenso instabile Erfahrung einer Landschaft im Vordergrund, die permanent untergraben und verworfen wird, um dann als enthistorisierte und entzivilisierte Mondlandschaft sich selbst überlassen zu werden. Dieses Wechselspiel zwischen Biografie und Topografie, zwischen faktischem und imaginärem Untergrund manifestiert 38 Hilbig: Alte Abdeckerei (wie Anm. 33), S. 142. 39 Ebd., S. 151. 40 Ebd., S. 122–123, 148 u. 171.
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sich drittens im Topos des Untergrunds, der sich ebenso in (Heizungs-)Kellern wie im Bild des Untergangs und der Unterwelt äußert. Auf diese Weise zeigt sich, wie die Erfahrung, ganz unten zu schreiben, einerseits zum werkbestimmenden Paradigma werden kann, und dieser Topos andererseits immer wieder palimpsestartig um- und überschrieben und in all seinen Bedeutungsvarianten ausgeschöpft wird. Die Metaphorik des Untergründigen in Hilbigs Texten kann nicht nur als Kommentar der inoffiziellen Literatur der DDR oder gar als deren Abgesang gelesen werden, denn im Untergrund Hilbigs treffen sich UndergroundSchriftsteller und Stasi-Spitzel nicht nur, sondern werden ununterscheidbar. Das „Ich“ des gleichnamigen Romans ist daher nur in Anführungszeichen zu denken, ist mehrdeutiges Zitat staatlicher und dissidenter Identität und verweist auf die Ausweglosigkeit der Beziehung von Stasi und Underground, wie sie sich symbolisch in den abrupt endenden Kellergängen manifestiert. Der Untergrund ist also der Ort, an dem sich verleugnete, verdrängte und missliebige Gestalten, Identitäten und Erinnerungen treffen. So klingt es wie eine Selbstanalyse wenn Waller, Protagonist des Prosastücks Ablösung, urteilt: Leicht und selbstverständlich die Erklärung, nach welcher die Katakomben […] den tropfenden und muffigen Kellern meines Unterbewusstseins gleichen, worin mein Verlangen gerade alles findet, was es zur Ernährung meines Unbehagens braucht.41
In diesem Sinne geht es in allen Texten Hilbigs um das Ent-bergen des Verborgenen aus dem Untergrund, ohne dass jedoch die eigene untergründige Position verlassen werden müsste: Doch es können diese Katakomben nicht nur eingebildete Fluchtwinkel gewesen sein […]. Ich suchte tatsächlich etwas in ihnen, sie existierten wirklich, und in der Tat weilte ich als Person darin. […] Wären die Räume dort unten nur Bilder gewesen […] so hätte ich mich doch auch […] im Tageslicht aufhalten können […] und es erscheint mir nicht zu bezweifeln, dass mir das Unterbewusstsein ermöglicht hatte, mehr zu finden im Innern der visionären Gänge […]: da ich doch hinabstieg, etwas zu suchen!42 41 Hilbig, Wolfgang: Ablösung (1988). In: Hilbig: Werke II (wie Anm. 7), S. 717– 718, hier 717. 42 Ebd.
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Ein ungeheuerlicher Stadtbewohner im Untergrund Zu Minotaurus von Péter Nádas
Und womöglich hängt auch die lichtvollste Sphäre der Beziehungen mit dem Göttlichen in irgendeiner Weise von jener Sphäre – der dunkelsten – ab, die uns vom Tier trennt. (Giorgio Agamben)1
Péter Nádas’ Erzählung Minotaurus versetzt die Titelfigur mitten in die Stadt. Spielorte der Narration sind eine städtische Wohnung und ein dunkles Keller gewölbe unter dem Wohnhaus. Dort wohnen Mária und József, in ihrem Keller ein „Er“. Sie achten sehr genau darauf, dass die Existenz des Untergrund-Bewohners von den Nachbarn unentdeckt bleibt. Mithilfe der Familienkonstellationen parallelisiert der Text nominell den kretischen Mythos und einen christologischen Kontext und kreuzt beide Narrative miteinander. Mit einem so dramatischen wie offenen Ende: Ob József den Kellerbewohner, und damit seinen Ziehsohn, tatsächlich getötet hat, bleibt am Schluss unklar, da das Blut an Józsefs Händen durchaus auch von einem Opfertier stammen könnte. Mária unterstellt József jedoch die Tat. Die Parallelisierung der Narrative lässt damit zumindest zu, in der mutmaßlichen Tötung des Minotaurus einen Zusammenhang zum Tode Jesu anzunehmen.2 Die Zuordnung einzelner Szenen sowie des Textes im Ganzen zu einem der beiden Narrative zieht keinen Ausschluss des jeweils anderen nach sich. So lässt sich die im Verlauf der Erzählung immer wieder hergestellte Relation auch als Prozess gegenseitiger Intervention beschreiben. Dass diese Verschränkung zunächst durch die Nennung dreier Eigennamen erreicht 1 Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt am Main 2003, S. 26. 2 Dass der Minotaurus im minoisch-kretischen Mythos von Theseus bezwungen und getötet wird, findet in Nádas’ Erzählung keine Erwähnung.
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wird, weist deren „ikonische Konstanz“ aus,3 die der Text gleichzeitig gerade dadurch unterläuft, dass er ihrem Denotationspotenzial vermeintlich differente Bezüge einschreibt. So verweigert dieser Nádas-Text die Narration des klassischen Mythos und der christlichen Erzählung und bringt beide in einer Art Familienstory zusammen, die dann auch mitten in die Stadt passt. Die folgende interpretative Annäherung an Nádas’ Erzählung privilegiert unter ausdrücklicher Berücksichtigung des motivischen Bestandes die narrative Struktur von Minotaurus. Herausgehoben wird die besondere poetische und ästhetische Verarbeitung des bereits durch den Titel aufgerufenen Narratives, das bei Nádas nicht mehr in dem kretisch-minoischen Palast, sondern prominent in einem (Budapester) Stadtwohnhaus situiert wird. Der Minotaurus wird im Text an einen alltäglichen Ort in der Stadt gesetzt, sodass seine Anwesenheit „unter den Menschen“ zumindest als vorstellbar erscheint. Ist der Mino taurus im Mythos in dem außerhalb der Siedlungen gelegenen Labyrinth des Daedalos eingesperrt, so liegt der Ort seiner Gefangenschaft hier unter einem städtischen Wohnhaus.4
Nennung des ungeheuerlichen Zwitters Das paratextuelle Potenzial der Überschrift suggeriert, die Neu- und Forterzählung des Minotaurus-Mythos stehe im Zentrum. Bereits anhand einer Skizze des narrativen Gerüstes wird aber deutlich, dass die Identifizierung motivischer Züge des Minotaurus-Mythologems zunächst allein auf diesen 3 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 51996, S. 165. 4 Der Text, geschrieben 1970, wurde erst 1979 in der Sammlung Beschreibung (Leírás) publiziert. Vgl. dazu die Aussage des Autors in Nádas, Péter: Eletrajzi vázlat [Biografische Skizze]. In: Nádas Péter bibliográfia 1961–1994. Hg. v. György Baranyai und Gabriella Pécsi. Pécs 1994, S. 16–28, hier 28: „Im Frühjahr 1970 schrieb ich die erste Novelle, die ich als dichterisches Werk bezeichnen möchte, die wenig beachtete Novelle Minotaurus.“ – Csaba K árolyi kommentiert diese Aussage, indem er die dramatischen Züge der Erzählung betont: Idegen ruhában? Megjegyzések a Minotaurus című kötet kiadásával kapcsolatban [In fremdem Gewand? Anmerkungen im Zusammenhang mit dem Erscheinen des MinotaurusBandes]. In: J elenkor 10 (2002), S. 1057–1061, hier 1061: „Nádas bezeichnet ihn als dichterisch, ich würde diesen Text eher dramatisch nennen […].“ – Die Erzählung erschien erneut in Nádas, Péter: Minotaurus. Válogatott elbeszélések [Minotaurus. Ausgewählte Erzählungen]. Pécs 1997, S. 337–357. – Deutsche Übersetzung in Ders.: Minotauros. Erzählungen. Übers. v. Hildegard Grosche u. a. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 249–275.
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paratextuell vorgegebenen Kontext zurückgeht, der der Erzählung präfigurierend unterlegt ist. Es ist, als sei der ungeheuerliche Zwitter nur durch die Nennung des mythischen Namens im Titel der Erzählung dauerhaft an diesem alltäglichen Ort anwesend. Mária und József treten hingegen direkt zu Beginn auf, sodass durch die Namen der beiden Protagonisten zuallererst ein biblischer Kontext aufgerufen wird. Sie tragen Meinungsverschiedenheiten aus, die sich vor allem in Márias zum Teil vorwurfsvollen Fragen und Nachfragen äußern. Es ist Nacht und beide befinden sich in einer Wohnung in einem mehrstöckigen Wohnhaus. József verlässt die Wohnung und geht in den Keller. Bei seiner Rückkehr entdeckt Mária Blut an Józsefs Händen, das sie für menschliches Blut hält. Sie wirft ihm vor, im Keller einen Menschen getötet zu haben. Ihr Gespräch beziehungsweise Márias Fragen berühren mehrfach eine nicht weiter spezifizierte dritte Figur, die vorerst nur pronominal bezeichnet wird. Da das Ungarische kein grammatisches Geschlecht kennt, ist zunächst auch nicht zu entscheiden, ob die Personalpronomen auf ein weibliches oder ein männliches Wesen zu beziehen sind. Der Gebrauch des Pronomens im ersten Satz löst aber den Rückbezug auf den Titel aus, durch den mit neki (ihm/ihr) der „Minotaurus“ assoziiert werden kann. Da nach nur wenigen Sätzen zudem eindeutig Mária und József als Dialogpartner identifizierbar sind, ist eine weitere (semantische) Hypothese sinnvoll. Die beiden Vornamen – Nachnamen werden an keiner Stelle genannt – erlauben eine Kontextualisierung mit dem biblischen Figurenpaar Maria und Joseph. Für die dritte, nur durch ein Personalpronomen bezeichnete Figur ließe sich dann gleichermaßen Christus annehmen.5 Allerdings wird auch dieser Name in der Erzählung nicht genannt, sondern die Anspielung auf den (christlichen) Gottessohn lässt sich allein aus der Nennung der beiden Vornamen erschließen. Außerdem bleibt diese dritte Figur bis zum Schluss der Erzählung namenlos, sodass keine der beiden möglichen Deutungen als allein gültige betrachtet werden kann.
5 Zu unterlegen wäre dies etwa durch einen Vers aus dem Johannesevangelium, wo Jesus ausdrücklich über seinen Vater und seine Mutter identifiziert wird: „Ist dieser nicht Jesus, Josephs Sohn, des Vater und Mutter wir kennen?“ ( Joh. 6,42). Nachfolgend benutzte Bibelausgaben sind: Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung. Hg. v. Alfons Deissler und Anton Vögtle. Freiburg im Breisgau u. a. 91997. – Szent Biblia azaz Istennek Ó és Új Testamentomában foglaltatott egész Szent Írás. Hg. v. Gáspár Károli. Budapest 2011.
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Bei der ersten Erwähnung des Personalpronomens muss für die deutsche Übersetzung bereits eine Entscheidung bezüglich des grammatischen Genus getroffen werden, das im Original erst sehr viel später preisgegeben wird. Erst als József im letzten Drittel der Erzählung in den Keller hinuntergeht, um einem offenbar dort hausenden Wesen ein lebendiges Huhn zu überbringen, wird anhand seiner Anrede klar, dass es sich um ein männliches Wesen handeln muss: „Wach auf, mein Sohn! Hörst du, mein Sohn? Wach auf !“6 Die Uneindeutigkeit des Personalpronomens sowie die über den gesamten Text hinweg offen gehaltene Zweideutigkeit und damit Zwitterhaftigkeit der Figur machen einen entscheidenden Teil der Textbedeutung aus. So eindeutig nämlich der Titel den kretischen Mythos aufruft, so wenig ist dieser im Text nominell konkret. Die nur durch Formen des Pronomens neki ausgewiesene Figur lässt sich weder abschließend in den Kontext des klassischen griechischen Mythos noch endgültig in einen biblischen Zusammenhang einordnen, sondern bleibt gleichsam ein Zwitter. Beide Kontexte werden parallel aufgerufen und sind in der Narration überkreuzt. Verweiszusammenhänge werden zumeist durch Motive hergestellt, die sich im Kontext des Minotaurus-Mythos und der biblischen Geschichte der Heiligen Familie semantisch aktualisieren lassen. Mária und József sind offenbar die Eltern des in der Erzählung im Keller lebenden Wesens. Allerdings ist Józsefs leibliche Vaterschaft unsicher, da er die Gestalt, die er im Keller schlafend vorfindet, ausdrücklich dazu auffordert, ihn als Vater anzusprechen: „Ich bin József, aber nenne mich Vater, hörst du?“7 Dies ruft auch eine Parallele zwischen dem biblischen Joseph und dem mythischen kretischen König Minos auf, da beide nicht leibliche Väter desjenigen sind, für den sie sich jeweils in der Vaterposition befinden. So ist Minos nicht Vater des Minotaurus, den seine Frau Pasiphaë aus der Verbindung mit einem Stier gebiert,8 und Christus als Gottes Sohn auch nicht der 6 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 268. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 352: „Ébredj, fiam! Hallod fiam? Ébredj!“ 7 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 268. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 352: „József vagyok, de szólítsál apádnak, hallod?“ – Der Originalsatz bringt dies noch deutlicher zum Ausdruck, da es dort wörtlich „nenn mich deinen Vater“ heißt. In der Beschreibung der Nacht seiner Gefangennahme wird Jesus im Markusevangelium mit Worten aus seinem Gebet zitiert: „Abba, mein Vater, es ist dir alles möglich […]“ (Mk 14,36). Die ausdrückliche Aufforderung des József lässt sich auch in diesem Kontext sehen. 8 Neben dem Minotaurus konstituieren weitere Figuren sowie der Bau des Laby rinths zentrale Anteile des Minotaurus-Mythos, vgl. etwa die Darstellung im
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leibliche Nachkomme von Joseph. Es ist nicht allein die Parallelisierung dieser Konstellationen, die in Nádas’ Minotaurus-Novelle eine inhaltliche Provokation darstellt. Letztere ergibt sich aber wesentlich aus diesem Moment. Die Geschichten des halbmenschlichen, halbtierischen Minotaurus und des Gottessohnes Christus, der als Mensch geboren wurde, sind bei Nádas hauptsächlich durch beider mütterlicherseits menschliche Abstammung verknüpft.9 Das heißt, die paratextuelle Nennung des kretischen Mythos ist insofern maßgeblich, als für die Erzählung zu klären bleibt, in welcher Weise erstens die Überschneidung beider Narrative Sinn konstituiert und zweitens jeder einzelne erzählerisch-motivische Komplex durch die Verschränkung vermeintlich untergründige Bedeutungsschichten offenbart.
Zwitter der Erzählung Im Text wird an keiner Stelle explizit gesagt, worin der Bezug zwischen beiden Narrativen zu sehen ist und wo sie sich motivisch berühren. Das neutrale Erzählverhalten trägt zu diesem Effekt zusätzlich bei, denn es lässt sich daran keine Privilegierung eines der beiden Narrative ablesen. Das ErzählerArtikel „Minotauros“ in: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. Nachdruck. Hg. v. Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. Bd. 3. München 1979. – Siehe auch die knappe Zusammenfassung des Mythos bei Kerényi, Karl: Die Mythologie der Griechen. Bd. 1. München 2000, S. 88–89. Vgl. für eine eher struktural-semantisch geprägte Analyse folgende Untersuchung, in der mehrere Beispiele aus der französischen, deutschen, der englisch- und spanischsprachigen Literatur Berücksichtigung finden: Siganos, André: Le Minotaure et son mythe. Paris 1993. 9 Auf diesen Aspekt hat auch hingewiesen Bengi, László: Mehet-e, mikor Istennel beszél? Jelképes topográfia Nádas Péter Minotaurusában [Ginge es, wenn er mit Gott spricht? Symbolische Topografie in Péter Nádas’ Minotaurus]. In: Kalligram 10 (2002), S. 93–99, hier 98: „Zur Verschränkung der biblischen und der mythischen Geschichte trägt bedeutsam die verschwiegene und nur durch eine Anspielung aufgerufene Tatsache bei, dass weder der Minotaurus, halb Stier, halb Mensch, noch der völlig göttliche und völlig menschliche Jesus Christus als Söhne von ihrer Mutter Gatten geboren wurden.“ – Auch Monika Schmitz-Emans erwähnt am Rande Nádas’ Minotaurus-Text und diesen Aspekt. Allerdings taugt dieser Hinweis dort nur zur (schwachen) Pointe: Schmitz-Emans, Monika: Monstren aus der Innenperspektive. Minotaurus-Figuren in der modernen Literatur. In: Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Hg. v. Achim Geisenhanslüke, Georg Mein und Rasmus Overthun. Bielefeld 2009, S. 523– 549, hier 548.
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subjekt hält sich zurück und lässt zunächst Mária und József in einen Dialog miteinander treten. In der Kellerszene, als József seinen „Sohn“ aufsucht, dominieren der innere Monolog der J ózsef-Figur und die Ansprache des dort unten liegenden Wesens. Die Passage wird durch einzelne kurze Deskrip tionen ergänzt. Diese beschreibenden Einschübe erlauben letztlich auch die Identifizierung des in dem dunklen Keller schlafenden Minotaurus. Nur in diesem Abschnitt der Erzählung kommen nämlich eindeutige Attribute vor, die auf das mythische Wesen verweisen. So scheint es zunächst, als höre J ózsef im Geräusch des eigenen tastenden Gehens eigentlich schon ein schwaches Trappeln von Hufen: „Als hörte er in dem fernen Schlurfen und Schnaufen auch das dumpfe Aufprallen von Rinderhufen und das weiche Einsetzen des Morgengeläuts.“10 An dieser Stelle ist in der Ähnlichkeit der beiden Geräusche wiederum die Parallelisierung beider Stoffe präsent. Der matte Hufschlag im dunklen Keller entspricht dem morgendlichen Glockenschlag. Der vom Tierhuf produzierte Laut, der József akustisch die Richtung anzeigt, in die er im Kellergewölbe gehen muss, wird direkt mit dem Glockenton verbunden, der mit seinem Klang die Gläubigen zur Kirche ruft. Das Verb megkondul steht zumeist in einer Kollokation mit harang (Glocke) und enthält ein Moment von erhabener Gedämpftheit des Glockenklanges als wesentliches semantisches Merkmal. Das Läuten wird in derselben Passage in einer weiteren Weise erwähnt: „Er horcht auf das Läuten von Kuhglocken. Es ist kein morgendliches, es ist ein abendliches Glockengeläut“,11 heißt es in erlebter Rede über József. Das ungarische kolomp bezeichnet eine Kuhglocke, während der zweite Satz dies von harangszó scheidet, das eher die zuvor erwähnte Kirchenglocke meint. Die Verwandtschaft von Hufgeräusch und Glockenschlag führt zum Ton der Kuhglocke, in der sich als klangliche Spur der Minotaurus-Mythos und das (hier säkularisierte) Motiv „Glocke“ verbinden. Anschließend wird erwähnt, dass József einen typischen Geruch erkennt und dass im selben Moment das akustische Signal der Kuhglocke verschwindet. Erst nach der akustischen und olfaktorischen Wahrnehmung wird auch ein optischer Eindruck benannt, der allerdings noch keine weitere Spezifizierung enthält: „Fettig glänzt der K örper 10 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 267. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 351: „Mintha tehénpaták szelid dobaját hallaná a távoli csoszogásban, szuszogásban, a megkonduló reggeli harangot.“ 11 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 267. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 351: „A kolompra figyel. Nem reggeli harangszó, hanem a tehenek esti kolompja.“
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vor seinen Füßen.“12 Die Darstellung des Minotaurus kulminiert in dem Moment, als Merkmale seines Körpers konkret benannt werden und somit der Bereich der bloßen Allusion verlassen wird: Der Körper vor seinen Füßen erhebt sich. Fettig glänzt er in der Hülle seines süßlichen, schwülen Geruchs. Die mächtigen Bögen seiner Rippen heben und senken den Brustkorb. Die aufgestellten Hörner, die baumelnden Stierhoden. Der fettig glänzende Körper erhebt sich zu seiner vollen Größe. Wie es geschrieben steht. Los geht’s. Die Stierhörner hinter dem Hühnchen her.13
Die Textstelle liefert die Beglaubigung ihrer selbst gleich mit. Die auch grafisch hervorgehobene Formel Ahogy rendeltetett verweist in ihrer Gestalt auf das christlich-religiös konnotierte Theorem der göttlichen Vorherbestimmtheit der Schöpfung – elrendel bedeutet auch „vorherbestimmen“. Dies ist der Erzählung gerade an der Stelle eingeschrieben, an der sich die im Erzähl zusammenhang detaillierteste Beschreibung eines vermeintlichen Minotaurus-Wesens findet. Mithin deutet die Formel an, dass auch das Zwitterwesen durch göttliche Vorbestimmung existiert. Sie beglaubigt – noch im eigentlichen Wortsinn – aber auch die gerade durch die nicht-christliche Tradierung des Mythos belegte Beschreibung des Stiermenschen und führt diese aus, sodass die eingefügte Formel auch autoreferenziell auf den Text selbst verweist. Diese motivisch bedeutsame Stelle konkretisiert und sanktioniert den Titel hier eigentlich erst durch die Gestalt und die Gestaltung des Minotaurus. Dass diese Verdeutlichung vor allem körperliche Merkmale benennt und hervorhebt, ist Ausweis der Differenz des Minotaurus gegenüber dem Menschen und auch gegenüber Gottes Sohn. Nádas selbst stellt die Expressivität von (abweichender) Körperlichkeit in einem Gespräch sehr deutlich heraus: 12 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 268. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 352: „Zsírosan csillog a test a lába előtt.“ – Einzig das Glänzen ließe sich als Hinweis auf ein Stierfell auffassen. – Karl K erényi erwähnt, „dass Pasiphae sich in einen […] weiß glänzenden Stier verliebte“. Kerényi: Die Mythologie der Griechen (wie Anm. 8), S. 89. 13 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 270. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 353: „A test, ott a lába előtt, felemelkedik. Zsírosan csillog fülledt szagának édes burkában. Mellkasát süllyesztik, emelik a bordák széles ívei. Meredő szarva, rengő bikaheréi. A fénytől zsíros test teljes hosszában felemelkedik. Ahogy rendeltetett. Indulhat. Bikaszarv a csirke után.“ Die kursive Formel wäre auch mit „Wie es (vorher)bestimmt war“ übertragbar.
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„Der Körper kann eigentlich praktisch alles sagen und benötigt überhaupt keinen Kommentar und kann gar viel mehr sagen als das Wort. Der menschliche Körper. Doch auch der Körper eines Tieres.“14 Dies lässt sich als Hinweis darauf lesen, dass das zu Versteckende des minotaurischen Wesens in seiner Körperlichkeit liegt, an der das Skandalöse der sexuellen Vereinigung sichtbar wird, die Pasiphaë mit dem Stier einging. Der Körper Jesu, der durch die allusive Gestaltung in Nádas’ Erzählung als Gegensatz mitzudenken ist, bleibt in seiner Erscheinung – etwa in den Darstellungen des Gekreuzigten – menschlich und macht ihn dennoch als einzigen Christus identifizierbar.15 Die menschliche Gestalt stellt ihn (scheinbar) dem Menschen gleich und hebt ihn durch die Göttlichkeit, auf die sie weist, doch unerreichbar von ihm ab. In diesem Zugleich zweier untrennbarer Wesensmerkmale ähnelt ihm bei Nádas noch der Minotaurus, an dessen Körper hingegen die jeweils unvollständige Zugehörigkeit zu den Menschen und den Tieren sichtbar wird. Die Zwitterhaftigkeit, die die titelgebende mythische Figur grundsätzlich kennzeichnet, kehrt wieder in dem Zwitter der Erzählung. Dem biblischen Paar ist das monströse Wesen aus dem kretischen Mythos quasi narrativ untergeschoben worden und an den Platz des biblischen Sohnes von Mária und József getreten. Der Minotaurus erscheint im biblischen Zusammenhang jedoch als unbotmäßiger „Fremdkörper“. Doch die Anwesenheit des Minotaurus in der Erzählung geht insofern über eine rein stoffliche Kontextualisierung hinaus, als die Überschrift sich auch als Anspielung auf die motivisch-inhaltliche Struktur des Textes verstehen lässt. Die Nennung des Zwitterwesens, dessen Körper (im Mythos) zu 14 Nádas, Péter/Mészaros, Tamás: A tapasztalat és a képzelet között. Beszélgetés Nádas Péterrel [Zwischen Erfahrung und Vorstellung. Gespräch mit Péter Nádas]. In: Kritika 12 (1992), S. 19–21, hier 21. 15 Einzigartigkeit trifft auch auf den Minotaurus zu. Dies thematisiert die Erzählung Das Haus des Asterion von Jorge Luis Borges, wo erwähnt wird, der Minotaurus habe sich ein Gegenüber in gleicher Gestalt (vergeblich) gewünscht: „Pero de tantos juegos el que prefiero es el de otro Asterión.“ Borges, Jorge Luis: La casa de Asterión. In: Obras completas. Hg. v. Carlos V. Frías. Bd. 1. Buenos Aires 2004, S. 569–570, hier 570. – Auch Friedrich Dürrenmatts Ballade Minotaurus spielt darauf an. Dort ist der Minotaurus ebenfalls einsam und hat kein ihm gleiches oder zumindest ähnliches Gegenüber. Der Stiermensch erfreut sich dort an nichts mehr als an seinem Spiegelbild und daran, dass ihm „Spielgefährten“ gesandt werden, deren Tod er bedauert, wenn er auch nicht versteht, dass allein er diesen jeweils zu verantworten hat.
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etwa gleichen Anteilen aus Tier und aus Mensch besteht, stünde auf diese Weise im Text symbolisch in enger Beziehung zu den mehrfach ausdrücklich genannten Gegensatzpaaren, die jedoch jeweils als Einheit erwähnt werden. Durch diesen komplementären Gegensatz erscheint die Verfassung des im Text dargestellten Weltausschnittes als elementar dialektisch. Dies gilt zum Beispiel bei der Erwähnung des Mondlichts, das József wahrnimmt: „Dann das Licht. Trennt mit einem scharfen Schnitt das Pflaster in zwei Hälften, in Licht und Schatten, quer durch.“16 Die Gegensätze von Licht und Schatten beziehungsweise Helligkeit und Dunkelheit tauchen erneut auf, als József in den Keller hinuntergeht und sich dort durch völliges Dunkel zu einem kleinen Licht hin orientieren muss. Ähnliches gilt für die vertikalen Dimensionen und damit für die räumliche Anordnung des Erzählten. József sitzt mehrfach dicht am Fenster und sieht zum Himmel hinauf, so zu Beginn der Erzählung: Setzte sich hinter den Vorhang. Hier, unter dem Fenster, zwischen Wand und Vorhang, war ihm wohl. Aus der Höhe von sechs Stockwerken blickte der Vollmond in das blaue Rund des Innenhofes hinab. Es war, als säße József auf dem Grund eines Brunnenschachts. Er konnte dort beten.17
Die Textstelle ruft die alttestamentarische Josepherzählung auf, in der J oseph von seinen Brüdern in der Wüste in einen Brunnen geworfen wird.18 Die 16 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 262–263. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 348: „Aztán fény. Éles vonallal vágja ketté, két részre, fényre és árnyékra az udvar kövezetét, átlosan.“ – Dieser Gegensatz taucht mehrfach im Text auf, so beispielsweise am Schluss: Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 275: „Der Vollmond zwischen den Schornsteinen. Sein helles Licht teilt das Pflaster des Hofs mit einem scharfen Strich in zwei Hälften. Schwarz, gelb.“ – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 357: „A kitelt hold a kémények között. Fénye éles vonallal kétfelé szeli az udvar kövezetét. Fekete, sárga.“ 17 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 249. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 337: „Leült a függöny mögé. Itt, az ablak alatt, a függöny és a fal között, jól érezte magát. A kitelt hold hatemeletnyi magasságból nézett hat körfolyosó kék gyűrűjébe. Mintha mélyen kútban ülne. Imádkozhatott.“ 18 Zu differenzieren sind allerdings Joseph, Sohn des Jakob, aus der Josepherzählung und Joseph als Mann Marias. Die Motive in der Erzählung verbinden sich somit hauptsächlich mit dem Eigennamen „Joseph“. – Abhängig von der jeweiligen deutschen Bibelübersetzung finden sich an der entsprechenden Stelle (Mos. 37, 24)
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Betonung des vertikalen Lichteinfalls und die Darstellung des Wohnhauses mit Innenhof verstärkt Józsefs Perspektive. Der Bahn des Mondlichts entspricht umgekehrt sein zum Himmel gewandter Blick, der das Gebet begleitet. Er reicht hinauf durch die sechs Ringe, die in Form der Galerien an den Wänden des Innenhofes die Perspektive vorgeben. Innerhalb des Hauses dominiert die Begrenztheit des Blickfeldes – sowohl in der Enge der Wohnung als auch in der Dunkelheit des Kellergewölbes –, sodass einzig der Blick hinauf zum Himmel uneingeschränkt bleibt. Im Innenhof taucht außerdem ein kleiner Junge auf einem Fahrrad auf, der dort im Kreis herumfährt. Die Textgestalt des Originals stellt diese Bewegung in der sprachlichen Gestaltung nach: Az udvaron kisfiú kering, körbe-körbe, kerékpáron. Kibukkan a fénybe, eltűnik az árnyékban. Néha csönget. Eltűnik az árnyékban, előtűnik a fényből, körbe-karikába a kerékpáron. A gumikerék selymes siklása a sima keramiton, néha csikordul.19 Im Rund des Hofes gleitet ein Kind auf dem Fahrrad dahin, immer rundherum. Taucht auf im Licht, taucht unter im Schatten. Manchmal klingelt es. Taucht unter im Schatten, taucht wieder auf im Licht, im Rund, immer rundherum auf dem Fahrrad. Das weiche Gleiten der Gummireifen auf den glatten Fliesen.20
Auffällige Alliterationen kennzeichnen die ungarische Passage und imitieren durch die Bindungen die Kreisbewegung lautlich. Besonders deutlich wird dies an dem phraseologisch semantisierten körbe-karikába, etwa „imrundimring“.21 Die so verstärkte Bewegung im Kreis erfolgt auf dem KeramitPflaster, das dem in Licht- und Schattenhälfte geteilten Hof ein flächendeckendes Viereckmuster verleiht. Der Junge kreist darauf mit seinem Rad, was anstatt „Brunnen“ auch die Wörter „Grube“ oder „Zisterne“. In der (ersten) ungarischen Übertragung von Gáspár Károli 1590 steht „kút“ (Brunnen). 19 Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 344. 20 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 257–258. Der Text enthält später einen weiteren versteckten Hinweis auf die Identität dieses Jungen: „Latrokkal végezte“ (S. 355). – Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 272: „Mit den Schächern hat er geendet.“ Also liegt die Annahme nahe, es handele sich um Jesus als Kind. 21 Dieses Beispiel hat erklärende Funktion. Die deutsche Übersetzung enthält die Alliteration, doch ist die innere Bindung der Passage im Deutschen nur schwer zu realisieren.
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im Text anhand der alliterierenden Frikative als leichtes Rutschen der Räder auch hörbar wird: „selymes siklása a sima keramiton, néha csikordul“.22 Weitere Details evozieren als Schauplatz der Erzählung ein typisches städtisches Wohnhaus, möglicherweise in Budapest. Charakteristisch sind etwa die hofseitig an jedem Stockwerk angebrachten Galerien („der blaue Ring der sechs Galerien“),23 die mit den Treppenhäusern verbunden sind und von denen aus die Bewohner ihre Wohnungen betreten. Diese Galerien umlaufen vollständig die hofseitigen Hauswände und besitzen meist schmiedeeiserne Gitter. Diese Galerien und Józsefs aufwärts weisender Blick werden im Text wiederholt erwähnt und mit dem Brunnen in Verbindung gebracht.24 Die so metaphorisierte Darstellung des Gebäudes beruht auf der perspektivischen Ähnlichkeit, die Józsefs Blick zum Himmel und jener aus der Tiefe des Brunnens besitzen. Wurde der Brunnen in Thomas Manns Joseph und seine Brüder als Figur der Unergründlichkeit des Vergangenen verwendet,25 so 22 Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 344. – Der Buchstabe „s“ wird im Ungarischen grundsätzlich als [ʃ] artikuliert, „sz“ hingegen als [s]. – Péter Balassa erkennt – ohne Textbelege anzuführen – in der Erzählung einen sprachlich unausgereiften Text mit einer „steifen Satzrhythmik, der eine Sprechweise enthalte, als ob die hohe Stilisierungsebene nicht in der Lage sei, die stilisierte Natürlichkeit zurückzugewinnen und auf ihrem Niveau neu zu erschaffen.“ Balassa, Péter: Nádas Péter. Bratislava 1997, S. 71. 23 In der zuvor zitierten deutschen Übersetzung fehlt die zweifache Nennung der Zahl und auch das Wort gyűrű „Ring“ wurde mit „Rund“ übertragen. Daher steht hier erklärend eine wörtliche Übersetzung des Verfassers. Unverständlicherweise tilgt die Übersetzung gerade die Galerien (körfolyosó): „das blaue Rund des Innenhofes.“ Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 249. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 337: „hat körfolyosó kék gyűrűj[e].“ 24 Vgl. auch die übrigen Textstellen, an denen der Innenhof des Hauses als Brunnen erscheint: Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 338: „Mintha mélyből, kútból.“ – Nádas: Minotaurus. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 251: „Als wäre er tief unten, auf dem Grund eines Brunnenschachts.“ – Ebd., S. 339: „Mintha kútfenéken járna […].“ – Ebd., S. 252: „[…] als schlurfe er über den Grund eines Brunnenschachts.“ – Ebd., S. 343: „Mintha kútfenéken csoszogna, körben.“ – Ebd., S. 257: „[…] als schlurfe er über den Grund eines Brunnenschachts.“ – Ebd., S. 348: „Mintha mélyen kútban állna.“ – Ebd., S. 263: „Als stünde József auf dem Grund eines Brunnenschachts.“ – Zu den Übersetzungen sei angemerkt, dass diese den Variationen des Originals leider nicht mit voller Präzision folgen. 25 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Frankfurt am Main 21974, S. 9: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ – Ausgehend von dieser Eröffnung der Romantetralogie wird gleichsam eine Theorie des Mythos entwickelt, die u. a. in der folgenden Weise kulminiert und auch auf Nádas’ Erzählung applizierbar ist: „Denn es ist, ist immer, möge des Volkes Rede-
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findet sich bei Nádas die entgegengesetzte Perspektive, die aus dem Brunnen hinauf in die Unendlichkeit des Himmels führt.26 Betont wird allerdings noch immer die Eingeschlossenheit Józsefs, der an seinem bevorzugten Platz unter dem Fenster sitzt. Ein weiteres wiederkehrendes Detail ist das Keramit-Pflaster des Innenhofes.27 Dabei handelt es sich um gebrannte lehmhaltige Ziegel, die durch ihre ockergelbe Farbe und glatte Oberfläche gekennzeichnet sind. Die Nennung des Pflastersteinmaterials stellt eine versteckte Anspielung auf Budapest dar. Auffällig ist die technische Bezeichnung im Originaltext, denn dieses Detail erhält eine Spezifizierung, die im Gegensatz dazu steht, dass sich sonst keine so präzisen Bezeichnungen für Details oder die Figuren finden.28 Das Gebäude als einziger Ort des Geschehens ist nur durch die situative Erwähnung seiner Teile bestimmt, wobei seine konkrete Platzierung in der Stadt nicht erwähnt wird. Allein das Haus wird als Handlungsort exponiert und verweist durch diese Hervorhebung noch auf das mythische Labyrinth als separaten Bau des Daedalos für den Minotaurus. Charakteristische Merkmale des Wohnhauses werden nicht nur genannt, sondern mehrfach wiederholt. Sie lassen sich in ihrer Spezifizierung zu den motivischen Merkmalen in Beziehung setzen, die auf die Narrative des Minotaurus und des biblischen Paares verweisen. Die Überkreuzung der zwei zunächst unverbundenen mythischen weise auch lauten: Es war. So spricht der Mythus, der nur das Kleid des Geheimnisses ist; aber des Geheimnisses Feierkleid ist das Fest, das wiederkehrende, das die Zeitfälle überspannt und das Gewesene und Zukünftige seiend macht für die Sinne des Volks“ (S. 54). 26 Verwiesen sei auch auf das Fünfte Hauptstück von Der junge Joseph, wo erzählt wird, wie Joseph von seinen Brüdern in den Brunnen geworfen und dieser von ihnen mit einem Stein verschlossen wird. Joseph ist dort vollends in der Grube eingeschlossen und ein Blick in den Himmel bietet sich ihm gerade nicht. 27 In der deutschen Übersetzung wurde dies durch weit weniger spezifische Bezeichnungen wie „gelbes Pflaster“ und „glatte Fliesen“ ersetzt. 28 Die eindeutige Materialbezeichnung lässt sich auch als Hinweis darauf auffassen, dass Budapest Schauplatz der Erzählung sein könnte. Vgl. Gács, János/Vadász, Ágnes: A sárga kockák nyomában [Auf der Spur der gelben Würfel]. In: Budapest 12 (2011), S. 34–35, hier 34: „Es ist wahrscheinlich, dass dieses […] Pflaster in den Innenhöfen größerer Mietshäuser noch lange erhalten bleiben wird.“ – Dieses Pflaster stellt zudem ein Budapester Charakteristikum dar: „Die Fachliteratur erwähnt Keramit eindeutig als ungarische Erfindung. Er wurde hauptsächlich in Budapest (1933 in 132 Straßen) […] verwendet.“ In: Ebd., S. 35. – Vgl. auch: „[…] aus Lehm gepresster, gebrannter, gelbfarbener Ziegel, hauptsächlich zur Straßenpflasterung verwendet.“ In: Tolcsvai Nagy, Gábor: Idegen szavak szótára [Fremdwörterbuch]. Budapest 2007, S. 538.
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Narrative ist bedeutsam, da jeweils die Frage mit aufgerufen wird, ob und in welchem der beiden narrativen Kontexte die Einzelmotive zu aktualisieren sind. Die scheinbar sichere Identifizierbarkeit des Wohnhauses suggeriert dabei eine Eindeutigkeit, die eigentlich weder für die „Titel-Figur“ des Minotaurus noch für die Figur Jesus Christus, aufgerufen allein durch den Verweis auf seine biblischen Eltern, gegeben ist. Die Getrenntheit beider motivischer Sphären bleibt jedoch trotz der Überkreuzung der Narrative ausdrücklich erhalten. Dies lässt sich durch die Unentscheidbarkeit der Frage stützen, von welcher der beiden Sohnfiguren der Text eigentlich erzählt. Diese Überkreuzung schafft mit der Fragwürdigkeit zugleich die Bestätigung gegenüber und in der jeweils anderen Geschichte.
In den Untergrund Das eher durchschnittliche und an sich unauffällige Wohnhaus ist zudem als Ort zu verstehen, an dem sich unterirdisch und beinahe klandestin ein Wesen verbirgt, das im Mythos aufgrund seiner skandalösen Zwitterhaftigkeit in einem eigens für ihn errichteten Bau isoliert wird. In Nádas’ Erzählung lebt das Wesen in einem katakombenartigen, finsteren Keller. Der Kellergang erscheint noch als Verwandter des kretischen Labyrinths. Das Zwitterwesen Minotaurus lebt zwar auch in dieser Erzählung in Gefangenschaft, doch ist es aus dem Labyrinth in den Untergrund der Stadt geraten und erwartet dort seinen Tribut, den ihm der Vater noch als Tieropfer überbringt. Józsefs Abstieg in den Keller wird bereits am Anfang der Erzählung kurz thematisiert und ist in der Hauptsache Gegenstand des Gespräches zwischen M ária und József. Die eigentliche katábasis sowie die Darstellung des Weges im Keller stellen die einzige räumliche Veränderung in der gesamten Erzählung dar, deren Schauplatz sonst ausschließlich in der Wohnung von József und Mária liegt. Doch wird der Besuch unten bei „ihm“ vom Beginn der Erzählung an narrativ vorbereitet, da sich Mária in ihren unaufhörlichen Fragen auf die Umstände des Besuches im Keller und der Versorgung des dort wohnenden Wesens bezieht. Sie fragt mehrmals nach, ob József bereits unten gewesen sei oder ob er die quietschende Eisentür am Zugang zum Keller geschlossen habe. Sie macht sich Gedanken darüber, dass sich andere Bewohner des Hauses durch das Quietschen gestört fühlen und Fragen stellen könnten. Offenbar ist die Anwesenheit des Wesens nur ihr und József bekannt.
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Noch bis zur Eisentür, die zum Keller führt, begleiten ihn Márias Fragen. Erst als er die Stufen hinabgegangen ist, hören die Fragen im Text auf. József ist auch in dieser Hinsicht allein und ihm bleibt für die Orientierung nur der eigene Körper. An dem Weg, den József durch beinahe absolute Dunkelheit zurücklegt, wird sehr ausführlich die mühevolle Orientierung demonstriert, deren Erfahrung sich an der Figur des József im permanenten Widerspruch zwischen der Verlässlichkeit des Bekannten und der Unsicherheit des dunkel Unbekannten zeigt. An zahlreichen Anhaltspunkten ist zu erkennen, dass József den Weg schon mehrfach zurückgelegt haben muss. Im inneren Monolog der Figur werden etwa die Stufenanzahl der Kellertreppe – „Sechzehn Stufen hinab“29 – oder die Löcher erwähnt, auf die József besonders achten muss. Dann heißt es (zum Teil in wörtlicher Rede): „ ‚Ich bin da.‘ Stille.“30 Dies bezeichnet das Ende des Weges und markiert zugleich den Punkt, an dem auch im Text ein Abschnitt der Orientierung abgeschlossen ist, der die Strecke durch das Dunkel des Kellerlabyrinths nachstellt. So ist die zitierte Textstelle auch in autoreferenzieller Funktion zu lesen. Auf die Selbstversicherung über das Ankommen folgt ein einzelnes Substantiv, dessen Bedeutung eine kurze Pause im Text markiert. Die Bezeichnung der „Stille“ bringt diese jedoch selbst zum Verschwinden und weist in der linearen Anordnung der Zeichen auf die folgenden olfaktorischen und optischen Wahrnehmungen hin. Der Weg vom Kellereingang bis zu dem Liegenden, dessen Schlaf in „langsamem, menschlichem Rhythmus“31 beschrieben wird, erscheint als ein Weg zum Licht. Indem der Weg durch den Kellergang den Labyrinthweg zum Minotaurus simuliert, wird zugleich noch der Weg zu dem dissimuliert, für den vor allem das Licht steht und von dem es im Johannesevangelium heißt, er sei Josephs Sohn.32 29 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 263. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 348: „Tizenhat lépcsőfok lefelé.“ 30 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 268. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 352: „ ‚Megérkeztem.‘ Csönd.“ 31 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 268. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 352: „Lassú, emberi ütemben.“ 32 Das Licht gehört sicher zu den am häufigsten gebrauchten Symbolen (nicht nur christlicher) Göttlichkeit. Der Zusammenhang zwischen einem Weg durch die Finsternis und dem Licht verweist auch auf Christus, über den es bei Johannes heißt: „Ismét szóla azért hozzájok Jézus, mondván: Én vagyok a világ világossága: aki engem követ, nem járhat a sötétségben, hanem övé lesz az életnek világossága“ ( Joh. 8,12, Hervorhebungen nicht im Original): „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht
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Am Beginn seines Weges tastet sich József zunächst durch völliges Dunkel voran. Im Text wird beinahe jede seiner tastenden Bewegungen durch einen kurzen Satz nachempfunden, so als folge der Text genau der Bewegung der von ihm bewegten Figur. Diese Genauigkeit sorgt nicht nur für eine Verringerung des Erzähltempos, vielmehr erscheint auch das Lesen als ein Orientieren, das der teils wörtlichen teils erlebten Rede der József-Figur folgen muss: Losgehen. Die Hände ausstrecken, gleichsam zur Abwehr. Nichts. Vorwärts, mit seinem schutzlosen, blinden Körper, wohin auch immer, nur voran. Noch immer nichts, lange nichts. Als spürten seine Hände die Nähe einer Wand, begrenzten Raum. Nichts. Als könnte ihm jederzeit etwas ins Gesicht klatschen. Eine lautlose Fledermaus, eine Spinne im Netz. Nichts davon. Schnaufen und Schlurfen. Seine eigenen Geräusche. Sonst nichts. „Ich kenne den Weg. Ich kann mich nicht verlieren.“33
József ertastet den gewundenen Gang auf sein Ziel zu, das als Körper des schlafenden Wesens vor ihm auftaucht. Die Selbstversicherung, in einer Selbstanrede formuliert, stemmt sich gegen die Unkenntlichkeit des ihn umgebenden Raumes und des vor ihm liegenden Weges. Dies erscheint zugleich als Zurede des Subjektes an sich selbst, mit der dieses sich seiner Existenz vergewissert. In der paradoxalen Fügung vak test (blinder Körper) wird dabei die Gleichzeitigkeit von Blindheit und leiblicher Raumerfahrung deutlich, da Józsefs Vorwärtsbewegung in der nahezu absoluten Dunkelheit des Kellerraumes vom Blickwinkel des Leibes her zur Sprache kommt. Das heißt, dem räumlichen Sichverlieren im nicht wahrnehmbaren Raum entdes Lebens haben.“ Der Bezug des Textes auf die Bibel erweist sich anhand der Bibelstelle, da bei Nádas auch világos (hell; klar) und nicht etwa fény (Licht) steht: „Nincsen sötét, világos van a sötétben. A sötét világos.“ Siehe Nádas: Minotaurus. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 349: „Es ist keine Finsternis, es ist als wäre im Dunkel Licht.“ – Zur symbolischen Bedeutung von Licht im Neuen Testament vgl. weiterführend auch „Licht und Feuer“ (Abschnitt III). In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 21. Hg. v. Gerhard Krause und Gerhard Müller. Berlin u. a. 1976–2007. 33 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 264. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 349: „Indulhatott. Tenyerét maga elé emelhette, védekezésképpen. Semmi. Védtelen, vak testével, előre, akárhová. És mindig, sokáig a semmi. Mintha a tenyér már falat érezne közeledni, de véges űr. Semmi. Mintha az arcához bármikor hozzácsapódhatna valami. Hangtalanul szálló denevér, pók a hálója közepén. Nincs. Fújtatás, csoszogás. Saját zajok. De semmi. ‚Ismerem a járást. Nem veszhetek el.‘ “
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spricht zuerst eine leibliche Erfahrung, die durch die Versprachlichung der Wandberührung mit der Hand zur körperlichen objektiviert wird.34 Dies ist noch mit einem weiteren Diskurs in Verbindung zu bringen, an dem sowohl der präsent nichtpräsente Christus als auch die nur einmal aufgerufene Figur des Minotaurus teilhaben. Beide sind durch ihre besondere Körperlichkeit gekennzeichnet, die bei dem einen das Göttliche in einem menschlichen Körper birgt und bei dem anderen das Tierische und das Menschliche zugleich in einem Körper erscheinen lässt. Die sprachliche Selbstvergewisserung des József rührt daher zu einem wichtigen Teil von seiner körperlichen Objekthaftigkeit her, die die gesamte Passage kennzeichnet. Der Text zeigt, wie József sich auf räumliche Erinnerung verlässt, um sicher voranzukommen, und wie sein Körper, der den Weg ertastet, zum Objekt seiner Erinnerung wird. Der genaue Orientierungsvorgang im Untergrund lässt sich gleichzeitig metapoetisch verstehen und bildet dann die Orientierung in der Erzählung und den aufgerufenen Narrativen nach. So wird schon im Moment des Eintretens in den Keller gezeigt, wie József sich dort seiner Position im Raum und seines Orientierungsvermögens versichert: Sechzehn Stufen hinab. Die ausgestreckte Hand stößt gegen die Wand. „Meine rechte Hand ist die, in der ich den Bleistift halte. Meine linke die, in der ich keinen Bleistift halte. Also linker Hand.“ Die Hand ertastet die Wand auf der linken Seite, tastet sich links voran. Drei Schritte. Er kannte den Weg. Die ausgestreckte Hand stößt gegen die Wand. „Die rechte Hand ist die, in der ich den Bleistift halte, also in Richtung der Rechten vorwärts.“ Die Hand tastet sich rechts voran. Vier Schritte. Trifft dort auf den Spalt. Mit Leichtigkeit presst er sich hindurch. In gähnende, schwarze Leere. Deren Grenzen er noch niemals gesehen hat. Es hätte ein Saal sein können. Oder ein offener Platz. Ein Hof, gelb gepflastert, von dem die Mauern abgetragen waren.35 34 Die Differenzierung der Begriffe „Leib“ und „Körper“ geht u. a. zurück auf die maßgeblich von Edmund Husserl beeinflusste Konzeption, die Maurice MerleauPonty in La phénoménologie de la perception (1945) entwickelt. Bernhard Waldenfels hat diese in Sinnesschwellen, dem dritten Band der Studien zur Phänomenologie des Fremden (1999), und nicht zuletzt in seinen Vorlesungen Das leibliche Selbst (2000) ausführlich rezipiert und eine eigene Konzeption vorgeschlagen. Die hier verwendete Begrifflichkeit gründet sich darauf. 35 Nádas: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 264. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 348: „Tizenhat lépcsőfok lefelé. Az előrenyújtott tenyér falnak ütközött. ‚Jobb kezem az, amellyel a ceruzát fogom. Bal kezem az, amellyel nem fogom a ceruzát. Tehát balra.‘ A tenyér balra tapogatta a
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Um sich in der Finsternis des Unten zurechtzufinden und den ihm bekannten Weg zurückzulegen, wird Józsefs expliziter Rückgriff auf die elementare Unterscheidung der beiden Körperseiten als essenziell n otwendig ge zeigt. Im Text geschieht dies durch Józsefs wörtliche Rede. Der zurückge legte Weg kommt damit als Bewegung des Textes „zur Sprache“, der in ähnlicher Weise tastend zu folgen ist. Mehrfach wird so die Medialität der textuellen Zeichenhaftigkeit explizit. Dieses Verfahren verweist darauf, dass Orientierung, die der mythisch aufgeladene Name Minotaurus vorgibt, sich zwar als Weg zu einer Deutung abzeichnet, sein narratives Potenzial als Emblem jedoch allein nicht zu entfalten vermag. Die Erzählung macht mithin eine gleichsam klandestine Bedeutsamkeit sichtbar, die inein andergeschoben und miteinander verwoben in Minotaurus steckt. Der beschwerliche Weg durch eine beinahe undurchdringliche Dunkelheit, die obendrein „nur“ der Hauskeller ist, führt dort zwar zum Licht, das noch auf Christus verweist. Doch der Minotaurus, der insbesondere durch körperliche Attribute anwesend ist, erhebt sich vor József „zu seiner vollen Größe“.36 Somit erweckt die dem Minotaurus paratextuell zugesprochene Narration den Anschein, sie verdecke, was ihr mit der biblischen Geschichte unterlegt ist. Anhand von Nádas’ Minotaurus-Erzählung bleibt die Dominanz des einen
falat, balra tapogatott előre. Három lépés. Ismerte a járást. Az előrenyújtott tenyér falnak ütközött. ‚Jobb kezem az, amellyel fogom a ceruzát, tehát jobb kéz felé, előre.‘ A tenyér jobb kéz felé tapogatott. Négy lépésnyit. Ott meglelte a rést. Könnyedén átpréselte magát. Kongó fekete csöndbe. Nem látta határait, soha. Terem lehetett. Tér. Vagy udvar keramitkockás alja, csak elfalazták fölüle a házat.“ – Die deutsche Übertragung der Sätze in wörtlicher Rede betont den Zusammenhang zwischen dem Zustandekommen des Textes durch das Schreiben und dem gezeigten Orien tierungsvorgang. Dies ist ein Aspekt des Originals, den die Übertragung durch die Selegierung der Präposition „in“ hervorhebt. Im ungarischen Text steht der Instrumentalis mit der Endung -val/-vel (assimiliert im Relativpronomen amellyel), was wörtlich durch „mit“ zu übertragen wäre und eben eher meinte, dass die rechte Hand gewöhnlich die Hand ist, mit der der Stift gehalten wird. Bei der vorliegenden Übertragung tritt stärker hervor, dass im Moment des Aussprechens ein Stift gehalten wird. Diesen Aspekt enthält das Original auch, jedoch nicht nur. 36 Nádas, Péter: Minotauros. Erzählungen (wie Anm. 4), S. 270. – Nádas: Minotaurus. Válogatott elbeszélések (wie Anm. 4), S. 353. – Nur an dieser Stelle wird eindeutig von einem Wesen gesprochen, das von einem Stier abstammt.
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über den anderen Stoff wohl auch deshalb unentscheidbar, da sich beide als „in sich selbst bedeutsame Geschichte[n]“37 erweisen und sich gerade in dieser vermeintlichen Konkurrenz eine unverfroren-klandestine Provokation entdecken lässt, die nicht zuletzt eine untergründige und kühne Herausforderung des Kanonischen darstellt.
37 Blumenberg: Arbeit am Mythos (wie Anm. 3), S. 165.
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Valéria Lengyel
Subversive Bedeutsamkeit Das Prosagedicht Umgestaltung eines Bahnhofs von Ágnes Nemes Nagy
Die Wundgegend, empfindlich. Verquälte Häuser, ihr Abschilfern gleich einem Sekundärsymptom, Gestucker schlaffer Straßenbahnen in den abgeklemmten Adern, die mit Heftstichen verbundenen Anschlüsse, die dargigen Steinfehlstellen, dann die gedunsnen Gleis-Schweißnähte. […]. (Ágnes Nemes Nagy)1
Städte sind nicht nur physische Gebilde, sondern sie wecken durch das städtische Treiben den Eindruck lebendiger Organismen. So „leben“ Städte auch in der Imagination der Menschen: Ihre Wahrnehmung wird durch individuell oder kulturell geprägte Bedeutungen geformt. Unter dem Namen einer Stadt subsumieren sich verschiedene Bedeutungszuschreibungen, durch die der Name wiederum auf die jeweilige Stadt referiert. Das Prosagedicht Umgestaltung eines Bahnhofs (Egy pályaudvar átalakítása) von Ágnes Nemes Nagy bildet ab, wie Bedeutungen generiert werden, damit eine Stadt und ihre Wandlungen für den Menschen begreifbar werden. Metonymisch kann das Motiv für die Veränderungen in einer Stadt stehen. Während der Bahnhof in der Moderne ein Symbol für technischen Fortschritt war, wird seine symbolträchtige Bedeutsamkeit durch die Darstellung des Umbaus in diesem spätmodernen Gedicht kritisch hinterfragt. Denn in Nemes Nagys Text leidet die Stadt unter dem Wandel und ist die im Text inszenierte Betrachterinstanz durch ein gestörtes Verhältnis zu den Geschehnissen der Gegenwart charakterisiert. Dies kommt durch die ironische Nach 1 Nemes Nagy, Ágnes: Dennoch schauen. Gedichte. Nachgedichtet v. Franz Fühmann und Paul Kárpáti. Leipzig 1986, S. 65–67. – Dies.: Egy pályaudvar átalakítása [Umgestaltung eines Bahnhofs]. In: Dies.: Összegyűjtött versek. Hg. v. Balázs Lengyel. Budapest 2002, S. 118–120. Das Gedicht erschien 1981 im Band Dazwischen (Között).
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ahmung der Bedeutungszuweisung zum Ausdruck, die eine von vornherein positive Sicht auf den Fortschritt unterläuft: Vor dem Hintergrund der metapoetisch lesbaren Sprachgestaltung des Textes verschwindet das Objekt des technischen Umbaus, als wäre der Anschluss an die Außenwelt beeinträchtigt. Im Folgenden wird diese poetisch gestaltete Problematisierung von Sinnzuschreibungsprozessen als gegenkulturelle Intervention aufgefasst, denn Bedeutungen einer Stadt und Eingriffe im Sinne von Umbaumaßnahmen in einen Stadtkörper spiegeln auch Machtverhältnisse, die unterlaufen werden können.
„Unwahrscheinlich“: Unzuverlässige Bildlichkeit und Narration Die spätmoderne Lyrik Ágnes Nemes Nagys (1922–1991) kann zunächst mit den Begriffen der Entpersönlichung und des Hermetismus charakterisiert werden.2 Nemes Nagys Gedichte zeigen verschiedene poetische Formationen des Rückzugs des modernen Individuums. Das heißt, Merkmale der Subjektivität sind immer weniger erkennbar, während die Aufmerksamkeit auf die Sprache und ihr Funktionieren selbst gelenkt wird.3 In der Spätphase ihres Œuvres entstanden Prosagedichte, in denen das metapoetische oder auch metasprachliche Interesse durch das Thema der Erinnerung ergänzt wurde. Diese Texte gestalten das Gedächtnis entweder als poetischer Raum gewordene Vergangenheit oder als eine dialogische Sinngenerierung in Form eines Gesprächs. Der spätmoderne Charakter der Prosagedichte zeigt sich auch darin, dass die Möglichkeit der Erinnerung und der Suche nach bedeutsamen Überlieferungen prinzipiell aufrechterhalten wird. Sie simulieren Gattungsspezifika des Epischen und Dramatischen, wobei ihr lyrischer Charakter dominant bleibt. In der folgenden Gedichtinterpretation werden die Bildlichkeit, die Überlappung der Bildbereiche, die Strophenform und die Rhythmik, das heißt die Wiederholung der Tropen und Aussagen, als lyrische Gattungsmerkmale betrachtet. Die Bildstruktur des Gedichtes setzt eine (scheinbare) Narration des Umbaus in Szene, wobei über ironisierende Beschreibungen der erzäh-
2 Vgl. Kulcsár Szabó, Ernő: A magyar irodalom története (1945–1991) [Geschichte der ungarischen Literatur (1945–1991)]. Budapest 1993, S. 57. 3 Ebd.
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lende Gestus relativiert wird, was dem Prosagedicht wiederum einen ausgeprägt lyrischen Charakter verleiht: Unwahrscheinlich, dass da drunten dennoch Erde ist, wo doch das Kleinwürfelpflaster des Straßenbelags hier dem Gepräge nach UrEinschluss war. Doch scheint es, unterm Steinbelag, unter den Kabeln, unter den heiklen Lymphgefäßsystemen (diesen pulsenden Installationen) ist hier ja nun doch Erde, allem zum Trotze Erde.4
Im Titel Umgestaltung eines Bahnhofs bleibt das Substantiv „Bahnhof“ unbestimmt. Das Wort „Umgestaltung“ wirkt in dieser Kombination ungewöhnlich, während der Titel insgesamt sachlich erscheint. Das durch den Zeilenbruch hervorgehobene Anfangswort „unwahrscheinlich“ erzeugt einerseits Ungewissheit bezüglich der folgenden Aussage, hinterlässt andererseits aber auch den Eindruck, als wäre der Leser unvermittelt in eine laufende Gesprächssituation geraten. Die lapidare Feststellung „unwahrscheinlich“ ergibt sich aus der Perspektive des lyrischen Subjektes, dem Beobachter des antizipierten Bauvorhabens: Die Erde unter dem aufgebrochenen Pflaster wird sichtbar. Bereits hier wird die in weiten Teilen auf Paradoxa beruhende Struktur des Gedichtes deutlich, denn die Existenz von Erde unter der asphaltierten Oberfläche der Stadt ist gerade erwartbar und damit wahrscheinlich. Während Erde traditionell als etwas Lebendiges verstanden wird, weil sie zur Biosphäre zählt, werden in der ersten Strophe auch das „Kleinwürfel pflaster“ und das Kabelsystem im Boden als lebendige Organismen darge stellt. Durch die Metaphern „Ureinschluss“ und „Lymphgefäßsysteme“ erweist sich die Grenzziehung zwischen Lebendigem und Nichtlebendigem als unklar. Mittels Überlappung der Bildbereiche wird die Erde personifiziert und erscheint wie ein Körper eines Lebewesens. Die Strophe endet damit, dass das lyrische Subjekt sich selbst von der Existenz der Erde unter seinen Füßen überzeugt. Dies ist aber, wie skizziert, gerade nicht „unwahrscheinlich“, sondern entspricht dem Allgemeinwissen. Die Erde unter der Straße kann 4 Nemes Nagy: Dennoch schauen (wie Anm. 1). – Nemes Nagy: Egy pályaudvar átalakítása (wie Anm. 1): „Valószínűtlen, / hogy mégis föld van itt alul, holott / ős-zárvány képződésű volt itt az útburkoló kiskoc- / kakő. De úgy látszik, a kő alatt, a kábel alatt, a / kényes nyirokérrendszerek alatt (e pulzáló be- / rendezések) / mégiscsak föld van itt alul, minde- / nek ellenére föld.“
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entweder unsichtbar geworden sein oder die Bewohner können diese Tatsache „vergessen“ haben, weil sie an die Oberflächen-Ansicht der Stadt gewöhnt sind. Gemäß einer solchen Interpretation führt der Anblick der bebauten Stadt den Betrachter in die Irre und verdeckt das Organische der Biosphäre: Jetzt grad ein Krater. Oder ein Groß-Eingriff. An einem seltnen Zoo-Großwild, mit Betäubung, mit großem Besteck. Türme von Tierinnereien. Denn lappig wird dieser Körper zerlegt. Gesondert deponiert die Leber und die Nieren. Derbexakte Griffe zwischen dem Zerfleischen und dem Heilen.5
Die nächste Strophe ist wegen des fehlenden Verbs ein elliptischer Satz, doch wird die Aussage durch den Kontext verständlich. Während der Leser bisher nur über den Ort des vermuteten Bauvorgangs informiert war, taucht nun die erste Zeitangabe auf: „Jetzt grad ein Krater.“ Der Ort ist so „verletzt“ wie der Satzbau. Das Wort „Krater“ deutet die Dimensionen des Baus an, während der zweite unvollständige Satz mit der Metapher „Groß-Eingriff“ die Vorgänge aus einer anderen Sicht verdeutlicht und durch die Wortwahl ins Medizinische verlegt. Die Syntax bleibt weiterhin elliptisch, als wäre der entstehende oder auszusprechende Sinn beziehungsweise die Deutung des befremdenden Anblickes in einer Aussage oder einem Satz nicht ausdrückbar. Die Strophe im Ganzen schildert eine Operation an einem Tier, die jedoch eine Allegorie darstellt, weil der Titel und der angedeutete Eingriff (in die Erde) gleichzeitig auf eine Baustelle hinweisen. Während die Operation (oder der Bauvorgang) aus exakten Griffen besteht, bleibt der Sinn des Textes wegen der Überkreuzung der Bildebenen „offen“. Durch die Metaphorik zeigt sich der Bau als etwas Lebendiges, wobei die technischen Vorgänge auf der Baustelle als Operation am Körper der Stadt erscheinen. Im Gedicht verschwimmen also die Grenzen zwischen Lebendigem und Leblosem, Natürlichem und Künstlichem. Die dritte Strophe führt die mediale Gebrochenheit durch den elliptischen Satzbau noch weiter, als würde sie die punktuellen Einzeleindrücke des Sprechers imitieren: 5 Nemes Nagy: Dennoch schauen (wie Anm. 1). – Nemes Nagy: Egy pályaudvar átalakítása (wie Anm. 1): „Most éppen kráter. Vagy nagyműtét. Egy ál- / latkerti, ritka nagyvadé, kábítással, nagyműsze- / rekkel. Állatbelsők tornyai. Mert lebenyenként / szedik szét ezt a testet. Különrakják a májat és / vesét. Durván-pontos mozdulatok a mészárlás s / a gyógyítás között.“
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Die Wundgegend, empfindlich. Verquälte Häuser, ihr Abschilfern gleich einem Sekundärsymptom, Gestucker schlaffer Straßenbahnen in den abgeklemmten Adern, die mit Heftstichen verbundenen Anschlüsse, die dargigen Steinfehlstellen, dann die gedunsnen Gleis-Schweißnähte. Und die Pflanzen, die vollends wehrlosen, deren Stengel beim Wurf in den Mülleimer knicken, wie Jesu Beine (beinahe) nach der Kreuzabnahme, die Pflanzen in ihrem staubigen Entsetzen.6
Hier wird die nähere Umgebung der Baustelle beschrieben – so ist der Blick nicht mehr nach unten gerichtet. Die Schilderung lässt einen aufgerichteten Beobachter vermuten, der nach vorn sieht. Aber nicht nur die Perspektivierung der visuellen Beschreibung zeigt, dass sich hinter der unpersönlich klingenden Veranschaulichung ein Subjekt verbirgt, sondern auch Attribute wie „verquält“ (elkínzott) oder „schlaff“ (bágyadt), die offensichtlich die emotionale Betroffenheit einer Person erkennen lassen. Die Metaphern dieser Strophe führen das Thema „Operation“ weiter und verweisen jetzt im Rückblick auf den medizinischen Eingriff „in den abgeklemmten Adern“. So werden im Prozess der Lektüre vergangene Ereignisse, nämlich der Bildbereich „Operation“, nur durch ihre Folgen lexikalisch präsent gehalten. Lebendigkeit entsteht hier wieder durch die Gegenstände, die metaphorisch für das Organische stehen. So veranschaulichen die „schlaffen“ Straßenbahnen den stockenden Stadtverkehr, gleicht die Baustelle – noch immer nicht als solche bezeichnet – einem im Sterben liegenden Organismus mit „abgeklemmten Adern“ und unsauber genähten „Anschlüssen“. In diesem Zusammenspiel mehrerer Vorstellungsebenen oder Konzeptbereiche durch die Metaphorik weitet sich der Interpretationsraum, der die eingangs erwähnte Verunsicherung hervorruft. Nicht nur die Straßenbahnen sind „schlaff“, sondern auch die Pflanzen. Ihr Leiden wird mit einem Vergleich veranschaulicht, der auf die Passionsgeschichte Christi anspielt, wobei diese Analogiesetzung im selben Moment durch den Einschub „(beinahe)“ doppelt zurückgezogen wird. Dies geschieht 6 Nemes Nagy: Dennoch schauen (wie Anm. 1). – Nemes Nagy: Egy pályaudvar átalakítása (wie Anm. 1): „A seb környéke érzékeny. Elkínzott házak, / hámlásuk, mint egy másodlagos kórtünet, / bágyadt villamosok bukdosása az elkötött erekben, / az összefércelt csatlakozások, a süppedékes kő / hiány, azok a duzzadt vágány-varratok. És a nö- / vények, a végképp védtelenek, akiknek szárát / szemétvödörbe-dobáskor eltörik, mint Jézus lá- / bát (szinte) keresztről-levétel után, a növények / poros rémületükben.“
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einerseits durch die Bedeutung des Wortes, andererseits durch die Einklammerung. Letztere ist allerdings nur im Schriftbild wahrnehmbar, genauso wie der Trennstrich in „Pflan- / zen“. Das Adverb „beinahe“, die syntaktische Klammerstruktur und nicht zuletzt der semantisch wie stilistisch „hinkende“ Vergleich lassen umgangssprachliche Rede oder nachlässigen Sprachgebrauch vermuten. Oder aber sie geben ein lyrisches Subjekt zu erkennen, das – von dem Anblick emotional betroffen – diesen nur schwer in Worte fassen kann. Die unpersönlich erscheinende Beschreibung des Terrains kann also gleichzeitig eine individuelle Perspektive offenbaren. Der hier geschilderte Anblick charakterisiert somit den Gegenstand wie das Subjekt des Blickes.
„Abstrahierte Hände“: Metasprachliche Metaphorik Der Anfang der nächsten Strophe führt wieder in die „Mitte“ der Geschehnisse. Im Gegensatz zur „leidenden“ Umgebung der Biosphäre ist die Mitte voll tatkräftiger Betriebsamkeit. Die Betreiber des Eingriffes, die das mechanistisch-technische Prinzip vertreten und in der allgemeinen Wahrnehmung oftmals als Gegenpol zum Organischen positioniert sind, stehen im Gedicht zunächst für Aktivität und Dynamik. Diese Vitalität wirkt allerdings durch die Wortwahl befremdend. Im Originallaut werden die Begriffe exkavátor (Exkavator) und fix-platós (Pritschenwagen) verwendet, die durch den im Ungarischen seltenen x-Laut beziehungsweise -Buchstaben besonders fremd klingen. Im Text findet sich außerdem eine große Anzahl von Substantiven, die ohne syntaktische Verbindung aufgezählt werden, was sich auch als Imitation punktueller Wahrnehmung verstehen lässt und die Uneinheitlichkeit des Anblickes nachstellt: Und in der Mitte da funktionierts. Die aufgebockten Aushubgroßgeräte. Der Baumaschinist droben ein Pilot in der Schwebe weilend. Raumfahrer in zitronengelben Gummianzügen, in Gruben niedersteigend. Zwischen den unduldbaren Stauungen des Lärms der Katastrophen Ruhe, panischer Gleichmut. Auf einem Drahtknäuel ein Plastebeutel. (Die Essenbündel auf der Welt. Papier, Folien, vereinzelt ein Stück Hausleinen. Die Texturen, die Knotungen und Faltungen. O ja, ihr Lieben mein, hier hüben und da drüben.) Und welch sonderbare Kappen! Vielleicht sinds Kopfbedeckungen
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von Walfischfängern, Maskierungen zu einem Ritual. Und die riesigen Arbeitshandschuhe, diese Handimitationen, diese abstrahierten Hände.7
Das gefühlt hohe Tempo des Arbeitsablaufes entsteht dadurch, dass verschiedene Punkte im Raum in unterschiedlichen Positionen beschrieben werden: Mal befinden sie sich oben, dann wieder unten. Die unruhige Darstellung beginnt die geschilderte Geschäftigkeit zu imitieren. In das Bild werden durch Metaphern weitere Elemente eingeflochten, die dieses Betreiben teilweise negativ beleuchten. Die Oxymora „Katastrophen Ruhe“ und „panischer Gleichmut“ erwecken Unruhe und unterstützen den Anschein der Ziellosigkeit der Ereignisse. Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass in dieser Betriebsamkeit nichts Einheitliches entsteht, denn die vereinzelten Gegenstände bleiben für sich. Diese Wirkung korrespondiert mit dem fragmentierten Panorama als einer Folge der poetischen Gestaltung. Nicht zuletzt wird die Identifikation der genannten Objekte und Personen erschwert, denn manche erscheinen „in zitronengelben Gummianzügen“, die Mützen wie „Maskierungen zu einem Ritual“. Die Beschreibung gleitet am Ende der Strophe aus dem Bereich des „Realen“ ins Metaphysische, was sprachlich auch durch die Anspielung auf den Prozess der Abstraktion ergänzt wird. Der Bau erscheint dem lyrischen Subjekt einerseits als Ritual, andererseits sind die ungewöhnlich großen Handschuhe wie „abstrahierte Hände“ dargestellt. Die Interpretation der Geschehnisse als Ritual wird zuerst durch den Einschub in Klammern angedeutet, denn mit dem ungarischen feleim (etwa: meine Brüder und Schwestern) spricht ein Geistlicher seine Gemeinde an. Dieser Einschub ruft den Gestus einer Predigt auf, was allerdings wiederum nur eine Erweiterung des Interpretationsraumes für den Leser darstellt. Der Ausdruck „Maskierungen zu einem Ritual“ bleibt nämlich gleichfalls ein attribuierender Auftakt 7 Nemes Nagy: Dennoch schauen (wie Anm. 1). – Nemes Nagy: Egy pályaudvar átalakítása (wie Anm. 1): „Középen pedig a működés. Az exkavátorok, a / fix-platósok. A gépkezelő odafent, mint egy füg- / gőben maradt pilóta. Citromsárga gumiruhában / gödrökbe mászó űrhajósok. A lárma tűrhetetlen / torlaszai közt katasztrófák nyugalma, fejvesztett / közöny. Egy drótcsomón plasztikszatyor. (Az / ételcsomagok a világon. Papír, műanyag, egy- / egy kendervászon-darab. A textúrák, a bogok és / kötések. Bizony, feleim, emitt, amott.) És milyen / különös sapkák! Talán bálnavadászok fejfedői, / egy szertartás álarcai. S az óriási munkakesztyűk, / e kézutánzó, absztrahált kezek.“
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zur nächsten Aussage. Und der Verweis auf die Abstraktion hat ebenfalls die Funktion, den Anblick eines Gegenstandes zu nuancieren beziehungsweise das Erblickte durch eine sprachlich manifestierende Interpretation verstehen zu wollen: „Und die riesigen Arbeitshandschuhe, diese Handimitationen, diese abstrahierten Hände.“ Gemäß dieser Beschreibung stehen die Arbeitshandschuhe für Hände, was als Bildbruch betrachtet werden kann. Das Attribut „abstrahiert“ bringt jedoch eine formale Ähnlichkeit zwischen Handschuh und Hand zum Ausdruck. Dabei ist deren Größenrelation genauso, wie diejenige zwischen der – durch Abstraktion entstandenen – Verallgemeinerung und dem jeweiligen Besonderen. Der Gegenstand der Beschreibung jedoch wird noch immer nicht konkretisiert; nur der allgemeine Oberbegriff „Objekt“ steht als Ersatz für den Namen: Hier kommt das zentrale Objekt hin. Da wird die Halle sein. Da das Spargelkraut, die Information. Da wird das… siehst dus? Droben, wo jetzt die Luftkubikmeter noch leer sind, droben, droben das Nicht-Seiende. Noch durchsichtig ist es, noch bestreitbar. Allzuviel Wind weht da noch hindurch. Eine gute Linse indes könnt es schon fixieren. Bei gehöriger Lichtstärke. Ist es doch eine Schicht so schmal, eine so schmale Schicht, die ihm versperrt, dass es sei. So sind die Kanten schon beinah zu sehen droben, im Raum zwischen Gewiss und Zweifelhaft, so ists schon beinah zu erzählen, wie er hineinschwimmt in das Bild, dieser Umkehr-Schwund (nebulöser, großer Schiffsleib), mit seinen präexistenziellen, uneinsehbaren Stockwerken.8
Nach dem „Objekt“ wird auch ein Teil des Gebäudes („Halle“) genannt, durch den es genauer charakterisiert wird. Der Satz wirkt aber weiter unbestimmt, 8 Nemes Nagy: Dennoch schauen (wie Anm. 1). – Nemes Nagy: Egy pályaudvar átalakítása (wie Anm. 1): „Itt lesz a központi létesítmény. Itt lesz a csar- / nok. Itt aszparágusz, információk. Itt lesz a… / látod? Fent, ahol még üresek most a légköbmé- / terek, fent, fent a nem-levő. Még átlátszó, még / elvitatható. Túlságosan sok szél fúj rajta át. De / egy jó lencse már rögzítené. A kellő fényerőnél. / Hiszen oly keskeny réteg zárja el, oly keskeny / réteg attól, hogy legyen. Így már-már látni éleit / fent, a biztos és a kétes közti térben, így már-már / elbeszélhető, amint beúszik a képbe e visszájára / fordult csökkenés (homályos, nagy hajótest), lét- / előtti, beláthatatlan emeleteivel.“
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denn das Adverbial ist nur eine Deixis („dort“), und die Aussage bezieht sich auf die Zukunft. Dann werden andere Teile des Bauwerkes aufgerufen, die zukünftig existieren sollen, in der Gegenwart der Beschreibung aber noch nicht präsent sein können. Nur die Sprache ermöglicht es also, über Nichtvorhandenes, das heißt über Vorstellungen und Zukunftspläne zu sprechen. So ist die angedeutete „Zukunft“ in dem Prosagedicht eigentlich nur Fiktion (in der Fiktion). In der Strophe wird mit einem Einschub auch eine Gesprächssituation aufgerufen, was mit den bereits eingestreuten umgangssprachlichen Floskeln korrespondiert, zum Beispiel: „siehst du’s?“. Dies durchbricht den generierten Erwartungshorizont. Die lange im Vagen bleibende Beschreibung war bislang wie der Interpretationsvorgang eines Einzelnen erschienen. Weitere möglicherweise anwesende Personen wurden nicht adressiert. Da mit dem nun eingesetzten Pronomen „du“ keine konkrete Person bestimmt wird und dies auch eine Deixis bleibt, kann sich der Leser gleichfalls angesprochen fühlen. Nicht zuletzt mag das lyrische Ich auch einen Monolog führen und sich selbst ansprechen, etwa in einer selbstvergewissernden Geste, dass hier etwas zu sehen sei. Der Text greift dann wieder in die abstrakte Ebene hinüber.
„Umkehr-Schwund“: Aufbrechen der Raum-Zeitlichkeit Die Fügung „Nicht-Seiende“ ahmt eine philosophische Wortwahl nach und bezeichnet die Tatsache, dass das Gebäude noch nicht gebaut worden ist. Der Satz „Allzu viel Wind weht da noch hindurch“ klingt wie ein weiser Spruch, der die Unsicherheiten eines erfolgreichen Umbaus in den Blick rückt. Das Gedicht changiert also zwischen Präsens und Zukunft, zwischen einem Etwas und einem Nichts, zwischen Konkretem und Abstraktem, zwischen Umgangssprache und Fachsprache und nicht zuletzt zwischen Gattungen. Mit der Bemerkung „so ists schon beinah zu erzählen“ eröffnet das Prosagedicht eine metapoetische Ebene, und zwar nicht mehr durch die poetische Subversion der (unzuverlässigen) Narration, sondern auch durch den markierten Hinweis auf eine intendierte Erzählhaltung. Diese wird allerdings umgehend durch das „beinahe“ zurückgenommen, das anders als im Fall des Christusvergleichs auch nicht mehr in Klammern gefasst und damit relativiert ist. Der Text enthält weitere metapoetische Elemente: So ist zu dem Halbsatz „wie dieser Umkehr-Schwund in das Bild hineinschwimmt“ keine naheliegende Konnotation vorstellbar. Der Vergleich funktioniert auch hier als Katachrese, das heißt als Oxymoron in Gestalt eines Vergleiches. Genauso ist
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„der Raum zwischen Gewiss und Zweifelhaft“ kein wirklicher Raum, denn weder sind hier die Koordinaten angegeben noch bietet der Text Orientierungspunkte, auf die sich Sprecher oder Leser stützen könnten. Die rhetorische Figur an der Grenze zwischen Katachrese und Bildbruch deutet auf einen Sprecher hin, der scheinbar der Sprache nicht mächtig ist. Eine solche Deutung führte die Interpretation in eine andere Richtung, denn dann könnte es einfach an einem fehlerhaften Sprachgebrauch liegen, dass keine semantisch kohärente Beschreibung zum Ausdruck kommt. Die Sprache selbst wäre hingegen prinzipiell als Medium der präzisen Objekt-Darstellung geeignet. Durch die poetische Sprachgestaltung werden also die Bedeutungen vervielfacht; in dieser Hinsicht hat der Titel als Paratext die zentrale Funktion, die Aufmerksamkeit des Lesers zu fokussieren, nämlich auf die „Umgestaltung eines Bahnhofs“. Außerdem sind die einzelnen Tropen in ihrer Wirkweise in Betracht zu ziehen, von denen viele denotativ konkrete Gegenstände bezeichnen. Die Verunmöglichung von Referenzialität wird hier allerdings nicht zu weit getrieben, die Reflexion bleibt „nah“ am Konkreten. In dieser Strophe werden nämlich auch Wörter verwendet, die direkt auf den Motiv-Komplex „Bahnhof“ verweisen, wie etwa „Halle“, „Information“ und „Stockwerk“. Die (scheinbare) Einführung einer Person in das Textgewebe der Beschreibung, die als „du“ angesprochen wird, verstärkt die Wahrscheinlichkeit, dass doch etwas zu sehen ist. Die gemeinsame Erinnerung oder die Anwesenheit eines anderen Menschen wird zur Garantie dafür, dass das schwer fassbare Objekt tatsächlich da ist oder war: Du erinnerst dich doch noch, nicht wahr, an die Lokdrehscheibe? In einer Naturstein-Ellipse endete damals der Bahnhof, und im Kopfe der Ellipse, da war die Drehscheibe, eine Stahltrommel. Die Lok rollte darauf und schwenkte mit der Trommel um wie ein tanzender Elefant. Noch ist das alte, gelbe Stationsgebäude da, mit verfallenen, gleichwohl funktionierenden Nostalgien. Die Lampen hinterm Dampfgekräusel, Frühstunde im Regen. Und die Schienen und die Schwellen nachts (betrachte dies von oben, von der Brücke), diese dämmernden Himmelsleitern ins waagerecht Unendliche.9 9 Nemes Nagy: Dennoch schauen (wie Anm. 1). – Nemes Nagy: Egy pályaudvar átalakítása (wie Anm. 1): „Te emlékszel még, ugye, a mozdonyforgató / dobra?
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Die Existenz der anderen Person ist somit nicht nur für die Existenz des Objektes eine Garantie, sondern auch dafür, dass Sprache doch funktioniert und durch Bezeichnung etwas benannt werden kann. Die Konstitution der Bedeutung bezieht sich in diesem Gespräch zunächst auf die Vergangenheit, das heißt, Vergangenes wird in Erinnerung gerufen. Hier fällt auch erstmalig das Wort „Bahnhof“. Die Strophe wirkt verständlicher, weil vollständige Sätze eine relativ kohärente narrative Einheit bilden. Im Gegensatz zu der vorherigen Andeutung von Geschäftigkeit auf der Baustelle erfolgt die Veranschaulichung des alten Bahnhofsgebäudes nicht durch einen außergewöhnlichen, schillernden Wortschatz, sondern durch Vokabeln des Eisenbahnverkehrs, die auch dem Nichtfachmann vertraut sind. Dies wirkt in der Situation des Erinnerns und in Verbindung mit dem Wort „Nostalgien“ doppelt rückwärtsgewandt, sogar altmodisch. Im Gegensatz zu den früheren Anspielungen auf die Technik erinnern Metaphorik und Wortwahl nun an ästhetizistische poetische Sprachgestaltung: „Dampfgekräusel“ und „Frühstunde im Regen“. Als metaphorische Überleitung steht am Anfang der Strophe das Wort „Drehscheibe“, das ins Fantastische führt und sich wie eine Szene aus dem Zirkus darbietet: „Die Lok rollte darauf und schwenkte mit der / Trommel um wie ein tanzender Elefant.“ Die Wendung ins Humoristische bleibt wie die übrigen Anspielungen nur ein möglicher Übergang oder eine Andeutung, und die erinnernde Gestaltung der Vergangenheit fällt zurück in das scheinbar Objektive. Aber nicht nur die gegenwärtige Betriebsamkeit und die noch nicht eingetretene Zukunft, sondern auch die Ereignisse der Vergangenheit täuschen. Denn die Vorstellung von der Vergangenheit, die Erinnerung heißt, ist emotional beeinflusst, weil sie nostalgisch ist. Am Ende der Strophe wird die Sicht durch Metaphern ins Weite geöffnet, was eine deutliche Änderung der Position ist, die das Ich hypothetisch bisher zum Objekt der Beschreibung eingenommen hat. Hier werden die drei Dimensionen verwischt, was auch durch die Hinweise auf die Lichtverhältnisse unterstützt wird. Das zeitTerméskő-ellipszisben végződött akkor a / pályaudvar, az ellipszis fejében ott volt az acél- / dob. A mozdony ráállt és megfordult vele, mint / egy táncoló elefánt. Még ott a régi, sárga állomá- / sépület, avult, de működő nosztalgiákkal. A gőz- / bodor mögötti lámpák, esőben a hajnal. És a / sínek meg a talpfák éjszaka (ezt fentről nézd, a / hídról), ezek a derengő, mennyei lajtorják a víz- / szintes végtelenbe.“ – Siehe auch Ähnlichkeiten zu Rainer Maria Rilkes Gedicht Der Ball: „und den Spielenden von oben / auf einmal eine neue Stelle zeigt, / sie ordnend wie zu einer Tanzfigur…“. In: Rilke, Rainer Maria: Der Ball. In: Ders.: Werke. Bd. 3: Gedichte. Hg. v. Manfred Engel u. a. Frankfurt am Main–Leipzig 1996, S. 167.
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liche und räumliche „Durcheinander“ ist innerhalb der Narration konsequent, da schon die bisherige Beschreibung keine greifbaren Orientierungspunkte geboten hatte. Als Konsequenz lässt sich feststellen, dass die Dreidimensionalität der physikalischen Raumvorstellung ungültig wird: Doch dreh dich um. Beschau noch mal das Baugelände. (Ich meine: Zwischen den Schildern des Geschehens versuch zurückzufinden, betritt, was Gegenwart genannt sein kann.) Besichtige sodann den Blutacker-Park, namentlich: Generalwiese. Und darüber die Burg. Die Ruhe derer, die geübt sind im Verwundetwerden. Beobachte sie (auch in ihren rückläufigen Relationen), nimm dann – noch deutlicher – die Beuge dort in Augenschein, wie die geologische Wanne sich platziert am Fuß des Hügels. So. Nun ist das Bild scharf.10
Die Beschreibung bezieht sich auf die Vergangenheit, und die dialogische Situation suggeriert ein gemeinsames Erinnern. Allerdings werden die Ereignisse nur aus der Perspektive des Sprechenden wiedergegeben. Dadurch wird der Wahrheitswert des Gesagten angreifbar, denn eine Zustimmung durch die im Imperativ adressierte Person bleibt aus. Aufgrund der fehlenden Reaktion ist es auch möglich, den ersten Satz des Prosagedichtes als Selbstanrede und die konzipierte Erinnerung als inneren Monolog des Sprechenden zu verstehen. Selbst wenn der Leser sich vielleicht durch die Du-Anrede angesprochen fühlt, wird er vom Vorgang des Erinnerns ausgeschlossen, denn die genannten Sachverhalte wurden im Gedicht bisher durch die Metaphorizität nur angedeutet. Auch in der nächsten Strophe bleibt unklar, wer genau der Adressat der Aufforderungen und Anrufungen ist. Wieder kann auch der Leser gemeint sein.11 Hier wird das erste Mal das „Baugelände“ konkret als Einheit genannt. 10 Nemes Nagy: Dennoch schauen (wie Anm. 1). – Nemes Nagy: Egy pályaudvar átalakítása (wie Anm. 1): „De fordulj vissza. Nézd meg mégegyszer az / építési területet. (Úgy értem: a történés táblái / közt próbálj meg visszatalálni arra, amely jelen- / létnek nevezhető.) Aztán tekintsd meg a Vér- / mezőt. És fölötte a Várat. A gyakorlott sebesül- / tek nyugalmát. Figyeld meg őket (visszamenőle- / ges viszonylataikban is), azután – még világosab- / ban – vedd szemügyre azt a hajlatot, ahogyan a / földtani teknő a domb tövében elhelyezkedik. / Így. Most éles a kép.“ 11 Schein, Gábor: Poétikai kísérlet az Újhold költészetében [Ein poetischer Versuch in der Dichtung des Újhold]. Budapest 1998, S. 120: „Statt der außersprachlichen Existenz des Nichtbezeichenbaren rücken die Fragen des Erzählbaren, die sprachli-
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Grund dafür könnte die Tatsache sein, dass hier eine Handlung wiederholt wird („Beschau noch mal das Baugelände.“), was den Zusammenhang von Erinnerung und Epistemologie veranschaulicht. Das heißt, dass etwas leichter erkennbar oder identifizierbar ist, wenn die Spuren im Gedächtnis die gegenwärtige Identifikation eines Gegenstandes unterstützen. Da hier sich wiederholende Vorgänge genannt werden, verwischen auch die Zeitebenen. Somit enthält der Text konsequent folgende Aufforderung in Klammern: „(Ich meine: Zwischen den Schildern des Geschehens versuch zurückzufinden, betritt, was Gegenwart genannt sein kann).“ Das ungarische jelenlét bedeutet dabei eigentlich nicht „Gegenwart“, sondern „Gegenwärtigkeit“, ein Begriff, in dem auch die räumlich verstandene Anwesenheit enthalten ist. Die räumliche Komponente wird in der Übersetzung durch den im Original fehlenden Einschub „betritt“ betont. Diese Gegenwärtigkeit entzieht sich jedoch permanent auf der semantischen Ebene des Gedichtes. Durch die verunsichernde Wirkung der verfremdend-ironischen Beschreibung geht nicht nur der Kontakt mit den Dingen verloren, sondern auf der zeitlichen Ebene auch der Bezug zur Gegenwart. Die Kopräsenz der verschiedenen Bedeutungen erschwert die Orientierung und das Verständnis der Referenzen, also der Objekte der Welt. Umgestaltung eines Bahnhofs illustriert somit auch die (vergebliche) Suche nach dem Gegenwärtigen, nach der vollwertigen Anwesenheit in Zeit und Raum.12 Das einzig Gegenwärtige ist durch die jeweilige Lektüre des Textes gegeben. Das heißt, dass der Text in seiner Räumlichkeit (vor den Augen des Lesers) einen Bezug zur Gegenwart des Lesers hat, sich hier der relationale Charakter der Gegenwärtigkeit offenbart. Im Text werden des Weiteren auch konkrete Orte (Vérmező) oder Gebäude (Burg) genannt. Der Übersetzer hat den Namen des Parks wortwörtlich ins Deutsche („Blutacker-Park“) übertragen und auch den deutschen Namen „Generalwiese“ eingesetzt, während im Original nur der ungarische Name steht. Dies ist für das Verständnis der später folgenden Ausführung chen Bewegungen des Erzählens und die Willkürlichkeit der Referenzialität […] in den Vordergrund dieser Lyrik. Diese Rede verzichtet endgültig auf die Möglichkeit der Analogien. So erschaffen der Sprecher, der Ansprechende und das angesprochene Ich den Raum der absoluten Subjektivität, was auch die […] Bewegungen des Lesens einschließt.“ 12 Schein zufolge wird in dem Prosagedicht die Totalität der Zeit sichtbar. Vgl. Schein: Poétikai kísérlet (wie Anm. 11), S. 119: .„Die Anschauung ruft die Bedeutungen aus der Totalität der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft hervor, während die dialogische Interpretation ein unabschließbarer Vorgang bleibt.“
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nötig: „Die Ruhe derer, die geübt sind im Verwundetwerden.“ Der deutsche Satz wirkt umständlich, betont allerdings die Passivität des Erleidens von Gewalt. Auch wenn die Generalwiese oder „darüber die Burg“ dem deutschsprachigen Leser nicht bekannt sind, weiß ein Ungar sofort, um welchen Park es sich handelt. Da sich neben ihm auch ein Bahnhof befindet, gewinnt das Beschriebene genau in dem Moment an Konkretheit, wenn der Leser folgenden Satz liest: „So. Nun ist das Bild scharf.“ Die Veranschaulichung ist zwar gelungen, doch signalisiert der Text, dass dies bloß Fiktion ist, ein „Bild“ und nicht die Wirklichkeit: Die Wirklichkeit ist nur indirekt verfügbar, hier in der medialen Vermittlung von Sprachlichkeit und Poetizität. Der Text lenkt die Aufmerksamkeit auf seine poetische Gemachtheit. In den letzten drei Strophen wird über die „fiktive“ Zukunft in Vergangenheitsform berichtet; die Wortwahl lässt auf ein modernes Gebäude s chließen: Nicht wahr, du erinnerst dich an den Abschluss? Du warst doch da, als es zu Ende war? Du warst auch noch bei der Eröffnung da? Geräumig ist er nun geworden. Wettbewerbsfähig. Die Rolltreppen-Mündungen sind zwar nicht ganz so … aber was solls. Gleissteueranlage. Gebäudekomplex. Knotenpunkt. Nicht wahr, du erinnerst dich an den zitronengelben Gummianzug? An die Essenbündel auf der Welt? An den Raum zwischen Gewiss und Zweifelhaft? Nicht wahr, du weißt noch: der Blutacker? Die geologische Wanne unterhalb des Hügels? Die rückläufigen Relationen? Die Umgestaltung? Der Gebäudekomplex? Und die Umgestaltung? Der Luftschiffhafen. Erinnerst du dich denn an jene Stadt? Bist du zur Eröffnung da gewesen?13
13 Nemes Nagy: Dennoch schauen (wie Anm. 1). – Nemes Nagy: Egy pályaudvar átalakítása (wie Anm. 1): „Ugye, emlékszel, amikor befejezték? Te ott / voltál, amikor véget ért? Te ott voltál a megnyi- / táson is még? Tágas lett. Versenyképes. A moz- / gólépcső-torkolatok ugyan nem egészen… de / mindegy. Vágányvezérlés. Épületegyüttes. Cso- / mópont. // Ugye, emlékszel a citromsárga gumiruhára? / Az ételcsomagokra a világon? A kétes és a biztos / közti térre? Ugye, emlékszel a Vérmezőre? A / földtani teknőre a domb alatt? A visszamenőle- / ges
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Im Gedicht wird der Wortschatz der Technik („Gleissteueranlage“) benutzt, und in Einwortsätzen erfolgt eine Aufzählung der Vorteile des Gebäudes („wettbewerbsfähig“). Auch die vorletzte Strophe beginnt mit einer vergewissernd-befragenden umgangssprachlichen Formel: „Nicht wahr, du erinnerst dich an den Abschluss?“ Im Gegensatz zur vorherigen Strophe werden hier aber bereits geschilderte Momente aus dem Gedicht selbst aneinandergereiht und dem Leser auf diese Weise die absolvierte Lektüre vergegenwärtigt. Die Strophe besteht aus zahlreichen kurzen Fragesätzen und wirkt deshalb unruhig. Ihr letzter Satz lautet: „Erinnerst du dich denn an jene Stadt?“ Die Aufforderung irritiert, denn die Stadt Budapest war nur kurz über die Bezeichnung des Parks präsent. Wenn der Leser sich hier angesprochen fühlt und schon in Budapest war, dann ist es möglich, dass er sich seine eigenen Erlebnisse vergegenwärtigt, wodurch sich die Deutung auf seinen persönlichen Erfahrungs- und Interpretationshorizont hin öffnet. Das Gedicht endet schließlich in einer einzelnen Frage, die zudem ein bereits vorher erwähntes Motiv variiert, nämlich dasjenige der Eröffnung – des neuen Gebäudes, eines neuen Interpretationshorizonts. Die poetologische Offenheit von Metaphorik und Syntax korreliert damit auf sinnfällige Weise mit der Wiederholung als einem weiteren Strukturprinzip dieses Prosa gedichtes. Insgesamt zeigt sich ein Widerspruch in der poetischen Gestaltung des Gedichtes. Trotz des Verlustes jeglicher Orientierungspunkte und der Vieldeutigkeit der Metaphorik ist der Ausgangspunkt doch, dass die Suche nach dem Gegenwärtigen und eine Präsenz im Jetzt und Hier prinzipiell möglich sind. Dies zeugt wohl noch von den letzten Hoffnungen einer Moderne, in der prinzipiell immerhin die Chance besteht, dass das Subjekt sich eine authentische Existenz gestaltet. In der Postmoderne wird nicht mehr nach solchen Bezügen gesucht, weil die traditionelle Metaphysik für ungültig erachtet wird. Das heißt unter anderem, dass das Subjektkonzept destabilisiert wird und es auch keine authentische Erfahrung mehr zu geben scheint. Und gäbe es sie doch, wäre sie mit der inhumanen Textualität nicht ausdrückbar.14 Der Versuch, der in diesem Prosagedicht unternommen wird, ist somit unter gleichen poetologischen Prämissen literaturgeschichtlich nicht weiterzuführen. viszonylatokra? Az átalakításra? Az épület- / együttesre? És az átalakításra? A légikikötőre? / Emlékszel-e arra a városra? // Te ott voltál a megnyitáson?“ 14 Zum Begriff der Postmoderne Riese, Utz: Postmoderne/postmodern. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 5. Hg. v. Karlheinz Barck u. a. Stuttgart–Weimar 2010, S. 1–39.
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Das Thema der menschlichen Zeiterfahrung ist nicht neu und wurde in Kunst und Philosophie oft thematisiert. Als abschließende zeitgeschichtliche Einbettung soll hier eine aktuelle Position erwähnt werden, die Ähnlichkeiten zum Thema des Prosagedichtes aufweist. Der Philologe Hans Ulrich Gumbrecht formulierte 2010 die These, dass der heutige Mensch in einer Epoche der „breiten Gegenwart“ lebe. Im Gegensatz zu früheren Epochen erscheint die Zukunft heute nicht als Projektion hoffnungsvoller Erwartungen, sondern eher als eine Bedrohung, die der Mensch am liebsten aufhalten würde, um Zeit vor den absehbaren Krisen (ökologische und/oder ökonomische) zu gewinnen. Im Gegensatz dazu wird die Vergangenheit zu sehr präsent gehalten, womit die Gegenwart aus mehreren Simultaneitäten besteht. Letztere ist also nicht ein schmaler Ort, der um der Zukunft willen schwindet, sondern eine rückwärtsgewandte breite Ausdehnung.15 Während Gumbrechts aktuelle Theorie Antworten bieten kann auf die Frage der Präsenz in ihren epochalen Ausprägungen, ist dies hingegen nicht der Anspruch von Literatur. Nemes Nagys Prosagedicht Umgestaltung eines Bahnhofs ist die poetische Gestaltung einer Suche nach dem Gegenwärtigen, der aus heutiger Sicht literaturhistorisch vermeintlich überholte Prämissen nachgesagt werden. Dennoch birgt diese Suche den arglos-friedvollen Wunsch nach Authentizität in sich, der sich wohltuend jenseits von Epochenkonstruktionen positioniert.
15 Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart. Berlin 2010. – Die Zusammenfassung wurde vor allem anhand des Kapitels Stagnation erstellt.
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Torsten Erdbrügger
Die Oberflächlichkeit des Untergründigen Zum Umgang mit der Zeichenhaftigkeit von Bunkern
Mein Vorhaben war rein archäologischer Natur. Ich jagte diese grauen Formen, damit sie mir einen Teil ihres Geheimnisses preisgäben, einen Teil dieses Geheimnisses, das in wenigen Worten zusammengefasst werden konnte: Warum wurden diese außergewöhnlichen Bauwerke im Gegensatz zu den Villen am Meer nicht wahrgenommen, ja, nicht einmal entdeckt? (Paul Virilio)1
„Through the dark and wet, the adventure of lost worlds begins“,2 suggeriert die Homepage von urbanexplorers, einem der populärsten internationalen Foren für halb- oder illegale Erkundungen verlassener städtischer Bausubstanz. Die urban exploration erfreut sich seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit und bedient, wie obiges Zitat verdeutlicht, psychologisch die Lust am Entbergen des Verborgenen, des im urbanen Raum Marginalisierten und von der Wahrnehmung Ausgeschlossenen, des Dunklen, Nassen, Verlorenen – mithin des Abseitigen oder Untergründigen. Der morbide Charme des Ruinösen wird betont und fotografisch dokumentiert. Wie der deutsche Ableger der Bewegung auf seiner urbanex-Internetpräsenz nahelegt, sind trotz des Dokumentationsgebots „Ästhetik“ und „Romantik“ Schlüsselbegriffe zur Beschreibung und Erklärung des Phänomens: „Wenn Du ebenso der alten Industriekultur oder verlassenen, urbanen Hinterlassenschaften eine
1 Virilio, Paul: Bunkerarchäologie (1975). Hg. v. Peter Engelmann. Wien 2011, S. 19. 2 Quelle: http://urbanexplorers.net (Letzter Zugriff: 03.01.2013).
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gewisse Ästhetik und Romantik abgewinnen kannst, dann bist Du hier genau richtig.“3 Was für die randständigen Bauwerke verlassener Industrieanlagen gilt, trifft im Besonderen auf unterirdische Gänge und Tunnelsysteme, verlassene U-Bahn-Schächte, Luftschutzkeller und Bunkersysteme zu, weil Verborgenes und Verbotenes an diesen Orten nicht nur räumlich, sondern im Speziellen auch historisch determiniert sind und sich hier die „dunklen“ Seiten deutscher Geschichte mutmaßlich entbergen lassen. Bunker sind Zeichen des Zweiten Weltkrieges und als solche Zeugnisse von kriegerischer Aggression und Bedrohung, von Hybris und pathologischem Sicherheitsdenken.4 Eine krude Verbindung aus nationalsozialistischer Vergangenheit und suburbaner Gegenwart macht auch der deutsch-amerikanische Horrorfilm Urban Explorer (2011) des 1981 geborenen Regisseurs Andy Fetscher zum Movens seiner Protagonisten: Neugierig darauf, die verbotenen Bereiche unter der deutschen Hauptstadt zu erkunden […] durchqueren sie ein schauriges Labyrinth von Tunneln und unterirdischen Gängen auf der Suche nach dem versiegelten „Fahrerbunker“ [sic] und seinen verbotenen Nazigemälden.5
Abseitige und untergründige Vergangenheit sind, das zeigen die kurz umrissenen Beispiele, populär. Zu fragen ist, wie sich die Faszination, die sich in der trivialen künstlerischen Bearbeitung der Bunkerthematik ausdrückt, erklären lässt, welche künstlerischen Strategien auf die nationalsozialistische Bunkerund Untergrundarchitektur angewendet werden und ob sich Gegenpositionen zum affirmativen Schauder bestimmen lassen, die sich dem Spiel mit dem Tabu widersetzen. Die Bedeutung von (Bunker-)Architektur als Signifikanten des Nationalsozialismus soll im Folgenden kulturwissenschaftlich und (literatur-)psychologisch kontextualisiert und auf ihre Funktion im gegenwärtigen kulturellen Gedächtnis befragt werden. Anschließend werden künstlerische wie literarische Inszenierungen der Bunkertopografie vorgestellt, die zwischen affirma 3 Quelle: http.//www.urbanex.de (Letzter Zugriff: 03.01.2013). 4 Dies illustrieren etwa auch die rund 600 000 Klein- und Kleinstbunker, die Enver Hoxha während seiner Herrschaft in Albanien errichten ließ. 5 Quelle: http://www.urbanexplorer-themovie.com/story.php (Letzter Zugriff: 03.01. 2013).
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tiver Faszination und kritischer Rückführung der Bunkersignifikanten in das kulturelle Gedächtnis oszillieren.
Bunkerfaszination „Bunker“ ist eine Entlehnung aus dem Englischen und kann mehrere Bedeutungen haben: Seiner Schutzfunktion als „bombensicherer Unterstand“ stehen die Einschließungs- und Lagerfunktionen zur Seite,6 von denen sich heute fast ausschließlich das Verb „(ein-)bunkern“ erhalten hat.7 Die Faszination, die von der „strategischen Architektur“ (Brian Hatton) ausgeht, bezieht sich daher auch nicht auf die aus glattem, grauem, unverputztem Schichtbeton in einfachen, meist kubischen oder halbkugelförmigen Grundformen bestehende Oberfläche des Bunkers. Da das Innere des Bunkers – zumindest in Deutschland – unzugänglich war und bleibt, weil viele Anlagen als Luftschutzbunker nach 1945 weiterbetrieben und nach 1989 zum Teil vollständig versiegelt wurden, reizt der eingeschlossene Raum zur imaginativen Auffüllung, was die „spezifische Abenteuer- und Entdeckungslust“,8 so Silke Wenk, im Ansatz erklärt. Was Jean Baudrillard in seiner Studie über die Verführung für den Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen pointiert, trifft auf das Geheimnisvolle des Verborgenen generell zu, mithin auch auf das Phänomen des Bunkers: „Die Bezauberung wird bewirkt durch das, was versteckt ist.“9 Wo Baudrillard von Bezauberung spricht, kann in Bezug auf Bunker aber auch vom Unheimlichen gesprochen werden, das vom kommerziell ausgerichteten Verein B erliner Unterwelten e. V. dezidiert zur Werbung in eigener Sache benutzt wird.10 Der Verein belegt auf seiner Homepage die Bunkeranlagen und -führungen folg 6 Im Häftlingsjargon steht Bunker synonym für Gefängnis. 7 Quelle: http://de.wiktionary.org/wiki/Bunker (Letzter Zugriff: 03.01.2013). Siehe auch: http://www.merriam-webster.com/dictionary/bunker[2] (Letzter Zugriff: 03.01.2013) und den kurzen Abriss zur Begriffsbestimmung bei Schmal, Helga/ Selke, Tobias: Bunker – Luftschutz und Luftschutzbau in Hamburg. Hamburg 2001, S. 15. 8 Wenk, Silke: Bunkerarchäologien. Zur Einführung. In: Erinnerungsorte aus Beton. Bunker in Städten und Landschaften. Hg. v. Ders. Berlin 2001, S. 15–37, hier 17. 9 Baudrillard, Jean: Von der Verführung. München 1992, S. 108. 10 Mit circa 100 000 Besuchern jährlich. Dazu Mehring, Nicole: „Geheimnisvolle und verbotene“ Welten. Bunkerarchitekturen und Expeditionen des Vereins Ber liner Unterwelten e.V. In: Bunker. Kriegsort, Zuflucht, Erinnerungsraum. Hg.
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lich mit Adjektiven wie „geheimnisumwittert“, „abenteuerlich“, „faszinierend“ und „spannend“,11 wobei die historischen Umstände zugunsten des Unheimlichen ausgeblendet werden, wie auch Jan-Hendrik Friedrichs konstatiert: „Die Lust am Schaudern wird so für touristische Zwecke nutzbar gemacht. Die Einbettung in den weiteren historischen Kontext bleibt hingegen eine Marginalie.“12 Bei der Präsentation der Unterwelt greift der Verein, wie Nicole Mehring aus Sicht der Gender Studies ausführt, auf unterschiedliche Strategien der Mystifizierung zurück: einerseits durch die farbliche Gestaltung der gezeigten Fotografien, durch Licht- und Schattenregie, über die dämonische Konnotationen forciert werden, andererseits durch die Selbstinszenierung der (männlichen) Forscher als urbane Archäologen, die aufklärerisch das Dunkel erhellen.13 An dieser Stelle wäre zu fragen, ob die kommerziell genutzten Attribute, derer sich die urbanen (Hobby-)Archäologen bedienen, mit dem von Sigmund Freud etablierten, für die psychoanalytische (Literatur-)Wissenschaft folgenreichen Terminus des „Unheimlichen“ gefasst werden können. Freuds Studie Das Unheimliche (1919) definiert im Anschluss an Friedrich Schellings Philosophie der Mythologie (1848) das Unheimliche als „das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe ‚un‘ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung“.14 Freud selbst nimmt die eigene normative Definition für den Bereich der Literatur – nicht aber für den der Psyche – zurück, wenn er schließlich einräumt, „dass für das Auftreten des unheimlichen Gefühls noch v. Inge Marszolek und Marc Buggeln. Frankfurt am Main–New York 2008, S. 261–275, hier 261. 11 Vgl. die Homepage des Vereins: http://berliner-unterwelten.de (Letzter Zugriff: 03.01.2013). 12 Friedrichs, Jan-Hendrik: Massenunterkunft, Atombunker, Kunstobjekt. Bunkernutzungen im Nachkriegsdeutschland. In: Bunker. Kriegsort, Zuflucht, Erinnerungsraum (wie Anm. 10), S. 245–260, hier 257. 13 Vgl. Mehring: „Geheimnisvolle und verbotene“ Welten (wie Anm. 10). 14 Freud, Sigmund: Das Unheimliche (1919). In: Sigmund Freud. Studienausgabe. Bd. 4: Psychologische Schriften. Hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt am Main 1989, S. 241–274, hier 267. – Detlef Kremer macht darauf aufmerksam, dass Freuds etymologische Wortbestimmung einen Reduktionismus darstellt, der die Bedeutungen des Unheimlichen als das Angsterfüllte, Bedrohliche oder als intellektuelle Unsicherheit zurückweist und Schellings Befund dekontextualisiert. Kremer, Detlef: Freuds Aufsatz Das Unheimliche und die Widerstände des unverständlichen Textes. In: Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Hg. v. Peter-André Alt und Thomas Anz. Berlin–New York 2008, S. 59–72, hier 60–61.
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andere als die von uns vorangestellten stofflichen Bedingungen maßgeblich sind“.15 Unabhängig davon, ob man der literarischen Bearbeitung mit Freud einen Sonderstatus bei der Umsetzung des Unheimlichen beimisst oder nicht, die von ihm extrahierte Bedeutung des Unheimlichen als das „entborgene Heimliche“16 sowie die im Alltagssprachgebrauch dominierende Konnotation der Bedrohung treffen die Faszination für Bunker und andere verschlossene, unterirdische Räume im Kern.17 Die Verschränkung von Heimlichem und Unheimlichem ist dabei ein konstantes Spannungselement, mit dem jede mediale Inszenierung nicht nur von Bunkern, sondern auch von Kellern, Verliesen und unterirdischen Tunnelsystemen arbeitet und das vor allem in der Kriminal- und Horrorliteratur dominant ist.18 Und nicht nur dort. Bunkerfaszination hat Anteil am Archetypus des Schutz und Bedrohung zugleich evozierenden Untergründigen. Mit symbolischen Bildern von Verließ, Höhle, Hölle, Keller ist dieser Archetypus nur unzureichend umrissen. Als Stoff der Literatur besitzt er eine unerschöpfliche Tradition, die von Franz Kafkas Bau über die Bergwerke der Romantiker und die (Schloss-)Ruinen der gothic novel bis zu Dantes Inferno zurückreicht und hier kaum skizziert werden kann. Das unheimliche Moment des Bunker-Innen speist sich zu großen Teilen aus der Unsicherheit der Selbst-Verortung, die das Außen als Relations15 Freud: Das Unheimliche (wie Anm. 14), S. 269. 16 So die treffende Bezeichnung bei Jung, Werner: Das Unheimliche ist nur des Heimlichen Ende. In: Literatur für Leser 27 (2004), S. 51–60, hier 52. 17 Das Moment der Bedrohung unterscheidet Richard Alewyn zufolge das Unheimliche vom bloß Geheimnisvollen. Alewyn, Richard: Die Lust an der Angst. In: Ders.: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt am Main 1974, S. 307–330, hier 324–325. 18 Allein für den Motivkomplex der U-Bahn sind die literarischen Bearbeitungen des Unheimlichen, die auf die Faszination des Untergrunds als Abgründigem setzen, Legion. Literarisch-imaginative Entbergungen von Verborgenem, ungenutzten Schächten, Tunneln und stillgelegten U-Bahnhöfen etwa finden sich in Tobias Hills Thriller Underground (1999) sowie zuvor schon im Krimi King Solomon’s Carpet (1991) der englischen Bestsellerautorin Barbara Vine alias Ruth Rendell. Auf Berliner kriminelle Milieus überträgt Detlef Bernd Blettenberg das Grundmotiv des Verbrechens im Untergrund in seinem 2004 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichneten Text Berlin Fidschitown. Dass es sich hier nicht allein um ein westeuropäisches Narrativ handelt, belegen, um hier nur einige prägnante Beispiele zu nennen, die (post-)sozialistisch-apokalyptischen U-Bahn-Imagos in Jurij Andruchovyčs Moscoviada (1993) und Dmitrij Gluchovskijs Metro 2033 (2007), der – nach einer Atomkatastrophe – menschliches Leben gleich vollständig unter die Erde verlegt.
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größe entbehrt. Hinzu kommt die latente Möglichkeit des Umschlagens von einem Ort des Schutzes in einen Ort, der zur Falle werden kann.19 In dieser Ambivalenz sieht auch der Kulturhistoriker Harald Kimpel die Faszination für Bunker als „multifunktionale Metapher“ begründet und diagnostiziert einen „Doppelcharakter, der die Zuflucht als Sarg, das Schutzversprechen als Gefährdung ahnbar werden lässt“.20
Bunkergedächtnis Die symbolische Funktion von Bunkern, die im deutschen Kontext primär als zeichenhafte Reste des Nationalsozialismus und erst sekundär im weiteren Sinn als Signifikanten militärischer Bedrohung zu verstehen sind, lässt sich daher über ihre Ambivalenz als Teil und Gegenteil des kulturellen Gedächtnisses bestimmen. Sie sind „Restposten einer unbewältigten Vergangenheit, die verstörend in die Gegenwart ragen; […] als Stolpersteine dem Fortschritt im Weg“.21 Selbst der Denkmalschutz hat die innerstädtischen Bunker lange aus seinen Aufgabenbereichen ausgeklammert und den Pflege- und Unterhaltungsauftrag auf kommerzielle Vereine wie den Berliner Unterwelten e. V. übertragen. Dem Verdrängen, Vergessen und Unsichtbarmachen der Bunker im Bild nahezu sämtlicher westdeutscher Großstädte widersetzt sich die Bunkerarchitektur schon allein aufgrund ihrer Materialität und ihrer hohen Zahl. Zwar konnten keine Gesamtzahlen von Bunkern in Deutschland ermittelt werden, aber allein für Hamburg geht man von 1 051 gebauten und zirka 700 erhaltenen Bunkeranlagen aus.22 19 Diesen klassischen Plot bedient auch Fetschers Film, wenn die Jäger des verschwundenen Nazigolds schließlich zu Gejagten eines anthropophagen Monsters mutieren. 20 Kimpel, Harald: Innere Sicherheit? Fragmente einer Ästhetik des Schwerzerstörbaren. In: Innere Sicherheit: Bunker-Ästhetik [Ausstellungskatalog]. Hg. v. Dems. Marburg 2006, S. 49–80, hier 56. – Vgl. als literarisch prototypische Verarbeitung dieser Doppelfunktion Kafkas Erzählung Der Bau (1931). 21 Ders.: Übersehenswürdigkeiten: Bunker-Ästhetik zwischen Tarnung und Warnung. In: Bunker. Kriegsort, Zuflucht, Erinnerungsraum (wie Anm. 10), S. 292– 307, hier 292. 22 Darunter 76 Hochbunker, 11 Luftschutztürme, 415 Röhren- und 356 Rundbunker. Schmal/Selke: Bunker – Luftschutz und Luftschutzbau in Hamburg (wie Anm. 7), S. 13–14.
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Die mangelnde Präsenz von Bunkern im kollektiven wie kulturellen Gedächtnis Deutschlands mag ursächlich auf deren fehlende Physiognomie zurückzuführen sein. Was für die unterirdischen Luftschutzbunker auf der Hand liegt, trifft aufgrund der glatten Oberfläche (der sozusagen reinen Oberflächlichkeit beziehungsweise „Oberflächenarchitektur“)23 auch auf Hochbunker zu, die so detailarm sind, dass sie, wenn überhaupt, nur aufgrund ihrer Größe auffallen. Paul Virilio gehörte zu den Ersten, die sich mit der Faszination der Bunker, konkret derjenigen am Atlantikwall, theoretisch und praktisch ausein andergesetzt haben.24 Der französische Philosoph und Architekt leitet die Unsichtbarkeit unmittelbar aus der abgerundeten Oberflächenbeschaffenheit des Bunkers ab, die eine doppelte Wirkung habe: Der Bunker entziehe „sich gleichzeitig den Einschlägen der Projektile, die er umleitet oder entlang seiner Flanken abgleiten lässt, und er entzieht sich den Blicken, denn das Licht wirft keine Schatten mehr auf seine Umrisse“.25 Bunker sind also lange Zeit wenig beachtete Zeichen einer verdrängten, aus dem Vergangenheitsdiskurs ausgeschlossenen Geschichte, mithin, um mit Freud zu sprechen, des ehemals Heimischen. Die Ausschlussverfahren realisieren sich dabei über zwei Modi des Vergessens, das als Konstituens der Erinnerung beschrieben werden kann, denn nur was vergessen wurde, also keine Dauerpräsenz besitzt, kann erinnert werden. Neben dieser systemischen Voraussetzung des Vergessens für das Erinnern kommt Ersterem aber auch eine bestimmende Bedeutung für das von Aleida A ssmann beschriebene Speicher- sowie Funktionsgedächtnis zu. Die Metapher des Speichers 23 Virilio: Bunkerarchäologie (wie Anm. 1), S. 21. 24 Während mehrerer Jahre hat er die Stätten entlang der Atlantik- und Nordseeküste besucht und fotografisch festgehalten, woraus neben dem Buch auch eine Ausstellung im Centre Georges Pompidou 1976 entstanden ist. Wegen seiner gegenüber der auratischen Bunkerarchitektur scheinbar affirmativen phänomenologischen Haltung, die zwischen Faszination und Beängstigung oszilliert, ist Virilio trotz aller Anerkennung für seine Pionierarbeit zur Rückführung dieses (fast) vergessenen Teils der Geschichte in den Kanon des kulturellen Gedächtnisses kritisiert worden, weil er, so Claus Pias, fotografisch letztlich denselben Blick wiederhole, den schon die Fotografen der Organisation Todt, die mit dem Bau der Anlagen betraut war, eingenommen haben. Pias, Claus: Bunker schreiben. Paul Virilios Architexturen. In: Erinnerungsorte aus Beton (wie Anm. 8) S. 38–51, hier 38. – Harald Kimpel hingegen betont den Wert des „archäologischen“ Zugangs von Virilio, der fotografisch wie textuell eine Inventarisierung und systematische Archivierung der Bunker vorgenommen habe. Vgl. Kimpel: Innere Sicherheit? (wie Anm. 20), S. 52–53. 25 Virilio: Bunkerarchäologie (wie Anm. 1), S. 75.
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impliziert zugleich seine (räumliche) Begrenztheit. Erinnerung kann in diesem Bild nur dann erfolgen, wenn genügend „Speicherplatz“ vorhanden ist beziehungsweise freigemacht wird, was faktisch Vergessen bedeutet. Das Funktionsgedächtnis definiert die Relevanz von Erinnerung über ihre Bedeutung für die Gegenwart. Wenn heute nun ein zunehmendes Interesse für Bunker als Erinnerungsorte konstatiert werden kann, dann ist das Vergessen der Bunker in der frühen Bundesrepublik mit Renate Lachmann als „temporäre Desemiotisierung“ zu beschreiben.26 Passiv gewordene Elemente der Geschichte, als welche die Bunker in ihrer Dysfunktionalität zu bezeichnen sind, werden vergessen und ausgegrenzt. Einer späteren Resemantisierung, wie sie am aktuellen Interesse an Bunkern ablesbar ist, stehen sie dabei weiterhin zur Verfügung, werden also nicht gelöscht: Desemiotisierung bedeutet, dass ein Zeichenträger seine Zeichenqualität, d. h. sowohl seine semantische als auch seine pragmatische Funktion, die er innerhalb des Systems und seiner Institutionen wahrgenommen hat, verliert. Der Verlust der Zeichenqualität eines Elements bedeutet zwar dessen kulturelle Inaktivität, nicht aber dessen Löschung; denn die „vakanten“ Zeichen bleiben innerhalb der Kultur in einer Art Reserve, die wie ein negativer Speicher fungiert. In einer späteren Phase der Entwicklung kann die Kultur aufgrund von Veränderungen in ihrem Selbstbeschreibungsmodell, die bestimmte Ausgrenzungen als problematisch erscheinen lassen, die vergessenen Elemente wieder eingrenzen und damit resemantisieren.27
In welchem Rahmen also werden die eingebunkerten Zeichen einer ver- aber keinesfalls überwundenen Geschichte aktualisiert und resemantisiert? Eine ästhetische Praxis, die es ermöglicht, die historischen Konnotationen des Erinnerungsortes „Bunker“ zu dekontextualisieren, ist von den semiotischen Verfahren der Pop-Art und Pop-Literatur vorbereitet worden. Der konkrete Ort wird so zum (Geschichts-)Zeichen verschoben. Aufgrund ihrer glatten, reiner Funktionalität gehorchenden, detailarmen Oberfläche sind Bunker nicht nur selbst Zeichen des Krieges, sondern zugleich Projektionsfläche vielfältiger Imaginationen und Deutungen. In Anlehnung an Marshall McLuhan 26 Lachmann, Renate: Kultursemiotischer Prospekt. In: Memoria. Vergessen und Erinnern. Hg. v. Anselm Haverkamp und Renate Lachmann. München 1993, S. XVII–XXVII, hier XVIII. 27 Ebd.
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kann man hier davon sprechen, dass das Medium zur Botschaft wird und umgekehrt, weil Bunker zugleich Zeichen und Zeichenträger sind. Sie sind, wie Aleida Assmann generell für traumatische Orte anmerkt, „bei aller symbolischen Ausdeutung und Ausbeutung, immer noch etwas anderes als ein Symbol, nämlich sie selbst“.28 Bunker bieten sich damit prinzipiell an für Überschreibungen,29 Überlagerungen und Dekontextualisierungen, in denen sie zwar ihre ursprüngliche Bedeutung zunächst einbüßen. Durch die Brüche, die eine Rekontextualisierung hervorrufen muss, werden sie aber gleichsam wieder befragbar, ohne dass fertige Antworten formuliert werden.
Bunkerbilder Der Dekontextualisierung der Bunker als Signifikanten des Nationalsozialismus kann eine künstlerische Rekontextualisierung gegenübergestellt werden. Die fotografischen Arbeiten der Künstler Peter Jacobi und Matthias Koch etwa nehmen eine solche Neu-Positionierung mittels einer (Wieder-)Sichtbarmachung der vergessenen und verdrängten Bunkerarchitektur vor, indem sie schlicht deren Monumentalität porträtieren. Dabei sind die Zugänge der Künstler durchaus unterschiedlich: Indem Jacobi den nüchternen Blick des neutralen Beobachters einnimmt, die Fotografien weder inszeniert noch nachbearbeitet, holt er die reine Materialität der Bauwerke in das kulturelle Gedächtnis zurück. Während er ihre Tarnung fotografisch durchdringt, macht er die Bunker wieder sichtbar, ein Verfahren, das auch Matthias Koch, wenngleich aus einer anderen Perspektive, anwendet. Koch erreicht diese Sichtbarmachung mithilfe von Luftaufnahmen, die es ihm erlauben, die Monstrosität der Bunkerarchitektur im Landschaftsbild anschaulich zu machen und damit aus der Vertikalen neu zu verhandeln. Diese von den Künstlern erreichte Bewusstmachung des ehemals Verdrängten wird von dem Leipziger Fotografen Erasmus Schröter im Anschluss ästhetisch überhöht. Indem er die Bunker(-Ruinen) durch ein „künstlich übersteigertes Pathos der Lichtregie“ theatralisiert, holt er die Bunker aus 28 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 226. 29 Ebd., S. 225. – Assmann knüpft hier explizit an Reinhart Kosellecks metaphorischen Begriff der „Zeitschichten“ an, wenn sie von räumlicher „Schichtung“ der Geschichte spricht.
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dem „Dunkel der Geschichte“ hervor.30 Der Bunker wird im Bildausschnitt in seiner Künstlichkeit erkennbar, durch eine grelle Farbgebung noch zusätzlich akzentuiert. Mit diesem spielerischen Verfahren der Rekontextualisierung nimmt Schröter der Kriegsarchitektur ihre materielle und gedankliche Schwere. Diesen Prozess führt Magdalena Jetelová weiter, indem sie die Rekon textualisierung wörtlich oder vielmehr schriftlich nimmt. Die im tschechischen Semily geborene und an der Akademie der Bildenden Künste München lehrende Fotografin und Bildhauerin hat anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Landung der Alliierten in der Normandie eine Fotoserie mit dem Titel Atlantic Wall arrangiert: Sie beschriftet die Oberflächen der Weltkriegsbunker an der dänischen Küste mittels einer Laserprojektion mit Zitaten aus Virilios Bunker-Archäologie. Dadurch gelingt es Jetelová, die Oberflächlichkeit der Wahrnehmung von Bunkern visuell in Szene zu setzen. Der auf den Bunker aufgebrachte Text verdeutlicht, dass diese bislang als „weißes Blatt“ fungierten, dass sie Medium – und nicht Botschaft – waren. Dieses Verhältnis kehrt die Künstlerin mit ihrer Arbeit in gewisser Weise um, denn der Akt des Beschreibens und die Ausstellung des Ergebnisses als Kunst verweisen auf den künstlichen Charakter des Fremdkörpers „Bunker“ in der (natürlichen) Küstenlandschaft. (Die Aktion stellte im Übrigen keine Performance dar, weil zum Zeitpunkt der Aufnahme kein Publikum anwesend war.) Die Aufschrift „ABSOLUTE WAR BECOMES THEATRALITY“ [sic] auf einem Bunkerportal, das einer Theaterbühne gleicht, potenziert so Virilios Lesart von Bunkern als „letzte Theatergeste im Endspiel der abend arcel ländischen Militärgeschichte“.31 Jetelová knüpft damit an die von M Duchamp erprobte De- und Rekontextualisierung von objets trouvés an. Jacques Derridas Grundannahme folgend, dass Signifikanten ihre spezifische Bedeutung nicht aus einer festen Bindung an Signifikate erhalten, sondern aus der Differenz zu anderen Signifikanten, wäre dieser Akt der Dekontextualisierung als ein (Wieder-)Aufladen der Bunker mit einer bislang verdrängten Bedeutung zu werten. Innerhalb der Populärkultur folgt dieser Prozess der Dekontextualisierung einem Muster, das allen Pop-Produkten zugrunde liegt: dem Sampling von Fragmenten, der Reproduktion von Oberflächenstruktur und damit der Absage an die unhintergehbare Verknüpfung von Form und Inhalt, von Signi 30 Kimpel: Innere Sicherheit? (wie Anm. 20), S. 73. 31 Virilio: Bunkerarchäologie (wie Anm. 1), S. 80.
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fikant und Signifikat: „Die Popkultur, so könnte man sagen, de-historisiert die Geschichte, sie verändert das kulturelle Gedächtnis.“32 Dieses Verfahren ist zunächst in der Reproduktion von Konsumgütern erprobt worden. Über die Pop-Literatur können die dekontextualisierenden Verfahren der bildenden Künste in den Bereich der Literatur transferiert werden, denn Pop ist „immer Transformation, im Sinne einer dynamischen Bewegung, bei der kulturelles Material und seine sozialen Umgebungen sich gegenseitig neu gestalten und bis dahin fixe Grenzen überschreiten“.33 Pop-Literatur zielt auf die Irritationen, die Umkodierungen und Neukontextualisierungen von Pop-Signifikanten hervorrufen.34 Auch wenn die im Folgenden vorgestellten Romane nur bedingt der Pop-Literatur zuzurechnen sind, evozieren sie doch, so die abschließende These, über die Dekontextualisierung von Bunkern als leere Signifikanten des Nationalsozialismus in der Gegenwartskultur eine Irritation, als deren Konsequenz die gegenwärtige Wahrnehmung von Geschichte infrage gestellt wird.
Bunkertexturen Literarisch zeichnet sich gut sechzig Jahre nach Kriegsende ein Trend ab, die Zeit des Nationalsozialismus zunehmend in Form reiner Signifikanten(-ketten) zu verhandeln und damit als symbolischen Referenzrahmen zu setzen, ohne die Geschichte selbst thematisieren zu müssen. Geschichtlich aufgeladene (Erinnerungs-)Orte können so durch bloße Nennung ganze Assoziationsräume eröffnen und dem literarischen Text Vielschichtigkeit verleihen. Diese Art des literarischen Verweises – wie überhaupt jede Form von Intertextualität – ist auf ein Wissen um die Kontexte angewiesen und setzt daher die Verankerung der Signifikanten im kollektiven respektive kulturellen Gedächtnis voraus. 32 Werber, Niels: Vom Glück im Kampf. Krieg und Terror in der Popkultur [Antrittsvorlesung]. Quelle: http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/niels.werber/Antrittsvorlesung.htm (Letzter Zugriff: 22.03.2013). 33 Diederichsen, Diederich: Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch. In: Pop, Technik, Poesie. Die nächste Generation Hg. v. Marcel Hartges. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 36–44, hier 38–39 (= Literaturmagazin 37). 34 Schäfer, Jörgen: „Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit“. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968. In: Pop-Literatur. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold und Jörgen Schäfer. München 2003, S. 7–25, hier 15.
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Bunker, Tunnelsysteme und Luftschutzkeller oszillieren als zwar verdeckte, aber immer noch sichtbare Zeichen der nationalsozialistischen Vergangenheit zwischen psychologischer Faszination des verborgenen und imaginierten Unheimlichen einerseits und der Funktion als Erinnerungsort und Mahnmal andererseits. Diese Ambiguität ist auch kennzeichnend für die literarische Bearbeitung dieser Orte, wie die folgenden drei Beispiele illustrieren. Steffen Kopetzky, dessen Werk von popliterarischen und postmodernen Verfahrensweisen, vor allem dem Changieren zwischen U- und E-Literatur, dominiert ist, präsentiert mit Der letzte Dieb (2008) einen als Agentenroman ausgewiesenen Text mit parallel verlaufenden, nahezu absurden Handlungssträngen. In deren Mittelpunkt stehen ein Berufseinbrecher, eine ehemalige DDR-Spionin und ein amerikanischer Bestsellerautor.35 Schließlich enden alle Peripetien der Handlung in dem geheimen Bunker- und Tunnelsystem unter dem Gelände des Berliner Flughafens Tempelhof, in dem ein NaziSchatz vermutet wird.36 Mit Blick auf die Rezensionen zum Roman wird deutlich, dass im bewussten Gestus des popkulturell freien Spiels der Zeichen auch die Signifikanten des Nationalsozialismus frei verfügbar erscheinen und die ästhetische Autonomie der Kunst nicht von einem gängigen Moraldiskurs reglementiert wird. Kopetzkys Spiel mit (imaginativen) Überresten der NS-Architektur blendet den geschichtlichen Kontext zugunsten der Erzeugung von Spannung und Beklemmung im Zeichen einer „Ästhetik des Schreckens“ (Karl Heinz Bohrer) scheinbar aus. Zwar nimmt der Autor zunächst direkten Bezug auf Berliner Unterwelten e. V., wenn die Protagonisten mit einer geführten Besuchergruppe in das Bauwerk gelangen und die Führerin einige Details über Geschichte und Bau des Flughafens berichtet.37 Die damit geleistete historische Kontextualisierung wird aber im weiteren Handlungsverlauf imaginativ überhöht bezie35 Die Spionin trägt den Namen Johanna Meister und offeriert damit die Möglichkeit, Kopetzkys Roman als Bildungsroman zu lesen, der sich in die Tradition von Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meister „einschleicht“. Zudem ist sie in speziellen Mnemotechniken ausgebildet, die es ihr ermöglichen, geheime Bau- und Lagepläne fotografisch zu erinnern. Das trägt ihr den Spitz- bzw. Tarnnamen „Bunker“ ein, der wiederum auf das Ende des Romans verweist. – Auch der Name des Autors, Hawk Browning, ist als Kompositum genrebildend, finden sich hier doch der Astrophysiker Stephen Hawking und der Horror-Romanautor Dan Brown gesampelt. 36 Womit Kopetzky die Trivialität des Plots in bewusster Zitation etwa der Stoffe von Steven Spielbergs Indiana-Jones-Reihe ausstellt. 37 Kopetzky, Steffen: Der letzte Dieb. München 2008, S. 428–429.
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hungsweise unterkellert,38 wobei der Autor auch mit der Erwartungshaltung des Lesers spielt und diese, ebenso wie die der Besucher, desavouiert. Wenn es im Text ironisch gebrochen heißt: „Ein leichter Grusel entlockte den Teilnehmern begeistertes Kopfnicken, der eine oder andere Ehemann drückte seiner Frau neckisch die Hand“,39 dann stellt Kopetzky damit heraus, dass die Erwartung des Lesers, obskure Nazi-Schätze unterhalb des Flughafens zu finden, einen ebenso biederen Drang nach Spannung ausdrückt wie das Gruseln-Wollen der Besucher. Dieses Spiel mit dem Leser führt der Autor konsequent zu Ende, wenn nach fast 500 Seiten literarischer „Schnitzeljagd“ der Roman im Bunkersystem unter Tempelhof zwar seine gewalttätige Klimax erfährt,40 von einem wie auch immer gearteten Nazi-Schatz jedoch keine Spur zu finden ist. So wird die triebökonomische Determiniertheit des nach Spannungsauflösung suchenden Lesers gezielt unterlaufen und mit diesem Verfahren letztlich sichtbar gemacht. Auch in der Prosa des 1953 geborenen Georg Klein wird das Verfahren der De- und Rekontextualisierung von historischen Signifikanten mit der romantischen Tradition der Inszenierung untergründiger, abgeschlossener Räume bewusst kurzgeschlossen. Kleins Romane, die auf ähnliche Weise wie die Texte Kopetzkys Intertexte der U- und E-Kultur gegeneinander montieren, lesen sich als hochartifizielle Bearbeitungen traditionell der Unterhaltungsliteratur zugerechneter Genres wie dem Detektiv-, Agenten- oder Horrorroman. Im dritten Roman des Autors Die Sonne scheint uns (2004) schickt die Romanfigur, der greise Garbor Cziffra (dessen Name bereits auf den chiffrierten Umgang mit Geschichte verweist), fünf einander bislang unbekannte Personen auf die archäologische Suche nach einem Kultobjekt keltischen Ursprungs, das Züge der Himmelsscheibe von Nebra trägt und „die Sonne“ genannt wird. Ort dieser Suche ist ein zehnstöckiges, verlassenes Büro- und Lagerhaus, von dem man erfährt, dass es in der frühen Bun38 Bei Forschungen des Berliner Unterwelten e.V. wurde in dem 1937 bis 1941 erbauten Tunnelsystem unter dem Gelände des Flughafens tatsächlich ein verschlossener Raum entdeckt, in dem sich ehemals ein „Dokument-Bunker“ befand. Kartei karten zahlloser Kriegsgefangener, die hier lagerten, wurden somit erst im Jahr 2000 wiedergefunden. Vgl. den Beitrag von Dietmar Arnold. Quelle: http://berlinerunterwelten.de/flughafen-tempelhof.319.0.html (Letzter Zugriff: 03.01.2013). – Weiter Zweigler, Reinhard: Berliner Bunkerforscher entdecken geheime Kartei von NS-Zwangsarbeitern. In: Leipziger Volkszeitung vom 27.08.2000. 39 Kopetzky: Der letzte Dieb (wie Anm. 37), S. 430. 40 Person, Jutta: Zylinder und Stift. Ein smarter Genre-Klau. In: Süddeutsche Zeitung vom 15.11.2008.
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desrepublik erbaut wurde und unter Einheimischen den Beinamen „Steifer Schnösel“ trägt. Dieses Gebäude, in das die Protagonisten eingeschlossen sind, wurde auf den Fundamenten eines ehemaligen Kinos errichtet, in dem in der Zwischenkriegszeit ein jüdischer Geschäftsmann ein „Museum der Weltmirakel“ betrieb und das bei einem alliierten Luftangriff gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zerstört wurde. Der konkrete Ort des solcherart historisch unterkellerten Hochhauses ist der eigentliche Protagonist des Romans, der mit seinen zehn Kapiteln die Stockwerke des Gebäudes nachbildet. Aufgrund seiner detailarmen Oberfläche lässt sich analog zur Marginalisierung der Bunker im Stadtbild auch hier von einem vergessenen Ort sprechen, der nur über seine Monumentalität auf die eigene Geschichtlichkeit verweist, wie Klein im Interview deutlich macht: „Das bloße Dasein eines Gebäudes scheint uns einleuchtende Gewähr dafür, dass es vergangene Zeit gibt. […] Zum Geisterhaus der Horrorgeschichte gehört die selbstverständliche Annahme, dass dieses Vergangene böse ist.“41 Für Klein hat das Haus, das als Sinnbild für die Bundesrepublik gelesen werden kann,42 als realisierte Metapher „Leichen im Keller“. Der Schauer des Romans geht von einer Leiche im ehemaligen (Luftschutz-)Keller des Gebäudes aus, die völlig mit einem phosphoreszierenden Pilz überzogen ist. Das veranlasst den Literaturkritiker Ulrich Greiner dazu, dem Autor vorzuwerfen, lediglich „die Reize des politisch und ästhetisch Perversen, wie sie sich am schönsten in der Verbindung von Nazi und Porno zeigen“,43 abzuschöpfen. Greiner unterschlägt dabei, dass auch die von Klein inszenierte Schatzsuche ins Leere führt, die „Sonne“ letztlich nicht gefunden werden muss, weil sie 41 Combrink, Thomas: Der unsichtbare Darsteller. Gespräch mit Georg Klein über Zeit- und Geschichtserfahrung. In: Neue Deutsche Literatur 561 (2004), S. 13–21, hier 16. 42 So in der Rezension von Braun, Michael: Die Kellerforscher und ihr Weltmirakel. In: Neue Zürcher Zeitung vom 05.08.2004: „In den morschen Fundamenten der architektonischen Nachkriegsmoderne entdeckt Klein die Vorgeschichte der gegenwärtigen Bundesrepublik: Es geht dem Autor um geschichtsarchäologische Rekonstruktion, um die Fundierung deutscher Identität zwischen früher Moderne, NS-Staat und optimistischem Adenauer-Deutschland.“ 43 Greiner, Ulrich: Schorschis Hafenbasar. In: Die Zeit vom 26.08.2004. – Zwar ist Greiners Feststellung des Kurzschlusses historischer Zeitzeichen zutreffend, aber er übersieht, dass dieser keine logische Schlussfolgerung ist. Bei der Leiche im Keller handelt es sich nicht, wie man aufgrund der Historie des Hauses annehmen könnte, um Opfer oder Täter des Nationalsozialismus, sondern um den syrischen Wachmann, der erst vor Kurzem einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist.
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schon immer da war. Der Luftschutzkeller fungiert hier als treffendes Bild, das die Lust am geschichtlich determinierten Unheimlichen und die Pflicht zur Erinnerung vereint. Letztere wird damit auf ihren gegenwärtigen Status befragt, ohne eine Antwort zu offerieren, wie auch Christoph Bartmann hervorhebt: „Mit einem ebenso präzisen wie abseitigen Bild hat Klein die Tür zu einer moralischen Frage, der nach dem Haltbarkeitsdatum der Schuld, aufgestoßen.“44 Das letzte literarische Beispiel ist der Roman Sanssouci (2009) des 1967 geborenen Andreas Maier. Auch Maier, dessen Romane starke Tendenzen einer Anti-Heimatliteratur aufweisen, spielt mit der Lust am Unheimlichen. Unter der scheinbar friedlichen Oberfläche der als bürgerlich-situiert porträ tierten Provinzkapitale Potsdam, genauer unter dem Park von Sanssouci, den Maier in der karikierten Schilderung der aufgetragenen Sorglosigkeit der Bewohner Potsdams wörtlich nimmt, liegt Verdrängtes. Maier spielt auf diese Art vielfach gebrochen das Verhältnis von Oberfläche und Untergrund/Untergründigem durch: Die aufgesetzte Oberflächlichkeit der Gespräche der Einwohner kaschiert bei Maier nur das darunterliegende System von Hass, Verachtung und Unverständnis füreinander. Die fassadenhafte Äußerlichkeit der agierenden Personen selbst, der auch die literarische Gestaltung als flat characters entspricht, verbirgt dabei die Nonkonformität der abgründigen sadomasochistischen Gelüste und Wünsche, die im Gerede der Leute angedeutet, im Roman jedoch nie visualisiert, sondern in den Untergrund und damit ins Un(ter)bewusste verlagert werden. So heißt es im Text: „Das, was Hofmann in den letzten Tagen in den unterirdischen Gängen unter dem Park gefunden hatte, war eigentlich nur eine Fortführung dessen, was sie oberirdisch in ihren Gartenhütten und andernorts ohnehin schon lebten.“45 Unter der touristischen Oberfläche Potsdams verbirgt sich neben den imaginierten Geschichten auch die reale Historie – nicht nur der Garnisonsstadt, im Roman über die persiflierten Vorbereitungen für eine Demons tration gegen den Wiederaufbau der Garnisonskirche präsent, sondern auch des Nationalsozialismus. Aus dieser Zeit stammt im Roman das unterirdische Gangsystem unter Sanssouci, das nicht nur dem Gärtner Hofmann als Lagerraum für Arbeitsgeräte, sondern auch anderen Figuren als Ort okkul44 Bartmann, Christoph: Wer überlebt, erhält eine Prämie. In: Süddeutsche Zeitung vom 27.07.2004. 45 Maier, Andreas: Sanssouci. Frankfurt am Main 2009, S. 273.
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ter und sexueller Praktiken dient. Mit Ulrich Greiner ließe sich auch dieses Sujet als „Verbindung von Nazi und Porno“ klassifizieren. Von Andreas Maier wird es in noch stärkerem Maße als bei Georg Klein und Steffen Kopetzky genutzt, aber eben nicht ausschließlich zur Erzeugung von Spannung. Vielmehr liest es sich einmal mehr als bewusste Infragestellung der Lesererwartung, denn: Sollte es den Leser ärgern, dass im Roman kein Mord und kein verbotener Sexualakt gezeigt wird, obwohl der gesamte Text darauf hindeutet, dann entlarvt er damit nur seine eigene Lust am Abseitigen, wie auch Ernst Osterkamp in der FAZ festhält: „Aber was immer dort unten geschehen ist und geschieht: Es ist trivial und orientiert sich an den Ritualen des pornografischen Bewusstseins, das leider auch dasjenige des Lesers ist.“46 In diesem Sinne fungiert auch das nationalsozialistisch Untergründige, das im Roman über die bloße Nennung hinaus nicht thematisiert wird, als Spiegel der eigenen Psyche und als Frage, wie sehr jeder Einzelne dem Reiz dieses Untergründigen erliegt, das den Bunkern, Gängen und Kellern dieser drei Romane immanent ist. Die literarischen Bearbeitungen des Bunkerkomplexes unterstreichen die Multiperspektivität der Bunkerzeichen, denen neben dem Wissen um den nationalsozialistischen Entstehungskontext eben auch die Faszination des Grauens eingeschrieben ist. Die Rezensionen stellen heraus, dass jede Beschäftigung mit der Problematik sich daher immer auch der Gefahr aussetzt, als Bejahung dieser Faszination missdeutet zu werden. Zumal die literarisierte Subversion dieses psychologischen Drangs sich hinter einer zur Schau gestellten Affirmation verbirgt, die nur dekonstruiert werden kann, wenn man den spielerischen Humor der inszenierten Überhöhung teilt und sich nicht auf einen moralischen Standpunkt des Unsagbaren zurückzieht. Die Oberflächlichkeit des Untergründigen erscheint im gegenwärtigen Erinnerungsdiskurs virulent und – das zeigen die vorgestellten Bearbeitungen des Bunkerkomplexes – reizt zu einer künstlerischen Potenzierung dieser Oberflächlichkeit, die dem Untergründigen im Modus reiner Zeichenhaftigkeit jeglichen Grund entzieht.
46 Osterkamp, Ernst: „Joop sah man nie, Jauch manchmal.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.01.2009.
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Der Golem in Budapest Die Wiedergeburt einer jüdischen Legende in der ungarischen Neoavantgarde
Budapest war im Zeitalter des Sozialismus eine schäbige, graue und schläfrige Stadt. Was ihren äußeren und „inneren“ Charakter betrifft, befand sie sich irgendwo zwischen dem magisch-mystischen Prag und dem Ostberlin der Boheme am Prenzlauer Berg. Gleichzeitig gab es im Leben der Stadt „Schlupfwinkel“, in denen eine vielseitige Untergrund-Kultur existierte. Während manche Kunstwerke des Underground auf indirekte Weise das Grau und die metaphysische Leere Budapests zum Ausdruck brachten, widerstanden andere Künstler und ihre Werke der damaligen erdrückenden Atmosphäre der ungarischen Hauptstadt. Die Vertreter der Budapester Kultur im Untergrund waren nur äußerst selten von dem Bestreben geleitet, sich in ihren Werken mit der sie umgebenden Stadt auseinanderzusetzen. Sie standen im Kraftfeld zweier Pole: Entweder schufen die Künstler eine eigenwillige „Privatkunst“, bei der sie auf ihr kompliziertes Privatleben und ihre Beziehungen untereinander Bezug nahmen, oder sie orientierten sich an der globalen art world und schufen eine lokale Variante – „lokalen“ Fluxus, „lokale“ Pop-Art, „lokale“ Aktionskunst. Budapest als Stadt stand jedoch weniger im Interesse – mit einer Ausnahme: György Konrád, der sich sowohl als Romanschriftsteller als auch als Stadt soziologe mit Budapest beschäftigte. Die von offiziellen Vorgaben unabhängige Alternativkultur des sozialistischen Budapest lässt sich auf vielerlei Weise charakterisieren, aber die Alleingültigkeit der meisten Attribute, die hier genannt werden können, wird durch Ausnahmen widerlegt. Sie war „unabhängig“, aber hing vom System ab, denn schließlich war sie als Protest „dagegen“ entstanden. Sie war „oppositionell“, aber lehnte jegliche politischen Aktivitäten ab und interessierte sich nur für die „reine“ Kunst. Sie war „avantgardistisch“, aber sympathisierte nicht mit dem radikalen Ton der zeitgleich agierenden ungarischen Neoavantgarde.
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Im Gegenteil, die Neoavantgarde hielt diese für übermäßig militant, aktionshungrig und ausgestellt aggressiv. Das war zwar ein „Untergrund“, aber was ist das für ein Untergrund, wenn sich dieser aus sogenannten „bürgerlichen“ Elementen zusammensetzt – aus Philosophen, Literaten, Psychologen und anderen Intellektuellen mit bürgerlichem Habitus? All jene, die damit rechnen mussten, mit den klassischen Schimpfwörtern des kommunistischen kulturpolitischen Diskurses – „bürger lich“ und „avantgardistisch“ – bedacht zu werden, lebten im verbotenen Milieu des Untergrunds und somit in künstlerischer Koexistenz auch mit dem Underground. Im Kontext der Kádár-Ära wurde der Begriff Underground meist als eine Bezeichnung für ein heterogenes kulturelles Milieu genutzt, zu dem Vertreter der „bürgerlichen“ Kultur vor dem Zweiten Weltkrieg, Intellektuelle, die am Ungarnaufstand von 1956 beteiligt waren (und sich nach seiner Niederschlagung nicht in das gesellschaftliche System integrieren konnten), Vertreter der von der Staatsmacht an die Peripherie gedrängten kulturellen Strömungen (darunter Geistesgeschichte, Psychoanalyse, die okkulte beziehungsweise esoterische Philosophie) ebenso gehören konnten wie politisch Andersdenkende, die das System offen kritisierten. Der Budapester „Underground“ war unter diesen Gesichtspunkten eine gesellschaftliche Schicht mit einer je nach Generationszugehörigkeit und Weltanschauung stark differenzierten Sichtweise. Was sie alle miteinander verband und zu einer Gruppe werden ließ, war wohl am ehesten die äußere politische Repression. In dieser Interpretation lässt sich der „Underground“ auch als ein lockeres Netzwerk von Intellektuellen begreifen, die sich in das Kádár-System nicht eingliedern konnten oder wollten. Damit unterschied sich die Nutzung des Begriffes „Underground“ von derjenigen im amerikanischen Kontext und lässt sich am ehesten mit der Bedeutung „im Untergrund“ assoziieren. Die ungarische Neoavantgarde war einerseits Teil dieses Untergrunds (und zwar im Hinblick auf familiäre Beziehungen, Freundschaften und das Gesellschaftsleben), hob sich aber gleichzeitig auch von ihm ab. Zum einen, da sie einer anderen Generation angehörte, zum anderen, da ein Teil des Untergrunds nicht das geringste Interesse an neoavantgardistischer Kunst hatte. Hinzu kommt, dass ein Großteil der neoavantgardistischen Künstler einen Lebensstil vertrat, der für die westlichen jugendlichen Subkulturen bezeichnend war: Sie waren Bohemiens, Beatniks, Hippies oder Punks – und kamen damit der englischen Bezeichnung „Underground“ wohl am nächsten.
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Kanon und Klassik versus Underground und Avantgarde Bezüglich der Kunst der Neoavantgarde scheint sich eine Art Kanon herauszukristallisieren; einzelne Lebenswerke sind sogar schon auf dem besten Wege, zu Klassikern zu werden. Verwiesen sei auf einige beispielhafte Vertreter der unterschiedlichen Gattungen und Strömungen: Miklós E rdély – Fluxuskunst, Gábor Bódy – Film, Tibor Hajas – Aktionskunst, György Jovánovics – Bildhauerei, Dezső Tandori – Lyrik und Prosa. Ihre Zuordnung zu einem Kanon der Neoavantgarde ist nicht ironisch gemeint, auch wenn eine Kanonisierung dieser auf Normübertritt ausgerichteten Kunstrichtung paradoxale Züge tragen mag. Inzwischen werden selbst Imre Kertész, György Konrád und Péter Nádas als „klassisch“ betrachtet. Sie verstehen sich jedoch nicht als Neoavantgardisten. Péter Nádas zum Beispiel verabscheut die Literatur der Avantgarde: „Der Text von Hajas ist skandalös, widerwärtig und infantil“, schrieb er verächtlich über das Werk von Tibor Hajas.1 Einzelne umfangreiche Lebenswerke aus der ungarischen Neoavantgarde werden zu Klassikern gemacht, indem die Nachwelt sie als ein geschlossenes und kohärentes Ganzes interpretiert, obgleich sie zu ihrer Zeit fragmentierte, verrückte Visionen, provokative Gesten oder ironische Fragmente darstellten. Die Kanonisierung und Schaffung einer geschlossenen Einheit erfolgt durch die sich heute mit der Avantgarde auseinandersetzenden Kunsthistoriker, Kritiker und Kuratoren, deren Arbeit sich in umfangreichen Gesamtausgaben, Ausstellungen und katalogischen Dokumentationen des jeweiligen Lebenswerkes niederschlägt. Dies gibt zwar Anlass zum Feiern, ist aber begleitet von einer allgemeinen Enttäuschung. Schließlich geht jede große Retrospektive und Aufarbeitung mit der ernüchternden Erkenntnis einher, dass die ungarische neoavantgardistische Kultur für das heutige Publikum weder eine Quelle der Inspiration noch eine Offenbarung darstellt.
Stilbedingtes Außenseitertum: György Kozma György Kozma wurde 1954 in Budapest geboren. Er ist Schriftsteller, Dichter, Grafiker und Dramaturg. Heute arbeitet er als Kantor (Chasan) in zwei Budapester Synagogen. Seine Kunst (Romane, Comics, Karikaturen und 1 Nádas, Péter: Der Lebensläufer. Ein Jahrbuch. Übers. v. Hildegard Grosche. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 54.
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Liedtexte) ist für die hier diskutierte Fragestellung aus folgenden Gründen wichtig: Erstens die Sonderstellung innerhalb der Neoavantgarde und der Untergrund-Kultur: In den 1970er-Jahren verließ Kozma Ungarn, lebte kurzzeitig in Paris und kehrte nach wenigen Jahren zurück. Seine Emigration in den Westen hatte keine rechtlichen Konsequenzen, denn Kozma wurde aus medizinischen Gründen für unzurechnungsfähig erklärt und unterlag damit keiner juristischen Bestrafung. Nach seiner Rückkehr arbeitete er unter anderem an der Seite des Filmregisseurs Gábor Bódy, des Fluxus-Künstlers Miklós Erdély und des Aktionskünstlers Tibor Hajas als Assistent, Dolmetscher und Dramaturg. Eine solche Position an der Peripherie einer an sich schon marginalen Kultur schärft den Blick für deren besondere Stellung und die Bedeutung der Personen, die sie entscheidend prägen. Kulturanthropologisch betrachtet ist man gleichzeitig außen und innen – beteiligter „Insider“ und außenstehender Beobachter. Zweitens die ästhetische Spezifik: Den Stilmitteln nach ist Kozma kein Avantgardekünstler, auch wenn seine Werke zentraler Bestandteil der Avantgardekultur sind. Eine subkulturelle Zugehörigkeit geht bei ihm mit einem stilbedingten Außenseitertum einher, was in einer stark normierten Stilrichtung wie der ungarischen Avantgardekunst eine Ausnahme darstellt. Eine Bemerkung dazu am Rande: István Szerdahelyi, ein umstrittener marxistischer Kritiker, sprach in einem diffamierenden Artikel von der „neoavantgardistischen Stildiktatur“. Diese Wendung, die in der Geschichte der modernen ungarischen Literaturkritik zu einem geflügelten Wort wurde (wahrscheinlich sind es diese zwei Worte, die den Kritiker überleben werden; für seine Bücher interessierte sich schon zur Kádár-Ära niemand), ist in gewisser Hinsicht treffend. Szerdahelyi spielte ursprünglich darauf an, dass die auf aggressive Weise den Traditionsbruch vorantreibende neoavantgardistische Minderheit eine Diktatur über die friedliche und konformistische Mehrheit der Nichtavantgarde ausübte. Die Aussage lässt sich aber auch anders auslegen, und zwar so, dass die avantgardistische ästhetische Norm eine Art freudsches Über-Ich ist, das jenen Teil der Persönlichkeit zensiert, der ein Verlangen nach „kindlicher“, „populärer“, „fröhlicher“ und „unterhaltender“ Kunst hat. Drittens die Kontextualisierung: Die Werke von Kozma setzen die un garische Neoavantgarde in einen durch Ironie und grotesken Humor geprägten Kontext und verkörpern zugleich eine subjektive Kulturgeschichte oder eher noch eine persönliche Mythologie.
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Der Golem-Mythos und die Figur Nijinsky Nach der Wende in Ungarn sind zwei Romane von György Kozma erschienen: Nijinsky, der Golem (1990, Nizsinszkij, a Gólem) und Seele eines Abenteurers – Wohin verschwand Nijinsky in Casablanca? (1998, Kalandor lélek. Hová tűnt Nijinsky Casablancában). Wie aus den Titeln ersichtlich, hatte das in Kiev geborene, polnischstämmige Tanzwunder Vaslav Nijinsky, das als Mitglied der Ballets Russes bekannt geworden ist, für Kozma eine besondere Bedeutung. Die Romanfigur Nijinsky ist ein Symbol oder eher noch eine Schlüsselfigur für Kozmas Werk: Denn seine Person ist das Bindeglied zwischen der bürgerlichen Kultur und der Kunst der Avantgarde. Der Künstler lebte zwischen den Weltkriegen mit seiner ungarischen Frau in Budapest und gehörte einer Künstlergesellschaft an, in der prominente ungarische Wissenschaftler, bildende Künstler und Literaten verkehrten.2 In Kozmas Romanen steht Nijinsky im Zentrum eines spezifischen „Medien-Mythos“. Um M arshall McLuhans Worte zu paraphrasieren: Nijinsky selbst wird zum Medium, das „die Botschaft“ ist. Im Nijinsky-Mythos manifestiert sich für Kozma – sowohl aus kulturgeschichtlicher als auch aus religionsgeschichtlicher Perspektive – die intensive Hinwendung der Kunst der Avantgarde zu kommunikations- und medientheoretischen Fragen. Eine zentrale Facette dieses Mythos ist mit der Krise der Sprache verbunden. Zu der Zeit, als Schriftsteller, Dichter und Publizisten (zum Beispiel Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus und Stéphane Mallarmé) die Krise, den Wertverlust und die Entfremdung der Sprache thematisierten, gewann die Suche nach einer Sprache, die eine authentische Kommunikation ermöglichen sollte, immer stärker an Bedeutung. Dabei kam dem Körper als Medium beziehungsweise der Sprache des Körpers, dem Tanz, eine wichtige Rolle zu. Die Idealisierung der Botschaften des Körpers lässt sich gut anhand der populären experimentellen Tanzbewegungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts beobachten: Das in die Krise geratene grundlegende Kommunikationsmittel – die Sprache – sollte durch ein alternatives semiotisches System ersetzt werden. Eine der wichtigsten Ikonen dieser Suche war Nijinsky, dessen Wirkung weit über die experimentellen Tanzbewegungen mit ihren in gewissem Maße sektenähnlichen Strukturen hinausging.
2 Vgl. die Lebenserinnerungen von Nijinsky, Romola: Nijinsky. Der Gott des Tanzes. Übers. v. Hans Bütow. Frankfurt am Main 1999.
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In seinen Romanen und Essays lässt György Kozma die Geschichte des berühmten Balletttänzers wieder aufleben und gleichzeitig die spirituellen und intellektuellen Bewegungen zu Anfang des Jahrhunderts mit den Traditionen der Avantgarde verschmelzen. Im Vorwort zu Nijinsky, der Golem ist zu lesen: Wir, die wir damit konfrontiert sind, dass eine alte Legende in unser Leben treten möchte, haben die Möglichkeit erhalten, über die tragische Kluft der esoterischen (und der avantgardistischen) Traditionen dieses Jahrhunderts neue – persönliche – Brücken zu schlagen.3
Darüber hinaus ist Nijinsky für Kozma in seiner Eigenschaft als Geisteskranker von großer Bedeutung.4 Das als schizophren diagnostizierte Tanzwunder galt im damaligen Budapest als eine Art moderner Golem. Gleichzeitig ist Nijinskys Zwangsvorstellung, er sei der in der Heiligen Schrift angekündigte Messias, gut geeignet, um über seine Person den versteckten religiösen Charakter der Avantgarde darzustellen, das heißt jenen Prozess, bei dem religiöser Anarchismus und prophetische Berufung zu künstlerischem Anarchismus und Aktivismus werden. In Kozmas Romanen tritt Nijinsky in mehrfacher Hinsicht als Golem in Erscheinung.5 Er wird von seinem Impresario und Choreografen Sergej Djagilev genauso gelenkt und dirigiert, wie der Prager Rabbi Löw den ursprünglichen Golem lenkte und dirigierte. Schließlich ergreift die Schizophrenie von ihm Besitz und macht ihn zur Marionette seiner selbst. Der Grund für den Rückgriff auf den Mythos vom künstlich geschaffenen Menschen ist ein doppelter: Zum einen ist der Golem ein Medium par excellence und somit eine außerordentlich wirkungsvolle Metapher für Äußerlichkeit und Vermitteltheit, zum anderen war Rabbi Löw der Legende nach 3 Kozma, György: Nizsinszkij, a Gólem [Nijinsky, der Golem]. Budapest 1990, S. 7. – Soweit nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen vom Verfasser. 4 Vgl. Ostwald, Peter: „Ich bin Gott.“ Waslaw Nijinski – Leben und Wahnsinn. Übers. v. Christian Golusda. Hamburg 1997, S. 454–456. 5 Kozma, György: Kalandor lélek. Hová tűnt Nijinsky Casablancában? [Seele eines Abenteurers – Wohin verschwand Nijinsky in Casablanca?] Budapest 1998, S. 16: „Die Familie des Rabbiners Löw ist, wie ich sehe, durch die Geschichte des gesalbten Messias berühmt geworden. In diesem Jahrhundert ist der als Stern gefeierte Tänzer Nijinsky, der der Messias sein wollte, in ihrer Nachbarschaft aufgetaucht […]. Der berühmte Nijinsky hat in Buda in der Nachbarschaft der Freundin von Löws Nichte Eszter gelebt.“
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auch der Erfinder der Laterna magica, dem Urbild des Fernsehens. Angeblich wurde Nijinsky durch das Anschauen der ersten experimentellen Fernsehsendungen geheilt.6 Natürlich geht es in diesem Fall nicht um Fakten, sondern um die Einbettung des Phänomens in ein einheitliches (wenn auch fiktives) Deutungsfeld: Nijinsky erscheint als Medium des Körpers, der Golem als Medium des Willens seines Schöpfers, des Rabbi Löw, und die Laterna magica, das heißt das Fernsehen beziehungsweise die biblische Prophezeiung, als Medium des „In-die-Ferne-Sehens“.
Doktor Frankenstein und der Golem Die Legende vom Golem regte auch die Fantasie anderer ungarischer Neoavantgardisten an. Der Aktionskünstler Tibor Hajas, Freund und Lehrmeister von Kozma, schrieb in seinen Aufzeichnungen: Es ist eine Sünde, als Schöpfer tätig zu sein. Einerseits gegenüber dem Geschöpf und andererseits gegenüber der Welt, auf die das Geschöpf losgelassen wird, über das man keine Kontrolle mehr hat, nachdem der Akt der Schöpfung beendet ist. […] Jede Kreatur trachtet danach, Macht über ihren Schöpfer zu erlangen. Das Kind wendet sich gegen die Eltern, die Zivilisation gegen den Konstrukteur, das Filmbild gegen die Realität. Jedes Geschöpf ist ein Golem, gefährlich und unkontrollierbar.7
Bezüglich der Frage nach der moralisch unzulässigen Kreatur beschäftigte eine weitere literarische Schreckensgestalt die Vertreter der ungarischen Neoavantgarde: die teuflische Schöpfung des Doktor Frankenstein. Das von ihm künstlich hergestellte Ungeheuer kann im Hinblick auf seinen MontageCharakter als eine Art avantgardistischer Golem betrachtet werden, als ein anorganisches Wesen, das nicht aus Lehm erschaffen, sondern aus einzelnen Bestandteilen zusammengesetzt wurde. Angesichts seiner Gottesferne, das heißt seines Ursprungs, und der Struktur als Fragment-Montage, seiner äußeren Gestalt also, ist es ein Furcht einflößendes Monster. Der künstli 6 Ebd., S. 17: „Fern-Sehen? Zu Romola [Ehefrau des Tänzers, Anm. d. Verf.] schicke ich Jung, diesen hochberühmten Schweizer Professor. Jung macht Nijinsky auf die mögliche Heilkraft von Bildern aufmerksam, die von einem neuen Gerät, dem Fern-Seher, dem sogenannten Fernsehgerät, erzeugt werden.“ 7 Hajas, Tibor: Szövegek [Texte]. Budapest 2005, S. 387–388.
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che Frankenstein-Mensch und allgemeiner gefasst der Mythos vom Golem sind deshalb zugleich Sinnbild der die Existenz des Künstlers bedrohenden gefährlichen Kunst und Äquivalent der anorganischen Kreatur, des technischen, montierten avantgardistischen Kunstwerkes.
Kozma und das Judentum György Kozma ist der Nachfahre einer berühmten und traditionsreichen Rabbinerfamilie. Unter seinen Vorfahren, in der Szegeder und der Kecskeméter Löw-Familie, gab es Gelehrte der jüdischen Wissenschaften, die in ganz Europa bekannt waren.8 Seine Familie bekennt sich zu ihrer Verwandtschaft mit dem Prager Rabbi Löw, dem Schöpfer des Golem. György Kozma ist somit nicht nur mit Löw verwandt, sondern – in der Überlagerung von faktischer Biografie und mythischer Legende – mit dessen legendärer Kreatur, dem Golem selbst. Die alte Legende ist tatsächlich (wie schon zitiert) in sein Leben getreten – oder eher eingedrungen. Jüdische religiöse und kulturgeschichtliche Motive sind in Kozmas Werken sehr präsent. Allerdings kommt die jüdische Tradition auch bei vielen anderen ungarischen Künstlern der Neoavantgarde zum Tragen, zum Beispiel bei Ádám Tábor, Miklós Erdély und János Major, die allesamt jüdischer Abstammung sind und sich zum Judentum bekennen. Wichtiger als diese Tatsache ist jedoch, dass sich die Mitglieder der ungarischen neoavantgardistischen Szene offener zu ihrer jüdischen Identität bekennen konnten, da sie sowieso schon gesellschaftlich isoliert und unter gettoartigen Umständen im Verborgenen lebten und arbeiteten. Die jüdische Identität beziehungsweise das jüdische Bewusstsein galt in der Kádár-Ära als Tabu. Eltern verschwiegen daher ihren Kindern oft ihre Herkunft. In der Zusammenschau ergeben sich noch einige weitere Verbindungslinien zwischen dem gesellschaftspolitischen und dem mythologisch grundierten Untergrund- und Außenseiterdasein, vermittelt unter anderem über die Legende vom Golem. Erstens: Die Avantgarde-Szene erkannte, dass ihre eigene marginale Stellung und das Leben im Untergrund den Lebensumständen in der Diaspora entsprachen. So wie das Exil (das Galut) einen politisch-religiösen Messianis-
8 Siehe u. a. Löw, Immanuel: Die Flora der Juden. Bd. 1–4. Wien–Leipzig 1924– 1934. – Ders.: Aramäische Pflanzennamen. Leipzig 1881.
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mus hervorruft, führt das Künstlerleben im Untergrund zu einem künstlerischen Messianismus. Zweitens: Im Schaffen der Künstler jüdischer Abstammung existieren auch Werke, welche die Klischees der antisemitischen Perzeption erfüllen. Dies ist eine (wenn auch etwas ungewohnte) Form der Infragestellung der eigenen Identität und zugleich eine politische und gesellschaftliche Provokation. Ein gutes Beispiel für dieses Phänomen sind die Selbstbildnisse von János Major, in denen er sich mit den bildlichen Mitteln antisemitischer Karikaturen gegen sein „jüdisches Ich“ wendet. Drittens: Die Themen und Gattungen, mit denen sich die Künstler beschäftigen, entstammen der jüdischen Tradition, wie zum Beispiel die Figur des Golem. Dieser Logik folgend ist der Golem eine Voraussetzung der avantgardistischen Kunst; diese Auffassung kann im Übrigen durch den expressionistischen Film Der Golem (1914) von Henrik Galeen unterstrichen werden.9 Aber Miklós Erdély und György Kozma, die ungarischen Neoavantgardisten der 1980er-Jahre, bezeichneten bereits die Propheten des Alten Testaments – und hier in erster Linie Jeremias – als eine Art frühe HappeningKünstler: Kozma Pista [Pista ist der Deckname von Kozma im Roman, Anm. d. Verf.], der mit dem halben Lächeln auf dem Gesicht, hat von Jeremias, dem ersten avantgardistischen Happeningkünstler, nie gehört. Er hat in der Bibel nichts davon gelesen, dass dieser Mann jahrelang nackt durch Jerusalem ging. Und dass er an der Meeresküste mit dem Aufruf „So wird die Stadt untergehen!“ einen ledernen Gürtel unter die Felsen schob.10
Darin zeigt sich das Bestreben, den ästhetischen Aktivismus und Anarchismus der neoavantgardistischen Kunst mit den anarchistischen und spirituellen Inhalten des jüdischen Messianismus gleichzusetzen. Diese Ausprägung des Budapester Underground beziehungsweise der Budapester Neoavantgarde erhält damit eine weitere mystische Tiefendimension. Aus dem Ungarischen von Britta Molnár
9 Kracauer, Siegfried: Von Caligari bis Hitler. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Films. Hamburg 1958, S. 22. 10 Kozma: Kalandor lélek (wie Anm. 5), S. 11.
Birgit Krehl
Mythos oder Mythosanalogie? Das „alte“ Breslau in den Kriminalromanen Marek Krajewskis
Der polnische Autor Marek Krajewski begeistert mit seinen Kriminalromanen in Polen und zunehmend auch in Deutschland ein Massenpublikum. Die Haupthandlung seiner ersten sechs Krimis, die der habilitierte Altphilologe zwischen 1999 und 2009 veröffentlichte, ist vor allem im Breslau der 1920er- und 1930er-Jahre sowie im Jahr 1945 angesiedelt.1 Dieser Erfolg vermag zunächst wenig überraschen, denn die Gattung des Kriminalromans ist ungebrochen populär. Alida Bremer spricht mit Blick auf deren historische Entwicklung sogar von einer „Musterstruktur der postmodernen Literatur“, die „modern und anti-modern zugleich, aufklärerisch und konservativ, verspielt und trivial“ ist.2 Der Stadt-Krimi hat allen Ortes Konjunktur: „Veit Heinichen mordet in Triest, Pavel Kohout tötet in Prag und Marek K rajewski lässt in Breslau sterben,“ schreibt Matteo Colombi – und die Liste ließe sich mühelos fortführen – Volker Kutscher in Berlin, Boris Akunin in Moskau und so weiter.3 1 Krajewskis erster Kriminalroman Tod in Breslau (Śmierć w Breslau) erschien 1999. Es folgten 2003 Der Kalenderblattmörder (Koniec świata w Breslau), 2005 Gespenster in Breslau (Widma w mieście Breslau) und 2006 Festung Breslau, womit Krajewski offensichtlich seine Breslau-Reihe abschließen wollte. Doch erschien 2007 mit Pest in Breslau (Dżuma w Breslau) ein weiterer Breslau-Krimi. Der Roman Finsternis in Breslau (Głowa Minotaura) von 2009 ist nur noch teilweise in Breslau angesiedelt. Das Verbindende dieser sechs Romane ist neben dem Haupthandlungsort Breslau die Hauptfigur Eberhard Mock. In Finsternis in Breslau führen Mocks Ermittlungen nach Lemberg (Lwów), wo er auf seinen polnischen Kollegen Edward Popielski trifft, der seither in Krajewskis Lemberg-Krimis als Ermittler fungiert. 2 Bremer, Alida: Kriminalistische Dekonstruktion. Zur Poetik der postmodernen Kriminalromane. Würzburg 1999, S. 11. 3 Das Zitat ist dem Tagungsaufruf zu „Stadt – Mord – Ordnung. Urbane Settings in der Kriminalliteratur aus Ost-Mittel-Europa“ von Matteo Colombi (GWZO Leipzig) entnommen. Zu den Tagungsergebnissen siehe Colombi, Matteo: Stadt – Mord – Ordnung. Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld 2012.
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Und doch gibt es bei Krajewski eine Besonderheit, eine „Provokation“ nennt der Autor sie in einem als Interview fingierten Soliloquium von 2009: die Verwendung des deutschen Stadtnamens „Breslau“, war dieser doch nach 1945 in Polen, als die Stadt zu Wrocław wurde, verfemt. Jan Assmann machte mit Bezug auf die Bibelverse aus Genesis 11, in denen man sich mit dem Bau einer Stadt und eines Turmes einen „Namen“ machen will, darauf aufmerksam, dass der „Name“ Inbegriff und Zentralsymbol einer ethnopolitischen Identität ist.4 Auch mit den Namen Wrocław und Breslau verbinden sich ethnopolitische Identitäten, die auf unterschiedlichen historischen Erfahrungen, politischen Positionen und nationalen Konzepten beruhen.5 Im Folgenden geht es um eine Analyse der narrativen Verfahren, die Krajewski in den Breslauer Kriminalromanen nutzt, um seiner „Provokation“, ausgerechnet das „alte“ – deutsche – Breslau zum Schauplatz der Romane zu machen, nachzugehen. Daran bindet sich vor allem die Frage, wie subversiv sein Umgang mit dem urbanen Raum „Breslau“ überhaupt ist. Auf der Ebene der Narration, darunter vor allem der Erzählperspektive, werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen mythischem Schreiben beziehungsweise einer Mythopoetik und mythosanalogen Verfahren und Strukturen herausgearbeitet.
4 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2007, S. 147. 5 Wie schwierig es ist, die Stadt bei ihrem Namen zu nennen, thematisieren die britischen Historiker Norman Davies und Roger Moorhouse in den einleitenden Bemerkungen zu ihrem Buch: Davies, Norman/Moorhouse, Roger: Die Blume Europas. Breslau – Wrocław – Vratislavia. München 2002, S. 28. – Davies und Moorhouse führen hier aus: „Wie bei den meisten europäischen Städten sind auch hier die Namen ein heikles Problem. Wenn eine Stadt von jeder Nationalität, die sie beansprucht, einen anderen Namen erhalten hat, kommt die Bevorzugung der einen Variante vor einer anderen einem politischen Statement gleich. […] Für die frühmittelalterliche Periode der Piasten nennen wir sie ,Wrotizla‘, für die böhmische Periode sprechen wir von ,Wretslaw‘ und für die österreicherische von ,Presslaw‘. ,Breslau‘ bleibt der Kaiserzeit und dem Dritten Reich vorbehalten und ,Wrocław‘ dem Nachkriegspolen seit 1945. […] Doch wann immer wir in Verlegenheit geraten, benutzen wir den Namen, den gebildete, lateinisch sprechende Geistliche erstmals vor mehr als 1000 Jahren einführten und den wir nach wie vor zur Verfügung haben – VRATISLAVIA.“
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Breslau, Wrocław und der „Retro-Stadtkrimi“ Krajewskis Romane entstanden zu einer Zeit, in der die mit den Namen Breslau und Wrocław verbundenen Identitätsstiftungen und Grenzziehungen vehement debattiert wurden. Während der polnische Germanist Marek Zybura nicht ganz unpathetisch in seinem Beitrag Breslau und Wrocław (1998) feststellt, „[d]as Bewusstsein, Kinder einer, der gleichen Stadt und Erben auch ihrer deutschen Tradition zu sein, verwurzelt sich immer tiefer und fester in den Herzen und Gemütern der heutigen polnischen Breslauer“,6 geht der Historiker Krzysztof Ruchniewicz der Frage nach, Warum Wrocław nicht Breslau ist (2005). Er spricht von einer neuen Gruppenidentität, der so genannten „Wrocławskość“,7 die darauf gründe, „Wrocławer zu sein“, und eine lokale Identität unter Aneignung der älteren und jüngeren Geschichte herausbilde. Bisher sieht er darin vor allem ein „Elitephänomen“, jedoch kehre nun das „alte“ Breslau in den Kriminalromanen Marek Krajewskis auch in der Populärliteratur wieder.8 Krajewskis Kriminalromane werden somit in ihrem Breslau-Bezug von Anfang an dezidiert als Teil des Identitätsdiskurses wahrgenommen. Und trotz aller (selbst-)ironischen Reflexion über das „Ziel“ seiner Romane, ist sich auch der Autor dessen bewusst,9 wenn er, von „Provokation“ und „TabuThema“ spricht. Im Unterschied zu den Studien von Historikern, in denen seit den 1990er-Jahren immer wieder die multiethnische Geschichte der Stadt und Region hervorgehoben wurden, oder zum Essayband Bresław (1996) von Andrzej Zawada wie auch zu Olga Tokarczuks Romanen, in denen Schlesien erinnert wird, sprechen Krajewskis Kriminalromane als paraliterarische Texte nicht (nur) eine elitäre Gruppe an, sondern (auch) eine breite Leserschaft. Der Erfolg und die Massenwirksamkeit der Breslau-Krimis werden aber vor allem an den allgegenwärtigen Retro-Trends im Genre des retro kryminał 6 Zybura, Marek: Breslau und Wrocław. In: erinnern, vergessen, verdrängen. Polnische und deutsche Erfahrungen. Hg. v. Ewa Kobylińska und Andreas Lawaty. Wiesbaden 1998, S. 369–380, hier 380. 7 Ruchniewicz, Krzysztof: Warum Wrocław nicht Breslau ist. Überlegungen zur Nachkriegsgeschichte der niederschlesischen Hauptstadt. In: Ders.: Zögernde Annäherung. Studien zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Dresden 2005, S. 225–240, hier 240. 8 Ebd., S. 238. 9 Im schon erwähnten Soliloquium nennt er für die Benutzung des deutschen Stadtnamens „Gründe des Marketings“.
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(Retro-Krimi) oder retro kryminał miejski (Retro-Stadtkrimi) festgemacht,10 weshalb ihnen seitens der Literaturwissenschaft mitunter wenig „formale Innovation“ bescheinigt wird.11 Mit Blick auf die Stadt werden zum einen historische Genauigkeit von Daten und Ereignissen sowie die akribische textliche Generierung der Topografie Breslaus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zu deren Kartierbarkeit, die durch beigefügte alte Stadtpläne paratextuell betont wird, hervorgehoben. Das folgende Zitat ist symptomatisch für jene Textpassagen, die die Topografie der Stadt erzeugen: Er [Mock] überquerte den Schweidnitzer Stadtgraben in Richtung Wertheim-Kaufhaus, bog dort nach links in die Schweidnitzer Straße, passierte das von zwei Marmorfiguren („Staatskunst“ und „Kriegskunst“ symbolisierend) bewachte Denkmal Wilhelms I., bekreuzigte sich bei der Fronleichnamskirche, bog zum Zwingerplatz ab, ging am Realgymnasium vorbei und betrat die Kaffeerösterei Otto Stieblers.12
Zum anderen entwerfen die Texte ein düsteres, nicht nur von Mord, sondern auch von Dekadenz und Morbidität geprägtes Breslau, das an die Großstadt der Moderne erinnert, aber bereits jenseits von jeglicher Ambivalenz, die für die Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert prägend war, in der sich mit der Großstadt nicht nur Verfall, Chaos und Untergang verbanden, sondern auch Sehnsucht nach „sozialem Aufstieg“ und Hoffnung.13 10 Dirk Kretzschmar charakterisiert die Breslau-Krimis als historische Kriminalromane „mit einer elaborierten ,Retro-Ästhetik‘ “. Kretzschmar, Dirk: Retrokryminal – Breslau als Erinnerungsort in den Kriminalromanen von Marek Krajewski. In: Colombi: Stadt – Mord – Ordnung (wie Anm. 3), S. 193–218, hier 194. 11 Krupa, Bartłomej: Poetyka powieści Marka Krajewskiego [Marek Krajewskis Romanpoetik]. In: Oryginalnie/Kryminalnie. Hg. v. Przemysław Czapliński, Zbigniew Przychodniak und Piotr Śliwiński. Poznań 2008, S. 143–163, hier 160. 12 Krajewski, Marek: Tod in Breslau. Übers. v. Doreen Daume. München 2009, S. 32. – Ders.: Śmierć w Breslau. Wrocław 2007, S. 24–25: „Poszedł Schweidnitzer Stadtgraben w stronę domu towarowego Wertheima. Skręcił w lewo w Schweid nitzer Strasse, minął okazały pomnik Wilhelma I strzeżony przez dwie alegoryczne figury Państwa i Wojny, przeżegnał się przy kościele Bożego Ciała i skręcił w Zwingerplatz. Przeszedł obok gimnazjum realnego i wstąpił do palarni kawy Ottona Stieblera.“ 13 Maydell, Miriam von: Großstadtmythen in Claire Golls Roman Ein Mensch ertrinkt. In: Literatur, Mythos und Freud. Hg. v. Helmut Peitsch und Eva Lezzi. Potsdam 2009, S. 103–115, hier 103.
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In den bisher beschriebenen Aspekten unterscheiden sich K rajewskis Kriminalromane kaum von den Berlin-Krimis Volker Kutschers, zumal den Ermittlerfiguren, dem Breslauer Eberhard Mock und dem Berliner Gereon Rath, eine Ähnlichkeit in der Darstellung zwischen hard-boiled-Ermittler und Dandy nicht abgesprochen werden kann. Gemein ist den Texten dieser beiden Autoren auf den ersten Blick auch eine räumlich-zeitliche Gestaltung, die an Michail Bachtins Modell des „abenteuerlichen Alltagsromans“ erinnert, für den die „Verknüpfung der Abenteuerzeit mit der Zeit des alltäglichen Lebens“ signifikant ist.14 Eine Verbindung des Chronotopos mit dem „abenteuerlichen Detektivroman (mit Verbrechensfahndung, Tatspuren und darauf aufbauender Rekonstruktion der Ereignisse)“ stellt Bachtin selbst her.15 Uwe Spörl spricht diesem Chronotopos in Verbindung mit den hard-boiled novels beziehungsweise dem Thriller die Möglichkeit zu, das „weitgehend authentische ,Lokale‘ samt ihrer soziokulturellen Eigenheiten darzustellen“ und somit „neben einer Kriminalgeschichte auch das Panorama einer vergangenen Kultur [zu] entwerfen“.16 In dieser Gemeinsamkeit wird aber auch eine Differenz sichtbar, denn in K rajewskis Kriminalromanen ist das „Panorama einer vergangenen Kultur“ zugleich das einer „fremden“ Kultur, was bereits im Titel durch den deutschen Namen der Stadt, durch Breslau, signalisiert wird. Von dem Historiker Gregor Thum stammt der inzwischen viel zitierte Titel Die fremde Stadt. Breslau 1945, den er seiner Dissertationsschrift von 2003 gab.17 Er zeichnet den Prozess der Stadtaneignung durch die polnischen Neuansiedler von 1945 bis zur Jahrtausendwende nach. Um das Fremdheitsgefühl zu tilgen, wurde die deutsche Vergangenheit der Stadt tabuisiert und eine ethnopolitische Identitätsbildung vorangetrieben – Errichtung von Denkmälern polnischer Herrscher, Umbenennung aller Straßen, Plätze und Einrichtungen, Entfernung deutscher Aufschriften; aus den großen evangelischen Kirchen der Stadt wurden katholische. Und schließlich sollte eine polnisch-nationale Fundierung der Geschichte durch verklärende Mythen von einer piastischen Vergangenheit und den „wiedergewonnenen Gebieten“ 14 Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Berlin 2008, S. 12 u. 36. 15 Ebd., S. 50. 16 Spörl, Uwe: Die Chronotopoi des Kriminalromans. In: Bachtin im Dialog. Festschrift für Jürgen Lehmann. Hg. v. Markus May und Tanja Rudtke. Heidelberg 2006, S. 335–363, hier 361–362. 17 Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945. München 2003.
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identitätsstiftend wirken.18 In diese Richtung bewegten sich auch verschiedene literarische Aktivitäten der 1950er- und 1960er-Jahre.19 Neben den immer wieder benannten politischen Begründungen für das Verschwinden des Themas „Breslau“ und der geringen Präsenz des Themas „Wrocław“ in der affirmativen Haltung zur sozialistischen Gegenwart verweist Andrzej Zawada jedoch noch auf einen zweiten, „innerliterarischen“ Aspekt, auf die Tatsache, dass „jedweder Lokalismus einen zweitrangigen Charakter aufwies und hinter eine universalistische Perspektive zurückzutreten hatte“.20 Dies erklärt seiner Meinung nach auch, warum renommierte, in Wrocław lebende polnische Dichter wie Tymoteusz Karpowicz, Urszula Kozioł oder Tadeusz Różewicz nur äußerst selten in ihrer Dichtung auf Wrocław Bezug nehmen. Hinzugefügt werden könnte hier auch noch Rafał Wojaczek, der in seinem Gedicht Ein Straßenlied (Piosenka uliczna, 1969) mit der Tristesse der Stadt Isolation und Einsamkeit des Individuums verbindet. Menschliche Selbstentfremdung und Entpersönlichung der Stadt werden bei ihm zwar markiert, jedoch ohne die ästhetische Intention, sie als Leerstelle lokaler Identität zu gestalten.
18 Die Piasten sind das Herrschergeschlecht, auf das die polnische Staatsgründung vom 10.–13. Jahrhundert zurückgeht. Ab dem 14. Jahrhundert expandierte die nunmehr gegründete Polnisch-Litauische Union unter den Jagiellonen vor allem nach Osten. Breslau war zu der Zeit zunächst Teil des Königreichs Böhmen, dann Habsburgs und schließlich Preußens. Die piastische Idee, also ein Staat mit einer Grenze weit im Westen, aber auch mit einer ethnisch einheitlichen Bevölkerung wurde vor allem während der Staatsgründung 1918 durch den Politiker Roman Dmowski virulent, während sein Widersacher Józef Piłsudski die jagiellonische Idee eines multiethnischen Staates vertrat und sich 1919 damit auch durchsetzte. Nach 1945 bot sich die Propagierung der piastischen Idee an, zumal die östlichen Gebiete an die Sowjetunion abgetreten werden mussten, so dass nun Wrocław als „Stück des Piastenerbes“ zurückgeholt wurde. 19 Detaillierte Betrachtungen auch bei Trepte, Hans-Christian: Postdeutsch (po niemieckie). Zur Problematik des westlichen Grenzlandes (kresy) in der polnischen Gegenwartsliteratur. In: Literatur Grenzen Erinnerungsräume. Erkundungen des deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraumes als eine Literaturlandschaft. Hg. v. Bernd Neumann, Dietmar Albrecht und Andrzej Talarczyk. Würzburg 2004, S. 393–412. 20 Zawada, Andrzej: Temat Wrocław [Das Thema Wrocław]. In: Wrocław literacki. Hg. v. Marta Kopij, Wojciech Kunicki und Thomas Schulz. Wrocław 2007, S. 391–399, hier 393.
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Krajewskis Krimis als Erinnerungsliteratur? Als Marek Krajewski mit dem Schreiben seiner Krimis begann, hatten sich nicht nur die politischen Verhältnisse grundlegend geändert, sondern waren Fragen nach der Identität, des Gedächtnisses oder der Erinnerung zu flottierenden Phänomenen geworden. Und so zeigt sich auch Krajewski für die Spuren der „fremden Stadt“ sensibilisiert, wohl wissend, dass die Verdrängung des Themas „Breslau“ sich nicht nur mit Vergessen, sondern auch mit Unkenntnis und Unwissenheit paart, die von einer diffusen Furcht namenloser Vergangenheit begleitet werden. Und auch wenn dieses Namenlose nicht mit jenem gleichzusetzen ist, das Hans Blumenberg in Arbeit am Mythos mit dem Unbekannten verbindet, so drängt sich doch eine Analogie auf.21 Denn die Furcht der Unkenntnis ähnelt jener, die „Furcht nicht so sehr vor dem, was noch unbekannt ist, sondern schon vor dem, was unbekannt ist“.22 Namen zu finden für das Unbestimmte ist deshalb „die früheste und nicht unsolideste Form der Vertrautheit mit der Welt“, fängt doch nach Blumenberg „[a]lles Weltvertrauen mit den Namen [an], zu denen sich Geschichten erzählen lassen“.23 Krajewski erzählt Geschichten zu einem wiedergefundenen Namen, weshalb hier auch nicht von „Arbeit am Mythos“, sondern von einer Aktualisierung mythosanaloger Verfahren und Strukturen ausgegangen wird. Dem „Mythos Breslau“ in den Kriminalromanen Krajewskis wird deshalb nicht primär auf der thematisch-motivischen Ebene der Texte nachgegangen, sondern anhand von Textverfahren und -strukturen, die als formal-mythisch bezeichnet werden und deren „ästhetische Wirkung […] als Effekt der verdeckten Wirksamkeit mythischer Denkformen“ zu betrachten ist.24
Mythos und/versus Mythosanalogie Matías Martínez knüpft hier an die ästhetische Theorie von Clemens Lugowski an, der 1932 in seiner Dissertationsschrift Die Form der Individualität im Roman von der „Künstlichkeit“ literarischer Texte ausgeht, die er mit 21 22 23 24
Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1990, S. 40. Ebd., S. 40. Ebd., S. 41. Martínez, Matías: Formaler Mythos. Skizze einer ästhetischen Theorie. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hg. v. Dems. Paderborn 1996, S. 7–24, hier 18.
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dem „heroischen Mythos in der attischen Tragödie“ vergleicht und in der er eine „gemeinsamkeitsbegründende Kraft“ sieht.25 Wie bereits die russischen Formalisten anderthalb Jahrzehnte zuvor lenkt auch Lugowski die Aufmerksamkeit auf das „Gemachtsein“: „Die Welt, die sich in einer Dichtung auftut, ,ist‘ nicht im schlichten Sinne, sondern sie ist gemacht“.26 Lugowskis Künstlichkeit ist vergleichbar mit Viktor Šklovskijs „Verfahren“ von 1916, wenngleich Šklovskij die „neue[n] Verfahren der Anordnung und Bearbeitung von Wortmaterialien“ im Blick hat, während Lugowski dichterischen Formen nachspürt, die dem Mythos ähnlich sind.27 Die Künstlichkeit ist für ihn kein Mythos mehr, sondern ein mythisches Analogon. Mit ihm verbindet Lugowski nicht mythologische Stoffe oder Götter- und Heldengeschichten, vielmehr ist es für ihn das, was im Literarisch-Formalen diesem entspricht.28 Sein Konzept der „mythischen Künstlichkeit“ ist nicht frei von Widersprüchen.29 So bezieht er seine Betrachtungen vornehmlich auf Werke mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur, in denen das mythische Analogon die Form der Individualität prägt, und spricht von dessen Zersetzung im Zeitalter der Modernisierungsprozesse. Zugleich sieht er in ihm ein „konstitutives Moment aller Dichtung“.30 Positionen seines Konzeptes, die vor allem ab Mitte der 1970er-Jahre stark diskutiert und aktualisiert wurden,31 sollen hier nicht einer vertiefenden Reflexion unterzogen werden, sondern vielmehr als Anregung dienen, um an den 25 Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt am Main 1976, S. 12. 26 Ebd., S. 10 (Hervorhebung im Original). 27 Šklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren. In: Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. Hg. v. Jurij Striedter. München 1969, S. 3–35. – Auf das Verbindende von Lugowski und Šklovskij verweist auch Martínez: Formaler Mythos (wie Anm. 24), S. 12. 28 Martínez: Formaler Mythos (wie Anm. 24), S. 18. 29 Lugowski: Die Form der Individualität (wie Anm. 25), S. 184. 30 Ebd., S. 182. 31 Exemplarisch sei hier nur auf einige Beiträge verwiesen, insbesondere auf Heinz Schlaffers ausführliche Einleitung zu Lugowski in der Suhrkamp-Ausgabe. – Siehe auch den Sammelband von Martínez: Formaler Mythos (wie Anm. 24), S. 22. Hier ist Lugowskis Theorie „weniger Gegenstand als Ausgangspunkt für systematische oder exemplarische Überlegungen zur Stimmigkeit und Tragweite des Ansatzes“. – Herwig Gottwald setzt sich ebenfalls mit Lugowski auseinander: Gottwald, Herwig: Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle und Fallstudien. Würzburg 2007.
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Kriminalromanen Krajewskis „das zu begreifen, was uns befremdet“.32 Eine gewisse Aktualität des mythischen Analogons sieht Martínez in Bezug auf die Rezeption von Trivialliteratur in der modernen Kultur, da sie „der rituellen Einbindung vorliterarischer Textformen in traditionalen Gesellschaften zu ähneln [scheint]“.33 Allerdings soll in den folgenden Betrachtungen zunächst weniger der Aspekt der Rezeption im Vordergrund stehen, als vielmehr formal-mythische Elemente der Textstruktur und die Frage nach ihrer Funktion. Ausgehend von Phänomen des Befremdenden, markieren sowohl Małgorzata Smorąg-Goldberg als auch Dirk Kretzschmar in Krajewskis BreslauRomanen vor allem die Unterschiede zu den Danzig-Romanen von P aweł Huelle und Stefan Chwin sowie den Romanen Olga Tokarczuks, was Smorąg-Goldberg wie folgt zusammenfasst: Während diese Autoren den Orten, die ihnen keine Ruhe lassen, zuhören, sie zu Wort kommen lassen und ihnen Leben einhauchen, indem sie sie zu den wahren Figuren ihres Erzählens machen, bedient Krajewski nur einige Klischees. Sein Breslau ist eine Filmkulisse. Es werden lediglich einige Straßennamen beschworen und penibel dem alten deutschen Stadtplan entsprechend zurückbenannt […] Wo Tokarczuk, Huelle und Chwin das Geschehene und die Erinnerungen hinterfragen, um zu verstehen, wie sie in ihnen weiter wirken und wo sie die Diskrepanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzeigen, bietet Krajewski geronnene Bilder und einbalsamierte Sequenzen, die wie in einer Filmdose konserviert wirken.34
Kretzschmar diskutiert die Texte im Kontext „erinnerungskultureller Semantisierung urbaner Räume“ und unterscheidet dabei zwei Verfahren. Dem Verfahren Krajewskis, „das historische Breslau der Jahre 1919 bis 1945 nicht fragmentiert, palimpsestartig und verfremdet, sondern so vollständig und realistisch wie möglich wiedererstehen [zu] lassen“,35 wird hier zwar die Qualität eines Erinnerungsortes zugesprochen, jedoch erscheint dieser im Vergleich zu den „Danzig-Texten“ von Huelle und Chwin wiederum defizitär, weil es in diesen gelingt, zwei Perspektiven, die der „Vergangenheit der Stadt als Raum“ 32 Martínez: Formaler Mythos (wie Anm. 24), S. 11. 33 Ebd., S. 13. 34 Smorąg-Goldberg, Małgorzata: Die Kriminalromane von Marek Krajewski. Von der Ästhetik zur Anästhetik oder wie man Geschichte manipuliert. In: Colombi: Stadt – Mord – Ordnung (wie Anm. 3), S. 175–191, hier 187. 35 Kretzschmar: Retrokryminal (wie Anm. 10), S. 194.
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und damit als „Raum permanenter Eingriffe und Umgestaltungen“ sowie die der „Stadt als Ort“, an dem bereits „Geschichte immer schon stattgefunden“ hat, zu verbinden.36 Krajewskis Romane lassen sich offensichtlich nur schwer in erinnerungskulturelle Konzepte und Theorien einfügen. Dass sie – wie André Jolles es formulieren würde – kaum den „Willen“ spüren lassen, „die Welt von sich aus aktiv zu verarbeiten“, in sie einzudringen, „um selbst Einsicht in ihre Beschaffenheit zu gewinnen“, irritiert, befremdet und wird schließlich als „Defizienz“ bewertet.37 Martínez plädiert dafür, diese als „Alterität zu beschreiben“.38 Ob sich jedoch auch die „Defizienz“ von Krajewskis Literatur als Alterität kennzeichnen lässt, bleibt insofern fraglich, als hier eher von einer Aktualisierung mythosanaloger Strukturen als von deren Fortdauern auszugehen ist. Im Zusammenhang mit der Kriminalliteratur wurde bereits des Öfteren auf mythische Aspekte verwiesen, allerdings ging es dabei entweder um thematisch-motivische Verbindungen oder um die formelliterarische Gattung selbst.39 Hier soll hingegen an jene von Lugowski angeführten Elemente wie „lineare Anschauung“, „Aufzählung und Unverbundenheit“, „resultathafter Erzählstil“, „Begrenzung der dichterischen Welt“ und „Motivation von hinten“ angeknüpft werden, da sie das mythische Analogon als „Formschicht“ in den Texten prägen.40 36 Kretzschmar knüpft hier an die Unterscheidung von Raum und Ort an in A ssmann, Aleida: Geschichte findet Stadt. In: Kommunikation – Raum – Gedächtnis. Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“. Hg. v. Moritz Csáky und Christoph Leitgeb. Bielefeld 2009, S. 13–28, hier 15. – Aleida Assmann beschreibt den „neuen Raumdiskurs“ im Unterschied zur „Wende von der Geschichte zum Raum“ als „weitere Wende vom Raum zurück zur Geschichte, wobei hier Geschichte und Gedächtnis ineinander übergehen“. 37 Jolles, André: Einfache Formen (1930). Tübingen 2006, S. 102. 38 Martínez: Formaler Mythos (wie Anm. 24), S. 16. 39 Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln. Ethnische und postkoloniale Kriminalromane zwischen Popularität und Subversion. Würzburg 2011, S. 59. – Bremer: Kriminalistische Dekonstruktion (wie Anm. 2). 40 Lugowski ist sich dessen bewusst, dass das mythische Analogon nur eine „Formschicht“ der Dichtung ist – und zwar jene, die als „Gehaltskorrelat“ „mit dem vom Autor in seinem Werk unmittelbar gemeinten ,individuellen‘ Gehalt direkt nichts mehr zu tun hat“. Und später fügt er hinzu: „Das, was man gemeinhin ,die‘ Form einer Dichtung nennt, ist in Wahrheit als ein sehr komplexes Ineinander von Formschichten aufzufassen, deren jeder ein spezifischer Gehalt entspricht, so dass es falsch ist, von ,dem‘ Gehalt einer Dichtung zu sprechen.“ Auch wenn Lugowski „Form“ und „Gehalt“ („Inhalt“) trennt, so doch nur, um ihre Untrennbarkeit herauszustellen, indem er aufzeigt, dass die Formen selbst etwas meinen und
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Eine Affinität zum mythischen Analogon kann in den Texten Krajewskis zunächst in der Perspektive respektive Situation des Erzählens auf der Ebene der Narration wie auch sprachlichen Gestaltung aufgezeigt werden. Verantwortlich dafür zeichnet ein Erzählen, das teilweise Konventionen folgt, die an den Roman des 19. Jahrhunderts und dessen enge Beziehung zur Geschichtsschreibung erinnern. In ihr ging es um „das Konstruieren einer autarken Welt, die sich selbst ihre Dimension und Grenzen setzte“.41 Gekennzeichnet ist sie durch das Erzählen im Berichtsstil, das sich konkret im historischen Perfekt und der „Er-Form“ niederschlägt: Mock setzte sich in seinen Adler und fuhr aus dem Hof des Polizeipräsidiums. Er grüßte den Portier, der das Tor hinter ihm schloss, und bog am Haus „Zu den zwei Polen“ nach links in Richtung Schmiedebrücke ab. Ein gebeugter Kohlenmann führte ein mageres Pferd am Zaumzeug, das nur noch mit Mühe die Beine bewegte. Der Kohlenwagen versperrte fast die ganze Straße. Mock war gezwungen, langsamer zu fahren. Das Gehirn des Kriminalrates war leer, vollkommen leergefegt durch Hunderte gänzlich unnützer Informationen aus den Polizeiakten; Dutzende von Namen, Berichte über Verbrechen, Schuld und Verzweiflung. Mock konnte seinen Verstand mit nichts anderem beschäftigen, er konnte nicht einmal über den Kohlenmann schimpfen.42
Zwar gibt es im Polnischen kein historisches Perfekt, aber die Verwendung des perfektiven Aspekts im Präteritum kommt diesem funktional in der Bedeutung von Abgeschlossenheit und Resultativität nahe. Es formt ein Erzählen, das – wie Barthes ausführt – „geschlossene Welten“ konstruiert und damit „Gehalt“ sind. Lugowski: Die Form der Individualität (wie Anm. 25), S. 83 u. 181. 41 Barthes, Roland: Schreibweise des Romans. In: Moderne Erzählteorie. Hg. v. Karl Wagner. Wien 2002, S. 156–164, hier 156. 42 Krajewski, Marek: Der Kalenderblattmörder. Übers. v. Paulina Schulz. München 2009, S. 106. – Ders.: Koniec świata w Breslau. Kraków 2001, S. 99: „Mock wsiadł do adlera i wyjechał z dziedzińca Prezydium Policji. Pozdrowił zamykającego bramę portiera i skręcił w lewo koło kamienicy Po Dwoma Polakami na Schmiedebrücke. Przygarbiony węglarz prowadził za uzdę chudego konia, który powłóczył kopytami z takim trudem, że ciągnięty przez niego furgon z węglem zablokował ulicę i zmusił Mocka do wolnej jazdy. Mózg radcy kryminalnego był pusty i wyjałowiony przez setki nieprzydatnych mu do niczego informacji z policyjnych akt, przez dziesiątki nazwisk i raportów o zbrodni, krzywdzie i rozpaczy. Nie mógł niczym zająć umysłu, nie złościł się nawet na węglarza.“
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ein „glaubhaftes Kontinuum“ schafft, wie es Mythen gemein ist. Gestützt wird dieses schwache Signal eines mythosanalogen Elementes, das sich im berichtenden Erzählen kundtut, über eine Er-Erzählerinstanz, die nach G érard 43 Genette den Typus des heterodiegetischen Erzählers darstellt: Sie [Mock und Professor Brendel] fuhren unter der Eisenbahnbrücke an der Märkischen Straße hindurch und kamen bald darauf in die Friedrich-W ilhelmStraße. Den größeren Teil der Straße belegten kaputte Tische, Schränke ohne Türen, Eisenbetten. Brendel bahnte sich einen Weg zwischen den zerstörten Möbeln und den Pferdeleichen, die am Straßenrand lagen. Irgendein Brennkommando begoss das Eckhaus mit Benzin und Spiritus. Doch auch das konnte Mock weder sehen noch riechen.44
In der „Abwesenheit“ des Erzählers in der Geschichte, die er erzählt, unterscheidet sich das Erzählen Krajewskis von dem Huelles in Weiser Dawidek (1987) und partiell auch von dem Chwins in Tod in Danzig (Hanemann, 1995), in denen ein „Ich“ agiert, das als Symptom für den modernen Roman zu werten ist und nach Roland Barthes als „Zeuge“ fungiert. Für das „Er“ hingegen konstatiert er: „[…] im ,Er‘ manifestiert sich formal der Mythos.“45 Es handelt sich um ein Erzählen, das Spuren eines mythischen Analogons spürbar werden lässt, die offensichtlich das Hervorbringen einer Welt – bei K rajewski Breslau – nicht mit einem erinnernden Hinterfragen verbinden; vielmehr sind sie mit einem Schöpfer, einem Demiurgen gleichzusetzen.46 Zweifellos spiegelt sich in der sprachlich-stilistischen Darstellung die Affinität zum mythischen Analogon. Hervorzuheben ist bei Krajewski beispielsweise die Kürze der Sätze beziehungsweise die Aneinanderreihung von Hauptsätzen, wodurch eine syndetische Struktur dominiert. In der Anein anderreihung kommt es zu einer Linearität, die das Geschehen als Ablauf 43 Genette, Gérard: Die Erzählung. München 1994, S. 175. 44 Krajewski, Marek: Festung Breslau. Übers. v. Paulina Schulz. München 2009, S. 172–173. – Ders.: Festung Breslau. Warszawa 2001, S. 175–176: „Przejechali pod wiaduktem kolejowym na Märkischestrasse i znaleźli się na Friedrich- Wilhelm-Straße. Większą część ulicy zajmowały połamane stoły, szafy bez drzwi i żelazne łóżka. Brendel lawirował między stosami wyrzuconych mebli a trupami koni leżącymi na skraju ulicy. Jakieś Brennkommando polewało benzyną i spirytusem kamienicę na rogu. Mock tego wszystkiego nie widział ani nie czuł.“ 45 Genette: Die Erzählung (wie Anm. 43), S. 160. 46 Barthes: Schreibweise des Romans (wie Anm. 41), S. 158.
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intendiert, ohne dass eine Entwicklung stattfindet. Das heißt es kommt zu einer Kausalitätsausprägung, die dem mythischen Kausalbegriff näher steht als dem modernen Entwicklungsbegriff.47 Das trifft auch auf die Handlung von Krajewskis Kriminalgeschichten zu, wenn Jahrhunderte zurückliegende Ereignisse Mordserien initiieren, wie in Tod in Breslau und Der Kalenderblattmörder, ohne zwischen ihnen einen prozessualen Zusammenhang herzustellen, woraus sich nicht zuletzt ihr geheimnisvoller Charakter speist. Dieses Kompositionsverfahren soll hier jedoch nur angedeutet werden. Hinsichtlich der syndetischen Struktur ist neben der Aneinanderreihung noch auf die Unverbundenheit hinzuweisen, wie sie Lugowski bereits für das mythische Analogon beschrieb: „Diese Beziehungslosigkeit hängt mit der Armut der Erzählung an Konjunktionen und Adverbien zusammen.“48 Hinzufügen ließe sich auch die damit einhergehende syntaktische und semantische Stärkung der Verben. Dass es sich dabei wohl kaum um Unzulänglichkeiten sprachlicher Mittel handelt, trifft für das von ihm erwähnte 16. Jahrhundert ebenso zu wie für die Texte Krajewskis. Vielmehr unterstreichen sie das Nebeneinander der Dinge und Erscheinungen und fügen sie auf diese Weise zusammen, ohne in sie „einzudringen“.
Zur Funktion mythosanaloger Strukturen Die bisher aufgezeigten und keinesfalls erschöpfend dargestellten Elemente des Erzählens und der sprachlichen Gestaltung lassen eine Nähe zu mythos analogen Strukturen und Verfahren deutlich werden, doch stellt sich die Frage nach der Funktion einer solchen Ähnlichkeit. Hier lässt sich wiederum an Barthes anknüpfen, der für den Roman des 19. Jahrhunderts feststellte, dass die Wirklichkeit in diesem „magerer und vertrauter“ wird – und die Gesellschaft von der Vergangenheit Besitz ergreift.49 Die fremde Stadt Breslau verliert in den Kriminalromanen Krajewskis an Fremdheit, aber auch an Komplexität. Die Fremdheit wird an der Textoberfläche durch Eigennamen und Bezeichnungen ausgestellt, und die vorherigen Zitate lassen bereits erkennen, dass das Breslau der 1920er- und 1930er-Jahre als deutsche Stadt auffällig 47 Martínez: Formaler Mythos (wie Anm. 24), S. 19. 48 Lugowski: Die Form der Individualität (wie Anm. 25), S. 58. 49 Barthes: Schreibweise des Romans (wie Anm. 41), S. 158–159.
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und flächendeckend über deutsche Eigennamen markiert ist, die nicht auf den topografischen Raum beschränkt sind. Auch Personennamen sind überwiegend deutschen Ursprungs; es gibt eine Unmenge deutscher Marken- und Produktnamen, die vom Mineralwasser Deinert bis zu den Automarken Adler oder Horch reichen. Mitunter werden auch für Restaurants und Kneipen deutsche Bezeichnungen gewählt. Zweifellos berechtigt werden sie in Anlehnung an Roland Barthes im Kontext von Wirklichkeits- beziehungsweise Realitätseffekten verortet,50 so dass Kretzschmar vor allem mit Blick auf die topografische Genauigkeit von einem realistischen Wiedererstehen der Stadt spricht,51 während Wolfgang Brylla in Bezug auf Marken- und Produktnamen die „Wiedererstehung“ und „Porträtierung der Konsumwelt der 1930er- und 1940er-Jahre – der Mock- und Breslauer-Jahre“ hervorhebt.52 In jedem Falle aber „bedeuten“ sie auch noch etwas anderes – sie konnotieren „Fremdes“. Dass sich das Fremde so unkodiert an der Textoberfläche zeigt, ist sicherlich jenseits von Paraliteratur kaum vorstellbar, zumal damit deutliche Unterschiede in den originalsprachlichen Texten und deren Übersetzungen verbunden sind.53 Die folgenden Ausführungen beziehen sich deshalb auf die polnischen Originale. Bei den Straßennamen beispielsweise fällt die „grammatische“ Unangepasstheit auf, da sie im Polnischen in einer flektierten Form nach der Präposition „w“ (in) eingefügt werden müssten. Personen- oder auch Markennamen hingegen werden grammatisch dem Polnischen angepasst:
50 Ders.: Der Wirklichkeitseffekt. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Frankfurt am Main 2006, S. 164–172, hier 169 u. 171. – Barthes geht es um Details, die gemeinhin als „konkrete Wirklichkeit“ bezeichnet werden (kleine Gesten, flüchtige Haltungen, unbedeutende Gegenstände, redundante Wörter). Und gerade in der historischen Erzählung wird dieses Wirkliche „zum wesentlichen Bezug“. Als „Wirklichkeitseffekt“ bzw. „referenzielle Illusion“ beschreibt er sie in ihrer Zeichenhaftigkeit wie folgt: „[…] denn in dem Augenblick, in dem diese Details angeblich direkt das Wirkliche denotieren, tun sie stillschweigend nichts anderes, als dieses Wirkliche zu bedeuten […].“ 51 Kretzschmar: Retrokryminal (wie Anm. 10), S. 194. 52 Brylla, Wolfgang: Krimi als Zeitmaschine. Realitätseffekte in Marek Krajewskis Eberhard-Mock-Roman „Festung Breslau“. In: Colombi: Stadt – Mord – Ordnung (wie Anm. 3), S. 219–230, hier 229. 53 Bezugnehmend auf Barthes’ Überlegungen zu den Wirklichkeitseffekten hat bereits Genette darauf verwiesen, dass die „Mimesis-Illusion“ von „einer höchst variablen Beziehung zwischen Sender und Empfänger“ abhängt. Genette: Die Erzählung (wie Anm. 43), S. 118.
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Dojechał [Mock] do Rynku i skręcił w lewo w Schweidnitzer Strasse. Minął Dresdner Bank, sklep Speiera, gdzie zaopatrywał się w obuwie, biurowiec Woolwortha, wjechał w Karlstrasse, kątem oka zerknął na Teatr Ludowy, sklep galanteryjny Dünowa i skręcił w Graupnerstrasse (sic!).54 Er [Mock] fuhr bis zum Ring und nahm dann links die Schweidnitzer Straße. Es ging vorbei an der Dresdner Bank, an Speiers Geschäft, wo er immer seine Schuhe kaufte, und am Bürogebäude von Woolworth in die Karlsstraße, wo er einen kurzen Blick ins Volkstheater und in das Galanteriewarengeschäft von Dünow warf. Hier lenkte er den Wagen in die Graupenstraße.55
Hier ist Letzteres an den Namen „Speier“ und „Dünow“ zu sehen, die dann im verwendeten Genetiv die Endung „a“ erhalten. Für die Personennamen wiederum ist signifikant, dass es zwar im Deutschen keineswegs ausgefallene oder auffällige Namen sind, im Polnischen aber eine erschwerte oder sogar abweichende lautliche Realisierung gegeben ist. Das beginnt schon bei der Hauptfigur Mock – die lautliche Umsetzung im Polnischen wäre Mozk – und setzt sich in Namen mit Um- oder Zwielauten wie Mühlhaus, Hönness oder Priessl, Briesskorn, Meinerer, Pflüger, Baron von Köpperlingk sowie Restaurant- und Kneipenbezeichnungen fort. Die phonetisch und morphologischsyntaktisch ausgestellte Fremdheit der Namen und Bezeichnungen sperrt sich einerseits dem Fluss des Textes und wird doch vom Erzählen „alltagsweltlicher“ Geschichte(n) mitgerissen. Und hier scheint es keineswegs zufällig, dass Krajewski seine Geschichten als historische Kriminalgeschichten erzählt, denn eine vermehrte Anwesenheit „alltagsweltlicher Details“ ist in ihnen keine Seltenheit. Vielmehr suggerieren sie in diesen – wie Barbara Korte und Sylvia Paletschak anführen – zum einen „,historische ,Authentizität‘ und ,Faktentreue‘ und erweck[en] den Eindruck, dass man durch die Lektüre nicht nur spannend unterhalten, sondern auch mit historischem Wissen bereichert wird“.56 Zum anderen schaffen sie trotz entfernter, fremder Lebenswelt „Anknüpfungspunkte für die Leser […] und die Vergangenheit wird so zugänglich gemacht“.57 In Krajewskis Roma54 Krajewski: Śmierć w Breslau (wie Anm. 12), S. 33. 55 Krajewski: Tod in Breslau (wie Anm. 12), S. 44. 56 Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia: Geschichte und Kriminalgeschichte(n). Texte, Kontexte, Zugänge. In: Geschichte im Krimi. Hg. v. Dens. Köln 2009, S. 7–30, hier 12. 57 Ebd., S. 16.
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nen wird dieses Element nun in „befremdender“ Intensität eingesetzt, die einerseits – und das ist zweifellos ein Grund für die Popularität bei der jüngeren Leserschaft – an ein postmodernes popliterarisches Erzählen anknüpft und andererseits in ein berichtendes Erzählen integriert wird, das fremde Lebensweltlichkeit vertrauter macht.58 In dieser Verbindung geht bei Krajewski die Verwendung von Eigennamen, Marken- und Typenbezeichnungen über eine „soziografische Beschreibung von Personen, Milieus und Szenen“ hinaus:59 Unbekanntes wird nicht zu Bekanntem und Fremdes nicht zu Eigenem, aber es verliert an Beunruhigendem und Erschreckendem. Mit Blick auf Blumenberg zeigt sich eine Berührung von popliterarischem und mythosanalogem Erzählen.
Mythosanaloges Erzählen und Popliteratur Zusammenfassend lässt sich aufgrund der bisherigen Ausführungen konstatieren, dass im Erzählen, in der sprachlichen Darstellung und – wie andeutungsweise vermerkt – auch auf der kompositorischen Ebene bei Krajewski Strukturen und Verfahren verifizierbar sind, die eine Ähnlichkeit zu mythos analogen Textelementen aufweisen. Sie konstituieren eine Welt, deren Fremdheit durch abwesende Komplexität, durch Resultativität und Konkretheit aufscheint und zugleich gemildert wird, eine Welt, die ihre „Künstlichkeit“ verbirgt und in „lebendige, ursprüngliche Realität“ verwandelt wird.60 An dieser Stelle sei nicht verschwiegen, dass sich für die bisher genannten Aspekte des Erzählens und der sprachlichen Darstellung eine Vielzahl von Gegenbeispielen anführen lassen. Sie erzeugen in den Texten neben einem alltagsweltlichen Kolorit eine unaufdringliche Modernität im Erzählen.
58 Degler, Frank/Paulokat, Ute: Neue deutsche Popliteratur. Paderborn 2008, S. 37. – Degler und Paulokat führen zum Gebrauch von Markennamen in der deutschen Popliteratur (u. a. in Christan Krachts Faserland) verteidigend an: „Diese neue Offenheit im Umgang mit Insignien der Konsum- und Medienwelt ist nicht als Oberflächlichkeit oder defizitäre Abweichung abzulehnen, sondern muss als Phänomen eigenen Rechts verstanden werden.“ 59 Ebd., S. 37. 60 Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Stuttgart u. a. 1973, S. 141.
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Der Gedanke an den Wachtmeister erinnerte ihn an die Notwendigkeit eines Ausflugs in das von ihm nicht besonders geschätzte Viertel hinter dem Hauptbahnhof. Er ging geradeaus in die Malteserstraße, am Elisabethgymnasium und dem Gebäude der Volksschule vorbei, dann bog er rechts in die Lehmgrubenstraße ein. Er überquerte sie diagonal, wobei er beinahe von einer Straßenbahn der Linie 6 überfahren worden wäre, und trat in den Eingang des Hauses Nummer 25, das sich gegenüber der Heinrichskirche befand.61
Das Berichten verliert hier an beschreibender Darstellung und verrät den Blick eines Beobachters. Zumeist ist das beobachtende Berichten mit der Bewegung einer Figur verbunden, während der Panorama- oder Fensterblick sich auf wenige Beispiele begrenzen lässt, so dass der Text eine Dynamisierung erfährt und andererseits aber auch das Erzählen in die Nähe der Figur rückt, ohne die Bindung an den Erzähler zu kappen.62 Da sich die Perspektive des beobachtenden Erzählers aber auf die Bewegung der Figur konzentriert, ist nicht nur die Möglichkeit der Reflexion begrenzt, vielmehr verleiht der auf die Horizontale fokussierte Blick dem Weg durch die Stadt Züge eines Labyrinths. Mit der Bindung des Erzählens an eine auktoriale Instanz entsteht dieses Bild aber nicht in der Wahrnehmung der Figur, sondern des Lesers. Das Grundmuster des Erzählens wird damit nicht unterlaufen, sondern durch (post)moderne Verfahren gestärkt. Ambivalenz verliert hier jede Zwiespältigkeit und löst sich in einem Neben- und Miteinander auf. Das trifft beispielsweise auch auf die häufig im berichtenden Beobachten beginnenden und dann in umfangreiche Dialoge übergehenden Kapitelstrukturen zu. Offensichtlich kommt mythosanalogen Verfahren generell eine wichtige Funktion im Kontext paraliterarischer Texte zu, da durch sie „Künstlichkeit“ im Sinne Lugowskis anders beziehungsweise gar nicht wahrnehmbar wird – 61 Krajewski: Der Kalenderblattmörder (wie Anm. 42), S. 123. – Krajewski: Koniec świata (wie Anm. 42), 115: „Myśl o wachmistrzu kryminalnym przypomniała mu cel jego wyprawy do niezbyt lubianej przez niego dzielnicy za Dworcem Głównym. Poszedł prosto Malteserstrasse, mijając Gimnazjum świętej Elżbiety oraz czerwonoceglastą szkołę ludową i skręcił w prawo – w Lehmgrubenstrasse. Przeciął ją na ukos, uciekając przed tramwajem linii 6, i wszedł do bramy kamienicy numer 25 stojącej naprzeciwko kościoła świętego Henryka.“ 62 Die Verfahren der Dynamisierung des Textes sind damit keineswegs erschöpft. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Ausführungen zu Simultan- und Montagetechnik hingewiesen bei: Kretzschmar: Retrokryminal (wie Anm. 10), S. 197–198.
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und so „[i]m selbstverständlichen Hinnehmen und Verstehen einer Dichtung sich Menschen zusammen[finden]“.63 Ein aktives Erkennen und Erinnern wird damit nicht befördert, Verbreitung findet eher ein Wissen, das durchaus noch die im wörtlichen Sinne „wahrsagende“ Kraft des Mythos spürbar werden lässt. 64 In Krajewskis Romanen entfaltet sie diese im selbstverständlichen Hineinnehmen einer „fremden Welt“, die im Erzählen Vertrautheit gewinnt. Das soll abschließend in der Verbindung von der Topografie und dem „alten“ Breslau eine Verdeutlichung erfahren.
Krajewski, Breslau und die Topografie In kaum einem Beitrag zu Krajewski fehlt der Hinweis auf die authentische Darstellung der Topografie des historischen Breslau. So spricht Kretzschmar von der „minutiöse[n] Rekonstruktion der historischen S tadttopografie Breslaus“ und fügt wenige Seiten später hinzu: „Krajewskis ,Breslau-Texte‘ führen […] synchrone Längsschnitte durch die Stadtgeschichte zu jeweils einem Zeitpunkt ihrer Entwicklung zwischen 1919 und 1945.“65 Und R uchniewicz sieht gar eine Wiederkehr des „alten“ Breslau in den Romanen Krajewskis. Zweifellos wird der urbane Raum zu einem wesentlichen strukturierenden Element, wobei auch hier darauf aufmerksam zu machen ist, dass sich die Topografie keineswegs in einer geografischen und kartografischen Funktion erschöpft,66 sondern auch von einer „rhetorischen Topografie“ auszuge63 Lugowski: Die Form der Individualität (wie Anm. 25), S. 9. 64 Jolles: Einfache Formen (wie Anm. 37), S. 97 u. 104 (Hervorhebung im Original). – Diese Formulierung wie auch die Unterscheidung von Erkenntnis und Wissen wird in Anlehnung an André Jolles benutzt. Letztlich wird damit die Unhinterfragbarkeit des Mythos beschrieben, weil dieser bereits Antwort ist und zwar so, „dass keine weitere Frage gestellt werden kann“. Der Mythos gibt diese Antwort als Wissen aus den Dingen selbst heraus: „Es ist nicht leicht, ein Kennwort zu finden, das die Geistesbeschäftigung, aus der sich die Einfache Form der Mythe ergibt, andeutet. Wir könnten Wissen, Wissenschaft wählen, aber wir müssen dabei fest im Auge behalten, dass nicht jenes Wissen gemeint ist, auf das sich Erkenntnis letzten Endes richtet, […] sondern dass wir es hier mit jenem unbedingten Wissen zu tun haben, das sich nur ergibt, wenn in Frage und Antwort ein Gegenstand sich selbst erschafft und sich durch das Wort, durch die Wahrsage, bekannt gibt und bewährt.“ 65 Kretzschmar: Retrokryminal (wie Anm. 10), S. 196 u. 201. 66 Hagen, Kristina: Espacios y discursos de Madrid. Diskursive Stadtdarstellung in Luis Martín-Santos’ Tiempo de silencio. In: SymCity. Beiheft „URBES EUROPAEAE“ 2 (2010). – Hagen verwendet in ihrer Romananalyse den Begriff
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hen ist.67 Hierzu gehören bei Krajewski beispielsweise die Beschreibungen der Atmosphäre in den Kneipen- und Restaurants, der Bordells, kurz all dessen, was nach Kretzschmar Breslau als Sin City und damit typische Großstadt der Zeit zeigt.68 „Befremdend“ an der sich im Text konstituierenden Großstadt ist indes, dass ein „authentisches“ Breslau imaginiert wird, das aber andererseits eine starke Begrenztheit aufweist. Sowohl die mit der Handlung verbundenen Wege der Figuren als auch die Orte ihres Handelns (einschließlich der Tatorte) fokussieren bei näherer Betrachtung einen Raum, der in der Dichotomie von Zentrum und Peripherie eindeutig Ersterem zuzuordnen ist. Wenn aber die moderne Großstadt „erst im Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in ihrer gesamtem Gestalt erfassbar [wird]“,69 eröffnen sich in Bezug auf Krajewskis Romane zunächst zwei Fragen: Wie gelingt es unter weitgehender Ausblendung der Peripherie dennoch, „Großstadt“ zu erschaffen? Und warum findet die Peripherie als urbaner Raum, dem vor allem für das 19. und 20. Jahrhundert Bedeutung zukommt, keinen Eingang in die Texte? Die Erzeugung der Großstadt basiert offensichtlich stark auf der „rhetorischen Topografie“, die in Verbindung mit der Kriminalgeschichte Morbidität sowie politischen und moralischen Verfall als Semantisierungen des urbanen Raumes fundiert, denn dieser ist – wie Kretzschmar überzeugend herausar beitet – von Heterotopien im Sinne Michel Foucaults, das heißt von psychiatrischer Klink und Gefängnis über Friedhof bis hin zum (auch privaten) Bordell geprägt. Gleichzeitig gewinnt die Großstadt mit der Konzentration auf das Zentrum aber auch etwas Überschaubares. Mit einer Metropole in der Größenordnung von gut einer halben Million Einwohner hat das Breslau in Krajewskis Romanen nur wenig gemein. Und selbst das Breslau, das aus der selten anzutreffenden Perspektive eines Panoramablickes in Tod in Breslau entsteht, überschreitet die Grenzen des innerstädtischen Raumes nicht: Die Hitze in Breslau hielt an. Über die Senke, in der die Stadt lag, wogten glühende Luftschichten. An den Straßenecken mussten sich die Limonadeverkäufer unter den Sonnenschirmen ihrer Stände nicht die Mühe machen, ihre Ware anzupreisen. Alle hatten Helfer angestellt, die in einem fort Eimer mit Eis schleppten. Die verschwitzten Menschen saßen in den Kaffeehäusern und der rhetorischen Topografie. Quelle: www.uni-kiel.de/symcity/beihefte/sc2hagen. pdf (Letzter Zugriff: 23.08.2013). 67 Ebd., S. 37. 68 Ebd., S. 216. 69 Ebd. S. 29.
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Konditoreien an der repräsentativen Gartenstraße und fächelten sich unablässig Kühle zu. Auf der Liebichshöhe, wo das Großbürgertum unter den ausladenden Platanen und Kastanienbäumen vom trockenen Staub der Innenstadt Erholung suchte, spielten sonntags erschöpfte Musikanten ihre Märsche und Walzer, in den Grünanlagen und Parks saßen die Alten beim Skat zusammen, und entnervte Kindermädchen versuchten, ihre erhitzten Zöglinge im Zaum zu halten. Die Gymnasiasten, die nicht in die Sommerfrische gefahren waren, hatten längst Sinuskurven und „Hermann und Dorothea“ vergessen und veranstalteten am städtischen Flusswerder ihre Schwimmwettbewerbe. Das Proletariat aus den ärmlichen Gassen rund um den Ring und den Blücherplatz leistete sich Humpen von Bier, sodass viele schon am frühen Morgen betrunken in den Haustoren und Rinnsteinen lagen.70
Die ausgeblendete Peripherie könnte zunächst dahingehend eine Begründung finden, dass soziale Konflikte und Probleme, die häufig mit dem Spannungsverhältnis von Zentrum und Peripherie oder mit der Verlagerung des Fokus auf die Peripherie verbunden sind, die Kriminalromane Krajewskis nicht prägen. Das Arbeiterviertel im Zentrum Breslaus (im Zitat mit dem Blücherplatz markiert) erfährt durchaus wiederholt Erwähnung, aber auf soziale Konflikte konzentrieren sich die Kriminalgeschichten – im Unterschied zu den hard-boiled novels der 1930er-Jahre – nicht. Allerdings verliert diese Erklärung an Plausibilität angesichts der Tatsache, dass es gerade in den 1920er-Jahren zu einschneidenden Veränderungen des urbanen Raumes kam. Diese beschränken sich nicht auf das Jahr 1928 und die Verschiebung 70 Krajewski: Tod in Breslau (wie Anm. 12), S. 70. – Krajewski: Śmierć w Breslau (wie Anm. 12), S. 52–53: „We Wrocławiu niepodzielnie zapanował upał. Niecka, w której leży miasto, prażyła się w strugach rozpalonego powietrza. Sprzedawcy lemoniady siedzieli pod parasolami na rogach ulic, w sklepach i w innych wynajętych w tym celu lokalach. Nie musieli reklamować swojego towaru. Wszyscy zatrudniali pomocników, którzy dostarczali im ze składów wiadra lodu. Wachlujący się nieustannie, spocony tłum wypełniał kawiarnie i cukiernie przy reprezentacyjnej Gartenstraße. Zlani potom muzykanci wygrywali w niedziele marsze i walce na Liebichshöhe, gdzie pod rozlożystymi kasztanowcami i platanami oddychało suchym kurzem zmęczone mieszczaństwo. Skwery i parki zaludniali staruszkowie grający w skata i rozłoszczone bony usiłujące uspokoić zgrzane dzieci. Gimnazjaliści, którzy nie wyjechali na wakacje, dawno zapomnieli o sinusach czy o Hermannie i Dorothei i urządzali pływackie zawody na Kępie Mieszczańskiej. Lumpenproletariat z biednych, brudnych uliczek wokół Rynku i Blücherplatz wypijał cysterny piwa i zalegał nad ranem pod bramami i w rynsztokach.“
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der Stadtgrenze durch umfangreiche Eingemeindungen, sondern umfassen auch die Realisierung städtebaulicher Konzeptionen, die als Musterbeispiele des „Modernen B auens“ bezeichnet werden können. Die schrittweise Entstehung der Gartenstadt Zimpel (Sępolno) in den Jahren 1922 bis 1933 ist dafür nur ein prägnantes Beispiel. Die weitgehende Ausgrenzung der Peripherie als Raum modernen Bauens (und modernen Lebens) gewinnt mit Blick auf die bereits mehrfach erwähnte Evozierung Breslaus als eine von Dekadenz gezeichnete Stadt durchaus wieder an Evidenz. Andererseits wird die Generierung Breslaus als dekadente Großstadt in der topografischen Begrenztheit auf das Zentrum permanent unterlaufen, da „Breslau“ hier Konturen annimmt, die Schönheit und Bedeutung der Stadt als blühende Metropole und Handelszentrum noch spürbar werden lassen. Wenn im Erzählen der Bewegung der Figuren durch die Stadt immer wieder Kirchen, Denkmäler, Theater, Museen, Bibliotheken und die Universität auftauchen, dann wird vor allem das „alte“ Breslau erzeugt, gleichzusetzen mit einem Ort von kulturellem Mehrwert. Doch auch die Architektur der Warenhäuser, die das Stadtbild im Zentrum mit ihren Jugendstilfassaden (Kaufhaus Barasch) und dezenten avantgardistischen Umbauten (Kaufhaus Petersdorff ) prägen, findet Erwähnung und relativiert das „alte“ Breslau: Mock und Anwaldt bogen in die Schweidnitzer Straße ein, fuhren über den Zwingerplatz, und als die Kaffeerösterei und der „Kaufmannszwinger“ hinter ihnen lagen, gelangten sie auf die verkehrsreiche Schuhbrücke. Sie passierten die beiden Kaufhäuser „Petersdorff“ und „Gebrüder Barasch“, auf dessen Dach ein beleuchteter Globus angebracht war, und ließen das Paläontologische Museum und das ehemalige Polizeipräsidium hinter sich. Sie steuerten auf die Oder zu. Beim Matthiasgymnasium bogen sie nach rechts ab und befanden sich gleich darauf auf der Dominsel. Nachdem sie den mittelalterlichen Dom mit dem roten Gebäude des Priesterseminars Georgianum passiert hatten, hielten sie schließlich in der Adalbertstraße.71 71 Krajewski: Tod in Breslau (wie Anm. 12), S. 178. – Krajewski: Śmierć w Breslau (wie Anm. 12), S. 128: „Mock i Anwaldt skręcili w Schweidnitzer Straße, a następnie na Zwinger Platz i minąszy palarnię kawy i resursę kupiecką, wjechali w ruchliwą Schuhbrücke. Minęli domy towarowe Petersdorffa i braci Baraschów uwieńczony szklaną kulą ziemską, następnie pozostawili za sobą Muzeum Paleontologiczne i dawne Prezydium Policji. Dojechali do Odry. Koło gimnazjum św. Macieja skręcili w prawo i wnet znaleźli się na Ostrowie Tumskim. Minąwszy średniowieczną katedrę i czerwony budynek alumnatu Georgianum, znaleźli się na Adalbertstraße.“
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Doch gehen diese Beschreibungen über die Erzeugung von Lokalkolorit hinaus? Und lassen sich in diesen funktionalen Zusammenhang nicht auch eine ganze Reihe von „Wirklichkeitseffekten“, angefangen von der schlesischen Küche bis zu den Breslauer neuesten Nachrichten, einordnen? Eine solche Erklärung liegt vor allem deshalb nahe, weil das „schöne“ und „alte“ Breslau wie auch die „Wirklichkeitseffekte“, die Barthes nicht zufällig als „unnütze Details“ bezeichnet, kaum Relevanz für das Erzählen der Kriminalgeschichte(n) haben, das mit der Atmosphäre des düsteren, stickigen, alltäglichen Breslaus korrespondiert. Deshalb werden wohl historisch oder architektonisch bedeutsame Orte nur selten zu Tatorten.72 Das „alte“ Breslau, das zumeist dem flüchtigen Blick des Erzählers und der räumlich topografischen Begrenztheit auf das Zentrum entspringt, fällt damit in gewisser Weise aus dem kompositorischen Zusammenhang, ohne dass Bruchstellen entstehen. Weder in der Komposition der Kriminalgeschichte noch in der Erzeugung eines „authentischen“ Breslau der 1920er- und 1930er-Jahre findet die Evokation des „alten“ Breslau eine (hinreichende) Motivierung, weshalb hier erneut an Lugowski angeknüpft werden soll: Die strenge Motivation von hinten kennt keinen direkten Zusammenhang zwischen konkreten Einzelbezügen am Leibe der Dichtung; der Zusammenhang geht immer über das Ergebnis, und soweit uns heute die vorbereitende Motivation im Blute liegt, sehen wir da nur Zusammenhangslosigkeit.73
Lugowski verbindet die „Motivation von hinten“ mit dem „Ergebnismoment“ und geht davon aus, dass in ihr letztlich alle anderen Erscheinungsformen des mythischen Analogons zusammenfließen.74 Das „Ergebnismoment“ ist in Krajewskis Romanen das Dauern, das Währen Breslaus, das angesichts der Veränderungen bis hin zur fast siebzigprozentigen Zerstörung der Stadt, die in Festung Breslau auch thematisiert wird, eine magisch zu nennende Qualität gewinnt.
72 Nicole Schmitz stellt in ihrer Magisterarbeit „Die Stadt als Held. Zur Raumdarstellung in Marek Krajewskis Breslau-Zyklus (2012) fest, dass die Tatorte nicht nur zumeist genau adressierbar sind, sondern es sich dabei auch überwiegend um Privatwohnungen handelt. Und selbst dort, wo ein Mord in einem historischen Gebäude geschieht, befindet sich der Tatort selbst in einer Wohnung. 73 Lugowski: Die Form der Individualität (wie Anm. 25), S. 79. 74 Ebd., S. 66–67.
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Die These Dirk Kretzschmars, von einem Geschichtskonzept der longue durée in Krajewskis Romanen zu sprechen,75 erfährt hier insofern eine Modifizierung, als die Dauer in den Breslau-Krimis nicht einem historischem, sondern einem mythischem Denken entspringt. Politische wie historische Umbrüche, darunter der Machtwechsel der Nazis in Tod in Breslau, der Erste Weltkrieg in Gespenster in Breslau und vor allem der Zweite Weltkrieg in Festung Breslau, wo in der Rahmenhandlung bereits das polnische Wrocław auftaucht, sind durchaus Teil der erzählten Handlung. Splitter mythischen Denkens manifestieren sich im heterodiegetischen Erzählen, das kombiniert mit resultativer Unveränderbarkeit an eine (über)menschliche Kraft erinnert; in der sprachlichen Strukturierung von Linearität und Unverbundenheit; im Erzählen von Namen und in der begrenzten zentrumsorientierten Topografie. Diesen Splittern wohnte eine „sympathetisch-magische“76 Funktion inne, die einer fremden, beängstigend bedrohlichen Welt, wie sie im Krimi als dekadente Großstadt erschaffen wird, vertraute und beruhigende Züge verleiht. Diese bewirkt, dass jenseits von ethnopolitischen Identitätssetzungen und Konzepten regionaler wie lokaler Identität, wenngleich immer wieder flüchtig und palimpsestartig, sich ein magisch-währendes Breslau konstituiert. Für die Herausbildung einer Wrocławskość scheint dieses indes ebenso wenig geeignet wie für einen Erinnerungsort. Das mythische Analogon ist kein Mythos oder mythisches Denken, sondern beiden ähnlich. In ästhetischen Texten benötigt der „sympathetischmagische Zusammenhang“ offensichtlich Strukturen, denen eine geminderte
75 Kretzschmar: Retrokryminal (wie Anm. 10), S. 212. 76 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Berlin 1925, S. 68 u. 70 (Hervorhebung im Original). – Cassirer bezieht in Verbindung mit der mythischen „Kausalität“ den Begriff „sympathische Magie“ zunächst auf die „durchgängige Verknüpfung […] räumlicher Nachbarschaft“. Er erweitert ihn dann auf zeitliche Unterschiede: „Der sympathetischmagische Zusammenhang greift wie über die räumlichen, so auch über die zeitlichen Unterschiede hinweg: wie die Auflösung des räumlichen Beisammen, die physische Abtrennung eines Körperteils vom Ganzen des Körpers, den Wirkungszusammenhang zwischen beiden nicht aufhebt, so gehen auch die Grenzen des ,Vor‘ und ,Nach‘, des ,Früher‘ und ,Später‘ ineinander über. […] und auch dort, wo die empirische Anschauung die Trennung unmittelbar darzubieten scheint, wird sie durch die magische alsbald wieder aufgehoben […].“
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Komplexität eigen ist. Daraus lässt sich letztlich auch eine Erklärung für die Verknüpfung von Paraliteratur und mythischem Analogon ableiten. Und nicht zuletzt für eine verklärende Tendenz der Rezeption, die beispielsweise im Geocaching „Eberhard Mock“ oder auf einer Wikipedia-Seite für den fiktiven Ermittler sichtbar werden.77
77 Ausführlich zum Geocaching in Wrocław, darunter auch den Tatorten von Krajewski siehe Kuroczyński, Piotr: Die Medialisierung der Stadt. Analoge und dialoge Stadtführer zur Stadt Breslau nach 1945. Bielefeld 2011. – Die Seite (http://pl.wikipedia.org/wiki/Eberhard_Mock) ist an Wikipedia-Seiten authentischer Personen angelehnt, so dass dem Namen Angaben zum Geburts- und Sterbe datum sowie die Nennung des Geburtsortes folgen.
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Underground, Overground Bratislava und der gläserne Berg
Am 28. Mai 2013 veranstaltete der junge slowakische Künstler A ndrej D úbravský die 24-Stunden-Ausstellung The Exciting Mysterious Aquarium in einem überfluteten Betondepot aus den 1980er-Jahren. Dieses Depot ist die einzige Spur der nie gebauten U-Bahn in Bratislava und befindet sich am Rande des Stadtteils Petržalka. Juraj Kováčik bezeichnete die Ausstellung als „magisches Aquarium“: Die Ausstellung im Depot präsentierte neben Darstellungen von jungen Männern mit Hasenohren reine Landschaftsmalerei sowie eine neue Serie von Aquarien-Bildern. Die ausgestellten Landschaften hatte A ndrej D úbravský erst ein halbes Jahr zuvor gemalt. Als Vorbild dienten ihm dabei die Auen wälder in der Winterzeit, wenn die Bäume mit leeren Ästen und ohne Blätter sind. Die Aquarien-Bilder wurden nach Vorlagen aus dem Internet gezeichnet. Ihr Thema sind stilisierte Aquarien, die wiederum Landschaften abbilden.1
Das Motiv des Aquariums nutzten bereits ein Jahr zuvor die Organisatoren der posthumen Ausstellung der Schmuckkünstlerin und Rocksängerin Bety Majerníková, als sie deren Kollektion auf dem Boden eines Schwimmbeckens im verlassenen historischen Stadtbad „Grössling“ in Bratislava arrangierten. In Petržalka sind inzwischen auch alte tschechoslowakische Befestigungsanlagen entdeckt worden, „der einzige, vollständig erhalten gebliebene Verteidigungssektor in Bratislava. Mulda, Paseka, Stoh oder Cvičište – ein Netz aus ursprünglich fünfzehn Bunkern […]. Viele der Bunker sind von Obdachlosen und Drogenabhängigen bewohnt oder voller Müll“.2 Das Depot 1 Kováčik, Juraj: V depe metra, ktoré nikdy nebude [Im Depot der Metro, die es nie geben wird]. In: týždeň 25 (2013), S. 54–55, hier 55. 2 Tkáčiková, Lucia: Štát predáva petržalské bunkre [Der Staat verkauft die Bunker von Petržalka]. In: SME vom 22.07.2013. Quelle: http://bratislava.sme. sk/c/6877465/stat-predava-petrzalske-bunkre.html (Letzter Zugriff: 24.08.2013).
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als „Blinddarm“ der bis heute nicht erbauten Metro in Bratislava sowie die zugewachsenen und unbenutzten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg bilden den latenten Underground von Bratislava oder – genauer – von dessen Stadtteil Petržalka.
Das Petržalka-Aquarium Petržalka liegt auf der rechten Seite der Donau und war im 18. und 19. Jahrhundert vor allem Auland. Das Gebiet bestand aus einem Netz von Flussarmen und Inseln. Schon im 18. Jahrhundert galt Petržalka als Obstgarten von Bratislava. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt sich die Siedlung ihren dörflichen Charakter, durfte doch während des „Kalten Krieges“ auf dieser Seite Bratislavas nicht gebaut werden. In den 1970er-Jahren begannen in Petržalka dann umfangreiche Bauplanungen, weshalb hier die größte Plattenbausiedlung der Slowakei entstand.3 Als solche hat sie vielfältige literarische, künstlerische und musikalische Bearbeitung erfahren und formiert somit einen eigenständigen Teil des Bratislaver Stadtnarrativs, etwa in den Songtexten der Hip-Hop-Band Opak. Diese nutzt den Konflikt zwischen den Hochbauten und den Untergründen des Viertels, um der Spannung von Hoch- und Populärkultur Ausdruck zu verleihen. Die Band LÚZA (Pöbel) indes macht das Problem der Gleichschaltung zum Thema, wobei der Akzent vom architektonischen Ort Petržalka auf das Soziogramm ihrer Bewohner verschoben wird. Und so heißt es in ihren Songs: „Wir sind direkt von 5ržalka ,wo?‘ Leute wohnen ,wie?‘ gleich, an gleichen Hebeln ziehend.“4 Auch das Petržalka-Buch engerau, so der deutsche Name des Stadtteils, arbeitet mit der Spannung zwischen positiven und negativen Selbstdarstellungen der Plattenbaubewohner.5 Die Autoren Ida Želinská und Fedor Blaščák arrangieren hier widersprüch liche Aussagen der Petržalka-Siedler zu ihrem Wohnort nebeneinander und lassen 3 Gustafík, Jaroslav: Spomienky Staropetržalčana [Erinnerungen eines Alteingesessenen aus Petržalka]. Bratislava 2000. 4 Im Deutschen geht nicht nur die Reimstruktur verloren, sondern auch das Spiel mit dem Ort: So greift die Ziffer-Wort-Kombination 5ržalka den Klang von päť – slowakisch für „fünf“ – auf. Im Original: „Sme priamo z 5ržalky ,kde?‘ žijú ľudia ,akí?‘ rovnakí, ťahajúci za rovnaké páky. In: Tri texty petržalských hip-hoperov [Drei Texte von Hip-Hoppern aus Petržalka]. In: Romboid 6 (2007), S. 3–7. 5 Želinská, Ida/Blaščák, Fedor: engerau. Bratislava 2005.
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sie durch einen bewusst gesetzten Zeilenumbruch wie Gedichte wirken: „Petržalka? / kann nicht behaupten, / dass ich es verstehen würde, / es scheint / schrecklich, / öde, / (einige sagen, / dass sie es fürchten) // und auch ich habe das Gefühl / von / Konflikt / Konflikt / Konflikt (Zygo, 23).“ Oder: „Mir gefällt an Petržalka, / dass es architektonisch / einheitlich ist // jetzt / gibt es das neue Phänomen der Wärmedämmung der Häuser / wenn sie dann alles schön anstreichen / das wird unglaublich // das wird ein Spaß, da zu wohnen / (Renátka, 17).“6 Die 1974 geborene Jana Beňová schließlich hat in ihrem 2008 veröffentlichten Prosatext Geleitplan. Café Hyäne (Plán odprevádzania. Café Hyena) die Siedlung von Petržalka zu einem ihrer Handlungsorte gemacht. Alfrun Kliems bezeichnet Beňovás Geleitplan als „globales Piepen im lokalen Aquarium“7 – und bezieht sich dabei auf das Manifest der Vier (Manifest Štvorice), einen ausschließlich auf dem Buchumschlag abgedruckten Text Beňovás. Die Vier, das sind die Protagonisten Elza, Ian, Rebecca und Lukas, die sich durch Bratislava bewegen, von Petržalka in die Altstadt und wieder zurück. Dabei kartieren sie über einen subjektiven „Geleitplan“ ihre Bewegungen, ihre Hoffnungen und Träume im urbanen Raum: Eine Hütte auf dem Hügel – mit Ausblick auf die ganze Stadt. Einige Wände sind aus Glas wie in einem Aquarium. […] In der riesigen Baustelle leuchtet ein kleiner Wohnwagen, die Türen sind offen und davor sitzt in einem Sessel der Baumeister. An der besten Adresse der Stadt, im besten Teil des zukünftigen Gebäudes, auf dem Ausblick. Er isst zu Abend inmitten des unfertigen Luxushauses. Noch fegt der Wind hindurch. Die Stadt liegt ihm zu Füßen. Wir rücken weitere Sessel dazu, legen die Teller auf die Lauer.8 6 Ebd., S. 33–34: „Petržalka? / vôbec nemôžem povedať / že by som jej rozumel / zdá sa / strašne / nudná / (niektorí hovoria / že sa jej boja) / a ja mám taký pocit / že / konflikt / konflikt / konflikt.“ – „Mne sa na Petržalke páči to / že je architektonicky zjednotená // teraz / je nový fenomén zatepľovania domov / ak sa potom pekne namaľujú / to bude úžasné // tak to bude paráda tam bývať.“ 7 Kliems, Alfrun: Aggressiver Lokalismus – Lokaler Globalismus. Postmoderne Stadt-Poetiken in Ostmitteleuropa (Stasiuk, Topol, Beňová). In: Die Lust an der Kultur/Theorie. Transdisziplinäre Interventionen. Für Wolfgang Müller-Funk. Hg. v. Anna Babka, Daniela Finzi und Clemens Ruthner. Wien–Berlin 2013, S. 462– 473, hier 470. 8 Beňová, Jana: Plán odprevádzania [Geleitplan]. Levice 2008, Umschlagseite: „Barák na kopci – s výhľadom na celé mesto. Niektoré steny sú zo skla ako v akváriu. […] V obrovskom rozostavanom dome svieti malá maringotka, dvere sú otvor-
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Mit Blick auf diese Szene schreibt Kliems von der Stadt als einem utopischen Ort, der die urbane Topografie in ein topologisches, mythopoetisches Beziehungssystem verwandelt: „Der Text hebt seine Figuren aus der teilnehmenden Beobachtung, entzieht sie dem immersiven Zugriff der Stadt und offenbart ihnen diese als Ekphrasis. Kurz, Geleitplan bietet eine hochgradig artifizielle, entschieden mythopoetische Lesart der Stadt.“9 Die Bilder vom Aquarium, ob in den Werken Dúbravskýs, dem Ausstellungsarrangement von Majerníková oder in der Literatur Beňovás, sind vor allem Metaphern für die Möglichkeit, von außen nach innen sowie von innen nach außen zu sehen, ohne durch Berührungen oder Wörter miteinander kommunizieren zu können. Ende der 1980er-Jahre griff Ivan Laučík in seinem Gedichtband An der Schwelle der Hörbarkeit (Na prahu počuteľnosti) auf eine ähnliche Metaphorik zurück: Wegen der Sauberkeit umgeben sie sich mit Glas, wegen des Durchzugs und des Lärms der Eisenbahn. Aber wann begannen sie zu glauben, Glas sei durchsichtig nur von einer Seite? Wie, dass sie die Eigenart des Materials vergaßen?10
Laučíks Bildlichkeit unterläuft die moderne Vision von der Transparenz der Welt, die in André Bretons avantgardistischer Vorstellung vom durchsichtigen, manifesten Menschen einen ersten Höhepunkt fand und sich inzwischen in die aktuelle Metapher vom Gläsernen Menschen als einer absolut durchleuchteten, überwachten Person verwandelt hat. Das Aquariumbild verwendete auch Ivan Štrpka in seinem Lied Unter der Oberfläche (Pod hladinou), das
ené a pred nimi sedí v kresle stavbymajster. Na najlepšej adrese v meste, v najlepšej časti budúceho domu, na vyhliadke. Večeria uprostred nedostavanej luxusnej budovy. Vietor ňou ešte prefukuje. Mesto mu leží pri nohách. Prisúvame si ďalšie kreslá, taniere kladieme na postriežku.“ Übers. v. Alfrun Kliems. 9 Kliems: Aggressiver Lokalismus – Lokaler Globalismus (wie Anm. 7), S. 472. 10 Laučík, Ivan: Na prahu počuteľnosti [An der Schwelle zum Hörbaren]. Bratislava 1988, S. 47: „Kvôli čistote sa obkľúčia sklom, / kvôli prievanu a hluku železnice. // Ale kedy začali veriť, / že sklo je priehľadné / iba z jednej strany? Ako to, / že zabudli na vlastnosť materiálu?“
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der Rocksänger Dežo Ursiny in den 1980er-Jahren für sein wohl bekanntestes Album Der blaue Berg (Modrý vrch) vertonte:11 Ich habe eine Hütte ohne Schlüssel, ohne Schloss, ohne Tür, alles öffnet sich auf Berührung. Du drückst den Schalter und aus der Sonne wird Dunkel. Auf dem Grund des Aquariums erstrahlt der Strand. […] Du jagst deinen bunten Fisch, weißt schon von deiner Jagd. Auf dem Grund deines Aquariums ist ein menschenleerer Strand. Fängst du den Fisch, bevor du vor ihm davonrennst?12
Das Bild von der gläsernen Ummantelung, die die Welt drinnen von der Welt draußen trennt, hat viele Konturen. So findet sich in Miroslav Váleks Trauer gedicht Traurige frühe Straßenbahn (Smutná ranná električka) das Motiv der Straßenbahn als gläserner Sarg.13 Auf die Metapher des gläsernen, abgeschlossenen und gleichzeitig durchsichtigen Raumes, der die Welt der Lebenden und der Toten trennt, verweist auch František Koli und macht die Topoi „Burg“ und „gläserner Berg“ als zentrale Bezugspunkte für die slowakische
11 Neben der Leitmetapher des Aquariums als „menschenleerer Strand“ ist aus biografischer wie literarischer Sicht erwähnenswert, dass Ivan Štrpka als Vorbild für die Figur Ian diente, den Partner der Hauptfigur Elza in Beňovás Geleitplan. Štrpka war gemeinsam mit Ivan Laučík und Peter Repka Mitglied der Dichtergruppierung „Einsame Läufer“ (Osamelí bežci), die 1964 mit ihrem Manifest Die Vorzüge dreibeiniger Nachtigallen (Prednosť trojnohých slávikov) an die Öffentlichkeit trat. Beňovás schon erwähntes Manifest der Vier wirkt stellenweise wie eine ironische Allusion auf das Manifest der „Einsamen Läufer“. 12 Štrpka, Ivan: Modrý vrch [Der blaue Berg]. Bratislava 1988, S. 57: „Mám izbu bez kľúča, bez zámku, bez dverí, / všetko v nej sa otvára na dotyk. / Stisneš vypínač a zo slnka je tma. / Na dne akvária sa rozsvecuje pláž. // […] Stíhaš svoju pestrú rybu, / vieš už o love svoje. / Na dne tvojho akvária je ľudoprázdna pláž. / Ťaháš rybu, či skôr pred ňou utekáš?“ 13 Válek, Miroslav: Básnické dielo [Lyrisches Werk]. Bratislava 2005, S. 71. – Das Gedicht stammt aus der Sammlung Berührungen (Dotyky, 1959). Es dürfte kein Zufall sein, dass es Ende der 1960er-Jahre von Marián Varga, dem wohl berühmtesten slowakischen Rockkomponisten, vertont wurde.
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Prosa der Nachkriegszeit aus.14 Der abgetrennte, in sich begrenzte, visuell durchlässige Raum des materiell undurchlässigen Aquariums, des gläsernen Sarges oder Berges stellt demnach in Beňovás Geleitplan kein verwaistes, vereinzeltes Motiv dar. Im Gegenteil, es gehört zu den grundlegenden Topoi der slowakischen Literatur. Er wird von der Autorin zudem wirkungsvoll mit einem anderen populären Topos der Gegenwartskultur verflochten – der Petržalka-Siedlung als Gegen-Ort des etablierten Stadtnarrativs. Von hier ausgehend unternehme ich in einem nächsten Schritt einen Exkurs zum Untergrund als Underground, um dann abschließend auf Geleitplan von Jana Beňová zurückzukommen.
Gläserne Berge und das Androgyne in der Literatur der Nachkriegszeit Alfonz Bednárs Roman Der gläserne Berg (Sklený vrch) von 1954 weist den Topos bereits in seinem Titel aus und knüpft inhaltlich an das romantische Märchen Drei Zitronen (Tri citróny) an. Das Märchen gründet auf dem Motiv der Brautsuche auf dem gläsernen Berg, bei dessen unerlässlicher Besteigung Wundermittel zum Einsatz kommen, Initiationen und Verwandlungen stattfinden. Ein ähnliches Motiv findet sich auch im Märchen Die drei Rabenbrüder (Traja zhavranelí bratia).15 Das Bild des Berges aus Glas wählte ebenso Dominik Tatarka in einem Brief an Jaroslav Pavelka aus dem Jahr 1940: „Gläserner Berg – bürgerliches Leben? Bei diesem Dilemma habe ich mich zugunsten des bürgerlichen Lebens entschieden.“ Mit dieser Wendung schließt Tatarka mit dem Prager Kapitel in seiner Lebensgeschichte ab: das
14 Koli, František: K vývinu slovenskej prózy druhej polovice 20. storočia [Zur Entwicklung der slowakischen Prosa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts]. In: Slovenská literatúra 5 (2008), S. 348–369, hier 361. 15 Dobšinský, Pavol: Prostonárodné slovenské povesti [Slowakische Volkslegenden]. Bd. 3. Bratislava 1973. – Zur intertextuellen Beziehung zwischen Bednárs Roman und der Erzählung Drei Zitronen siehe Prušková, Zora: Skrytá identita „budovateľskej balady“. Alfonz Bednár: Sklený vrch [Die verdeckte Identität der „Aufbau-Ballade“. Alfonz Bednár: Der gläserne Berg]. In: Slovenská literatúra 3–4 (2006), S. 200–207. – Mit Variationen und Gestalten dieses Märchens innerhalb der slowakischen Romantik befasste sich Pácalová, Jana: Metamorfózy rozprávky. Od Jána Kollára po Pavla Dobšinského [Metamorphosen eines Märchens. Von Ján Kollár zu Pavel Dobšinský]. Bratislava 2010, S. 116.
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heißt, mit dem Kapitel des „ästhetischen und überempfindlichen Geschöpfes“, das in der Slowakei der Kriegszeit „viel zu künstlich, glashausmäßig“ w irke.16 In den 1940er-Jahren gehörte Dominik Tatarka gemeinsam mit Július Barč-Ivan, Ján Červeň, Leopold Lahola und František Švantner zu einer Generation slowakischer Prosaiker, die sich der „existenziellen Imagination“ (existenciálna imaginácia) verschrieben hatten. Diese Tendenz begann sich unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg abzuzeichnen, konstituierte und entwickelte sich weiter bis zu ihrer gewaltsamen Zerschlagung nach 1948. Die „existenzielle“ Strömung der slowakischen Nachkriegszeit blieb in der Literatur letztlich nur in latenter, verborgener, untergründiger Form präsent. Sie wurde erst im Laufe der anhaltenden Rekonfigurationen der slowakischen Nachkriegsliteratur sichtbar und erinnert in mehrfacher Hinsicht an das Schicksal einiger slowakischer Romantiker.17 Im Jahr 1944 gibt Dominik Tatarka die Novelle Die Wunderjungfrau (Panna zázračnica) in den Druck, die eine Art Verabschiedung Tatarkas vom Surrealismus darstellt.18 Die Novelle erzählt die träumerisch-gespenstische Geschichte von einer Gruppe junger avantgardistischer Künstler und Anabella – der Wunderjungfrau, einer klassischen Kombination aus femme fatale und femme fragile, wie sie aus schwarzer Romantik und Moderne hinlänglich bekannt ist, einer Frau ohne Vergangenheit und Zukunft. Sie blitzt im Leben der Künstlergruppe nur flüchtig auf, um im Kriegstrubel wieder zu verschwinden. Als einzige Spur hinterlässt sie ihre Totenmaske. Für das Schaffen Tatarkas hat Die Wunderjungfrau gewissermaßen Initiationscharakter. Sie markiert den Höhepunkt der inneren Veränderung des Autors sowie seinen Abschied von der Welt der gläsernen Berge und seine Ankunft in der Welt des bürgerlichen Lebens.
16 Pavelka, Jaroslav/Tatarka, Dominik: Korešpondencia 1940–1942 [Korrespondenz 1940–1942]. In: Slovenské rozhľady 12 (2003), S. 43. 17 Auf den „Untergrund“-Charakter eines Teiles der slowakischen Romantik verweist Kobylińská, Anna: Czarny romantyzm Viliama Pauliniego-Tótha (o dramacie Ľudská komédia) [Die schwarze Romantik Viliam Pauliny-Tóths (über das Drama Die menschliche Komödie)]. In: Czarny romantyzm, przypadek słowacki. Hg. v. Joanna Goszczyńska und Anna Kobylińska. Warszawa 2012, S. 113–132, hier 116–117. 18 Wegen Tatarkas Teilnahme am Slowakischen Nationalaufstand erschien die Novelle erst 1945. Ich stütze mich hier auf Paštéková, Jelena: Panna zázračnica [Die Wunderjungfrau]. In: Slovník diel slovenskej literatúry 20. storočia. Hg. v. Rudolf Chmel u. a. Bratislava 2006, S. 440.
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Auffallend in der Novelle ist die Verflechtung der Motive des Untergrunds und des Androgynen.19 Der Untergrund erweist sich dabei seinerseits als doppelbödig. In einem unterirdischen Bunker suchen die Menschen Schutz vor Luftangriffen, indes befindet sich in der Tiefe unter diesem Bunker der mineralisch-vegetative Untergrund der Drusen. Hierbei handelt es sich um einen Untergrund aus in Zeit und Raum sedimentierten polygonalen Tetraedern, um eine Welt uralter Erinnerungen und „thalassaler Regression“ (Gottfried Benn), um eine „als Luxushöhle eingerichtete Ausbuchtung in der Erde“, in der sich „mit Girlanden aus Papierorchideen umwundene Lusthäuser, weiche Sessel aus Saffianleder, ein riesiges Sofa in Purpur“ finden und „überall Wachsrosen, die, von der farbigen Beleuchtung tingiert, blau werden wie Geschwüre“.20 Die polygonen Tetraeder versinnbildlichen nun das ursprünglich platonische Symbol der vier Elemente, wobei das Feuer dem Androgyn entspricht. Im Androgyn verbindet sich bei Tatarka das Symbol der Gaia, als ureigentlicher natürlicher Undifferenziertheit, mit den surrealistischen Requisiten eines „vermodernden“ bürgerlichen Interieurs aus blassblauen Wachsrosen, Papierorchideen und einem Plüschsofa. Das Androgyne in Tatarkas Die Wunderjungfrau stellt allerdings ein gedoppeltes Motiv dar: Androgyn wirkt ebenfalls die nymphenhaft jungfräuliche Figur der unberührbaren Anabella. Der einzige, der Berührung vorbehaltene Ort ist ihr Gesicht – und das einzige Medium der Berührung sind die Hände des Bildhauers Michal Harvan, der ihre Totenmaske anfertigt, wodurch Körperkontakt und Tod miteinander verknüpft werden. Ich bezweifle zwar, dass Jana Beňová beim Schreiben von Geleitplan an Tatarkas Wunderjungfrau gedacht hat. Dennoch ist die Tatsache von Bedeutung, dass die Topik des doppelten Untergrunds und der doppelten Androgynie in Geleitplan mit Tatarkas Novelle in gewisser Weise korrespondiert. 19 Zum coincidentia oppositorum im Androgynen siehe Eliade, Mircea: Méphisto phélès et l’androgyne. Paris 1992. – Mit dem Androgynen befasst sich auch Kobylińska, Anna: Túžba po androgýne. Ontologické dimenzie tvorby Dominika Tatarku [Sehnsucht nach dem Androgynen. Zur ontologischen Dimension im Schaffen von Dominik Tatarka]. Vortragsmanuskript auf der Tatarka-Konferenz vom 07.05.2013 in Bratislava. 20 Tatarka, Dominik: Panna zázračnica [Die Wunderjungfrau]. Bratislava 21964, S. 26, 36 u. 39–40. – Ich zitiere hier aus der zweiten, umfänglich überarbeiteten Ausgabe.
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Von der Unterwelt zum Untergrund, vom Untergrund zum Underground Der Topos des gläsernen Berges ist in der slowakischen Literatur durch merkwürdige Peripetien geprägt. Er bildet ein Gewebe aus Bezügen zur frühromantischen, kristallografischen Poetik des Lebens als offenes, unbeendetes, letztlich leeres Buch der novalisschen „Blauen Blume“, zum Märchen als Höhepunkt der mythopoetischen Linie der slowakischen Romantik und schließlich zur modernen europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Als motivische Figur öffnet er den Weg zum Topos des Untergrunds – und weist wie viele andere Topoi in der slowakischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts einen Charakter der Latenz auf: Er ist vorhanden und zugleich abwesend; er ist im heideggerschen Sinne verdeckt, taucht aus seiner Verborgenheit auf, wird unverdeckt, um wieder zu seiner verdeckten Gestalt zurückzukehren. Der Topos ist anwesend in Gestalt von Spuren, Indizien, Fragmenten, Scherben. So wie das Depot der U-Bahn in Petržalka, zugewachsen, voller Wasser, gefüllt mit Müll und von Junkies zurückgelassenen Spritzen, das einzig sichtbare Zeichen der bis heute nicht existierenden Metro darstellt. So wie die unbenutzten Bunker in Petržalka. Trotzdem reiht sich der gläserne Berg in die zentralen Topoi der modernen slowakischen Literatur ein und steht dabei in einer engen Beziehung zum Konzept des Untergrunds. Oskar Čepan, der sich mit den „Naturisten“ (naturisti) befasste, einer zentralen Strömung in der Prosa, verweist auf folgende, aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges stammende Aussage von František Švantner, einem Hauptvertreter des Naturismus: „Der Künstler […], von der Dumpfheit des Boshaften niedergeschlagen, kapselt sich von der Welt ab und erblüht in sich hinein.“ Aus den Tiefen der Vergangenheit, so lautet Švantners weiterer Kommentar, erklingen Vergils Worte im VII. Buch der Aeneis: „Flectere si nequeo Superos, Acheronta movebo“. In ihrer Anklage rede wendet sich die Göttin Juno, machtlose Gegnerin von Aeneas, an die Mächte der Unterwelt und ruft die Furie Allecto zur Hilfe, um Aeneas zu drohen: „Kann ich die höheren Mächte nicht beugen, bewege ich doch die Unterwelt.“21 Čepan fügt seiner Analyse der Naturisten hinzu: „Das Werk dieser Pro saiker ist wie ein imaginativer Traum. Es handelt sich allerdings um ein mehr21 Čepan, Oskár: Kontúry naturizmu [Konturen des Naturismus]. Bratislava 1977, S. 222.
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dimensionales Träumen – um den Traum von der Johannisnacht sowie den Traum von der Walpurgisnacht […].“22 Čepan bezieht sich dabei implizit auf Sigmund Freuds Die Traumdeutung von 1899, der Freud das gleiche Zitat Vergils als Motto voranstellte.23 Darüber führt Čepan uns zu einer doppelten Auslegung des Untergrunds: als topografischer Ort der Unterwelt sowie als topologischer Ort des Unbewusstseins. Für die weiteren Überlegungen ist aber noch ein anderer Aspekt von wesentlicher Bedeutung. In der europäischen Kulturtradition existieren zwei Konzepte der Unterwelt: Dies ist zum einen das Konzept Vergils, das auf der Ambivalenz der Unterwelt gründet. So ist es zum Beispiel möglich, die Unterwelt zur Hilfe zu rufen. Zum anderen handelt es sich um das Konzept Dantes, das die Unterwelt eindeutig als Hölle positioniert. Die heutigen Auffassungen von Untergrund stützen sich allerdings auf Vergil, und nicht mehr auf Dante. Dieser essenzielle Wandel im modernen Verständnis der Unterwelt speiste sich aus zwei Gründen und entfaltete sich auf zwei Ebenen. Auf der einen Seite entwickelte sich aus dem Ort der Unterwelt die Stadt. Mit dem Begriff „Underground“ begann sich nämlich primär die technische Infrastruktur zu verbinden: das Verkehrsnetz, die Kanalisation für den städtischen Abfall, die Leitungssysteme für Wasser, Wärme und Strom.24 Der urbane Untergrund verwandelte sich in ein komplexes soziales Netz und wurde gewissermaßen zu einer Folie der Oberfläche. Auf der anderen Seite verknüpften sich die Vorstellungen vom Untergrund auch mit neuen metaphysischen Bedeutungen – bis hin zu mysti22 Ebd. 23 Ginsburg, Carlo: Spurensicherung. In: Ders.: Spurensicherung. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Berlin 1983, S. 61–96, hier 67. – Ginsburg macht in diesem Zusammenhang auf die Beziehung zwischen Freud und Giovanni Morelli aufmerksam – und auf Morellis Interpretation des Randständigen, Unsichtbaren, Niedrigen, Infamen ganz im foucaultschen Sinne, das sich „auf Wertloses stützt, auf Nebensächlichkeiten, die jedoch für aufschlussreich gehalten werden. So lieferten Details, die gewöhnlich als unwichtig, gar trivial oder ,niedrig‘ galten, den Zugang zu den erhabensten Produkten des menschlichen Geistes“. 24 Gerade deshalb kann im Zusammenhang mit Bratislava nur von einer Latenz des Untergrunds gesprochen werden, dessen technische und soziale Struktur nur in Form von Tunneln, Bunkern, Kanalisation und Wurmfortsätzen der Metro besteht. Wobei es kein Zufall ist, dass der einzig vollendete Teil der U-Bahn das Fragment eines Depots ist, das eben nicht als ein Ort der Bewegung fungiert, sondern als Ort des Stillstandes.
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schen Erklärungen. Dieser Wandel ist vor allem mit dem Namen Fëdor Dostoevskijs und seiner Novelle Aufzeichnungen aus dem Untergrund (Zapiski iz podpol’ja) aus dem Jahr 1864 verbunden. Tomáš Glanc zufolge bedeutet Untergrund hier zwar Unterbau und Unterbewusstsein, aber beeinhaltet auch die Konnotationen Substrat (podklad), Subtext (podtext), Stimulus (podnět) und Subjekt (podmět) der späteren Prosawerke Dostoevskijs. Beim Austritt an die Oberfläche, so Glanc, nimmt der Untergrund die Gestalt des Skandalösen an, vergleichbar einer hektischen, überbordenden Rede, die als Vorbote der avantgardistischen Blasphemie verstanden werden kann. Die Existenz im Untergrund, der bei Dante noch als Zone offensichtlicher Unfreiheit gilt, wird in Dostoevskijs Novelle zum eigentlichen Zufluchtsort in die Freiheit: [D]ie Freiheit des Willens, die im Menschen sogar Revolten gegen die Moral, gegen die Rationalität, gegen das Gute zu entfachen imstande ist. Es handelt sich um ein eigentümliches, extremes Modell von Freiheit, das sich gegen seinen Träger wendet, der sich diese Freiheit im Kampf gegen die entfreiheitlichenden Mechanismen der eigenen Umgebung ertrotzte. Berďajev nannte sie die belanglose, leere Freiheit, die den Menschen verheert und zersetzt. Es scheint, als sei die ursprüngliche Heimat dieser unausweichlichen und zugleich autodestruktiven Freiheit gerade der Untergrund als Raum des Chaos, da er keiner Strategie der Regelung von außen unterliegt.25
Der Philosoph Jan Patočka widmet sich gleichfalls dieser Frage von Untergrund und Freiheit und verhandelt sie anhand eines kritischen Kommentars zu Tomáš G. Masaryks Dostoevskij-Lektüre in Über Masaryks Religionsphilosophie (1976), einem seiner letzten Texte. Patočka macht unter anderem darauf aufmerksam, dass sich der Untergrundmensch (podzemní člověk) eine „negative Freiheit“ erkämpft habe und dass die „Nichtigkeit“ (nicota) den Inhalt seines Daseins ausmache. So sei der Untergrundmensch selbstverliebt und überempfindlich, erniedrige sich selbst, um so möglichen Erniedrigungen von außen zuvor zu kommen. Er sei „ohne Eigenschaften“, ein „negativer Anonym“, der sich mit seiner verweigernden Haltung allem gegenüber selbst quäle: „Die Skepsis, in der er lebt, ist in Wirklichkeit Negation, Ablehnung der Mög25 Glanc, Tomáš: Všežravý text o bezpředmětné svobodě [Ein Allesfressertext über die belanglose Freiheit]. In: Dostojevskij, Fjodor M.: Zápisky z podzemí. Praha 1998, S. 3–6, hier 4. Quelle: http://www.sesity.net/elektronicka-knihovna/zapiskyz-podzemi.pdf (Letzter Zugriff: 24.08.2013).
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lichkeit eines vereinheitlichenden, gemeinsamen Sinnes […].“26 Während der „normale Mensch“ an der Oberfläche lebe, sei der Untergrundmensch an den Grund der Dinge gelangt. Zugleich fragt Patočka, wie er sich aus dieser Negativität befreien könne. Die Antwort darauf sucht er in der Ambivalenz von Schuld und Unschuld.27 In diesem Sinne widmet sich Patočka im Dezember desselben Jahres, kurz vor seinem Tod, in einem weiteren Text direkt der Entstehung des tschechischen Underground in Zur Sache „Plastic People of the Universe“ und „DG 307“ (K záležitostem Plastic People of the Universe a DG 307). Hier nimmt er Bezug auf die politischen Prozesse gegen die beiden Undergroundbands und ihre Mitglieder beziehungsweise Unterstützer im September 1976. Bei den Musikern handelt es sich in seinen Augen um eine Gruppe von Unschuldigen, die „von der ganzen Welt, einem ganzen Planeten in seine bösartige, oft sogar verbrecherische Konfusion verwickelt werden soll“. Patočka erzählt ausgehend von einer Dostoevskij-Erzählung, in der ein einziger sündiger Mensch die glückseligen Bewohner eines Planeten ansteckt und ins Verderben führt, eine Geschichte mit umgekehrten Ausgang: Eine Gruppe von Kosmonauten mit „gesunden Händen“ und „richtig funktionierenden Herzen und Lungen“ landet auf einem Planeten, auf dem Chaos, Betrug und Selbstbetrug herrschen: Was werden unsere Kosmonauten tun? Ich nehme an: Sie werden versuchen, diesem Chaos nicht zu verfallen und nicht einmal in Gedanken das gleiche Spiel zu spielen – das Spiel um den Himmelskörper, den Planeten; sie werden sich um ihr eigenes Leben kümmern, für dessen Inhalt, dessen „Führung“ jeder Mensch eine unveräußerliche Verantwortung trägt, die er umso mehr fühlt, je extremer er von außen bedroht wird.28
Die moderne Hölle als Ort des Leidens gerade der Unschuldigen setzt auch der Dante-Kenner, Romanist und Slowakist Jozef Felix in einen direkten Bezug zur Situation des Underground, und zwar mit Blick auf den Erzählband Die letzte Sache (Posledná vec) von Leopold L ahola. Der Band war zwar 26 Patočka, Jan: Kolem Masarykovy filosofie náboženství [Über Masaryks Religionsphilosophie]. In: Ders.: Dvě studie o Masarykovi. Toronto 1980, S. 69–135, hier 87. 27 Ebd., S. 86–87 u. 96–97. 28 Ders.: Zur Sache „Plastic People of the Universe“ und „DG 307“. In: Ders: Kunst und Zeit. Kulturphilosophische Schriften. Hg. v. Klaus Nellen und Ilja Srubar. Stuttgart 1987, S. 503–506, hier 504.
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erst 1968 publiziert worden, aber schon in der zweiten Hälfte der 1940erJahre innerhalb der Literatur der „existenziellen Imagination“ entstanden:29 Um welche Hölle geht es hier? Sicherlich nicht um die dantesche Hölle. In diesem infernalischen Universum gibt es keine spukhaften gotischen Teufel, keine symmetrischen Kreise und auch keine Sünder. Im Gegenteil, diese laholasche Hölle ist im Unterschied zur Hölle, auf die wir in uralten religiösen Vorstellungen stoßen, ein Ort der Leiden der Unschuldigen, allerdings unschuldig nur in dem Maße, wie wir alle unschuldig sind.30
Damit schließt sich der Kreis. Der Topos des Untergrunds musste drei Zyklen der Transformation durchlaufen. Er durfte erstens nicht mehr als unausweichliche Hölle der Unterwelt gelten. Er musste sich zweitens in einen Raum verwandeln, der um Hilfe angerufen werden kann. Und er durfte drittens nicht länger als Ort einer rein negativen, radikalen Freiheit der Schuldigen wahrgenommen werden, wo die Nichtigkeit gleichsam der Enge des Unten innewohnt. Dies ist der Weg von der Unterwelt zum Untergrund und vom Untergrund zum Underground.
Underground als Alternative oder Normalität? Gertraude Zand unterscheidet in der tschechischen Kultur nach 1945 zwischen „Untergrund“ und „Underground“. In gewissem Maße entspricht das dem späteren Vergleich des Lebensstils der tschechischen Generation um die Edice Půlnoc (Edition Mitternacht) mit dem amerikanischen Underground, wie es Egon Bondy formulierte.31 Zand betrachtete den tschechischen Underground nur innerhalb der 1970er- und 1980er-Jahre und begründete das 29 Der Begriff „existenzielle Imagination“ stammt von Papoušek, Vladimír: Existencialisté. Existenciální fenomény v české próze dvacátého století [Existenzialisten. Existenzialistische Phänomene in der tschechischen Prosa des 20. Jahrhunderts]. Praha 2004, S. 9. 30 Felix, Jozef: Nad novelami Leopolda Laholu [Zu den Novellen von Leopold Lahola]. In: Literárne križovatky. Bratislava 1991, S. 107–116, hier 112 (Kursiv setzung nicht im Original). – Zur existenziellen Linie in der slowakischen Literatur, insbesondere zu Július Barč-Ivan, siehe Vanovič, Július: Cesta samotárova [Des Eigenbrötlers Weg]. Martin 1994. 31 Zand, Gertraude: Totaler Realismus und Peinliche Poesie. Tschechische Untergrund-Literatur 1948–1953. Frankfurt am Main 1998, S. 153.
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damit, dass der Begriff „Underground“ in Amerika erst in den 1960er-Jahren aufkam. Auf den amerikanischen Underground berief sich die tschechische Szene der 1970er- und 1980er-Jahre dann auch tatsächlich. So orientierte sich die Rockband The Plastic People of the Universe unter anderem an der amerikanischen Gruppe The Velvet Underground und berief sich auf Charles Bukowskis Notes of a Dirty Old Man von 1969. Ivan Martin Jirous verwies 1975 in seinem Manifest Bericht über die dritte tschechische musikalische Wieder geburt (Zpráva o třetím českém hudebním obrození) dagegen auf M arcel D uchamp und dessen Ausspruch: „Der große Künstler von morgen wird in den Underground gehen.“32 Rückblickend – aber noch ganz diesem amerikanisch-tschechischen Zeitgeist verbunden – antwortete der Undergrounddichter Andrej S tankovič auf die Frage, warum die Tschechen ihre Dissidenten nicht mögen würden: Weil wir Schweine sind. […] Schweine sind wir deshalb, weil wir die Regeln des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht respektieren, die da lauten: Unterscheide dich nicht. […] Das Dissidententum ist mehr eine Nebenerscheinung dieses Sich-Unterscheidens, vermutlich würde es sich nicht groß daran stören, wenn sich der Mensch nicht unterschiede. Es gibt nämlich auch Fälle von Dissidenten, die sich nicht unterscheiden, und damit ist dann alles wieder in schönster Ordnung.33
Als Stankovič über die Dissidenten sprach, traf er mit seiner Antwort den Nerv des Begriffes „Underground“. Der Dissens nämlich stellte für ihn nur die zitierte „Nebenerscheinung“ dar, und sei von der „normalisierten“ Gesellschaft der 1970er- und 1980er-Jahre auch genauso wahrgenommen worden. Der Underground hingegen war Ausdruck lebensweltlicher Unangepasstheit an die institutionell etablierte Kultur. Humorvoll, aber nicht ohne eine 32 Jirous, Ivan Martin: Pravdivý příběh Plastic People [Die wahre Geschichte der Plastic People]. Praha 2008, S. 11. – Duchamp spielte auch eine große Rolle im Schaffen des tschechischen Kunsttheoretikers Jindřich Chalupecký, in dessen Programmatik Jana Ševčíková und Jiří Ševčík Parallelen zum Underground feststellten: Ševčíková, Jana/Ševčík, Jiří: Mapování Východu. Příběhy programů a manifestů [Die Kartierung des Ostens. Zur Geschichte der Programme und Manifeste]. In: Dies.: Texty, tranzit. Hg. v. Terezie Nekvindová. Praha 2010, S. 361–372, hier 369. 33 Interview von Petruška Šustrová mit Stankovič, Andrej: Bourání posvátných krav je součástí naší každodenní řeznické práce [Das Zerlegen der heiligen Kühe ist Teil unserer täglichen Metzgerarbeit]. In: Revolver Revue 33 (1997), S. 309–324.
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gewisse Bitterkeit, beschreibt auch Ivan Klíma diesen Unterschied zwischen den Autoren des Dissens und des Underground: Einige Tage später fand bei uns ein weiteres interessantes Treffen statt. Außer den üblichen Freunden lud ich auch Mitglieder des Underground ein, die wie wir verboten waren und die selbstverlegten Hefte Vokno sowie Revolver Revue herausgaben, dazu noch die maschinenschriftliche Edition Popelnice. Ich dachte, dass wir zwar unterschiedliche Vorstellungen von Literatur haben würden, aber dennoch ein gemeinsames Interesse, nämlich frei publizieren zu können. Aber es ging dann um etwas vollkommen Anderes. Unsere Gäste beschuldigten uns, dass wir offizielle Autoren geblieben waren, genauer gesagt: offiziell verbotene. Und nun würde es uns allein darum gehen, das verlorene Prestige zurückzugewinnen. […] Im Unterschied zu uns, blieben sie immer am Rande, denn sie waren einzig an einer authentischen Kunst interessiert, und nicht an irgendeinem Konsumprodukt, das allein wegen irgendeiner offiziellen Dämlichkeit verboten worden war.34
Die Widersprüche innerhalb des tschechischen Underground dauern im Grunde bis heute an. Drei grundlegende Problematiken lassen sich identifizieren: Als erstes formulierte 1975 Ivan Martin Jirous seinen heute schon klassischen Bericht über die dritte tschechische musikalische Wiedergeburt. Den Underground begreift er hier als eine Tätigkeit von Künstlern, die „sich bewusst kritisch gegenüber der Welt abgrenzen, in der sie leben“: Sie haben begriffen, dass „sich innerhalb der Legalität nichts verändern lässt, und sie streben es noch nicht einmal an, in die Legalität zu treten“: Kurz gesagt, der Underground ist eine Aktivität von Künstlern und Intellektuellen, deren Werk für das Establishment unannehmbar ist, und die in dieser Unannehmbarkeit nicht leidend und passiv sind, sondern sich mit ihrem Werk und ihrer Haltung um die Destruktion des Establishments bemühen.35
34 Klíma, Ivan: Moje šílené století II [Mein verrücktes Jahrhundert II]. Praha 2010, S. 342–343. 35 Jirous, Ivan Martin: Bericht über die dritte tschechische musikalische Wiedergeburt. In: Utopien und Konflikte. Dokumente und Manifeste zur tschechischen Kunst 1938–1989. Hg. v. Jiří Ševčík und Peter Weibel. Ostfildern 2007, S. 246– 248, hier 248. – Jirous verwendet den Begriff der „Nationalen Wiedergeburt“ nicht zufällig, auch wenn er bei ihm einen ironischen und selbstironischen Anstrich
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Jana Ševčíková und Jiří Ševčík betonen in diesem Zusammenhang den chiliastischen Geist des Underground, der in seinem Widerwillen gegen „die formelle wie populäre Kultur eine lebendige Kultur aufrecht erhielt, und zwar innerhalb der wohl deprimierendsten Situation des sich formierenden Regimes“.36 Petr Placák entfaltet in seinem Nekrolog auf Jirous ein davon abweichendes Konzept von Underground, den er nicht etwa als Alternative begreift, sondern als das, was in der zeitgenössischen Kultur normal war: „Stand es denn mit dem Underground nicht etwa genau umgekehrt? An der Peripherie – der kulturellen, geistigen, intellektuellen und schließlich auch politischen – stand das Establishment.“ Placák verweist darauf, dass gerade diejenigen, die die kulturelle Kontinuität aufrecht erhielten, der Verfolgung durch die Kommunisten ausgesetzt waren. Er betrachtete den Underground als normal im Sinne von zentral – und eben nicht als periphere Erscheinung.37 Martin Putna wählt indes eine dritte Sicht auf den Underground, indem er das Archetypische des Undergroundgeistes betont und in diesem Zusammenhang über die Heiligentradition nachdenkt: über den „Narren in Christo“ als Spezifikum eines Typus des russischen „Jurodivyj“. Der Begriff selbst wurde vom Apostel Paulus im ersten Brief an die Korinther verwendet. Putna führt aus, dass das heilige Moment des byzantinischen „Narren in Christo“ gerade „in der Störung jener gewohnheitsmäßigen, bürgerlichen Gesellschaftsnormen, in der ausgestellten Provokation, im schon aggressiven Attackieren ordentlicher „bourgeoiser“ Christen basiert“. Er zeichnet die Entwicklung nach, wie das Motiv, vor allem durch das Wirken von Franziskus von Assisi, seinen explizit kirchlichen Kontext zu verlassen begann: bekommt. Mit ihm verweist er auf eine der wirkmächtigsten Traditionen der modernen tschechischen Kultur. 36 Ševčíková/Ševčík: Mapování Východu (wie Anm. 32), S. 369. 37 Placák, Petr: Magor na bílém koni [Magor auf weißem Pferd]. In: Lidové noviny vom 19.11.2011, S. 12. – Ähnlich formuliert dies Mirek Vodrážka, der die Entstehung des tschechischen Underground Anfang der 1970er-Jahre als integrale Antwort auf die falsche Dichotomie „privat“ und „öffentlich“ verstand, die für ihn ein Phänomen der damaligen sozialen Schizophrenie war. In: Vodrážka, Mirek: Manifest existenciálních dějin [Manifest der existenziellen Geschichte]. Praha 2011, S. 95. – In seiner Rezension des Buches Untergrundarbeit (Podzemní práce, 2012) von Viktor Karlík zeigt auch Tomáš Pospiszyl die Problematik des jirous schen (wie des karlíkschen) Undergroundkonzeptes im Unterschied zum placákschen Zugang auf: Pospiszyl, Tomáš: Underground po dvaceti letech [Underground zwanzig Jahre danach]. In: Lidové noviny vom 01.07.2012, S. 8.
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Den Archetypus des Jurodivyj erfüllten die französischen poètes maudits ebenso wie die amerikanischen Beatniks – und von diesen wiederum führt der Weg geradezu in den tschechischen Underground und zu Magor. Zu demjenigen, der um ein „eigenes Tor zum Himmel“ bat. Zu demjenigen, der sich anstelle seines Namens Jirous den Beinamen „Magor“ gab.38
Putna macht hier auf die Verknüpfung von Heiligkeit und Obszönität aufmerksam, die kennzeichnend für einen Teil der tschechischen Undergroundpoesie sei, wie er anschließend erläutert: Der Impuls, der die tschechischen Undergroundler zur Religiösität geführt hat, ist einerseits derselbe wie bei den Dissidenten. Also die Suche nach einer intellektuellen wie geistigen Alternative zum ausgebrannten Sozialismus – und andererseits ein von den Dissidenten verschiedener. Es handelt sich um das Gefühl, dass gerade das gewisse „Verweilen“ am Rand, der gewisse anstößige Lebensstil schon in sich eine „verdrehte Heiligkeit“ darstellen, aus der erst der Ruf nach einer „wirklichen“ Heiligkeit kommt. Dass derjenige, der ein „Sünder“ ist, schon qua seiner Sündhaftigkeit zum potenziellen Verteidiger, ja potenziellen Heiligen wird. Und weiter – dass der „Sünder“ und der „Heilige“ auf einer noch weitaus tieferen Ebene miteinander zusammenhängen, dass die manifeste, ja ausgestellte Sündhaftigkeit ein Ausdruck verdeckter Heiligkeit sein kann …39
Wichtig ist an dieser Stelle die auf den Kopf gestellte Beziehung zwischen einer manifesten Obszönität und einer latenten Heiligkeit, die gewissermaßen das Gegenteil der ostentativen ideologischen Heiligkeit der offiziellen Kultur und ihrer verborgenen Obszönität darstellt. Für die Undergroundliteratur gilt allgemein, was Melvin Woody in Berufung auf Ernst Cassirer feststellt: „Cassirer points out that although the forms of mythic thinking eventually yield to more strictly logical forms of thought in the course of history, those same principles reappear in a new freer medium of expression – as lyric poetry.“40 Die Logik der Sprache führt Woody zufolge zur Ungenauigkeit des 38 Putna, Martin C.: Magorova zvláštní brána [Magors Wundertor]. In: L idové noviny vom 12.11.2011, S. 21–22, hier 22. 39 Ders.: Václav Havel. Praha 2011, S. 168. 40 Woody, Melvin J.: The Unconscious as a Hermeneutic Myth. A Defense of the Imagination. In: Imagination and its Pathologies. Hg. v. James Phillips und James Morley. Cambridge, MA 2003, S. 187–208, hier 199.
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Ausdrucks, so dass es die Hinwendung zur Poesie, zur Dichtung brauche, und handle es sich auch „nur“ um eine Poetik des Obszönen oder des Fluchens. Diese Feststellung gilt in vollem Maße für die Texte von Ivan Martin Jirous und A ndrej S tankovič, von denen aus die Wege zum slowakischen Underground der 1970er- und 1980er-Jahre führen. In diesem Zusammenhang ist die Überlegung von Beata Jablonská von Bedeutung, die sich mit den Fotografien Jan Ságls beschäftigte, der die Aktionen des tschechischen Underground dokumentierte. Jablonská gibt auch eine Antwort auf die Frage, warum der Underground in der slowakischen Literatur einen eher latenten Charakter aufwies: [Die Fotografien von Ságl] sind in erster Linie Aufzeichnungen von Konzerten, Vernissagen, Happenings, Theaterstücken, Tanzveranstaltungen, Privatfeierlichkeiten, die immer geplant waren und vom Publikum als inszeniertes Ritual oder Fest verstanden wurden. […] Letztendlich zeigt sich auch heute, dass es nicht etwa die Musik war, sondern gerade die verschiedenen Formen der Aktionskunst die Grundlage bildeten für eine Zusammenführung verschiedener Interessengruppen der damaligen Alternativkultur. Sie verliehen darüber hinaus dem Ganzen den Charakter eines geheimnisvollen Mysteriums; zusammen mit der Verfolgung und den Haftandrohungen verstärkten sie durch Mund-zu-Mund-Propaganda ihre Popularität unter den jungen Anhängern, und bis heute überleben sie als mythische Ereignisse jener Zeiten.41
Im Grunde genommen geht es um das Prinzip des Mise en Scène – und im weiteren Sinne um die Idee einer Kultur der Präsenz als unabdingbarer Vo raussetzung für den Underground.42 Formen des In-Szene-Setzens von organisierten Ritualen und vorbereiteten Festivitäten charakterisierten denn auch die slowakische Alternativkultur der ausgehenden 1960er- und beginnenden 1970er-Jahre.43 41 Ságl, Jan: Tanec na dvojitém ledě. Plastic People Primitives Group [Tanz auf doppeltem Eis]. Příbram 2012. – Kerlický, Karel zitiert nach Jablonská, Beata: Ostatní [Die Übriggebliebenen]. In: SME vom 01.06.2013, S. 14. Quelle: http:// komentare.sme.sk (Letzter Zugriff: 23.08.2013). 42 Gumbrecht, Hans Ulrich: Die Präsenz. Frankfurt am Main 2010. 43 Macek, Jozef: Experimentálny film [Experimentalfilm]. In: Macek, Václav/ Paštéková, Jelena: Dejiny slovenskej kinematografie. Bratislava 1997, S. 456– 462. – So wurde z. B. der aus dieser Zeit stammende Film Tag der Freude (Deň radosti, 1972) von Dušan Hanák in den 1990er-Jahren zitathafte Grundlage für die
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Dass der slowakische Underground stark mit dem tschechischen verbunden war, zeigt zum Beispiel das ausgesprochen enge (Arbeits-)Verhältnis zwischen Andrej Stankovič, Augustín Dobrovodský und Vladimír A rchleb sowie zwischen dem Košicer Underground um Marcel Strýko und Erik Groch auf der einen,44 Egon Bondy und Jirous auf der anderen Seite. Strýko schrieb zum Beispiel mit Groch noch im November 1989 das gemeinsame Manifest Auf den Flügeln des Schweigens (Na krídlach mlčania) und äußerte rückblickend zu Bondy und dessen Roman Die invaliden Geschwister (Invalidní sourozenci), der so etwas wie ein Handbuch des Underground war, es zeige den tschechoslowakischen Untergrund mit allen seinen realen Attributen: „dem Hass der Umgebung gegen die Fremden [Undergroundler, Anm. d. A.], die es ablehnen, an der zwar dummen und tumben, dafür aber schmerzfreien Pappkultur des Establishments zu partizipieren – und dieser Hass, noch geformt und bestärkt durch die offizielle ,oberirdische‘ Propaganda, bereitete die adäquate Atmosphäre für eine moralische und später auch juristische Verurteilung der Untergrundkunst durch die Normalisierungsgesellschaft“.45 In seinem Nekrolog zu Dobrovodský zeichnete Stankovič 1999 folgendes Bild der ausgehenden 1970er-Jahre in der Slowakei: Über die Slowaken wusste man zu dieser Zeit nicht viel. Und plötzlich kam […] die Nachricht […], dass es irgendwo in der Region Kysuce die Brízgalky geben soll, irgendsoeine „zünftige“ (auf Pressburgerisch „dufte“) Undergroundtruppe aus Bratislava. […] Guter Geist der Brízgalky war Gusto (Augustín, nicht Gustáv) Dobrovodský, ein von Wind und Borovička durchgeschüttelter […] Bärtiger mit einem feinen Humor und einer solchen Neigung zur Freiheit, wie ich nur wenige gekannt habe, […] ein Autor von wunderbarer lyrischer Prosa, in der er die Absurdität unserer Zeit mit einer gewaltigen Spontaneität der Rede harmonisierte, offensichtlich aus der Erfahrung mit Happenings erworben.46 Aktion Tage der Freude – Wenn alle Züge der Welt (Dni radosti – Keby všetky vlaky sveta), die Alex Mlynarčík im Juni 1971 organisierte. 44 Über die Beziehung zwischen Groch und Jirous legt die posthum publizierte Gedichtsammlung Uloža des Letzteren ein schönes, verspätetes Zeugnis ab. Sie ist nach dem Ort benannt, wo Groch wohnt und Jirous sich lange Zeit aufhielt: J irous, Ivan M.: Úloža. Praha 2013. 45 Strýko, Marcel: Súrodenci Egona Bondyho [Die Geschwister Egon Bondys]. In: Ders.: Za vlastný život. Hg. v. Ladislav Snopko und Daniel Líška. Košice 1996, S. 163–167, hier 164. 46 Stankovič, Andrej: Nad „negatívom smútočného oznámenia“ Gusta Dobrovodského [Über das „Negativum der traurigen Bekanntgabe“ von Gusto Dobrovodský].
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Der slowakische Underground verharrte also in seiner latenten Gestalt, allerdings, so Stankovič, Jirous paraphrasierend, gelang es ihm zumeist dafür zu sorgen, dass „der Spaß nicht schwindet“.
Underground, Overground Wie verhält es sich nun zum Untergrund als Underground im Roman Geleitplan von Jana Beňová? Er beginnt mit einer typischen Plattenbauszene: Eine wirkliche Stinkbombe. In der Wohnung neben Ian und Elza wohnt ein älterer Herr. Der denkt schon jahrelang, dass Elza Ians Sohn ist. Er grüßt sie munter mit Servus und boxt ihr mitunter kumpelhaft gegen den Brustkorb.47
Elza ist eine androgyne Figur – zwar weder ein ursprüngliches, ununterscheidbares Element noch ein Kastrat,48 und auch keine gewalttätige Bedrohung des Untergrunds, aber das, was Michel Serres ein „Element der Metamorphose“ nannte, eine „transformierende Bewegung des Lebens selbst“.49 Bei Beňovás Figur kommt es noch zu einer weiteren Verwandlung: der Transponierung des Bildes vom Androgyn auf die bedeutungstragende Polysemie des Textes (nach Marcela Mikulová),50 die auch als Vollendung des Wandels von der Topografie zur Topologie und Tropologie gesehen werden kann. An dieser Figur lässt sich der Zustand der Fluktuation zwischen Homöostase und Homöorrehse erkennen:
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In: Co dělat, když Kolja vítězí. Spisy Andreje Stankoviče. Bd. 3. Praha 2008, S. 391–394, hier 392. – Mit Dobrovodský vergleichbare Lebensvaganten waren in der Slowakei neben Archleb der Dichter Tomáš Petřivý, der Künstler Igor K alný und der Musiker Pepo Schottl. Beňova: Plán odprevádzania (wie Anm. 8), S. 9: „Živá petarda. Sused, ktorý býva v byte vedľa Iana a Elzy, je starší pán. Už roky si myslí, že Elza je Ianov syn. Zdraví ju bodro servus a občas ju udrie priateľsky do hrude.“ Übers. v. Andrea Reynolds. Vgl. dazu Barthes, Roland: S/Z. Paris 1970. – Serres, Michel: Der Hermaphro dit. Frankfurt am Main 1989. – Beide Autoren widmen sich dem Problem der Androgynie auf der Basis der Erzählung Sarrasine von Honoré de Balzac, wobei Serres auf Barthes verweist. Serres, Michel: Der Parasit. Frankfurt am Main 1987, S. 294. Mikulová, Marcela: Paradoxy realizmu [Paradoxien des Realismus]. Bratislava 2010, S. 235.
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Die Homöostase erklärt die Rückkehr zum Gleichgewicht. Die Homöorrhese erklärt diese Rückkehr in der Bewegung selbst. Man muss Parastase, Umstand, für die Gesamtheit der Fluktuationen sagen, welche die Systeme aus ihrem Ruhestand entfernen; man muss Pararrhese sagen für die unwahrscheinliche, zufällige, komplexe, zerrissene, blitzartige, wie ein Flammenvorgang tanzende Bewegung, die das Leben zeigt.51
Elza und ihre Gefährten kartieren Bratislava auf einem ominösen Geleitplan, der ihre Wege zwischen Petržalka und der Altstadt aufzeichnet. Es geht ihnen um das Geleiten (odprevádzanie) des Anderen, das manchmal auch Begleitung (sprevádzanie), Auseinandergehen (rozchod) und Lebewohl (rozlučka) bedeuten kann. Bewegungen des Sich-Begleitens, Sich-Treffens und WiederAuseinandergehens sind im Text thematisch latent, tropologisch, metonymisch – in Anflügen und als Ahnung. Geleitplan weist ähnlich wie Tatarkas Die Wunderjungfrau eine gedoppelte androgyne Struktur auf. Elza kann noch am Anfang des Romans als mögliche Analogie zur jungfräulichen Anabella gesehen werden. Bald indes rückt eine weitere androgyne Figur in den Fokus: Kalisto Tanzi. Diese stellt keine Korrespondenz zum tatarkaschen untergründigen Androgyn mehr her – weder als grauenerregende Figur aus der Urtiefe noch im Sinne einer modernen Ästhetik des Sublimen, als Verflechtung des Überwältigenden mit dem Entsetzlichen in Form eines epiphanen Aufblitzens der Ehrfurcht. Kalisto Tanzi ist einzig tanzende Bewegung. Er stellt keine androgyne Ganzheit im eliadischen Sinne dar: ist keine uranfängliche Verbindung von Gegensätzen, kein Mysterium des Allumfassenden, in dem sämtliche Möglichkeiten enthalten sind. Er kann vielmehr als geschlechtslose tanzende Travestie angesehen werden, wie es dem Namen „Kalisto“ schon eingeschrieben ist, der zweierlei bedeuten kann. Auf der einen Seite bezeichnet er Kuscheltiere oder Plüschhandpuppen (bábka-maňuška), auf der anderen einen der galileischen Monde des Jupiters, benannt nach einer Geliebten von Zeus, der Nymphe Kálliste, was so viel wie die „Schönste“ bedeutet. Gleichzeitig verweist der Name auf ein Sternbild, das nach der Nymphe „Kallisto“ benannt wurde und verdeckt unter dem Großen Bären zu finden ist.
51 Serres: Der Parasit (wie Anm. 49), S. 295.
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Beňovás Figurenkonstellation stellt eine Travestie-Transvestie dieser Form der Astro-Mythologie dar: Sie kombiniert dessen Elemente des „weiblichen“ Plüschtiers nach dem Vorbild der schönen Kálliste und des „männlichen“ Mondes Jupiter, dessen Kern aus Eis und Stein besteht. Dieses Kombinationsverfahren markiert ihre gesamte Prosa. So trägt das erste Kapitel in Geleitplan den Titel Petržalka – Galapagos. Und wieder handelt es sich um eine mehrfach überschriebene ironische Travestie, die in diesem Fall intertextuell auf die Auseinandersetzung mit den Galapagos-Inseln in Literatur und Kunst zugreift. Die Galapagos-Inseln als Diskursmaschine werden etwa in dem Ausstellungsprojekt Las Encantadas von Hannes Böck folgendermaßen charakterisiert: [Sie reicht] von Jahrhunderten kolonialer Freibeuterei über Darwins einmonatigem Forschungsaufenthalt im Jahr 1835, der den Anstoß zur Evolutionstheorie gab, zur künstlerischen Überformung der Landschaft in Melvilles Erzählung oder ihrer spektakulären Aufbereitung als post-apokalyptisches Paradies in Antonin Artauds 1931 publiziertem imaginären Reisebericht Galapagos. Les îles du bout du monde bis hin zur Sublimierung der Landschaft in der ökologischen Naturromantik und touristischen Ursprungsfantasie der Gegenwart.52
Beňová dient innerhalb dieses Intertextes konkret der Roman Galápagos von Kurt Vonnegut als zentrales Vorbild – eine Satire über die Mutation des Menschen.53 Vonnegut lässt eine Truppe von Schiffbrüchigen, die einem lokalen Kriegskonflikt entfliehen, auf den Galapagos-Inseln stranden, während der Rest der Welt im Kriegschaos versinkt. Auf der Insel kommt es zu allerlei Evolutionssprüngen und Mutationen, unter anderem entwickelt sich der Mensch zu einem androgynen Wasserwesen und verweist damit auf den Ursprung der thalassalen Regression. In Beňovás Prosa geht es nicht um eine planetarische Apokalypse, sondern um das „globale Piepen im lokalen Aquarium“ (Alfrun Kliems) und zugleich um die Mutation vom homo petržalkensis zum lievanec beziehungsweise „Pfannkuchengesicht“ – eine unausweichliche Mutation auf der PlattenbauInsel:
52 Kernbauer, Eva: Hannes Böck. Quelle: http://www.galeriekrobath.at/archiv/1209-2012_b/ (Letzter Zugriff: 17.08.2013). 53 Vonnegut, Kurt: Galapagos. New York 1985.
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Ein Pfannkuchengesicht stieg in den Bus ein. Der Typ streckte seine fetten tätowierten Arme vor mir aus. Ich schloss lieber die Augen. Damit ich nicht die in Flammen dahingalloppierenden Figuren ansehen musste, und nicht das Pfannkuchengesicht, gerahmt von der Landschaft mit Mond draußen vor dem Fenster. […] Pfannkuchengesichter sind Anhänger des Totenkultes. Kahlgeschorene Schädel sind ein Zeichen für die Nekrophilie. Sie können all das nicht ausstehen, was ans Licht will, was sprießt, was hervorquillt, was sich durch die Schale hindurchbricht. Ihnen imponieren nackte leuchtende Knochen, Schädel, reines Kalzium. Die Haare der Pfannkuchengesichter bekommen erst unter der Erde ihre Chance. Dann sprießen sie erstmals schüchtern wie Flaum aus den Schädeln.54
Veränderungen und Mutationen wie diese sind parasitäre Strategien;55 Serres zufolge sind sie ambivalent, denn schließlich kann sich der Gast in den Gastgeber verwandeln, ist die Bedeutung von l’hôte eine doppelte – Gast wie Gastgeber: „Der Gastgeber kann wiederum der Gast eines anderen Systems sein, von dem er zehrt. Insofern versteht Serres das parasitäre System als ,kaskadenförmig parasitär‘, das hierarchische Ketten von parasitären Beziehungen und auch Para-Parasiten aufweist“, erklärt Sabine Fabo in ihrer Einführung in den Band Parasitäre Strategien.56 Die Ambivalenz von Veränderung und Mutation verbindet für Serres den Topos des Androgynen mit dem des Parasiten.57 Kaum anders ist es auch in 54 Beňova: Plán odprevádzania (wie Anm. 8), S. 13–14: „Do autobusu nastúpil lievanec. Vystrel prede mňa svoje tučné potetované ramená. Radšej som privela oči. Aby som sa nemusela pozerať na tie postavy cválajúce v plameňoch, na lievancovu tvár orámovanú mesačnou krajinou za oknom. […] Lievance sú vyznávačmi kultu smrti. Holé lebky sú znamienkom nekrofílie. Neznášajú všetko, čo sa derie na svetlo, všetko, čo raší, vyviera, prediera sa zo škrupiny. Imponuje im holá žiariaca kosť, lebka, čistý vápnik. Vlasy lievancov dostanú šancu až pod zemou. Vtedy prvykrát nesmelo ako páperie vyklíčia z lebiek.“ Übers. v. Andrea Reynolds. 55 Fabo, Sabine: Parasitäre Strategien. Einführung. In: Kunstforum International 185 (2007), S. 46–59, hier 52. – Fabo verweist u. a. auf die Publikation: Virus! Mutationen einer Metapher. Hg. v. Ruth Mayer und Brigitte Weingart. Bielefeld 2004, S. 11. 56 Fabo: Parasitäre Strategien (wie Anm. 55), S. 50. – Fabo beruft sich im Folgenden auf Jacques Derrida, für den diese doppelte Bedeutung allein auf dem Prinzip des Parasitären basiert. Derrida, Jacques: Die Signatur aushöhlen. Eine Theorie des Parasiten. In: Eingriffe im Zeitalter der Medien. Politik des Anderen I. Hg. v. Hans Peter Jäck und Hannelore Pfeil. Bornstein/Rostock 1995, S. 29–41. 57 Serres: Der Hermaphrodit (wie Anm. 48), S. 50.
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der Prosa Beňovás, die durch eben diese ambivalente Fluktuation charakterisiert wird. Beňová beruft sich hierbei auf den Theaterregisseur und -theore tiker Richard Schechner und dessen „Kultur der Präsenz“. Und bezieht diese auf die Stadttopik, die einen wichtigen Teil ihrer Prosa bildet, wenn sie formuliert: Ritzen sind Orte, wo alle Alternativität erblüht, erblüht und sich von den Abfällen ernährt wie die Schaben. Ritzen […] durchziehen die wirklichen und konzeptionellen Zentren der Gesellschaft, so wie Spalten in der Erdkruste. Ritzen sind Orte, wo man sich verbergen kann; vor allem aber verweisen sie auf den Bereich des Instabilen und der Störung sowie auf mögliche radikale Veränderungen in der gesellschaftlichen Topografie. Im urbanen Raum können verlassene Plätze, die von der Zivilisation noch nicht geprägt sind, immer auch von Einzelnen und kleinen Gruppen geformt werden. Ritzen finden sich Schechner zufolge auch in großen, ganz und gar glatten Unternehmen, wie zum Beispiel in Korporativen und Universitäten. „Ritzen-Phänomene“ ändern einen bereits existenten Raum – die Viertel, die Straßen, die Städte, die Menschen – nicht etwa plötzlich, so wie wenn „Bulldozer ein neues Kulturzentrum ankündigen“, sondern schrittweise, unauffällig, infiltrierend.58
Nun ist Petržalka wahrlich keine Galapagos-Insel – und liegt Engerau schon lange nicht mehr im Auenwald. Pressburg, Pozsony, Prešporok – verwandelten sich in Bratislava; Engerau in Petržalka; Petržalka in eine labyrinthische Plattenbausiedlung. Für Jana Beňová ist Bratislava aber vor allem eine imaginäre 58 Beňová, Jana: Načo sú mi všetky tie peniaze? [Was soll ich mit all dem Geld?]. In: SME vom 05.03.2010, S. 29. Quelle: http://komentare.sme.sk (Letzter Zugriff: 23.08.2013): „Záhyby sú miestom, kde prekvitá všetko alternatívne, prekvitá a živí sa odpadkami ako šváby. Záhyby […] prechádzajú skutočnými a konceptuálnymi stredmi spoločnosti, ako praskliny v zemskej kôre. Záhyby sú miesta, kde sa dá schovať, no predovšetkým poukazujú na oblasti nestability a narušenia a na možné radikálne zmeny v spoločenskej topografii. V mestskom prostredí môžu na opustených miestach, ktoré ešte nepoznačila civilizácia, stále tvoriť jednotlivci a malé sklupiny. Záhyby podľa Schechnera nájdete aj vo veľkých, naozaj hladkých prevádzkach, ako sú korporácie a univerzity. ,Záhybové javy‘ nemenia existujúce prostredie – štvrte, ulice, mestá, ľudí – okamžite, ako ,keď buldozéry zvestujú stavbu nového kultúrneho strediska‘, ale postupne, nenápadne, infiltrovaním.“– Das Zitat basiert auf Überlegungen von Schechner, Richard: Essays on Performance Theory. New York 1977. – Schechner benutzt im Original creases, das auch Falten, Spalten, Risse, Furchen bedeuten kann. In der vorliegenden Übersetzung wurde für „Ritzen“ entschieden.
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Stadt. Ihr Figurenquartett, bestehend aus der Erzählerin Elza, deren Partner Ian sowie Rebeka und Lukas, bewegt sich unablässig im urbanen Raum. Sie sind allesamt Stipendiaten, was sie als Intellektuelle ausweist. Von dem schon erwähnten „Geleitplan“, der wie ein Puzzle aus Treffen, Abreisen, Abschieden und Toden funktioniert, werden sie durch den urbanen Raum geführt.59 Beňovas Stadtroman funktioniert wie eine doppelte Kartografie: In ihr gibt es die labyrinthische Welt zwischen dem Café Hyäne auf der Bratislaver Seite und dem Zuhause in Petržalka, wobei das Hinübergehen von der einen Seite zur anderen bedeutet, die Grenze zwischen zwei Welten zu überschreiten. Den Grenzlauf bildet die Donau – eine zeitgenössische Lethe, Fluss des Vergessens aller irdischen Dinge. Die kartografische Verwandlung der städtischen Topografie in eine Topologie der Beziehungen charakterisiert Beňovás Prosa. Stadtplan und Stadtgeist sind miteinander verbunden, allerdings nur für denjenigen in Gänze nachvollziehbar, der das Bild vom urbanen Labyrinth auf der Rückseite des Buchumschlages sieht, wo sich eine Karte der Illustratorin Jana Némethová zum Text befindet, darauf neben den eingezeichneten Wegen der Protagonisten auch das eingangs erwähnte Manifest der Vier. Petržalka kann man also auch in der Prosa nicht entfliehen; die Siedlung funktioniert wie eine Diskursmasche lokalen Formats, wie ein Alltagslabyrinth, in dem sich jeder zurechtfindet und aus dem deshalb so schwer zu entfliehen ist. Der Text gestaltet darüber Spuren einer Alltäglichkeit, denen es zwar an Kontinuität fehlt, nicht jedoch an intensiver Präsenz. Eine feuchte Welt, in der Liebe und (Kultur-)Produkte geboren werden, weil sie auch eine Welt der Reste und sprachlichen Exkremente ist. Jana Beňovas Textur ist unstet, besteht aus Knoten auf einer Gefühlslandkarte der Erinnerung. Sie nähert sich einem Punkt an, den die Autorin Inhalt nennt und der wie eine Kasse im Supermarkt piept: PIEP, PIEPIEP. Neben der Beziehung zwischen Topografie und Topologie deckt Geleitplan auch eine Beziehung zwischen dem Petržalker Untergrund und dem Undergroundcharakter der Prosa Beňovás auf, auch wenn beides latent bleibt. Im Fall von Beňovás Texten lässt sich sogar über einen Wandel vom Under-
59 Fort! Fort! (Preč! Preč!), der 2012 veröffentlichte Roman Beňovás, stellt gewissermaßen ein Supplement zu Geleitplan dar und ist im Wesentlichen ein lyrischer Bericht, in dem sich das Ahnungsvolle in Sicherheiten verwandelt: Die Gruppe zerfällt hier nun definitiv.
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ground zum Overground sprechen.60 Auch der Overground weist die für den Untergrund (etwa bei Dominik Tatarka) wichtige Doppelstruktur auf, um nochmals auf das Zitat von Serres zu verweisen: „Die Homöostase erklärt die Rückkehr zum Gleichgewicht. Die Homöorrhese erklärt diese Rückkehr in der Bewegung selbst.“ Im Overground bleibt viel von den ursprünglichen Eigenheiten des Underground erhalten, vor allem sein Begriff der individuellen Freiheit als grundlegender Eigenschaft menschlicher Integrität und existenzieller Charakteristik der freiheitlichen Kultur. Dennoch verändert sich das Konzept in grundlegenden Aspekten. Der Overground ist nämlich nicht länger eine bloße Verwirklichung der Alternative gegenüber der offiziellen, institutionellen Kultur, sondern ein parasitäres System im Sinne von Serres. Das gilt für die urbane Topografie in ihrer Position zwischen der Erde als dem Erdboden und dem städtischen Untergrund der unterirdischen Versorgungssysteme. Das gilt für die Topologie der vier Protagonisten aus Geleitplan – die als (offizielle) Stipendiaten keine Alternative zur institutionalisierten Kultur darstellen, sondern vielmehr ihren Bestandteil bilden. Und das gilt schließlich für die Tropologie der Prosa insgesamt – und ihr ironisches, travestierendes Wesen. Overground-Charakter trägt nicht nur Geleitplan von Jana Beňová, sondern auch die Prosa von Lucie Piussi.61 Ihren Erzählungen stellte Piussi folgende Widmung voran: „Stoka, unserer Mutter und allen, die sie liebten.“ Das Theater Divadlo Stoka war in den 1990er-Jahren eine alternative Schauspielstätte in Bratislava – und Piussi eine der ersten dort auftretenden Schauspielerinnen, bevor sie Frontfrau der Band Lebende Blumen (Živé kvety) wurde. Sie ist die wohl markanteste Vertreterin einer gegenwärtigen slowakischen Kunst der Präsenz. In ihrer Literatur tritt dieses Theater nicht zufällig als Ort der Handlung auf. Seine Bezeichnung geht auf Abwasserkanal beziehungsweise Rinnstein zurück, die deutschen Enstprechungen für das slowakische stoka. Und in der Tat verkörpert Stoka eine anthropologische Topografie der Stadt, weil es einen Übergang zwischen dem Unter- und dem Obergrund der Kultur schafft. Georges Didi-Hubermann verweist in seinem Essay Von der Straße und ihren Eingeweiden auf Walter Benjamins Beobachtungen städtischer Rinn60 Der Begriff overground taucht in der slowakischen Kultur nur vereinzelt auf. Die Rocksängerin Dorota Nvotová verwendet ihn z.B. für ihre Band: Overground (Slobodná Europa). 61 Piussi, Lucia: Láska je sliepka [Die Liebe ist ein Huhn]. Bratislava 2011. – Dies.: Život je krátky [Das Leben ist kurz]. Bratislava 2012.
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steige, deren Abwässer die Straße zweiteilen würden. Benjamin zufolge sollte das „Netzwerk der Abwasserschächte oder Metroeingänge, Brunnen, Arkaden, Passagen, Pissoirs und Bordelle […] wie Stationen in einer Art Hölle oder Purgatorium, das von Anachronismen und Stratifikationen aus unterschiedlichen Zeiten heimgesucht wird, erforscht werden“.62 Oder, mit A by Warburg gesprochen: „[i]n den Eingeweiden der Metro überleben die Eingeweide der Hölle, im Penner an der Straßenecke überlebt der antike Bettler“.63 Geleitplan bedeutet den Abschied vom Petržalker Aquarium im Sinne eines Textraumes, der in seiner Durchsichtigkeit gleichsam gläsern erscheint – und dennoch niemanden nach draußen oder drinnen (ent)lässt. Geleitplan formt in seiner intertextuellen Gestaltung des Motivs vom gläsernen Berg einen literarischen Raum, der gleichermaßen durchsichtig und undurchdringlich ist – wie die Mutationen des Inseltopos „Galapagos“. Zugleich beschreibt Geleitplan eine urbane Kultur der Präsenz, indem der Roman die parasitär in den Ritzen der Stadt lebenden Protagonisten-Stipendiaten verfolgt. Und Geleitplan antizipiert die künftigen Trennungen, Abschiede, Fortgänge – in eine ungewisse Freiheit, ins Freie, hinaus dem Aquarium. Geleitplan kann als melancholisches Overground-Lebewohl gelesen werden – als Abschied von einer im Latenten gründenden slowakischen Underground-Kultur. Als Abschied von deren Topografie, Topologie und Tropologie. Aus dem Slowakischen von Zornitza Kazalarska und Alfrun Kliems
62 Didi-Huberman, Georges: Von der Straße und ihren Eingeweiden. In: Ders. Ninfa moderna. Über den Fall des Faltenwurfs. Zürich–Berlin 2006, S. 67–76, hier 68–69. – H ubermann zitiert hier aus Benjamins Essay über Paris: Benjamin, Walter: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt am Main 1969, S. 185–200. 63 Aby Warburg zitiert nach Didi-Huberman, Georges: Pred časom. Dejiny umenia a anachronizmus obrazov [Vor der Zeit. Geschichte der Kunst und der Anachronismus der Bilder]. Bratislava 2006, S. 102. Im Original: Ders.: Devant le temps. Histoire de l’art et anachronisme des images. Paris 2000.
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Jáchym Topols ostmitteleuropäische Heterotopologie Memoria-Untergrund im Gedenkstätten-Thriller Die Teufelswerkstatt
Zu seinem Schreiben befragt, konstatiert der tschechische Schriftsteller Jáchym Topol, er „klebe“ an der eigenen Geschichte, womit er die Vergangenheit Ostmitteleuropas meint. Als Europäer sei er ein „Bastard“, der sich nach einem halben Leben im „Land hinter Stacheldraht“ aus dem „Trümmerfeld meldet“:1 Wir lassen uns von unseren Trümmern faszinieren, unsere widerliche ständige Begleitmusik ist das Knochengeklapper von Gerippen, die sich in verschlossenen Schränken strecken. Europa ist der Trümmerkontinent, Europa ist etwas, was war, es ist das Land der Wunden, das sich beständig mit mehr oder weniger Anstrengung und Aussicht auf Erfolg mit Narben überzieht.2
Von den Narben zu den Wunden oder hinab in den Memoria-Untergrund Von Trümmern, Knochengeklapper und Narben handelt auch Topols derzeit jüngster Roman Die Teufelswerkstatt (Chladnou zemí, 2009),3 dem als Motto „Siehe, ich trage fremde Narben, wo kommen sie her? Dorota Masłowska“ vorangestellt ist. Die Suche nach den Verletzungen hinter den Narben führt im Roman gen Osten, dorthin, wo in Europa unter dem somatischen Oberflächenphänomen der „fremden Narben“ die verdrängten eigenen Familien 1 Topol, Jáchym: Licht, Wärme, Einsamkeit. In: Erklär mir die Beitrittsländer. Gedanken aus einem erweiterten Europa: Programmbuch. Weilerswist 2004, [o. S.]. Zit. nach Ders.: Die Reise nach Bugulma [Programmheft Düsseldorfer Schauspielhaus Nr. 71]. Düsseldorf 2006, S. 43. 2 Ebd. 3 Topol, Jáchym: Chladnou zemí. Praha 2009. – Deutsche Übersetzung: Topol, Jáchym: Die Teufelswerkstatt. Übers. v. Eva Profousová. Berlin 2010.
Jáchym Topols ostmitteleuropäische Heterotopologie |
geschichten oder die ignorierten Traumata der noch immer unbekannten Nachbarn in einer Art Memoria-„Untergrund“ verborgen liegen.4 Der Roman entfaltet allerdings nicht nur die Frage nach den Wunden, er verhandelt zudem die Prozesse der „Vernarbung“, die (Un-)Möglichkeit der Wundheilung und vor allem die nachträgliche Glättung ihrer Spuren, oder weniger bildlich gesprochen: Politiken und Strategien der Erinnerung und des Gedenkens, aber auch der Verdrängung, des Vergessens sowie der Stillstellung und Zurichtung der Vergangenheit auf Konsumierbarkeit und Vermarktung. Zu diesem Zweck befreit Topol die in seiner Selbstcharakterisierung angeführten „klappernden Gerippe“ aus den „verschlossenen Schränken“ der Geschichte nicht nur metaphorisch, sondern auch buchstäblich. Denn dieser Autor schreibt keinen historischen Roman und erst recht keine faktografische Abhandlung, sondern einen auf die aktuelle Gegenwart bezogenen und (vielleicht gerade deswegen) fantastischen, ja phantasmagorischen „Gedenkstätten-Thriller“. In seinem Roman steigen die Protagonisten in den Untergrund hinab, und die dort freigelegten Toten beginnen zu sprechen. Allerdings ist längst nicht alles fabuliert, vielmehr liegen dem Roman publizistische Recherchen und eine Lesereise nach Belarus sowie ein Besuch dortiger Gedenkstätten zugrunde. Als Material dienen somit historische Ereignisse, konkrete Erinnerungsorte und real geführte Debatten um Gedächtnispolitiken.5 Mit der literarischen Bearbeitung von europäischen „Vernarbungsprojekten“ hat auch Topol Teil an einer „Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“.6 Die Teufelswerkstatt lässt sich als fiktionales Statement zu Reflexionen über konkrete Erinnerungskulturen auffassen, deren im Roman ausfantasierte Ver 4 Zu Narben im übertragenen Sinne siehe das Kapitel „Historische ,Narben‘ als Markierung von Erinnerungsräumen“ in der kulturanthropologischen Studie von Burkhart, Dagmar: Hautgedächtnis. Hildesheim–Zürich 2011, S. 86–90. 5 Zum Entstehungskontext des Romans siehe: Von der Irrenanstalt nach Europa. Jáchym Topol über die Obsession der Geschichte und den unwiderstehlichen Drang, die Kontrolleure zu provozieren. In: Osteuropa 2–3 (2009), S. 195–203, hier 201–202. 6 Astrid Erll unterscheidet in ihrer „erinnerungstheoretischen Narratologie“ fünf Modi, in denen die „Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“ ihre Ausprägung in der Literatur finden kann, betrachtet man diese als erinnerungshistorisches Medium. Topols Roman lässt sich als fiktionales Narrativ im „reflexiven Modus“ fassen, für den gilt, dass „das literarische Werk eine erinnerungskulturelle Selbst beobachtung ermöglicht“. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart–Weimar 2005, S. 168 u. 184–191.
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satzstücke unterschiedlichen Praxisfeldern der gedächtniskulturellen Identitätserzeugung entstammen. Die Sujetelemente können leicht den fünf Ebenen zugeordnet werden, die Wolfgang Kaschuba in seiner „ethnologischen Betrachtungsweise von ,Geschichtspolitik‘“ als „Transmissionsriemen für Erinnerungskultur“ unterscheidet.7 In Die Teufelswerkstatt werden als Sujet elemente sowohl öffentliche Diskurse über Erinnerung, zum Beispiel reale Diskussionen um konkrete Gedenkstätten, als auch in der Figur des Journalisten Rolf die Rolle der Massenmedien für selbige eingesetzt. Außerdem dienen topologische Konzepte und Symboliken von realen Gedächtnisorten, ob nun offizieller oder gegenkultureller Art, als Setting der Handlung. Innerfiktional werden zudem Polemiken über „Gedenkästhetiken“ und unterschiedliche Symbolpolitiken in Ost- und Westeuropa ausgefochten, und bei der grotesken Überzeichnung der unterschiedlichen Gedächtnisprojekte wird auf kanonisierte Praxen der Erinnerungsarbeit in den jeweiligen Kulturen angespielt. Nicht zuletzt übernehmen materiale Träger der Überlieferung von Geschichte, also repräsentative Schauplätze, Archivalien, Architekturen sembles, Medien wie Tonband, Fotografie oder Modell als Gedächtnisrepräsentanten für die Handlung eine wichtige Rolle. Allerdings handelt es sich bei Topol durch die fiktionale Überzeichnung um eine ziemlich despektierliche Stellungnahme zur Problematik von Erinnern und Vergessen, zu den Funktionen des Bewahrens, der Weitergabe und der Instrumentalisierung von Vergangenheit. Der Autor steht dem Heilungsversprechen „oberflächlicher“ Narben und der daran versinnbildlichten Ruhigstellung von Geschichte kritisch gegenüber („mit mehr oder weniger […] Aussicht auf Erfolg“). Sein ganz offensichtlich gedächtnismedial intendierter Roman übernimmt die Funktion eines anderen, alternativen, „untergründigen“ Erinnerungsortes. Der Roman Die Teufelswerkstatt präsentiert in seiner narrativen Textur eine Unzahl von Geschichtsmomenten, die nicht nur aus dem 20. Jahrhundert
7 Kaschuba, Wolfgang: Geschichtspolitik und Identitätspolitik. Nationale und ethnische Diskurse im Kulturvergleich. In: Die Inszenierung des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Beate Binder, Wolfgang Kaschuba und Peter Niedermüller. Köln 2001, S. 19–42, hier 24. – K aschuba sieht die Erinnerungskultur in den Diskursen einer Gesellschaft, ihren Gedächtnisorten, in den Gedenkästhetiken und -politiken, den traditionellen symbolischen Praktiken der Erinnerung und zuletzt in materialen Gedächtnisträgern verankert.
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stammen, sondern weit in die Vergangenheit zurückreichen. Er wird so selbst zu einer Gedächtnismanifestation und zu einem Teil der aktuellen ostmittel europäischen Erinnerungskultur. Allerdings hält sich der Roman nicht an die Ordnung von üblicherweise sichtbarer, offiziell sanktionierter Oberfläche und verdrängtem, bislang nicht oder bereits nicht mehr erzähltem „Untergrund“. Und er bleibt auch nicht dabei stehen, „die Schränke zu öffnen“ und den Untergrund mit seinen verborgenen „Gerippen“ ans Licht zu heben. Vielmehr wirbelt er Oben und Unten, Verstecktes und Sichtbares wild durcheinander, ohne dabei eine endgültige Lösung für den Umgang mit der Vergangenheit, die er wiederholt infrage stellt, anzubieten. Denn Die Teufelswerkstatt ist zuallererst ein fiktionaler Text mit Zügen eines grotesken Abenteuerromans. Die Suche nach den Wunden, den Opfern und Tabus wird nur en passant betrieben. Primär gestaltet der Roman eine spannende, wenn auch ungewöhnliche Quest von Stadt zu Stadt, von Erinnerungsstätte zu Erinnerungsstätte. Die im Weiteren genauer betrachteten fiktionalen Stätten und Städte sind dem Genre des „Heldenreise-Romans“ entsprechend zuerst einmal Raummomente einer horizontalen Bewegung. Die urbanen Handlungsorte liegen als (Flucht-)Punkte auf dem Weg des namenlosen Abenteurers, der sich sowohl in der Handlungsgegenwart als auch in seiner Erinnerung durch Terezín (Theresienstadt), Prag und Minsk sowie zwischen diesen Städten hin und her bewegt. Dabei erweisen sich die horizontal angeordneten Raumpunkte nicht nur als Orte des Transits, sondern als Stationen einer Flucht und darüber hinaus als temporal flüchtig. Sie sind der Umdeutung, der Zerstörung und dem Vergessen unterworfen. Dieser horizontalen Flüchtigkeit entgegen steht im Roman ein konträres Raumprinzip, eine vertikale Schichtung, die aus den flachen Raumpunkten Geschichte speichernde Städte oder genauer mehr dimensionale Memoria-Stätten macht. Wie Topol anhand dieser Memoria-Stätten, die in sich wiederum eine binäre Struktur von Oberfläche und Untergrund aufweisen, seine ostmittel europäische Heterotopologie durchspielt, soll im Folgenden untersucht werden. Um bei aller Referenz auf existierende Städte und reale Gedenkstätten nicht aus dem Blick zu verlieren, dass es sich bei Die Teufelswerkstatt um Fiktion handelt, wird die präsentierte Geschichte in einem ersten Abschnitt etwas ausführlicher umrissen. Der zweite Abschnitt stellt dann den erzählenden Protagonisten in seinem systematischen Verhältnis zur Stadt und den Stätten vor. Im letzten Abschnitt werden schließlich die beiden im Roman ausfantasierten Formen des an die Oberfläche katapultierten Memoria-
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Untergrunds in zwei Kapiteln („Die Gefängnisse und ihre Spiele“ und „Die Museen und ihre Puppen“) genauer analysiert.
Die Geschichte des Gedächtnisträgers: Von Flucht zu Flucht Topols Protagonist, ein „Experte für die Revitalisierung von Gräberstätten“,8 erzählt von Abenteuern, die vor allem eines sind – eine immer aufs Neue misslingende Flucht. Der namenlose Erzähler ist ein Vertreter der letzten tschechoslowakischen Generation und nun, zu Beginn des neuen Jahr tausends, in den besten Jahren. Als später Sohn einer KZ-Überlebenden und eines tschechischen Kindersoldaten der Roten Armee wächst der Junge in der ehemaligen Garnisonsstadt Terezín auf.9 Seine erste, reale Flucht führt aus der Umklammerung der phobischen Mutter zu Onkel Lebo, einem kurz vor der Befreiung des Lagers geborenen Juden. Unter seiner Anleitung verbringt der Erzähler die Kindheit in den Ruinen des ehemaligen Konzentrationslagers Theresienstadt mit der spielerischen Suche nach Spuren der dort Internierten. Weitere Fluchtversuche, diesmal aus militärischen Lehranstalten, bringen den autoritären und systemkonformen Vater gegen den Jungen auf und enden im Unfalltod des Erzeugers, an dem der Protagonist nicht ganz unschuldig ist. Dieser mehr oder weniger ungewollte „Vatermord“ führt den Erzähler nach Prag, in das berüchtigte Gefängnis von Pankrác. Dort geht er dem Henker nicht nur bei der Entwicklung eines Ego-Shooters, sondern auch bei dessen eigentlicher Tätigkeit zur Hand. Erst die Abschaffung der Todesstrafe und der Systemwechsel bescheren ihm die dreckig erarbeitete Entlassung in ein neues Land, das er nicht mehr wiedererkennt. Zurück in Terezín stellt er seine erworbenen IT-Kenntnisse Onkel Lebo zur Verfügung, der sich in einem grotesken Kampf um den Erhalt der Stadt mit den Behörden und der offiziellen Gedenkstätte angelegt hat. Gemeinsam mit jungen Frauen aus der ganzen Welt, die für den Erzähler die eigent 8 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 108: „Er wird dich als ausländischen Experten begrüßen. – Als Experten wofür? – Für die Revitalisierung von Gräberstätten.“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 76: „Přivítá tě jako zahraničního odborníka. – Na co? – Na revitalizaci pohřebišť.“ 9 Im Weiteren wird von Terezín und Theresienstadt die Rede sein, wobei mit Ersterem die tschechoslowakische und heute tschechische Stadt bezeichnet ist, mit Letzterem die historische Festung Theresienstadt, das darin errichtete Lager sowie die heutige Gedenkstätte.
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liche, wenn auch uneingestandene Motivation für sein Engagement in Sachen Kommemoration darstellen, initiieren die Terezín-Kämpfer ein Revitalisierungsprogramm für die bereits aufgegebene Festungsstadt, mit finanzieller Hilfe eines immer größer werdenden Kreises von Sponsoren. Als der Streit der unterschiedlichen Erinnerungsprojekte in Terezín zu eskalieren beginnt, wird es Zeit für die nächste Flucht. Denn der Erzähler, den die devianten „Mentalos“,10 die Bewohner der Terezíner Unterwelt, noch immer „Kapo“ nennen,11 fürchtet nichts mehr, als erneut ins Gefängnis zu kommen und mit seiner dortigen Vergangenheit konfrontiert zu werden. Um seine Spuren zu verwischen, setzt er Terezín in Brand und flieht nach Belarus, um dort sein erworbenes Know-how den Entwicklern einer nationalen Gedenkkultur zur Verfügung zu stellen. Diese Mission erweist sich allerdings als völlig undurchsichtig. Der Experte in Sachen Gedenken gerät in eine Schlacht zwischen Opposition und Präsidenten-Anhängern um die Macht – auch über die Geschichte. Ein weiteres Mal muss er die Flucht ergreifen. Allerdings sind seine Fluchtgefährten ebenfalls gefährlich und schnell wird ihm klar, dass er ein Gefangener einer Partisanengruppe ist, die dem Fremdenverkehrsministerium untersteht. Sie soll mit seiner Hilfe in den weißrussischen Wäldern unter dem Projektnamen „Teufelswerkstatt“ einen Geschichtspark des Totalitarismus errichten. Mit der „europäischen Gedenkstätte des Genozids“ will die Behörde die weißrus sische Opfer-Geschichte auf zynische Weise für ihr nationales Branding und ein History-Marketing einsetzen. Als radikales Revitalisierungsprogramm von Vergangenheit verspricht dieser „Jurassic Park des Grauens“ der touristische Exportschlager des Landes zu werden.12 Denn hier, in der Leerstelle des 10 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 33. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 23. 11 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 87 – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 61. 12 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 147: „Besucht die europäische Genozid-Gedenkstätte, die Teufelswerkstatt!, brüllt Artur weiter und gießt Wodka in die Becher. Haben wir etwa ein Meer? Oder Berge? Sehenswürdigkeiten? Nein, alle Sehenswürdigkeiten wurden niedergebrannt. Daher bauen wir in Weißrussland einen Jurassic Park des Grauens, ein Freilichtmuseum des Totalitarismus. Mit Säcken voller Knochen und Bündeln voller Eiter und Blut werden wir es auf die globale Landkarte schaffen. Gut, oder? Das wird der Knaller, nicht? Was meint ihr?“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 102: „Navštivte evropský památník genocidy, Ďáblovu dílnu, hlaholí dál Artur a rozlévá vodku do kalíšků. Máme my snad moře, hory, památky? Ne, všechny památky byly spálený. Vybudujeme teda
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vollständig zerstörten Chatyn’, sollen Zeitzeugen ausgestellt werden, die als unfreiwillig mumifizierte Exponate ihre oral history unendlich oft vom Tonband wiederholen. Doch wieder eskalieren die Ereignisse, der Erzähler legt ein weiteres Mal Feuer und begibt sich erneut auf die Flucht. Obwohl auch sie nur beim nächsten Gräberfeld endet, scheint es diesmal einen Ausweg zu geben, allerdings liegt dieser jenseits aller urbanen und Erinnerungsräume – doch zunächst einmal zurück zu diesen Städten/Stätten und dem Verhältnis, das der Erzähler zu ihnen pflegt.
Der erzählende „Gedächtnisträger“ und die Stadt „Ich hau ab nach Prag“ – so setzt der Roman ein. Gleich zu Beginn taucht hier die Stadt als emblematischer Ort einer am Urbanen ausgerichteten Raumordnung auf. Doch das urbane Zentrum ist nur ein vorläufiges Ziel, „zum Flughafen“13 heißt es weiter. Die Stadt ist in diesem Roman, anders als in Topols Stadttexten Ausflug zur Bahnhofshalle (Výlet k nádražní hale, 1993), Die Schwester (Sestra, 1994) und Engel Exit (Anděl, 1995), nicht der ausschließliche Ort des Geschehens, sondern eine Station unter weiteren auf dem Weg des Erzählers in ein „fantastisches Belarus“.14 Der Weg endet schließlich im imaginären „Osten“ einer kollektiven europäischen Mental Map, im Nichts der weißrussischen Wälder. Trotz der erzählten Bewegung und obgleich mehrere Städte relevante Handlungsorte darstellen, gehört die in diesem Roman berichtende und räsonierende Stimme keinem Flaneur – ein Befund, den auch Darina Poláková in ihrem Beitrag zu Topol in diesem Band für Ausflug zur Bahnhofshalle und dessen Erzähler konstatiert. Anstelle des Mnemotechnikers der Moderne,15 v Bělorusku Jurský park hrůzy, skanzen totalit. Dostaneme se na mapu světa díky pytlům našich kostí, rancům krve a hnisu. Dobrý, ne? To potáhne, ne? Co říkáte?“ 13 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 9. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 7: „Zdrhám do Prahy na letiště.“ 14 Den fiktionalen und fantastisch überzeichneten Charakter seiner Ortskunde betont der Autor in einem Interview (01.05.2009): Prokof’eva, Katerina: Razgovor naprjamuju – Fantastičeskaja Belarus’ Jachima Topola [Das persönliche Gespräch – Das fantastische Belarus von Jáchym Topol]. Czech Radio 7/Radio Prague. Quelle: http://www.radio.cz/ru/statja/115780 (Letzter Zugriff: 16.06.2012). 15 Zum Flaneur als Mnemotechniker siehe Benjamin, Walter: Die Wiederkehr des Flaneurs. Gesammelte Schriften. Bd. 3. Frankfurt am Main 1981, S. 194–199, hier
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der fasziniert die Stadt und ihre historischen Einschreibungen auf seinen Begehungen entziffert, erzählt in Topols Roman ein verwirrter und verirrter Vertreter der postsozialistischen Gegenwart Ostmitteleuropas von flüchtigen Begegnungen mit der Stadt, von Konfrontationen mit „toten“ Städten und mit Stätten von Toten. Dieser postmoderne Gedächtnisspezialist ist ein geistig ziemlich beschränkter, dafür aber bewusstseinserweiternden Stoffen zugetaner, beständig begehrender und von der Sehnsucht nach einer vormodernen, ruralen Existenz als Ziegenhirt geplagter Pseudo-Experte für computergestützte Gedenkstätten-PR. Städte nehmen ihn zwar immer noch gefangen, aber in einem durchaus wörtlichen Sinne. Wiederholt wird er in den Städten gewaltsam festgehalten, und so muss er sich nicht zuletzt deshalb durch Flucht aus den ihm feindlichen urbanen Räumen befreien. Für den doppelten „Hinterwäldler“, der aus der Provinz und aufgrund des jahrelangen Gefängnisaufenthalts zudem aus einer anderen Zeit stammt, sind die historischen Stadträume der postsozialistischen Zeit entweder zu Souvenirs eingedampfte touristische Attraktionen, die ihn verunsichern, oder Zeugen der Totalitarismen dieser Region, die ihn verstören. Allerdings erweisen sich die Fluchtversuche aus dieser zum Horror anwachsenden Konfrontation mit der Stadt (und der jeweiligen, darin versinnbildlichten gesellschaftlichen Ordnung) nicht zuletzt deshalb als schier unmöglich. Im Erzähler überlagern sich nämlich beide Erscheinungsformen der Orte, ihr auf die Zukunft gerichtetes marktwirtschaftliches Potenzial und ihre aus der Vergangenheit stammende historische Bedeutung – was wörtlich zu nehmen ist. Denn nicht nur die Stadträume und historischen Stätten, deren Erinnerungsfunktion touristisch exploitiert wird, sind vielstimmige und mehrschichtige Gedächtnisspeicher, der Erzähler selbst verkörpert einen gewinnträchtigen „Gedächtnisträger“, der die Begehrlichkeiten konkurrierender Gedenk-Agenten weckt. Er hat nämlich den sogenannten „Weberknecht“ („Pavouček“),16 seinen Memorystick, auf dem unzählige Adressen von Überlebenden der Katastrophen 194. – Nooteboom, Cees: Die Sohlen der Erinnerung. Die Stadt, die Frau und der Flaneur – ein sehr persönlicher Streifzug durch die Geschichte einer Denkfigur. In: Die Zeit 49 (1995), S. 63–64, hier 63: „Flaneure sind Künstler, auch wenn sie nicht schreiben. Sie sind zuständig für die Instandhaltung der Erinnerung, sie sind die Registrierer des Verschwindens, sie sehen als Erste das Unheil, ihnen entgeht nicht die kleinste Kleinigkeit, sie gehören zur Stadt, die ohne sie undenkbar ist, sie sind das Auge, das Protokoll, die Erinnerung, das Urteil und das Archiv, im Flaneur wird sich die Stadt ihrer selbst bewusst.“ 16 Topol, Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 15. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 11.
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des 20. Jahrhunderts gespeichert sind, durch Verschlucken regelrecht inkorporiert. Die Finanzkraft der Zeitzeugen soll dazu beitragen, aus Erinnerungsorten kommerziell attraktive Tourismusspots zu machen. Und noch eine weitere Parallele zwischen den Gedächtnisräumen und dem erzählenden „Gedächtnisträger“ drängt sich auf. So wie der Erzähler in sich, im Dunkel seines Gedärms, die den Horror bezeugenden Daten trägt und sich an ihnen zu vergiften fürchtet,17 so bergen auch die Räume unter ihren Oberflächen lebensfeindliche Gedächtnisfragmente, die immer wieder ihr zerstörerisches Potenzial offenbaren. Der erzählende Protagonist selbst ist ein Abbild der Heterotopien, die der Roman vorstellt: mit seiner an der Oberfläche sichtbaren, in immer neuen Varianten erzählten Geschichte, die ein Heilungsversuch ist, und den im Inneren verborgenen Zeugnissen des Grauens, die nicht nur auf ihn zerstörerisch wirken. Die Anlage des Sujets, die auf Wiederholungen basiert, zeigt also den immer wieder neu unternommenen Versuch, durch horizontale Bewegung in den Raum zu entfliehen und damit auch die vertikal organisierte Spatialität der Vergangenheit in Form von Oberfläche und Untergrund oder Narbe und Verletzung hinter sich zu lassen. Mit dieser „oberflächlichen“ Raumbewegung korrespondieren die unterschiedlichen „Vergangenheitsprojekte“, die geschildert werden. Sie werden zwar als archäologische Bestandsaufnahmen gestartet, mutieren dann aber schnell zur kommerziell lukrativen Glättung der Narben, ihrer ideologischen Umdeutung oder totalen Auslöschung von Spuren. Der Roman erzählt an ihrem Beispiel von der Unmöglichkeit, die Vergangenheit dort unten auf Nimmerwiedersehen einzusperren, ohne sich an ihr zu vergiften. Allerdings ist sie dort, wo sie an die Oberfläche gelangt, nicht weniger toxisch.
Topols Heterotopologie Im Kontext der horizontalen Raumbewegung, die den IT-Ziegenhirten von Terezín über Prag nach Minsk und schließlich zum Friedhof der Dörfer in die weißrussischen Wälder führt, erweisen sich die Orte, die Geschichte spei17 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 133: „Ich träume vom Weberknecht. Er ist in mir. Löst sich auf. Vergiftet mich. All die Daten und Kontakte überfluten meine Eingeweide.“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 133: „Zdá se mi o Pavoučkovi. Je ve mně. Rozteče se. Otráví mě. Všechny ty data a kontakty mi zaplavují vnitřnosti.“
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chern, als strukturell ähnliche Gedächtnis-Platzierungen mit Schichten- oder Tiefendimension. Diese in Topols fantastischer Modellierung eigentümlich vertikalen Städte oder genauer Stätten mit einer Doppelgestalt von Oberfläche und Untergrund lassen sich als gedoppelte Heterotopien beschreiben. Sie sind – als Gefängnisse, Gedenkstätten, Ruinen, Museen – heterotopische Platzierungen im foucaultschen Sinne, „andere Räume“ zu den mit ihnen korrelierten Städten, Staaten oder Räumen: Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien […].18
Da aber auch ihr jeweiliger „Untergrund“ einen „Gegenraum“ darstellt, in dem die Orte und ihre Ordnungen „repräsentiert“, gleichzeitig aber „bestritten“ und „gewendet“ werden, erweisen sich auch die Heterotopien in diesem an Wiederholungen reichen Roman in gewisser Weise als gedoppelt. Bei den motivisch oder als Setting einzelner Episoden dienenden Orten handelt es sich um ganz unterschiedlich ausgedehnte Räume mit mehr oder weniger starker Urbanität: ganze Stadtanlagen in historischer Perspektive; aktuelle, touristische Abziehbilder von Stadtoberflächen; einzelne, totalitäre Ideologien inszenierende Architekturensembles; Katakomben; Ruinen und sogar gänzlich ausgelöschte Wohnorte, die lediglich im Gedächtnis existieren; außerdem Gefängnisse; Gettos; Erschießungsplätze sowie institutionalisierte Orte der Erinnerung; staatliche Gedenkstätten und Museen sowie offizielle und gegenkulturelle Mahnmale. Wiederholt werden diese Räume im Moment einer historischen Umbruchsituation vorgeführt. So wird sichtbar, wie aus ihnen Heterotopien oder Gegenräume werden, zum Beispiel eine U-Bahn-Unterführung, die sich unter einer staatlichen Gedenkstätte in einen gegenkulturellen, unterirdischen 18 Foucault, Michel: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. v. Karlheinz Barck. Leipzig 1992, S. 34–46, hier 39.
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Erinnerungsort verwandelt. Aber auch bereits „musealisierte“ Heterotopien erfahren durch Hinzufügen neuer oder wiederentdeckter historischer Bedeutungsschichten funktionale Umwertungen, etwa das Museum oder die Festung als Erinnerungsort. Topols Roman weist eine Spiegelstruktur auf, die das Geschehen in zwei Teile ordnet: in einen tschechischen Teil, chronologisch gesehen vor der Anfangsszene, und einen belarussischen Teil nach der Flucht über Prag nach Weißrussland. Motive und Ereignisse wiederholen sich – allerdings verzerrt, verdreht und hyperbolisch überzogen durch die Verdoppelung. Das gilt auch für die Heterotopien: Im ersten Teil handelt es sich um Gefängnisse und Hinrichtungsorte, die zu Gedenkstätten und somit zu Museen werden, während es im zweiten Teil um Museen und Gedenkstätten geht, die den Charakter von Gefängnissen und Schauplätzen des gewaltsamen Todes annehmen. Da die Orte in diesem Roman mehr als nur Kulissen der Handlung, vielmehr Teil des Geschehens sind, erzählt Die Teufelswerkstatt auch von ihrem Verhältnis zu den „verbleibenden Räumen“,19 als deren andere Platzierung sie auftreten. Laut Foucault lassen sich die Heterotopien funktional zwischen zwei Polen einstufen, die als Illusionsraum und als Kompensationsraum zu fassen sind.20 Ersterer denunziert in seiner Illusionsbildung den „NormRaum“ als potenziert illusionär, Letzterer ersetzt denselben durch einen idealen, anderen Raum. Ein Beispiel einer solchen „Denunziation“ sind das angeblich antifaschistische PC-Game und die von ihm entworfene Kriegswelt; eine trügerische Ersetzung findet sich in der auf den ersten Blick besseren, da aus individuellen Bedürfnissen heraus entstandenen, gegenkulturellen Gedenkstätte der Hippies, die dem politisch gewollten und ökonomisch lukrativen offiziellen Erinnerungsort Theresienstadt Konkurrenz macht. Die dynamisierten, im Prozess ihrer Umkodierung vorgeführten „anderen Räume“ Topols entlarven also – und ersetzen auch, aber nur auf Zeit. In letzter Konsequenz lässt der Roman die Konfrontation der beiden Räume, des eigentlichen und des anderen, oder die Kollision unterschiedlicher Schichten innerhalb der Heterotopien regelmäßig in einer Bedrohung oder gar Vernichtung der Räume überhaupt enden – die Gewalt aus dem Spiel schwappt in die Straßen von Prag, beide Gedenkstätten gehen in Flammen auf. Die im Folgenden unter systematischen Gesichtspunkten und gegen die narrative Ordnung fokussierten „anderen Räume“ einer postsozialistischen, 19 Ebd., S. 45. 20 Ebd.
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wenn auch nicht überall posttotalitären Gegenwart sind in Topols Heterotopologie allesamt Erinnerungsorte, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Sie sind dem Gedenken an die totalitäre Gewalt und den Tod gewidmet. Sie sorgen nun aber nicht nur dafür, dass der subkutane, vergangene und häufig vergessene Terror der Oberflächen sichtbar wird, sie erweisen sich im Laufe der turbulenten Handlung wider Erwarten selbst als äußerst aggressiv und gewalttätig. In dem Moment, in dem das in den Heterotopien Ausgeschlossene in die Topografie der Oberfläche inkludiert und damit ruhiggestellt oder umgewidmet werden soll, kommt es regelmäßig zur Katastrophe.
Gefängnisse und ihre Spiele Zwei der Handlungsorte im ersten, „tschechischen“ Teil des Romans, Pankrác und Theresienstadt, sind oder waren Gefängnisse. In Foucaults Katalog typischer Heterotopien dient das Gefängnis als prominentes Beispiel für die „Abweichungsheterotopie“,21 wobei diese Orte der Exklusion für Normverweigerer als kulturelle Konstanten von Gesellschaften historischem Wandel unterworfen sind. Den Wandel gestaltet Topol in seiner fiktionalen Figuration der Heterotopien als versuchte Rückgewinnung vergessener oder unliebsamer historischer Schichten. Beide Gefängnisorte haben dabei innerhalb der Geschichte einen unterschiedlichen Stellenwert: Pankrác ist als Vollzugsanstalt erinnerter Handlungsort, Theresienstadt als Gefängnis nur eine von mehreren Bedeutungsschichten der Stadt Terezín. Und doch sind sich die beiden Orte nicht nur jenseits der Fiktion funktional ähnlich, sie werden auch im Roman mit explizitem Bezug aufeinander in äquivalenter Weise charakterisiert: als vertikal bestimmter, vom Tod affizierter „Untergrund“ mit unterirdischen Gängen, Korridoren, Hinrichtungsstätten und Spuren von Angst und Gewalt.22 21 Ebd., S. 40–41: „In sie [die Abweichungsheterotopien, Anm. d. Verf.] steckt man die Individuen, deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm. Das sind die Erholungsheime, die psychiatrischen Kliniken; das sind wohlgemerkt auch die Gefängnisse, und man müsste auch die Altersheime dazuzählen, die an der Grenze zwischen der Krisenheterotopie und der Abweichungsheterotopie liegen […].“ 22 Gerade weil sich das unterirdische Terezín und das Gefängnis von Pankrác so ähnlich sind, kann der Erzähler seine Untergrund-Bewandertheit im Gefängnis einsetzen, um die Häftlinge zur Hinrichtung zu führen. Vgl. Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 23–24: „[I]ch ahnte, dass es etwas mit meiner Ruhe zu tun haben musste, mein Kopf, meine Seele und meine Beine waren an die Windun-
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Sie sind damit Orte außerhalb der oberirdischen Ordnung und bestreiten diese durch ihre kompensatorische Eigenschaft. Das lässt sie ideale Objekte für mehr oder weniger tabuisierte, alternative Gedächtnisstätten und Erinnerungsprojekte sein. Beide Orte sind zudem mit einem Spiel assoziiert und darin liegt ihre jeweilige „Wendung“, denn dieses Spiel bringt den mit Gewalt und Tod getränkten Untergrund an die Oberfläche. Doch führt dies nicht etwa zu einer Aufhebung und gelingenden Integration der Heterotopie (und damit zu einer spurlosen Heilung der in den Heterotopien repräsentierten Wunden). Die Gedächtnisstätten erweisen sich vielmehr als infiziert von den Krankheiten der Oberfläche, der Instrumentalisierung für kommerzielle und ideologische Zwecke, und enden infernalisch oder deuten zumindest ein solches Ende an.
Vom Beilzimmer über die Spielkonsole zum Pogrom der Nachwende-Jugend Das im Roman aufgerufene Pankrác, in Tschechien ein umgangssprachliches Synonym für „Gefängnis“ schlechthin, ist gleich ein mehrfacher Gedächtnisort. Dieses zwischen 1885 und 1889 als Prototyp einer modernen Verwahranstalt im Habsburger Reich erbaute Gefängnis erlangte während der Okkupation durch die Deutschen seine traurige Berühmtheit.23 In der von der Gestapo als Untersuchungsgefängnis genutzten Anlage befand sich das berüchtigte „Beilzimmer“ (pankrácká sekyrána), in dem von 1943 bis 1945
gen der Theresienstädter Gänge gewöhnt, an das dämmerige Licht und den Beton der Zellen und Bunker, die Gittertüren aus Gusseisen, daher brauchte nichts von meinem Körper oder meinem Geist gegen die Orte des Todes zu rebellieren […] die Aufseher und Mithäftlinge sträubten sich innerlich dagegen, sie zum Schafott zu begleiten, mir war das schnurz … an Todeszellen vorbeizulaufen, mich durch die Gänge bis zur Falltür zu schleppen … solche Orte waren mir seit Kindesbeinen vertraut, […].“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 17: „[T]ušil jsem, že je to kvůli mému klidu, moje hlava, můj duch, moje nohy byly uvyklé zákrutům terezínských chodeb a taky šeru a betonu kobek a bunkrů a železu katrů, takže nic z mého těla ani ducha se proti místům smrti nebouřilo […] bachaři ani spoluvězni je vodit nechtěli, mně to bylo jedno… chodit kolem cel smrti, plahočit se chodbama k propadlu… taková místa já znal odmalička […].“ 23 Maurus, Franz X.: Die neue k.k. Männerstrafanstalt Prag (in Pankraz-Nusle). Prag 1890.
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mehr als 1 000 Gefangene hingerichtet wurden.24 1965 wurde an diesem Ort eine erste Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet, die auch die Guillotine ausstellte und die in der antifaschistischen Propaganda des kommunistischen Regimes eine wichtige Rolle spielte.25 Topol versieht seinen durch eine Reihe von Traumata des 20. Jahrhunderts geprägten Erzähler mit einer allegorischen Dimension. Er steckt seine Sammelfigur eines „homo normalis der ČSSR“ gleich nach der Schule bis zur Wende in eben dieses Gefängnis und spielt damit auf die Spiegelbeziehung zwischen dem Raum außerhalb und seinem Anderen an – dem GefängnisHeterotop. Allerdings zeigt er den Protagonisten hier nicht als Opfer, sondern macht ihn zum Henkersknecht. Damit füllt Topols fiktionale Memoria-Heterotopie „Pankrác“ eine Lücke in der Konzeption der realen Gedenkstätte, die sowohl den fortgesetzten, juristisch legitimierten Mord an politischen Gefangenen in der Tschechoslowakischen Republik von 1948 bis 1960 ausblendet als auch die Mittäterschaft tschechischer Bürger an der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie ausspart.26 Fiktional wird der Ort einer Mitläuferschaft, über den der Erzähler eigentlich gar nicht reden will, von Anfang an auffällig vertikal präsentiert. Das erstgenannte seiner Merkmale ist die Falltüre in den Tod.27 Mit der darauf folgenden Schilderung der Gänge (und nicht etwa der aus der Perspektive des Gefangenen zu erwartenden Zellen) ähnelt er den anderen Untergrund-Räumen des Textes. Die räumliche Charakteristik des Gefängnisses und die geschilderten Fortbewegungen und Aktionen der Figuren darin (Befehlsempfang, Führen der Gefangenen durch die Korridore, „Steckenbleiben“ oder erfolgreiches Erledigen der Aufgabe) wiederholen sich zudem in einem mit diesem Heterotop verknüpften Spiel. Es handelt sich um ein Computer-Game, das der Protagonist in Pankrác gemeinsam mit dem Hen24 Kýr, Aleš: Pankrácká popraviště z let 1926–1989 [Die Pankracer Haftanstalt in den Jahren 1926–1989]. In: Historická penologie 1 (2006), S. 6–11, hier 8. 25 Ders.: Památník Pankrác, jeho poslání a využívání [Gedenkstätte Pankrác: Zweck und Nutzung]. In: Historická penologie 2 (2003), S. 8–10, hier 8. 26 Nicht unerwähnt bleiben soll, dass sich dieser bislang wenig in das kollektive Be wusstsein Tschechiens aufgenommenen Aspekte die seit den 1990er-Jahren erweiterte Gedächtnisstätte annimmt, die heute in einem Gedenkraum an die Opfer totalitärer Gewaltherrschaft und mit einem Kreuz im Hof an die Hinrich tung politischer Häftlinge nach 1948 erinnert. Diese zweite Gedenkstätte in Pankrác ist allerdings für den Publikumsverkehr kaum zugängig. 27 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 22. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 16.
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ker Herrn Mára entwickelt und das über den explizit genannten Titel H idden and Dangerous Deluxe 5 als Ego-Shooter identifizierbar ist,28 einem in Leveln organisierten und an Missionen, also korridorartigen, vorprogrammierten Spielverläufen orientierten Kriegsspiel.29 Fiktionsimmanent soll dieses Spiel mit dem Krieg zu emanzipatorischen Zwecken eingesetzt werden, es weist somit in eine utopische Zukunft voraus: Ich habe einen großen Traum, sagte Herr Mára, nämlich mit meinem Spiel die Menschheit, vor allem Kinder, die alles Neue lieben, auf den großen Weltsieg über den Faschismus vorzubereiten.30
Doch ist es mit diesem vordergründigen und ziemlich zynischen Traum nicht weit her. Im späteren Verlauf des Romans stellt sich nämlich heraus, dass das erfolgreiche Pankrác-Spiel zuallererst für seinen Entwickler von kommerziellem Interesse ist. Und die mit ihm verbundene Utopie zeitigt, erst einmal aus dem Gefängnis an die Oberfläche gelangt, auch ganz andere als die behaupteten Folgen. In einer der Prag-Episoden, die nicht im Gefängnis-Untergrund, sondern auf der Oberfläche spielt, begegnet der Erzähler Jahre später den inzwischen an der Spielkonsole groß gewordenen Kindern der Nachwende-Zeit in Gassen, die den Korridoren und Gängen der Untergrund-Heterotopien an anderer Stelle des Romans gleichen.31 Aus dem vorgeblichen „Antifa-Kriegsspiel“ 28 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 85. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 59. – Hidden and Dangerous ist ein von tschechischen Game-Entwicklern realisiertes Zweite-Weltkrieg-Spiel, dem reale Kriegsepisoden zugrunde liegen. 29 Zur am immersiven Charakter eines Ego-Shooters orientierten formalen Gestaltung des Romans und der Funktion eines solchen Verfahrens für Topols fiktionale Diskussion von Erinnerungspolitiken siehe Gölz, Christine: Through a C hilly Land. Between First-Person Shoot-Em-Up and Tourist Blockbuster. Jáchym Topol’s Fictional Statement on the Possibility of Immersive Remembrance. In: Digital Icons: Studies in Russian, Eurasian and Central European New Media 6 (2011), S. 63–79. Quelle: http://www.digitalicons.org/issue06/christine-goelz/ (Letzter Zugriff: 01.06.2012). 30 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 26. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 19: „Mám veliký sen, říkal pan Mára, totiž připravit svou hrou všechny lidi, hlavně děti milující novinky, na veliké světové vítězství nad fašismem.“ 31 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 109: „Na ja, aber aus Theresienstadt bin ich auf Schleichwege und Abkürzungen geeicht, bin katakombenerprobt und an Festungswälle gewöhnt, in Prag kriecht man wiederum meist in die nächstbeste verwinkelte Gasse wie in einen Ärmel.“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3),
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ist nun ein ernster Pogrom geworden. Die Stadtoberfläche Prags erweist sich als von den historischen Konnotationen des Untergrunds „angesteckt“: „Und schon hören wir sie näherkommen, sie skandieren ihre Parolen, marschieren, der Umzug der Patriotenwache in schwarzen Hemden und mit Fahnen drängt durch unsere Gasse […].“32 Die Stadt als ein von Gewalt infizierter Aufmarschplatz weist in der Chronologie des im Roman dargestellten Geschehens sowohl auf die martialische Kriegstechnik-Show in den Straßen des präsentisch erzählten Minsk voraus als auch zurück auf die erinnerte sozialistische Garnisonsstadt Terezín mit ihren Militärparaden.
Vom Kinderspiel über die therapeutische schola ludus zum Ausverkauf des Gedenkens Auch für Terezín ist die Doppelung „Gefängnis“/„Gedenkstätte“ charakteristisch. Diese Stadt wird im Roman in zwei Modellierungen vorgestellt – vor und nach der Wende. Das sozialistische Terezín ist auf seiner Oberfläche durch die Garnison militärisch geprägt und von hyperbolischem Ausmaß: „riesige Maria-Theresia-josephinische Häuser“, „Lagerräume für Millionen von Patronen“, „Pferdeställe für Hunderte von Pferden“, „Kasernen für Tausende von Männern“.33 Rote Festungswälle begrenzen den Stadtraum, geordnete Paraden bevölkern die Straßen, die riesige, rote Losung „MIT DER SOWJETUNION FÜR ALLE ZEITEN UND NIE ANDERS“ schmückt die „Visitenkarte der Stadt“, die Stadtschanze.34 Ein im brutalen Vater, einem Tambourmajor, verkörpertes Autoritätsprinzip und die wahnsinnige Angst der Mutter vor den Stadträumen jenseits der verbarrikadierten Wohnung, in
S. 76: „No jo, jenže v Terezíně jsem uvykl pásům hradeb, průlezům mezi nimi, katakombám, v Praze jde většinou vlízt do nejbližší zakroucené uličky jako do rukávu.“ 32 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 56. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 40: „A už je slyšíme v ulici za námi, skandují hesla, pochodují, za chvíli průvod Vlastenecké stráže v černých košilích a s vlajkami zaplní ulici […].“ 33 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 10 – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 7: „Ted’ už jdu k městu dávno otočen zády, všechny ty ohromné terezín skojosefínské baráky jsou za mnou, stejně jako sklady pro miliony nábojů, konírny pro stovky koní, kasárna pro desítky tisíc chlapů […].“ 34 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 17. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 23: „SE SOVĚTSKÝM SVAZEM NA VĚČNÉ ČASY A NIKDY JINAK.“
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deren „Nest“ sie den Jungen einzusperren versucht,35 bestimmen das Leben des Protagonisten auf dieser Oberfläche. Unter der Stadt aber erstrecken sich die Kanäle und Katakomben der Festung, die Kasematten des ehemaligen Militärgefängnisses aus dem 19. Jahrhundert, die ihre weitere, grausame Nutzung erfahren haben, als hier die Nationalsozialisten Gefängnis und Getto unterhielten und als später dann, von 1945 bis 1948, ein Internierungslager für Deutsche eben hier eingerichtet wurde. Dieser untergründige, mehrfach geschichtete reale Gefängnis-Heterotop ist im Roman aber nun nicht mehr der Verwahrort für Exkludierte, sondern erweist sich selbst als aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeschlossen. Er ist ein verbotener Ort, der einen Gegenraum darstellt zur militärischen, auf den Exerzierplatz hin ausgerichteten Stadtoberfläche. Während also die Stadt nicht nur in den „uteralen“ Familiennestern der Wohnungen, sondern auch auf ihren offenen Plätzen längst die restriktiven Züge eines Gefängnisses angenommen hat, dient der Untergrund dem Protagonisten als Kindheitsraum, der wild, anarchisch, multiperspektivisch und voller Überraschungen ist. Dieses „unterirdische Labyrinth“ aus „kilometerlangen Gängen“ erzählt die Geschichten der Gewalt in Form der Spuren,36 die von den Inhaftierten und ihren Wärtern zurückgelassen wurden und die nun unter der Anleitung von Onkel Lebo in einer Art „Gedenk-Spiel“ von den Kindern zusammengetragen werden. Materiale Reste wie Patronen, Pritschen, Gasmasken sind ihre Funde, aber auch Schriftzeugnisse wie Wandbeschriftungen, Kassiber und Hinweisschilder, die in ihrer Mehrsprachigkeit von der vielschichtigen Vergangenheit dieses Raumes Zeugnis ablegen.37 35 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 11. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 8. 36 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 28. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 21. 37 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 28–29: „Lebo feuerte uns an, wenn wir durch die verbotenen kilometerlangen Gänge unter Theresienstadt krochen, und er hat uns nie verpfiffen, wenn wir in dem unterirdischen Labyrinth auf altertümlichen Schildern Ostorožno, tif!, Achtung, Typhus! oder Zákaz vstupu!, Betreten verboten! oder Achtung, Minen! herumtrampelten, wenn wir immer neue Verstecke in den Kanälen fanden, vergessene und mit feinem Sand überzogene Lagerräume voller Pritschen oder Gasmasken oder neue Durchgänge und Durchschlupfe entdeckten. Einmal stießen wir auf eine Hinrichtungskammer, die schon halb im unterirdischen Sand versunken war und in der noch ein Haufen gebrauchter Patronenhülsen lag. Wir hatten keine Angst. Die Munitionsreste brachten wir zu Lebo. Er steckte sie in seine Tasche.“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 21: „Lebo nás povzbuzoval, když jsme prolézali kilometry zakázaných chodeb pod Terezínem, a nikdy
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Die im Spiel der Kinder zusammengetragenen Reste aus dem historischen Untergrund der Stadt liefern in der zweiten Stadtmodellierung, im NachWende-Terezín, die Grundlage für die von Lebo und seinen Unterstützern in den verlassenen Häusern der Stadt gegründete Comenius-Kommune.38 Es handelt sich dabei um eine eigentümliche Therapieeinrichtung, die zum „gehypten“ Kultort für sogenannte „Pritschensucher“ avanciert,39 also durch ihre Familiengeschichte traumatisierte junge Menschen der Enkel-Generation von Holocaust-Opfern. In den realen Räumen des Untergrunds, den Katakomben, Zellen und unterirdischen Gängen, beginnen diese jungen Leute ihr Heilungsprogramm. Ihre „schola ludus“40 besetzt die entleerten Stadträume der ehemaligen Garnás nezradil, když jsme v labyrintu pod zemí dupali po starodávných cedulích Ostorožno, tif ! nebo Zákaz vstupu! nebo Achtung, Minen! a nacházeli další a další skrýše v kanálech, pískem jemně poprášené, zapomenuté sklady pryčen či plynových masek, průchody a prolézačky, a vůbec nás neodradilo, když jsme našli trochu už do podzemních písků sesutou popravčí komoru plnou vypálených nábojnic. Donesli jsme je Lebovi. Strčil je do kabely.“ 38 Topol verarbeitet in diesem Terezín-Strang eine außerfiktionale, zu Beginn der 2000er-Jahre geführte Debatte um die Stadt Terezín, die 2007 grandios scheiterte. Für die kleine Garnisonsstadt, deren Einwohnerzahl nach dem 1996 erfolgten Abzug der dort stationierten Streitkräfte beständig sank und sich seit einigen Jahren auf nur noch rund 3 000 beläuft, hatte es von offizieller Seite hochfliegende Pläne gegeben. Es sollte in den Tourismussektor investiert werden, ein weitausstrahlendes Zentrum für Kultur entstehen und mithilfe der EU eine Universität gegründet werden: Sackgasse Zukunft? Stadt Terezin entlässt Bürgermeister (26.09.2007). Radio Praha. Quelle: http://www.radio.cz/de/rubrik/tagesecho/sackgasse-zukunft-stadtterezin-entlaesst-buergermeister (Letzter Zugriff: 06.06.2012). 39 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 46. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 33: „[…] pátrači po pryčnách […] hledači pryčen.“ 40 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 54. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 38. – In Anspielung auf Jan Amos Komenskýs (Comenius) S chola Ludus von 1654 siehe auch explizit im Roman Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 66–67: „Schon damals haben wir uns Komenium genannt. Jan Amos Komenský war es, der Lehrer der Völker, der behauptet hatte, die Schule solle ein Spiel sein. Den Namen unseres Instituts, das eine Ausbildung in der Geschichte des Grauens mit anschließender Therapie anbot, mit Therapie durch Tanz, also durch Spiel, hat Lea durchgesetzt, die aus Holland zu uns gekommen war, dem Land, in dem Amos gelebt hatte, nachdem er unbarmherzig aus Böhmen vertrieben worden war.“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 42: „Už tehdy jsme si říkali Koménium. Byl to Jan Amos Komenský, učitel národů, který prohlásil, že škola má být hrou. Lea, která prosadila název našeho institutu, nabízejícího vzdělávání v dějinách hrůzy i následnou terapii, mj. tancem, tedy hrou, k nám přišla z Holandska, země, kde Amos dlel po nelítostném vyhnání z Čech.“
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nisonsstadt, deren Funktion nach der Wende nur noch darin besteht, attraktive Fotokulisse für den Holocaust-Tourismus zu sein.41 Lebos Gedächtnisprojekt steht allerdings durch seine anarchische Vielgestaltigkeit im Umgang mit Geschichte dem Programm der akademischen Gedenkstätte entgegen. Diesen vědátoři, den (in der freien deutschen Übersetzung) „WasserkopfAkademikern“,42 ist es vor allem um die Konservierung der Holocaust-Schicht des Untergrunds bestellt. Lebo hingegen kämpft gegen eine ausschließlich den Toten vorbehaltene Stätte und für eine lebendige Stadt voller individueller Erinnerungen. Er will den vollständigen Erhalt Theresienstadts „mit all seinen Gängen, Pritschen, Kasematten und Wandkritzeleien, mit seinem Alltag, seinen Bewohnern und ihren Gemüseläden, Wäschereien, Suppenküchen und so weiter“.43 Allerdings ist es im Roman nicht der Konflikt zwischen Lebos Revitalisierungsprogramm von Erinnerung und den Mumifizierungstendenzen der offiziellen Gedächtnis-Verwalter, der die totale Zerstörung bringt. Auslöser sind die Projekte der geheilten Pritschensucher aus der Welt der popkulturellen Unterhaltung und des Konsums. Mit lukrativen Einfällen wie GettoPizza, selbst bedruckten T-Shirts mit der provokanten Aufschrift „Hätte Kafka seinen Tod überlebt, hätte man ihn hier umgebracht“44 sowie allabendlichen ekstatischen Raves haben sie eine florierende alternative Gedenkindustrie etabliert, die der offiziellen Gedenkstätte Konkurrenz macht. Auch sie sind darum bemüht, ihre Erinnerungsstrategie durchzusetzen und noch die letzten, sich den diversen Erinnerungspolitiken entziehenden Außenseiter für ihre Sache zu instrumentalisieren. Sie versuchen, die in den Katakomben 41 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 47: „[G]ewöhnliche Touristen kletterten durch Theresienstadt wie durch eine mittelalterliche Burg, in deren Folterkammern oder Verliesen sie mehr oder minder gelungene Fotos oder Videos für ihre Liebsten daheim schossen […].“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 33: „[…] obyčejní turisti prolézali Terezínem podobně jako třeba středověkým hradem, kde v mučírnách či hladomornách pořizovali víceméně podařené fotky či video pro celou rodinu […].“ 42 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 15. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 11. 43 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 16. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S.12: „[…] se všemi chodbami, pryčnami, sklepy, čmáranicemi na zdech a také se svým životem, se všemi obyvateli, zelinářstvím, mandlem, vývařovnou a tak dál.“ 44 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 52. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 37: „Kdyby Franz Kafka přežil svou smrt, zabili by ho tady.“
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hausenden „Mentalos“ für soziale, EU-geförderte „Arbeitsdienst“-Projekte (im Roman „Fröhliche Werkstätten“)45 anstellig zu machen. In letzter Konsequenz und im Verlauf der Räumung ihrer Kommune durch die städtischen Ordnungskräfte geht Terezín nicht ohne das Zutun des Erzählers in Flammen auf. Anstatt der Bewahrung der Erinnerung bleibt nach der Vernichtung nur traurige Leere.46
Museen und ihre Puppen Der zweite Teil des Romans ist das grotesk verzerrte und hyperbolische Spiegelbild des ersten, in Tschechien situierten. Über die Spiegelachse des Fluchtweges zum Prager Flughafen wird der Protagonist nach Belarus versetzt, wo ihn ein wahres Feuerwerk von geschichtsträchtigen Lieux de mémoire des 20. Jahrhunderts erwartet. Eine prominente Position nimmt dabei das Museum als Ort „sich endlos akkumulierende[r] Ziele“ ein,47 die institutionalisierte Form für die Aufbewahrung von Geschichte. Das Museum ist in Foucaults Modell der „anderen Räume“ eine Heterotopie der Moderne, in der „die Zeit nicht aufhört, sich auf den Gipfel ihrer selber zu stapeln und zu drängen“.48 Topols spezifische Fiktionalisierung dieser Idee eines General archivs deckt nun aber auf, dass längst nicht alle akkumulierten Schichten erwünschte Bestandteile der musealen Zeit-Heterotopie sind. Vielmehr stellt sich in der literarischen Imagination – und womöglich nicht nur dort – heraus, dass die im zweiten Teil von Die Teufelswerkstatt wortwörtlich klappernden „Gerippe“ nur in ideologisch beziehungsweise ökonomisch verwert45 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 67. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 47: „Radostné dílny“. 46 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 31: „Stattdessen höre ich nur noch ein leises Rascheln im Gras, wie dort Pflanzen über abgerissene, verkohlte Balken kriechen, statt einer Antwort höre ich nur den Widerhall von Schritten in den R uinen und das Tropfen des Grundwassers in den Katakomben, das Ende ist schon da, jetzt kann mir keiner mehr meine Frage beantworten, es ist schon passiert, There sienstadt ist gefallen.“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 22: „[…] uslyším už jen tichounký ševel v trávě, to se rostliny plazí přes stržená břevna zčernalá ohněm, místo odpovědi slyším už jen ozvěnu kroků v ruinách, krápot spodní vody v katakombách, už je konec, teď už mi neodpoví nikdo, protože se to stalo, město Terezín padlo.“ 47 Foucault: Andere Räume (wie Anm. 18), S. 43. 48 Ebd.
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barer „Verpuppung“ Eingang in das Museum finden. Und das Narrativ malt aus, wie diese „Mumifizierung“ von Geschichte letztlich ihre Opfer um die Totenruhe bringen kann, da sich auch das Nichtvergessen als gewaltgesättigter Imperativ erweist. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um offiziell sanktionierte oder gegenkulturelle Erinnerungspraktiken und archivierende Institutionen handelt.49 Die beiden aus dem Belarus-Handlungsstrang herausgegriffenen Heterotopien sind in geradezu paradoxer Weise „dynamisierte“ Museen, paradox insofern, da Museen ja eigentlich in ihrer Funktion auf Konstanz ausgerichtet sind, versinnbildlicht in der Fiktion durch das Motiv der Verpuppung oder Mumifizierung. Im Roman nun wird das eine Beispiel als lang etablierte Institution vorgeführt, die sich im ideologischen Fadenkreuz eines (Um-) Deutungskrieges von Geschichte befindet, während das andere als makabre Histotainment-Institution und Teil eines belarussischen Nation-BrandingProjektes überhaupt erst im Entstehen begriffen ist. In ihrer räumlichen Gestaltung sind beide Museen den Gefängnis-Heterotopien des ersten Teils nicht unähnlich: Auch hier gibt es Oberflächen, die allerdings nicht einmal auf den ersten Blick „friedlich“ sind, und einen Untergrund mit Gängen und Stollen, Gräbern und Hinrichtungsstätten sowie vielfachen Spuren der Gewalt. Selbst die mit dem Sammeln und Heben der vergessenen Erinnerungen befassten „Pritschensucher“ sind im belarussischen Memoria-Untergrund zu finden – diesmal allerdings in einer härteren Ausführung. In Belarus ist die Arbeit am Gedächtnis im Unterschied zum ersten Teil des Romans kein Spiel mehr, sondern Krieg, auch wenn es Puppen sind, die als Repräsentanten der Toten an allen musealen Orten eine maßgebliche Rolle spielen.
49 Der Roman spielt hier noch einmal auf den im letzten Jahrzehnt zu beobachtenden populärkulturell und kommerziell orientierten Umgang mit Geschichte an: „Die Vergangenheit bietet sich zunehmend bunt, laut, interaktiv und zum Anfassen dar. Sie wird in kleinen Dosen verabreicht und immer reich bebildert oder freizügig nachgespielt. Aus der Geschichte ist ,History‘ geworden, besser noch: living history, die sich mit dem Entertainmentanspruch zum Histotainment vereint und in Deutschland wie in vielen anderen Ländern einen ertragreichen Markt darstellt.“ Hardtwig, Wolfgang/Schug, Alexander: Einleitung. In: History sells! Hg. v. Dens. Stuttgart 2009, S. 9–18, hier 10.
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Von den authentischen Zeugnissen der Geschichte … Der erste Ort in Minsk, an den der Experte aus Terezín gebracht wird, ist das Museum für Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges. Dieses Museum gilt auch in der außerfiktionalen Realität bis heute als einer der wichtigsten Erinnerungsorte der belarussischen Geschichte, hier werden die „Zeugnisse des Muts und der Tragödie des belarussischen Volkes“ aufbewahrt.50 Eröffnet bereits vor dem eigentlichen Ende des Krieges im Herbst 1944, war das Museum Teil einer großen Memorial-Kampagne der stalinistischen Sowjetunion und hat als solches bis heute eine konstant wichtige geschichtspolitische Funktion.51 In der Fiktion ist dieser zentrale Ort allerdings alles andere als stabil und sicher, vielmehr dringt der auf den Straßen tobende „Bürgerkrieg“ zwischen Demonstranten und Spezialeinheiten der Polizei auch bis hierher vor. Schockierend für den Erzähler ist die konkrete Art der symbolischen Repräsentation von Geschichte in diesem Museum, die den abstrakten Formen von Erinnerung in einer auf Lehrpfade „zugerichteten“ offiziellen Gedenkstätte Theresienstadt genau entgegensteht. Das Minsker Museum setzt auf Bewahrung von Geschichte durch imitierende Wiederholung, die der Gefahr von geschmackloser Banalisierung und ludistischer Verniedlichung nicht entgeht. Der Roman erzählt von einem ausgestellten Miniatur modell aus Holz, mit dem das Vernichtungslager Maly Trostenez nachgebildet ist,52 mit aufgestapelten Püppchen auf einem durch Glühbirnchen glimmenden Scheiterhaufen samt aufgemaltem Rauch.53 Mit der Fokussierung auf dieses imitationsästhetische „Exponat“ markiert der Roman den Heterotopos „Geschichtsmuseum“ als einen extremen Illusionsraum, der die Versuche, das Unfassbare der Geschichte zu fassen, als unmöglich vorführt. 50 Vgl. die offizielle Seite des Museums: Quelle: http://www.warmuseum.by/museum/ history/ (Letzter Zugriff: 20.06.2012). 51 Sahm, Astrid: Im Banne des Krieges. Gedenkstätten und Erinnerungskultur in Belarus. In: Osteuropa 6 (2008), S. 229–245. 52 Vgl. Enzyklopädie des Holocaust: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Bd. 2. Hg. v. Israel Gutman, Peter Longerich und Eberhard Jäckel. München 1981, S. 921–922. – Im Konzentrationslager und auf dem Massen hinrichtungsplatz Maly Trostenez, unweit von Minsk, wurden zwischen 1942 und 1944 etwa 65 000 Menschen ermordet, darunter auch die ungefähr 39 000 Juden aus dem Minsker Getto. 53 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 124. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 86.
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Auf eine Puppe war der Erzähler bereits auf dem Weg ins Museum gestoßen. Als er und seine Begleiterin eher zufällig eine Unterführung durchqueren, sieht er eine der legendären „Nemiga-Bräute“, eine als Prinzessin aufgemachte Schaufensterpuppe in einem Sarg.54 Damit findet ein zur Entstehungszeit des Romans noch „heißer“ Lieu de mémoire der postsozialistischen Gesellschaft von Belarus Eingang in den Roman: Im Durchgang zur U-Bahn-Station Nemiga in Minsk befand sich für einige Zeit ein gegenkultureller Erinnerungsort für die Opfer einer Massenpanik. 1999 waren am Rande eines Rockkonzertes infolge eines heftigen Platzregens und eines geschlossenen Gitters im unterirdischen U-Bahn-Eingang 53 Menschen, vor allem junge Frauen, ums Leben gekommen, ein Vorfall, der nie gänzlich aufgeklärt wurde und vielfältige Deutungen provozierte.55 Auf der Oberfläche vor dem eigentlichen Eingang wurde von offizieller Seite und gegen den Willen einiger Betroffener ein Memorial eingerichtet, das der Toten in der metaphorischen Form von überdimensionalen gekappten Rosen und Tulpen und als 53 Schnittwunden am Herzen von Belarus gedenkt. Die Angehörigen bestanden auf der Bewahrung ihrer spontan in der Unterführung am eigentlichen Ort des Geschehens entstandenen „Klage mauer“. Mit Blumen, Devotionalien und Gedenkritualen kamen sie über Monate hierher in den Untergrund. Die Authentizität der Spuren an den Wänden und der Decke, die Hände und Stöckelschuhe hinterlassen hatten, schienen, bis zur Entfernung durch offizielle Stellen, eine indexikalische und somit in gewisser Weise magische Verbindung mit den Toten zu garantieren. Der offizielle Umgang mit diesem Erinnerungsort stellt mithin einen der hier „Vernarbungsprojekte“ genannten Versuche dar, die eigentlichen Spuren auszulöschen und in eine ideologisch kontaminierte Ruhigstellung der Vergangenheit zu überführen. 54 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 111: „Jemand sagt Namen auf, Frauennamen. Die Leute um uns schlagen das Kreuz und verneigen sich tief. […] Ein Sarg versperrte uns den Weg. Vor ihm haben sie sich vorhin alle verneigt. Im Sarg liegt eine junge Frau. Sie hat ein weißes Kleid an. […] Ich beuge mich über den Sarg, sehe ihr ins Gesicht. Eine Schaufensterpuppe. Aus Plastik.“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 78: „Kdosi tam říká jména, ženská jména. Lidé kolem se křižují a uklánějí po pás. […] Zastaví nás rakev. To směrem k ní se všichni klaněli. Kolem rakve jsou žluté a červené kaluže vosku. V rakvi leží dívka. Má bílé šaty. […] Nakloním se nad rakev, dívám se do ji tváře. Je to figurína. Je umělá.“ 55 Kozlik, Irina/Borisevič, Katerina: 10 let tragedii na Nemige [10 Jahre NemigaTragödie]. In: Komsomol’skaja pravda vom 30.05.2009. Quelle: http://kp.by/ daily/24302/496266/ (Letzter Zugriff: 01.08.2012).
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Wie wenig dies allerdings gelingen kann, zeigt sich nicht zuletzt daran, wie einfach sich das Unglück in den Minsker Stadtmythos integrieren ließ, der von den „blutigen Ufern der Nemiga“ spricht.56 Denn Nemiga oder Njamiha war bereits vor der blutigen Tragödie ein signifikanter Ort dieses Mythos, auf den sich die Kommentare in der Folge dann auch wiederholt bezogen.57 Am Ufer des inzwischen längst in den Untergrund und in Röhren verbannten Nemiga-Flusses hatte im Jahr 1067 eine blutige Schlacht stattgefunden, in deren Folge alle Einwohner von Minsk zu Tode kamen. Die Erwähnung dieses grausamen Gemetzels im Igor’-Lied und damit die mythologische Vorgeschichte dieses Ortes lässt auch Topols Roman nicht unerwähnt. Wenn auch der beschränkte Erzähler, der ja ein impertinenter Schulverweigerer war, noch nie etwas davon gehört hat und entsprechend mit Unverständnis auf den Vorgang einer „mumifizierenden Mythenbildung“ reagiert. Dennoch weckt eben diese „Mumifizierung von Geschichte“ das Inte resse des Erzählers und seiner Begleitung im Minsker Kriegsmuseum, allerdings manifestiert sie sich unter den eigentlichen Ausstellungsräumen. In den dort befindlichen primitiven Stollen stoßen die beiden Museumsbesucher auf einen Ausgräbertrupp, der sich unter der Anleitung des Archäologen Kagan an die Dynamisierung dieses Heterotops gemacht hat. Kagans Mission ist, ähnlich wie die Onkel Lebos in Terezín, auf den Erhalt aller, auch der vergessenen Gedächtnisinhalte ausgerichtet. Denn wie sich herausstellt, wurde das Museum, das die siegreiche sowjetische Geschichte dokumentieren soll, auf verschütteten und nicht repräsentierten Erinnerungsschichten Weißrusslands errichtet. Die Vergangenheitsbesessenen schaffen hier mehr oder weniger gut erhaltene Leichname in Holzkisten ans Tageslicht, sammeln Überreste, die Zeugnis ablegen von Verbrechen, die sich in diesem Stadtteil zu unterschiedlichen Zeiten ereignet haben und von denen im Museum an der Oberfläche keine Rede ist. 56 Vgl. Klinau˘ , Artur: Minsk. Sonnenstadt der Träume. Frankfurt am Main 2006, insbes. Kap. 15 u. 29. – Artur Klinau˘ erwähnt im Zusammenhang mit seinem post modern-ironischen weißrussischen Gründungsmythos den „Fluch der blutigen Ufer“ (S. 45) und setzt auf die Vielschichtigkeit des Ortes. 57 Zu einer an Henri Lefebvres triadischem Modell der sozialen Produktion von Räumen orientierten „Lektüre“ der Stadt Minsk, insbesondere des Njamiha-Viertels und seiner Geschichte, zu der auch die Massenpanik gehört, siehe Barykina, Natalia: Architecture and Spatial Practices in Post-Communist Minsk: Urban Space under Authoritarian Control. In: spacesofidentity.net. Quelle: https://pi.library.yorku.ca/ ojs/index.php/soi/article/view/18121/16893 (Letzter Zugriff: 01.08.2012).
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Die „älteste Schicht“ dieser Ausgrabungen betrifft die stalinistischen Säuberungen unter der weißrussischen Bevölkerung in den Jahren vor Kriegsbeginn.58 Die „klassische Zwischenschicht aus dem Zweiten Weltkrieg“ liefert Funde aus dem Getto,59 in dem die Nationalsozialisten die jüdische Bevölkerung vernichteten.60 Die nächste Schicht zeugt von den deutschen Kriegsgefangenen, die man an derselben Stelle erschossen hat. Die letzte Schicht betrifft die Familiengeschichte der jungen Ausgräber. Sie suchen nach Spuren ihrer Eltern und Großeltern, die hingerichtet wurden, weil sie für die belarussische Unabhängigkeit und eine eigene Sprache eintraten, so doziert der charismatische Archäologe.61 Denn Kagans Interessen richten sich nicht nur auf die Vergangenheit, sondern er vertritt auch eine politische Vision für die Zukunft. Er kämpft für die Wiedergeburt Weißrusslands und dessen Platz auf der Weltkarte – sollte es anders nicht gehen auch durch die Opferung „der Besten“,62 die Instrumentalisierung von Geschichte und mittels Ranking von Leid und Opferzahlen im europäischen Vergleich. Die Bergung der „Gerippe“ aus den „Schränken“ des weißrussischen Untergrunds und ihre Verbringung an die Oberfläche bringt die im Museum „aufgestapelte“ Zeit gleich auf zweifache Weise durcheinander. Nicht nur wird das Museum selbst zum Schauplatz des Bürgerkrieges – und die zeitgeschichtlichen Umbrüche dringen in Form der Streitkräfte direkt in den Heterotop „Museum“ ein. Die alternativen Gedenk-Agenten wollen zudem 58 Topol, Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 127. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 88. 59 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 127. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 89. 60 Am 2. März 1942 wurden in der „Jama“ genannten Erschießungsgrube des Minsker Gettos 5 000 Juden hingerichtet. Siehe Sahm: Im Banne des Krieges (wie Anm. 51), S. 229. 61 In Kagan ist unschwer der Oppositionelle Sjanon Pasnjak, Archäologe und Vorkämpfer der weißrussischen Unabhängigkeitsbewegung, zu erkennen, der sich heute im US-amerikanischen Exil aufhält. Pasnjak war maßgeblich an der Gründung von Martyrolah Belarusi, der ersten „Belarussischen gesellschaftlichen, historisch-pädagogischen Gesellschaft zur Erinnerung an die Opfer des Stalinismus“, beteiligt und Vorsitzender der Volksfront Adradžen’ne (Nationale Wiederauferstehungsbewegung). Er macht gegen die staatlicherseits propagierte, sowjetisch-imperiale Interpretation eine nationale Geschichtsdeutung stark. Siehe hierzu Temper, Elena: Konflikte um Kurapaty. Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus. In: Osteuropa 6 (2008), S. 253–266. 62 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 142. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 99.
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ein neues, alternatives historisches Museum errichten, in dem die von einem ehemaligen KZ-Häftling und Experten für Schrumpfköpfe zu Figurinen einbalsamierten Leichenfunde als Exponate ausgestellt werden sollen. Das Ziel dieser durch Konservierung auf Ewigkeit gestellten Gedenkstrategie erklärt Alex, einer der Gedenk-Partisanen, dem erstaunten Erzähler: Als Konkurrenzunternehmen zu den in ihrer medialen Konventionalität langweilenden Präsentationsformen der oral history an anderen Orten der Welt, zum Beispiel Zeitzeugeninterviews auf Monitoren wie im Spielberg-Archiv in Los Angeles, wollen die längst von der Macht korrumpierten Gedächtnis-Verwalter einen direkten, emotional erschütternden Kontakt mit der Geschichte erzielen, den „keiner so schnell vergessen [kann]“.63 Dieser Schock durch Unmittelbarkeit und Authentizität soll ihnen dabei helfen, den internationalen Kampf um Aufmerksamkeit und damit Touristen- und Geldströme zu gewinnen.64 Der Plot wird zum Ende des Romans hin immer wilder – mit einem weiteren, diesmal staatlicherseits gelenkten antisemitischen Pogrom der Volksmassen gegen die oppositionellen Pritschensucher, mit Panzern, echten und behelfsmäßigen Waffen, weiteren Fluchtversuchen und Gefangennahmen, mit Unterständen, unterirdischen Bunkeranlagen, primitiven Laboratorien, Folter und Todesspritzen, mit weiteren Gedenkstätten, von denen sich auch die alternativen letztlich als offizielle erweisen, sowie Wiederbegegnungen mit einer Reihe von inzwischen ziemlich ramponierten Figuren des ersten Teils. Schließlich setzt Topol auch auf sein Panoptikum von Erinnerungsstrategien noch eins drauf: Die aus den Schränken der Geschichte befreiten Gerippe beginnen nun auch noch selbst zu sprechen. Für die Kulmination der Romanhandlung, in der es den Erzähler zu guter Letzt in die weißrussischen Wälder verschlägt, überblendet Topol den weißrussischen Partisanenmythos mit zwei weiteren Erinnerungsorten und ihren Geschichten – mit Chatyn’, dem Gedenkstätten-Symbol für die von der Wehr63 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 136. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 95. 64 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 146–147: „Die globalisierte Welt ist schon aufgeteilt: Thailand – Sex, Italien – Meer und bildende Kunst, Holland – Holzschuhe und Käse, na, und Weißrussland, das ist der Horrortrip, hab ich recht? […] Besucht die europäische Genozid-Gedenkstätte, die Teufelswerkstatt!“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 102: „Globalizovanej svět už je takhle rozdělenej, hergot! Thajsko sex, Itálie moře a obrazy, Holandsko dřeváky a sýry, no a Bělorusko, horor trip, no ne? Navštivte evropský památník genocidy, Ďáblovu dílu [!].“
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macht niedergebrannten unzähligen weißrussischen Dörfer,65 und dem geschichtspolitisch bis heute umkämpften Kurapaty, dem Ort der erst 1989 wiederentdeckten Massengräber der stalinistischen Massaker in den Jahren 1937 bis 1941.66 Für ihren zukünftigen touristischen Hotspot, die „Teufelswerkstatt“, haben die Gedenkstätten-Partisanen ein ganz besonderes Reaktualisierungsprogramm für Geschichte erarbeitet. Lokalisiert ist es charakteristischerweise im ehemaligen Unterstand einer unterirdischen deutschen Bunkeranlage. Um dem Vergessen oder einer ungewollten Auslegung entgegenzuwirken und um die Vergangenheit für alle Zeiten zu konservieren, werden in diesem „Untergrund-Heterotop“ Zeitzeugen unter Gewaltanwendung „unvergänglich“ gemacht und als Ausstellungsstücke mit Tonbändern ausgestattet, die ihre aufgezeichneten Geschichten immer aufs Neue wiederholen.67 Allerdings führt genau diese Stillstellung nicht etwa zu einer Beruhigung, sondern zu einer Wiederholung der Geschichte von Gewalt und Zerstörung. Das erkennt auch der entsetzte Erzähler, den die Partisanen in der Hoffnung auf das baldige „Wiederauftauchen“ des verschluckten Memory-Sticks erst einmal festgesetzt haben. Und wieder ist er es, der diese Wiederholung auslöst: Unter Gewaltanwendung befreit er sich und setzt Chatyn’ ein weiteres Mal in Brand.
65 Das Mahnmal Chatyn’, das auch den Friedhof der Dörfer beherbergt, ist dem Gedenken der Opfer gewidmet, die im Zuge des Generalplan Ost in den 186 Dörfern ums Leben kamen, die mitsamt ihren Einwohnern niedergebrannt wurden, außerdem den ehemaligen Bewohnern der weiteren 433 vernichteten Ortschaften. Die Ende der 1960er-Jahre errichtete Gedenkstätte ist nicht zuletzt durch ihre Gestaltung für die sowjetische Symbolpolitik außergewöhnlich. Anders als üblich, zeichnet sie sich durch einen hohen Abstraktionsgrad und große Schlichtheit aus. Sie korrespondiert darin als Motiv im Roman mit der offiziellen Gedenkstätte Theresienstadt. Vgl. Sahm: Im Banne des Krieges (wie Anm. 51), S. 230–234. 66 Siehe hierzu Temper: Konflikte um Kurapaty (wie Anm. 61). 67 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 161: „Ich bin im Keller gewesen, mit meiner kleinen Schwester und unserer Mama, über uns hörte man sie trampeln, meine Schwester wollte schreien, da habe ich ihr ein Stück Brot in den Mund gestopft, damit sie isst, damit sie schweigt. Ich halte ihr die Hand vor den Mund, sie ist erstickt. Dann hört sie auf zu reden, sie wimmert nur noch, weint und heult ohne Ende … Alex trennt die Drähte, schaltet die Oma aus.“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 112: „Byla jsem ve sklepě s mámou a sestřičkou, dupali nad náma, sestřička chtěla křičet, tak jsem jí dala do pusy kus chleba, ať jí, ať mlčí. Držím jí ruku na puse, udusila se. A pak už nemluví, jen naříká, kvílí, pořád. Alex odpojí drátky, vypne ji.“
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… zum Loop der historischen und fiktionalen Ereignisse Innerfiktionaler (Gedenk-)Stein des Anstoßes in der ersten Hälfte des Romans waren die abstrakten Erinnerungsstrategien der offiziellen Gedächtnisverwalter Theresienstadts, gegen die sich das immersive Therapieprogramm der Komenius-Kommunarden richtete. Anstelle von „abstrakter Symbolisierung“ und emotionaler Entschärfung durch Verkitschung einer einzelnen herauspräparierten Erinnerungsschicht (die „Genozid-Lehrpfade“, auf denen die Touristen „lustwandeln“ sollen),68 hatten die jungen Pritschensucher auf die Wiederbelebung der in den Untergrund abgedrängten Geschichte durch Strategien des re-enactment gesetzt.69 Sie hatten die Räume ihrer Vorfahren zurückerobert und besetzt, sich mit deren Alltagsgegenständen umgeben und sich von den Erzählungen des charismatischen Lebo einfangen lassen, wobei dessen Zeitzeugenschaft (durch seine Geburt an einem der letzten Tage vor der Befreiung im Roman bereits ironisch relativiert) den hohen Authentizitätsfaktor garantieren sollte. Doch auch ihre spielerischen Kommemorationsstrategien, die sich letztlich vor allem nach Spaß-Faktor, Medien-Hype und Konjunkturen von Förderprogrammen richteten, konnten den Untergang der Erinnerungsräume und mit ihnen der eigentlichen Bewohner dieser Geschichten nicht verhindern, vielmehr beschleunigten sie ihn noch. Dies gilt erst recht für die Gedenk-Agenten im zweiten Teil. Die ministerialen Gedenkstätten-Partisanen mit ihrem auf mumifizierende PseudoAuthentizität setzenden Versuch, aus der Geschichte Kapital zu schlagen, stehen für eine hyperbolische Pervertierung traditioneller Gedenkformen. Mit der Präparierung von Leichnamen knüpfen sie an eine „östliche Tra-
68 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 47: „[…] gewöhnliche Touristen, die sich damit zufriedengaben, auf den wenigen offiziellen Genozidpfaden zu lustwandeln, gewöhnliche Touristen kletterten durch Theresienstadt wie durch eine mittelalterliche Burg, in deren Folterkammern oder Verliesen sie mehr oder minder gelungene Fotos oder Videos für ihre Liebsten daheim schossen […].“ – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 33: „[…] obyčejní turisti, kterým stačilo bloumat po těch pár genocidních stezkách, udržovaných pro svět Pomníkem, obyčejní turisti prolézali Terezínem podobně jako třeba středověkým hradem, kde v mučírnách či hladomornách pořizovali víceméně podařené fotky či video pro celou rodinu […].“ 69 Zu unterschiedlichen Formen der Geschichtsinszenierung, darunter auch als „körperliche Performanzen“ (S. 162), siehe Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007, S. 161–175.
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dition“ der Kommemoration an,70 wie es im Roman mit Verweis auf Lenin, Stalin und den „missglückten“ Gottwald heißt. Die Instrumentalisierung dieser Gedenkstrategie im Stalinismus reicht bereits zu ihrer Desavouierung. Mit der Akzentuierung der oral history und der Hoffnung, damit einen Zugang zu den „fremden Wunden“ zu ermöglichen, verweist der Roman zudem auf die erinnerungsästhetische Praxis der magnitofonnaja literatura, eines belarussischen Memoria-Genres, das aus einer Sammlung von Zeitzeugen-Interviews entstanden ist und das der Roman in den Zeitzeugenberichten direkt zitiert.71 Doch im Roman werden die Zeitzeugen ideologisch und kommerziell instrumentalisiert. Die „ewig Überlebenden“ werden hier nicht nur um ihren Tod gebracht, wie der Erzähler entsetzt feststellt. Die Geschichte der Gewalt wird zudem buchstäblich auf repeat gestellt und dem einen Kontrolleur am Einund Ausschalter überantwortet: „[D]ie Geschichte ist immer die gleiche, Soldaten kommen ins Dorf und töten, Häuser und Menschen brennen, es wiederholt sich und es wird sich immer wiederholen […], weil Alex die Drähte in der Hand hält.“72 Die angedeutete Rettung und damit das vorläufige Ziel der Reise liegen am Ende des Romans schließlich jenseits der Städte und Platzierungen und fern aller Memoria-Heterotopien in der Utopie eines leeren Raumes. Der Erzähler, der gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen ist, findet sich mitten im Nirgendwo in einem kleinen Zelt wieder. Dieser „nomadische“ Minimalraum ist in seiner relativen Schutzfunktion und gleichzeitigen Transportabilität auch eine Antwort auf die bis dahin besetzten totalitären Geschichtsorte, die sich durch statische Vertikalität und gespeicherte Gewalt auszeichneten. Sie provozierten sowohl wiederholte Flucht im Raum als auch Flüchtigkeit in der Zeit, ausgelöst durch erneute Zerstörungsakte. Auch wenn der Weg noch nicht an sein Ende gekommen zu sein scheint, führt er nun zumindest nicht mehr an diese Plätze zurück, sondern in etwas 70 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 164. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 114. 71 Die Initialpublikation der „Tonbandliteratur“ unter dem Titel Ich komme aus dem Feuerdorf (Ya z vognennai vëski, 1975) stammt von Ales’ Adamovič, Janka Bryl’ und Uladzimir Kalešnik. Bis heute wird diese Form z. B. in Svetlana A leksievičs „Romanen in Stimmen“ produktiv fortgesetzt und kann anhaltend irritieren, wie die Reaktion von offizieller Seite auf die inzwischen im Exil lebende Autorin zeigt. 72 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 163. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 113: „[…] a pořád se ten příběh opakuje, vojáci vejdou do vsi a zabíjejí, domy a lidi hoří, opakuje se to a bude se to opakovat, […] protože Alex má v ruce drátky […].“
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Neues: Nachdem ein reinigender Schneesturm alle die gewaltgetränkten, vertikalen Schichtungen eingeebnet hat, macht sich der Erzähler ein letztes Mal auf, hinaus in eine leere, weiße Fläche – nicht mehr „weg von“, sondern „hin zu“. Und dabei ist er nicht mehr allein. Ihm, der ein, wenn auch selbst nicht unschuldiger Sohn der Opfergeneration ist, hat sich eine Tochter der Täter zugesellt: Ich klettere aus dem Schlafsack, krieche nach draußen. Eine Menge Bäume sind weg. Dort, wo ihre grünen Kronen mal gewesen sind, sieht man jetzt die Ebene. Die Sonne steigt hoch. Auf dem festgefrorenen Schnee lässt es sich gut gehen. Ulla kauert am Zelteingang. Sie blickt in die Ferne. Diese Stille, die ist herrlich. Auf jeden Fall machen wir uns auf den Weg. Irgendwo kommen wir schon an. Wir retten uns. Ja, das dürfte klappen.73
Da sich der Autor Topol jedoch nicht nur in der europäischen Topografie, sondern auch in den Hetero- und Utopien Europas auskennt und kosmetischen Oberflächenmanipulationen, wie sie nicht zuletzt der Erzähltrick eines „reinigenden Schneesturms“ darstellt, skeptisch gegenübersteht, liegt es nahe, auch dem versöhnlichen Ende seines heterotopologischen „GedenkstättenThrillers“ zu misstrauen. Denn indem Topol alle die „untergründigen“ historischen Ereignisse und ihre traurigen Spuren, die Wunden und Narben, in seiner fantastischen Heterotopologie hervortreten lässt, setzt er – anders als sein beschränkter Erzähler – gerade nicht auf die „weiße, leere Fläche“, die sich als leere Seite und als Metapher für ein Vergessen verstehen lässt. Ob allerdings der von Topol gewählte Umgang mit der Geschichte des „Trümmer kontinents Europa“ letztlich in die Richtung einer gelingenden Heils- oder Heilungsgeschichte für Europa weisen kann, lässt das offene Romanende unbeantwortet.
73 Topol: Die Teufelswerkstatt (wie Anm. 3), S. 199. – Topol: Chladnou zemí (wie Anm. 3), S. 138: „Soukám se ze spacáku, lezu ven. Zmizelo spousta stromů. Tam kde byly zelené koruny, je vidět pláň. Slunce vystoupalo vzhůru. Po umrzlém sněhu se dobře půjde. Ula se krčí u východu ze stanu. Dívá se. To ticho je nádherný. Určitě půjdeme. Někam dojdeme. Zachráníme se. Jo, mohlo by to vyjít.“
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Serhij Žadans „postproletarischer Punk“ Verweigerung einer homogenen Kulturalisierung des urbanen Raumes
Mitteleuropa und Ostmitteleuropa sind mehr diskursive Konstrukte denn geografisch eindeutige Gebilde; sie ließen sich auf verschiedene Art und Weise auf einer Landkarte einzeichnen. Die ostukrainische Großstadt C harkiv und das Donec’k-Kohlebecken (abgekürzt: Donbas) wären dabei wohl kaum ohne Infragestellung ihrer Zugehörigkeit zu einer (ost-)europäischen Mitte zu verorten. Folgt man westukrainisch sozialisierten Intellektuellen wie dem Publizisten Mykola Rjabčuk, dem Schriftsteller Jurij Andruchovyč und Taras Voznjak, dem Herausgeber der Zeitschrift Ï, so verharrt die Donbas-Region in einem Zustand postsowjetisch-autoritärer Stagnation, während die West ukraine nach westeuropäischem Vorbild aufblüht.1 Am prominentesten hat Mykola Rjabčuk die These von den „zwei Ukrainen“ in seinem gleichnamigen Essay entfaltet. Er zitiert dabei ironisch die sowjetische panegyrische Rhetorik in Bezug auf die Ostukraine und spricht dem rechtsufrigen Landesteil aufgrund seiner sowjetischen „Gesichtslosigkeit“ eine ukrainische Spezifik ab: Jeder, der irgendwann mal im „fernen Osten“ und im „fernen Westen“ der Ukraine gewesen ist, zum Beispiel in Donezk und in Lemberg, wird zweifellos feststellen, dass es sich um verschiedene Länder, verschiedene Welten und verschiedene Kulturen handelt. Am offensichtlichsten sind die architektonischen Unterschiede. Lemberg ist eine typisch mitteleuropäische Stadt mit Spuren der deutschen Gotik, der italienischen Renaissance, des polnischen Barocks und natürlich der Wiener Sezession. […] Donezk bietet eine eigenartige 1 Zum Beispiel in folgenden Werken: Rjabtschuk, Mykola: Die reale und die imaginierte Ukraine. Frankfurt am Main 2005. – Andruchowytsch, Juri: Das letzte Territorium. Frankfurt am Main 42005, S. 12–27. – Vgl. auch Taras Voznjaks Publikationen in der Zeitschrift Ï, darunter 29 (2003).
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Alternative zur westukrainischen „Bürgerlichkeit“: eine schöne neue Welt der siegreichen bolschewistischen Revolution und des proletarischen Internationalismus. Eine typisch sowjetische Stadt, wie es sie zwischen Kriwbass und Kusbass, zwischen Norilsk und Karaganda zu Dutzenden gibt. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten sind Lenindenkmäler, Straßen, Plätze und selbstverständlich Fabriken, die allesamt seinen Namen tragen, sowie hässliche Häuser mit plumpen Säulen und kleinen Fenstern im pseudoklassischen Stil, im Volksmund „stalinsche Repressance“ genannt.2
Neben der anderen Sprache gehe es um eine andere Religion, einen anderen Geschmack („sehen andere TV-Sender, hören andere Musik“),3 um ein anderes Wahlverhalten, eine andere „ ‚proletarische‘ Mentalität“ im Gegensatz zur verblassenden, aber doch bestehenden „galizischen ‚Bürgerlichkeit‘ “ und ein anderes, problematischeres soziales und kriminelles Verhalten.4
„Othering“ der Ostukraine Die monolithischen „Ukrainen“ ließen sich in einer Tabelle zusammenfassen, bei der die Oppositionen vertikal ein Paradigma bilden und horizontal mit unterschiedlicher Wertigkeit belegt sein würden, darunter Geografie (Gebirge versus Steppe), Sprache (Ukrainisch mit Polonismen versus Russisch), Kultur (Bürgertum versus Arbeiter), Religion (katholisch versus russisch-orthodox beziehungsweise atheistisch), Geschichte (Hetmanat und Polen-Litauen versus Zarenreich und Sowjetunion) und schließlich Raumentwürfe („Mitteleuropa“ versus „Russisches Imperium“), politische Werte (Demokratie und Zivilgesellschaft versus Oligarchie und Repression), geopolitische Orientierung (Europa und USA versus Russland und Eurasien).5 Die Ukraine rechts des Dnipro ist bei Rjabčuk (p)ostkolonial – er beschreibt sie als eine koloniale Einheit Russlands und fordert implizit, die 2 Rjabtschuk: Die reale und die imaginierte Ukraine (wie Anm. 1), S. 12–13. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 14. 5 Dies ist eine modellhafte Zuspitzung. Bei Rjabčuk findet sich tatsächlich eine Tabelle, die das L’viv-Gebiet mit dem Luhans’k-Gebiet vergleicht und feststellt, dass Scheidungen, außereheliche Kinder, Kriminelle, Alkoholiker, Drogensüchtige, Syphilis- und Aidskranke in der ostukrainischen Region häufiger registriert würden. Rjabčuk, Mykula: Dvi Ukraïny [Zwei Ukrainen]. Kyïv 2003, S. 20–21.
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Ostukraine ideologisch dem „progressiveren“ westukrainischen Modell anzugleichen. Rjabčuks Essay ist ein Beispiel für einen distinktiven Kulturnationalismus: Der Kulturalismus ersetzt hier den Ethnozentrismus.6 Aus der eingenommenen Opferposition reproduziert Rjabčuk den kulturellen als einen quasi-rassistischen, ausgrenzenden Diskurs. In dieser Polarisierung der Ost- und Westukraine klingt die Dichotomie West- versus Osteuropa nach, wobei der Osten zum unerwünschten Anderen wird. Insofern erhält das „Kulturonym“ Ostukraine den Status einer Abweichungsheterotopie, die der westukrainische Identifikationsdiskurs als Abstoßungsfolie benötigt, um sich durch äußere Abgrenzung nach innen hin zu konsolidieren. Russland erscheint in dieser Gegenüberstellung ebenso wie Mitteleuropa vor allem als eine spezifische topografisch-kulturelle Formation. Beide Toponyme werden selektiv aufgeladen und in eine Opposition zuein ander gestellt, die einen Bogen schlägt von den Teilungen Europas im Ersten und Zweiten Weltkrieg über das Blockdenken des „Kalten Krieges“ bis in die postsozialistische Gegenwart: Innerhalb dieser Konstruktion steht „Russland“ für eine Fortsetzung der ehemaligen sowjetischen Hegemonialmacht. „Mitteleuropa“ hingegen hat seine geopolitische Bedeutung im Sinne einer kolonialen deutschen Expansion verloren.7 In Anlehnung an die Mitteleuropa-Debatte der 1980er-Jahre bezeichnet es eine bei westukrainischen Intellektuellen beliebte Selbstauffassung, die über historische, politische, sprachliche und intertextuelle Referenzen etwa auf Prag, Krakau oder Lemberg deutliche Distanz gegenüber der Sowjetunion beziehungsweise dem heutigen Russland signalisiert. Die Westukraine hat sich in den letzten zirka zehn Jahren als demokratiebereit und offen für die Europäische Union gezeigt, nicht zuletzt durch die Einschreibung Galiziens, der Bukowina und Karpaten qua Reaktivierung ihrer österreichisch-habsburgischen Vergangenheit in eine geokulturelle Einheit mit (Nachbar-)Staaten, die der Europäischen Union angehören. Zu dieser Einschreibung hat verstärkt Jurij Andruchovyč beigetragen – sowohl durch seine physische Präsenz auf Lesungen und Podiumsdiskussionen als auch durch sein Prosawerk, das eine positive Resonanz in den deutschsprachigen Ländern gefunden hat.8 6 Rjabtschuk: Die reale und die imaginierte Ukraine (wie Anm. 1), S. 75. 7 Naumann, Friedrich: Mitteleuropa. Berlin 1915. 8 Die Orientierung der Westukraine an Westeuropa wurde von Verlagen wie Suhrkamp und von politischen Akteuren wie der Heinrich-Böll-Stiftung kulturpolitisch unterstützt.
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Dieser diskursive Aufwertungsprozess hat auf Kosten der Ostukraine stattgefunden: Sie ist, wenn überhaupt, negativ präsent: Die „Orange Revolution“ gilt dort als gescheitert, dafür seien in der Region Öl- und FußballOligarchen zu Hause, so die öffentliche Wahrnehmung. Und auch in der politikwissenschaftlichen Forschung liegt der Schwerpunkt auf den Themen Korruption, Kriminalität und Ausbeutung. Die Ostukraine ist innerhalb des Prozesses der nachholenden Nationalstaatlichkeit das erst bei näherem Hinsehen erkennbare Ergebnis eines diskursiven „Othering“-Projektes. Die westeuropäische Rezeption hat daran teil, indem sie die westukrainische Selbst repräsentation in ihrer Selektivität und Abgrenzung gegenüber dem Osten (und Süden) der Ukraine bestätigt.
Charkiv: Eine Alternative Wie verhält es sich mit Serhij Žadan, geboren 1974 in Starobils’k, dem heutigen Luhans’k, dem derzeit erfolgreichsten und bisher einzigen Autor aus der Ostukraine, der im deutschsprachigen Medienbewusstsein präsent ist? Die Figur Žadan, zu der sich der Literat als agierender Ich-Erzähler in seinen Texten und bei seinen Auftritten stilisiert,9 ist eng mit der Funktionalisierung zum „Repräsentanten“ des kulturellen Lebens der Ostukraine verknüpft. In der Übertragung steht der Name des Autors metonymisch und toponymisch für „die Ostukraine“. Seinen westukrainischen Kollegen gleich, hat er im Rahmen diverser Stipendienaufenthalte in Polen, Deutschland, Österreich und der Schweiz gelebt. In Interviews, die er auch auf Russisch gibt und in denen er neutral auf die politisierte Sprachverwendung in der Ukraine hinweist, drückt er Respekt gegenüber westukrainischen Intellektuellen aus, ordnet sich selbst aber eher Ost- denn Mitteleuropa zu.10 Er kooperiert gleichermaßen mit ukrainischen 9 Seine Einzel-Performances und gemeinsamen Auftritte mit der Ska-Band Sobaki v kosmose (Hunde im Kosmos) zeichnen sich durch einen spezifischen „Style“ aus: Der Autor auf der Bühne löst mit seinem jugendlichen Kleidungsstil aus T-Shirts mit rotem Sternaufdruck, Jeans und mittellangen Haaren die Assoziation aus, dass er seine Protagonisten verkörpere. Sein energisch-stakkatoartiger Stil beim Vortrag von Prosa und Lyrik kontrastiert mit zurückhaltend-sachlichen Antworten auf Publikumsfragen. 10 Vgl. das Interview der Verfasserin mit Serhij Žadan vom Februar 2013 (in Vorbereitung zur Veröffentlichung auf www.novinki.de).
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Autoren, die auf Russisch schreiben, sowie mit jenen, die gegen eine starke Verwendung des Russischen anschreiben. In seinem Werk beruft er sich auf die ukrainische ebenso wie auf die russische Moderne.11 So wie er zugunsten der Vereinbarkeit vermeintlicher Kontraste auf einen mittel- und westeuro päischen Intellektuellenhabitus verzichtet, lässt sich auch sein Schreiben nicht auf die Polarisierung zwischen West und Ost ein. Vielmehr signalisiert seine Poetik eine Verweigerungshaltung gegenüber der geokulturellen Distinktion aktueller Raum-Diskurse, die nicht zuletzt durch die Literatur generiert werden. Die Millionenstadt Charkiv und die Industrieregion Donbas sind wichtige Schauplätze in Serhij Žadans Werk, vor allem in seinem zweiten längeren Prosatext Anarchy in the UKR.12 Orte wie Huljajpole, der Geburtsort des Anarchistenführers Nestor Machno, Donec’k, Starobils’k und Charkiv eröffnen einen Gegenpol zur Darstellung der Westukraine als einem „kontrolliert exotischen“ und gleichzeitig doch vertrauten Teil Mittel-(Ost-)Europas, mit Galizien und der Bukowina als „kultivierten“ Regionen und den im Kontrast „wilden“ Karpaten, wie sie unter anderem in der auch ins Deutsche übersetzten Prosa von Autoren wie Jurij Andruchovyč, Taras Prochas’ko und L jubko Dereš figurieren. Indes bietet auch Charkivs Geschichte Anlass, die Stadt als Teil der gesamteuropäischen Kulturgeschichte und des Widerstandes gegen hegemoniale geopolitische Ordnungen zu sehen: Im russischen Zarenreich, vor allem im 19. Jahrhundert, war die Millionenstadt ein Zentrum der ukrainischen Kultur- und Nationalbewegung;13 in den 1910er- und 1920er-Jahren konzentrierte sich dort die russisch- und ukrainischsprachige Avantgarde;14 und im Zweiten Weltkrieg leistete Charkiv militärischen Widerstand gegen zwei nationalsozialistische Besetzungen. Während und nach den ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen war Charkiv zunächst die erste Hauptstadt 11 Ebd. 12 Žadan, Serhij: Anarchy in the UKR. Charkiv 2006. – Zhadan, Serhij: Anarchy in the UKR. Übers. v. Claudia Dathe. Frankfurt am Main 2007. 13 Die Charkiver Romantiker waren in ihrem Schaffen auch mit der Universität intensiv verbunden, wo ein ausgeprägtes (literatur-)historisch-ethnografisches Interesse an „Volksdichtung“ herrschte. Charkiv galt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als kulturelles und mit Hryhoryj Kvitka-Osnovyanenko und M ykola Kostomarov auch als literarisches Zentrum, weniger jedoch als politische M etropole. 14 Zu literarischen Organisationen in den 1920er-Jahren siehe: Charkiv – moja mala bat’kivščyna. Navčal’nyj posobnik [Charkiv – meine kleine Heimat. Lehrbuch für Anfänger]. Hg. v. Ivan Prokopenko. Charkiv 2003, S. 408.
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der Republik Donec’k-Kryvyj Rih und später der Sowjetukraine (1917–1918 sowie 1919–1934), in den 1920er-Jahren war die Stadt zudem ein Zentrum der Ukrainisierung.15 Žadan greift diesen Status Charkivs auf, positioniert die einstige Hauptstadt jedoch nicht explizit als Gegenpol zur westukrainischen Kulturhauptstadt L’viv (Lemberg). Sein Entwurf der Stadt als einer, die ukrainisch ist und eine sowjetische Vergangenheit hat, sowie sein Verzicht auf ein festgelegtes Beschreibungsmuster bringen in erster Linie eine Orientierung auf diskursive und ästhetische Freiheit zum Ausdruck. Mit diesem Freiheitspathos knüpft der Autor einerseits an jugendkulturelle Haltungen an – durchaus vergleichbar mit westukrainischen Autoren seiner Generation,16 – und andererseits an die konkrete Stadtgeschichte. Der Charkiv-Experte Oleksij Musijezdov zieht nach langjähriger Forschungsarbeit zu Identitätskonstruktionen der Stadt ein Resümee, in dem er Charkiv als eine Stadt der Ideen, der Bikulturalität, des Konstruktivismus und der Freiheit bezeichnet, die in ein konservatives Modell der Nationalstaatlichkeit nicht hineinpasse: Being an international and cosmopolite city, Kharkiv does not accept Ukrainian national ideology, because there it is one of the Russified cities in Eastern Ukraine, and it is not satisfied with this modest role. Here one faces the idea of primordial „specificity“, independency and all-sufficiency of Kharkiv (compare the origin of Slobozhanshchyna from sloboda=svoboda=freedom) – a city that does not need any national grounding. Thus, following the sources of the research, we have traced a number of the historical images of Kharkiv: „free settlement“, trade centre, railway junction, industrial, academic, cultural centre, „first capital“. Different times favoured different images. Now some of them are either considered key images or ignored. For example, focusing on the 1920s 15 Musiyezdov, Oleksiy: An Identity of Kharkiv: A Concept of the City and its History as Identification Factors. In: ece-urban 5 (2009), S. 8. Quelle: www.lvivcenter. org/download.php?downloadid=112 (Letzter Zugriff: 02.04.2013). 16 Einen Überblick über Jugendkulturen im ukrainischen Kontext liefert Javornyc’ka, Oleksandra: Teorija subkul’tur u sociolohičnij perspektyvi [Theorie der Subkultur aus soziologischer Perspektive]. In: Ï 24 (2002), S. 100–108, hier 106. – Auch in den Romanen des westukrainischen Jungautors Ljubko Dereš, darunter Die Anbetung der Eidechse oder Wie man Engel vernichtet (2004, Pokloninnja jaščirci, dt. 2006) und Intent! oder Die Spiegel des Todes (2006, Namir!, dt. 2008), sind Jugendkulturen immer wieder Thema, Grundlage für Konflikte und Merkmal der meist in den Karpaten angesiedelten Schauplätze.
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Ukrainization is a component for shaping the Ukrainian identity of the city; the „first capital“ formula refers to the industrial and academic, might constituting the Soviet identity.17
Die im Folgenden vorgenommene Analyse legt anhand des Romans A narchy in the UKR das Augenmerk auf poetische Strategien, mithilfe derer die Ost ukraine und Charkiv nicht vereindeutigend als Namen degradierender Landschaften markiert, sondern als semantisch offene Topo- und Kulturonyme herauspräpariert werden. Auf diese Weise, so die These, lässt Žadans Poetik eine kulturell argumentierende Konkurrenz mit der Westukraine ins Leere laufen und hinterfragt die der Ostukraine unterstellte Sympathie mit totalitaristischen Tendenzen in der Russischen Föderation. Die Entledigung von kollektiver Raum-Geschichte sowie das „Weg- Schreiben“ der individuellen Geschichte des Ich-Erzählers vollziehen sich formal im Bruch mit einer kohärenten Erzählweise. Auf der narrativen Ebene konkurrieren Raum und Zeit.18 Die Bildsprache reicht von pejorativer und vulgärer Lexik bis hin zur Nutzung klischierter Symbole wie Dämon, Herz, Blut oder Vogel. Anarchy in the UKR besteht aus lyrischen Fragmenten, Reisenotizen, Erinnerungsfetzen, meditativen Reflexionen und Träumen. Im Kontrast zur Vielfalt der Textsorten werden diese von einer rigiden, demonstrativ willkürlichen Ordnung zusammengehalten: Der Roman ist in vier chronologische Kapitel eingeteilt,19 von denen jedes in zehn Unterabschnitte gegliedert ist. Im Vordergrund steht jene Schreibstrategie, die das Individuelle der Aneignung des geografischen Raumes hervorhebt, was sich besonders prononciert im Charkiv-Entwurf äußert. Diese Inszenierung der subjektiven Wahrnehmung unterläuft die Möglichkeit einer kollektiven Vereinnahmung im Sinne einer Nationalkultur. Der Erzähler bedient sich an Versatzstücken aus der Populärkultur sowjetischer und westeuropäischer Provenienz und schöpft zudem aus dem Reservoir jugendkultureller Antihaltungen gegenüber Bürgerlichkeit, Hochkultur und gewohnten Alltagskodes. 17 Musiyezdov, Oleksiy: An Identity of Kharkiv (wie Anm. 15), S. 22. 18 Von einer „Apologie des Gedächtnisses“ spricht Šuba, Bohdan: Anarchija pam’jati [Anarchie des Gedächtnisses]. In: Krytyka (2005) Oktober, S. 26. – Siehe auch Žadan, Serhij: Kapital. Charkiv 2007, S. 758–762. 19 Die Überschriften der vier Teile heißen: Wie schwarze Damenunterwäsche; Meine Achtziger; Red Down Town; Live fast, die young (zehn Tracks, die ich auf meiner Beerdigung hören möchte).
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Die poetische Herstellung einer Privaträumlichkeit geht mit einer weiteren anti-kulturalisierenden Strategie einher: der Zuschreibung einer meta poetischen Funktion an Räume. Hierbei stehen die Orte in der Stadt für aisthetische und ästhetische Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse. Ihre Selbstreferenzialität stellt eine Distanz zum historischen und zeitgenössischen Kontext her. Eine besondere Rolle für die Ideologieverweigerung spielt schließlich drittens die Sympathie für den Anarchismus und viertens das Ideal der Bewegung, der physischen wie der semantischen Mobilität, der Veränderung von Schauplätzen, aber auch von Raum-Arten.
Aufwertungsprojekt abseits nationaler Hochkultur Die ukrainische Literaturwissenschaftlerin Tamara Hundorova betrachtet Popkultur als das Leitparadigma der postsowjetischen ukrainischen Literatur.20 Auch ihr Kollege Pavlo Zahrebel’nyj hebt hervor, Žadans Prosatexte seien popkulturell.21 Ohne den ausgewählten poetischen travelogue unbedingt der Popliteratur zuzurechnen – eine für dieses Genre mögliche, aber nicht selbstverständliche Einordnung,22 – ist das Populäre für Anarchy in the UKR doch relevant, im Sinne des Egalitären anstelle des Elitären. Dieses Bedeutungsumfeld steht in einem direkten Bezug zur skizzierten Stadtgeschichte: Es verweist auf sowjetische Ideologeme des Massenkulturellen, welche die erste sowjetukrainische Hauptstadt mit ihrer Architektur, ihrem ökonomischen Sektor, aber auch als Ort künstlerischer Aktivitäten maßgeblich geprägt haben. Charkiv wird im Roman also nicht allein mit seiner Industrie in Verbindung gebracht; wie auch in der ehemaligen Sowjetunion steht es für Wissenschaft, Freizeit und Kultur. Die erzählerische Wiedergewinnung dieses Status der ersten ukrainischen Hauptstadt wirkt ihrer postsowjetisch marginalen Lage unweit der ukrainisch-russischen Grenze entgegen. Sie lässt die Ostukraine zum Impulsgeber für den Erzählgestus werden. Wenn der Text etwa auf die sowjetische Propaganda-Rhetorik rekurriert, mit der die ehemals für ihre Leistungsfähigkeit berühmte Industrieregion Donbas und die Arbeiterstadt Charkiv früher gekennzeichnet wurden, übertragen sich Revolutions20 Hundorova, Tamara: Kitč i literatura [Kitsch und Literatur]. Kyïv 2008. 21 Zahrebel’nyj, Pavlo: Vesela Bezprytul’nist’? [Fröhliche Heimatlosigkeit?]. In: Žadan: Kapital (wie Anm. 18), S. 226–230, hier 227. 22 Bonz, Jochen: Subjekte des Tracks. Ethnografie einer postmodernen/anderen Subkultur. Berlin 2008, S. 15–19.
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pathos, Produktionsemphase und Proletariatsstolz auf die Ebene eines Erzählens, das aus dem sowjetischen Charkiv-Diskurs auch den panegyrischen Gestus übernimmt. Emblematische Gebäude werden als Realisierungen eines utopischen Projektes hervorgehoben. Der Text nimmt an dieser Utopie teil, wenn auch nur für die Dauer des erzählenden Abschreitens des Charkiver Platzes der Freiheit (Plošča Svobody) – das Konstruktionsprinzip des dritten der insgesamt vier Kapitel des Reise- und Erinnerungsromans. Indem er den Namen des Platzes der Freiheit in ein poetisches Programm involviert, sprengt der Erzähler den Bedeutungskern des Stadtzentrums als kultureller und administrativer Mittelpunkt für neue Funktionen in seiner persönlichen mental map auf. Er macht es zur Plattform für die Selbstdarstellung eines regionalpatriotischen enfant terrible, das sich nicht um die aufwertende kollektive Geschichte der Schauplätze seiner Kindheit und Jugend kümmert. Vielmehr wird durch die beiläufige Mischung individuell gewichteter historischer Exkurse, darunter auf den Anarchistenführer Nestor Machno, auf die Belagerung Charkivs im Zweiten Weltkrieg und die spätsowjetische Epoche, mit der die intensivsten Erinnerungen verbunden sind, ein Mehrwert an Aufmerksamkeit generiert. Insofern überwindet Žadan mit seinem hochkulturell kodierten, jedoch „organischen“ Schreiben, das in Anarchy in the UKR verstärkt auf topografische Symbole der sowjetischen Massenkultur in Charkiv und Umgebung Bezug nimmt, die Kluft der räumlichen Metapher von der „hohen“ und der „niedrigen“ Kultur (Richard Stites), aber auch die Opposition zwischen der ländlichen und der urbanen Kulturform.23 Žadans Charkiv-Entwurf bestätigt zudem die These von Stites, dass die urbane Popkultur im Sinne ihrer quasi ansteckenden Popularität als ein Suchtmittel betrachtet werden kann, das den 23 Stites, Richard: Soviet Popular Culture. Russian Popular Culture: Entertainment and Society since 1900. Cambridge 1992, S. 1: „The spatial metaphor of high and low commonly used to distinguish the two levels of culture is apt. High culture – lofty, elevated, exalted, and ethereal – is constructed as ,thin‘ like the air it grows in, delicate like the flower that pokes up out of the ground, brainy like the topmost organ of the human body. All this is in contrast to the earth that is moist and fertile, dirty by definition, and rich in odors. The stern critic will complain here that this metaphorical lexicon applies only to the natural juxtaposition of real art and authentic folk culture which is indeed rooted in the earth of forest and plowland; and that modern ,popular culture‘ is urban, alienated, artificial, inorganic. Such arguments miss the point that all culture is organic, that the ,folk‘ of teeming streets who consume a culture participate in its creation as much as do the media manipulators.“
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Ich-Erzähler auch im Erwachsenenalter nicht loslässt – „but independent of anyone’s intention“.24 Die Stadt-Poetik des ostukrainischen Autors eignet sich für das (riskante) Unterfangen eines Vergleiches der sowjetischen Populärkultur und der westlich geprägten, globalen Popkultur. Stites definiert die sowjetische Populärkultur folgendermaßen: Massovaya kultura, as it was called, was a culture constructed, promoted, and even financed by the state. But it was designed with the people in mind and was, as I shall demonstrate, popular none the less. In the decades since Stalin’s death, the system of mass culture has been eroding in the face of continuing urbanization, education, exposure to the West, the rhythms of political reform and popular expectation, and the birth of new media – especially television.25
So gesehen kann bereits die sowjetische Massenkultur als ein hybrides, sich wandelndes Phänomen gelten, das zwar anfangs unterstützend in Bezug auf die Staatsmacht konzipiert und forciert worden ist, aber durch die zunehmende Rezeption westlicher Geschmacks- und Ausdrucksformen in Kleidungsstilen, Musik wie Filmen teilweise subversives Potenzial angenommen hat. Zugleich haben sub- und jugendkulturelle Bewegungen in Westeuropa mit linken Ideen sympathisiert, um mit ihrer Hilfe das bürgerliche Establishment zu provozieren. In gewisser Weise entsprechen Žadans Schreibweise und Kulturkonzept damit dem Anliegen der einflussreichen Jugend- und Subkulturforscher am Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS), darunter Stuart Hall, Dick Hebdige und Raymond Williams, die für eine Überwindung der Hierarchie von „hoher“ und „niedriger“ Kultur plädierten.26 Für Žadans Charkiv-Entwurf ist zudem kennzeichnend, dass er selektiv und ironisch mit Allusionen auf die sowjetische Vergangenheit umgeht: Er gibt privatem Erinnern Raum und blendet gleichzeitig das kollektive Gedächtnis an diese spätsowjetische Epoche nicht aus. Der Autor orientiert sich insgesamt an einem Kulturverständnis, das Vertretern der MitteleuropaIdee, wie sie für den westukrainischen Identifikationsentwurf grundlegend ist, entgegenläuft. Milan Kundera etwa, dessen Essay in der Zeit des „Kalten 24 Ebd., S. 2. 25 Ebd., S. 5. 26 Lindner, Rolf: Die Stunde der Cultural Studies. Wien 2000, S. 19.
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Krieges“ den Nerv des Abgrenzungswunsches gegenüber der Sowjetunion getroffen hat, hing mit seiner Kritik am massenmedialen Konsum Intellektueller bereits damals obsoleten westeuropäischen Kulturformen an.27 Bei Žadan richtet sich die Nostalgie hingegen auf eine (auto-)biografisch erlebte Alltagskultur – auf Orte seiner sowjetischen Kindheit und Jugend wie Kino, Garagenhof, Busbahnhof, Stadion, das Lenin-Denkmal und die Pionier- und Kulturpaläste, die vernachlässigten Jugendlichen Zuflucht, Liebeserfahrungen und Konzerte gewährten. Der rebellische Erzähler-Protagonist provoziert, indem er die Massenkultur, zudem jene osteuropäischen Ursprungs, auch positiv erinnert. Allein die Geste, an das, was in der Sowjetunion Mainstream sein sollte, wenn nicht affirmativ so doch poetisch produktiv anzuknüpfen, läuft dem nationalen Diskurs der ersten beiden Jahrzehnte nach 1991 entgegen. Žadans Bezüge auf sowjetisch-proletarische Leitbilder der Industrieregion fallen aus dem Diskurs der nationalen und demokratischen Bestrebungen der „Orangen Revolution“ 2004/2005 heraus. Sein Erzähler spricht nicht über Hoffnungen auf eine demokratische Regierung, sondern über „Heerscharen von Verrückten und Aussätzigen, Erniedrigten und Beleidigten“, die „auf den gigantischen, einige Hektar großen Platz“ ziehen, um „sich gegenseitig von Kopf bis Fuß zu vermöbeln“.28 Er schlägt eine „richtige“ Revolution vor. Das erfordere neben Körper- auch Kamera-Einsatz, denn „daraus ließe sich ein Film machen“.29 Diese Ansage setzen die nachfolgenden zehn Teilabschnitte des Kapitels Red Down Town um, wenn sie eine Kamerafahrt über den Platz der Freiheit, einen der größten innerstädtischen Plätze Europas und offensichtlich den zentralen topografischen Erinnerungsmarker des Erzählers, imitieren. In Red Down Town ist die Stadt auf den Platz der Freiheit reduziert – der Erzähler schreitet den Platz als Raum seiner persönlichen Freiheit kompositorisch ab. Der metonymische Effekt verstärkt sich durch die Konzentration auf je einen Ort (einzelne Gebäude, Denkmäler, die Metro) pro Einzel 27 Kundera, Milan: Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas. In: Kommune 7 (1984), S. 43–52. – Vgl. auch Konrád, György: Der Traum von Mitteleuropa. In: Aufbruch nach Mitteleuropa. Rekonstruktion eines versunkenen Kontinents. Hg. v. Erhard Busek und Gerhard Wilflinger. Wien 1986, S. 87–97. – Miłosz, Czesław: Central European Attitudes. In: Cross Currents. A Yearbook of Central European Culture 3 (1996), S. 101–108. 28 Zhadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 117. – Žadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 116. 29 Zhadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 118. – Žadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 117.
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abschnitt der zehn Unterkapitel, welche die assoziativen Bestandteile auch dieses Kapitels rigide strukturieren. Auf diese Weise bleibt die erzählte Innenstadt eine nummerierte Aneinanderreihung von willkürlich ausgewählten und fragmentarisch erkundeten Einzelorten – ähnlich den erratischen Reisen des Protagonisten, der sich ständig per Eisenbahn oder Autostopp, in der Metro oder zu Fuß in Bewegung befindet.
Raum-Tropen Die narrative Umsetzung eines Kamera-Blickes entfaltet eine selbstreferenzielle Raum-Trope aus dem vorherigen Kapitel. Die „Gedächtnis-Kamera“ symbolisiert dort den Erinnerungsvorgang und kündigt eine spätere Preisgabe des Gespeicherten bereits an: […] sie kommen gar nicht auf die Idee, dass ich sie im Visier haben könnte, dass ich schon für jeden von ihnen eine persönliche Akte angelegt und in meinem kindlichen Gedächtnis für jeden eine extra Kamera installiert habe, dass sie keine Chance haben, dieser Kamera, diesem Gefängnis, meinem Gedächtnis zu entkommen, mein Gedächtnis ist anspruchslos wie der wilde Wein an der Hauswand, ich muss es nicht versorgen, es ernährt sich von seinen eigenen Säften, indem es die fetten, saftigen Brocken der Vergangenheit mit Gift durchtränkt: meine eigene Vergangenheit, die fremde Vergangenheit, die gemeinsame Vergangenheit. Mein Gedächtnis blutet, es hat sich an den scharfen Kanten der Wirklichkeit aufgerissen, es behält Male und Narben zurück, an denen ich diese langsame, aber unaufhaltsame Bewegung vorwärts und aufwärts zurückverfolgen kann, eine Bewegung an der Hauswand empor, festgekrallt an Vorsprüngen und Ziegeln, Antennen und Fensterbrettern, immer nach oben, Blicke in Fenster und trotzdem in sicherer Entfernung, mein Gedächtnis ist eine Einbahnstraße, niemand bemerkt seine Gegenwart, niemand sieht, wie es die Mauern seines Hauses überzieht und in den Ritzen und Spalten scharfe, tiefe Wurzeln schlägt.30 30 Zhadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 68–69. – Žadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 66–67: „[…] вони навіть не здогадуються, що я тримаю їх на прицілі, що я вже завів на кожного з них персональну справу і відвів кожному з них одиночну камеру в своїй дитячій пам’яті, і що вийти коли-небудь із цієї камери, із цієї в’язниці, із моєї пам’яті їм просто не світить – моя пам’ять чіпка й витривала, як дикий виноград на стіні дому, вона не потребує жодного
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Die Beobachtungen und Dokumentationen bleiben geheim, werden nicht kommuniziert, um der privaten Erfahrung und der mnemonischen HausTrope als der „eigentlichen“ Informationsquelle über die Ostukraine umso größere Macht zu verleihen. Die Aufmerksamkeit auf das Erzählen selbst zu verschieben und den Referenzräumen eine metapoetische Funktion zu verleihen, ist eine weitere Strategie, die politisierte Instrumentalisierung des erzählten Charkiv zu unterlaufen. Radikaler noch geht es um die prinzipielle Unmöglichkeit, Erinnerung sprachlich zu fixieren. Das Schreiben wird zum Kampf gegen das Verstummen im Trauma und um die Aufrechterhaltung der Kontrolle darüber, wie viel der Leser über das schmerzhafte Erinnern, beispielsweise an die dysfunktionale Familie, erfahren darf. Das erinnerte Beobachten des kindlichen Ich-Erzählers wird nachträglich zum heimlichen Widerstandsakt gegenüber dem Erwachsenenleben und findet im nächsten Kapitel in der Dokumentation des neuen Zuhauses Charkiv ein Pendant: Statt die Erinnerung an die Kindheit in Starobil’sk gänzlich preiszugeben, überschreibt der Erzähler sie mit der Erinnerung an seine Jugend in der Ersatzheimat Charkiv. Auch die Orte der Jugend in Charkiv nehmen mitunter eine metareferenzielle Funktion ein: Sie sind keine marginalisierten Abweichungsheterotopien postsowjetischer Städte, sondern Paläste eines idyllischen Kindheitsreiches, zu dem der Erzähler vorzustoßen versucht. Die Topografie funktioniert metaphorisch – sie ist in Oberflächen und ein Darunter strukturiert. Der Prozess des Erinnerns, des Vordringens ins Unbewusste steht wie im freudschen Denkmodell für ein tief liegendes Reservoir an sowohl aggressions- als auch sympathiegeladenen Einstellungen, die hier auf das mentale Stadtmodell des Erzählers bezogen werden können:
догляду з мого боку, вона харчується власними соками, перетруюючи жирні соковиті шматки минулого – мого минулого, чужого минулого, спільного минулого. Моя пам’ять кровоточить, обрізавшись об гострі краї реальності, на ній лишаються знаки й зарубки, завдяки яким я завжди зможу пригадати цей дивний, повільний але неспинний рух вперед, рух вгору, по стіні будинку, чіпляючись за виступи й цеглу, за антени й віконниці – рухатись вгору, зазираючи у вікна і знаходячись разом з тим на безпечній відстані; моя пам’ять – одностороння, ніхто не помічає коло себе її присутності, ніхто не бачить, як вона обплітає стіну його будинку, пускаючи гостре й надійне коріння в западини й тріщини між цеглинами.“
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[…] – der Pionierpalast, ein Zeichen, eine Ansichtskarte aus der Vergangenheit, aus der kollektiven Kindheit dieses Landes, ihrem kollektiven Gedächtnis. Die neue Ästhetik kann weder die Schrift ganz von den Giebeln tilgen, noch alle Skulpturen von den Dächern meiner Stadt beseitigen, sie kann die Schriftzüge und Losungen nicht löschen, wie man Tätowierungen mit Säure löscht, sie kann nicht mehr, sie ist nicht gut genug, und vor allem fehlt ihr der Ersatz für diese ausgewogene visuelle Reihe, die dem früheren Land diente in seinem Drang nach vorn, hinein in den gelben leeren Sand des Vergessens. Seltsame Ruinen sind von alldem geblieben, Häuser mit den Geistern von Erhängten, Routen für den kollektiven Sextourismus, all diese Kulturpaläste, Hochzeitspaläste, Pionierpaläste, der unangebrachte Frohsinn des jungen sozialistischen Modells, das wie eine neue Dampfmaschine vom eigenen Adrenalin explodiert ist, im Gedächtnis Bruchstücke zurücklassend, an denen das Himbeerblut der Forscher klebt.31
Das Vordringen unter die Oberfläche gelingt jedoch nicht, sodass sich stattdessen die Beschreibung des Raumes entlang der zeichenhaft-topografischen Oberfläche bewegt, dabei auf den Vorgang des Erinnerns verweist, nicht jedoch auf den konkreten Inhalt des Erinnerten. An den „Bruchstücke[n]“ im Gedächtnis „klebt“ das Blut der Forscher wie die Schrift des Autors auf dem Papier oder das Graffiti an der Wand. In Anarchy in the UKR fordert die Darstellung des physischen Raumes immer wieder zur Problematisierung von Materialität heraus. Die Körperlichkeit des Ich-Erzählers, die seine Wahrnehmung mitbestimmt, und die ikonischen Gebäude, darunter das Hotel Charkiv, das Lenin- und das Taras-Ševčenko-Denkmal, die Universität, der Plattenladen unter der Oper, ein Verwaltungsgebäude, die Metro und ein 31 Zhadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 150–151. – Žadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 151: „[…] – палац піонерів, знак, листівка з минулого, з колективного дитинства цієї країни, з її колективної пам’яті. Нова естетика не може до кінця збити літери на фронтонах, прибрати скульптури, поставлені на дахах мого міста, вона не може витравити написи і вивіски, як кислотою витравлюють наколки, їй не стає духу, не вистачає вміння, а головне – їй немає чим замінити виважений візуальний ряд, котрим користувалась колишня країна в своєму просуванні вперед, в жовті порожні піски забуття. Дивні руїни лишились після всього, будинки з привидами повішених, маршрути для колективних занять секс-туризмом, усі ці палаци культури, палаци одружень, палаци піонерів, недоречний мажорний дух юної соціалістичної моделі, котра, ніби нова парова машина, розірвалась від власного адреналіну, залишивши на пам’ять окремі деталі, на яких запеклась малинова кров дослідників.“
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Bahnhof, werden zu Symbolen der vor Ort gemachten Erfahrungen. Gleichzeitig stehen sie für den Speicherprozess der Erinnerung an sich und für ihre kreative Umbildung beim (Nach-)Erzählen. Sie verlieren dadurch ihre ideologische Funktion und werden stellenweise zu Denotaten für eine willkürliche semantische Neu-Aufladung mit eigenen Erfahrungen. Die Umschreibung offiziell repräsentativer Territorien zu nicht-kulturalisierten Räumen geschieht mittels der visuell orientierten Dokumentation einer mental map,32 die das Private im öffentlichen Raum hervorbringt, was an die Arbeiten des Charkiver Fotografen Boris Michajlov denken lässt.33 Michel de Certeau interpretiert Karten und Orte als hegemoniale Mechanismen der Machtausübung, die Aneignung konkreter Räume hingegen als subversiv.34 In Žadans mental map mündet die narrative Inbesitznahme der einzelnen Orte in einer individuellen, dabei aber in ihrer Subversion nicht weniger machtvoll imaginierten Vereinnahmung der Innenstadt: In meiner down town war kein Gebäude zufällig, irgendwer hatte jedes einzelne sorgfältig und genau ausgewählt, sodass es zu jedem irgendwelche Geschichten und Episoden gab, und wenn man jetzt auch nur ein Gebäude einrisse, bräche das Gesamtbild auseinander, klaffende Löcher würden die umliegende Leere in Staub verwandeln. Tag für Tag dieselben Gebäude sehen, hineingehen, lange darin herumlaufen, langsam ihr Innenleben verstehen, sich an die Höhe und 32 Eine mental map ist keine festgelegte Ausdrucksform, sie kann zum Beispiel eine frei gezeichnete Karte oder von Äußerungen der Befragten begleitet sein bzw. nur aus mündlichen Angaben bestehen. Jörg Dünne bezieht sich bei seiner Definition auf Kevin Lynch, der 1960 ein kognitionspsychologisches Verständnis von mental maps entwickelt hat: „Prämisse ist dabei, dass eine innere Karte, die metaphorisch kognitive Strukturen bezeichnet, mit der äußeren, meist ebenfalls metaphorisch als ein Territorium konzipierten Realität in Interaktion tritt. Der Vorteil dieses Ansatzes ist es, die traditionelle Begrenzung des Kartenbegriffs auf den physischterritorialen Aspekt aufzubrechen, d.h. Mapping kann in dieser Bedeutung auch zur Verräumlichung von an sich nicht räumlich sichtbaren sozialen Relationen verwendet werden.“ Dünne, Jörg: Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums. In: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Hg. v. Jörg Döring und Tristan Thielmann. Bielefeld 2008, S. 49–70, hier 53. 33 Boris Michajlov, ein Charkiver Fotograf mit internationalem Ruf, arbeitet u. a. mit Obdachlosen, die er in ihren Lebensmilieus als Modelle abbildet und die damit erst auf dem fotografischen Bild einen privaten Raum erhalten. Mikhailov, Boris: Case History. Zürich u. a. 1999. 34 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin 1988.
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die Dunkelheit der Korridore gewöhnen, an das schwere Quietschen der Eingangstüren, an die Fensterbretter und Steckdosen, an die Bänke auf den Fluren und die Teppiche auf den Treppen – meine down town bedeutet mir viel mehr, als man vermuten würde, ich weiß alles über die Gebäude, zumindest alles, was ich wissen muss.35
Anarchy in UKR erscheint auf den ersten Blick als ein Versuch, das nationalkulturelle ukrainische Paradigma durch eine weitestgehend positive Bezugnahme auf die sowjetische Ostukraine zu unterlaufen. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich jedoch um einen überzeitlichen Stadt-Entwurf, der sich um Eigenständigkeit und Unabhängigkeiten von jeglichen – früheren wie aktuellen – Ideologien bemüht und sein „In-der-Luft-Hängen“ zwischen sowjetisch und postsowjetisch inszeniert. Die Erfahrung der Liminalität kommt in der metaphorischen Verräumlichung der Erinnerung zum Ausdruck: Die Vergangenheit blieb in den Schubladen der alten Tische und in den Bücherregalen zurück, bedeckte als warmes Pulver Fotoalben und zerlesene Zeitschriften, wurde mit Hockeyschlägern in Schrankaufsätzen und Garagen verstaut, legte sich in Kleiderschränken als Staub auf Pullover und Shirts, aus denen ich herausgewachsen war, man konnte sie noch berühren, ihren groben Stoff fühlen, aber wer macht das schon, vermutlich niemand. Durch das Aufeinandertreffen eigenartiger Umstände fiel der Beginn unseres Erwachsenenlebens mit merkwürdigen und schmerzhaften Dingen zusammen, die sich ringsum abspielten und die, so schien es auf den ersten Blick, mit unserem Erwachsenenwerden nichts zu tun hatten. Aber gerade in dieser bitteren und empfindlichen Zeit, wenn in dir alles auseinanderbricht und neu zusammen35 Zhadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 141 (Kursivsetzung im Original). – Žadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 141–142: „Алеосьв моєму даун тауні випадкових будівель немає, хтось їх підбирав старанно й ретельно, так щоби з кожною із цих споруд було пов’язано безліч історій і випадків, і спробуй тепер вилучити звідси бодай один із об’єктів – загальна картина розсиплеться, діри будуть сяяти в повітрі, розпорошуючи навколо порожнечу. З дня на день бачити ті самі будинки, заходити до них, довго ними блукати, вивчаючи поступово їхнє начиння, звикаючи до висоти і темряви коридорів, до важкого скрипу вхідних дверей, до віконниць і розеток у стінах, до лав у коридорах і килимів на сходах – мій даун таун важить для мене значно більше, ніж можна припустити, я знаю про ці будинки все, у всякому разі – все, що мені потрібно.“
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wächst, ist in unserer Umgebung etwas Ähnliches passiert, wir mussten mit ansehen, wie das Erwachsenenleben unser Land zerstörte, unsere Eltern zerbrach, wie es alle Überflüssigen und Nutzlosen ausspuckte, alle, die nicht verstehen konnten, was da vor sich ging.36
In diesem Sinne ist bei Žadan nichts von einer kulturhistorischen Durchwebung und ihrer literarischen Fortführung zu finden, wie sie Stites für die Dichte an intertextuellen Anspielungen in der russisch-sowjetischen Populärkultur konstatiert und dieser daher einen vergleichsweise hohen Grad an Stabilität und Geschlossenheit gegenüber westeuropäischen und amerikanischen Einflüssen zuspricht.37 Ein Abwehren von globalen Kultureinflüssen ist gleichfalls nicht Žadans Anliegen, eher geht es ihm um eine Öffnung zu ihnen hin, jedoch ohne sie dominieren zu lassen. Dies demonstriert die Fantasie eines Glassarkophags über Charkiv – sie imaginiert, wie der ErzählerGuide bei einem Stadtrundgang seinen individuellen Bewahrungs- und Zerstörungsfantasien nachhängt, anstatt die ausländischen Sensationstouristen zu informieren. Er präsentiert ihnen das kommunistische Charkiv der Zwischenkriegszeit wie in einem panoptischen Museum, einer gigantischen Vitrine:
36 Zhadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 111–112. – Žadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 110–111: „Минуле залишилось у шухлядах старих столiв i на книжкових полицях, теплим порохом купчилось по фото-альбомах i зачитаних наскрiзь журналах, воно зберiгалось бойовими хокейними клюшками на антресолях i в гаражах, припадало пилом в шафах iз одягом, де лежали светри i футболки, з яких я вирiс. До нього ще можна було торкнутися, вiдчути пальцями його грубу тканину, проте хто б став цим займатись, напевне що нiхто. Наше доросле життя за якимось збiгом обставин спiвпало з дивними i болючими речами, що вiдбувались навколо, i котрi, здавалося б на перший погляд, нашого дорослiшання не стосувались. Але так сталось, що саме в цей гiркий i чутливий перiод, коли все в тобi рветься i зростається по новiй, навколо нас вiдбулось щось подiбне, i ми змушенi були дивитись, як доросле життя знищувало нашу краïну, як воно ламало наших батькiв, як воно викидало з себе всiх зайвих i непотрiбних, всiх, хто так i не зрозумiв, що ж насправдi вiдбувається.“ 37 Stites: Soviet Popular Culture (wie Anm. 23), S. 5: „The astonishing durability of these themes has been a mighty wall defending Russian cultural forms against the trendiness, rapid-fire obsolescence, and kaleidoscopic changes of style so characteristic of the dominant Americanized world culture.“
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Das zentrale Gebäude unserer Stadt muss man sich von oben ansehen, aus der Vogelperspektive, dann wird die funktionale Anpassung der Infrastruktur deutlich, ihre praktische Komponente. Wer in Zukunft universelle Megastädte des Kommunismus errichten will, sollte in unsere Stadt kommen und sich anschauen, wie das im Prinzip funktioniert. Die Stadt des alltäglichen Futurismus und der kommunalen Selbstverwaltung – irgendwann, wenn das Leben hier unerträglich geworden ist, wird man das historische Stadtzentrum zu einem Museum unter freiem Himmel erklären, sollte der Himmel dann noch frei sein, andernfalls wird man der Stadt eine große Glasglocke, ähnlich einem Sarkophag, verpassen, amerikanische und japanische Touristen herbringen und sagen: Hier sehen Sie die mittelalterliche Sonnenstadt, die rot-blaue Sowjetkommune, von der Pest und der beschissenen Kommunalwirtschaft zugrunde gerichtet, die erste und einzige kanonische Hauptstadt der Himmelsukraine mit einer Bevölkerung von zwei Millionen Fabrikarbeitern und Studenten, die am stärksten entwickelten Zweige der Volkswirtschaft waren Maschinenbau, Raketen- und Militärtechnik, die spektakulärsten Architekturdenkmäler sind die Wassergräben und die Verteidigungsmauern um das Stadtzentrum herum, kommunistische Türme und Rammblöcke, von denen aus die Dichter der Stadt die Manifeste der freien Ukraine verkündeten, nach denen unsere glückliche Zivilisation bis heute funktioniert. […] wenn die in ihrer Entwicklung infolge aller zukünftigen Umweltkatastrophen zurückgebliebenen Amerikaner und Japaner das halbwegs kapieren, senkt sich das Himmelszelt um einige Yard ab und zerquetscht mit seinem massigen Bierbauch den gläsernen Sarkophag über unserer Stadt, und Tausende Schmetterlinge, die in den verlassenen und zerbombten Gemeinschaftswohnungen dieser herrlichsten aller Städte in ihren Kokons schliefen, flattern plötzlich durch die verkohlten Schießscharten und verteilen sich auf die jungen, neu errichteten Megastädte des guten alten Europa und des ebenso alten, aber schon weniger guten Amerika, wobei sie auf ihren federleichten Flügeln die gute Nachricht und alltägliche Infektionen tragen.38 38 Žadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 125–127. – Žadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 125–127: „Центральну забудову нашого міста слід розглядати згори, з пташиного польоту, в цьому випадку очевидною стає функціональна підігнаність міської інфраструктури, її ужиткова складова. Той, хто у майбутньому стане будувати універсальні комуністичні мегаполіси, має приїхати до нашого міста і подивитись, як це робиться в принципі. Місто побутового футуризму і комунарської самоорганізації, коли-небудь, коли жити тут стане зовсім неможливо, з історичного центру міста обов’язково
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Die Imagination des künftigen Charkiv unter einer Glasglocke umspielt die Formel von der Stadt des Futurismus, deren Literatur es zu entdecken und die es nachträglich für die Zukunft zu bewahren gilt. Sie verbindet die schützend-utopische und dekonstruktiv-dystopische Tendenz der Erschreibung einer festen Stadtsemantik in einer letztlich metapoetischen RaumTrope: Žadans Text kann selbst als eine narrative „Vitrine“ aufgefasst werden, die dem (west-)europäischen Leser eine Charkiv-Collage in Anlehnung an modernistische Ästhetiken präsentiert. Dieses fiktive Szenario entfaltet eine subjektive Fantasie, die in Antizipation einer Erkundung der Stadt durch ausländische Besucher vorab festhält, was künftig als Wissen gelten soll. Die Vogelperspektive betont die überblickende Allmacht des Erzählers. Dieser unzuverlässige Touristenführer postuliert ein daueravantgardistisches Charkiv, an dessen Fortexistenz ihm persönlich liegt. Die Vision wählt aus der Stadtgeschichte die Zwischenkriegszeit beziehungsweise die Moderne, aber auch das Mittelalter aus. Letzteres erscheint wie ein überaffirmatives, ironisches Zitat jener Rhetorik, die Städte über die Akzentuierung ihrer „authentisch mittelalterlichen“ Kerne aufwertet. Diese Konservierung hält nur so lange, bis die Besucher die Inszenierung „halbwegs kapieren“, bis sie von ihrer Historizität überzeugt sind. Danach wird sie durch ein apokalyptisches Motiv ersetzt, bei dem das verlebendigte „Himmelszelt“ gegen „den gläзроблять музей під відкритим небом, якщо небо на той час і далі буде відкритим, якщо ж ні, то закриють його великим скляним куполом, саркофагом, будуть підводити до нього групи американських чи японських туристів і говоритимуть – ось воно, це середньовічне місто-сонце, червоно-синя комуна, винищена чумою і фіговим комунальним господарством, перша і єдино канонічна столиця піднебесної україни, з населенням у два мільйони цехових робітників і студентів університету, найбільш розвинені галузі народного господарства –машинобудування, ракетна і оборонна промисловість, найбільш помітні пам’ятки культури – рови й оборонні мури, котрі оточують центральну частину міста, комуністичні вежі й таранні машини, з яких поети цього міста проголошували універсали, згідно з якими і дотепер функціонує наша щаслива цивілізація. […] якщо ці пригальмовані в своєму розвитку внаслідок всіх екологічних катастроф майбутнього американці і японці щось таки зрозуміють, небесна твердь опуститься на кілька ярдів і роздавить своїм масивним пивним животом скляний саркофаг над нашим містом, і тисячі метеликів, котрі спали в своїх личинках по закинутих і розбомлених комунальних квартирах цього найкращого з міст, раптом вилетять із чорних обвуглених бійниць і розлетяться по молодих, щойнозбудованих мегаполісах старої-доброї Європи, і так само старої, але вже куди менш доброї америки, розносячи на своїх невагомих крильцях благу вість і побутові інфекції.“
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sernen Sarkophag“ stößt, die Schutzhülle der Stadt mit seinem „Bierbauch“ zerstört und über infektiöse Schmetterlinge sozusagen Amerika mit Charkiv „ansteckt“. Die Szene verdeutlicht ein weiteres Merkmal des Charkiv-Entwurfs: Dieser schließt die sowjetische Massenkultur und die – in diesem Fall touristische – Konsumkultur westeuropäischer Provenienz kurz, die beide in ihrer dystopischen Wirkung imaginiert sind. Diese dekonstruierende Gleichsetzung erfährt eine Fortsetzung im vierten Kapitel des Romans, das die Ausstrahlung einer Radiosendung aus New York durchspielt und auf die englischsprachige Popkultur über den Musikgeschmack referenziert.39 Besonders offensichtlich verweisen der Titel, das Epigramm und der letzte Unterabschnitt des Buches auf das Lied Anarchy in the UK der britischen Punkband Sex Pistols. „UKR“ anstelle von „UK“ assoziiert die (Ost-)Ukraine mit der Punkbewegung, die in der Arbeiterklasse Großbritanniens ihren Ursprung hatte. Charkiv besitzt entsprechend Žadans literarischen Verortungsstrategien tatsächlich Parallelen zu Manchester: Beides sind Industriestädte mit einer proletarischen und intellektuellen Tradition. Beide kämpften Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Einbruch der industriellen Fertigung und befinden sich in einer Identitätskrise. Manchesters Stadtpolitik vermarktet sich mit Werbung an Jugendliche als Partykultur- und Tourismusstadt, dabei sein Image als frühere skandalträchtige Subkultur-Stadt nutzend und re-aktivierend: „cotton has been replaced by popular culture“. 40 Analog ersetzt Žadan die Schwerindustrie mit Jugend- und Subkultur.
39 Der vierte Teil heißt Live fast, die young (zehn Tracks, die ich auf meiner Beerdigung hören möchte) und besteht aus zehn Abschnitten, die, einer Jukebox ähnlich, mit einer willkürlich anmutenden Auswahl an Interpreten und ihrer Lieder betitelt sind, auf die der Text dann auch gelegentlich Bezug nimmt: Eric Burdon. Black on Black In Black; Neil Young. Rockin’ In the Free World; Rolling Stones. Sister M orphine; Creedence Clearwater Revival. Up Around The Bend; Buddy Guy. Done Got Old; Lou Reed. Berlin; George Harrison. Hear me Lord; The Stooges. Real Cool Time; J ethro Tull. Locomotive Breath; Sex Pistols. Anarchy In The U.K. 40 Redhead, Steve: Subculture to Clubcultures. An Introduction to Popular Cultural Studies. Oxford 1997, S. 95.
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Anklänge an das Subkulturelle Žadans Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe spricht bezüglich seines Werkes von einer Poetik des „postproletarischen Punk“.41 In der poetischen Verfasstheit von Anarchy in the UKR lassen sich mehrere Aspekte als Koketterie mit dem „Subkulturellen“ lesen. Unter diesem Begriff wird hier primär ein Schreibgestus verstanden, der sich nicht um die Einschreibung in politisch opportune RaumSymboliken und -Zugehörigkeiten bemüht, und sekundär eine außerliterarische soziale Praxis, die ein Gefühl von Selbstbestimmtheit in der Stadt und in der Erinnerung an sie auslebt. „Koketterie“ meint hier den Umstand, dass sich keine eindeutige Subkultur ausmachen lässt, welcher sich der Ich-Erzähler verschreiben würde. Aus der Logik dieser Inszenierung eines quasi „anarchischkulturbefreiten“ Schreibens heraus ist die Zugehörigkeit zum Punk als einer mehr oder weniger kohärenten Subkultur einerseits plausibel, andererseits problematisch: Die pazifistische Punkorientierung weicht anarchistischen Gewaltfantasien, die Auswahl der zitierten Liedtexte erfolgt zufällig und ist zu heterogen, um einer einzigen Musikrichtung zugezählt zu werden. Jedoch finden sich auch Anklänge an diese Bewegung, etwa die Ablehnung gesellschaftlicher Werte ohne ihren Ersatz oder männlich-jugendliches Rollenverhalten. Auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung sind besonders akzentuiert der Wunsch nach Todesnähe, Merkmale des Hässlichen, Verlassenen und Morbiden und eine bewusst infantile Suche nach einem Zuhause, das nur ein vorübergehendes sein kann und dennoch intensive Kurzidentifikationen mit den aufgerufenen Territorien herbeiführt. Trotz seiner zynischen Haltung arbeitet sich der Erzähler zwanghaft an den Orten seiner Kindheit in Starobils’k und später Charkiv ab, um schließlich seine Reisen und den Roman im idealisierten Klangraum seines Musikgeschmacks münden zu lassen. Mit der Punk-Ästhetik, die eine Neigung zur Bricolage, zum „Do-ityourself“ (Dick Hebdige) und zum Lokalpatriotismus hat,42 korrespondiert auch die Sympathie des Erzählers für den Charkiver sowjetischen Konstrukti41 Für Raabe ist Žadan ein „postproletarischer Punk, der sich nicht für Bruno Schulz, sondern für die ukrainischen Futuristen, die erschossene Renaissance interessiert, schreibt über den Sowjetanarchisten Nestor Machno und stellt sich einem Erbe, das uns vermutlich länger und dramatischer beschäftigen wird als […] Mitteleuropa. Es ist die Zerfallsmasse des sowjetischen Imperiums, die heute stärker und unheilvoller strahlt als vor zwanzig Jahren.“ Raabe, Katharina: Der erlesene Raum. Literatur im östlichen Mitteleuropa seit 1989. In: Osteuropa 2–3 (2009), S. 205–227, hier 226. 42 Hebdige, Dick: Subculture. The Meaning of Style. London–New York 1979, S. 63.
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vismus und das collageartige Zusammenbauen des Narrativs beziehungsweise „Erzähl-Raumes“.43 Hier wird der geografische Raum nunmehr metaphorisch und wehrt durch seine Polysemantik den systemischen Charakter etablierter Kodierungen ab, was man in Analogie zur Ablehnung geltender Werte in der Punk-Kultur sehen kann. Neben dem Kontext der „Arbeiterklasse“ und dem demonstrativen Rückgriff auf die sowjetische Vergangenheit von Stadt und Region als einer privaten Erinnerungsressource indizieren weitere Signale ein Gegensteuern der Raumaufladung mit distinktiver Geschichte: die Absolutsetzung der global beliebten Musik, die lexikalische Durchmischung des Sprachregisters von Vulgarismen bis zur Metaphorik und die fatalistisch-zynische Haltung des Ich-Erzählers. Hinzu kommt ein narrativer Lokalpatriotismus, der den vertrauten Raum immer wieder neu zu erleben und zu denken sucht, ihn schreibend verfremdet. Die Praktiken des Umgangs mit urbanen Orten seitens des Protagonisten sind gegen ein normatives Verständnis von traditioneller „Hochkultur“ gerichtet: Beispiel hierfür sind das Sprayen von Graffitis, das Fußballspielen auf dem Platz der Freiheit oder der Besuch eines Plattenladens im Keller der Oper statt der Aufführung. Aus dieser symbolischen Perspektive unterhalb der Oper beobachtet der Erzähler Skateboardfahrer, die „wie die Zinnsoldaten auf ihrem Untersatz“ auf ihren Brettern stehen und Junkies „überspielte Kassetten verkaufen“.44 In der Festschreibung der Gegenkultur Charkivs realisiert er, was Phil Cohen als Territorialität bezeichnet: die Implementierung eigen sinniger sozialer Praktiken in einem abgegrenzten, dadurch alternativ angeeigneten Raum.45 Laut Dick Hebdige lassen sich zwei zentrale subkulturelle Konstitutionsverfahren („signifying practices“) von Subkulturen unterscheiden: die kombinatorische bricolage/Umcodierung/signifiance und die Homologie/signification.46 Diese Unterscheidung ist an Ferdinand de Saussures Einteilung der 43 Zum Lokalpatriotismus vgl. Brake, Mike: Soziologie der jugendlichen Subkulturen. Eine Einführung. Hg. v. Rolf Lindner. Frankfurt am Main–New York 1981, S. 97. 44 Zhadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 142. – Žadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 141. 45 Cohen, Phil: Subcultural Conflict and Working-Class Community. In: The Subcultures Reader. Hg. v. Ken Gelder und Sarah Thornton. London–New York 1997, S. 90–99. 46 Hebdige: Subculture (wie Anm. 42).
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Sprache in parole und langue angelehnt. Wie Stuart Hall, Phil Cohen und Mike Brake bedient sich Hebdige semiotisch-strukturalistischer Konzepte,47 um ethnologisch und sozialwissenschaftlich relevante Alltagspraktiken von jugendlichen Randgruppen zu beschreiben.48 Bricolage findet statt, wenn Zeichen – hier von der sich abzugrenzenden Symbolwelt – neue Bedeutungen durch Positionierung in neuen Kontexten erhalten: wenn zum Beispiel aus dem Union Jack ein Kleidungsstück geschnitten wird. Julia K ristevas Begriff der signifiance legt den Schwerpunkt auf die Unabgeschlossenheit der Bedeutungszuweisung. Dem steht innerhalb Kristevas Konzept die signification beziehungsweise Homologie nach Claude Lévi-Strauss gegenüber: ein eindeutiges, abgeschlossenes Verhältnis des Signifikanten zum Signifikat, eine „fertige Bedeutung“.49 Verweisen alle Kodes auf eine Subkultur und wirken gemeinschaftsstiftend, kann man von Homologie sprechen. Auch innerhalb einer Subkultur übernehmen also bisweilen homogene Paradigmata identitätsstiftende Funktion. So ist der Punkstil innerhalb von Subkulturen auch eher eine Ausnahme: […] punk style is in a constant state of assemblage, of flux. It introduces a heterogeneous set of signifiers which are liable to be superseded at any moment by others no less productive. It invites the reader to ‚slip into‘ ‚signifiance‘ to lose the sense of direction, the direction of sense. Cut adrift from meaning, the punk style thus comes to approximate the state which Barthes has described as ,a floating‘ (the very form of the signifier).50
Bei Žadan kommt es jedoch nicht zu Homologie, es bleibt bei der Bricolage. Neben der Romanstruktur, die diverse Versatzstücke in der Logik der Erinnerung miteinander assoziativ verbindet, sowie der uneinheitlichen, von ihren Widersprüchen lebenden Metaphorik unterläuft die Poetisierung des Plots die Möglichkeit, der Ostukraine im Romanverlauf ein kulturhistorisches Narrativ zuzuschreiben. Begann die Erzählung damit, dass der Ich-Erzähler 47 Siehe dazu Representation: Cultural Representations and Signifying Practices. Hg. v. Stuart Hall. London u. a. 1997. – Hier heißt es, die verbale und die visuelle Sprache seien je eine „signifying practice“ (S. 5). – Vgl. auch Brake: Soziologie (wie Anm. 43). – Cohen: Subcultural Conflict (wie Anm. 45). 48 Darunter Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt am Main 1964. – Ders.: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt am Main 1981. – Neben Ferdinand de Saussure, Roland Barthes und Paul Ricœur ist hervorzuheben Kristeva, Julia: La Revolution du langage poetique. Paris 1974. 49 Hebdige: Subculture (wie Anm. 42), S. 125. 50 Ebd., S. 126.
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mit seinem Freund den Spuren des heimischen Anarchisten Machno in der Ostukraine folgte, so wird dieser Plan bald aufgegeben. Die Möglichkeit eines kohärenten Narrativs wird von einer eigenwilligen, bilderreichen Raumwahrnehmung, Erinnerungsrückblenden und Imaginationen ohne Anspruch auf Abbildung und Repräsentativität durchkreuzt. Was den Prozess der Bedeutungsstiftung im Modus der signifiance angeht, so vollzieht sich dieser bezüglich des Urbanen analog, und zwar in der Dynamisierung von Stadt(-kultur)-Diskursen: Ähnlich wie sich Punk mit dem Fluiden identifiziert, unterscheidet sich das hier entworfene Charkiv von den meisten Stadtnarrativen dadurch, dass es eine fortwährende Veränderung für sich beansprucht. Bildlich gesprochen unterzieht Anarchy in the UKR die Bedeutungszuschreibungen an ländliche und urbane Räume einer punkhaften Pulverisierung: Der Text zeigt die Arbitrarität jeglicher semantischer Aufladung von Raum und bringt diese im multiplen Sprung zwischen postsozialistischer Gegenwart, den spätsowjetischen 1980er-Jahren und der Wendezeit der 1990er sowie zwischen den diversen zentral- und ostukrainischen Handlungsorten in (Erzähl-)Fluss.
Sympathie mit dem Anarchismus: Wechsel von Schauplätzen und Raum-Arten Mit dem Zeitkontext der Entstehung des Buches kollidiert nicht nur die vielfältige Bezugnahme auf das sowjetische Charkiv, sondern auch auf den Anarchisten Machno. Die Erkundung seines Lebens in der Ostukraine bildet den Auftakt für die Erzählung, was zunächst in die Kleinstadt Huljajpole im südostukrainischen Gebiet Zaporižžja führt. Dem innerfiktionalen Wunsch des Protagonisten entsprechend, Huljajpole mehr poetisch als historisch zu erkunden, hat dort im außerliterarischen Leben ein jährliches Festival stattgefunden, der „Tag der Unabhängigkeit mit Machno“ (Den’ nezaležnosti z Machnom). Das Programm bestand aus Lesungen, Musik, Videokunst, Theater und Performancekunst.51 Allerdings konnte sich das Festival nicht etablieren, da es auf Ablehnung bei der einheimischen Bevölkerung stieß – Machno ist nach wie vor keine konsensfähige Figur. 51 Das literarisch-musikalische Undergroundfestival, so die offizielle Bezeichnung, begann am 24. August, dem Unabhängigkeitstag der Ukraine. Ein Programmpunkt war die Geburtstagsfeier Žadans.
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Žadan wählt mit Machno einen (Anti-)Helden, einen Feind der Roten Armee, der sowohl aus dem kommunistischen als auch nationalukrainischen Narrativ herausfällt. Stites spricht gar von einer „satanization of Makhno“ in der sowjetischen Populärkultur: The cultural fate of Makhno was ironic, since if any epic ever deserved romanticized and sympathetic treatment in fiction and cinema, it was that of his Ukrainian Insurgent Horse Army that outwitted both Reds and Whites for years before being subdued. Their story is closer to the legends of Stenka Razin and other folk rebels than anything in the Bolshevik hagiography, including Chapaev. But since the Bolsheviks feared having the Makhnoists treated as underdogs, they enshrined them for decades as sadistic and degenerate b andits.52
Im Übrigen korrespondiert die Sympathie für den Anarchismus mit jener Haltung, die linke Intellektuelle in Ost- und Westeuropa, zum Beispiel an dem erwähnten CCCS in Birmingham, vereint: dem Ideal eines performativen Auslebens von Kunst und politischem Engagement, das sich ursprünglich auch im anarchistischen Denken manifestiert.53 „Anarchie“ kann man ferner – ähnlich der Ästhetik des Punk – als programmatische Metapher für ein ent-historisierendes Assoziieren mit dem Effekt der Ent-Determinierung des Raumes von Geschichte begreifen. Die „antikulturalisierende“ Poetik von Anarchy in the UKR lässt sich mit dem strukturalistischen Begriffsinstrumentarium fassen, das subkulturelle Phänomene semiotisch beschreibt. Žadans Ostukraine-Prosa wandert entlang jener 52 Stites: Soviet Popular Culture (wie Anm. 23), S. 57–58. 53 Die Ideen der ukrainischen (Machno) und russischen Anarchisten (Michail Bakunin, Pëtr Kropotkin), ihr Appell an die Massen, beinhaltete eine nichtmetaphysische Ästhetik, auf die später u. a. Michail Bachtin zurückgriff. Die Anarchisten „hielten den Dualismus zwischen ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Kultur für fehlorientiert, weil er die Materialität und in dieser die Ambivalenz einer ‚informellen‘ volkstümlichen Ästhetik übersah: die soziale und politische Funktion populärer Alltagsrituale und Praktiken, die weniger auf die Überwindung als auf eine Inversion und Karnevalisierung herrschender Ungerechtigkeiten orientiert war“. Zur Vorstellung von einer populären als einer nichtdichotomischen Ästhetik treten die Forderung nach einer Aufhebung von Kunst und Leben mittels eines emphatischen Erfahrungsbegriffes und das Plädoyer für „eine Situationskunst […] – eine Konzeption, die dadurch entsteht, dass ihr politisches Konzept der ‚direkten Aktion‘ in den ästhetischen Raum übertragen wird“. Herlinghausen, Hermann: Populär/volkstümlich/ Popularkultur. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 4. Hg. v. Karl-Heinz Barck u. a. Stuttgart 2002, S. 832–884, hier 853.
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Orte, die sie immer nur für die Dauer der performativen Kurzbegegnung empirisch wie sprachlich aufsucht und wieder verlässt. Antagonismen und widersprüchliche Raumaufladungen eröffnen eine Spanne an Bedeutungszuschreibungen, die – wie der Protagonist und der ihn inspirierende Machno – die Eigenschaften des Flüssigen und Flexiblen haben, um vor festen, vereindeutigenden Raumkonnotationen zu flüchten. Das „anarchistische“ Moment des Textes spaltet die angerissenen Semantiken in ihre konkurrierenden Variationen aus Erlebtem, Erinnertem und Imaginiertem auf. Um ihrer Erzähl- und Lesbarkeit im Sinne von Gemeinschaftsstiftung entgegenzusteuern, werden öffentliche Orte zu privaten umfunktioniert. Formal wechselt zudem in jedem Kapitel die dominierende Raumkonzeption: Die Exkursion wird durch eine Rückblende in die Kindheit des Protagonisten in Starobils’k abgelöst, an deren Stelle wiederum das gegenwartsbezogene Erlebnis der Charkiver Innenstadt tritt, das schließlich vom Raum der Musik verdrängt wird.54 Die jeweiligen Topografien dienen als Objekt beziehungsweise Referenz, aber auch als Medium des Erzählens, sie sind Projektionsflächen und Quellen der individuellen, enthistorisierten, doch auch das biografische Projekt unterlaufenden Wahrnehmung des Ich-Erzählers. Das semantische Fließen innerhalb eines wechselnden räumlichen Bezuges stellt eine Nähe zu Hakim Bey dar, einer Hauptreferenz anarchistischer Subkultur. Seine Idee der T. A. Z. (Temporary Autonomous Zone) hat ein subversives Gesellschaftsmodell zum Ziel, das innerhalb eines begrenzten Territoriums die etablierten Machtverhältnisse aushebelt.55 Die Zone entzieht sich durch ihre Beweglichkeit staatlicher Kontrolle und kann als nomadisches Wandern im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari aufgefasst werden.56 54 Wie Anarchy in the UKR regen auch andere Texte des Autors zur imaginären und realen Auseinandersetzung mit den porträtierten Orten an. Vgl. Žadan, Serhij: Depeche Mode. Charkiv 2004. – Zhadan, Serhij: Depeche Mode. Übers. v. J urij Durkot und Sabine Stöhr. Frankfurt am Main 2007. – Siehe die Kurzprosa in: Die Selbstmordrate bei Clowns. Übers. v. Claudia Dathe. Berlin–Warschau 2009. – Das Gedicht Hryby Donbasu [Die Pilze des Donbass]. Übers. v. Claudia Dathe. Quelle: http:// lyrikline.org/index.php?id=163&author=sz00&poemId=7124&cHash=6707ca2006 (Letzter Zugriff: 03.04.2013). 55 T. A. Z. The Temporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism. Quelle: http://www.hermetic.com/bey/taz_cont.html (Letzter Zugriff: 03.04.2013). – Vgl. auch Angelika Molks Vortrag „Die Poetik des Raumes bei S. Žadan und I. Sid“ auf der 2. Moskauer Konferenz für Geopoetik vom 23.–27. Oktober 2009. 56 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Das Glatte und das Gekerbte. In: Dies.: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 2005, S. 657–693.
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Anarchy in the UKR erteilt eine Absage an eine Vorstellung von Kultur, die aus einem untrennbar gewachsenen Verhältnis von Territorium und seiner Geschichte hervorgeht. Stattdessen zeugt das Werk von einem konstruktivistischen Umgang mit einem zeichenhaften und medialen Raum: Im Sinne eines Denotats wird dieser be-schrieben; individuelle Erinnerungen und die Einsicht in die Unmöglichkeit ihrer Fixierung, alte und neue Erfahrungen schreiben sich ihm auf. Zugleich gehen von ihm scheinbar mnemonisch gespeicherte, narrative Impulse aus. Gegen Ende überbrückt der Text diese Dichotomie zwischen der Raumevokation durch Erinnerung und (Neu-)Erlebnis: erstens mithilfe der oben zitierten anti-utopischen Zukunftsfantasie der Stadtzerstörung, zweitens mittels der positiven Vision eines Klangraumes, aus dem das vierte Kapitel besteht. Einzig die Musik hinterlässt im Protagonisten eine bleibende Spur der Erinnerung, die er über die Aufzählung der Song-Titel mit dem Leser teilt. Sie ersetzt historisch motivierte Diskurse und verhilft als eigenmächtige Kraft dem Individuum zur Freiheit, dessen Biografie sie korrigiert und dem sie einen Rhythmus für eine alternative urbane Lebensweise vorgibt.57 Im Verzicht auf einen empirisch erfahrbaren und in der Erinnerung zu bewahrenden Raum liegt vielleicht die größte Provokation: Im letzten Abschnitt Sex Pistols. Anarchy In The U. K. besteht der urbane Raum nur noch als immaterieller Rezipient eines imaginären soundscape. Diese abstrakte, nicht euklidische Raumform konstituiert sich statt über historisch-sprachliche Kontexte über klangliche Medialität. Die Ersetzung eines begrenzten visuellen Stadtraumes durch einen akustischen lässt sich mit der Bedeutung des „Lärms“ (noise) für Subkulturen, vor allem für die Punk-Kultur, interpretieren. Diese bringe Chaos in die gültigen kulturellen Systeme und sei ein Akt des semiotischen Kampfes.58 Punk-Kultur steht sowohl für eine „Poetologie der Anwesenheit“, für die Präsenz des Physischen und Materiellen als auch für ein Misstrauen gegenüber Sprache – die Ablehnung der Schriftsprache ist ein generelles Merkmal von Subkultur.59 Žadans Poetik spielt die Bedeutungen der Orte durch und verweilt bei keiner länger als für die Dauer des Schreibens. Sie ist bereit, die Schrift gegen 57 Zhadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 207. – Žadan: Anarchy in the UKR (wie Anm. 12), S. 210. 58 Brake: Soziologie (wie Anm. 43), S. 95. 59 Mann, Ekkehard: Untergrund, autonome Literatur und das Ende der DDR. Eine systemtheoretische Analyse. Frankfurt am Main 1996, S. 117. – Mann bezieht sich hier auf Punks in Ostberlin.
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den Klang, das urbane Zuhause gegen das Schreiben darüber einzutauschen. Dem Text liegt mehr an der persönlichen Trauma-Verarbeitung als an nationaler Identitätskittung. Žadans ästhetisches image-building unterscheidet sich von Konzeptionen der Westukraine und enttäuscht Erwartungen an einen analogen Gegenentwurf. Die hier vorgeschlagene Lektüre ist einer Annäherung an die Ostukraine gefolgt, die vom Ich-Erzähler erfahren und „erschrieben“, nicht jedoch historisch restauriert, repariert und re-manifestiert wird. Žadans Literatur schlägt eine Brücke zwischen sogenannter „Hochkultur“ und leicht konsumierbarer Massenkultur, geriert sich selbst als Massenmedium, hinterfragt eher Vorstellungen von Kultur als „lokaler Hochkultur“ als diese zu etablieren,60 und ist doch materieller Beweis eines poetisch anspruchsvollen Kulturerzeugnisses aus der Ostukraine. Sie nimmt insofern zumindest auf einer Rezeptionsebene, die mit der Gegenüberstellung von West- und Ostukraine konfrontiert ist, an einem kulturalisierenden Anliegen teil. Allerdings akkumuliert Žadan das symbolische Kapital in Bezug auf „seinen“ Raum nicht durch das Hervorkehren einseitiger geopolitischer Anschlussfähigkeit. Vielmehr generiert er dieses durch Freilegung hierarchiefreier semantischer Anschlüsse sowie jener Bezüge, die in dem fast mainstreamartigen Diskurs, sich gegenüber Europa als ebenbürtig zu behaupten, untergehen. Die disparaten Bestandteile dieser anti-kulturalisierenden Poetik bilden kein kohärentes, neues Paradigma, versuchen sich aber durchaus in der Bricolage provokanter Gesten beziehungsweise ihrer Zitationen: Zum Teil laufen sie dem westukrainischen Selbstentwurf zuwider, zum Teil widersprechen sie auch dem gesamteuropäischen Verständnis von bewahrungswürdiger Stadtkultur im Sinne des stolzen Verweisens auf eine unverwechselbare, weit in die Vergangenheit reichende Stadtgeschichte, aus der sich eine charakteristische und gegenüber anderen urbanen Narrativen distinktive Stadtsemantik ableiten ließe.
60 Nach der Auslöschung einer „alien high culture“ komme nicht die Implementierung der „old local low culture“, sondern die Erfindung einer „local high (literate, specialist-transmitted) culture of its own, though admittedly one which will have some links with the earlier local folk styles and dialects“. Gellner, Ernest: Nations and Nationalism. Oxford 1983, S. 57.
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Transparenzen des Raumes oder die „wendige“ Stadt Ein Ausflug von Jáchym Topol
Unsere Figuren entstehen assoziativ aus der Übereinanderschichtung von Linien, alten Figuren und alten Räumen; Farbgruppen wechseln sich ab mit Raumschichten und neuen Form-Knäueln; Relikte aus früheren Schichten tauchen auf … (Gruppe SPUR)1
Transparenz ist eine Angelegenheit des Auges. Und sie ist mehr als nur eine optische Eigenschaft. Das Verlangen nach Transparenz von Sachverhalten, Strukturen oder Diskursen ist im Grunde eine aufklärerische Haltung: Sie verkörpert den Wunsch nach einer durchsichtigen Welt mittels forschender Durchdringung der Struktur von Materie, nach Durchschaubarwerden sozialer Verhältnisse, des menschlichen Körpers oder der Psyche. Die Transparenz oder auch ihr Gegenteil, die Opazität, reizen vor allem da, wo das hinter oder unter einer Oberfläche Verborgene sichtbar und begreifbar gemacht werden will. Transparenz hat zugleich auch mit der Verletzung von Grenzen zu tun, vor allem dann, wenn es um das Durchdringen und Sichtbarmachen von vermeintlich Verhülltem oder Verborgenem geht.2 Im vorliegenden Text geht es um Transparenzen in Jáchym Topols Erzählung Ausflug zur Bahnhofshalle (Výlet k nádražní hale, 1993),3 deren Auswirkungen sich letztlich jedoch hinter Masken und in der Poetik des Textes ver 1 Die deutsche Gruppe SPUR, auch S.P.U.R., gegründet Ende der 1950er-Jahre, gehörte zur Situationistischen Internationale um den Franzosen Guy Debord. 2 Siehe auch Hauser, Susanne: Transparenzen. Ein Essay. In: „Hexen, Wiedergänger, Sans-Papiers …“ Kulturtheoretische Reflexionen zu den Rändern des sozialen Raumes. Hg. v. Johanna Rolshoven. Marburg 2003, S. 143–156. 3 Die Erzählung ist Topols erster veröffentlichter Prosatext und erschien 1993 in der Zeitschrift Revolver Revue.
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borgen zeigen. Die Analyse dieser Transparenzen bringt daher allenfalls die Konturen einer postsozialistischen Stadt unter den „mörderischen“ Bedingungen neuer marktwirtschaftlicher Schrecken und die vielgesichtigen Spuren der Wende zur Ansicht. Letztlich inszeniert der Text eine Absage an Rationalität, Effizienz und endgültige Transparenz. Hier wird gerade keine eindeutige Ordnung behauptet oder ein linearer Stadtmythos neu- oder fortgeschrieben. Und doch lässt die urbane „Figur“, die sich beim intervenierenden Spiel mit den Transparenzen dem Auge ergibt, gerade in ihrer Undurchschaubarkeit unerwartet Alt-Neues der „wendigen“ Stadt erkennen, viel mehr, als ein Schlagschatten erzeugendes pointiertes Ausleuchten ans böse Licht zu bringen vermag. Wie bereits der Titel verrät, handelt es sich in diesem kurzen Prosastück um einen Ausflug durch eine Stadt mit dem Ziel, eine Bahnhofshalle zu erreichen. Auch wenn dies ein Spaziergang, eine Exkursion durch ein fiktionales Prag ist, wie einige, meist verfremdete Verweise zu erkennen geben, behalte ich Topols Benennung bei und bezeichne den durchquerten urbanen Raum in seiner neutralen Benennung als „Stadt“. Was diesen Ausflug besonders macht, ist vor allem der Blick des Erzählers, der durch diese Stadt führt. Der Text ist zusammengefügt aus situativen Momenten, die weniger an die Bewegung des Körpers des Erzählers gebunden sind, als dass sie sich aus seinem Blick auf die Stadt ergeben. Topols Textspaziergang ist mehr als eine langsam schlendernde und die Stadt beobachtende Flanerie; sein Erzähler lässt die Stadt nicht nur auf sich wirken, sein Blick ist zugleich ein forschender, Grenzen verletzender – das Opake der sichtbaren Oberflächen durchdringender. Topol präsentiert eine Art mentale streetview, die nicht nur von Schaulust, sondern vor allem von einer intervenierenden Blickdurchdringung der Materie der Stadt geleitet wird und Transparenz erzeugt. Mit Transparenzen sind also die Effekte gemeint, die sich als Resultat einer Interaktion zwischen dem Blick und seinem Objekt „Stadt“ ergeben. Um diesen Vorgang zu demonstrieren, werde ich der Bewegung des „erzählenden“ Auges in drei Schritten folgen und in meiner Analyse beobachten, wie sich die Erzählinstanz die Stadt durch ihren Blick aneignet und das Sichtbare oder Ersichtliche ihrer Oberflächen erforscht, wobei auch das Dahinterliegende mit ins „Schau-Spiel“ gerät.
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Transparenz 1: Durchsichtigkeiten oder die Schizophrenie der Stadt Über die ersten Seiten hinweg wird die Stadt durch eine unermüdliche Nebeneinanderreihung von situativen Bildszenen präsentiert. Es handelt sich um eilige Momentaufnahmen, die Urbanität im Wandel einzufangen versuchen: Die Stadt war in Veränderung, Gitter und eiserne Rollläden, über die Jahre nur zum Rosten heruntergezogen, werden wieder frisch gestrichen und oft läuft jetzt eine Schrift mit einem Namen über sie. […] Die Stadt verändert sich, alte zerbröckelte Mauern werden abgerissen, Werbung deckt die rissige geheimnisvolle Landkarte des Mauerputzes, Gehwege haben ein neues Pflaster bekommen, jahrelang herumstehende Blech- und Holzzäune verschwinden in der Nacht.4
Das changierende Stadtbild ist wie aus Serien von Zustandsbildern zusammengestellt, die mit Hilfe des (Kamera-)Auges eines erzählenden und sich durch die Stadt bewegenden Ich entstanden sind. Die Bildfolge erweckt den Eindruck, es handele sich um über einen längeren Zeitraum gespeicherte Aufnahmen, die nun mit der Schnellspultaste über den „Bildschirm“ des Textes gejagt werden. (Dabei werden die visuellen Eindrücke synästhetisch von weiteren Sinneseindrücken begleitet, zum Beispiel von disparaten olfaktorischen Momenten.) Während die bunten postsozialistischen Oberflächen über die porösen, dreckigen und dunklen Flächen der Vorwende-Stadt geschichtet werden, bleiben die „alten“ Schichten dennoch in gewisser Weise sichtbar. Dieses Übereinanderlegen der Oberflächen verdeckt nicht nur, sondern impliziert auch einen Effekt von Transparenz (und damit eine Durchschaubarkeit der Schichtung). Das schnelle Abspulen der Vorher- und Nachher-Bilder einer sich verändernden Stadt erzeugt den Eindruck, diese Veränderungen vollzögen sich gleichzeitig. Die transparente Überlappung der Stadtbilder versetzt den Jetzt-Zustand der Betrachtung in ein unbestimmbares Dazwi 4 Topol, Jáchym: Výlet k nádražní hale [Ausflug zur Bahnhofshalle]. In: Supermarket sovětských hrdinů. Praha 2007, S. 101–102: „Město se měnilo, mříže a železne rolety po léta stažené jen k rezavení se znovu čerstvě natíraly a často teď přes ně šel i nápis se jménem. […] Město se měnilo, staré rozbité zdi se strhávaly, rozpraskanou tajemnou mapu omítky přikryla reklama, chodníky dostaly nové dláždění, léta stojící plechové a dřevěné ohrady mizely přes noc.“ – Die Übersetzungen stammen von der Verfasserin.
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schen eines „Vorher“ und „Nachher“ (im Verhältnis zu einem sich vorzustellenden arretierten Standbild). Das Aufbrechen der zeitlichen Linearität zugunsten von räumlichen Kategorien des Nebeneinanders bringt Fredric Jameson in seiner Untersuchung zur Logik der Postmoderne mit dem Zustand der Schizophrenie in Verbindung.5 Gemeint ist nicht Schizophrenie als klinische Diagnose, sondern als „ästhetisches Modell“, das Jameson in Analogie zur postmodernen Fragmentierung setzt. Unter Heranziehung von Jacques Lacan zeichnet sich die Schizophrenie in Jamesons Modell durch ein Auseinanderbrechen der Signifikantenketten aus, also durch eine Auflösung der syntagmatischen Ordnung, wodurch der lineare (sukzessive) Sinnaufbau zerstört wird.6 Im angeführten Ausschnitt aus Topols Text zeigt sich eine solche „schizophrene“ Zersplitterung paradoxerweise gerade in der Überlappung der Stadtbilder. Das temporale Nacheinander als transparentes Aufeinander wird zum „schizophrenen“ Nebeneinander im Raum. Die Augenblicke der Transparenz, die hier entstehen, sind auf die Auswirkungen der gesellschaftlichen Wende zurückzuführen, die sich im Stadtbild wahrnehmbar und erfahrbar machen. Das „schizophren“ gespaltene Erscheinungsbild von Topols Stadt kann sich zudem auch affektiv auf das wahrnehmende Subjekt auswirken. Der als zerfallend erlebte Raum überträgt sich auf den körperlichen Zustand der Subjekte,7 die schizophrene Transparenz dieses Raumes kann für die Stadtbewohner gefährliche und ansteckende Immersionen herstellen, die zur Fragmentierung führen. Im Text heißt es entsprechend, man könne in dieser Stadt „in manchen dunklen […] Ecken genauso einfach an Schizophrenie erkranken, wie an einer Grippe“.8
5 Jameson, Fredric: Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In: Postmoderne. Hg. v. Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 45–103. 6 Ebd. S. 71. 7 Zum Verhältnis von Subjekt und Raum und seiner Übertragung auf körperliche Zustände siehe auch Busch, Kathrin: Hybride. Der Raum als Aktant. In: Kultureller Umbau. Räume, Identitäten und Re/Präsentationen. Hg. v. Meike Kröncke, Kerstin Mey und Yvonne Spielmann. Bielefeld 2007, S. 21. 8 Topol: Výlet (wie Anm. 4), S. 105: „V některých koutech, tmavých a vlhkých černou podzemní vodou, jste mohli onemocnět schizofrenií stejně snadno jako se nakazit chřipkou.“
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Transparenz 2: Die Stadt als multiples Maskenspektakel und der Blick hinter die Masken Die verräumlichte Schichtung der urbanen Bilder und die dadurch erreichte Fragmentierung des urbanen Raumes wird im Text potenziert, indem die „schizophrene“ Gespaltenheit der Stadt mit dem Wechseln von Masken gleichgesetzt wird: Die Stadt warf ihr einstiges Gesicht ab, das finstere und harte, diese Maske des faulenden Bolschewismus, und setzte sich jetzt ihrer Tausende auf. Einige waren angemalte lustige Clownsgesichter, und wen würde es schon stören, wenn diese alternden alkoholabhängigen, nach Sägemehl und Viehmist stinkenden Säcke aus der Manege unter ihrer Schminke ab und zu auch Pockenund Stichnarben verstecken? Diese buntfarbigen Clownsmäuler schminkten sich für die stürmische Jugend, für die Touristinnen aus verschiedensten Ländern, […] hinter den Fingernägeln ein Einschnitt vom Eisernen Vorhang, und hinter ihm ist endlich! anstelle von Panzerparade nur noch das Theater der Škrholas,9 für Söhne und Töchterchen aus guten Familien mit ihren wunderbaren Reisepässen, sie sind gekommen, um in Osteuropa einen drauf zu machen, sie haben eine Tiermenagerie erwartet und haben einen Dschungel gefunden, sie haben ein Lager aussortierter Kulissen gefunden, sie suchten nach dem Geist und erwischt hat sie der Hampelmann mit dem Spiegelgesicht …10
Im Zuge der Wende entledigt sich diese Stadt ihres düsteren, „bolschewistischen“ Gesichtes und legt dafür Tausende neue Masken an, darunter die des Škrholas, des Dorftrottels aus dem alten tschechischen Puppentheater. Sie
9 Bei der Übersetzung von „Hampelmann“ sollte mitbedacht werden, dass das tschechische panák auch ein Schnapsglas bezeichnet. 10 Topol: Výlet (wie Anm. 4), S. 104: „Město shodilo tu bývalou tvář, tu pochmurnou a přísnou, tu masku hnijícího bolševismu, nasadilo jich teď tisíce. Některé byly nalíčenými veselými obličeji klaunů, a komu by vadilo, že ti staří alkoholičtí cvoci z manéže páchnoucí pilinami a zvířecím trusem pod šminkou ukrývají sem tam neštovičku, jizvičku po bodnutíčku? Tyhle pestrobarebné šaškovské tlamy se šminkovaly pro bouřlivé mládíčko, pro turistky z nejrůznejších zemí, […] za nehtama rez ze železný opony, za kterou je konečně! místo tankový parády už jen divadýlko škrholů, pro syny a dcerky z dobrých rodin s těmi skvělými pasy, přijeli si zabláznit do východní Evropy, čekali zveřinec, a našli džungli, a našli sklad vyřazených kulis, hledali Ducha a dostal je Panák se zrcadlovým ksichtem…“
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streift die vermeintliche Identität einer gleichgeschalteten Graustufe ab und setzt sich der Wucherung neuer, simulierter Identitäten aus. Eine Maske verhüllt und bringt das hinter ihr Befindliche zum Verschwinden. Das Verhüllte verschwindet in Topols Text jedoch nicht gänzlich hinter den neuen Maskeraden der Stadt. Der Text gewährt Transparenz und erlaubt es dem röntgenartigen Blick, durch die maskenhafte Oberfläche auf das Dahinter der Stadt zu schauen. Was sich hinter den „geschminkten lustigen Clownsmasken“ verbirgt, sind lediglich weitere Masken. Anstelle der zu erwartenden originalen Stadt sind es wieder nur Clowns, allerdings unansehnliche, „kaputte“ Komödianten, deren Gesichter das Echte nur in Form von Spuren, als Narben aufweisen, und damit eher auf etwas nicht mehr Vorhandenes oder das Verschwinden selbst hindeuten. Topols Wahl der Clownsmaske als Bild für eine Stadt in der Wendezeit lässt eine Parodie auf die Transformation einer postsozialistischen in eine (spät-)kapitalistische „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze) vermuten.11 Der Vordenker der Situationistischen Internationale, Guy Debord, charakterisierte die Gesellschaft des Spätkapitalismus in Bezug auf ihre Erlebnisorientiertheit als eine „Gesellschaft des Spektakels“.12 Debords Spektakel bezeichnet eine Pseudowelt der Bilder, die sich auf das Prinzip des Warenfetischismus gründet.13 Spektakel meint eine permanente Imitation und eine Täuschung, in welcher der Schein die Realität vollkommen ersetzt hat.14 11 Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt–New York 1992. – Mit dem Begriff „Spätkapitalismus“ beziehe ich mich auf Jamesons Verwendungsweise. Er stützt sich dabei auf den Begriff von Ernest Mandel, der damit die dritte Stufe in der Entwicklung von Kapital meint, die sich durch das alle Lebensbereiche durchdringende ökonomische Prinzip des Warenkonsums auszeichnet. Vgl. Jameson: Postmoderne (wie Anm. 5), S. 47. – Siehe auch L ewitzky, Uwe: Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität. Bielefeld 2005, S. 13. 12 Debord, Guy: Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996. 13 Ebd., S. 4, 31 u. 33 (These 1, 34 u. 42): „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheuere Sammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen. […] Das Spektakel ist das Kapital, das einen solchen Akkumulationsgrad erreicht, dass es zum Bild wird […]. Das Spektakel ist der Moment, worin die Ware zur völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist.“ 14 Ebd., S. 4 u. 31 (These 2 u. 36): „[W]o die sinnliche Welt durch eine über sie schwebende Auswahl von Bildern ersetzt wird, welche sich zugleich als das Sinnliche schlechthin hat anerkennen lassen. […] Die Spezialisierung der Bilder der Welt
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Mit der Metapher der tausend schrillbunten Masken evoziert Topols Text die Stadtlandschaft eines solchen Spektakels, die einzig und allein von einer profitorientierten Welt der Bilder (Masken) beherrscht wird. Topol geht in seiner Bildsprache jedoch noch weiter und zeigt uns eine grotesk anmutende Möchtegern-Gesellschaft, die lediglich darum bemüht ist, ein Spektakel zu sein, dabei aber nur die clowneske Simulation einer Erlebnisgesellschaft darzubieten hat. Im Vergleich zu ihrem angestrebten „Vorbild“ einer „westlichen“ (Konsum-)Gesellschaft kommt die postsozialistische Variante in Topols Text ziemlich dilettantisch und bäuerlich daher. Denn das (Nicht-)Gesicht der Stadt, das versucht, ein Konsum-Spektakel zu bieten und damit ein „westliches Antlitz“ zu mimen, zeigt sich am Ende als groteske Gestalt eines alkoholsüchtigen, stinkenden Zirkustrottels oder des „Škrholas“. Diese Stadt wird in Topols Gestaltung nicht nur durch Praktiken ihrer Bewohner einer Veränderung unterzogen. Die Stadt selbst wird zum handelnden Subjekt, zum selbstständigen Akteur, zur Maskenwechslerin und post sozialistischen Clownsfigur. Diese lächerliche Figur eines geistlosen „Hampelmanns“ biedert sich in den aussortierten Kulissen der postsozialistischen „Rumpelkammer“ den Erwartungen der herbeiströmenden Touristen wie eine Prostituierte an. Was sie ihnen letztendlich anzubieten hat, ist allerdings in einer nächsten Wendung lediglich die weitere Reflexion im Narrenspiegel. Das postsozialistische Spektakel wird spekular und damit noch spektakulärer, denn im Grunde passiert hier nichts Weiteres als die reine Zurückspiegelung: The postsocialist city strikes back.
Transparenz 3: Der Blick des (Welt-)Herrn Der Anfang der Erzählung lässt sich auf mehrfache Weise lesen. Er wird begleitet von der atmosphärischen Dramatik eines Schauerromans. Topol lässt seine Maskenstadt zu einer Schauerstadt mutieren und hüllt sie in eine Schicht aus fingiertem noir:
findet sich vollendet in der autonom gewordenen Bildwelt wieder, in der sich das Verlogene selbst belogen hat.“
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Die Stadt war in Veränderung. In der Nacht hing zwar genauso selbstverständlich wie im 10. Jahrhundert und wie zu jeder anderen Zeit der Mond im dunklen Tor über ihr, manchmal voll und aufgedunsen wie das Gesicht eines Säufers, ein andermal schwamm er in den Wolken und war nicht zu sehen, gläserner Tand, er glühte nicht, aber dennoch brachte er die streunenden Hunde zum Wahnsinn. In diesem Schein, wann immer der Mond seine kalte Intensität erreichte, tranken die Liebespaare die Flasche leer und stürzten übereinander, die Mundwinkel aus lauter Liebe ausgenagt, der Mörder drehte das Messer in der Wunde und grinste, in diesem Licht hatte die gute Mutter ihrem kleinen Schwimmer aus dem Nichts etwas Entsetzliches angetan und die gelbe Kraft floss nach unten und ergoss sich über die Straßenbahnschienen und Bahngleise und diese glänzten in der Lichtflut …15
Wie in einem Nachtstück, in einem theatralisierten, erzählerisch inszenierten Chiaroscuro gezeichnet, hebt sich der leuchtende Mond vom dunklen Hintergrund der Nacht ab, sein schwaches Licht erstreckt sich über die Stadt und lässt sie glänzend in diabolisch wirkendem Gelb erscheinen. Die Nacht, hier der Repräsentant des Bösen, wird zur unveränderlichen Kulisse und zum steten Reservoir krimineller Energien, welche die Stadt beherrschen und in diese „aus dem Nichts“ eingreifen können. Topol arbeitet auffällig häufig mit Dualitäten oder Kontrasteffekten, er setzt inhaltliche Antithetik als Grund- oder Stimmungsornament ein. In diesem frühen Text wählt er das Dunkel der Nacht als kontrastiven Hintergrund und lässt unmittelbar nach dem einleitenden kalten Schauerambiente des nächtlichen Szenarios das grelle und heiße Sonnenlicht in einer spektakulären Sonnenaufgangsszene auftreten:
15 Topol: Výlet (wie Anm. 4), S. 101: „Město se měnilo. V noci nad ním sice stejně samozřejmně jako v desátým století a jako kdykoli jindy visel měsíc v tmavý bráně, někdy plný a oteklý jako tvář opilce, jindy plaval v mracích a nebyl vidět, skleněná cetka, nežhnul, ale stejně doháněl zparchantělé městské psy k šílenství. V tomhle svitu, kdykoli měsíc dosáhl svý chladný intenzity, milenci dopili láhev a vrhli se na sebe, koutky vykousaný z velký lásky, vrahoun otočil kudlou v ráně a zašklebil se, v tomhle světle hodná máma zničehonic provedla svýmu plaváčkovi něco úděsnýho a žlutá síla tekla dolů a stékala na koleje tramvají a vlaků a ty se v té záplavě světla leskly …“
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Der Weltherr hatte die Nacht in der Mitte der Finsternis gepackt und wendete sie wie frisch abgezogene Haut, am Himmel brannte die Sonne. Sie schlug an die Stadtmauern und auf die Bürgersteige, und erst jetzt wurde der Dreck zum Dreck und die Fäulnis zur Fäulnis und sie waren sichtbar.16
Die nächtliche Finsternis wird hier wie ein Skalp, wie eine Siegestrophäe vom Himmel gerissen und gewendet. Das Sonnenlicht wird enthüllt und durchdringt greller und gewaltiger als die „kalte Intensität“ des Mondscheines die Stadt. In dem pathetisch anklingenden Siegeszug des Lichts über die Nacht ist der Verweis auf die schauerromantische Lichtmetaphorik deutlich,17 gemäß derer die Ankunft des Lichts der Ratio zur „Erhellung“ des Schauders führen soll. Hier schwingt gleichzeitig aber in der parodistischen Überzeichnung eine ironische Allusion an die Wende mit, eine an Diffamierung grenzende Hypostasierung der neuen Zeit als Ankunft des Lichts nach der düsteren Periode des „Bolschewismus“. Die Intention der schauerromantischen Aufklärungsgeste, in der das Licht motivisch die „Erhellung“ der „verrätselten“ (verdunkelten) Welt herbeiführen soll, wird bei Topol zweckentfremdet. Das theatralisch eingesetzte Sonnenlicht wird hier zu einem grellen Spotlight, das lediglich „Dreck und Fäulnis“ beleuchtet und den Leser nahe an Schauplätze heranführt, die alles andere als eine enträtselte „heile“ Welt versprechen. Die Stadt, die Topol im Tageslicht zeigt, ist viel schauderhafter als das nächtliche Ambiente, das sie „verhüllt“ hat. Die Tagesstadt wird in der Optik eines schauderhaften noir gezeigt, das eher die Stimmung eines Hard-boiled-Krimis evoziert – und dies in dessen trivialster Form. Wie aus einem Groschenheft ausgeschnitten, wird die raue Realität einer postsozialistischen Nachwende-Stadt belichtet. Nicht nur dem Mond wird ein Säufergesicht angehängt. In dieser Stadt wimmelt es nur so von „verkommenen“ Existenzen, von Dieben, Erpressern, Mafiosi oder Gangstern, welche die Stadt „der Größe ihrer Verkaufsbuden nach“ untereinander aufteilen. Dem Leser werden Orte vor Augen geführt, die „nach verbranntem Fleisch“ riechen, so der Klub „Nightland“, in dem die „Abge16 Topol: Výlet (wie Anm. 4), S. 101: „Pán světa chytil noc ve středu temnoty a obrátil ji na ruby jako čerstvě staženou kůži, na nebi hořelo slunce. Bilo do městských zdí a chodníků a teprv teď byla špína špínou a hniloba hnilobou a byly vidět.“ 17 Vor allem in der sogenannten „aufklärerischen“ Linie der Romantik, wie z. B. bei Edgar Allan Poe oder E. T. A. Hoffmann. Vgl. hierzu u. a. Bremer, Alida: Kriminalistische Dekonstruktionen. Zur Poetik der postmodernen Kriminalromane. Würzburg 1999.
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sandten eines Verbrecher-Clans“ herrschen, nur um hier den „Goldregen“ heranzuzüchten.18 Die Welt eines klassischen Hard-boiled-Krimis besteht nicht mehr aus einer klar definierten Dualität von Gut und Böse (und der entsprechenden Binarität von Licht und Dunkel oder irrrationalem Schauder und rationaler Erklärung). Das Verbrechen wird in der Hard-boiled-Welt zur gesellschaftlichen Normalität, es ist die Realität par excellence, in der das Böse nicht mehr vom Guten zu unterscheiden ist.19 Topol bedient sich in vollem Umfang dieses Genremusters; er übertreibt allerdings beim melodramatischen Duktus und dem Hang zur Agonalität beträchtlich. Bei ihm ist das „Böse“ (die „böse Kraft“) schicksalhaft und im Grunde die Basis des Handelns in dieser Welt. Das Böse ist in überzeichneter Dramatik der „(Welt-)Herr“, der in diese Stadt gekommen ist, um alles in Beschlag zu nehmen: Ganz einfach, der Herr ist in die Stadt gekommen, um dir den Stuhl unter deinem Hintern, die Suppe unter deinem Löffel wegzunehmen, den sollst du dir ins Auge rammen. Dieser Herr macht aus deinen Söhnen Sklaven, und noch mehr, er macht sie zu seinen Anhängern, deine Töchter und Frauen verkauft er auf der Straße, Geld nimmt er kiloweise.20
Indem Topol seiner Stadt die Gestalt eines geistlosen primitiven Hampelmanns und Zirkustrottels verpasst, karikiert er für den postsozialistischen urbanen Raum die Realität der 1990er-Jahre, die er in übertriebener Form dem Bösen aus der korrumpierten Welt der amerikanischen Krimis der 1940er-Jahre gleichsetzt. So steigert er die Trivialität der Darstellung und unterstreicht das Rigide der Stadt. Mit dem Lichtspektakel, dem Spotlight der Wende, geht in Topols Text vor allem das Ordnungsprinzip des Ökonomischen einher, das die Stadt in allen ihren Lebensbereichen bis hin zum erzählenden Ich panoptisch durch18 Topol: Výlet (wie Anm. 4), S. 102. 19 Vgl. hierzu Földvári, Kornel: O detektívke [Über den Krimi]. Levice 2009, S. 108. – Pfeiffer, Ludwig K.: Mentalität und Medium. In: Der Kriminalroman: Poetik – Theorie – Geschichte. Hg. v. Jochen Vogt. München 1998, S. 369. – Bremer: Kriminalistische Dekonstruktionen (wie Anm. 17), S. 91. 20 Topol: Výlet (wie Anm. 4), S. 103: „Prostě Pán přišel do města vzít ti židli pod zadkem, polívku zpod lžíce, tu si vraž do oka. Ten Pán z tvých synů nadělá otroky, a co víc, svý vyznavače, tvý dcery a ženy bude prodávat na ulici, peníze veme za kila.“
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dringt. Daher stellt sich auch der Erzähler die Aufgabe zu erforschen, wie er „seinen gesunden Geist im geschäftlichen Unternehmertum komplett auszehren lassen könnte“.21 Das ökonomische Prinzip, der „(Welt-)Herr“, okkupiert die Stadt und unterzieht sie einer profitorientierten Maskerade, indem sie in das angeblich rechtschaffene Gewand eines soliden Geschäftsmannes gekleidet wird: Geld stinkt nicht, sagten die Stinkenden und portionierten sich die Straßen und Stellplätze in der Größe ihrer Verkaufsbuden […] einigen Stadtteilen schneiderten ihre Besitzer das rechtschaffene Gewand eines soliden Geschäftsmannes, von Banken und Wechselstuben, auf den Ruinen wedelten bunte Flaggen […].22
Doch nicht nur das aufklärerische Spektakel einer Entlarvung des Schaurigen oder das Setting des Hard-boiled-Krimis sind Masken der postsozialistischen Stadt. Das theatralisch inszenierte Aufbrechen des Tageslichts und somit auch der neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Ordnung wird wie eine Weltschöpfung erzählt, in der ein Weltherr die Nacht besiegt, das Sonnenlicht zum Vorschein bringt und sich die Stadt, in der nur „Dreck und Fäulnis“ „ans Licht“ kommen, untertan macht. Was hier als „Dreck“ bezeichnet wird, ist ebenfalls mit doppelter Bedeutung ausgestattet. In diesem panoptischen System der ökonomischen Macht, dem neu funktionalisierten und privatisierten Stadtraum, werden Ordnung und Kontrolle eingeführt und der „Dreck“ beseitigt: „[…] angeheuerte Mächte schossen mit Luftgewehren die Tauben tot, damit die Ladungen der Fäkalien die Verdauung der Schlaumeier im Anzug nicht stört, deren Scheiße wälzt sich im Umlauf absolut diskret.“23 Die visuelle Transparenz bis zur „Verdauung“ der Bankiers, ein Blick quer durch das Panoptische, führt uns zur letzten „Instanz“ im Mechanismus von 21 Ebd., S. 102: „Zkoumal jsem, jak umořit svýho zdravýho ducha v obchodním podnikání.“ 22 Ebd., S. 104: „Prachy nesmrděj, říkali si smraďoši a porcovali ulice a náměstíčka podle velikosti svých stánků […] části města majitelé vystřihli do počestnýho šatu solidního obchodníka, banky a směnárny, na ruinách vlály pestrobarevné vlajky […].“ 23 Ebd.: „[…] najaté síly odstřelovali vzduchovkama holuby, aby nálože z kloaky nerušily trávení chytráků v kvádrech, těm se hovna převalují v oběhu naprosto diskrétně.“
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Topols Stadt des Spektakels, zu „Fütterung und Verdauungstrakt“ dieser seltsamen Stadtgestalt und zu ihren Exkrementen. Dass sich diese in einem „Umlauf“ befinden, kann kaum anders gedeutet werden, als dass Topol auf die ökonomischen Mechanismen dieser Maskeradenstadt hinaus will und diese hier mit der „Scheiße“, mit dem verdeckten und doch ständig fließenden „Kapital“, gleichgesetzt werden.
Transparenzen: Ein Resümee Topols literarischer Spaziergang lässt sich zusammenfassend in eine Analogie zur situationistischen Praxis der Eroberung des städtischen Raumes setzen. Der forschende, durchdringende und Grenzen verletzende Blick seines Erzählers geht hier ähnlich vor, wie ein situationistischer Akteur bei seinem dérive, dem planlosen Umherschweifen durch den urbanen Raum. Er „driftet“ durch die Stadt, macht sie zu seinem Experimentierfeld und führt eine Art psychogéographie durch. Die psychogéographie war ein konstitutiver Bestandteil der dérive, die als ein intervenierendes Experimentieren im städtischen Raum angewendet wurde, um zu erforschen und zu erkunden, „was die unmittelbare Wirkung der geografischen Umwelt auf das Gefühlsleben zur Erscheinung bringt“.24 Die situationistische Stadt war für die Situationisten ein ästhetisches Artefakt, das beim dérive zugleich einem détournement unterzogen wurde, einer Zweckentfremdung oder Entfernung der Stadt aus ihren hergebrachten Zusammenhängen, um sie in neue, selbst entworfene Kontexte umzuleiten.25 Das Ziel ist die Schaffung von Situationen, kurzfristigen Stimmungen, die aus dem Widerspiel zwischen zwei sich gegenseitig beeinflussenden Komponenten entstehen. Dies sind mit Debord die „materielle Szenerie des Lebens“ einerseits und die „neuen Verhaltensweisen“ andererseits, die diese „Szenerie“ hervorbringen und von denen die Stadt gleichzeitig subvertiert wird.26 24 Zit. aus SI – Revue 1 (1958). Quelle: http://www.si-revue.de/definitionen (Letzer Zugriff: 02.01.2013). 25 Greil, Marcus: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk – kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert. Hamburg 1992, S. 172. 26 Debord, Guy: Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz. In: Situationistische Internationale. Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Hg. v. Roberto Ohrt. Hamburg 2008, S. 39.
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Topol verfährt ähnlich mit seiner Stadt. Er lässt sich auf die vorgefundenen Bilder der Stadt ein, lässt sie auf sich wirken, greift in sie ein und zweckentfremdet sie. Der erzählende Blick hält die Dynamik im Wandel dieser Stadt fest, nimmt sie in ihrer Flüchtigkeit auf, dringt durch ihre Oberflächen hindurch, wendet sie und lässt sie sich dann wieder übereinanderschichten. Er interveniert auf ähnliche Art wie die Situationisten und stellt sich damit gegen eine Pseudowelt der Bilder des spätkapitalistischen Spektakels postsozialistischer Provenienz, indem er über den Weg des Auges einen differenziellen Raum und alternativen Weg eröffnet. Diese Gegen-Pfade queren den durch ökonomische Strukturen funktionalisierten Raum, Strukturen, die sich in der veränderten Stadtlandschaft manifestieren. Die Transparenzen, die dieser Blick damit schafft, eröffnen jedoch nicht den Weg zur Utopie einer „höheren Qualität der Leidenschaft“ und damit zum „eigentlichen“, „wirklichen“ oder „realen“ Leben angesichts der Gefangenschaft durch die Bilder, wie es bei Debord heißt.27 Topols „Reise ins Blaue der Imagination“ (Gruppe SPUR) läuft in eine andere Richtung. Sie wird ausgelöst von den Absurditäten der vorgefundenen Realitäten und gesteuert von der Lust an deren Potenzierung – mit der augenscheinlichen Absicht, diese urbanen Erscheinungsformen der postsozialistischen Stadt in ihrer Leere und Trivialität transparenter und damit noch trivialer, da durchschaubarer erscheinen zu lassen. Topols Ausflug zur Bahnhofshalle ist ein Spaziergang des Auges durch eine „wendige“ Stadt, die sich in ein groteskes Schau-Spiel des transparent bleibenden Opaken verwandelt. Mit dieser Intervention in den turbokapitalistischen Stadtraum einer postsozialistischen Gesellschaft löst Topol aus einer gegenkulturellen Haltung heraus für die Repräsentation der Stadt das ein, was auch die Gruppe SPUR mit ihrem Programm proklamierte: Uns ging es um Vielschichtigkeiten und um Überlagerungen, aber keine Unterordnungen. Linien und Flecken sollten sich gegenseitig überlagern und herausfordern, und daraus, aus diesem Wechselspiel heraus, sollte dann spontan eine Figur entstehen, auftauchen.28
27 Ebd. – Siehe auch Debord: Gesellschaft des Spektakels (wie Anm. 12), S. 183. 28 Gruppe SPUR. Einführung zum Ausstellungskatalog. Gruppe SPUR. Bilder und Plastiken. Hg. v. Galerie van de Loo. München 1959, [o. S.].
Alfrun Kliems
Städte der Ebene und ihre urbane Verheerung Andrzej Stasiuks postsozialistisches Warschau
[Sie] probten die Landung, die imaginäre Eroberung der Innenstadt mit ihren Wundern, ihrem Glanz und ihrer Pracht. Aus Lochów, aus Małkinia, Pustelnik, Radzymin, aus Poświętny, Guzowacizna und Ciemny, aus all diesen Käffern mit den Hähnen morgens um fünf, mit den Schuppen und dem flachen, gepflügten Horizont, an dem statt der Sonne der Schatten der Großstadt aufging, wie eine Fata Morgana, vervielfacht durch die Erzählungen derer, die dort gewesen waren […]. (Andrzej Stasiuk)1
Andrzej Stasiuk liest man zumal hier, im Nachbarland, in erster Linie als Zeugen des Nichturbanen, einer vergehenden, pittoresk-tristen, „authentischen“ Peripherie, der seine Figuren bevorzugt in Galizien erfrieren lässt. In seinem 1999 erschienenen Warschau-Roman Neun (Dziewięć) jedoch erörtert Stasiuk einen urbanen clash of civilisations, der weder Ethnien noch Sprachen oder Religionen meint, sondern Stadt und Land zueinander in Spannung setzt – Zentrum und Peripherie eines (national integren) „Inlands“. Stasiuks postsozialistisches Warschau ist keine ethnisch zerfaserte, sondern im Gegenteil eine ethnisch indifferente, implizit ethnisch geschlossene Stadt – der ein „eigentlich“ zugehöriges (Hinter-)Land als vielstimmig, vielstämmig und vielfältig Positives gegenübersteht. Das schließt an einen locus classicus der
1 Stasiuk, Andrzej: Neun. Übers. v. Renate Schmidgall. Frankfurt am Main 2002, S. 115–116. – Stasiuk, Andrzej: Dziewięć. Wołowiec 2003, S. 97: „[…] próbowali desantu, imaginacyjnej konkwisty Śródmieścia z jego cudami, blaskiem i splendorem. Z Łochowa, z Małkini, z Pustelnika, z Radzymina, z Poświętnego, z Guzowacizny i Ciemnego, z tych wszystkich pipidów z kogutami o piątej rano, remizą i płaskim zaoranym horyzontem, gdzie zamiast słońca podnosił się cień wielkiego miasta niczym pustynna fatamorgana zwielokrotniona opowieściami tych, co byli […].“
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Moderne in ihrer Fin-de-siècle-Ausprägung an, den Stasiuk in seinen Mitteleuropa-Essays noch einmal zuspitzt: das Unbehagen an der Stadt als solcher. Genau diesem Unbehagen soll im Folgenden am Bild von den Städten der Ebene und ihren urbanen Verheerungen nachgegangen werden, wobei es nur hintergründig um die Frage nach dem Oben und Unten der Stadt gehen wird. Vielmehr interessiert Stasiuks Blick auf Warschau als eine Stadt, der der Untergang qua Standortwahl eingeschrieben ist.
Andrzej Stasiuk und der Underground Stasiuk ist kein ausgewiesener Vertreter des Underground als literaturgeschichtlichem Phänomen, er gehört jedoch dem weiter verstandenen Kontext einer solchen subkulturellen Ästhetik und Programmatik an. Seine ersten Publikationen entstammen dem Umfeld der 1986 in Krakau entstandenen Zeitschrift bruLion (Schmierheft), die es darauf anlegte, die polnische Öffentlichkeit mit Plädoyers für Pornografie, sexuelle Revolution, Drogenfreigabe, mit zur Schau gestellten antisemitischen und rassistischen Überlegungen zu brüskieren: Themen, die das für marginal und unerträglich Erklärte gegen das Zentrum der Normkultur in Stellung brachten.2 Die bruLion-Schreiber wurden unter anderem dafür kritisiert, in ihrer Dichtung das polnische romantische Paradigma einer tyrtäischen Poetik zu unterlaufen, als da wären der Wille, das eigene Schaffen schicksalhaft mit der Nation zu verbinden; die ethische Verpflichtung zur literarischen Zeugenschaft; die Bereitschaft, engagierte Literatur zu schreiben. Narrative Muster des Underground grundieren denn auch die Selbsterzählung Stasiuks in seinem autobiografisch angelegten Essay Wie ich Schriftsteller wurde ( Jak zostałem pisarzem, 1998). Darin kultiviert Stasiuk – vom marginalisierten Rand der Kultur herkommend – seinen harten „Aufschlag“ in ihrer „Mitte“: Er erzählt, wie er die Schule abbrach; wie er aus der Armee desertierte, aufgegriffen und inhaftiert wurde; wie er sich jahrelang mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt; wie er nebenher schrieb – und schließlich
2 Siehe zu bruLion u. a. Klejnocki, Jarosław/Sosnowski, Jerzy: Chwilowe zawie szenie broni. O twórczości tzw. pokolenia „bruLionu“ (1986–1996) [Vorübergehender Waffenstillstand. Zum Schaffen der sog. Generation „bruLion“ (1986–1996)]. Warszawa 1996.
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Warschau den Rücken zukehrte.3 Dergestalt schreibt sich Stasiuk in die performative Poesie des Underground ein, ohne das Wort selbst verwenden zu müssen, und gibt dieser Einschreibung eine abschließende antiurbane Wendung, auf die zurückzukommen sein wird. Entsprechend der dramaturgischen Kodexverhaftung eines vorwiegend männlich geprägten Underground reproduziert Stasiuks Referenzmilieu eines Outsider-Männerbundes die klischierten Topoi „maskulinen“ Verhaltens als Erkennungssignale unter Gleichgesinnten: Man spielt Indianer; liebt, schreibt und lebt roadmovies; säuft; schwärmt für und kämpft um Spielarten aus- und inländischer Punk-, Jazz- und Rockmusik; berauscht sich an Beat-, Lost-Generation-Imaginationen, an Unterschichten- als (vermeintlicher) Sub- ergo Gegenkultur. Doch chiffriert Stasiuk seine Outsider-Bünde nicht sozial, sondern naturhaft: „Wir lebten wie Tiere. In Rudeln.“4 In der Wirkung rauschhaft reiht der Text die Signale aneinander: Zigarettenmarken und Wodkasorten, Kneipennamen, Bands und Liedermacher, Songs, Schriftsteller und Werke, Schlagermelodien und konkrete Orte. Schon hier, in seinem „Bekenntnisbuch“, beschreibt Stasiuk Warschau in einer Art achselzuckender Untergangsfantasie als eine Stadt der Ebene. Warschau oder auch Moskau und Berlin sind bei ihm „Metropolen der Ebene“. Ihnen sei ihre Zerstörung eingeschrieben, schließlich würden sich ihre Bewohner im Flachland nicht nur den Angriffen mongolischer oder anderer Horden aussetzen, sondern auch den zermürbenden Kräften von Wind und Wetter. Dies wird Stasiuk noch bildhafter in seinem Logbuch (Dziennik okrętowy, 2001) ausführen.5 Konsequent legt Stasiuk daher Warschau auch in seinem Roman Neun steppenhaft an. Die erzählte Beziehung zum Umland evoziert die einschlägigen Assoziationen von „anbranden“, „durchwehen“ und „ansanden“.
3 Stasiuk, Andrzej: Jak zostałem pisarzem (proba autobiografii intelektualnej). Czarne 1998. – Stasiuk, Andrzej: Wie ich Schriftsteller wurde. Versuch einer intellektuellen Biographie. Übers. v. Olaf Kühl. Frankfurt am Main 2001. 4 Stasiuk: Wie ich Schriftsteller wurde (wie Anm. 3), S. 11. – Stasiuk: Jak zostałem pisarzem (wie Anm. 3), S. 11: „Żyliśmy jak zwierzęta. W stadzie.“ 5 Stasiuk, Andrzej: Dziennik okrętowy. In: Andruchowycz, Jurij/ Stasiuk, Andrzej: Moja Europa. Dwa eseje o Europie zwanej Środkową. Wołowiec 2001, S. 77–140. – Stasiuk, Andrzej: Logbuch. In: Andruchowytsch, Juri/Stasiuk, Andrzej: Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa. Übers. v. Martin Pollack. Frankfurt am Main 2004, S. 79–145.
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Neun und die Invasion Warschaus von den Rändern her Stasiuks Romanfiguren durchlaufen, durchhasten, durchfahren Warschau zu Fuß, im Bus, in der Straßenbahn vom Rand bis zum Zentrum und wieder zurück. Was der Text derweil am Straßenrand auffährt, sind „Un-Orte“ im Sinne von Marc Augé. Während die Handlung den Figuren folgt, fügt sich die Stadt selbst zu einer weiteren, ungenannten Hauptfigur des Romans. Die Geschichte beginnt damit, dass der erfolglose Kleinhändler Paweł eines Morgens in seiner verwüsteten Wohnung aufwacht. Im weiteren Verlauf treten ohne nähere Einführung aus der Stadt hervor: Jacek, ein Gelegenheitsdealer, mit dem Paweł befreundet ist; dann Bolek, ein skrupellos-neureicher Geschäftemacher, der mit diesem eine Rechnung offen hat; später der Schlägertyp Blondyn, im Deutschen „der Blonde“, sowie der friedliche Paker vom Lande, deutsch „Packer“. An weiblichen Charakteren: Boleks Freundin Syl; Irina, eine russische Prostituierte reiferen Alters; die schlichte Verkäuferin Zosia, die in Pawełs Laden angestellt ist; endlich die überkandidelte Esoterikanhängerin Beata, eine Freundin von Jacek. Sie alle leben in mehr oder weniger unerfreulichen Umständen, sind miteinander auf die eine oder andere Weise verbunden und treiben den Leser kreuz und quer durch Warschau, zumal dessen Vororte und Ränder, aber auch Parkanlagen, leitmotivisch über Straßen und Kreuzungen, von einer Bar in die nächste Kneipe – ohne jemals anzukommen. Einige bestehen die Prüfungen der Urbankultur, andere sterben. Das Personal wird weder aus seinen misslichen Lagen befreit, noch widerfährt ihm narrative Gerechtigkeit. So werden einige Figuren gejagt, vergewaltigt, zusammengeschlagen, eingesperrt oder überfahren. Dann bricht der Roman ab. Für Przemysław Czapliński ist das Grund genug, die Leserschaft in einer Rezension vor Stasiuks Roman, den er als Krimi liest, zu warnen: vor seinen losen Fäden, dem übermäßigen Gebrauch von Vulgarismen, der einfachen Figurenzeichnung, einer ziellos-mäandernden Parabel und Simultankonstruktion zu vieler Geschichten.6 Anwürfe, auf die der Underground – wie der Pop – es klassischerweise anlegt. Agnieszka Wiencek macht diese Verwurzelung im Umfeld der bruLion-Ästhetik denn auch explizit, wenn sie Neun seiner Konstruktion nach als „Schmierheft-Roman“ (powieść-brulion) bezeichnet, mit deshalb angemessen unabgeschlossener Handlung, zahlrei 6 Czapliński, Przemysław: Wara od Stasiuka! [Finger weg von Stasiuk!]. In: Polityka v. 13.11.2011, S. 48–50.
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chen verlorenen Fährten und erzählerischen Finten, situiert in einem von der Mafia okkupierten Warschau, in dem per se nichts Gutes gelingen kann.7 In der Tat bleibt Neun psychologisch wenig ausgearbeitet, bedient sich einer explosiven Sprache und eines rasanten Erzählduktus, verblendet Räume mit Figuren, Erhabenes mit Obszönem, Integritätshoffnung mit Zerfall. Vor allem aber spaltet der Roman dieses Warschau vertikal in Ober- und Unterstadt – und setzt zugleich horizontal Zentrum gegen Randlage und Stadt gegen Land. Stasiuks Nachwende-Warschau besteht aus Zugezogenen und bekommt jeden Morgen eine Dröhnung „Land“. Die Invasion des (Stadt-)Zentrums erfolgt durch die und aus der Peripherie. Diese schickt „Kundschafter“, die sich in Gruppen – also „Rudeln“ – in den Warschauer Hochhausgürteln niederlassen, um näher an die „Mitte“ zu rücken. Die Mitte erweist sich jedoch als eine „Fata Morgana“, worunter die Randbewohner aus der „Ebene“ die Innenstadt und ihre Geschäfte verstehen. Allein, sie landen allenfalls auf dem Różycki-Basar, also neuerlich am Rand. Zudem ist ihre Bewegung keine eingleisige, führen doch alle Vorstöße der Peripherie in die Stadt gleich wieder zurück: „Die Schnellzüge brachen in die vier Richtungen des Landes auf. Die Eilzüge rollten nach der nächtlichen Fahrt in den Hauptbahnhof ein. Nichts hinzufügen, nichts wegnehmen.“8 Das Hin und Her bringt keinen wirklichen Austausch hervor. „Die Peripherie soll nicht ins Zentrum hereingeholt werden, sondern sie wird selbst zum alternativen Zentrum erhoben“, schreibt Christian Prunitsch mit Blick auf Stasiuks Gesamtwerk.9 In Neun freilich ist die Peripherie noch nicht vom unhintergehbar Anderen zur Alternative geworden. Der verwischte Stadt-Land-Saum markiert zunächst einmal nur das Scheitern sowohl der zivilen Expansion als auch der ruralen Invasion. Wo der Roman das Fatum des Ortes direkt adressiert, wählt er indes eine historisch-vertikale Bildsprache und zieht einen doppelten Boden ein: Gänge, 7 Wiencek, Agnieszka: Dziewięć a struktura antycznej tragedii [Neun und die Struktur der antiken Tragödie]. In: Światy nowej prozy. Hg. v. Stanisław Jaworski. Kraków 2001, S. 61–81, hier 78. 8 Stasiuk: Neun (wie Anm. 1), S. 243. – Stasiuk: Dziewięć (wie Anm. 1), S. 203: „Ekspresy ruszały w cztery strony kraju. Pospieszne po całonocnej jeździe wtaczały się na Centralny. Nic dodać, nic ująć.“ 9 Prunitsch, Christian: „Ostatni obwarzanek Rzeczypospolitej“: Andrzej S tasiuk und die Ränder der polnischen Kultur. In: Zeitschrift für Slawistik 1 (2005), S. 45–57, hier 48.
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Katakomben und Unterführungen. Aus denen brechen nach Art von Michael Jacksons Video Thriller die Toten nach oben: Ach, scheiß auf das Gericht, das wird’s sowieso nicht geben. Aber die Auferstehung. Überall. Auf der Marszałkowska platzt der Asphalt, und sie kriechen raus, in der Allee gehen die Gehwege aus den Fugen, und so weiter, überall. Du sitzt bei McDonalds in der Świętokrzyska, ziehst dir deinen Big Mac rein, und plötzlich, peng, Linoleum, Beton, alles klitzeklein, eine Leiche, die nächste, überall, am Kreisel, in der Passage, im Sächsischen Garten weicht das Gras zur Seite, und sie sprießen aus dem Boden wie Pilze oder wie diese deutschen Gartenzwerge aus Gips, auf dem Aufständischen, auf dem Paradeplatz, endlich mal Parade, […]. Oh, da wird’s nicht so höflich zugehen wie früher auf den Friedhöfen in Wólka, in Bródno oder in Wola, wo es lotterleer ist und sie mit gefalteten Händen in gleichmäßigen Reihen liegen, so, wie man sie hingelegt hat … Hier wird’s ganz anders.10
Stasiuk kehrt in Neun Unterstes zuoberst, lässt Totgewähntes emporkriechen. Sein Totentanz mahnt, dass Untergekehrtes hartnäckig sein kann, und konzipiert darüber Warschau als axialen Schnittpunkt, in dem sich das horizontale und das vertikale Marginalitätstrauma überkreuzen, um das Verdikt der Zeit sichtbar zu machen: die Verheerung. Warschau fungiert bei ihm als vollendetes urbanes Desaster, als ZombieStadt, wie er im Essay Logbuch detaillierter ausführt: Dort nennt er die Idee, „die Hauptstadt über den Leichen aufzubauen und aus dem ganzen Land Waggonladungen von Ziegeln heranzuschaffen“, die wiederum aus „Städtewracks“ stammen, als „makabres Auferstehungsfest“, zu dem dann die Dörfler aus den Randzonen eingeladen werden.11 Das ist mehr als ein Anschluss 10 Stasiuk: Neun (wie Anm. 1), S. 92–93. – Stasiuk: Dziewięć (wie Anm. 1), S. 77–78: „No, chuj z sądem, i tak go nie będzie. Samo zmartwychwstanie. Wszędzie. Na Marszałkowskiej pęka asfalt i wyłażą, w Alejach rozłażą się chodniki i tak samo, wszędzie. Siedzisz na makdonaldzie na Świętokrzyskiej, wpieprzasz swojego bigmaka, a tu sru! gumoleum, beton, wszystko w drobiazgi, i trup, a tam następny, wszędzie, na rondzie, w Pasażu, w Saskim trawa na boki i wychodzą jak grzyby albo jak te niemieckie krasnale z gipsu, na placu Powstańców, na Defilad, nareszcie defilada, […]. O, nie będzie tak grzecznie, jak kiedyś, jak na cmentarzach, na Wólce, na Bródnie, na Woli, gdzie pusto i nikogo, a w dodatku w równych rządkach ze złożonymi rękami, tak jak ich kładli… Tu będzie inaczej.“ 11 Stasiuk: Logbuch (wie Anm. 5), S. 121. – Stasiuk: Dziennik okrętowy (wie Anm. 5), S. 117: „Cóż to był za pomysł wznosić stolicę na trupach i zwozić z całego
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an kritische Positionen zum Wiederaufbau nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Stasiuk nämlich interessiert die ehemals sowjetische Prägung der Stadt kaum. Es geht ihm um keine konkrete Expansion, sondern um Expansion als machtpolitische Kolonialisierung im metaphorischen, allgemeinen Sinn. Agata Anna Lisiak hat diese Überformung und Unterwerfung ostmitteleuropäischer Städte für die Zeit nach der Wende untersucht und die Figur des Kolonisators aus dem Westen stark gemacht.12 Analog liest Stasiuk das heutige Warschau vor allem als eine westlich kolonialisierte Stadt – in seinen Essays noch deutlich ausgeprägter als in Neun. Das erzählende Ich in Wie ich Schriftsteller wurde, das schon immer alles Böse aus den Metropolen kommen wähnt,13 macht im eben gelegenen, ausgelieferten Warschau eine Entropie der Fremdherrschaft aus: Die Westler „kamen in ein Land der Abertausend Spiegel, fanden sich zwischen riesigen Glasflächen wieder […], und konnten endlos ihr vervielfältigtes Spiegelbild betrachten.“ So sei „ihr“ Europa umgeben von einem „Kordon aus Spiegeln“.14 Ist Glas, das mythische Medium der Täuschung, der Werkstoff, den Stasiuk mit dem Westen verbindet, so chiffriert die Verspiegelung der Stadtlandschaft die Rückwirkung jener Eigenwahrnehmung Polens, die Maria Janion in ihrer Studie Das unheimliche Slawentum (Niesamowita słowiańszczyzna) diagnostiziert. Die Autorin verweist hier auf das „koloniale Vorrücken“ des kraju wagony cegieł wygrzebane z innych miast-wraków i w końcu zwabić na ten makabryczny festyn martwychwstania rzesze wieśniaków, które biorąc w posiadnie truchło miasta, urzeczywistniały dziejową sprawiedliwość.“ 12 Lisiak, Agata Anna: Urban Cultures in Post (Colonial) Central Europe. Purdue 2010. – Neben Warschau untersucht sie auch Berlin, Prag und Budapest unter dem Aspekt der doppelten Kolonialisierung. 13 Stasiuk: Wie ich Schriftsteller wurde (wie Anm. 3), S. 49: „In der Provinz hatte das Volk mehr Vertrauen zur eigenen Obrigkeit. Das Böse kam immer aus den Metropolen. So ist es bis heute. Das weiß jeder.“ – Stasiuk: Jak zostałem pisarzem (wie Anm. 3), S. 47: „Lud na prowincji bardzej ufał swojej władzy. Zło zawsze przychodziło z metropolii. Tak jest do dzisiaj.“ 14 Stasiuk: Logbuch (wie Anm. 5), S. 118–119. – Stasiuk: Dziennik okrętowy (wie Anm. 5), S. 115: „Trafiali do krainy tysiąca luster, pomiędzy wielkie szklane płąszczyzny, w niekończące się amfilady przetopionego krzemu, wypolerowanej stali i aluminium i bez końca mogli oglądać swoje zwielokrotnione odbicia. […] Jakby ich Europa odgrodzona była kordonem zwierciadeł. […] Zawsze, gdy myślę o zachodzie Europy, myślę najpierw ,szkło‘. Nic innego nie przychodzi mi do głowy.“ – Siehe zu Spiegel und Verspiegelung auch die Artikel von Christine Gölz und Darina Poláková in diesem Band.
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Christentums, das zu einer „latinisierten Verwestlichung“ der polnischen Kultur geführt habe. Daraus resultiere ein Vergessen beziehungsweise Verdrängen byzantinischer wie heidnisch-slawischer Einflüsse. Kulturelle Unbehaustheit, so die zentrale These der Argumentation, erzeugt freudsche Unheimlichkeit. Janion operiert mit beiden Begriffen,15 um Polens Verarbeitung seiner historischen Doppelrolle zu beschreiben: als (von Russland und dem „Westen“) kolonialisiert auf der einen, als Kolonialisator (der Ukraine, Litauens und Weißrusslands) auf der anderen Seite. In der kollektiven Erinnerung wurde Janion zufolge daraus eine Gefangenschaft zwischen Selbsterniedrigung und Überhebung, zwischen den mythischen Figuren des ewigen Opfers und der ewigen Antemurale. Der polnischen Literatur wirft sie denn auch vor, trotz „frommer Wünsche und verlogener Beteuerungen“ sei ihr Polen „kein multikulturelles Land“, sondern ein „armer, flacher und überwiegend nationalkatholischer Monolith“.16 Man muss diesen Statusbefund mitdenken, will man die stasiuksche Glasals Westphobie einordnen: Sie verdoppelt und radikalisiert den pessimistischen Gedanken der Ebene noch einmal, indem Neun diese geschlossene, psychisch versiegelte Flachheit des kolonialisierten Kolonialisators in einer Art Drehung um 90 Grad als verspiegelte Fassade wiederholt und die Figuren des Romans so in eine autorlose, intentionsfreie Irre führt. Damit wird eben jenes fremd-distanzierte Autoritäre erzeugt, das auch die urbane „Fata Morgana“ der Nach-Wendezeit strukturiert. Als solche greift die verglaste, autorlose Stadt auf ihre eigenen Ränder über. Das postsozialistisch boomende Warschau kommt seltsam dörflich, pagan und rural daher – jedoch ohne dass in den korrumpierten Vororten noch „Land“ im Sinne einer idealisierbaren Pluralität und Authentizität zu erblicken wäre (die Pluralität des Landes wird der Autor in seinen Mitteleuropa-Essays noch stärker positionieren).17 Stasiuk kontaminiert vielmehr die Topografien über metonymische Inbezugsetzungen von Stadt und Land, Stadtzentrum und Stadtvierteln, über Geruchswahrnehmungen und Verkehrsbilder, aber auch über brechende visuelle Bezüge: 15 Janion, Maria: Niesamowita słowiańszczyzna. Fantazmy literatury [Das unheimliche Slawentum. Literarische Fantasmen]. Kraków 2006, S. 13–18. 16 Ebd., S. 330. 17 Siehe dazu ausführlicher Kliems, Alfrun: Aggressiver Lokalismus: Underground ästhetik, Antiurbanismus und Regionsbehauptung bei Andrzej Stasiuk und Jurij Andruchovyč. In: Zeitschrift für Slawistik 2 (2011), S. 197–213.
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Freitagmorgen, das heißt, wie immer zogen von Ochota nach Praga, von Żoliborz nach Mokotów und umgekehrt Schnüre von Autos, und es kamen einem geometrische Assoziationen in den Sinn. Die Häuserflächen schoben sich übereinander, um sich schließlich an die Fläche des Himmels zu lehnen. Das Licht im Osten zerbröckelte an den geraden Rändern der Dächer. Unten lag Schatten. Die Pfützen waren noch nicht getaut, das Eis spiegelte sich im Glas, das Glas vervielfachte sich in den blitzenden Flächen, die sich gegenseitig so lange vervielfachte Bilder schickten, bis schließlich eines von ihnen seine Augen traf.18
Maria Janions Monolith ist hier zerbrochen, nichts aber an seine Stelle getreten, nurmehr Dystopie geblieben. Die Einschmelzung der Topografien von Stadt und Umland, die Verwischung großstädtischer Konturen und die Privilegierung der Peripherie gegenüber dem Zentrum als Handlungsort bedingen die urbane Dislokation der Figuren: Sie haben, ganz wörtlich, keinen festen Ort mehr. Die horizontal-geografische und die vertikal-soziale Exklusion bedingen, spiegeln und verschärfen einander. Keine der Figuren aus Neun ist situiert, gesellschaftlich akzeptiert – wobei jenseits sozialer Randständigkeit das sie verbindende universale Kriminelle die genuin asoziale (Selbst-)Ausschließung markiert. Um die Bedeutung des Verbrechens für den Romantext näher zu erhellen, sei auf die Stadtphilosophie Walter Benjamins zurückgegriffen. Genauer: auf die Betrachtung zur Nähe von Flaneur und Detektiv, zur Präformation des Letzteren im Ersten.19 Nun wird Neun kaum als Krimi gelesen, eher als (Stadt-)Gesellschaftsroman, denn es gibt zwar Kriminalität, Raub, Mord, Diebstahl, Drogenhandel und Sexualdelikte, einen weiten Fächer von Klein- und Großverbrechern – aber eben keinen „Fall“, der zu lösen wäre, keinen Aufklärer, keinen Plot. Es fehlt mithin die handwerkliche Struktur einer detective story aus anfänglichem Ordnungsverlust, (individueller) Aufklärungsarbeit und (zumindest teilwei18 Stasiuk: Neun (wie Anm. 1), S. 238. – Stasiuk: Dziewięć (wie Anm. 1), S. 198–199: „Piątkowy poranek, czyli jak zwykle z Ochoty na Pragę, z Żoliborza na Mokotów i odwrotnie ciągnęły sznury samochodów, a do głowy przychodziły myśli z dziedziny geometrii. Płaszczyzny domów zachodziły kolejno na siebie, by w końcu oprzeć się o płaszczyznę nieba. Wschodnie światło kruszyło się na prostych krawędziach dachów. W dole leżał cień. Kałuże jeszcze nie rozmarzły, lód odbijał się w szkle, szkło zwielokrotniało się w błyszczących płaszczyznach, które przesyłały sobie nawzajem pomnożone obrazy tak długo, aż w końcu któryś z nich trafiał do jego oczu.“ 19 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Bd. 1. Frankfurt am Main 1983, S. 554.
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ser) Wiederherstellung der Ordnung. Damit einhergehend fehlt die Metonymisierung des Ordnungsverlustes in einem Verbrechen beziehungsweise Verbrechenskomplex. In einem allgemeiner gefassten Zugriff jedoch bestimmt etwa Bart Keunen die Beziehung zwischen Stadt und Krimi: „Urban crime fiction is organized by the actions of heroes who are tested for their ability to survive in urban culture […]. Crime novelists often refer to spatial settings which compensate for the loss of collective value systems.“20 Unter diesem Aspekt ist der Roman urban crime fiction in Reinform. Stasiuks Prüfung seiner Figuren auf Überlebensfähigkeit im sozial dystopischen Stadtgelände ist ein ordentlicher Rütteltest. Der Unterschied zu seinen Pastoralen besteht darin, dass die Figuren in Neun dort – also in die Stadt – „eigentlich“ nicht hingehören. Ihr Überlebenskampf ist ein in der und gegen die Uneigentlichkeit geführter. Zugleich entwirft Stasiuk seine Figuren als aktualisiert-verzerrte Varianten des reflektierenden und beobachtenden Flaneurs. Flaneure freilich, die den dandyesken Touch verloren haben, weil sie gehetzt und nicht bummelnd im unwirtlich Zerstörerischen wandern. Gleichwohl finden sie Zeit zu beobachten, ihre Beobachtungen zu bedenken und samt ihrer Abstraktionen und Deutungen ausgiebig mitzuteilen. So lässt sich Paweł als historisch-urbanistischer Detektiv lesen, zugleich ein Verfolgter, dessen Flucht ziellos bleibt: Das ist es, was im postsozialistischen Warschau aus dem Flaneur-Detektiv geworden ist. Er ist ein man of the crowd, der die Menge indes nicht sucht, um in ihr erfahrend aufzugehen, sondern um unterzutauchen, sich zu verbergen. Sein Beobachten ist um die Intention gebracht. Der Begriff geht auf Edgar Allan Poes Erzählung The Man of The Crowd (1840) zurück, die von einem Großstadtbeobachter handelt, der seinen Beobachtungsposten im Kaffeehaus verlässt, um einem Mann mit unter der Kleidung aufblitzendem Dolch quer durch die Stadt bis in die randwärts gelegenen Vergnügungsviertel zu folgen. Es gibt aber kein (sichtbares) Verbrechen, keine Tat. Der Erzähler steckt die Verfolgung auf. Für ihn wird der geheimnisvolle Alte zum man of the crowd – einem „ewigen Wanderer“, einem „Geist des Verbrechens“ auf der Suche nach Gesellschaft, nach Ent- und Verbergung im Urbanen. 20 Keunen, Bart: Moralism and Individualism in Urban Fiction. A Deleuzian and Bakhtinian Critique of Spatial Transgressions in Contemporary Crime Novels. In: Literature and Space. Spaces of Transgressiveness. Hg. v. Jola Škulj und Darja Pavlič. Ljubljana 2004 (= Sondernummer Primerjalna književnost), S. 105–119, hier 113.
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Gegen die benjaminsche Gleichsetzung von Flaneur und Detektiv spricht die schon erwähnte Intention: auf der einen Seite der absichtslose Flaneur, auf der anderen der Detektiv als Inbegriff des höchst absichtsvoll beobachtenden und sich bewegenden Stadtteilnehmers – vergleichbar mit Poes Verfolger aus dem Kaffeehaus. Für den von außen beobachtenden Betrachter sind die beiden Figuren ununterscheidbar, was übrigens auch in der Absicht des Detektivs liegt. Harald Neumeyer verweist darauf, dass Benjamin offensichtlich eine Komponente in seinem Vergleich übersehen habe: „Da Benjamin den Flaneur gleichfalls, auch und gerade in seiner Grenze zum Gaffer, als Beobachter versteht, kann er den Detektiv problemlos als eine Erscheinungsform des Flaneurs veranschlagen, in der sich lediglich die ,Schaulust‘ ,in der Beobachtung konzentriert‘.“21 Neumeyer zweifelt, ob Benjamins daran gebundene These, dass jede Spur den Flaneur auf ein Verbrechen führen werde, die Figur noch adäquat bestimmen kann. Für Neumeyer ist ein Flaneur, der eine Spur verfolgt, kein Flaneur mehr. Auch Stasiuks Paweł ist kein Aufklärer bei der Arbeit – aber er funktioniert strukturanalog, wobei Rätsel, Gefahr und Allgegenwart des Verbrechens diese Analogie atmosphärisch absichern. Nicht eine Tat wird hier verfolgt, sondern „das“ Kriminelle. Stasiuks Erzählmuster ist kein whodunit, sondern ein bewusst überhöhtes, in der Tat gesellschaftsromanhaftes what happened. Das erlaubt dem Text, den Leser durch Pawełs Augen und Körper die Stadt fühlen zu lassen, ihre disparaten, flüchtigen Informationen aufzunehmen – Spuren, deren Entschlüsselung schwerfällt. Streng genommen ist eine Aufklärung unmöglich geworden. Benjamin war noch überzeugt, die Stadt wenn nicht im Foto, so im Film einfangen zu können. Ähnlich meinte er in Berliner Chronik, ihr „Weichbild“ – die bauliche Silhouette einer Stadt – lasse sich nicht mehr von den Gleisen und Bahnhöfen „aufrollen“, sondern allenfalls vom Auto aus.22 Damit blieb ein Rest Unterscheidbarkeit zwischen Stadt, Suburbia und Land, ein wie verflossenes Weichbild auch immer. Der Passage-Ort „Bahnhof“ als Einmündung hat sich zwar überlebt, doch erlaubt es das flexiblere Auto, andere – wenn auch vielfältige und amorphe – Übergänge zu erfahren.
21 Neumeyer, Harald: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne. Würzburg 1999, S. 34. 22 Benjamin, Walter: Berliner Chronik. Frankfurt am Main 1988, S. 17.
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Bei Stasiuk nun kommen die Bahnhöfe, der Wilnaer, der Ost- und der Hauptbahnhof, wieder prominent ins Spiel. Doch deren Tunnel, Überdachungen und Unterführungen bilden keine Entrees, die der Reisende durchquert, bevor sich ihm der Blick auf „etwas“ eröffnet. Vielmehr unterscheiden sie sich epistemologisch nicht von den Busstationen, Straßenbahnhaltestellen, Kreuzungs- und Knotenpunkten, auf denen sich zumal die Quasi-Hauptfigur Paweł immer wiederfindet. Es handelt sich faktisch um Un-Orte; Orte, die zugleich stark durchreguliert und amorph sind. Sie sind zwar Passage-Orte, klassische Nicht-Orte (non-lieux), wie sie Marc Augé beschreibt, deren Markierung schwach und deren Charakter durchlässig ist. Doch führen sie zu nichts. Es schließen sich keine Orte an, sondern lediglich der nächste Zwischen-Raum. Stasiuks Nachwende-Warschau besteht nur noch aus Transitzonen, Orten, an denen mit Augé der Mensch sich provisorisch beschäftigt: Wellnesscenter, Shoppingmalls, Verkehrsmittel, die so zu „beweglichen Behausungen“ werden und eine Welt konstituieren, „die solcherart der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist“.23 Der Gedanke eines Weichbildes ist allenfalls noch als Leerstelle im Sehnsuchtshaushalt des Betrachters auszumachen. Dergestalt in eine vollkommene Dystopie zerronnen, verliert Stasiuks Warschau seinen Objektcharakter und tritt in den unheimlichen Status eines Subjektes, eben den der ungenannten Figur des Romans. Mit deutlichen Anklängen an den romantischen Schauerroman anthropomorphisiert der Text die Stadt, ihr Inventar, ihre Wohnungen und Geschäfte semantisch: Die Busse haben Bäuche zu schleppen und jagen die Menschen mit ihren Hupen. Die Strombügel der Straßenbahn „schütten elektrische Sterne in die Bethlehemsche Nacht“.24 Die Stadt „liegt auf der Lauer“,25 „Wohnblocks wachsen in die Erde“26 und Straßenkreisel „schnaufen wie eine große kranke Luftröhre“.27 Gerüche und Geräusche, selbst Bauelemente dringen in 23 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main 1994, S. 93. 24 Stasiuk: Neun (wie Anm. 1), S. 18. – Stasiuk: Dziewięć (wie Anm. 1), S. 16: „pełen elektrycznych gwiazd sypanych […] ku betlejemskiej nocy“. 25 Stasiuk: Neun (wie Anm. 1), S. 23. – Stasiuk: Dziewięć (wie Anm. 1), S. 20: „miasto przyczaja się“. 26 Stasiuk: Neun (wie Anm. 1), S. 31. – Stasiuk: Dziewięć (wie Anm. 1), S. 26: „bloki wrastały w ziemię“. 27 Stasiuk: Neun (wie Anm. 1), S. 75. – Stasiuk: Dziewięć (wie Anm. 1), S. 64: „dyszy jak wielka chora tchawica“.
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die Körper der Figuren, verleiben sich ihnen ein, machen sie sich, der Stadt gleich: „Als glitte ein Wind über seine Eingeweide, als wäre er innen hohl, angefüllt mit herausgerissenen Teilen der Stadt, mit Bruchstücken der Landschaft, als liefe ein beschleunigter Stummfilm durch ihn hindurch.“28 Die Stadt als kaputtes Lebewesen und die Figur als zerstörter Stadt-Teil: Die Stadt wird zur Herausforderung oder Prüfung, erweist sich als überlegener, feindseliger Mitspieler, der seine Bewohner in sein existenziell verheertes Nicht-Sein herabzieht. Das geht deutlich über eine radikalisierte Form von Spiegelungstechnik hinaus.
Wie viel „Junges Polen“ steckt in Stasiuks Neun? Stasiuks Horrorszenario, das, was er seinen Figuren zumutet, erinnert an ein einschlägiges Thema (nicht nur) der polnischen Moderne: das Unbehagen an der Stadt, wie es insbesondere das „Junge Polen“ (Młoda Polska) artikulierte – anders als die Skamandriten um Julian Tuwim oder später die Avantgardedichter.29 Wojciech Gutowski bescheinigt der Literatur der „Młoda Polska“, die um die Jahrhundertwende den modernistischen Umbruch in der polnischen Literatur einleitete, gar einen „dezidierten Antiurbanismus“ (zdecydowany antyurbanizm).30 Ungeachtet des programmatischen Verwerfens städtischer Lebensformen war die Stadt doch das Thema auch dieser Gruppierung. Das urbane Chaos, den Untergang durch die Stadt und in ihr, kleidete sie bevorzugt in Motive und Symbole, die das Verderben ins Existenzielle, Metaphysische hoben. Ähnlich wie Neun lebt die Poesie der „Młoda Polska“ aus der Spannung zwi28 Stasiuk: Neun (wie Anm. 1), S. 40. – Stasiuk: Dziewięć (wie Anm. 1), S. 34: „Jakby wiatr ślizgał się po wnętrznościach, jakby był pusty w środku, wypełniony jedynie oderwanymi kawałkami miejskiej przestrzeni, fragmentami pejzażu, jakby sunął przez niego przyspieszony niemy film.“ 29 Baranowska, Małgorzata: Urbanizm, Antyurbanizm [Urbanismus, Antiurbanismus]. In: Słownik literatury polskiej XX. wieku. Wrocław–Warszawa–Kraków 1992, S. 1151–1154, hier 1151. – Einen gewissen Hang zum Antiurbanen macht Wojciech Ligęza auch in der späteren polnischen Exildichtung aus: Ligęza, Wojciech: Jerozolima i Babilon. Miasta poetów emigracyjnych [ Jerusalem und Babylon. Städte der Exildichter]. Kraków 1998, S. 166. 30 Gutowski, Wojciech: Symbolika urbanistyczna w literaturze Młodej Polski [Urbane Symbolik in der Literatur des Jungen Polen]. In: Miasto–Kultura–Literatura wiek XIX. Hg. v. Jan Data. Gdańsk 1993, S. 189–211, hier 189.
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schen der Faszination des Urbanen und einer nachgerade verzweifelten Klage über seine Verheerungen. Erst der den Modernisten nachfolgende Krakauer Konstruktivismus eines Tadeusz Peiper und Julian Przyboś sah dann in der städtischen Zivilisation die schöpferische Verfügungsgewalt über das Kreatürliche, in der Natur das Gestaltlose, das der Formung durch den (urbanen) Menschen bedarf. Die Parallelen zwischen Stasiuks Roman und der „Młoda Polska“ sind in einer Passage aus Neun mit Händen zu greifen, in der Jacek einen Spaziergang hinaus aus der Stadt unternimmt, der ihn ins Grüne führt: Als er sich umwendet, erblickt er Warschau und sieht, „dass im Osten der Himmel sich rötete, ein purpurfarbener Glanz aufstieg und die schwarzen Umrisse der Stadt sich abzeichneten“.31 Deren Linien erinnern ihn an aus dem Ozean auftauchende Berge. Nach diesem Blick auf die Metropole verlässt Jacek die Entschlusskraft zum Verlassen der Stadt und er kehrt um, zurück in den Moloch Warschau. Seine resignativ-autoritäre Moral: „Die Menschen sollten bleiben, wo sie geboren sind.“32 Die Szene korrespondiert intim mit Leopold Staffs Sonett Die Traurigkeit der Stadt (Smutek miasta, 1910). Dort verlässt das lyrische Ich gedanklich „die schmutzige Innenstadt“, wo selbst „die Häuser ersticken“. Trost ist deren Tristesse nur vordergründig abzugewinnen. Die von der Sonne angestrahlten Schornsteine glänzen allenfalls „trügerisch“ in einer als statisch, beengt, versteinert und verschmutzt präsentierten Stadt-Welt. Dieser Eindruck wird kontrastiert durch die Rückbesinnung des lyrischen Ich auf die vitale Energie, die im ruhig dahinfließenden ländlichen Rhythmus liegt. Der imaginierte Gang in die Natur, aufs flache Land verheißt ihm Ankommen und selige Ganzheitlichkeit: […] Ich sehe rote Dächer und graue Schornsteine, die die Sonne vom Westen mit trügerischem Gold verziert unter dem grauen Himmel aus Rauch … Und irgendwo, weit, wunderschöne dunkelblaue, rauschende Bäume und freie Ebenen. 31 Stasiuk: Neun (wie Anm. 1), S. 154. – Stasiuk: Dziewięć (wie Anm. 1), S. 129: „[…] zobaczył, że na wschodzie niebo czerwienieje, podnosi się purporowy blask i wstają czarne kontury miasta.“ 32 Stasiuk: Neun (wie Anm. 1), S. 154. – Stasiuk: Dziewięć (wie Anm. 1), S. 129: „Ludzie powinni zostać tam, gdzie się urodzili.“
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Wie schwer wenigstens an einen benetzten Feldhalm zu glauben hier, wo sich einzig der Sperling erinnert an die freie Natur, wenn er mit dem Flügel an die Abwasserrinne schlägt. Und so wenig kann jetzt reichen zum Glück: In die Dämmerung gehen, mit unbedecktem Kopf zum Sonnenuntergang entlang am grünen Ufer eines ruhigen, vorabendlichen Flusses.33
Das Wissen um die Existenz der Natur jenseits des urbanen Molochs erlöst das lyrische Ich aus den Realitäten von Straßendickicht, Häuserschluchten und überfüllten Mietskasernen – wie der gewisse Jenseitsglaube seinen Träger schon im Diesseits der existenziellen Zumutung enthebt. Für den Symbolisten Staff galt, „je trister und beengender die Gesellschaft empfunden wurde, umso metaphysisch offener wurde die Natur konzipiert. Zufluchtsort des sezessionistischen Individuums, wird sie so radikal zur Gegenwelt aufgebaut, dass auch die Menschen aus ihr verschwinden“.34 Die Antwort der Avantgarde auf Antiurbanismus und metaphysischen Eskapismus formulierte Julian Przyboś programmatisch pointiert: dass die Flucht in den Schoß der Wiese die Ordnung des Straßenpflasters verrate.35 Ganz so einfach freilich liegen die Dinge nicht. Staffs Sonett suggeriert das Glück in einer Landschaft, deren Vollkommenheit aus vollkommener Sprachform erwächst.36 Dergestalt ist der geträumte Abendspaziergang keine 33 Staff, Leopold: Smutek miasta [Die Traurigkeit der Stadt]. In: Ders.: Wiersze zebrane [Gesammelte Gedichte]. Bd. 2. Warszawa 1955, S. 188: […] / Widzę czerwone dachy i szare kominy, / Które zachodnie słońce stroi w złoto złudne / Pod niebem szarym z dymu… A gdzieś, hen, są cudne / Błękity, szumne drzewa i wolne równiny. // Jak trudno wierzyć choćby w rośną trawę polną / Tu, gdzie jedynie wróbel przypomina wolną / Przyrodę, skrzydłem tłukąc się o rynien ścieki. // A tak mało do szczęścia teraz starczyć może: / Iść w zmierzch z głową odkrytą pod zachodnią zorzę / Zielonym brzegiem cichej, przedwieczornej rzeki.“ Übersetzung von der Verfasserin. 34 Olschowsky, Heinrich: Lyrik in Polen. Strukturen und Traditionen im 20. Jahrhundert. Berlin 1979, S. 56. – Olschowsky bezieht seine Bemerkung hier auf einen anderen modernistischen Dichter: Kazimierz Tetmajer. 35 Przyboś, Julian: Der Mensch über der Natur. In: Der Mensch in den Dingen. Programmtexte und Gedichte der Krakauer Avantgarde. Hg. v. Heinrich Olschowsky. Berlin 1986, S. 84–87. – Das Manifest ist unter Człowiek nad przygodą 1926 in der Zeitschrift Zwrotnica (Die Weiche) erschienen. 36 Staff, Leopold: Die Genesung des Jahrhundertendes. Studie zur Literatur der jüngsten Vergangenheit. In: Jahrhundertwende. Literatur des Jungen Polen 1890–
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Rückkehr in das bloß Naturhafte: Wie schon Jahrzehnte zuvor bei Charles Baudelaire erfährt das Natürliche mit seiner formvollendeten Verherrlichung zugleich seine Überwindung durch das Künstliche. Es ist dieser Wechselbezug von Kunst und Natur, nicht platte Naturvergötzung, die am Ende auch die Stadt lebbar macht für den Menschen. In Wie ich Schriftsteller wurde wirft Stasiuk gegen Ende dem „Jungen Polen“ und namentlich Leopold Staff und Stanisław Przybyszewski „Phrasen drescherei“ vor. Die unfreundliche Sentenz geht leicht unter in der schier endlosen Aneinanderreihung von Werken und Dichtern, die das erzählende Ich mal mehr, mal weniger bewundernd ausbreitet. Sie nimmt sich merkwürdig aus angesichts der Fluchtbewegungen aufs Land, die auch die Figuren in Neun sowie in anderen Werken Stasiuks, unternehmen – ihrer bedingungslosen Bewunderung jedes „Kaffs“ im Umkreis von Warschau. Dass Stasiuk an die spezifische Stadtfeindlichkeit der „phrasendreschenden“ polnischen Modernisten anschließt, weist indes vor allem die sprachliche Bearbeitung des Themas aus. Stasiuks Warschau in Neun ist in all seiner urbanen Hässlichkeit ein hochpoetischer Raum. Die Brutalität der Beschreibung wird immer wieder über lyrisch den Raum strukturierende Metonymien aufgefangen. Zahlreiche der angesprochenen Anthropomorphisierungen sind fast zärtlicher Natur. Ihre synkretistischen Überlagerungen generieren die erwähnte Ortlosigkeit – und erlauben dem erzählten Raum so zugleich, sich ins Metaphysische zu weiten wie Staffs Spaziergang. Stasiuk schafft „kombinatorische Räume des Inein ander“ und „aleatorische Konfigurationen des Disparaten“,37 die über ein reines Unbehagen an der Stadt hinausgehen. Warschau mag verflucht sein – und ist doch begehrenswert. So wie der Ruch des Wohlstandes sich über die Stadt hinweg weiter über das Land legt und der Metropole eine unausweichliche immaterielle Präsenz verleiht:
1918. Hg. v. Maria Podraza-Kwiatkowska. Leipzig–Weimar 1979, S. 151–152, hier 152. 37 Brüggemann, Heinz: Konstruktion urbaner Raum-Bilder/Bild-Räume aus synkretistischer Lizenz in (romantischer) Moderne und Postmoderne. In: Stadtformen. Die Architektur der Stadt zwischen Imagination und Konstruktion. Hg. v. Vittorio Magnago Lampugnani und Matthias Noell. Zürich 2005, S. 22–38, hier 26.
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Jetzt schaute er Richtung Bracka und spürte ein Verlangen. Es schwebte in der Luft. Denn jedes Ding, jeder Gegenstand strahlte, schied einen immateriellen Duft aus, der durch die Schaufensterscheiben drang und sich wie Rauch, Nebel oder schweres Gas dahinzog. Er erfüllte die schmale Rinne der Straße, stieg über die Dächer der Innenstadt, und der Wind nahm ihn mit und verteilte ihn über alle Stadtteile. […] Und die ferne, traurige Peripherie, die armseligen Hütten in Wygoda. Die hoffnungslose Bauweise aus Bruchziegeln und Sauerkrautplatten in Białołeka, das barmherzige Grün von Siekierki, das all die Häuser bedeckte, in denen man im Winter in einen Eimer im Flur pisste, […]: All das musste diesem Duft erliegen, denn er kam vom Himmel und erfüllte die Träume, und ein Leben ohne Träume ist daneben wie ein Schuh ohne Absatz.38
Stasiuk wie Staff sublimieren ihre urbane Verzweiflung über hochartifizielle dichterische Verfahren. Beide weiten ihre städtischen Räume ideell ins Land als vermeintlich Anderes. Ist dies bei Staff schon Kunst, so erscheint das Land bei Stasiuk „authentisch“, allerdings in einer von der Stadt gar nicht so verschiedenen Unerträglichkeit, vor allem im selben Bombast des Sprachvermögens gestaltet. Und es ist korrumpierbar: Das Land träumt von der Stadt, wie es umgekehrt der urbanen Textur als Projektionsfläche dient. In beiden Fällen greift es zu kurz, von einer „Stand-Land-Dichotomie“ als Chiffre eines Wertekonfliktes auszugehen, wie Elżbieta Rybnicka ihn in Die Modernisierung der Stadt (Modernizowanie miasta) zur Gegenüberstellung von Fremdheit versus Eigenheit, Zivilisation versus Natur, Modernisierung versus Natur verknappt.39 38 Stasiuk: Neun (wie Anm. 1), S. 58–59. – Stasiuk: Dziewięć (wie Anm. 1), S. 49–50: „Teraz patrzył w stronę Brackiej i odczuwał pożądanie. To unosiło się w powietrzu. Bo każda rzecz, każdy przedmiot promieniował, wydzielał z siebie niematerialną woń, która przenikała szyby witryn, gablot i snuła się jak dym, mgła albo ciężki gaz. Wypełniała ciasne koryto ulicy, wznosiła się na dachy Śródmieścia, wiatr ją porywał i rozwlekał po niebie nad wszystkimi dzielnicami. […] I dalekie smętne peryferie, lepianki na Wygodzie. Beznadziejne rękodzieło rozbiórkowych cegięł i supremy w Białołęce, miłosierna zieleń Siekierek, kryjąca te wszystkie domy, w których w zimie szczało się do wiadra w sieni, […] – to wszystko musiało ulec tej woni, bo przychodziła z nieba i wypełniała sny, a życie bez marzeń jest do dupy, jak but bez obcasa.“ 39 Rybnicka, Elżbieta: Modernizowanie miasta. Zarys problematyki urbanistycznej w nowoczesnej literaturze polskiej [Die Modernisierung der Stadt. Ein Abriss der urbanistischen Problematik in der polnischen Gegenwartsliteratur]. Kraków 2003, S. 41.
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Zwar macht Stasiuks crime fiction bereits erste Schritte auf das Land als Gegenmodell zum Verbrechen der postsozialistischen Großstadt zu. Dorthin, wo es, wie einer seiner Protagonisten feststellt, noch Einkaufsnetze gibt, die von Generation zu Generation weitergereicht werden. Wo gesät, geerntet und eingeweckt wird. Dennoch, Neun zieht seine Figuren stets zurück ins Zentrum, ihren Untergang wohl einkalkulierend – wenn das Prinzip der Zentralität ohnehin alles durchdringt, ist anderswo oder anders kein Sein möglich: Irgendwo ganz in der Mitte musste eine Achse sein, wo die Stadt Anlauf nahm, eine Achse und ein magnetischer Punkt, denn sonst wäre doch längst alles in atomisierten Dreck zerfallen […] wie durch einen Ventilator gejagte Scheiße. […] dass er von Anfang an im Zentrum der Stadt sein wollte, in ihrem Nabel, in ihrer Pupille, in ihrem Arschloch, dass die Fantasie ihm immer blendende und irreale Bilder der Innenstadt unter die Nase gehalten hatte, in denen Glanz und Kälte zu einer idealen Fata Morgana übernatürlicher Form zerschmolzen.40
Erst Stasiuks Hinwendung zur „richtigen“ Peripherie – dem einschlägigen Galizien – bietet eine Erlösung im nicht guten, nicht naiv geordneten Land, das der zeitgemäßen Resignation nicht entgeht, aber dennoch „authentisch“ bleibt. Auch dessen Wahrhaftigkeit weist eine – oft tödliche – Fehlerhaftigkeit auf. Aber anders als Warschau ist die Stadt nicht der Fehler. Mit dem Befund der Unerlösbarkeit, des existenziellen Skandals entradikalisiert sich in den späteren Erzählungen Stasiuks die Dislokation der Protagonisten. Es verlieren sich namentlich die vertikalen Reflexe der „schrecklichen“ Ebene und der doppelte Boden, die Neun zum Underground-Roman machen. In Galizien erzählt Stasiuk in der Tat vom „platten Land“ ohne eine radikal-verstörende Vertikalisierung – und aus Verzweiflung wird süffige Melancholie.
40 Stasiuk: Neun (wie Anm. 1), S. 157. – Stasiuk: Dziewięć (wie Anm. 1), S. 131– 132: „Gdzieś tam w samym środku musiała być oś, na której rozpędzało się miasto, oś i punkt magnetyczny, bo przecież inaczej wszystko by się rozpirzyło w drobne chujki […] jak gówno wrzucone w wentylator. […] pojął, że […] od początku pragnął znaleźć się w środku miasta, w jego pępku, w jego źrenicy, w jego dziurze w tyłku, że wyobraźnia podtykała mu pod nos lśniące i nierealne obrazy Śródmieścia, w których blask i chłód stapiały się w idealną fatamorganę nadprzyrodzonych kształtów.“
Autorenverzeichnis
Mónika Dózsai, M. A., Hungarologin und Germanistin. 2001–2010 Mit arbeiterin am Leipziger GWZO in den Projekten „Ostmitteleuropäisches Literaturexil 1945–1989“ und „Das Ende der Avantgarde“, seit 2011 Geschäftsführende Koordinatorin der Doktorandenschule an der Andrássy Universität Budapest. Forschungsgebiete: ungarische Exilliteratur im 20. Jahrhundert; autobiografisches Schreiben; Phänomene der ungarischen Neoavantgarde; Lyrik der Spätmoderne. Torsten Erdbrügger, M. A., Literaturwissenschaftler. Doktorand der Research Academy Leipzig im Studiengang „Transnationalisierung und Regionalisierung“, 2010–2012 Stipendiat der Landesgraduiertenförderung des Freistaates Sachsen. Projekt zu Differenzsetzungsstrategien in der deutschen Gegenwartsliteratur. Forschungsgebiete: interkulturelle Gegenwartsliteratur; Gender und Memoria; Arbeit und Ökonomie als Narration. Dr. Christine Gölz, Slawistin. 1999–2005 Assistentin am Institut für Slavistik in Hamburg, 2006–2008 Seminar für Ost- und Mitteleuropäische Studien an der Universität Bremen, 2008–2010 Peter Szondi-Institut Freie Universität Berlin, seit 2013 Fachkoordinatorin für Literaturwissenschaft Ostmitteleuropas am Leipziger GWZO. Forschungsgebiete: Poetik der klassischen Moderne; erzähltheoretische Konzepte von Autor, Raum, Figur; „andere“ Helden in Literatur und Film Ostmitteleuropas. Dr. József Havasréti, Literatur- und Medienwissenschaftler. Seit 1997 an der Fakultät für Kommunikations- und Medienwissenschaften der Universität Pécs. 2004 Promotion über die Neoavantgarde in Ungarn. 2010 Mitarbeit am Pécs-Projekt „The Invisible Pattern of the City“. Forschungsgebiete: Mündlichkeit, Gegenöffentlichkeit und Dialog; das politische Lied; künstlerische Avantgarden in Mitteleuropa; Stadt und Erinnerung. Dr. Tatjana Hofmann, Ostslawistin. 2002–2007 Studium an der HumboldtUniversität zu Berlin, 2012 Promotion und seitdem Mitarbeit am Slavischen Seminar der Universität Zürich im Projekt „Sergej Tret’jakovs Raumpoetik“. Forschungsgebiete: Avantgarde; postsowjetische ukrainische und russische
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Literatur; Literatur(wissenschaft) und Ethnologie; Stadtforschung und Raumtheorien. Prof. Dr. Alfrun Kliems, Westslawistin. 2001–2004 Mitarbeiterin am Lehrstuhl Bohemistik/Slowakistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2004– 2011 Fachkoordinatorin für Literaturwissenschaft Ostmitteleuropas am Leipziger GWZO, seit 2012 Professorin für Westslawische Literaturen und Kulturen in Berlin. Forschungsgebiete: Fragen des Sprach- und Kulturwechsels; ostmitteleuropäisches Exil im 20. Jahrhundert; Kunst des Underground. Dr. Stephan Krause, Germanist, Hungarologe, Romanist. 2004–2011 Aufenthalte in Pécs, Budapest und Szczecin (DAAD-Lektor). Seit 2011 Stipendiat, dann Mitarbeiter am GWZO Leipzig im Projekt „Spielplätze der Verweigerung“. Forschungsgebiete: Schreibstrategien der Verweigerung; Beziehungen zwischen Poetik und Politik; heldische Körper und heroische Narrative in der ungarischen, deutschen, polnischen und französischen Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Dr. Birgit Krehl, Westslawistin. 1988–1992 Wissenschaftliche Assistentin an der Universität Leipzig, 1996–2000 Tschechischlektorin an der Universität Magdeburg. Seit 2000 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Potsdam, Schwerpunkt Polonistik. Forschungsgebiete: polnische und tschechische Dichtung des 20. Jahrhunderts; slawische Verstheorie; Mythosforschung in Ostmitteleuropa. Dr. Váleria Lengyel, Germanistin, Skandinavistin und Philosophin. 2007– 2010 Stipendiatin im Graduiertenkolleg „Literaturtheorie“ an der EötvösLoránd-Universität in Budapest. Seit 2011 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leipziger GWZO in der Projektgruppe „Spielplätze der Verweigerung“. Forschungsgebiete: Poetik des Raumes; Konturen der Subjektivität; Poetik der Újhold-Tradition; moderne ungarische Lyrik. Dr. Mathias Mesenhöller, Historiker und Journalist. 1998–2000 ZVGE Berlin, 2001–2010 Mitarbeiter in den GWZO-Projekten „Elitenwandel“ und „Ostmitteleuropa Transnational“, 2007 Promotion „Ständische Modernisierung. Der kurländische Ritterschaftsadel 1760–1830“. Forschungsgebiete: frühneuzeitliche Gesellschaften; Diaspora und Migration; Imperialgeschichte; populärgeschichtliche Darstellungsformen.
Personenregister
A
Agamben, Giorgio 54 Akunin, Boris (eigentl. Grigori Sch. Tschchartischwili) 115 Aleksievič, Svetlana 194 Alewyn, Richard 92 Amerling, Karel Slavoj 33 Andruchovyč, Jurij I. 25, 198, 200, 202 Archleb, Vladimír 157, 158 Arndt, Ernst Moritz 21 Artaud, Antonin 160 Assisi, Franziskus von 154 Assmann, Aleida 94, 96, 124 Assmann, Jan 116 Augé, Marc 242, 250
B
Bachtin, Michail M. 119, 222 Bakunin, Michail A. 33, 222 Balassa, Péter 64 Balzac, Honoré de 158 Barč-Ivan, Július 145 Bär, Gerald 51 Barthel, Karl 31 Barthes, Roland 50, 125, 126, 127, 128, 136, 158, 220 Bartmann, Christoph 102 Baudelaire, Charles 254 Baudrillard, Jean 49, 90 Beckett, Samuel 52 Bednár, Alfonz 144 Bendl, Václav Čeněk 33, 35, 36, 37, 38, 40 Bengi, László 58 Benjamin, Walter 26, 164, 247, 249 Benn, Gottfried 146 Beňová, Jana 11, 141, 142, 143, 144, 146, 158, 160, 162, 163, 164 Berďajev, Nikolaj A. 149 Bey, Hakim 223 Bhabha, Homi K. 16, 21, 22
Blaščák, Fedor 140 Blettenberg, D. B. (eigentl. Detlef Bernd) 92 Blumenberg, Hans 55, 71, 121, 130 Böck, Hannes 160 Bódy, Gábor 108, 109 Bohrer, Karl Heinz 99 Bonaparte, Napoleon 19 Bondy, Egon (eigentl. Zbyněk Fišer) 151, 157 Borges, Jorge Luis 61 Brake, Mike 220 Bratránek, František Tomáš 32 Bremer, Alida 115, 234, 235 Breton, André 142 Brown, Dan 99 Brylla, Wolfgang 128 Bukowski, Charles 152
C
Cassirer, Ernst 137, 155 Čepan, Oskar 147, 148 Certeau, Michel de 212 Červeň, Ján 145 Chalupecký, Jindřich 152 Chwin, Stefan 123, 126 Cohen, Phil 219, 220 Colombi, Matteo 115 Czapliński, Przemysław 242
D
Dahlke, Birgit 42 Dante, Alighieri 51, 148, 149, 150, 151 Daumer, Georg Friedrich 37 Davies, Norman 116 Debord, Guy 226, 231, 237, 238 Deleuze, Gilles 223 Deml, Jakub 35 Dereš, Ljubko M. (eigentl. Ljubomir) 202, 203 Derrida, Jacques 49, 161
260
| Personenregister
Didi-Hubermann, Georges 164 Djagilev, Sergej P. 111 Dobrovodský, Augustín 157, 158 Dostoevskij, Fëdor M. 149, 150 Dúbravský, Andrej 139, 142 Duchamp, Marcel 97, 152 Dünne, Jörg 212 Dürrenmatt, Friedrich 61
E
Elisabeth, Kaiserin von Österreich u. Königin von Ungarn (Sissy) 34 Erdély, Miklós 108, 109, 113, 114 Erll, Astrid 167 Ernst, Thomas 8
F
Fabo, Sabine 161 Faust, Siegmar 42 Felix, Jozef 150 Fetscher, Andy 89 Fischerová, Mína 32 Foucault, Michel 20, 148, 175, 176, 185 Fourier, Charles 36 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich u. König von Ungarn 34 Freud, Sigmund 47, 50, 91, 92, 94, 109, 118, 148 Frič, Josef Václav 33, 34, 37 Friedrichs, Jan-Hendrik 91
G
Galeen, Henrik 114 Ginsburg, Carlo 148 Glanc, Tomáš 149 Gluchovskij, Dmitrij A. 92 Goethe, Johann Wolfgang von 19, 35, 99 Goldstein, Richard 24 Gottwald, Herwig 122 Gottwald, Klement 194 Greiner, Ulrich 101, 103 Groch, Erik 157 Guattari, Félix 223 Gumbrecht, Hans Ulrich 87
Gutowski, Wojciech 251 Gutzkow, Karl von 35, 37
H
Habermas, Jürgen 20 Hajas, Tibor 108, 109, 112 Hall, Stuart 24, 207, 220 Hanák, Dušan 156 Hanuš, Ignác Jan 29, 38 Hatton, Brian 90 Havlíček Borovský, Karel (eigentl. Havel bzw. Havlíček) 29, 36 Hawking, Stephen 99 Hebdige, Dick 207, 218, 219, 220 Hecken, Thomas 23, 24 Heine, Heinrich (eigentl. Harry Heine) 34, 35, 39 Heinichen, Veit 115 Helcelet, Jan 32, 33 Hellich, Josef Vojtěch 27 Hilbig, Wolfgang 9, 10, 11, 42, 43, 45, 47, 50, 51, 52, 53 Hill, Tobias 92 Hippel, Gotthard Friedrich von 18 Hoffmann, E.T.A. (eigentl. Ernst Theodor Amadeus) 7, 9, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 26, 52, 234 Hofmannsthal, Hugo von 110 Hollstein, Walter 25 Hoxha, Enver 89 Huelle, Paweł 123, 126 Hundorova, Tamara 205
J
Jablonská, Beata 156 Jackson, Michael 244 Jacobi, Peter 96 Jameson, Fredric 229 Janáčková, Jaroslava 30 Janion, Maria 245, 246, 247 Jetelová, Magdalena 97 Jirous, Ivan Martin alias Magor 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158 Jolles, André 124, 132 Jovánovics, György 108
Personenregister |
Joyce, James 52 Jurenka, Hanuš 33, 35, 37, 38, 39, 40
K
Kádár, János 107, 109 Kafka, Franz 49, 92, 184 Kalný, Igor 158 Karlík, Viktor 154 Karpowicz, Tymoteusz 120 Kaschuba, Wolfgang 168 Kerényi, Karl 58, 60 Kertész, Imre 108 Keunen, Bart 248 Kimpel, Harald 93, 94 Klácel, František Matouš 32, 33 Klein, Georg 100, 101, 102, 103 Kliems, Alfrun 141, 142, 160 Klíma, Ivan 153 Klinau˘ , Artur 189 Koch, Matthias 96 Kohout, Pavel 115 Koli, František 143 Kollwitz, Käthe 45 Konrád, György 106, 108 Kopetzky, Steffen 99, 100, 103 Korte, Barbara 129 Koselleck, Reinhart 20, 96 Kostomarov, Mykola I. 202 Kováčik, Juraj 139 Kozioł, Urzula 120 Kozma, György 11, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114 Krajewski, Marek 11, 115, 116, 117, 119, 121, 123, 124, 125, 126, 127, 129, 130, 132, 133, 134, 136, 137 Kraus, Karl 110 Kremer, Detlef 91 Kretzschmar, Dirk 118, 123, 124, 128, 131, 132, 133, 137 Kreuzer, Helmut 24 Kristeva, Julia 220 Kropotkin, Pëtr A. 222 Kundera, Milan 207 Kutscher, Volker 115, 119 Kvitka-Osnovyanenko, Hryhoryj F. 202
L
Lacan, Jacques 229 Lachmann, Renate 95 Lahola, Leopold 145, 150, 151 Laučík, Ivan 142, 143 Lefebvre, Henri 189 Lehnartz, Sascha 25 Lenau, Nikolaus 39 Lenin, Vladimir I. (eigentl. Ul’anov) 194 Lethen, Helmut 8 Lévi-Strauss, Claude 220 Lindner, Roland 24, 25 Lisiak, Agata Anna 245 Lugowski, Clemens 121, 122, 124, 127, 131, 136 Lynch, Kevin 212
M
Machno, Nestor I. 202, 218, 221, 222, 223 Maier, Andreas 102, 103 Majerníková, Bety 139 Major, János 113, 114 Mallarmé, Stephane 110 Mandel, Ernest 231 Mann, Thomas 64 Man, Paul de 49 Martínez, Matías 121, 122, 123, 124 Marx, Karl 20 Masaryk, Tomáš Garrigue 149 Masłowska, Dorota 166 McLuhan, Marshall 95, 110 Mehring, Nicole 91 Melville, Herman 160 Merleau-Ponty, Maurice 69 Michajlov, Boris P. 212 Mikulová, Marcela 158 Mlynarčík, Alex 157 Moorhouse, Roger 116 Morelli, Giovanni 148 Musijezdov, Oleksij O. 203
N
Nádas, Péter 7, 9, 10, 54, 55, 58, 60, 61, 64, 65, 66, 70, 108 Nagy Nemes, Ágnes 9, 10, 72, 73, 87
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| Personenregister
Náprstek, Vojtěch 34 Němcová, Božena (eigentl. Barbora) 9, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 40 Němec, Josef 27, 28, 29, 31 Némethová, Jana 163 Neumeyer, Harald 249 Nijinsky, Vaslav (eigentl. Wacław Niżyński) 11, 110, 111, 112 Nikolaus I., Zar Nikolaj I. 40 Novalis (eigentl. Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg) 147
O
Olschowsky, Heinrich 253 Osterkamp, Ernst 103
P
Paetzold, Heinz 7 Palacký, František 29 Paletschak, Sylvia 129 Parsons, Talcott 24 Pasnjak, Sjanon 190 Patočka, Jan 149, 150 Paulová, Viktorie 29 Pavelka, Jaroslav 144 Peiper, Tadeusz 252 Petřivý, Tomáš 158 Pias, Claus 94 Piłsudski, Józef 120 Placák, Petr 154 Podlipská, Sofie 31, 32 Poe, Edgar Allan 51, 234, 248 Pompe, Anja 23 Pospiszyl, Tomáš 154 Prochas’ko, Taras B. 202 Proudhon, Pierre Joseph 36 Prunitsch, Christian 243 Przyboś, Julian 252, 253 Przybyszewski, Stanisław 254 Putna, Martin C. 154, 155
R
Raabe, Katharina 218 Rabbi, Löw (eigentl. Judah Löw) 11, 111, 112, 113
Reimann, Andreas 42 Repka, Peter 143 Ricœur, Paul 220 Rieger, František Ladislav 29 Rilke, Rainer Maria 82 Rjabčuk, Mykola Ju. 198, 199, 200 Rottová, Zofie 32 Różewicz, Tadeusz 120 Ruchniewicz, Krzysztof 117, 132 Rybnicka, Elżbieta 255
S
Safranski, Rüdiger 17 Ságl, Jan 156 Saint-Simon, Henri 36 Sand, George 35, 39, 40, 211 Saussure, Ferdinand de 219, 220 Schechner, Richard 162 Schelling, Friedrich 91 Schiller, Friedrich 20 Schindel, Carl Wilhelm Otto August von 31 Schlaffer, Heinz 122 Schlegel, Friedrich 32 Schleiden, Mathias Jacob 35 Schmitz-Emans, Monika 58 Schottl, Pepo 158 Schröter, Erasmus 96, 97 Schulze, Gerhard 231 Serres, Michel 158, 161, 164 Ševčík, Jiří 152, 154 Ševčíková, Jana 152, 154 Šklovskij, Viktor B. 122 Smorąg-Goldberg, Małgorzata 123 Spielberg, Steven 99, 191 Spörl, Uwe 119 Staff, Leopold 252, 253, 254, 255 Stalin, Iosif V. (eigentl. Džugašvili) 194, 207 Stankovič, Andrej 152, 156, 157, 158 Stasiuk, Andrzej 7, 9, 12, 25, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 245, 246, 248, 249, 250, 251, 252, 254, 255, 256 Stifter, Adalbert 35 Stites, Richard 206, 207, 214, 222 Štrpka, Ivan 142, 143
Personenregister |
Strýko, Marcel 157 Švantner, František 145, 147 Světlá, Karolína 31 Szerdahelyi, István 109
Vodrážka, Mirek 154 Vonnegut, Kurt 160 Voznjak, Taras S. 198 Vrbíková, Veronika 32
T
W
Tábor, Ádám 113 Tandori, Dezső 108 Tatarka, Dominik 144, 145, 146, 159, 164 Tetmajer, Kazimierz 253 Thum, Gregor 119 Tokarczuk, Olga 117, 123 Topol, Jáchym 7, 9, 11, 12, 25, 166, 167, 168, 169, 170, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 179, 185, 188, 189, 191, 195, 226, 227, 229, 231, 232, 233, 234, 235, 237, 238 Tuwim, Julian 251
U
Ursiny, Dežo 143
V
Válek, Miroslav 143 Varga, Marián 143 Vergil 148 Vine, Barbara (eigentl. Ruth Rendell) 92 Virilio, Paul 88, 94
Waldenfels, Bernd 69 Warburg, Aby 165 Warhol, Andy (eigentl. Andrej Warhola) 24 Wenk, Silke 90 Wiencek, Agnieszka 242 Williams, Raymond 207 Wojaczek, Rafał 120 Woody, Melvin J. 155
Y
Yinger, Milton 24
Z
Žadan, Serhij V. 7, 9, 12, 13, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 212, 214, 216, 217, 218, 220, 222, 224, 225 Zahrebel’nyj, Pavlo A. 205 Zand, Gertraude 151 Zawada, Andrzej 117, 120 Želinská, Ida 140 Zybura, Marek 117
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visuelle geschichtskultur Herausgegeben von stefan troebst in verbindung mit arnold bartetzky, steven a. mansbacH und maŁgorzata omilanowsk a
eine auswaHl
bd. 7 | elena temper Belarus verBildlichen
bd. 3 | martin aust, krzysztof
staatssymbolik und nations
rucHniewicz, stefan troebst (Hg.)
bildung seit 1990
verflochtene erinnerungen
2012. 332 s. 52 s/w-abb. und 22 farb.
Polen und seine nachbarn
abb. gb.
im 19. und 20. Jahrhundert
isbn 978-3-412-20699-4
2009. vii, 285 s. 33 s/w-abb. gb. isbn 978-3-412-20292-7
bd. 8 | Jenny alwart mit taras ŠevČenko staat machen
bd. 4 | Jacek friedricH
erinnerungskultur und
neue stadt in altem gewand
geschichtsPolitik in der ukraine
der Wiederaufbau danzigs
Vor und nach 1991
1945–1960
2012. 220 s. 25 s/w- und 22 farb. abb.
2010. viii, 276 s. 105 s/w-abb. auf
gb. | isbn 978-3-412-20769-4
48 taf. gb. | isbn 978-3-412-20312-2 bd. 9 | arnold bartetzky bd. 5 | Jutta faeHndricH
nation – staat – stadt
eine endliche geschichte
architektur, denkmalPflege und
die heimatbücher der
Visuelle geschichtskultur Vom
deutschen Vertriebenen
19. bis zum 21. Jahrhundert
2011. Xii, 303 s. 36 s/w-abb. gb.
2012. 276 s. 69 s/w- und 177 farb. abb.
isbn 978-3-412-20588-1
gb. | isbn 978-3-412-20819-6
bd. 6 | martina baleva
bd. 10 | agnieszka gasior (Hg.)
Bulgarien im Bild
maria in der krise
die erfindung Von nationen
kultPraxis zWischen konfession
auf dem balkan in der kunst
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des 19. Jahrhunderts
2014. ca. 360 s. ca. 90 s/w- und 30
2012. 294 s. 123 s/w- und
farb. abb. gb. | isbn 978-3-412-21077-9
19 farb. abb. gb.
TT166
isbn 978-3-412-20687-1
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