Der traumatisierte Raum: Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante 9783110451221, 9783110449228

In "traumatized space," psychoanalysis and the spatial sciences converge. Europe emerges as a real and simulta

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German Pages 294 Year 2016

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einführung
1. Innehalten, Aufmerken
2. Verfahren: Heterotopologie als Montage
3. Zum Aufbau der Arbeit
Erster Teil
I. Zur Genese des ‚traumatisierten Raums‘
1. Das Trauma zwischen Ereignis und Struktur
2. Fremdkörper, Ausnahme, Rest
3. Zone Lager. Von den Orten des Verbrechens zum traumatisierten Raum
4. Der Rand als Zone ent-setzten Sprechens
5. Trauma im Zeichen des Triebes
6. Anstatt Heilung – Sprachspiel
II. Deuten, Nachträumen, Montieren. Über Freuds Traum vom brennenden Kind
1. Der Einsatz eines Traums
2. Der Traum im Zeichen der Verdopplung
3. Vor und nach – stets daneben
4. Übertragung, Montage, Trauer
5. Der ausgreifende Brand
Zweiter Teil
III. „Ritorno“, mise en abyme, Parenthese. Primo Levis Schreiben über Auschwitz
1. Vorbemerkungen zur Forschungslage und Vorgehensweise
2. Im Lager von der Zukunft träumen
3. Zuhause vom Lager träumen
4. Zehn Tage außerhalb der Welt und der Zeit
5. Heimkehr: Von einem Lager zum nächsten
6. Insistenz des Gedichts
7. Dante rezitiert und zitiert
IV. Raum ohne Mangel: Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen
1. Kaum merkliche Schwellen
2. Grenz- und Angstlosigkeit
3. Pervertierte Sprache
4. Sprachtics
5. Draußen: Konfrontation mit der „Hölle“
6. Schritte machen
7. Vom Glück der Konzentrationslager
V. Eine Raumtheorie des Lagers in Romanform. W. G. Sebalds Austerlitz
1. Orte als Übertragungsstätten
2. Familienähnlichkeit, Signatur, Stereometrie
3. Topographie, Toponymie, Inschrift
4. „Lager“ und seine Abkömmlinge
5. Vom Stereotyp zum Hypogramm
6. Die französische Nationalbibliothek und das Phantasma eines Lagers
7. Der stets versetzte Schauplatz
Dritter Teil
VI. Insistenz, Inversion, Paradox: Dante Alighieris Commedia
1. „Dante in Auschwitz“. Methodische Vorbemerkungen
2. Zeitlosigkeit und das verändernde Wort
3. Inferno I: Traumatischer Anfang
4. Inversionen, Konversionen, Torsionen
5. Inferno V: Äquivozitäten und Rückfälle
6. Inferno XX: Verdrehte Körper, verdrehte Verse
7. Ausgang per Kopfstand
8. Purgatorio: Fortwährende Sprachlosigkeit
9. Angesichts der Gefahr zu verbrennen: weibliche Inklinationen
10. Paradiso: Reich des Paradoxes
Epilog
Literaturverzeichnis
Sachregister
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Der traumatisierte Raum: Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante
 9783110451221, 9783110449228

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Judith Kasper Der traumatisierte Raum

Mimesis

Romanische Literaturen der Welt

Herausgegeben von Ottmar Ette

Band 63

Judith Kasper

Der traumatisierte Raum Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante

ISBN 978-3-11-044922-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045122-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-044939-6 ISSN 0178-7489 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im Juni 2014 bei der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam als Habilitationsschrift eingereicht und im Januar 2015 dort angenommen. Mein Dank gilt in allererster Linie Ottmar Ette für seine Betreuung dieser Arbeit ebenso wie für ihre Aufnahme in die von ihm herausgegebene Reihe „Mimesis“ des de Gruyter-Verlags. Eine von der DFG geförderte eigene Stelle an der Universität Potsdam ermöglichte die optimale institutionelle Rahmung für dieses Projekt und gab mir den erforderlichen Freiraum, um meine Forschungen zu vertiefen und auszuarbeiten. Neben Ottmar Ette haben Cornelia Klettke (Potsdam) und Andrea Allerkamp (Frankfurt/Oder) die Begutachtung der Habilitationsschrift übernommen. Ihnen allen sei für ihre aufmerksame Lektüre und ihre konstruktive Kritik gedankt. Danken möchte ich außerdem den Kolleginnen und Kollegen des von Ottmar Ette geleiteten Romanistischen Kolloquiums an der Universität Potsdam sowie Barbara Vinken und den Kolleginnen und Kollegen ihres Oberseminars am Institut für Romanische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mit ihnen allen konnte ich entscheidende Aspekte meiner Arbeit in einer konstruktiven und freundschaftlichen Atmosphäre diskutieren. Mein Dank gilt des Weiteren den Münchner Studentinnen und Studenten, die an meinen Seminaren zu den hier behandelten Autoren und Fragestellungen teilgenommen und mir durch ihre Beiträge die ständige Weiterentwicklung und kritische Prüfung meiner Lektüren ermöglicht haben. Entscheidende Anregungen verdanke ich außerdem und insbesondere den intensiven Gesprächen mit Gianluca Solla und Maria Rosa Ortolan sowie den Diskussionen im Rahmen der von Marcus Coelen und Britta Günther geleiteten Forschergruppe pli – Psychoanalyse nach Lacan. Mona Körte, Barbara Natalie Nagel und Michael G. Levine haben einzelne Kapitel dieser Arbeit aufmerksam und kritisch gelesen. Mithilfe ihrer profunden Sachkenntnis konnte ich entscheidende Überlegungen besser kontextualisieren und präziser formulieren. Auch ihnen möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen.

Inhaltsverzeichnis Einführung 1 1 Innehalten, Aufmerken 1 2 Verfahren: Heterotopologie als Montage 3 Zum Aufbau der Arbeit 14

7

Erster Teil I 1 2 3 4 5 6 II 1 2 3 4 5

Zur Genese des ‚traumatisierten Raums‘ 19 Das Trauma zwischen Ereignis und Struktur 19 Fremdkörper, Ausnahme, Rest 26 Zone Lager. Von den Orten des Verbrechens zum traumatisierten Raum 32 Der Rand als Zone ent-setzten Sprechens 35 Trauma im Zeichen des Triebes 39 Anstatt Heilung – Sprachspiel 47 Deuten, Nachträumen, Montieren. Über Freuds Traum vom brennenden Kind 57 Der Einsatz eines Traums 57 Der Traum im Zeichen der Verdopplung 63 Vor und nach – stets daneben 67 Übertragung, Montage, Trauer 70 Der ausgreifende Brand 74

Zweiter Teil III „Ritorno“, mise en abyme, Parenthese. Primo Levis Schreiben über Auschwitz 81 1 Vorbemerkungen zur Forschungslage und Vorgehensweise 81 2 Im Lager von der Zukunft träumen 84 3 Zuhause vom Lager träumen 90 4 Zehn Tage außerhalb der Welt und der Zeit 96 5 Heimkehr: Von einem Lager zum nächsten 101 6 Insistenz des Gedichts 105 7 Dante rezitiert und zitiert 116

VIII

Inhaltsverzeichnis

IV Raum ohne Mangel: Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen 1 Kaum merkliche Schwellen 127 2 Grenz- und Angstlosigkeit 132 3 Pervertierte Sprache 135 4 Sprachtics 140 5 Draußen: Konfrontation mit der „Hölle“ 144 6 Schritte machen 149 7 Vom Glück der Konzentrationslager 152 V 1 2 3 4 5 6 7

127

Eine Raumtheorie des Lagers in Romanform. W. G. Sebalds Austerlitz 156 Orte als Übertragungsstätten 156 Familienähnlichkeit, Signatur, Stereometrie 160 Topographie, Toponymie, Inschrift 164 „Lager“ und seine Abkömmlinge 168 Vom Stereotyp zum Hypogramm 173 Die französische Nationalbibliothek und das Phantasma eines Lagers 177 Der stets versetzte Schauplatz 186

Dritter Teil VI Insistenz, Inversion, Paradox: Dante Alighieris Commedia 191 1 „Dante in Auschwitz“. Methodische Vorbemerkungen 191 2 Zeitlosigkeit und das verändernde Wort 198 3 Inferno I: Traumatischer Anfang 201 4 Inversionen, Konversionen, Torsionen 212 5 Inferno V: Äquivozitäten und Rückfälle 216 6 Inferno XX: Verdrehte Körper, verdrehte Verse 222 7 Ausgang per Kopfstand 233 8 Purgatorio: Fortwährende Sprachlosigkeit 236 9 Angesichts der Gefahr zu verbrennen: weibliche Inklinationen 10 Paradiso: Reich des Paradoxes 248 Epilog

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Literaturverzeichnis Sachregister

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269

243

Einführung 1 Innehalten, Aufmerken „Wie Proust seine Lebensgeschichte mit dem Erwachen beginnt, so muß jede Geschichtsdarstellung mit dem Erwachen beginnen, ja sie darf eigentlich von nichts anderm handeln“ – so hat Walter Benjamin einmal die geschichtsphilosophische Aufgabe des Historikers umrissen.1 Obzwar der emphatische Verweis auf das Erwachen heute leicht befremdlich anmuten mag, will ich dennoch mit der Schilderung von vier Begegnungen beginnen, in denen sich, wenn nicht ein Erwachen, so doch eine Art Stutzen – ein Innehalten und Aufmerken – ereignete, das die hier vorliegenden Überlegungen begleitet, unterbrochen und weitergetrieben hat. Es sind Begegnungen mit räumlichen Konstellationen in unserer gegenwärtigen Kultur, in denen Realitäten, die sich einem historischen Verständnis zufolge nicht ohne Weiteres berühren, plötzlich in einer beunruhigenden Nähe zueinander aufscheinen und in Kontakt zueinander treten. Wenngleich diese Begegnungen vorwissenschaftlicher Natur sind, will ich sie den Lesern nicht vorenthalten, denn sie haben meiner philologischen Fragestellung und Arbeitsweise ihre spezifische Ausrichtung verliehen. Ein Besuch der Dauerausstellung des Deutsch-Russischen Museums BerlinKarlshorst im Winter 2002 über den deutschen Vernichtungskrieg in der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg bildete den ersten solchen Moment des Innehaltens und Aufmerkens. Dort hing eine große Landkarte, die das nationalsozialistische Lager-System auf dem Gebiet der Sowjetunion verzeichnete. Mit schwarzen Punkten waren auf einer weißen Fläche die damaligen Lager markiert. Es handelte sich um den historiographischen Versuch, unterschiedliche Lagertypen auf einer Karte gleichzeitig darzustellen: Konzentrationslager ebenso wie Internierungslager, Kriegsgefangenenlager, Arbeitslager, Arbeitserziehungslager, Straflager, SA-Lager, SS-Lager, Polizeigefängnisse, Arbeitshäuser, Ghettos sowie Außenlager aller Art als Produktionsstätten, in denen Gefangene zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Das Ergebnis dieser kartographischen Darstellung war ein weiter, dicht mit schwarzen Punkten übersäter Raum. Trotz dieser enormen Konzentration von Lagern gestand die Bildunterschrift die Unvollständigkeit der Darstellung ein: Sie sei nicht abgeschlossen, ja, könne vermutlich nicht abgeschlossen werden. Die

1 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, unter Mitarbeit von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974–1989, Band V.1, S. 580 [N 4,3].

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Einführung

Topographie der Konzentrationslager enthalte noch viele weiße Flecken. Der Versuch, eine minutiöse Topographie des Lagersystems zu entwerfen, formulierte so die objektive Grenze seines Unterfangens. Es war, als stieße die Darstellung nicht so sehr aufgrund der Abwesenheit von Spuren einstiger Lager an die Grenzen der historischen Rekonstruierbarkeit, sondern auch und insbesondere aufgrund der Überfülle von Orten, an denen der geographische Raum in Lager umgewandelt worden war.2 Historiker sprechen in diesem Zusammenhang von „lagerisierten Regionen“3 bzw. davon, dass die Filialen der großen Konzentrationslager Deutschland und das besetzte Europa als „flächendeckendes Netz“ überzogen hätten.4 Diese Begriffe spiegeln wieder, wie eng ganze Lagerkonglomerate mit ihrer zivilen Umgebung verflochten waren und verdeutlichen damit die unerhörte Ausdehnung der Lager über ihre räumlich verortbaren Grenzen hinaus.5 Das Ausgreifen des Lagers auf seine Umwelt, das in historischer Hinsicht schon so schwer zu beschreiben ist, erweist sich damit als ein Phänomen, das sich schlechterdings der Historisierung entzieht und unsere Gegenwart unmittelbar betrifft. Damit ist nicht nur die Proliferation neuer Lagertypen gemeint, mit denen die europäische Politik seit Jahren die Migrationsströme zu verwalten versucht,6

2 Insbesondere das NS-Lagersystem in der Sowjetunion stellt für die Geschichtswissenschaft eine eingestandene terra incognita dar. Dies betrifft nicht nur die Ausmaße des KZ-Systems, sondern auch die unübersichtliche Vielzahl an Lagertypen sowie deren Metamorphose im Lauf ihrer Existenz. Jedes Lager hat seine eigene Evolution erfahren, die wiederum mit derjenigen anderer Lager verknüpft ist. Angesichts dieser Tatsache scheinen die herkömmlichen Konzepte und Klassifikationen ihren epistemologischen Wert zu verlieren. Vgl. dazu Ulrich Herbert, Karin Orth, Christoph Dieckmann (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Frankfurt a. M.: Fischer 1998 (2 Bände), darin v. a. Michael Wildt: „Die Lager im Osten. Kommentierende Bemerkungen“, Band 1, S. 508–520. 3 Vgl. Bernd Weisbrod: „Entwicklung und Funktionswandel der Konzentrationslager 1937/38 bis 1945. Kommentierende Bemerkungen“. In: ebda., Band 1, S. 354–359. 4 Vgl. Wolfgang Benz: „Vorwort“. In: ders., Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager (9 Bände). München: C. H. Beck 2005–2009, Band 1, S. 8. 5 Der bislang ausführlichste Versuch einer Gesamtgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager liegt mit der zitierten von Wolfgang Benz und Barbara Distel herausgegebenen Veröffentlichung Der Ort des Terrors vor. Bezeichnenderweise formulieren die Verfasser trotz ihrer Aufmerksamkeit für die unzähligen Außen- und Nebenlager die Problematik der Ausweitung der Vernichtung und die Pluralität ihrer Formen im Singular – eben als „Ort des Terrors“. In Benz’ und Distels Darstellung hat das Konzentrationslager Auschwitz 45 Außenlager, das Konzentrationslager Buchenwald 127 Außenlager (siehe ebda., Band 5). Die Lager auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion erhalten keine eigene Aufstellung. 6 Vgl. insbesondere Giorgio Agamben: Stato di eccezione. Torino: Bollati Boringhieri 2003, S. 9–43.

1 Innehalten, Aufmerken

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sondern auch die Verwandlung des Lagers in ein Phantasma, das die Räume, in denen wir leben, stets heimzusuchen droht. Im zweiten Moment des Innehaltens und Aufmerkens manifestiert sich etwas von diesem Phantasma. Wir begeben uns an den Ort der 1995 eingeweihten, 1998 für das Publikum eröffneten neuen französischen Nationalbibliothek in Paris. Die Bibliothek erhebt ihre vier Türme auf einem Gelände, auf dem ab 1943 das Lager Austerlitz, ein Außenlager des Konzentrationslagers Drancy, eingerichtet worden war. Es bestand aus großen Lagerhallen, in dem jüdische Gefangene gezwungen waren, das Raubgut der Nazis zu reparieren, zu reinigen, zu polieren, zu ordnen, zu verwalten und für den Transport ins Deutsche Reich fertigzustellen. Über dieses Lager ist wenig bekannt. Nichtsdestotrotz ist es erstaunlich, dass es auf dem Gelände der heutigen Bibliothèque Nationale keinen Hinweis auf die einstige Existenz eines Lagers am selben Ort gibt. Doch noch mehr Fragen wirft die Tatsache auf, dass in den Diskursen über sie die Rede über ein Lager hörbar wird, ohne dass diese Diskurse allerdings je explizit von einem Lager sprechen würden. Dieser Sachverhalt sei hier in seiner schieren Rätselhaftigkeit genannt. Er wird zu einem späteren Zeitpunkt ausführlich dargelegt und diskutiert (Kapitel V.6). Festgehalten sei an dieser Stelle zunächst der Befund, dass sich in der neuen französischen Nationalbibliothek – an diesem symbolisch so wichtigen Ort für das kulturelle Gedächtnis einer Nation – etwas zu manifestieren scheint, was sie selbst nicht zu dokumentieren weiß. Diese beiden Momente – die Karte in Karlshorst und die denkwürdige Konstellation zwischen einem Lager und einer Bibliothek, die davon nichts weiß – führten zur folgenden Hypothese: Der Holocaust ist ein radikal disseminiertes Ereignis. Damit wird nicht nur problematisch, seine Topographie zu entwerfen, sondern es wird auch grundlegend in Frage gestellt, inwieweit die institutionalisierten Erinnerungsstätten über die Autorität verfügen, dieses Ereignis an historisch identifizierbaren, eingrenzbaren Orten zu repräsentieren. Aus dieser Hypothese war nun wiederum keinesfalls der (Kurz-)Schluss zu ziehen, der Holocaust – buchstäblich: der Allbrand – sei von anhaltender Omnipräsenz.7 Dies würde bedeuten, dieses spezifische geschichtliche Ereignis zu universalisieren, was eine Indifferenzierung zur Folge hätte: Alle Orte würden gleich – und damit ginge nicht zuletzt auch das erkenntnistheoretische Potential verloren, das in solch punktuellen Konstellationen wie den beiden bisher genannten Momenten des Innehaltens geborgen ist.

7 Vgl. zur wörtlichen Umwendung des Holocaust vom Brandopfer zum Allbrand, „le brûle tout“, Maurice Blanchot: L’écriture du désastre. Paris: Gallimard 1980, S. 80; Jacques Derrida: Feu la cendre. Paris: Edition des femmes 1989, S. 27 und passim.

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Einführung

Die Provokation, die von diesen beiden Momenten ausgeht, liegt darin, das Lager nicht als lokalisierbare und quantifizierbare Einheit zu denken, sondern den Blick immer auch schon auf seine politischen und psychologischen Auswirkungen zu lenken, durch die es weit über seine topographischen Markierungen hinaus reicht. Neben dem Phänomen der Verdichtung, das in der Bezeichnung „Konzentrationslager“ schon zum Ausdruck kommt, gilt es mithin auch, die Phänomene seiner Verschiebung und seiner Nachträglichkeit in den Blick zu nehmen, die am Werk sind, wenn sich das Lager in ein Phantasma verwandelt, das Europa bis heute nicht nur heimsucht, sondern auch im buchstäblichen Sinne belagert. Die Verwandlung des Lagers in ein Phantasma, das nicht nur die überlebenden Zeugen der Lager bedrängt, hat nichts mit der vermeintlichen Unsichtbarkeit des Lagers zu tun, sondern vielmehr mit seiner extremen Sichtbarkeit, die jede Repräsentation zum Scheitern verurteilt. Die Tötung von sechs Millionen europäischen Juden und von vielen Millionen anderen Menschen aufgrund ihrer politischen Zugehörigkeit und/oder ihrer rassistischen Ausgrenzung hat eine extrem sichtbare, aber räumlich nicht eingrenzbare und darum nicht repräsentierbare Leere gelassen. Als extreme Sichtbarkeit manifestiert sich diese Leere an unerwarteten Schauplätzen. Gerade dort, wo nicht mit ihr gerechnet wird, ruft sie sich zuweilen schockartig in Erinnerung, um die an vielen Gedenkorten gepflegte, gezähmte Art und Weise vom Leid zu erzählen und zu berichten, aufzustören. Angesichts des Skandals, dass das extrem Sichtbare nicht gesehen werden konnte, stellen sich neue Fragen, die dazu aufrufen, eine andere Art von Antwort zu suchen. Der dritte Moment des Aufmerkens ereignete sich im Rahmen der Relektüre von Freuds Traumdeutung. Hierin schildert Freud den folgenden kurzen Traum. Einem Vater erscheint im Traum sein gerade gestorbenes Kind und dieses raunt ihm vorwurfsvoll fragend zu: „Vater, siehst du denn nicht, dass ich verbrenne?“8 Im Traum auf diese Weise angesprochen, erwacht der Vater und realisiert, dass der aufgebahrte Leichnam des Kindes tatsächlich, während er selbst schlief, in Brand geraten war. Kontextuell und historiographisch betrachtet hat dieser Traum nichts mit den bislang angesprochenen Fragestellungen zu tun. Und dennoch schien es mir, gleichsam wie im Traum, dass in diesem und durch diesen Traum etwas artikuliert wird, das – zeitlich vor der historischen Existenz der nationalsozialistischen Lager stehend – die Frage des Nachlebens der Lager als Phantasma unmittelbar

8 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Studienausgabe in 10 Bänden. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Frankfurt a. M.: Fischer 1969–1975, Band II, S. 488.

1 Innehalten, Aufmerken

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betrifft. Anstatt den Zusammenhang als „nur geträumten“ zu verwerfen, suchte ich einen wissenschaftlichen Weg, um ihn intelligibel und somit methodisch fruchtbar zu machen.9 Dass dieser Versuch nur im Rahmen einer philologischen Arbeit, in direkter Auseinandersetzung mit dem Literarischen, unternommen werden könnte, dafür lieferten eine Reihe literarischer Zeugnisse, in deren Zentrum die Schilderung der Lagerrealität steht, wichtige Hinweise. Im Unterschied zu historiographischen Darstellungen wird in ihnen schon sehr früh das Lager als ein Raum erzählt, der sich nicht auf topographische Daten zurückführen lässt. Maurice Blanchot hat die absolute Absperrung, die zu einer unendlichen Ausdehnung des Raums führt, aus dem es kein Entkommen gibt, allgemein einmal so formuliert: „[D]u fini qui est pourtant fermé, on peut toujours espérer sortir, alors que l’infinie vastitude est la prison, étant sans issue; de même que tout lieu absolument sans issue devient infini.“10 In verschiedenen literarischen Zeugenschaften der Lager finden sich Wendungen, die dies konkretisieren. Emblematisch für diese Erfahrung steht bis heute der Ausdruck „l’univers concentrationnaire“, den der französische Schriftsteller David Rousset 1946 mit seinem gleichnamigen Buch geprägt hat.11 Aber auch andere Formulierungen sind dafür bezeichnend: So spricht zum Beispiel die französische Schriftstellerin Charlotte Delbo von Auschwitz als einem „endroit d’avant la géographie“,12 die Schriftstellerin Cordelia Edvardson von einem „Land, das nicht ist“,13 der slowenische Schriftsteller Boris Pahor vom „Bereich des Nichts“, dem man im Lager ausgesetzt ist.14 Primo Levi nennt die in die Lager deportierten Menschen „esseri fuori mondo“ (Wesen außerhalb der Welt);15 Imre Kertész verschiebt das Lager narrativ, den Transportlinien der Deportation entlang, bis ins Holzlager des Vaters des Protagonisten;16 W. G. Sebalds Werk ist wie kaum ein anderes vom Phantasma der Lager durchwirkt, das sich vielerorts buchstäblich – sei es in Bahnhöfe, Bibliotheken oder Kurorte – eingeschrieben hat.17

9 Kapitel II dieser Arbeit widmet sich ausführlich diesem Traum und der mit ihm einhergehenden Fragen. 10 Maurice Blanchot: Le livre à venir. Paris: Gallimard 1959, S. 131. 11 David Rousset: L’univers concentrationnaire. Paris: Éditions du Pavois 1946. 12 Charlotte Delbo: Une connaissance inutile (Auschwitz et après II). Paris: Minuit 1970, S. 34. 13 Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer (1984). Aus dem Schwedischen übersetzt von Anne-Liese Kornitzky. München: Hanser 1989, S. 99. 14 Boris Pahor: Nekropolis (1967). Aus dem Slowenischen übersetzt von Mirella Urdih-Merku. Berlin: Berlin Verlag 2001, S. 132 und 137. 15 Primo Levi: I sommersi e i salvati. Torino: Einaudi 1986, S. 124. Dazu ausführlich Kapitel III.4. 16 Siehe dazu Kapitel V.1. 17 Siehe dazu Kapitel VI.

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Einführung

In all diesen literarischen Texten wird das Lager in einen Raum umgeschrieben, der sich nicht zuletzt durch seine unheimliche Ausdehnung und stete Einschreibung andernorts auszeichnet. Dieser Prozess der Umschrift konstituiert maßgeblich den traumatisierten Raum. Er ist charakterisiert durch die Spannung zwischen konkreten und in der Wirklichkeit vorhandenen Orten und Stätten des Verbrechens einerseits und andererseits dem Trauma als einem Begriff, der eine psychische Realität betrifft. Das Konzept des traumatisierten Raums beginnt dort zu greifen, wo die Grenze zwischen konkreten Orten und den traumatischen Vorstellungen davon hybrid wird und zwischen beiden Ebenen daher nicht mehr klar unterschieden werden kann: gleichsam also im Niemandsland zwischen Verortung und Verstörung. Dabei soll das Konzept nicht dazu dienen, Ambivalenzen oder Mehrdeutigkeiten zu negieren und diese je dem einen oder anderen Hoheitsgebiet zuzuschlagen. Vielmehr stellt das Konzept den Versuch dar, den Raum dieser entstandenen Unentscheidbarkeit gedanklich auszuschreiten. Der traumatisierte Raum ist somit kein gegenständlicher, es ist keiner, der auf irgendeiner Landkarte verzeichnet wäre oder verzeichnet werden könnte. Der traumatisierte Raum ist kein in der Wirklichkeit vorhandener: Er wird einzig konstituiert durch ein spezifisches Lesen von literarischen, aber auch nichtliterarischen Texten, die es erlauben, dass in ihnen und durch sie das Phantasma des Lagers auftauchen kann. Der traumatisierte Raum ist demnach nicht einfach als Gegenstand eines Textes zu fassen, sondern immer zugleich auch schon ein vom Phantasma gezeichnetes Verfahren, mit dem unsere Umwelt erkundet wird und durch das diese Umwelt fremdartig nah rückt. Aus der Mitte des Literarischen heraus ereignete sich schließlich ein viertes Moment des Aufmerkens. Es betraf die insistente Bezugnahme auf das Dantesche Inferno in zahlreichen literarischen und philosophischen Zeugenschaften über die Lagerrealität. So naheliegend auf den ersten Blick ein Vergleich der nationalsozialistischen Lager mit der Hölle sein mag, so verstörend ist er spätestens auf den zweiten Blick. Denn die Hölle ist Teil eines heilsgeschichtlichen Plans, sie hat darin in Hinblick auf Erlösungsvorstellungen eine spezifische Rolle. All diejenigen Autoren, die sich der Höllenmetapher bedienen, würden eine solche Bedeutung der nationalsozialistischen Lager weit von sich weisen. Der inneren Widersprüchlichkeit sowie der erstaunlichen Insistenz, ja, dem Wiederholungszwang dieser Reminiszenz ist mit herkömmlichen rezeptionsästhetischen Erklärungsmustern nicht beizukommen.18 Dass es zu dieser dominanten und zugleich so

18 Anstelle von Wiederholungszwang wird in dieser Arbeit dem Begriff der Insistenz Vorzug gegeben, der ein Drängen und eine damit verbundene Dringlichkeit wesentlich besser ausdrückt

2 Verfahren: Heterotopologie als Montage

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schiefen intertextuellen Bezugnahme kommen konnte, mag, so meine Ausgangsthese, selbst ein Symptom des unweigerlich traumatisch entstellten Blicks auf die Lager, auf die Geschichte und nicht zuletzt auf die Literaturgeschichte sein. Um dieser Hypothese nachzugehen, erwies es sich als notwendig, vor dem Hintergrund der Fragen, die ich im Zusammenhang von Trauma, Raum und Lager entwickle, Dante Alighieris Commedia insgesamt neu zu lesen. Nur auf diese Weise ließ sich die verkürzte und verkürzende Trope des Inferno gleichsam von innen heraus aufsprengen. Vor dem Hintergrund der skizzierten Fragestellungen wird daher die gesamte Commedia als ein Text gelesen, der einerseits von der Insistenz eines Unbewältigten zeugt – und dies nicht nur im Inferno, sondern insbesondere auch im Paradiso –, und andererseits ein großartiges Dispositiv literarischer Durcharbeitung traumatischer Erfahrungen bildet.

2 Verfahren: Heterotopologie als Montage Das Wissen über den Holocaust, das von einem gedächtnistheoretischen Diskurs, dem ein topographisches Denken zugrunde liegt, hervorgebracht worden ist, vermochte es nicht, auf die Fragen, die sich ausgehend von diesen vier Momenten des Aufmerkens stellten, befriedigende Antworten zu liefern. Denn dies ist im Wesentlichen ein Wissen über die tatsächlichen, erforschten bzw. erforschbaren Stätten des Verbrechens. Die hier sich eröffnenden Fragen sind zwar räumlicher Art, aber sie lassen sich nicht mehr im Rahmen eines topographischen Denkens erörtern, das auf der Vorstellung von „authentischen Orten“ beruht, an denen historisches Wissen zur Aufklärung herangezogen wird.19 Es existieren jedoch verschiedene Konzepte und methodische Ansätze, die darüber hinausführen und die sich in ihrer Engführung für mein Unternehmen als fruchtbar erwiesen haben. Sie seien hier dargelegt.

als der immer schon tendenziell pathologisierende Begriff des Wiederholungszwangs. Es handelt sich dabei gleichsam um eine Art Rückübersetzung von Lacans Wiedergabe des Wiederholungszwangs als „insistance“ (vgl. dazu Jacques Lacan: Das Seminar II (1954–1955). Das Ich in der Theorie Freuds und die Technik der Psychoanalyse. Freiburg: Walter 1980, S. 82). 19 Analog zu Pierre Nora, der aus einer identitätslogischen Perspektive von „lieux de mémoire“ spricht, die für die Konstituierung des französischen Nationalgedächtnisses grundlegend sind (vgl. ders. (Hg.): Les lieux de mémoire (3 Bände). Paris: Gallimard 1984–1992), setzt Aleida Assmann, in Hinblick auf die Shoah, auf die Kraft der authentischen Orte (vgl. dies., „Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften“. In: Hanno Loewy, Bernhard Moltmann (Hg.): Erlebnis – Gedächtnis – Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung. Frankfurt a. M., New York: Campus 1996, S. 13–29). Die Ansätze beider Gedächtnistheoretiker neigen dazu, die stets verstellte und versetzte Wiederkehr des Traumatischen zu verkennen.

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Einführung

Im Hintergrund des räumlichen Aspekts meiner Fragestellung steht zunächst die Auseinandersetzung mit Michel Foucaults Begriff der Heterotopie, der im Zuge des sogenannten ‚spatial turn‘ in den letzten Jahren wieder verstärkt für literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeiten fruchtbar gemacht, zugleich aber für die Erkundung des Raums des Lagers nur sporadisch herangezogen worden ist. Bezeichnenderweise nennt Foucault in seinem programmatischen Vortrag „Des espaces autres“, den er im März 1967 im Rahmen des Cercle d’études architecturales gehalten hat und in dem er eine ganze Reihe von Beispielen für Heterotopien aufzählt, das Lager nicht.20 Zunächst scheint es in der Tat durch die von Foucault getroffenen Unterscheidungen zwischen Utopien und Heterotopien einerseits und zwischen inneren Traumräumen und äußeren, gesellschaftlichen Räumen andererseits nicht erfasst zu werden. Als ein unter den Bedingungen des politischen Ausnahmezustands entstandener Raum ist das Lager kein Ort, der Teil der institutionalisierten Ordnung einer Gesellschaft wird (wie dies für andere Orte der Ausschließung, die Foucault nennt: Irrenhäuser, Gefängnisse etc., durchaus der Fall ist). Wenn es sich als Phantasma manifestiert, bildet es kein rein innerpsychisches Raumgeschehen aus, wie Foucault dies für die Bachelardschen poetischen Räume feststellt.21 Das Lager stellt zwar einen Raum dar, der wie eine Heterotopie außerhalb aller anderen Orte liegt; es teilt zugleich mit der Utopie eine gewisse Nichtlokalisierbarkeit, ohne indessen darum eine Utopie zu sein. Es ist und bleibt nichtsdestoweniger real. Ausgehend von diesem Befund gilt es, die Heterotopie als ein offenes und dynamisches Dispositiv weiterzuschreiben.22 Für unsere Fragestellung gewinnbringend wird die von Foucault skizzierte Heterotopologie zum Beispiel, wenn

20 Vgl. Michel Foucault: „Des espaces autres“ (conférence au Cercle d’études architecturales, 14 mars 1967, Erstveröffentlichung 1984). In: ders., Dits et Écrits II, 1976–1988. Paris: Gallimard 2001, S. 1571–1581; maßgebliche raumtheoretische Veröffentlichungen im Bereich der Kultur- und Literaturwissenschaften sind u. a.: Stephan Günzel, Jörg Dünne (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006; Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld: transcript 2007; Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.): Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript 2008. 21 Foucault stellt den „espaces du dedans“, unter die er mit Blick auf Gaston Bachelard (La poétique de l’espace. Paris: PUF 1957) die Räume unserer Träume rechnet, die „espaces du dehors“ gegenüber, um die es ihm selbst hingegen geht (ebda., S. 1573). Im Folgenden wird sich zeigen, wie diese Unterscheidung selbst eines der Hauptprobleme des Traumatischen darstellt. 22 Ich folge hier Cornelia Klettke, die Foucaults Konzept als ein offenes denkt, das immer schon zu seiner weiteren Entwicklung durch Andere auffordert (vgl. dies.: „Candide de Voltaire à travers les lunettes de l’hétérotopie et de l’hétérologie“. In: Rivista di Letterature moderne e comparate, vol. LXIV, 3 (2011), S. 273–304, hier: insbesondere S. 276).

2 Verfahren: Heterotopologie als Montage

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man sie, wie Sigrid Weigel vorgeschlagen hat, als ein Verfahren liest, „verräumlichte Bilder als Konstellationen [zu] analysieren, denen eine strukturelle Spaltung inhärent ist“.23 Dann kann sie dazu beitragen, Giorgio Agambens juridischpolitische Bestimmung des Lagers als Ausnahme, die für mein Unternehmen ebenfalls einen wichtigen, aber unzureichenden Ausgangspunkt bildet, in explizit räumlichen Termini auszuschreiben.24 Foucaults Heterotopie im Verein mit Agambens Ausnahme-Begriff würde somit ein Dispositiv bilden, mit Hilfe dessen die Räumlichkeit des Lagers analysiert werden kann. Diese Analyse impliziert sowohl das Phänomen der Ausdehnung dieses vermeintlich statischen und begrenzten Raums ebenso wie die Dynamiken seiner Verwandlung von einem äußeren Raum in den Traum, ins Phantasma und nicht zuletzt das Phänomen der latenten Einschreibung des Lagers in den zivilen, ja zuweilen sogar häuslichen Raum, wie sie uns im Folgenden insbesondere bei Levi, Kertész und Sebald interessieren werden. Das Lager als traumatisierten Raum zu analysieren erweist sich somit als eine Art Heterologie, welche die diskursiven Erscheinungen des Neben- und Übereinander mehrerer nicht miteinander kompatibler Räume auf der Ebene der sprachlichen Äußerung untersucht. Durch sie kann das Andere des Lagers, das nie einfach Gegenstand einer Rede und darum auch nie zu einem positiven Faktum der Geschichte geworden ist, als die Rede eines Anderen, als schlechterdings andere Rede und Anderes als Rede erschlossen werden.25 Eine weitere methodische Frage betrifft den Umgang mit der zeitlichen Dimension der traumatisierten Räume. Sie lassen sich nicht mehr als ein Nacheinander von Ereignissen begreifen, die an ein und demselben Ort stattgefunden haben. Für die Erkundung der Manifestationen des Ineinandergeschrieben-Seins unterschiedlicher Ereignisse zu einer Art Vexierbild bedarf es eines Verfahrens, das nicht nur a-historisch argumentiert, wie es für strukturalistische Ansätze typisch ist, sondern vielmehr in einem spezifischen Sinne gegen-historisch arbeitet, insofern als die Geschichte sehr wohl interessiert, allerdings als stets verschobene, entstellte und sich entziehende Größe: als Phantasma, das stets am

23 Vgl. Sigrid Weigel: „Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“. In: Kultur-Poetik, Band 2, Heft 2 (2002), S. 151–165, hier: S. 159. 24 Vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, insbesondere S. 127–190. Ausführlicher dazu Kapitel I.3 dieser Arbeit. 25 Der Begriff der Heterologie stammt von Michel de Certeau. Der Begriff zieht sich durch sein gesamtes Werk, ohne allerdings, ähnlich wie dies bei Foucault der Fall ist, je systematisch dargelegt worden zu sein (vgl. insbesondere ders.: L’Absent de l’histoire. Paris: Mame 1973; sowie L’écriture de l’histoire. Paris: Gallimard 1975, hier vor allem der vierte Teil „Écritures freudiennes“, S. 339–422).

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falschen Platz – im Sinne eines verstellten, aber nicht einfach kontingenten Orts – auftaucht. Ein Ansatzpunkt für die Möglichkeit, das philologisch-literaturwissenschaftliche Arbeiten zu profilieren als ein kaum beruhigendes und kaum versöhnliches Kommunizieren mit derartigen Formen von Einschreibungen und Einblendungen, findet sich vor allem in der Psychoanalyse Freudscher und Lacanscher Prägung, die als ein geschichtliches und räumliches Denken zugleich die Begriffe ‚Ereignis‘ und ‚Geschichte‘ sowie das Konzept der Topographie problematisiert. Die Psychoanalyse ist insbesondere aber deshalb von zentraler Bedeutung, weil sie einen Begriff des Traumas ausgeprägt hat, der selbst dynamisch ist und als solcher nicht nur für ihre geschichtsphilosophische Perspektive zentral ist, sondern auch maßgeblich dazu beigetragen hat, dass sich das psychoanalytische Denken nie zu einer in sich geschlossenen Theorie verfestigt hat. Die Psychoanalyse ist nicht so sehr eine Theorie über das Trauma. Sie hat sich vielmehr stets weiterentwickelt in konstanter Aussetzung an das Trauma, das sich sowohl ihrer Theorie von der menschlichen Psyche als auch ihrer praktisch-klinischen Seite permanent entzieht.26 Das Trauma lässt sich in diesem Denken nicht auf ein gewaltvolles geschichtliches Ereignis reduzieren, wenngleich es meistens mit solchen verbunden ist. Denn seine Eigentümlichkeit liegt nicht so sehr in der Gewalt, sondern vielmehr in der ihm innewohnenden Dynamik der Wiederholung. Das Trauma ist im Wesentlichen eine Abspaltung: Ein Subjekt wird durch ein Ereignis affiziert, es ist aber nicht in der Lage, diesem Affekt einen adäquaten Ausdruck zu verleihen. Anstelle des adäquaten Ausdrucks bildet sich ein Trauma aus. Es ist charakterisiert durch eine Phase der Affektlosigkeit und die nachträgliche, meist als unangemessen wahrgenommene Manifestation starker Affekte in Bezug auf andere Schauplätze und Ereignisse. Das Trauma, da es immer erst in seiner Nachträglichkeit gefasst wird, hat keine „exakte Zeitstelle“,27 sondern existiert nur im Modus der Sequenzen, in denen es (sich) wiederholend insistiert.28 Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Trauma-Theoretikerin Cathy Caruth bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: In its general definition, trauma is described as the response to an unexpected or overwhelming violent event or events that are not fully grasped as they occur, but return later in

26 Werner Bohleber hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Trauma in der Psychoanalyse kein präzise definierter Begriff ist (vgl. ders.: „Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse“. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse, 54 (2000), S. 797–839, hier: S. 828). 27 Walter Benjamin: „Über einige Motive bei Baudelaire“. In: Gesammelte Schriften, Band I.2, S. 605–654, hier: S. 615. 28 Vgl. Inka Mülder-Bach: „Poetik des Unfalls“. In: Poetica 34 (2002), S. 193–221, hier: S. 197.

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repeated flashbacks, nightmares, and other repetitive phenomena. Traumatic experience, beyond the psychological dimension of suffering it involves, suggests a certain paradox: that the most direct seeing of a violent event may occur as an absolute inability to know it.29

Dies ist, wie Caruth sagt, die allgemeine, und es ist zugleich auch die bekannteste Definition des Traumas in psychoanalytischen Begriffen. Eine weniger bekannte und im Rahmen der Erörterung von geschichtlichen Gewalterfahrungen wie Krieg und Genozid in der Regel ausgeblendete psychoanalytische Auffassung des Traumas akzentuiert jedoch dessen notwendige Bedeutung für das Leben selbst – sofern das Trauma nicht zu einer gänzlichen Verwüstung und Zersplitterung des Ichs geführt hat. Dies ist in zweierlei Hinsicht zu verstehen. Erstens: Dort wo der Organismus dazu tendiert, sich gegen Umweltreize von außen abzuschirmen, bedarf es gleichsam schockartiger Zusammenstöße, um ihn wiederum auf das Andere hin zu öffnen.30 Zweitens lässt sich das Trauma, insofern es ein Ereignis betrifft, das nie vollständig begriffen worden ist, geschichtsphilosophisch als jene Instanz fassen, die dafür verantwortlich ist, dass die Geschichte nie zu Ende kommt, d. h. nie gelöst bzw. erlöst wird. Die Wiederkehr des geschichtlichen Ereignisses als Trauma verpflichtet und bildet gleichsam ein ethisches Band, das uns mit dem Unbewältigten in der Geschichte verbindet und, indem es sich auf die nachkommenden Generationen überträgt, die Fortsetzung der Geschichte, der Geschlechter, des Lebens garantiert. Die Aufgabe der Literatur ist in diesem Kontext als eine doppelte zu betrachten. Einerseits entwickelt sie narrative Formen, in welchen die unheimliche Wiederkehr des Traumatischen, hier meist im Sinne eines Nachlebens des Lagers auf der Ebene des Phantasmas, artikuliert wird. Andererseits geht es aber immer auch schon um Formen der Durcharbeitung des Traumatischen. Literatur ist in diesem Kontext dialektisch aufgespannt zwischen der Artikulation eines irreparablen Verlusts und der Öffnung auf Anderes. In der und durch die Konfrontation der Schrift mit der insistenten Wiederkehr des Unbewältigten geht es darum, darauf aufmerksam zu machen, dass die Geschichte nicht einfach voranschreitet, aber auch darauf, dass es möglich ist, Bewegungen und Wendungen einzutragen, durch die innerhalb der Wiederholung, die nie mit sich selbst identisch ist, das

29 Cathy Caruth: Unclaimed experience. Trauma, Narrative, and History. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1996, S. 91f. 30 Diese Dimension liegt zum Beispiel Benjamins, an der Psychoanalyse geschulten Überlegungen zu Baudelaires Poesie zugrunde oder auch Roland Barthes’ Denken des punctum. Vgl. Walter Benjamin: „Über einige Motive bei Baudelaire“, sowie Roland Barthes: La chambre claire. Paris: Seuil 1980.

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Andere vernehmbar wird: das Andere, von dem die Wiederholung des Selben untergründig immer schon durchwirkt ist. Indem sich die Literatur einer solchen Dynamik des Traumatischen verschreibt, durchkreuzt sie einerseits jene Diskurse, die dazu neigen, das Trauma für die Beschreibung einer Art kataleptischen Erstarrung zu vereinnahmen und es damit gleichsam positivistisch als konstitutiven Bestandteil einer Opferidentität, die stets eine internalisierte Täterperspektive impliziert, festzuschreiben. Andererseits widersetzt sie sich der Vorstellung, ein Trauma sei zu bewältigen, zu überwinden oder gar zu heilen. Denn es ist schlechterdings unmöglich, das Trauma seelisch oder auch gesellschaftlich zu integrieren.31 Stattdessen geht es darum, im Traumatischen einen Raum zu eröffnen, diesen auszuschreiten und auszuschreiben, die Dynamik der Wiederholung in ein poetisches Prinzip überzuführen und damit in der und durch die Wiederholung eine je singuläre Sprache zu finden, die in der Lage ist, sich dem Unbewältigten, von dem sie selbst durchdrungen ist, auszusetzen, ohne zu behaupten, es je begreifen und abschließend zur Darstellung bringen zu können. In Hinblick auf die Konturierung dieser Dynamik gilt es, das philologische Verfahren als eines weiterzuentwickeln, das sich selbst als Wiederholung und Differenz reflektiert. Eine erste Folge davon ist eine gewisse Distanznahme vom wissenschaftlich-philologischen Deutungsbegriff, um sich stattdessen einem psychoanalytischen Leseverfahren anzuschließen, das Texte in höchster Aufmerksamkeit für den Signifikanten liest, noch ehe es diese deutet. Anders gesagt: Im Prozess des Deutens agiert dieses Lesen als eine Kraft, die stets bestrebt ist, die Einmündung der Deutung in die Bedeutung zu verzögern. Es hält das Generieren einer Bedeutung dort auf und zurück, wo diese entweder zu einer Festschreibung des Traumatischen oder aber – das ist die Kehrseite derselben Medaille – zu vorschnellen Lösungen neigt. Es geht damit um ein Lesen, das in diesem Aufhalten und Verschieben von Bedeutung versucht, potentiell andere Entwicklungen, die als Möglichkeiten in der Signifikantenstruktur des jeweiligen Textes mit angelegt sind, erkennbar zu machen und die eventuell jenseits dessen liegen, was das Subjekt des Autors bzw. des Erzählers zu sagen wusste. Dieses Leseverfahren besteht in einer sehr zurückhaltenden Form der Deutung. Es begreift das Lesen selbst als Wiederholung: als ein Zitieren und Rezitieren, in welchem in einem andauernden Hin und Her zwischen einem Lesen und einem Hören der Signifikanten Perspektivwechsel und Akzentverschiebungen

31 Vgl. Werner Bohleber: „Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse“, S. 830.

2 Verfahren: Heterotopologie als Montage

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vorgenommen werden.32 Auf diese Weise wird etwas vernehmbar gemacht, was nicht einfach gesagt werden kann, aber doch nach einem Ausdruck drängt. Das Gelesene wird auf diese Weise nicht nur in seiner konstativen Dimension kommentiert, sondern in seiner performativen Kraft konturiert. Lesen selbst erscheint auf diese Weise als eine ins Passivische gewendete Handlung am Text: als eine Montage, die im Benjaminschen Sinne tendenziell dazu neigt, nichts zu „sagen“, sondern nur zu „zeigen“ und dabei das, was von der Deutung abfällt – die Reste, das, was nicht in die Deutung integrierbar ist, das, was im Innehalten, in der Unterbrechung aufscheint – zu „verwenden“.33 In einem solch verwendenden Zeigen wird nicht zuletzt das Material gewendet: Das Lesen erhält in solcher Weise selbst produktiven Charakter. Insofern die Montage – wie schon eingangs mit den vier Momenten des innehaltenden Fragens angedeutet wurde – heterogene Materialien zusammenführt und zusammendenkt, offenbart sich der Raum der wissenschaftlichen Abhandlung selbst als eine Art Heterotopie, in der nebeneinander zu stehen kommt und miteinander in Berührung gerät, was eigentlich nicht zusammengehört.34 Im Unterschied zu den literaturhistorischen Untersuchungen über die deutsche, italienische, französische oder europäische Lagerliteratur handelt es sich hier um den Versuch, paradigmatisch zu arbeiten, und zwar in dem Sinne, wie dies Agamben formuliert hat und dabei vermutlich Benjamins Montage-Technik im Sinn hatte: Aus dem historischen Kontext herausgelöste Texte bzw. Schauplätze werden in eine Konstellation gebracht, und zwar so, dass dadurch nicht allein gewisse Aspekte und Dynamiken in ihrer Ähnlichkeit bzw. Wiederkehr konstatiert werden. Vielmehr wird durch einen Leseprozess, der ein solches Nebeneinander-, Zusammen- und Ausstellen impliziert, überhaupt erst erkennbar, was sich einer geschichtlich-linearen Diskursivität entzieht. Auf diese Weise wird zum einen versucht, die Konstellation singulärer Einzelfälle in ihrer Intelligibilität zu exponieren.35 Zum anderen aber trägt ein solch montierendes Verfahren auch der

32 Vgl. zu diesem Verfahren auch d. Verf.in: „Für eine Philologie der Kata/strophe“. In: Ottmar Ette und dies. (Hg.): Unfälle der Sprache. Literarische und philologische Erkundungen der Katastrophe. Wien: Turia + Kant 2014, S. 7–20. 33 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Band V.1, S. 574 [N 1a, 8]. Eine aktuelle Reflexion und Weiterführung dieses Verfahrens findet sich in Georges Didi-Huberman: Quand les images prennent position. L’Œil de l’histoire 1. Paris: Minuit 2009. 34 „L’hétérotopie a le pouvoir de juxtaposer en un seul lieu réel plusieurs espaces, plusieurs emplacements qui sont en eux-mêmes incompatibles“ (Michel Foucault: „Des espaces autres“, S. 1577). 35 Vgl. dazu Giorgio Agamben: Signatura rerum. Zur Methode. Aus dem Ital. von Anton Schütz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, insbesondere das erste Kapitel „Was ist ein Paradigma?“, S. 9–40.

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Tatsache Rechnung, dass die Verstellung, die im Feld von Trauma und Phantasma stets am Werk ist, nicht einfach zurechtgerückt werden kann. Vielmehr geht es darum, einen Umgang mit der „nachhaltigen Beschädigung unserer Beziehung zur Sprache“36 zu finden, die das Trauma impliziert. Notwendig verstellt orientieren wir uns mit beschädigten Mitteln in der Welt. Weder kann behauptet werden, dass diese repariert werden könnten, noch darf eine wissenschaftliche Annäherung an dieses Problemfeld in einem schieren reenactment des Traumas münden, was verschiedentlichen kulturwissenschaftlichen Beiträgen im Bereich der Traumatheorie nicht immer zu Unrecht vorgeworfen worden ist. Paul Celan hat diese Verstellung der uns zur Verfügung stehenden Sprache, mit der wir versuchen, unsere Geschichte zu benennen und zu begreifen, in unübertroffener Weise 1958 in seiner Bremer Literaturpreisrede formuliert: Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, «angereichert» von all dem.37

Die Sprache ist verstellt und stumm, aber in der Sprache schafft sich dennoch etwas Ausdruck, indem es die Worte „anreichert“: d. h. mit etwas kontaminiert, was nicht zuletzt auch als Insistenz eines irreduzibel äquivoken „Reichs“ gehört werden muss. Die Montage hebt die irreparable Verstellung der Sprache nicht auf, sie erleidet sie aber auch nicht einfach passiv. Sie setzt sich der Insistenz aus; sie erkennt in der Insistenz, dass sich etwas, das selbst nicht benannt und begriffen werden kann, malgré tout dringend Ausdruck zu schaffen versucht und dabei doch stumm bleibt.

3 Zum Aufbau der Arbeit Die nachfolgenden Überlegungen gliedern sich in drei Teile. Diese Struktur behauptet freilich nicht, die gestellten Probleme abschließend zu beseitigen, doch schien es mir methodisch notwendig, der in der Sache liegenden Ausdehnung der

36 Franz Kaltenbeck: „Shoah, Symptom, Subjekt“. In: ders., Peter Weibel (Hg.): Trauma und Erinnerung. Wien: Turia + Kant 2000, S. 139–156, hier: S. 139. 37 Paul Celan: Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: ders., Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 37–39, hier: S. 38.

3 Zum Aufbau der Arbeit

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untersuchten Phänomene eine überschaubare Struktur der Bearbeitung entgegenzusetzen. Im ersten Teil der Arbeit wird die Genese des Konzepts des traumatisierten Raums in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Theorieansätzen im Feld der Traumaforschung sowie mit einschlägigen Arbeiten zur Holocaust-Literatur erläutert. Im Zentrum des Interesses steht dann die Entwicklung des TraumaBegriffs in der Psychoanalyse sowie die Entwicklung der Psychoanalyse als ein Diskurs, der sich durch eine permanente Aussetzung an das Trauma weiterentwickelt. Die detaillierte Lektüre des eingangs schon erwähnten Traums vom brennenden Kind in Freuds Traumdeutung begreift sich als eine erste Montage, durch die erkennbar wird, wie ein kleiner, am Ende des 19. Jahrhunderts geträumter Traum bezüglich der Frage nach dem Nachleben der Lager wirksam wird (Kapitel I und II). Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der detailgenauen Lektüre dreier kanonischer Werke, die im Feld der Holocaust-Literatur anzusiedeln sind. Dies ist erstens das Werk des italienischen Schriftstellers Primo Levi, das nicht nur in Italien seit langem fester Bestandteil der Erinnerungskultur des Holocaust ist. Dazu hat nicht zuletzt die Tatsache beigetragen, dass Levi als Überlebender der Lager schon sehr früh, nämlich schon 1947 mit Se questo è un uomo, ein bis heute viel rezipiertes literarisches Zeugnis seiner Lagererfahrung vorgelegt hat. Levis Werk interessiert uns insbesondere in Hinblick auf die spezifische Spannung, die sich zwischen seiner linear-chronologischen Erzählweise einerseits und verschiedenen Dynamiken des „ritorno“ andererseits ergibt (eines „ritorno“, der semantisch changiert zwischen dem Wunsch, nach Hause zurückzukehren und der Wiederkehr des Lagers im Alptraum), was zu einer grundsätzlichen Verunsicherung der raum-zeitlichen Grenzen des Lagers beiträgt (Kapitel III). Darauf folgt die Lektüre von Imre Kertész’ 1975 im ungarischen Original, 1996 in deutscher Übersetzung erschienenem Roman eines Schicksallosen. Kertész verschiebt seine Zeugenschaft als Überlebender in den Bereich des Romanhaften. Auch bei ihm wird die phantasmatische Ausweitung des Lagers über seine eigentlichen zeitlichen und räumlichen Grenzen hinaus als entscheidendes Problem herausgestellt. Bei Levi ereignet sich dies im Wesentlichen im Medium des Traums; bei Kertész durch eine provozierende Infragestellung des Anfangs und des Ende des Lagers, die auch die Fortsetzung der Gefangenschaft unter dem stalinistischen Apparat in Ungarn impliziert (Kapitel IV). W. G. Sebalds letzter zu Lebzeiten des Autors veröffentlichter Roman Austerlitz (2001) schließt diese Reihe ab. Geschrieben von einem Autor, der im Gegensatz zu Levi und Kertész kein Überlebender der Lager ist, sondern 1944 in Nazideutschland als deutscher Junge geboren worden ist, nimmt dieser Roman wie

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kaum ein anderes Werk die dem Trauma eigentümliche, nämlich jegliche Historisierung des Holocaust durchkreuzende Position der Nachträglichkeit ein. Austerlitz erzählt die nationalsozialistische Lagerrealität als anhaltendes, den europäischen Raum bestimmendes Phantasma. Analysiert wird, wie sich letzteres in den geographischen ebenso wie in den Textraum des Romans gleichsam buchstäblich eingeschrieben hat (Kapitel V). Alle drei Texte werden weder als autobiographischer Ausdruck eines Ichs noch als historische Quelle gelesen. Sie werden gelesen als Texte, in denen einerseits das Trauma als insistierende, unüberwindliche Größe literarisch gestaltet ist, und andererseits sich das Literarische als diejenige Dimension erweist, in der sich sprachliche Öffnungen innerhalb des Feldes des Traumatischen ereignen. Der dritte Teil der Arbeit ist eine Rückkehr an einen prominenten Anfang der romanischen Literatur, zu Dante Alighieris Commedia. Diese Wende ist der Insistenz intertextueller Verweise auf die Commedia in zahlreichen Lagertexten geschuldet, vornehmlich bezüglich ihres ersten Teils, dem Inferno, und dies nicht zuletzt bei Levi und Kertész. Nachdem die Art und Weise der Präsenz der Commedia in diesen beiden Werken in Kapitel III.6 und IV.4 eingehend untersucht wird, gilt es im letzten Teil der Arbeit, möglichen Implikationen dieser Insistenz nachzugehen und für eine Relektüre der Commedia selbst fruchtbar zu machen. Durch Freud, Levi, Kertész und Sebald sowie durch die philologische Konturierung der Dynamik des Traumatischen in diesen Texten wird auf Alighieris Commedia ein neuer Blick geworfen. Dabei wird nicht zuletzt der dominant literaturgeschichtlich und rezeptionstheoretisch orientierte Intertextualitätsbegriff, der literarische Texte als einen Wissenspeicher fasst, der jederzeit zur Verfügung steht, ergänzt durch die Vorstellung von Literatur und Literaturgeschichte als einem Feld unbewusster Reminiszenzen, das mit den Begriffen der inscription38 – im Sinne einer unkenntlich gemachten Einschreibung, einer Einfaltung der Schrift – und der instance39 – im Sinne des Drängens des Buchstabens diesseits seiner Bedeutungsbildung – beschrieben werden kann. In dieser Weise werden Geschichte im weiteren Sinne und Literaturgeschichte und Intertextualität im engeren Sinne als ein Feld unbewusster Übertragungen erkennbar.

38 Vgl. Michael Riffaterre: La production du texte. Paris: Seuil 1979; Paul de Man: „Hypogram and Inscription“. In: ders., The Resistance to Theory. Minneapolis, London: University of Minnesota Press 1986, S. 27–53. 39 Jacques Lacan: „L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud“. In: ders.: Écrits I. Paris: Seuil 1966, S. 249–289.

Erster Teil

I Zur Genese des ‚traumatisierten Raums‘ Psychoanalyse nicht, wie landläufig verstanden als Enthüllung einer neuen Bedeutung – des Unbewußten –, sondern als eine neue Art zu lesen.1

1 Das Trauma zwischen Ereignis und Struktur In den letzten zwanzig Jahren ist eine beeindruckende Vielzahl literatur- und kulturwissenschaftlicher Beiträge entstanden, die mit dem Begriff des Traumas operieren. Innerhalb dieses inzwischen relativ unübersichtlichen Feldes soll es zunächst darum gehen, diskursive Linien aufzuzeigen, um darin meine eigene theoretische Position erkennbar zu machen, auf der die nachfolgenden Analysen fußen. Die methodischen Schwierigkeiten, die sich mit dem Begriff ‚Trauma‘ verknüpfen, betreffen in erster Linie dessen Gespaltenheit in einen historisch argumentierenden, ereignisorientierten und in einen strukturellen, psychoanalytisch geprägten, tendenziell geschichtsphilosophischen Begriff. Die Forschung hat daraus weitgehend unvereinbare ideologische Positionen abgeleitet. Wer mit einem historisch orientierten Trauma-Begriff argumentiert, neigt, beabsichtigt oder nicht, zur positivistischen Festschreibung eines Ereignisses als traumatisierendes und erklärt damit diejenigen, die von diesem Ereignis betroffen wurden und dieses überlebt haben, zum Opfer. Unter weitgehender Ausblendung der paradoxen zeitlichen, räumlichen und zeichentheoretischen Dynamiken, die sich mit dem Trauma verbinden, wird das Trauma im Wesentlichen auf einen Tatbestand reduziert. Von dieser Denkart heben sich jene Ansätze der amerikanischen Trauma Theory ab, die im Diskursraum von Dekonstruktion und Psychoanalyse insbesondere von Cathy Caruth, Shoshana Felman, Geoffrey H. Hartman und Dori Laub und Michael G. Levine herausgearbeitet worden sind. Es gelingt diesen Arbeiten, die Erkenntnisse der Freudschen Psychoanalyse zum Trauma in die Problematik einzutragen, wie über das Ereignis der Vernichtung der europäischen Juden gesprochen werden kann und was davon stumm die Begriffe und Wörter, mit

1 Vgl. Shoshana Felman: „Die Lektürepraxis erneuern“. In: Manfred Frank, Anselm Haverkamp (Hg.), Individualität. Poetik und Hermeneutik, Band 13. München: Fink 1988, S. 203–208: hier: S. 207.

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I Zur Genese des ‚traumatisierten Raums‘

denen wir dies tun, determiniert.2 Insbesondere Cathy Caruth und Shoshana Felman haben sich nicht gescheut, jüdische Zeugenschaften über den Holocaust zusammen mit anderen traumatischen Erzählungen aus anderen historischen Kontexten zu analysieren.3 Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht ohne Interesse darauf hinzuweisen, dass die genannten Forscherpersönlichkeiten alle einen jüdischen Hintergrund haben und dass ihre Familiengeschichten von der Vernichtung der europäischen Juden unter dem Nationalsozialismus gezeichnet sind. Von verschiedentlicher Seite wurde ihnen vorgeworfen, nicht zuletzt aufgrund ihres nicht historisierenden Zugangs, universalisierend zu argumentieren.4

2 Geoffrey H. Hartman und Dori Laub sind die Begründer des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies der Yale-Universität. Insbesondere verweise ich auf folgende ihrer Arbeiten: Geoffrey H. Hartman: The Longest Shadow. In the Aftermath of the Holocaust. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1996; Dori Laub: „Bearing Witness or the Vicissitudes of Listening“. In: ders., Shoshana Felman (Hg.): Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History. New York: Routledge 1992, S. 57–74; ders.: „Zeugnis ablegen oder die Schwierigkeiten des Zuhörens“. In: Baer (Hg.), »Niemand zeugt für den Zeugen«, S. 68–83; ders.: „Eros oder Thanatos? Der Kampf um die Erzählbarkeit des Traumas“. In: Psyche 2000, S. 860– 893. 3 Cathy Caruth widmet ihre Lektüren v. a. Freuds Texten sowie ausgewählten literarischen Texten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert (vgl. dies.: Trauma – Explorations in memory. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1995; Unclaimed experience. Trauma, Narrative, and History; Literature in the Ashes of History. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2014). Shoshana Felman zeichnet sich durch ihre Arbeiten über Claude Lanzmanns Shoah aus. Vgl. dies.: „À l’âge du témoignage: Shoah“. In: Michel Deguy (Hg.): Au sujet de Shoah. Le film de Claude Lanzmann. Paris: Belin 1990, S. 55–145 sowie dies.: „Im Zeitalter der Zeugenschaft: Claude Lanzmanns Shoah“. In: Ulrich Baer (Hg.), »Niemand zeugt für den Zeugen«. Erinnerungskultur nach der Shoah, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 173–196, sowie durch ihre Forschungen über Fragezusammenhänge zwischen Trauma, Zeugenschaft und dem juristischen Dispositiv des Prozesses (dies.: The Juridical Unconscious. Trials and Trauma in the Twentieth Century, Boston: Harvard University Press 2002). In diesem Buch bringt sie in erhellender Weise unterschiedliche Prozesse in eine Konstellation: So zum Beispiel den Fall O. J. Simpson und Tolstois Kreutzersonate, die einer ausführlichen Diskussion des Eichmann-Prozesses und der Art und Weise, wie Hannah Arendt von diesem berichtet, voranstehen. Felmans Arbeit ist durch eine spezielle Art des close reading charakterisiert, die nicht zuletzt immer schon reflektiert, dass es keine Sprache über das Trauma geben kann, die nicht selbst traumatisiert wäre, d. h. dass es keine Metasprache über das Trauma, keine Trauma-Theorie im eigentlichen Sinne geben kann. Dieser Aspekt wird für meine eigene Auseinandersetzung, mit der Freudschen Elaboration des psychoanalytischen Begriffs des Traumas eine wichtige Rolle spielen. 4 Auf die drohende Gefahr der Universalisierung des Traumas hat insbesondere Dominick LaCapra: Writing History, Writing Trauma. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2001 hingewiesen. Vgl. für die Diskussion im deutschsprachigen Bereich Sigrid Weigel: „Téléscopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur“. In: Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle, Sigrid Weigel (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deu-

1 Das Trauma zwischen Ereignis und Struktur

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Meine eigene Arbeit verdankt diesen genannten Forschungen viele wichtige Einsichten. Mehr jedoch als dies in den erwähnten amerikanischen Studien der Fall ist, liegt hier der Akzent der Analyse auf Wort und Klang derjenigen Texte, die im Zentrum meiner Untersuchung stehen.5 In Anlehnung an Roman Jakobsons Begriff der poetischen Funktion der Sprache6 nenne ich diese Ebene die „literarische“. Sie findet sich auch in nicht-literarischen Texten, es kommt allein darauf an, sie durch eine bestimmte Lesepraxis vernehmbar zu machen. Mit dieser Aufmerksamkeit nähere ich mich unterschiedlichen literarischen Erzählungen vom Überleben der Shoah. Dabei interessiert mich insbesondere der in zeitlicher und räumlicher Hinsicht irreparabel dissoziierte Blick auf die Realität des nationalsozialistischen Lagersystems. Die spezifische Herausforderung bestand darin, ebenso Skylla wie Charybdis zu umschiffen: die Skylla, das Trauma auf das Ereignis zu reduzieren und dabei die Dynamik des literarischen Zeichenspiels zu verkennen; und die Charybdis, durch Fokussierung auf eine rein strukturelle, tendenziell universell gültige Dimension des Traumas auszublenden, dass die nationalsozialistische Vernichtungspolitik ein unvergleichbares manmade disaster darstellt. Der Korpus, mit dem ich mich in meiner Arbeit beschäftige, besteht maßgeblich aus literarischen Texten, die sich mit den nationalsozialistischen Lagern auseinandersetzen: mit dem Überleben im Lager und dem Überleben der Lager in unserer Gegenwart. Durch die Wahl mittlerweile kanonischer Autoren der Holocaust-Literatur – Levi, Kertész, Sebald – ist der historische Gegenstandsbezug klar markiert. Mit dem Trauma-Begriff geht es mir nicht darum, diese kanonischen Texte auf ihre in ihnen erzählte Geschichte von erfahrenem Terror, von

tungsmuster. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1999, S. 51–76 sowie Birgit R. Erdle: „Das Trauma im gegenwärtigen Diskurs der Erinnerung“. In: Sigrid Weigel, Gerhard Neumann (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München: Fink 2000, S. 259–274, hier: S. 268. Erdle argumentiert, dass der universalisierende, in reiner Nachträglichkeit aufgehende Trauma-Diskurs die wirklichen Ereignisse verdecke und dadurch wie ein Abwehrschirm wirke. Zu bedenken ist aber umgekehrt, ob es einen direkten, ohne Abwehrschirme agierenden Zugang zu den „wirklichen Ereignissen“ überhaupt geben kann; ein Schirm deckt ab, macht aber stets auch etwas sichtbar. 5 In dieser Hinsicht mag das eigene Vorgehen der Arbeit von Michael G. Levine am nächsten stehen, der einen psychoanalytisch zugespitzten Trauma-Begriff – vor allem die paradoxe Zeitlichkeit der Nachträglichkeit – für sein close-reading von Texten von Art Spiegelman, Christa Wolf, Cynthia Ozick und Paul Celan fruchtbar gemacht hat, vgl. ders.: The Belated Witness. Literature, Testimony, and the Question of Holocaust Survival. Stanford: Stanford University Press 2006. 6 Roman Jakobson: „Linguistik und Poetik“. In: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 83–121.

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I Zur Genese des ‚traumatisierten Raums‘

körperlicher und psychischer Versehrung, von Sprach- und Erinnerungsverlust zu lesen – dies ist zur Genüge getan worden. Vielmehr möchte ich – ausgehend von einem Trauma-Begriff, den ich aus der Relektüre entscheidender Passagen Freuds gewinne – diese Texte neu lesen und sie öffnen in Hinblick auf die Frage nach ihrem spezifischen sprachlichen Umgang mit diesen Erfahrungen. Diese Fokussierung impliziert eine Akzentverschiebung von der HolocaustLiteratur auf die Holocaust-Literatur. Eine dominante Tendenz innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Holocaust-Literatur steht freilich unter dem Gewicht des Worts ‚Holocaust‘: Sie untersucht die Literatur hauptsächlich in Hinblick auf ihren dokumentarischen Wert.7 Literatur nimmt in solcher Perspektive Belegcharakter für eine wesentlich historiographisch ausgerichtete Untersuchung an. Sie ergänzt die Historiographie um die Perspektive des Einzelnen, dessen Verletzung, dessen Schmerz, dessen Ringen um sprachlichen Ausdruck. Dazu hat nicht zuletzt das starke Interesse am Begriff der Zeugenschaft im Feld literarischer Repräsentation von Krieg, Gewalt und Genozid beigetragen.8 Solchermaßen orientierte Arbeiten sind zuweilen von einer rational distanzierten, zuweilen von einer empathisch mitfühlenden Perspektive geprägt, wobei diese Haltungen weitgehend unversöhnt einander gegenüber stehen. Während erstere, meist recht unreflektiert, eine vermeintlich unversehrte, vom vernichtenden Ereignis unberührte Perspektive der Betrachtung einzunehmen meint, neigt letztere dazu, sich der traumatischen Übertragung identifikatorisch, gleichsam ohne Distanznahme auszusetzen.9

7 Darin wird in den meisten Fällen die Bedeutung von Literatur gesehen: nämlich vom Traumatischen eine Erfahrung zu geben. Vgl. dazu die Stellungnahme von Geoffrey H. Hartman: „Literary verbalization […] still remains a basis for making the wound perceivable and the silence audible“, siehe ders.: „Holocaust-Testimony, Art, and Trauma“. In: ders.: The Longest Shadow, S. 151–173; des Weiteren auch ders.: „Trauma Within the Limits of Literature“. In: European Journal of English Studies, Band 7 (2003), Nr. 3, S. 257–274, hier: S. 259. 8 Hierfür stehen im romanistischen Umfeld beispielsweise die Forschungen von Catherine Coquio (Hg.): Parler des camps, parler des génocides. Paris: Albin Michel 1999; von Silke SeglerMeßner: Archive der Erinnerung. Literarische Zeugnisse des Überlebens nach der Shoah in Frankreich. Köln, Weimar: Böhlau 2005; von Isabella von Treskow: Judenverfolgung in Italien (1938–45) in den Romanen von Marta Ottolenghi Minerbi, Giorgio Bassani, Francesco Burdin und Elsa Morante Fakten, Fiktion, Projektion. Wiesbaden: Harrassowitz 2013; ferner die Sammelbände von Joseph Jurt (Hg.): Die Literatur und die Erinnerung an die Shoah. Freiburg: Frankreich-Zentrum der AlbertLudwigs-Universität 2005; Silke Segler-Meßner, Monika Neuhofer, Peter Kuon (Hg.): Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945. Frankfurt a. M., Berlin, Bern: Peter Lang 2006. 9 Ein radikaler Kritiker letzteren Ansatzes ist LaCapra, der in solch identifikatorischer Hinwendung eine sekundäre Form der Traumatisierung bzw. Retraumatisierung erkennt, die es zu vermeiden gilt. Er selbst wiederum neigt allerdings zu einer einseitig historisierenden, rationalisie-

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Verschiebt man indessen von vornherein den Akzent innerhalb der Holocaust-Literatur auf die Holocaust-Literatur, bleibt einerseits auf der Ebene der histoire der historische Bezug zum Ereignis gegeben, andererseits liegt der Fokus nun auf der Ebene des discours: Auf dieser werden sowohl die Techniken der Repräsentation des Ereignisses als auch insbesondere jene Dynamiken verhandelt, die bezüglich der repräsentativen und referentiellen Funktion des sprachlichen Zeichens einen Widerstand bilden, die Rede zum Stocken bringen, das Verstummen hörbar machen und selbst nur im Rückbezug auf die strukturelle Dimension des Trauma-Begriffs ergründet werden können. Eine solche Methode des Lesens konturiert – und im Feld der HolocaustLiteratur ist dies nicht selbstredend – Literatur nicht nur als Medium der Darstellung, sondern vor allem auch als experimentellen Zeichenraum, in dem immer wieder neue Haltungen bezüglich der geschilderten traumatischen Erfahrung erprobt werden. Mit dieser Herangehensweise stellt sich mein Verfahren kritisch gegen eine Normalisierung und Historisierung von traumatischen Darstellungen durch die Wissenschaft. Zugleich geht es mir auch darum, der entgegengesetzten Gefahr zu widerstehen, in eine schlechterdings traumatische Lektüreart zu verfallen. Doch zugleich muss genau dieses Risiko in Kauf genommen werden. Denn insofern sich meine Lektüre auf die dem Trauma eigene Wiederholung einlassen muss, um über dieses etwas aussagen zu können, agiert sie unvermeidlich aus einem Übertragungsprozess heraus, den es, soweit dies möglich ist, stets mitzureflektieren gilt. Ich versuche also, die sprachtheoretischen, zeit- und raumlogischen Pointen, die der strukturelle und transhistorisch angelegte Trauma-Begriff vor allem in der psychoanalytischen Elaboration durch Freud und Lacan erfahren hat, im Lesen von ausgewählten Texten über die nationalsozialistischen Lager zu aktualisieren. Wenn in diesem Feld trotz der psychanalytisch informierten Beiträge nichtsdestoweniger ein ereignisorientierter Trauma-Begriff vorherrscht, so mag dies maßgeblich und meist unreflektiert auf die positivistische, psychiatrische Ätiologie der „posttraumatischen Belastungsstörung“ zurückzuführen sein, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg für die gesellschaftspolitisch relevante Definition der Opfer des Holocaust und die damit verbundenen Entschädigungsforderungen und -leistungen ins Spiel gebracht worden ist.10 So berechtigt dieses Konzept sein

renden Betrachtung des Traumas (vgl. ders.: Representing the Holocaust: History, Theory, Trauma. Ithaca, New York: Cornell University Press 1994, v. a. S. 198). 10 Vgl. dazu José Brunner, Nathalie Zajde (Hg.): Holocaust und Trauma. Kritische Perspektiven zur Entstehung und Wirkung eines Paradigmas. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 39 (2011). Göttingen: Wallstein 2011, darin insbesondere Nathalie Zajde: „Die Schoah als Paradigma des psychischen Traumas“, S. 17–39. Nebenbei sei hier bemerkt, dass der Begriff des „Posttraumati-

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mag, um innerhalb einer Gesellschaft eine ökonomische Ordnung zu etablieren, die den Opfern wenigstens ansatzweise durch die offizielle Anerkennung ihres Opferstatus Gerechtigkeit zukommen lässt, so ungeeignet ist es jedoch, Prozesse sprachlicher Wiederholung und Durcharbeitung des Traumatischen zu erörtern. Ein Aspekt, der mir insgesamt im Feld von Traumatheorie und Holocaust unterbelichtet erscheint, besteht in der Tatsache, dass das Trauma in Freuds Psychoanalyse zwei unterschiedliche und nur schwer aufeinander beziehbare Artikulationen erfahren hat. Einmal als Affekttheorie – diese ist relativ problemlos in die literatur- und kulturwissenschaftliche Reformulierung des TraumaBegriffs eingegangen –, dann aber auch als Fragestellung, die den in der Psychoanalyse seit je stark umkämpften Triebbegriff betrifft. Für ein hier zu entwickelndes Leseverfahren von Literatur als einem speziellen Einsatz des sprachlichen Zeichens im Umgang mit traumatischen Erfahrungen wird es sich als besonders fruchtbar erweisen, die unter Schock abgespaltenen und verschobenen Affekte, wie sie die traumatische Affekttheorie beschreibt, zusammenzudenken mit der Triebdynamik, die – schreibend, sprechend – um das Trauma kreist und auf dem Weg dieses Kreisens das Trauma in seiner vermeintlichen Eindeutigkeit als eine Zone gegenstrebiger Unentschiedenheit aufklaffen lässt. Um dorthin zu gelangen, gehe ich folgendermaßen vor: In einem ersten Schritt lese ich Freuds gemeinsam mit Josef Breuer verfasste Studien über Hysterie (1895). Die Studien formulieren eine Affekttheorie, die gleichsam den Auftakt der eigentlichen Psychoanalyse bildet. Ich werde in meiner Lektüre den Akzent vor allem auf jene Widersprüche legen, in denen sich die hier vorgestellte, im Wesentlichen noch kathartisch argumentierende Heilungsmethode als ungenügend erweist, dem entdeckten Trauma beizukommen. Freud wird ausgehend vom Widerstand, den das Trauma der Methode stellt, die Psychoanalyse wesentlich weiterentwickeln und über das kathartische Modell hinaustreiben. In einem zweiten Schritt entferne ich mich dann vom psychoanalytischen Diskurs, um die topologische Dimension des Traumas, wie sie sich in den Studien über Hysterie

schen“, der in jüngeren Debatten für die Erkundung der transgenerationellen Übertragung des Traumas eine Konjunktur erlebt (siehe hierzu v. a. die Arbeiten von Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. Visual Culture after the Holocaust. New York: Columbia University Press 2012), für meine Überlegungen nicht wirklich einschlägig sein kann. Denn der Begriff, der für eine Unterscheidung der Qualität des Gedächtnisses an den Holocaust zwischen einer ersten Generation und den nachfolgenden Generationen, die davon immer noch heimgesucht werden, sinnvoll sein mag, läuft auf der anderen Seite das Risiko, das Trauma der ersten Generation mit dem gewaltsamen Ereignis gleichzusetzen und in Folge wiederum die phantasmatische Nachträglichkeit, die das Trauma immer schon auszeichnet – auch in der ersten Generation –, zu verkennen.

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abzeichnet, mit Giorgio Agambens juridisch-politischen Überlegungen zum Lager in Beziehung zu setzen. Damit wird die räumliche Komponente, die in dieser Arbeit eine wichtige Rolle spielt, in die begriffstheoretische Reflexion zum Trauma miteinbezogen. Die Figur der „Ausnahme“, welche sich in der Verbindung von Lager und Trauma aufzwingt, führt dann zur Frage, von welcher Erkenntniswarte eine Artikulation des traumatisierten Raums möglich bzw. notwendig wird. Mit Walter Benjamins „Engel der Geschichte“ wird ein dem Menschen unerreichbares Sprechen und Zeugen in einem „wirklichen Ausnahmezustand“ skizziert, das bezüglich einer rationalisierenden und mithin normalisierenden Rede einerseits und einer retraumatisierten Rede andererseits einen dritten Ort des Sprechens markiert. An diesem dritten Ort des Sprechens sucht sich mein Vorhaben auszurichten, ohne zu behaupten, diesen Ort je einfach besetzen zu können. In der Ausrichtung auf diesen Ort wird die Schrift – die literarische wie auch die wissenschaftliche – zu einem pharmakon, mithin zu einem Mittel, von dem zunächst unentschieden bleibt, ob es heilende oder retraumatisierende Wirkung hat und welches dadurch auch Heilung anders vorzustellen beginnt denn als die Wiedererrichtung eines normalen Zustands. Für die Konzipierung des sprachlichen Zeichens in seiner irreduziblen Instabilität und Unentschiedenheit wird nun der Triebbegriff wichtig, wie ihn Freud vor allem in seiner metapsychologischen Spekulation Jenseits des Lustprinzips (1920) herausgearbeitet hat. Durch die Triebtheorie kann der aus den aktuellen Trauma-Theorie-Diskursen weitgehend ausgeschlossene Aspekt der Sexualität erneut ins Spiel gebracht werden; dieser ist wie der Begriff des Traumas gespalten in zwei Deutungslinien: in Ereignis (der Geschlechtsakt) und Struktur (die Geschlechterdifferenz). Lacans Verdienst ist es, Sexualität in Hinblick auf das Funktionieren des sprachlichen Zeichens reflektiert zu haben, nämlich im Wesentlichen als ein Aufklaffen von Sinn, das gerade dort, wo sich Sinn traumatisch abzuschließen neigt, wiederum eine Öffnung auf Anderes bedingt. In eben diesem Raum wird Literatur als ein Einsatz des sprachlichen Zeichens jenseits repräsentierender, semantischer Festschreibung des Traumas lesbar, als ein performatives Offenhalten des Sinns, als ein Aufschub von Sinn, der gerade dadurch ermöglicht wird, wenn Nicht-Sprachliches – bestimmte stumme Gesten und Tics wie zum Beispiel bei Imre Kertész (siehe Kap. IV.4 und IV.6) – auf die Bühne des Textes dringt. In diesem Aufschub von Sinn wird Zeit gewonnen, kann sich Leben ereignen, ein Leben, das sich trotz allem und zugleich mit allem, was geschehen, und allem, was vernichtet worden ist, Raum bricht. Damit gelangen wir zu einer Schrift des Traumas und zum Trauma als Schrift, die einen Raum eröffnet, der mit den Normalisierungsbestrebungen auf der einen Seite und dem Festhalten an einem Opferstatus auf der anderen Seite nicht mehr vereinbar ist, sondern sich vielmehr als Kraft erweist, die es vermag, die Rhetoriken, die an solche Positionen

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geknüpft sind, aufzustören. Aus dieser Perspektive erweist sich das Trauma nicht als bloße pathologische Bindung an ein unbewältigtes Ereignis, sondern auch als ein Aufruf, weiter zu gehen.

2 Fremdkörper, Ausnahme, Rest Der Begriff des Traumas im Sinne einer psychischen Erschütterung taucht gegen Ende des 19. Jahrhunderts vornehmlich in medizinischen und psychologischen Schriften auf, die sich dem Phänomen der Hysterie widmen, das für die damalige Seelenkunde gleichsam paradigmatischen Charakter hat. Die von Breuer und Freud gemeinsam verfassten Studien über Hysterie entstehen in diesem Kontext. Zwar erscheint hier das Trauma zunächst noch als Synonym für ein extrem erschütterndes, schockhaftes Ereignis, das als realistisches benannt wird, doch sehr bald erweist es sich als ein grundsätzliches Rätsel, welches das Verhältnis der Psyche zur Realität überhaupt betrifft. In ihrer „Vorläufigen Mitteilung“, die mit dem Titel „Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene“ überschrieben ist, äußern Breuer und Freud zunächst einmal ihr Erstaunen darüber, dass zwischen einem Unfall (der in den meisten Fällen keine oder höchstens geringfügige und schnell verheilende körperliche Verletzungen implizierte und selbst häufig in Vergessenheit geraten ist, was den Unfall gleichsam zu einem Un-Fall werden lässt) und einer Serie von sich wiederholenden Anfällen ein extremes „Missverhältnis“ bestehe: ein Missverhältnis zwischen einem einmalig erlebten bzw. erlittenen Ereignis oder Zusammenstoß und einer anhaltenden Wiederholung desselben auf der Ebene des Symptoms.11 Breuer und Freud bemerken des Weiteren, dass selbst auch „scheinbar gleichgültige Umstände“ einen solchen Schock auslösen können. Sie schlussfolgern, dass der Modus des Zusammentreffens eines wie auch immer gearteten Ereignisses mit einer besonders reizbaren Psyche entscheidend sei für die Ausbildung eines psychischen Traumas.12 In der Tat könne als psychisches Trauma „jedes Erlebnis wirken, welches die peinlichen Affekte des Schreckens, der Angst, der Scham, des psychischen Schmerzes hervorruft, und es hängt begreiflicherweise von der Empfindlichkeit des betroffenen Menschen […] ab, ob das Erlebnis als Trauma zur Geltung kommt“.13 Entscheidend für die Ausbildung eines Traumas ist demnach nicht so sehr das Ereignis an sich, sondern die Empfindlichkeit 11 Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien über Hysterie (1895). Einleitung von Stavros Mentzos. Frankfurt a. M.: Fischer 42000, S. 28f. 12 Vgl. ebda., S. 30. 13 Vgl. ebda., S. 29f.

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und Reizbarkeit der betroffenen Psyche. Zur Ausbildung des Traumas komme dann eine zweite Bedingung, nämlich der Umstand hinzu, dass die erwähnten peinlichen Affekte im Moment des Erlebens nicht zum Ausdruck gelangen konnten, dass mithin eine „adäquate Reaktion“14 auf das Erlebnis ausgeblieben war. Mit anderen Worten: Ein oder mehrere starke Eindrücke hätten sich ihrer „normalen Erledigung“ entzogen.15 Es ist, als führe die Stärke des Affekts, die einen Schock auslöst, genau zu ihrem Gegenteil: nämlich zu einer zumindest vorübergehenden Affektlosigkeit, die das so stark wirkende Ereignis in Vergessenheit fallen lassen soll. Nichtsdestoweniger, aber an anderer Stelle, blieben, so Breuer und Freud, die unterdrückten Affekte, abgespalten vom Ereignis ihrer Veranlassung, „in wunderbarer Frische und mit ihrer vollen Affektbetonung durch lange Zeit erhalten“.16 Diese „Spaltung des Bewußtseins“17 habe unter anderem zur Folge, dass sich Affektausbrüche zeitlich und kontextuell verschöben und scheinbar gänzlich unmotiviert ereignen könnten. In solcher Weise der rechtzeitigen Abreaktion entzogen und „in Ausnahmsstellung zur Usur“18 stehend, wirke das psychische Trauma in der Psyche „nach Art eines Fremdkörpers“ und müsse „noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens gelten“.19 Es zeichnet sich an dieser Stelle eine für das Trauma spezifische Zweizeitigkeit ab: Ein Ereignis hat unwiderruflich stattgefunden; nach einer Phase der Latenz und scheinbaren Affektlosigkeit manifestieren sich die Affekte nachträglich, zur unrechten Zeit, am unrechten Ort.20

14 Ebda., S. 32. 15 Ausführlich äußert sich Freud zu dieser gestörten Ökonomie in der 18. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17): „Der Ausdruck traumatisch hat keinen anderen als einen solchen ökonomischen Sinn. Wir nennen so ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal-gewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen“ (Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Studienausgabe, Band I, S. 274f.). 16 Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien über Hysterie, S. 33. 17 Ebda., S. 35. 18 Ebda., S. 34. 19 Ebda., S. 30. 20 Diese Vorstellung wird zwar ergänzt und damit verkompliziert durch die Entdeckung des Todestriebs (siehe weiter unten), nichtsdestoweniger hält sie sich durch Freuds gesamtes Werk und wird zuletzt noch einmal in seiner letzten Abhandlung Der Mann Moses und die monotheistische Religion prominent gemacht, um durch die Anführung des Latenzbegriffs seine geschichtsphilosophische Spekulation über den jüdischen Monotheismus als Ableitung aus der ägyptischen Atonreligion zu unterstützen: „Es ereignet sich, daß ein Mensch scheinbar unbeschädigt die Stätte verläßt, an der er einen schreckhaften Unfall, z. B. einen Eisenbahnzusammen-

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Es ist wichtig zu unterstreichen, dass der Fremdkörper, von dem Breuer und Freud an dieser Stelle sprechen, nicht das eigentliche Ereignis, sondern die ungebundenen Affekte betrifft. Diese entscheidende Verschiebung verkompliziert die Vorstellung von Kausalität: Aber der kausale Zusammenhang des veranlassenden psychischen Traumas mit dem hysterischen Phänomen ist nicht etwa von der Art, daß das Trauma als Agent provocateur das Symptom auslösen würde, welches dann, selbständig geworden, weiter bestände. Wir müssen vielmehr behaupten, daß das psychische Trauma, respektive die Erinnerung an dasselbe, nach Art eines Fremdkörpers wirkt, welcher noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muß.21

Bemerkenswert ist die Bedeutungsverschiebung von der Vorstellung, dass ein Ereignis nach Art eines „Agent provocateur“ in der Psyche Symptome hervorrufe, zur Vorstellung vom psychischen Trauma als „gegenwärtiges Agens“. Diese Verschiebung bedingt zweierlei: Erstens fällt die Historisierbarkeit des veranlassenden Ereignisses dadurch aus; zweitens erweist sich das Trauma als mehr als eine Reihe von Symptomen, weshalb es auch nicht genügt, die Symptome zu bekämpfen, um dem Trauma beizukommen. Wie aber begegnet die Psychoanalyse in dieser Phase ihres Entstehens dem Trauma? Die neue Behandlungsmethode verspricht Heilung, wo die bisherigen psychiatrischen Methoden versagt haben. Über eine hypnotisch eingeleitete Wiedererinnerung an das veranlassende Ereignis sollen die mit diesem verbundenen Affekte noch einmal wachgerufen und über die ihnen verliehenen Worte nachträglich und nun für immer abgeführt werden. In den Worten Breuers und Freuds wird diese Möglichkeit zunächst wie die endgültige Lösung des Problems vorgestellt: Es ist nun verständlich, wieso die hier von uns dargelegte Methode der Psychotherapie heilend wirkt. Sie hebt die Wirksamkeit der ursprünglich nicht abreagierten Vorstellung dadurch auf, daß sie dem eingeklemmten Affekte derselben den Ablauf durch die Rede

stoß, erlebt hat. Im Laufe der nächsten Wochen entwickelte er aber eine Reihe schwerer psychischer und motorischer Symptome, die man nur von seinem Schock, jener Erschütterung oder was sonst damals gewirkt hat, ableiten kann […]. Dort begegnen uns wieder das Phänomen der Latenz, das Auftauchen unverständlicher, Erklärung heischender Erscheinungen und die Bedingung des frühen, später vergessenen Ereignisses“ (ders.: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Studienausgabe, Band IX, S. 457–581, hier: S. 516 und 521). Vgl. darüber hinaus allgemein zum Latenzbegriff Anselm Haverkamp: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002 sowie Stefanie Dieckmann, Thomas Khurana (Hg.): Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff. Berlin: Kadmos 2007. 21 Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien über Hysterie, S. 30.

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gestaltet, und bringt sie zur assoziativen Korrektur, indem sie dieselbe ins normale Bewußtsein zieht (in leichter Hypnose) oder durch ärztliche Suggestion aufhebt, wie es im Somnambulismus mit Amnesie geschieht.22

Dieses Verfahren ist als kathartische Methode berühmt geworden. Es besteht im Wesentlichen darin, die Affektverstellung wieder rückgängig zu machen, die Affekte an ihren ursprünglichen Ort zu binden und auf diese Weise zu rationalisieren.23 Freuds Weiterentwicklung der Psychoanalyse nach den Studien über Hysterie hat sich indessen wesentlich davon entfernt. Warum kam es dazu, wenn doch hier schon die Lösung gefunden worden war? Mit der oben zitierten, apodiktischen Zusammenfassung des therapeutischen Verfahrens war jedoch nicht das letzte Wort gesprochen. In der „Vorläufigen Mitteilung“ folgen darauf noch zwei weitere, kurze Abschnitte, die sich in nicht weiter thematisierte, aber entschieden ungelöste Widersprüche verstricken. Es lohnt sich, diese Passage im Detail zu kommentieren: [1. Satz]: Wir halten den therapeutischen Gewinn bei Anwendung dieses Verfahrens für einen bedeutenden. –

Soweit so gut. [2. Satz]: Natürlich heilen wir nicht die Hysterie, soweit sie in Disposition ist, wir leisten ja nichts gegen die Wiederkehr hypnoider Zustände [d. h. hysterischer Anfälle].

Die angekündigte heilende Wirkung des Verfahrens, die zur Arretierung der Anfälle führen soll, wird nicht nur zurückgenommen, sondern das Phänomen der Wiederkehr selbst wird gleichsam als nebensächliches heruntergespielt. Die Einschränkung geht weiter: [3. Satz]: Auch während des produktiven Stadiums einer akuten Hysterie kann unser Verfahren nicht verhüten, daß die mühsam beseitigten Phänomene alsbald durch neue ersetzt werden.

Das Verfahren wird durch weitere Symptombildung durchkreuzt. Es folgt erneut eine argumentative Wende:

22 Vgl. ebda., S. 40. 23 Vgl. dazu Martin von Koppenfels: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München: Fink 2007, S. 46, der darin das aristotelische Erbe, das im Wort Katharsis anklingt, auch erfüllt sieht: Heilung wird verstanden als die Restitution einer Topik der Affekte.

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[4. Satz]: Ist aber dieses akute Stadium abgelaufen und erübrigen noch die Reste desselben als hysterische Dauersymptome und Anfälle, so beseitigt unsere Methode dieselben häufig und für immer, weil radikal, und scheint uns hierin die Wirksamkeit der direkten suggestiven Aufhebung, wie sie jetzt von den Psychotherapeuten geübt wird, weit zu übertreffen.24

Die Vorstellung einer endgültigen Heilung setzt sich erneut durch, wird allerdings auf eine unbestimmt gelassene, spätere Verlaufsphase der Hysterie verschoben. Darüber hinaus frappiert die Spannung zwischen den Signifikanten des Bleibens („erübrigen“, „Reste“, „Dauersymptome“) und den Bekundungen, dass diese Reste „häufig“, „für immer,[…] radikal“ beseitigt werden könnten. Die Wendung „Dauersymptome für immer beseitigen“ bildet nichts weniger als eine contradictio in adiecto. Jedenfalls bleibt darin offen, ob das Dauernde nicht zuletzt doch noch das letzte Wort über ein an Aristoteles’ Tragödienpoetik geschultes, kathartisches Verfahren behält. In der Tat ist bekannt, dass die Fallgeschichten, die das therapeutische Verfahren illustrieren sollen, nicht alle zu jenem erfolgreichen Abschluss gefunden haben, den ihre Darstellung suggeriert.25 Dass der Ausgang der Kur nicht vorhersagbar ist, hat im Wesentlichen mit dem irreduzibel doppelten Charakter von Wiederholung zu tun, die gleichermaßen an der Pathogenese wie auch an der Therapie beteiligt ist. Die hysterische Reproduktion der traumatischen Urszene ringt mit der Reproduktion derselben Szene durch den Analytiker. Während erstere zur immer wieder erneuten Reproduktion strebt, intendiert letztere die Hervorbringung einer abschließenden Reproduktion.26 Eben diese gegeneinanderstehenden Wiederholungsdynamiken haben sich unversöhnt in die Formulierungen, welche die „Vorläufige Mitteilung“ abschließen und zugleich als nur vorläufige ausstellen, eingetragen. Als eigentliches Ergebnis der Studien über Hysterie wäre damit festzuhalten: Es bleibt stets ein Rest, der sich der Ökonomie der Abreaktion entzieht und unbeeinträchtigt davon weiter insistiert. Das vorgestellte Verfahren stößt hier an seine Grenze. Die Genese der Psychoanalyse ist noch nicht an ihr Ende gekommen. Dem Unbewussten, das sie als ihr Feld entdeckt hat, ist durch das kathartische, im Wesentlichen mimetische Verfahren der Abreaktion nur bedingt beizukommen. Die der aristotelischen Tragödie zugrunde liegende Poetik, auf die das erste

24 Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien über Hysterie, S. 41. 25 Bekannt und diskutiert ist dies insbesondere für den durch Breuer vorgestellten Fall von Anna O.; vgl. Richard A. Skues: Sigmund Freud and the History of Anna O.: Re-Opening a Closed Case. Basingstoke, New York: Palgrave, Macmillan 2006. 26 Vgl. Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne. Berlin: Verlag Volk und Welt 1998, S. 74.

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Verfahren implizit rekurrierte, vermag es nicht, die Nachträglichkeit des Affekts in den Begriffen der anagnorisis und der lysis gänzlich aufzufangen. Durch seine dezidierte Abwendung von der Hypnose wird Freud dieses mimetische Modell verabschieden und stattdessen den Akzent auf das diegetische Prinzip der Erzählung setzen, das durch die ihm inhärente Dynamik des Aufschubs das geschlossene Modell der Tragödienpoetik sprengt.27 Auf die Studien über Hysterie zurückblickend unterstreicht Freud in seinem Essay „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ aus dem Jahre 1914 die großen Veränderungen, welche die analytische Kur seither erfahren hatte. Während die Studien noch weitgehend auf „die Situationen der Symptombildung“ eingestellt waren, d. h. auf eine Rekonstruktion, ein Erraten eines wie auch immer gearteten traumatischen Ursprungs, hat sich nun der Fokus auf das „Durcharbeiten“ der Widerstände verschoben, die im Wesentlichen als sprachliche, also in der Redekur selbst auftauchende Faktoren gefasst werden.28 Damit ist ein Verfahren formuliert, bei welchem der Analytiker auf die Einstellung eines bestimmten Moments oder Problems verzichtet und stattdessen seine Deutungskunst vor allem dazu benützt, die in der Erzählung des Analysanden hervortretenden Widerstände zu erkennen und diesem bewusst zu machen, indem er das darin latent Mitgesprochene für ihn hörbar werden lässt. Doch kehren wir noch einmal an den Anfang zurück und verfolgen wir dessen immediate Revidierung durch Freud. Einschlägig ist hier insbesondere der zwei Jahre nach Erscheinen der Studien, nun ohne Breuer verfasste Beitrag „Zur Psychotherapie der Hysterie“.29 Besonders aufschlussreich für die Genese des Konzepts des traumatisierten Raums ist Freuds Problematisierung der Vorstellung vom psychischen Trauma als einem „Fremdkörper“. So bemerkt er, dass ein Fremdkörper im Gegensatz zum psychischen Trauma keinerlei Verbindung mit den ihn umlagernden Gewebsschichten ein[geht] [, dass] unsere pathogene Gruppe sich hingegen nicht sauber aus dem Ich herausschälen [läßt], ihre äußeren Schichten gehen allseitig in Anteile des normalen Ich über, gehören letzterem eigentlich ebenso sehr an wie der pathogenen Organisation. Die Grenze zwischen beiden wird bei der Analyse rein konventionell, bald hier, bald dort gesteckt, ist an einzelnen Stellen wohl gar nicht anzugeben. […] Die pathogene Organisation verhält sich nicht eigentlich wie ein Fremdkörper, sondern weit eher wie ein Infiltrat.30

27 Vgl. auch von Martin von Koppenfels: Immune Erzähler, S. 26. 28 Siehe Sigmund Freud: „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“. In: Studienausgabe, Ergänzungsband, S. 205–215, hier: insbesondere S. 215. Erste Formulierungen zur Bedeutung des Widerstands finden sich aber auch schon in seiner 1895 verfassten Schrift „Zur Psychotherapie der Hysterie“. In: Josef Breuer, Sigmund Freud, Studien über Hysterie, S. 271–322. 29 Sigmund Freud: „Zur Psychotherapie der Hysterie“, S. 271–322. 30 Ebda., S. 307.

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Während die Wahl des Begriffs „Fremdkörper“, der in der „Vorläufigen Mitteilung“ noch ein zentraler Begriff war, suggeriert, dass das Trauma ein klar umrissenes Phänomen ist, das als solches benannt, erkannt und nach chirurgischer Manier „exstirpiert“31 oder an richtiger Stelle wieder in den Organismus reintegriert werden kann, laufen solche Vorstellungen angesichts des hier nun eingeführten Begriffs des „Infiltrats“ ins Leere. Im „Infiltrat“ erscheinen Fremdes und Eigenes ununterscheidbar voneinander durchdrungen. Somit kann ein chirurgischer Gestus hier nichts mehr ausrichten. Der Begriff des Infiltrats verkompliziert die räumliche Vorstellung des Traumatischen in entscheidender Weise. Er zeigt, dass es – nun auch räumlich betrachtet – unmöglich geworden ist, das Trauma zu lokalisieren.32 Vom Infiltrat zurückgehend auf die anfängliche Definition des Traumas als in „Ausnahmsstellung“ stehend,33 erfährt nun auch diese Lesart eine verschärfte Bedeutung: Aus den normalen psychischen Abläufen herausgenommen hat das Trauma als eine symptomatische Kompromisslösung, die Außen und Innen, das Eigene und das Fremde, das Stabilisierende und das Bedrohliche ineinander verschränkt und zusammenbindet, die Psyche ganz durchdrungen.

3 Zone Lager. Von den Orten des Verbrechens zum traumatisierten Raum An diesem Punkt der psychoanalytischen Genese des Traumabegriffs zeichnet sich eine Topologie ab, die in verblüffender Weise an jene gemahnt, die Giorgio Agamben in seinem philosophischen Essay Homo sacer dem Konzentrationslager zugrunde gelegt hat. Ohne je auf den psychoanalytischen Traumabegriff zu rekurrieren, zeigt Agamben aus politisch-juridischer Perspektive, wie die Figur der Ausnahme – als einer spezifischen Form der Unterminierung von Ordnung und Ortung unter dem Anschein ihrer Aufrechterhaltung – in den modernen europäischen Staaten zur Entstehung anomischer Räume geführt hat. In diesem Zusammenhang identifiziert er innerhalb der politischen Ordnung der Moderne das Lager als deren permanente Ausnahme. Er argumentiert, dass innerhalb der politischen Ordnung das Lager dann entstehe, wenn der politische Ausnahme-

31 Ebda. 32 Nichtsdestoweniger hat sich in der psychoanalytisch informierten geisteswissenschaftlich ausgerichteten Traumatheorie, auf die ich eingangs Bezug genommen habe, vor allem die Rede vom Fremdkörper durchgesetzt. Vgl. dazu zum Beispiel den Gebrauch des Worts bei Sigrid Weigel: „Téléscopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur“. 33 Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien über Hysterie, S. 34.

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zustand zur Regel werde. Er deutet damit an, dass sich in der Ausnahme diejenigen Grenzen auflösen, die normalerweise einen Ort definieren. Das Lager gilt ihm als die räumliche Materialisierung des Ausnahmezustands, was dazu auffordert, es in seiner prinzipiellen Entortung und Entgrenzung zu denken, als einen Raum, in dem Innen und Außen, Ausnahme und Regel, Erlaubtes und Unerlaubtes ununterscheidbar werden: Man muß den paradoxen Status des Lagers von seiner Eigenschaft als Ausnahmeraum her denken: Es ist ein Stück Land, das außerhalb der normalen Rechtsordung gesetzt wird, deswegen jedoch nicht einfach Außenraum ist. Was in ihm ausgeschlossen wird, ist nach der etymologischen Bedeutung von ex-ceptio herausgenommen (ex-capere), eingeschlossen mittels seiner eigenen Ausschließung. Was aber auf diese Weise vor allem in die Ordnung hineingenommen wird, ist der Ausnahmezustand selbst. […] Wer das Lager betrat, bewegte sich in einer Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Außen und Innen, Ausnahme und Regel, Zulässigem und Unzulässigem […].34

Als absoluter Ausnahmeraum erweist sich das Lager topologisch grundsätzlich verschieden von einem einfachen Haftraum.35 Agamben erkennt in dieser eigentümlich entgrenzten Topologie vor allem eine unabschließbare Metamorphose, durch die aus dem Lager ständig neue Orte der Einschließung und Ausschließung zu erwachsen drohen.36 Er überträgt damit, ohne dies weiter zu begründen, eine von ihm zunächst synchronisch analysierte räumliche Struktur auf ein diachronisch postuliertes geschichtliches Muster. Lesen wir Agambens topologische Ausführungen vor dem Hintergrund der Freudschen Überlegungen zur Struktur des Traumas, so zeichnet sich jedoch ab, dass dem Lager als Ausnahmeraum selbst schon eine traumatische Struktur eingeschrieben ist und zugleich auch, dass die politisch-juridischen Voraussetzungen des Lagers immer schon dazu beizutragen scheinen, dass das Lager zum traumatischen Raum mutiert. Insofern es zu keinem bestimmten und historisch datierbaren Zeitpunkt institutionell eingerichtet worden ist, wie Agamben zeigt, ist es auch zu keinem bestimmten und historisch datierbaren Zeitpunkt abgeschafft worden. Agamben erkennt daher in den zeitgenössischen Auffang- und Flüchtlingslagern eine Form, in der die nationalsozialistischen Lager bis heute nachleben. Damit hat er sich nachhaltig den Vorwurf fehlender historischer Perspektive eingehandelt.37 Ein solcher Vorwurf verkennt jedoch, dass Agambens

34 Giorgio Agamben: Homo Sacer, S. 179. 35 Vgl. ebda., S. 24. 36 Vgl. ebda., S. 195ff. 37 Eingehende Auseinandersetzungen mit Agambens Thesen finden sich u. a. bei Thomas Lemke: „Die Regel der Ausnahme. Giorgio Agamben über Biopolitik und Souveränität“. In: Deutsche

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theoretische Geste von vornherein gegen ein historisierendes Denken gerichtet ist und vielmehr das Lager in seiner traumatischen Dimension – das Lager als Phantasma – im eigenen Denken produktiv werden lässt. Mein eigener Einwand gegenüber Agamben betrifft demgegenüber die Tatsache, dass er dies nirgends offen zu erkennen gibt. Hätte sich Agamben von vornherein klar – z. B. mit Bezug auf die Psychoanalyse oder auch auf Theorien des Simulakrums38 – zu einer Arbeit an einem Geschichtsphantasma bekannt, für welche seine Überlegungen nämlich ausgesprochen fruchtbar sind, dann wäre die Diskussion um seinen Beitrag vermutlich ergiebiger und weniger polemisch verlaufen. Für mein Anliegen ist insbesondere die von Agamben beobachtete Hybridisierung des Lagerraums entscheidend. Der Innenraum des Lagers und der Außenraum der zivilen Welt können in gewisser Hinsicht, obwohl und weil sie wie gänzlich getrennte Welten erscheinen, zwischen denen es keinen Übergang gibt, nicht mehr klar voneinander geschieden werden. Als einander fremde Welten sind sie ineinander geschoben und bilden, um den Freudschen Begriff wieder aufzunehmen, eine Art traumatisches Infiltrat. Mein Konzept des traumatisierten Raums verdankt sich der Engführung von Agambens Ausnahme- und dem Freudschen Traumabegriff. Der traumatisierte Raum bezeichnet also nicht die historischen Orte der Verbrechen. Er will keine historiographisch haltbare Topographie des Terrors sein. Er stellt vielmehr ein Beschreibungsmodell dar, mit dem im Kontext der sprachlichen und insbesondere der literarischen Auseinandersetzung mit der Vernichtung Phantasmen, hybride Erscheinungsformen, Grenzverwischungen, Inversionen von Innen und Außen, Heimat und Lager intelligibel gemacht werden können. Der traumatisierte Raum betrifft mithin vor allem hybride Erscheinungsformen: Momente, in denen Nicht-Zusammenpassendes plötzlich zusammenstößt und in denen das Denken in geordneten Zusammenhängen und Analogien ebenso suspendiert ist wie die Möglichkeit unmittelbar hermeneutischer Annäherung. Es sind Szenen, manchmal auch nur ein Syntagma, ein Wort oder ein Name, welche die Betrachter oder

Zeitschrift für Philosophie, 6 (2004), S. 943–963; Maria Muhle: „Biopolitik versus Lagerparadigma. Eine Diskussion anhand des Lebensbegriffs bei Agamben und Foucault“. In: Ludger Schwarte (Hg.), Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas. Bielefeld: transcript 2007, S. 78–95; Gerald Hartung: „Das Lager als Matrix der Moderne? Kritische Reflexionen zum biopolitischen Paradigma“. In: ebda., S. 96–110; Wolfgang Pircher: „Lager und Belagerung. Zur Geschichte des Ausnahmezustandes“. In: ebda., S. 110–132. 38 Ich denke hier vornehmlich an Derridas Begriff des Simulakrums, man könnte aber auch an Klossowskis, an Nietzsche geschulte „Wissenschaft des Scheins“ denken, die das Phantasma als das immer schon der Realität vorgängige ausweist. Vgl. dazu Cornelia Klettke: Simulakrum Schrift. Untersuchungen zu einer Ästhetik der Simulation bei Valéry, Pessoa, Borges, Klossowski, Tabucchi, Del Giudice, De Carlo. München: Fink 2001, S. 86–139.

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Leser aufstören und diese auffordern, die eigenen vorgefassten Meinungen und Denkschemata zu hinterfragen, ob sich diese nun auf die politische oder die Literaturgeschichte beziehen, oder Institutionen und den Bedeutungen von Namen und Worten gelten.

4 Der Rand als Zone ent-setzten Sprechens Mit dem Konzept des traumatisierten Raums im Feld der literatur- und kulturwissenschaftlichen Holocaust-Studien zu operieren heißt, das erworbene geschichtliche Wissen über die Vernichtung immer wieder neu zu befragen, vor allem in Hinblick auf die darin verdeckte phantasmatische Dimension. Dies impliziert auch, die eigene Erkenntniswarte immer wieder neu zu problematisieren. Welches ist der Ort, von dem aus wir sprechen können, welches der Ort, von dem aus wir sprechen müssen? Während das Verfahren der kathartischen Rede noch von einer gewissen Unverstelltheit des Sagens ausgeht, haben wir es beim traumatisierten Raum mit einem Konzept zu tun, das sich in einer Zone des Randes bewegt, also dort, wo die räumlichen Identitäten zur ungelösten Frage werden und darum stets nur ein versetztes Sprechen über Orte stattfinden kann. Freud hat bald nach der Verabschiedung des hypnotischen Repräsentationsmodells die Notwendigkeit erkannt, die Widerstände, die sich einem direkten und unverstellten Sagen entgegenstellen, durchzuarbeiten. Damit erkennt er an, dass er sich zwangsläufig „an die Peripherie des pathogenen psychischen Gebildes zu halten [hat]“.39 Nun ist es auffällig, dass in allen literarischen Texten, die ich in dieser Arbeit in Betracht ziehe, der unscharfe Rand als Ort der Äußerung eine Rolle spielt und als Zone der Ausfransung eines vermeintlich zeitlich und räumlich festumrissenen Ereignisses selbst zum Thema wird. Am Rand und vom Rand des Lagers zu sprechen, heißt in erster Linie die Erfahrung zu machen, dass der Rand keine eindeutig bestimmbare Grenze bildet, sondern dazu neigt, sich zur Zone mit unbestimmten Grenzen auszuweiten – sowohl nach innen als auch nach außen. Während Primo Levi als überlebender Zeuge der Lager befürchtet, dass seine unvermeidliche Randposition bezüglich des eigentlichen Vernichtungsgeschehens im Lager von den Negationisten als Mangelhaftigkeit seiner Berichterstattung ausgelegt werden könnte, machen Imre Kertész und W. G. Sebald aus unterschiedlichen biographischen Positionen der Äußerung heraus den weit in den Zivilraum sich einfressenden Rand des Lagers zum Hauptgegenstand ihrer Texte. Die Vorstellung, das Zentrum bzw. den Kern des Lagers erfassen zu

39 Sigmund Freud: „Zur Psychotherapie der Hysterie“, S. 309.

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können, ist bei ihnen längst verabschiedet, der Akzent liegt entschieden auf den Auswirkungen des Lagers an den Rändern und dessen Fortsetzungen über die Ränder hinaus. Dies macht aber nicht zuletzt auch schon die eigentliche Dynamik in Levis Texten aus, auch wenn diese nicht seiner Hauptabsicht entspricht (vgl. Kapitel IV dieser Arbeit). Der Rand als Ort des Schreibens setzt die Schrift in eine zwischen Innen und Außen unentschiedene Zone aus. Ein Schreiben, das sich dort ereignet, ist eines der Ausnahme: Es ist weder von der Vernichtung ganz vernichtet noch aus der Selbstgewissheit eines sich als unversehrt wissenden Lebens erwachsen. Es ist eines, das vom Lager erfasst ist, vom Lager belagert ist und das Lager schreibend über seine topographischen Grenzpflöcke hinaus- und in andere Kontexte einschreibt. Dieses von der Vernichtung ausgenommene Schreiben weiß etwas von dem „wirklichen Ausnahmezustand“, den Walter Benjamin im VIII. Abschnitt seiner Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940) skizziert hat.40 Benjamin formuliert hier eine theoretische Position, welche die herkömmliche „Vorstellung von Geschichte“ als einer „Kette von Begebenheiten“ überwindet. Benjamins vielzitierter Satz: „Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ‚noch‘ möglich sind, ist kein philosophisches“41 ist als eine explizite Wendung gegen eine Philosophie-Tradition zu verstehen, die das Staunen zum Ursprung ihrer Erkenntnis erkoren hat. Erst ein entsetztes und ent-setztes Erkennen vermag in der „Tradition der Unterdrückten“, wie Benjamin schreibt, die Belehrung wahrzunehmen, dass „der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist“. Er fordert einen „Begriff der Geschichte“, der diesem Umstand Rechnung trägt. Kurz darauf schreibt er: „Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen“.42 Deutlich ist, dass der juridisch-politischen Ausnahme nur ein Denken begegnen und widerstehen kann, das sich selbst einem „Ausnahmezustand“ zuschreibt. Der hier genannte „wirkliche Ausnahmezustand“ ist daher, im Gegensatz zum biopolitischen „Ausnahmezustand, in dem wir leben“, von erkenntnistheoretischer und ethischer Natur.

40 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften, Band I. 2, S. 693– 704, hier: S. 697. Es ist hier nicht der Ort, auf die Diskussion um die möglichen Implikationen des Fragments weiter einzugehen, ich verweise hierfür auf Sigrid Weigel: Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder. Frankfurt a. M.: Fischer 2008, insbesondere S. 88–110, sowie auf Bernd Witte, Karl Solibakke, Claas Morgenroth, Vittoria Borsò (Hg.): Benjamin – Agamben. Politik, Messianismus, Kabbala. Würzburg: Königshausen und Neumann 2010. 41 Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, S. 697. 42 Ebda.

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Erst so gelesen erschließt sich dann Benjamins nachfolgende These, die den „Engel der Geschichte“ ins Spiel bringt. Durch ihn wird jenseits der für obsolet erklärten „Geschichtsphilosophie“ eine Perspektive eröffnet, die für den Menschen und seine Begriffe unerreichbar ist. Was sieht der Engel? Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint [vor uns Menschen], da sieht er [der Engel] eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm [dem Engel] vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.43

Der Engel bezieht – obwohl über den Menschen stehend und mehr sehend als jene – keine feste Position. Er selbst hat sich mit seinen Flügeln im geschichtlichen Geschehen verfangen, das hier als Sturm bezeichnet wird, als ein alles verwüstender Sturm, der die Menschheit mitsamt den Engeln vom Paradies entfernt. Allein der Engel als Teil des Geschehens ist in der Lage, die wahre Sachlage zu erkennen. Eben das ist den Menschen mit ihren traditionellen Begriffen nicht möglich: Sie sehen nur das, was sie von sich selbst objektivieren können. Sie sehen aufgrund ihrer Konzeptualisierung eine „Kette von Begebenheiten“, das heißt kausal miteinander verbundene Ereignisse. Dagegen sieht der Engel, der keine Konzepte hat, sich anhäufende Verwüstung. Die Perspektive des Engels benennt somit die Position eines im vernichtenden Geschehen gefangenen Blicks; seine Perspektive kennzeichnet einen Blick diesseits und jenseits philosophischer Konzepte von Geschichte. Wenn es richtig ist, wie Sigrid Weigel in ihrer Auseinandersetzung mit Benjamins Thesen schlussfolgert, dass sich das philosophische Staunen angesichts der Ereignisse des 20. Jahrhunderts in Schrecken verkehrt hat,44 so bedeutet dies auch anzuerkennen, dass der Schrecken in die Philosophie selbst eingefallen ist, diese ständig zu unterbrechen droht, um nach einem anderen als philosophischen Ausdruck für den Schrecken, der sie selbst erfasst hat, zu verlangen. Die Philosophie – aber mitgemeint sind hier auch all jene kulturtheoretischen und historischen Diskurse, die sich implizit oder explizit auf die philosophische Tradition beziehen, eine Tradition, die, so könnte man vielleicht etwas

43 Ebda., S. 697f. 44 Vgl. Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise. Frankfurt a. M.: Fischer 1997, S. 231.

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knapp formulieren, davon ausgeht, dass sie ein Wissen hervorzubringen vermag, das sich selbst weiß und in solcher Weise auf die Wahrheit bezogen ist – die Philosophie ist gleichsam aufgefordert, sich in der Auseinandersetzung mit der Vernichtung ihrer eigenen Traumatisierung zu stellen, die wiederum diese Auseinandersetzung notwendig immer schon in sich trägt, von der sie aber, im Gegensatz zum Engel, wenn überhaupt, stets nur nachträglich etwas wissen kann. Der Engel markiert einen Punkt der Unerreichbarkeit, an dem das direkteste Betroffensein von einem gewaltsamen Ereignis mit der Fähigkeit, dieses auch zu erkennen, koinzidieren würde; an dem das mimetische Ausagieren des Traumas zugleich schon die Erzählung wäre, die es zu benennen und zu erkennen wüsste. Diese unmögliche Koinzidenz wird von der Psychoanalyse insofern reflektiert, als sie im Begriff des Traumas das Scheitern des Verstehens benennt und dies zugleich zur Grundlage ihres Wissens von der Praxis der Lektüre macht: einer Lektüre, die Wirkung zeigt, ohne dass sie des Sinnes inne wird.45 Am Rand des Verstehens, am Rand der Bedeutung zu schreiben, heißt mithin auch, über das Trauma zu schreiben, nicht ohne vom Trauma schon erfasst zu sein. „Nicht ohne vom Trauma erfasst zu sein“, heißt dabei noch nicht automatisch, (re)traumatisiert zu sein. Es geht vielmehr darum, eine Übertragung durch das Trauma nicht zu leugnen, diese Übertragung aber zum Anlass zu nehmen, über Akzentverschiebungen den Raum des Traumatischen weiter zu erkunden, bis hin zu jenen Punkten, an denen sich durch das Trauma die sprachlichen Zeichen in ihrem „wirklichen Ausnahmezustand“ offenbaren: als das eine und sein Gegenteil, als ihre irreduzible Unentscheidbarkeit. Anders gesagt: Wenn eine Übertragung des Traumatischen auf ein Schreiben, das sich ihm nähert, nicht auszuschließen ist – und dies gilt sowohl für die literarischen Texte, die sich der Darstellung einer traumatischen Erfahrung widmen als auch für den philologischen Diskurs, der sich mit diesen Texten auseinandersetzt –, dann heißt dies zunächst einmal in zugespitzter Weise, dass das Schreiben pharmakon ist: ein Mittel, das unentschieden ist zwischen seiner heilenden Wirkung und seinem eigenem Vergiftetsein. Im Gegensatz zu einem Heilmittel im Sinne der rationalen Wissenschaft, der Technik und der therapeutischen Kausalität, kann bei einem pharmakon nie von vornherein entschieden werden, ob es Besserung oder Verschlimmerung bringt. Es handelt sich vielmehr

45 Vgl. Ulla Haselstein: „‚Le sujet supposé savoir lire‘ – Versuch eines Kommentars zur LacanLektüre von Shoshana Felman“. In: Manfred Frank, Anselm Haverkamp (Hg.): Individualität, S. 209–216, hier: S. 211.

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um ein Mittel, dessen Wirkungen man kaum je beherrscht und mit dessen inkommensurabler, oder wie Derrida schreibt, magischer Kraft stets zu rechnen ist.46 Das pharmakon des Schreibens ist mithin kein ungefährliches Mittel, weder auf literarischer noch auf wissenschaftlicher Ebene. Es ist nie einfach wohltuend.47 Es heilt nicht, es überwindet nicht das Trauma: „Le pharmakon ne fait que déplacer voire irriter le mal“48 – so lautet die platonische Ablehnung des pharmakon. Zugleich ist dies aber der einzige Modus, im Feld des Traumatischen zu operieren. Anstatt darauf zu zielen, das Trauma zu überwinden, zu heilen oder zu extirpieren, schreibt die Schrift, kreisend und sich wiederholend, Verschiebungen und Differenzen bezüglich jenes Traumatischen ein, das sich der Darstellung stets entzieht und in den Verschiebungen und Differenzen unterdessen nicht aufhört, zu insistieren. Innerhalb dieser Insistenz kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass sich „le mal“ zuweilen bis zur Unkenntlichkeit maskiert und geradezu unsichtbar werden kann.

5 Trauma im Zeichen des Triebes Bislang habe ich das Trauma in Hinblick auf Affektabspaltung, Latenz und Nachträglichkeit bestimmt; dann in Hinblick auf mögliche räumliche und geschichtliche Implikationen; schließlich in Hinblick auf den erkenntnistheoretischen Ort, an dem ein Sprechen im Zeichen des Traumas stattfindet. In einem weiteren Schritt soll ein in der psychoanalytischen Theorie entscheidender, aber unter dem Eindruck von Krieg und Vernichtung fallen gelassener Aspekt des Traumas wieder aufgenommen und für die angekündigte Akzentverschiebung von der Holocaust-Literatur auf die Holocaust-Literatur stark gemacht werden. Es handelt sich dabei um die Frage, inwiefern das Trauma konstitutiver Bestandteil des Sexualtriebes ist. Der in den Studien über Hysterie entwickelte Trauma-Begriff lässt sich, selbst wenn er schon in eine Nachträglichkeit verschoben ist, immer noch ereignisorientiert lesen. In solcher Weise ist er von der aktuellen literatur- und kulturwissenschaftlichen Holocaust-Forschung aufgenommen worden: als Bezeichnung für ein erstes Ereignis und seine Nachwirkungen.49 Der in den Studien über

46 Vgl. Jacques Derrida: „La pharmacie de Platon“. In: ders., La dissémination. Paris: Seuil 1972, S. 69–198, hier: S. 110. 47 Vgl. ebda., S. 112. 48 Ebda., S. 113. 49 Neben den schon erwähnten Arbeiten (Fußnote 3 in diesem Kapitel) verweise ich auch auf Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.

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Hysterie schon angedeutete, in den darauf folgenden Schriften Freuds „Zur Ätiologie der Hysterie“ (1896) und „Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen“ (1898) maßgeblich sexuelle Charakter des Traumas ist hingegen kaum in diese eingegangen.50 Jedoch scheint mir die Ausklammerung dieses Aspekts genau jene Sackgasse zu bilden, in die der Trauma-Begriff in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Holocaust-Literatur geraten ist. Denn ohne die Hervorhebung seines sexuellen Anteils droht der Trauma-Begriff abermals, allzu leichtfertig in den Dienst der Festschreibung einer Opfergeschichte gestellt zu werden. In der Tat betrifft das Trauma nicht nur die Abspaltung der Affekte aufgrund eines plötzlichen Ereignisses, das ein Subjekt erlitten hat. Es impliziert auch einen Triebkonflikt: den Konflikt nämlich zwischen Sexual- und Selbsterhaltungstrieben, einen Konflikt, dessen wesentliche Wirkung darin besteht zu verhindern, dass die Dinge je zu Ende gehen. Damit steht dieser Konflikt ebenso gut für die repetitive Struktur des Traumas wie für das Leben selbst: für die Tatsache, dass es Leben gibt, und dafür, dass Leben trotz und mit allem – trotz aller Verluste, mit allen Verlusten, trotz der Auslöschung unzähliger Leben, mit der Aschenspur, die davon geblieben ist – weitergeht. Mit dieser Feststellung wird in der Geschichte der Zerstörung der Akzent auf das Überleben und dessen ethische Implikationen gesetzt. Die Frage nach dem guten Leben ist damit freilich noch nicht gestellt, wird aber zu einem späteren Zeitpunkt entschieden zu stellen sein: nicht mehr als ein im normativen Sinne „gutes Leben“, sondern vielmehr als eine vorübergehende Öffnung im Traumatischen hin zu etwas Anderem, Freisetzendem. Worin das bestehen kann, wird sich im Folgenden am Beispiel des von Freud aufgezeichneten Spiels seines Enkelsohns Ernst zeigen und sich schließlich auch in den Einzelanalysen der literarischen Texte immer wieder neu verifizieren lassen. Die Ausgrenzung des sexuellen Aspekts aus der Erörterung von Traumatisierungen durch historische und politische Ereignisse lässt sich bereits innerhalb der psychoanalytischen Diskussion der sogenannten Kriegsneurosen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg beobachten. Diese Ausgrenzung führte im Wesentlichen zu dessen Entsexualisierung. Freud vermerkt dies kritisch in seiner „Ein-

München: C. H. Beck 2006, dies., Geoffrey H. Hartman: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust. Konstanz: Konstanz University Press 2012 sowie auf Gabriele Schwab: Haunting Legacies. Violent Histories and Transgenerational Trauma. New York: Columbia University Press 2010. 50 Sigmund Freud: „Zur Ätiologie der Hysterie“ (1896). In: Gesammelte Werke in 18 Bänden. Chronologisch geordnet. Hg. von Anna Freud. Frankfurt a. M.: Fischer 61986, Band I, S. 423–460 und „Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen“ (1898). In: ebda., S. 489–516.

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leitung zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen“ (1919). Weiterhin auf dem Theorem bestehend, dass die traumatische Neurose auf einen sexuellen Konflikt zurückgeht, schreibt er: Die Arbeiten, die das erweisen könnten [nämlich einen Zusammenhang zwischen Kriegstrauma und Sexualität, J.K.] sind noch nicht angestellt worden. Vielleicht sind die Kriegsneurosen ein für diesen Nachweis überhaupt ungeeignetes Material. Aber die Gegner der Psychoanalyse, bei denen sich die Abneigung gegen die Sexualität stärker gezeigt hat als die Logik, haben sich zu verkünden geeilt, daß die Untersuchung der Kriegsneurosen dieses Stück der psychoanalytischen Theorie endgültig widerlegt habe. Sie haben sich dabei einer kleinen Vertauschung schuldig gemacht. Wenn die – noch sehr wenig eingehende – Untersuchung der Kriegsneurosen nicht erkennen läßt, daß die Sexualtheorie der Neurosen richtig ist, so ist das etwas ganz anderes, als wenn sie erkennen ließe, daß diese Theorie nicht richtig ist.51

Von einer solchen Abtrennung des Traumas von sexuellen Implikationen ist der Trauma-Diskurs im Kontext der Holocaust-Literatur maßgeblich geprägt, selbst dort, wo er dekonstruktivistisch-psychoanalytisch versiert argumentiert. Hier ist es nicht allein der Verdacht der Ereignisindifferenz, der die Abwehr rechtfertigt, sondern auch die Schwierigkeit, dem Traumatischen eine das Leben weitertreibende Kraft zuzugestehen. Schlechterdings unmöglich wird dies, wenn man das Trauma mit dem vernichtenden Ereignis selbst kurzschließt. Schwierig anzuerkennen, aber doch denkbar wird diese Dimension erst, wenn man das Trauma auf der Ebene der sprachlichen, insbesondere der Ebene der eigentlichen literarischen Bearbeitung betrachtet, und zwar auch hier nun nicht so sehr als Ereignis des Sexualakts oder als sexuelle Phantasie, sondern im Sinne einer strukturellen Geschlechterdifferenz, die das Funktionieren des sprachlichen Zeichens selbst bestimmt. In diesem Sinne interessieren nun nicht, wie man vielleicht erwarten würde, Holocaust-Darstellungen, die mit sexuellen Phantasien operieren, wie dies zum Beispiel Bernhard Schlinks Der Vorleser – die Geschichte einer Verführung des jugendlichen Protagonisten durch eine erwachsene Frau, die sich später als KZWärterin entpuppt – tut; oder Filme wie Liliana Cavanis Il portiere di notte (1974), welche die Opfer-Täter-Relation in sado-masochistischen Termini vorstellen. Es geht vielmehr um die Frage, wie sich das sprachliche Zeichen selbst zu Trauma und Sexualität verhält, wie sich Trauma und Sexualität im sprachlichen Zeichen manifestieren und wie im sprachlichen Zeichen Trauma und Sexualität zueinander stehen. Wird das Trauma im Sinne seiner Identifizierung mit dem vernichten-

51 Sigmund Freud: „Einleitung zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen“. In: ebda., Band XII, S. 321–324, hier: S. 322f.

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den Ereignis verstanden, tendiert es, in eine fatale Einsinnigkeit eingeschlossen zu werden. Sexualität im Sinne der Erfahrung einer Differenz, aus der Leben entsteht, wird hier ausgeschlossen. Setzt man hingegen bei der Zweizeitigkeit des Traumas an, für welche Latenz und Wiederholung charakteristisch sind, dann stellt sich im Raum der Wiederholung immer auch die Chance ein, die Differenz innerhalb der Wiederholung zu akzentuieren. Denn auch wenn in der Wiederholung die Wiederkehr des Gleichen geschieht, so zeugt allein die Tatsache, dass sich etwas wiederholt, davon, dass das Gleiche nie mit sich identisch, sondern different ist. Symptomatisch für die Leugnung der sexuellen Triebanteile am Trauma ist nicht zuletzt die Art und Weise der Rezeption, die Freuds Essay Jenseits des Lustprinzips im Rahmen aktueller Trauma-Diskurse erfahren hat. So sind die im 2. Abschnitt des Essays erörterten Träume der Unfallneurotiker ohne Weiteres für die Erörterung der Traumatisierung der Lagerüberlebenden anschließbar. Mit allen anderen Abschnitten, die in Hinsicht einer Anbindung des Trauma-Begriffs an die Triebtheorie entscheidend sind, ist dies wesentlich komplizierter und erfordert einen erheblichen methodischen Mehraufwand.52 Dabei lässt sich allein schon jenes Phänomen, dass der Unfallneurotiker durch seine Träume immer wieder in den Moment seines Unfalls zurückgeführt wird, nur dann adäquat verstehen, wenn man seine Träume im Rahmen der in diesem Essay entwickelten Triebtheorie erörtert. Es ist mir daher daran gelegen, die Freudsche Konzipierung des Triebs hier noch einmal nachzuzeichnen und die Stellung des Traumas im Feld von Sexualität und Leben zu diskutieren und sie insbesondere auf das Funktionieren des sprachlichen Zeichens im literarischen Text zu beziehen. Denn um eben diesen Aspekt geht es mir vornehmlich: Welche Formen des Umgangs mit der traumatischen Erfahrung der Lager werden in literarischen Texten erprobt? Wie kann der Raum beschrieben werden, der sich zum Beispiel dort eröffnet, wo inmitten der Schilderung des Lageralltags eine Erfahrung vom Funktionieren des sprachlichen Symbols als solchem gemacht wird, die ein Genießen impliziert? Um diese Fragen beantworten zu können, scheint mir unabdinglich, den Argumentationsverlauf in Jenseits des Lustprinzips noch einmal nachzuvollziehen. Geht man von der Annahme aus, dass der menschliche Organismus vom

52 Dazu schreibt Cathy Caruth: Literature in the Ashes of History treffend: „[T]he study of trauma in contemporary fields tends to focus on a theory of history and memory derived ultimately from the example of the nightmare and the therapy that grows out of it, and the writing on the child’s game [gemeint ist das berühmte Spiel mit der Spule, auf das ich gleich eingehen werde] is not part of the tradition of trauma theory – but it is crucial […] for understanding the insight of Freud“ (S. 5).

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Lustprinzip beherrscht wird, also von einem Prinzip, das darauf bedacht ist, unnötig starke und Unlust provozierende Reize von außen ebenso wie von innen abzuwehren, muss die Tatsache verwundern, dass der Mensch nichtsdestoweniger dazu neigt, Unlust erregende, ja sogar lebensbedrohliche Erfahrungen unbewusst – zumal im Traum, der für Freud stets eine Wunscherfüllung ist – zu wiederholen. Die Lust an der Wiederholung, die wir vom Kinderspiel kennen (das Freud ebenfalls in diesem Kontext erörtert und auf das ich in Kürze genauer eingehe), verkehrt sich solcherart in Wiederholungszwang. Freuds erste Vermutung lautet, dass dieser Wiederholungszwang durch einen übermäßigen Ansturm von äußeren Reizen, der das Lustprinzip mit seiner Reizschutzfunktion gleichsam außer Kraft gesetzt hat, provoziert worden ist.53 Das Trauma erscheint aus dieser Perspektive als Verletzung der Schutzfunktionen des Organismus, als eine Durchbrechung des Reizschutzes und einer damit verbundenen Außer-KraftSetzung des Lustprinzips, welches stets darauf bedacht ist, Erregung so konstant und zugleich so gering wie möglich zu halten.54 Die traumatische Neurose wäre so gesehen eine Störung des ökonomischen Kreislaufes, der sich zwischen einem Reiz, seiner Bindung und seiner Abfuhr etabliert hat.55 Doch zugleich erkennt Freud in den traumatischen Erschütterungen, die zum Beispiel durch ein Eisenbahnunglück hervorgerufen werden, die Freisetzung eines „Quantums Sexualerregung“, das nicht zuletzt eine libidinöse Besetzung des Unfalls bewirkt und dafür verantwortlich ist, dass der Betroffene geneigt ist, an seinem Trauma festzuhalten, sich mithin der Heilung zu widersetzen.56 Freud nimmt hierbei eine Beobachtung wieder auf, die er einige Jahre zuvor in Trauer und Melancholie gemacht hatte: Hier war es der Melancholiker, der das verlorene Objekt libidinös besetzt hält, indem er sich selbst mit diesem Objekt identifiziert

53 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: Studienausgabe, Band III, S. 213–272, hier: S. 239. Freud betont hier noch einmal, wie schon in der „Vorläufigen Mitteilung“, dass die Plötzlichkeit zu einem „Fehlen der Angstbereitschaft“ und damit zur Affektabspaltung führt (ebda., S. 241). Das Trauma wird als ein Moment des Versagens des Lustprinzips gefasst, wie Freud an anderer Stelle deutlich sagt: „Das Wesentliche an der Geburt wie an jeder Gefahrsituation ist, daß sie im seelischen Erlebnis einen Zustand von hochgespannter Erregung hervorruft, der als Unlust verspürt wird und dessen man durch Entladung nicht Herr werden kann. Heißen wir einen solchen Zustand, an dem die Bemühungen des Lustprinzips scheitern, einen traumatischen Moment“ (ders.: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1932). In: ebda., Band I, S. 528). 54 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 239. 55 Ebda., S. 244. 56 Vgl. ebda., S. 243 sowie ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 274. Slavoj Žižek insistiert auf diesem Aspekt in ders.: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin: Merve 1991, insbesondere S. 17.

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hatte. Die Trauerarbeit besteht demgegenüber im Wesentlichen in einer Desidentifizierung, einem Abschiednehmen vom verlorenen Objekt, wodurch die gebundene Libido wieder freigesetzt wird und sich an andere Objekte binden kann.57 Eine extreme Form von Melancholie ist, wie Dominick LaCapra schreibt, „the unconscious desire to remain within trauma“, was nicht zuletzt eine negative Sublimität bzw. unangemessene Sakralisierung des Traumas zur Folge hat.58 Doch schon in Trauer und Melancholie stehen die beiden Einstellungen zu einem Verlust nicht einfach als gegensätzliche Alternativen einander gegenüber. Beide sind gleichermaßen ambivalent, wenngleich in unterschiedlicher Art von Kräften der Bindung und der Lösung durchwirkt. Während die melancholische Einverleibung des Traumas von einer problematischen Umarbeitung zeugt, in dem Versuch, die Bindung in Form narzisstischer Inkorporierung aufrechtzuerhalten, zeugt die vermeintlich gesunde, allzu ökonomische Trauer davon, dass die Ablösung nur auf Kosten einer abermaligen „Tötung“ des verlorenen Objekts erfolgen kann. Beide Reaktionsformen auf einen Verlust sind, sofern sie nicht in ein dialektisches Verhältnis zueinander treten, Triebkräfte, die, wie Freud in Jenseits des Lustprinzips allgemein formulieren wird, um jeden Preis einen früheren Zustand wiederherstellen wollen. Vor diesem Hintergrund erfährt die Dialektik von Unlust und Lust, von andrängenden Reizen und diese abwehrenden Kräften eine entscheidende Umkehrung: Denn wenn die inneren Triebe, die vom Lustprinzip regiert werden, stets zur Regression und Erhaltung einer Konstanz neigen, so verdankt sich die Entwicklung des Lebens allein den von außen störenden Reizen, die das Lustprinzip beständig als den Organismus bedrohende abzuwehren versucht.59 Hätte das Lustprinzip die alleinige Herrschaft über den psychischen Apparat, würde ihm die Vermeidung von Unlust, was bei Freud immer auch heißt: die Vermeidung von Erregung, gelingen, und dies hieße nichts anderes, als dass der lebende

57 Vgl. Sigmund Freud: „Trauer und Melancholie“. In: Studienausgabe, Band III, S. 193–212, hier: insbesondere S. 203. 58 Vgl. Dominick LaCapra: Writing History, Writing Trauma, S. 23. Ähnlich argumentiert Sigrid Weigel, die den kulturwissenschaftlichen Traumabegriff verdächtigt, den zur Pathosformel erstarrten Topos des „Unaussprechlichen“ bzw. „Unsagbaren“ ersetzt zu haben, siehe dies.: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, S. 231. 59 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 247. In diese Richtung gehen auch die Überlegungen von Sándor Ferenczi, die an Jenseits des Lustprinzips anschließen: Ferenczi geht von einer urzeitlichen Katastrophe aus, welche die Materie in zwei Hälften zerriss und aus der heraus das Leben entstand, das seither nach der Wiedervereinigung zur ursprünglichen Einheit strebt (vgl. ders.: Versuch einer Genitaltheorie, in: ders., Schriften zur Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer 1972, Band II, S. 317–402, hier: S. 370ff.). Implizite Referenz ist hier das Kugelgleichnis in Platons Symposion, das auch in Jenseits des Lustprinzips als mythischer Entstehungsort des Geschlechtstriebes aufgerufen wird (siehe dort S. 266).

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Organismus auf dem kürzesten Weg in den Zustand vollkommener Erregungslosigkeit, den Tod, gehen würde.60 Insofern gehört Unlust – als Andrängen äußerer Reize wie auch als Andrängen innerer Widerstände gegen eine schiere, regressive Tendenz, ein Andrängen, das vor allem durch die Ausbildung des Gewissens als einer verinnerlichten äußerlichen Stimme bewirkt wird – wesentlich zum Leben. Dies zeigt uns, dass bezüglich einer traumatischen Verletzung das Ziel nicht einfach in einer Heilung und Überwindung gesehen werden kann, insofern letztere im Zeichen eines nach Erregungslosigkeit strebenden Lustprinzips stehen. Das Trauma, wenn es als störende und aufstörende Dynamik und nicht als regressive Einkapselung in einen sakralen Raum erfahren wird, erweist sich damit als ein entscheidender Widerstand gegen das Lustprinzip. Die Herausforderung besteht mithin nicht in der Beseitigung des Traumas, sondern darin, im Trauma den Punkt der Unlust als Dynamik ungebundener Energien freizusetzen, die zum Leben drängen. Innerhalb der Triebe unterscheidet Freud zwei, eng aufeinander bezogene: die Ich-Triebe, die den Organismus gegen die Außenwelt abzuschotten versuchen und die er Todestriebe nennt und die Sexualtriebe, die demgegenüber auf ein dem Ich äußerliches Objekt und damit auf die Fortsetzung des Lebens ausgerichtet sind.61 Die Dialektik wird insofern verkompliziert, als beiden Triebkräften gleichermaßen das Prinzip der Wiederholung zu eigen ist und damit auch die regressive Tendenz, zu einem Zustand der Erregungslosigkeit zurückzukehren. Der Unterschied liegt allein darin, dass die Ich-Triebe, um den ursprünglich leblosen Zustand zu erreichen, nach vorn treiben, um „das Endziel des Lebens – den Tod als Wiederkehr des anorganischen Zustandes – so schnell wie möglich zu erreichen“,62 während die Sexualtriebe an einer gewissen Stelle auf dem Weg zu ihrem Ziel, den anorganischen Zustand zu erreichen, zurückschnellen, „um ihn von einem bestimmten Punkt an nochmals zu machen und so die Dauer des Weges zu verlängern“.63 In diesem Mit- und Gegeneinander der beiden gleichermaßen regressiv ausgerichteten Triebkräfte bildet sich für Freud der „Zauderrhythmus“

60 Hier sei angemerkt, dass Barthes’ Begriff des „plaisir“, den Ottmar Ette in seinen jüngsten Analysen wieder stark gemacht hat, eher dem Freudschen Begriff der Unlust entspricht als demjenigen des Lustprinzips. Denn es geht beim „plaisir du texte“ bzw. der Lust und List der Literatur um die Erzeugung von Reibung, von Spannung, es geht um etwas Sexuelles, nicht um die Immunisierung gegen Reize. Vgl. Roland Barthes: Le plaisir du texte. Paris: Seuil 1973 sowie Ottmar Ette: ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab. Berlin: Kadmos 2010, S. 31–64. 61 Vgl. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 253. 62 Ebda., S. 250. 63 Ebda.

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des Lebens ab.64 Paradoxerweise nun erscheint der Selbsterhaltungs- bzw. IchTrieb, der möglichst keine Störung von außen zulassen will, um das Leben zu schützen, genauso eng auf die Rückkehr zu einem unbelebten Zustand bezogen wie die gegenstrebig dazu sich verhaltenden Sexualtriebe, die hinwiederum in engeren Wiederholungsschleifen ebenfalls regressiv nach der Wiedervereinigung der Geschlechter streben, dabei aber sowohl zur Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts beitragen als auch die Erfahrung von Differenz, Reibung, Spannung und Unlust machen und auf diese Weise wieder zum Leben drängen. Das Trauma erfährt in diesen dialektischen Schleifen der Triebe eine Dynamisierung, die es seiner vermeintlichen tödlichen Eindeutigkeit beraubt. In Jenseits des Lustprinzips wird es als eine in sich gegenstrebige Struktur des Lebens profiliert. Gegen Ende von Jenseits des Lustprinzips kommt Freud abermals auf das Lustprinzip zu sprechen; es wird nun definitiv als im „Dienste des Todestriebes“ stehend erkannt.65 Nur ein Jenseits des Lustprinzips vermag der Regression in einen anorganischen Zustand ohne Störung und ohne Erregung zu widerstehen. Dieses Jenseits ist nun ausgerechnet der Unlust hervorrufende, unheimliche Wiederholungszwang. Er wird von Freud als jene Kraft erkannt, die sich dem Lustprinzip nicht unterordnen lässt. Sollte nun ausgerechnet der Wiederholungszwang, den wir als einen fatalen Sog kennengelernt haben, erinnernd und agierend immer wieder zu einem traumatischen Ereignis zurückzukehren, zum Erhalt des Lebens beitragen? Jedenfalls erweist sich der Wiederholungszwang aus dieser neuen Perspektive nicht mehr als eindeutig regressiv: Einerseits ist er zwar zweifelsohne auf die Wiedervereinigung mit einem früheren, anorganischen, unerregten Zustand ausgerichtet, andererseits aber stört er die Gegenwart immer wieder auf, ruft in ihr eine Spannung hervor, durch die er Eigenschaften des Sexualtriebs übernimmt. Insofern geht die Gleichsetzung von Wiederholungszwang und Todestrieb nie ganz auf. Lacan schreibt diesbezüglich relativ unmissverständlich: [Es] gibt eine Zweideutigkeit im Gebrauch des Terminus Wiederholungszwang. Es gibt zwei Register, die sich vermischen, verflechten, eine restitutive Tendenz und eine repetitive Tendenz, und ich würde nicht sagen, daß zwischen den beiden das Denken Freuds hin und her schwankt, denn es gibt kein Denken, das weniger schwankend ist als seins, aber man hat doch das Gefühl, daß seine Untersuchung sich auf sich selbst zurückwendet. Man würde glauben, daß er jedesmal, wenn er zu weit in die andere Richtung geht, innehält, um zu sagen – ist das nicht ganz einfach die restitutive Tendenz? Aber er stellt jedesmal fest, daß das nicht ausreicht und daß nach der Manifestation der restitutiven Tendenz etwas übrig-

64 Ebda. 65 Ebda., S. 271.

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bleibt, das sich auf dem Niveau der individuellen Psychologie als grundlos, paradox, geheimnisvoll darstellt und das eigentlich repetitiv ist.66

Es ist nicht so sehr die restitutive Tendenz, die zum Leben treibt, sondern vielmehr der geheimnisvolle, repetitive Rest, der sich stets neu präsentiert als eine offene Frage, deren Antwort immer noch aussteht. Diese Triebdialektik hat alle klassischen Oppositionen, nicht zuletzt diejenige zwischen den von außen andrängenden Reizen und den inneren Trieben, von denen Freud zu Beginn seiner Überlegungen noch ausgegangen ist, aus den Angeln gehoben. Vor diesem Hintergrund erscheint nun die Wiederkehr des Traumatischen in sich selbst gegenwendig: nämlich als eine regressive Fixierung auf einen früheren Zustand, der selbst libidinös besetzt ist, in der aber ein anderer Impuls wirkt: etwas die Gegenwart immer wieder Aufstörendes, eine pulsierende Erregung und Spannung. Das Trauma zeichnet sich damit in einer irreduziblen Zweideutigkeit ab: Wo es zur Abschließung tendiert, drängt es durch seine Wiederholung auch zu seiner Öffnung.67 Indem es markiert, dass etwas nicht vergeht, ist ihm ein Imperativ eingeschrieben: die Aufforderung, mit jeder Wiederholung eine erneute Suche, eine erneute Auseinandersetzung zu beginnen.

6 Anstatt Heilung – Sprachspiel Die psychoanalytische Triebtheorie versetzt der Vorstellung von Heilung als Restitution und Reparation einen entscheidenden Schlag, nicht zuletzt, weil sie darin eine lebensabgewandte regressive Tendenz entdeckt. Statt Heilung zu erwarten, ist der Patient in der psychoanalytischen Kur aufgefordert, sprechend ein anderes Verhältnis zu seiner von ihm erlebten traumatischen Geschichte zu entwickeln. Dies impliziert vor allem, sprechend, lesend und hörend ein anderes Verhältnis zum sprachlichen Zeichen überhaupt zu entwickeln. Im Feld der Auseinandersetzung mit Literatur impliziert dies, sie immer wieder und immer wieder

66 Jacques Lacan: Das Seminar II, S. 88. 67 Diesen doppelten Aspekt stellt Freud noch einmal, leicht anders akzentuiert, in seiner Abhandlung über den Mann Moses heraus, wenn er von einer positiven und einer negativen Wirkung des Traumas spricht. Der Wiederholungszwang wird hier beschrieben als „Bemühung, das Trauma wieder zur Geltung zu bringen, also das vergessene Erlebnis zu erinnern, oder noch besser, es real zu machen“. Dagegen wird der negative Aspekt des Traumas im „entgegengesetzten Ziel“ gesehen, „daß von den vergessenen Traumen nichts erinnert und nichts wiederholt werden soll. Wir können sie als Abwehrreaktionen zusammenfassen“ (Sigmund Freud: Der Mann Moses, S. 524).

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neu zu lesen und immer wieder neu eine Sprache zu finden für das, was im Text bewirkt, dass er sich nie zu einer Bedeutung abschließt, sondern immer wieder auf Anderes öffnet. In Jenseits des Lustprinzips wird diese Art der Spracherfahrung, die für die psychoanalytische Kur ebenso konstitutiv ist wie für die Literatur, an die frühkindliche Sprachentwicklung zurückgebunden. Freud vollzieht im zweiten Abschnitt seines Essays einen scheinbar unmotivierten Sprung, wenn er das „düstere Thema“ der Träume des Unfallneurotikers abrupt abbricht, um die Frage der Triebökonomie des Menschen „anhand einer seiner frühzeitigsten normalen Betätigungen“, nämlich dem Kinderspiel, zu studieren.68 Inmitten eines Abschnitts, in dem er die bedrohliche, traumatische Wiederkehr der Unfallszene im Alptraum erläutert, erfolgt die Evokation des berühmten und vielfach kommentierten Spiels mit der Spule, das Freud bei dem anderthalbjährigen Ernst als aktive Haltung in Bezug auf das wiederholte Weggehen seiner Mutter ausgemacht hat.69 Ernsts ‚Fort-Da‘-Dialektik, die in phonetischen Variationen von ‚o-o-o-o/da‘ ihre Artikulation findet, trägt in Freuds Ausführungen zu Trauma und Wiederholungszwang eine entscheidende Pointe ein. Das Kind schleudert, sobald sich seine Mutter entfernt, eine Reihe von Spielzeugen in eine Zimmerecke oder unter das Bett, dorthin, wo sie nicht mehr gesehen werden und zerstreut liegen bleiben. Es begleitet diese Geste mit einem langgezogenen ‚o-o-o-o‘. Auf der zweiten Entwicklungsstufe des Spiels tritt an die Stelle der Spielzeuge, die nur einmal geworfen werden können und dann in der Ecke liegen bleiben, wo sie nur schwer erreichbar sind, eine Holzspule. Das Kind wirft nun diese Holzspule – wie Freud schreibt – „mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so daß sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles o-o-o-o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen ‚Da‘.“70 In der Entwicklung von der ersten Version des Spiels (ohne Bindfaden) zur darauf folgenden Elaborationsstufe (mit Bindfaden) werden zwei entscheidende Aspekte offenbar: Erstens ermöglicht die Einführung des Fadens eine ununterbrochene Fortsetzung der Wiederholung; zweitens werden die (vielen verschiedenen) Spielsachen jetzt nicht mehr wahllos „unter das Bett“ geschleudert, sondern ein und dieselbe Spule wird immer wieder von Neuem hinter den Vorhang „in das

68 Vgl. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 223f. 69 Magistrale Lektüren dieser Passage finden sich bei Jacques Derrida: „Spéculer – sur «Freud»“. In: ders.: La carte postale de Socrate à Freud et au-delà. Paris: Flammarion 1980, S. 277–437 sowie, mit Bezug auf Derrida, in Cathy Caruth: Literature in the Ashes of History, S. 3–17. 70 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 225.

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Bett“ hineingeworfen. Der aggressive, tendenziell zerstörerische Akt gegen alle möglichen Sachen wird umgeformt in ein strukturiertes, da über strikte Wiederholung gestaltetes Spiel, das nach Bedarf immer wieder von Neuem abgespult werden kann. Das Spiel entpuppt sich so als eine nützliche Strategie, mit der vorübergehenden Abwesenheit der Mutter einen Umgang zu finden (wobei, wie wir sehen werden, diese Nützlichkeit nicht ohne Weiteres in einer teleologischen Finalität aufgeht). Das Kind agiert auf der Schwelle seines verhängten Bettchens, das zu einer Art Theaterbühne wird, zwischen den beiden Räumen, die es als seine eigenen erfährt: das Bett, das Zimmer. Es erprobt dabei ein Hin und Her zwischen seiner aufrechten, aktiven und seiner horizontalen, passiven Position (in Kapitel II werden diese Achsen eine entscheidende Rolle spielen, in Kapitel VI.8 um eine weitere, schräge, inklinierte Position erweitert). Insofern sich das Spiel als eine Reaktion auf das Fortgehen der Mutter entwickelt, verweist es auch zurück auf eine Dialektik, die die frühkindliche Ich-Entwicklung, insbesondere seine Orientierung im Raum, betrifft.71 Auf die Frage, wieso ein Unlust erregendes Moment – das Weggehen der Mutter – symbolisch spielerisch wiederholt wird, gibt es hier erste Antworten. Während die erste Elaborationsstufe des Spiels gleichsam als eine auf die Spielzeuge verschobene Rache an der Mutter gedeutet werden kann (und der Lustgewinn darum in der Rache selbst zu sehen ist72), zeugt die zweite Elaborationstufe von der Anstrengung des Kindes, „sich zum Herren der Situation [zu] machen“.73 Freud beobachtet dabei, dass nicht nur die unbestreitbare Leistung des Kindes erstaunlich ist, sich durch das Spiel zum aktiven Part in einer ansonsten passiv erlittenen Situation zu machen, sondern vor allem auch, dass der „erste Akt“ des Spiels (man bemerke auch hier Freuds Theatervokabular) – das „Fort“ – nicht nur die Funktion hat, dem Kind durch das anschließende Ergreifen der Spule Befriedigung zu verschaffen, sondern für sich selbst „ungleich häufiger inszeniert

71 Besonders deutlich wird dies in der im Essay qua Fußnote beigefügten Variante des Spiels: „Als eines Tages die Mutter über viele Stunden abwesend gewesen war, wurde sie beim Wiederkommen mit der Mitteilung begrüßt: ‚Bebi o-o-o-o!‘, die zunächst unverständlich blieb. Es ergab sich aber bald, daß das Kind während dieses langen Alleinseins ein Mittel gefunden hatte, sich selbst verschwinden zu lassen. Es hatte sein Bild in dem fast bis zum Boden reichenden Standspiegel entdeckt und sich dann niedergekauert, so daß das Spiegelbild ‚fort‘ war“ (ebda.). Die Szene gemahnt an den Prozess der Ich-Bildung, der von Lacan später als Spiegelstadium beschrieben wird. Die Dialektik der Wiederholung verarbeitet die Frustration über die Abwesenheit der Mutter als Ich-Konstitutionsprozess. 72 Vgl. ebda., S. 227. Die Rache ist eine Form des Abreagierens, im Übrigen ein Motiv, das bei Freud sehr häufig vorkommt, vornehmlich auch in den von ihm in der Traumdeutung analysierten Träumen. 73 Ebda., S. 226.

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wurde als das zum lustvollen Ende fortgeführte Ganze“.74 Der Bindfaden hat also in erster Linie nicht die Aufgabe, die Spule heranzuziehen, um sie zu behalten (dies würde das Ende des Spiels bedeuten), sondern er bietet vielmehr die Möglichkeit, die Spule sofort wieder fortzuschleudern, das Spiel des „Fort“ auf diese Weise fortzuspielen und das „O-o-o-o“, das sich in den Faden gleichsam phonetisch und graphisch eingeschrieben hat, weiter in die Länge zu ziehen, bzw. genauer: fortzusetzen.75 Nicht nur wird in dieser Szene der Spracherwerb als Verarbeitung einer kindlichen Verlusterfahrung dargelegt, auch deutet sich hier ein immer schon anderer Umgang mit dem Verlust an, der nicht auf eine ideelle Überwindung des ‚Fort‘ im ‚Da‘ ausgerichtet ist. Im Spiel, das sich aktiv einer schmerzlichen Situation bemächtigt, herrscht die Betonung des ‚Fort‘ vor. Nicht nur die Tatsache, dass das ‚Fort‘ „ungleich häufiger“ als das ‚Da‘ gespielt wird, zeugt davon, sondern auch die Emphase des langgezogenen ‚O-o-o-o‘, gegenüber der das kurze prosaische ‚Da‘ merkwürdig abfällt. Wollte man das Spiel lautlich nachahmen, käme in etwa folgendes heraus: o-o-o-o-da-o-o-o-o-da-o-o-o-o …, also ein rhythmischer Wechsel zwischen langen und kurzen Tönen, in den sich auch ein Wechsel zwischen dem semantisch unbestimmten ‚O‘ und dem semantisch vermeintlich eindeutigeren ‚Da‘ einschreibt, das sich wiederum auf den ‚O‘-Laut öffnet. In der Lautfolge o-o-o-o-da-o-o-o-o findet ein Experimentieren mit Sprache als Erprobung von Lautvariationen statt. Denn selbst wenn Freud darauf besteht, dass o-o-o-o „fort“ bedeutet und – vermutlich vorschnell – die Möglichkeit ausschließt, dass es sich zum Beispiel auch um eine Interjektion handeln könnte, hören wir immer auch schon ein Staunen mit: Ein Staunen sowohl über den affektiven Stau, den das Fortgehen der Mutter provoziert als auch darüber, dass dieser im Spiel auf so überraschende Weise freigesetzt wird. Was folgt nun aber daraus, dass Freud das Kinderspiel in den Kontext seiner Erörterung der Träume der Unfallneurotiker montiert? – Beide Momente zeichnen sich durch Wiederholung aus; doch einmal wird diese Wiederholung passiv im Traum erlitten, das andere Mal aktiv ins Spiel gesetzt.76 Wo die Unfallträume Unlust hervorrufen, steht die spielerische Wiederholung im Zeichen der Lust.

74 Ebda. 75 Für die Ambivalenz des Signifikanten „fort“ in seinem Changieren zwischen den Bedeutungen von „abwesend, nicht da sein“, „fortsetzen“, aber auch von „fernhalten“ siehe insbesondere Jacques Derrida: „Spéculer – sur «Freud»“, S. 316 und 378, sowie Cathy Caruth: Literature in the Ashes of History, S. 9. 76 Freud bemerkt im Übrigen, dass der Unfallneurotiker in den seltensten Fällen im Wachzustand an seinen erlittenen Unfall denkt, vgl. ders.: Jenseits des Lustprinzips, S. 223, während das Spiel die Vorstellung von einer prompten und adäquaten Reaktion, der wir in den Studien über

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Diese Lust ist nicht diejenige des erregungsmindernden Lustprinzips, sondern vielmehr eine Lust, die durch die spielerische Verarbeitung einer Unlust erregenden Situation entsteht. Davon zeugt vor allem die Tatsache, dass das Spiel darin besteht, die einfache Befriedigung des ‚Da‘ suspendiert zu halten, um es vielmehr für die erneute Erfahrung des ‚Fort‘ einzusetzen. Dieser Umschlag ereignet sich an jenem Punkt, an dem im ‚Da‘ selbst das Nicht-Hier – ein „Dort“ – hörbar wird und sich so die reale Unmöglichkeit einer Überwindung der Abwesenheit gegen die imaginäre Impotenz (das passive Leiden daran, das persönliche Scheitern) durchsetzt. Etwas verschiebt sich nun, genau in jenem Moment, da ‚Fort‘ und ‚Da‘ nicht mehr als Oppositionspaar aufgefasst werden, sondern ‚Da‘ zu „Dort“ verschoben wird und mit ‚Fort‘ einen Reim bildet. Hier ereignet sich ein Sprung, der das Spiel auf anderes öffnet und es darum stets unbeendet bleiben lässt.77 Genau darin zeigt sich nun ein Moment von Freiheit: Der Abschied vom Imaginären einer vollen Präsenz und die Entdeckung des Offenhaltens von Bedeutungen durch das Spiel selbst, das, je öfter es wiederholt wird, die vermeintlich stabile Opposition von ‚Fort‘ und ‚Da‘ aus den Angeln hebt und in eine schiere Differenz umschreibt.78 Aus den Angeln gehoben und verschoben wird aber auch noch eine andere Opposition, nämlich diejenige zwischen dem Fortgehen der Mutter und der Frustration des Kindes. In einer Fußnote wird erwähnt, dass die Mutter, als das Kind fünfdreiviertel Jahre alt war, starb und nun also „wirklich ‚fort‘ (o-o-o) war“. Es heißt desweiteren, dass der Knabe keine Trauer um sie zeigte.79 Freud hält wohl bewusst die Information zurück, dass es sich bei diesem Knaben um seinen Enkelsohn handelte und bei der Mutter des kleinen Ernst um seine Lieblingstochter Sophie. Ihr Tod am 25. Januar 1920 aufgrund einer Grippe fällt in die Hysterie begegnet sind, aufnimmt, zugleich nun aber nicht mehr als einmalige Reaktion auf eine einmalige Veranlassung vorstellt, sondern selbst schon in die Wiederholung einschreibt. 77 Derrida verweist auf den impliziten Widerspruch zwischen Freuds Feststellung, dass dies „das komplette Spiel“ sei (siehe Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 225) und der Tatsache, dass dieses Spiel von einem spezifischen Ungleichgewicht gezeichnet ist, das verhindert, dass es sich je zu einem Ganzen schließt (vgl. Jacques Derrida: „Spéculer – sur «Freud»“, S. 334). Das Übergewicht des ,Fort‘ fügt in das Spiel eine Unverfügbarkeit ein, die es seines Anspruchs auf Nützlichkeit wiederum beraubt. Symbolisch bleibt es den fortgeworfenen Spielzeugen aus der ersten Phase des Spiels verbunden. 78 Klare Zweifel an der Opposition von ‚Fort‘ und ‚Da‘ formuliert Derrida in „Envois“, in: La carte postale de Socrate à Freud et au-delà, S. 48: „Ils veulent opposer fort et da! Là et ici, là et là“. Samuel Weber betont die Differenz zwischen ‚Fort‘ und ‚Da‘, wenn er schreibt: „[D]a der Laut als solcher nicht sprachlich sein kann, muß er durch den Sinn bestimmt werden: aber der Sinn für sich genommen ist ebenso unbestimmt wie der Laut, er wird erst Sinn – zum Signifikat – durch das Spiel der Differenz“ (ders.: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse. Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein 1978, S. 32f.) 79 Vgl. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 226.

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Endphase von Freuds Arbeit an diesem Essay, der mithin indirekt die Frage seiner eigenen Trauer bzw. Unfähigkeit, Trauer zu artikulieren, betrifft.80 Man könnte vor diesem Hintergrund vermuten, dass Freud in den gestammelten Silben seines Enkelsohnes ein Potential entdeckt, das durch die diskursive Gewandtheit der Erwachsenen meist verdeckt wird: Die Fähigkeit nämlich, am Rand des Stummseins Schmerz in (gestammelten) Silben zu artikulieren, Silben, die sich in keine eindeutige Bedeutung überführen lassen, ebenso wenig übrigens wie die scheinbar so eindeutigen Traumeindrücke der Unfallneurotiker.81 Und so bleibt auch sein Hinweis auf den Tod der eigenen Tochter am Rand, allzu knapp in einer Fußnote erwähnt. Das Ereignis, von dem sein Essay überschattet ist, kann offensichtlich nicht in diesen integrieren werden, aber die randständige Fußnote verschiebt nun plötzlich das Gewicht und Zentrum seiner hier angestellten Überlegungen. Am Schnittpunkt von Freuds Montage, an dem die Frage der Wiederholung im Unfall- bzw. Alptraum auf die kindliche Sprachentwicklung und die eigene Trauer um den Verlust der Tochter zusteuert, wird nun genau jene Position markiert, an der die Artikulation einer traumatischen Erfahrung auch zur Erfahrung des sprachlichen Zeichens als Hin und Her zwischen seiner konstativen und seiner performativen Dimension wird. So ist die Artikulation einerseits sprachliche Darstellung von Momenten traumatischer Wiederkehr, worauf Freud zum Beispiel hinweist, wenn er in Jenseits des Lustprinzips das Beispiel von Tassos Tankred anführt.82 Sie bildet andererseits – und dies ist nach der Erweiterung der Trauma-Definition um Aspekte des Triebbegriffs als ihr entscheidender Einsatz anzusehen – einen sprachlichen Raum, dessen Zeichen sich sowohl etwas von ihrer Wirkungsweise im Traum als auch etwas von der schieren Lauthaftigkeit der ersten kindlichen Äußerungen bewahrt haben. Beide Qualitäten, die für literarische Texte besonders maßgeblich sind, sorgen dafür, dass es im Erzählen einer traumatischen Erfahrung einen unerwarteten Umschlagpunkt geben kann. Dieser

80 Vgl. Jacques Derrida: „Spéculer – sur «Freud»“, S. 327ff.; Cathy Caruth: Literature in the Ashes of History, S. 16. Caruth liest Freuds Erörterungen als buchstäbliche Fortsetzung des kindlichen Fort/Da-Spiels, als Form der eigenen Durcharbeitung eines schmerzlichen Verlusts. 81 In Kapitel IV wird dieser Aspekt von Eindeutigkeit und Differenz des Traumbildes eine entscheidende Rolle spielen. 82 Mit Tassos Figur des Tankred, der ungewollt seine geliebte Clorinda zweimal tötet, liefert Freud ein treffliches literarisches Beispiel zur Illustration des Wiederholungszwangs, vgl. ebda., S. 232. Caruth kommentiert: „What the parable of the wound and the voice thus tells us, and what is at the heart of Freud’s writing on trauma, is that trauma seems to be much more than a pathology, or a simple illness of a wounded psyche: it is always the story of a wound that cries out, that addresses us in the attempt to tell us of a reality or truth that is not otherwise available“ (dies.: Unclaimed experience, S. 4).

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wird nicht erzählt, das wäre rhetorische Katharsis, er ereignet sich vielmehr über das sprachliche Zeichen selbst, sobald dieses in ein Spiel mit anderen Signifikanten eintritt. Die literarische Bearbeitung einer Erfahrung schafft, ähnlich wie das Spiel mit der Spule, eine Distanzierung des sprachlichen Zeichens von sich selbst. Diese Distanzierung ist als Erfahrung einer Selbstdifferenz vital, sie ist, wie Caruth schreibt, „an imperative to live“,83 auch und insbesondere dort, wo wie in der Holocaust-Literatur von dem historischen Versuch erzählt wird, Differenz für immer auszulöschen. Genau aus diesem Grund verschiebe ich den Akzent von einer literaturhistorisch und biographisch orientierten Lektüre der HolocaustLiteratur, die dazu neigt, deren dokumentarischen Wert in Hinblick auf eine Objektivierung des Ereignisses der Vernichtung als Trauma zu unterstreichen, auf die Lektüre der Holocaust-Literatur, die das poetische Spiel des sprachlichen Zeichens darin wieder in den Vordergrund zu rücken versucht. Wenn in der Holocaust-Literatur eine sprachliche Differenzerfahrung artikuliert wird, so bleibt sie immer an das Trauma gebunden, wird von ihm immer wieder heimgesucht. Zeichentheoretisch bedeutet dies, dass wir, um innerhalb der Wiederholung Differenzen aufzuspüren, auf der paradigmatischen ebenso wie auf der syntagmatischen Achse zwar Verschiebungen verzeichnen können, dass diese Dynamiken aber zugleich von einer Kraft durchkreuzt werden, in der sich das Trauma als schiere Insistenz – ein Drängen nach Sinn, eine Aufforderung nach Auseinandersetzung, bei gleichzeitiger Unaufhebbarkeit des Entzugs von Sinn – manifestiert. Um am Punkt dieses Aufklaffens des sprachlichen Zeichens, in dem das Wechselspiel von Buchstäblichkeit, Wörtlichkeit und übertragener Bedeutung wie auf die Folter gespannt erscheint, weiterzudenken, bringe ich hier einen Neologismus ins Spiel, den Lacan in einer seiner späten Schriften über sein Axiom „Il n’y a pas de rapport sexuel“ aufgebracht hat: den „absens“ oder „sens absexe“.84 Lacan verschraubt hier die Frage der Geschlechterdifferenz und der Unmöglichkeit, diese einfach zu benennen bzw. zu erzählen („il n’y a pas de rapport“ heißt auch, dass sich die Sexualität in keinen „Bericht“, in kein „Protokoll“ übersetzen lässt) mit einer psychoanalytischen Zeichentheorie. Die Erfahrung von Sexualität als Differenz (der Geschlechter) kann in und am sprachlichen Zeichen gemacht werden: dann nämlich, wenn im Zeichen der Sinn (sens) aufklafft, dadurch aber nicht in Unsinn (insens) kippt – was für Lacan ein Einsinn (un sens) wäre, den es gerade zu vermeiden gilt – sondern sich stattdessen auf einen 83 Cathy Caruth: Literature in the Ashes of History, S. 6. 84 Jacques Lacan: „L’Étourdit“. In: Scilicet 4 (1973), S. 5–52, hier: S. 8: „Freud nous met sur la voie de ce que l’ab-sens désigne le sexe: c’est à la gonfle de ce sens-absexe qu’une topologie se déploie où c’est le mot qui tranche“.

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„absens“ öffnet. Der „absens“ entsteht beispielsweise durch die Operation eines Schnitts bzw. einer Montage, was bewirkt, dass Sinn und Unsinn gleichermaßen suspendiert werden. Lacans falsche Schnitte an den Wörtern, die gegenläufig zu den Bahnen der Etymologie verlaufen, können als solche Produktionen von „absens“ gelesen werden, in denen Absenz und Absinn zusammenfallen. Es entsteht darin in erster Linie ein Überschuss an Sinn, der Bedeutungen aufsprengt und verhindert, dass die „philosophische Pärchenbildung“, wie Badiou sie nennt, von Wahrheit und Wissen, Wahrheit und Realem, Realem und Wissen und wir können hinzufügen: zwischen gewaltvollem Ereignis und Trauma je zu einem Gleichgewicht findet.85 Durch solche Schnitte wird das Trauma, als eine Figur, die sich in kein Bedeutungsgefüge integrieren lässt und darum zur ständigen Wiederkehr treibt, sexualisiert: nicht aber im Sinne einer regressiv konnotierten libidinösen Besetzung, sondern in Hinblick auf sein schieres Differenz-Sein. Damit wird es zur Formel des Unmöglichen, zu etwas, was Lacan „das Reale“ nennt, und was dafür sorgt, dass sich der Sinn nie zu einer eindeutigen Bedeutung verfestigt, so dass die Suche nach einer Sprache, die darum kreist, immer wieder von Neuem beginnt und nie zu Ende geht. Trauer bzw. Trauerarbeit muss im Wesentlichen durch dieses ‚Reale‘ hindurchgehen, muss dieses Unmögliche als ihre eigene Grenze erfahren. In der wiederholten Durchquerung dieser Schwierigkeit, in der Konfrontation mit diesem Unmöglichen, mit dieser Unlust formuliert sich ein starker psychoanalytischer Begriff des Lebens, wohingegen die Vermeidung dieser Trauerarbeit, die Vermeidung der Konfrontation mit dem Unmöglichen, als eine tödliche, weil letztlich regressive Wahl erscheinen muss. Eine Philologie, die daran interessiert ist, das Trauma als Formel des Unmöglichen, als Lacanschen „absens“ ins Spiel zu bringen, muss in ihrem Lesen und Analysieren von literarischen Texten selbst als Montage arbeiten. Sie muss am traumatischen Narrativ Schnitte produzieren, um das Trauma darin in Hinblick auf anderes zu dynamisieren. Die nachfolgenden Kapitel stellen den Versuch dar, in solcher Weise kanonische Texte der Holocaust-Literatur wieder zu öffnen und sie nicht zuletzt für einen neuen Blick auf die Literaturgeschichte fruchtbar zu machen – dies gilt ganz besonders für die in der Holocaust-Literatur so häufig zitierte Commedia von Dante Alighieri. Eine solche Montage hat Konsequenzen: Das Trauma kann nicht länger als ein endgültiger Einsinn erfahren werden; vielmehr wird das Trauma sprachlich als ein Überschuß erlebt, der nicht einfach als ‚überschüssiger Rest‘ gleichsam in den Abfall geworfen werden kann, sondern der sich stets aufs Neue konstituiert

85 Vgl. dazu Alain Badiou: „Formules de «l’Étourdit»“. In: Barbara Cassin, ders.: Il n’y a pas de rapport sexuel. Deux leçons sur L’Étourdit de Lacan. Paris: Fayard 2010, S. 101–137.

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und stets aufs Neue ins Spiel gebracht werden muss. Der experimentelle Charakter philologischer Montage umgeht dabei nicht zuletzt sowohl die Gefahr rationalisierender Normalisierung als auch die Gefahr, die traumatische Übertragung als Identifizierung mit dem Opfer und der im Opfer internalisierten Täterperspektive auszutragen. Stattdessen kehrt dieses Verfahren Literatur als ein Medium hervor, das eine schon erlebte und erlittene Geschichte nie einfach nur darstellt und als Opfer/Täter-Geschichte festschreibt, sondern dazu auffordert, in dieser Geschichte und durch diese Geschichte vom Aufklaffen des Zeichens eine Erfahrung zu machen. Im Feld des Traumatischen, in dem ständig die Gefahr der Überwältigung des Ichs durch die abgespaltenen Affekte droht und damit seine „Verwüstung und Zersplitterung“,86 erscheint mir dies ein entscheidender Einsatz. Denn auf diese Weise setzt sich das Lesen von Literatur den bedrohlichen Erinnerungen an das vernichtende Ereignis aus; es flieht nicht davor, unterwirft sich aber auch nicht schlechterdings der vernichtenden Sogwirkung dieser Erinnerungen. Lesen von Literatur kann so in höchster Not eine Erfahrung vermitteln vom Funktionieren des sprachlichen Symbols als solchem: seiner Manifestation im dialektischen Zustand in den sich scheinbar wie von selbst und zufällig ereignenden Verschiebungen, Kalauern, Wortspielen und Witzen. Inmitten des Lagerterrors von BunaMonowitz wird Primo Levi eine derartige Erfahrung mit Dante Alighieris Commedia machen und sie als eine, wenn nicht lebensrettende, aber doch den Terror des Lageralltags in entscheidender Weise suspendierende Lektüre und Rezitation erzählen (vgl. Kapitel IV.5). Lesen von Literatur hat so gesehen eine spezifische Funktion im Feld des Traumatischen: Es ermöglicht einen Aufschub, der die Möglichkeit schenkt, Erfahrung von Differenz zu machen. Um das Spiel mit Äquivozitäten, welches Literatur entscheidend auszeichnet, im Feld des Traumatischen zu würdigen, musste die unter dem Eindruck von Krieg und Vernichtung gänzlich unterschlagene Verbindung zwischen Trauma und Sexualität wieder zurückgewonnen werden. Allein die Erfahrung eines literarisch erzeugten und über einen spezifischen Leseakt valorisierten „absens“ – als Absenz und Überschuss zugleich – vermag es, der in unserer Kultur sich zunehmend durchsetzenden Rede von der ‚Rückkehr zur Normalität‘ zu widerstehen und sich zugleich einer dazu gegenpolaren Opferrhetorik zu entziehen, die entweder Auschwitz als Antwort auf alle Übel der Welt anführt oder aber Auschwitz als eine unaussprechliche und damit gleichsam epiphanische Wahrheit statuiert. Das Schaubild soll abschließend noch einmal die begriffliche Auffaltung des Feldes zwischen der Trauma-Theorie und der literaturwissenschaftlichen Be-

86 Diese Bedrohung wird so von Sigmund Freud in Der Mann Moses noch einmal deutlich formuliert, vgl. dort, S. 526.

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schäftigung mit der Holocaust-Literatur veranschaulichen sowie die Positionierung der hier vorliegenden Überlegungen markieren: Der Begriff des Traumas historisches Ereignis / \ | Nachträglichkeit | Ursprung

transhistorische Struktur / \ | Sexualtrieb | Affektabspaltung

Holocaust–Literatur / \ histoire discours / \ | Zeichenspiel | Darstellung/Referenz | performative Dimension | Konstative Dimension ――――――――――――――――――――――――――――→ Akzentverschiebung

II Deuten, Nachträumen, Montieren. Über Freuds Traum vom brennenden Kind Mais ne sentons-nous pas depuis un moment que d’avoir suivi les chemins de la lettre pour rejoindre la vérité freudienne, nous brûlons, son feu prenant de partout!1

1 Der Einsatz eines Traums In der Traumdeutung findet sich zu Beginn des letzten, siebten Kapitels die Schilderung eines, wie Freud selbst schreibt, „vorbildlichen Traums, „der ganz besonderen Anspruch auf unsere Beachtung erhebt“.2 Es ist der Traum vom brennenden Kind. Weniger vorbildlich und dafür umso eigentümlicher (ein von Freud oft verwendetes Adjektiv für das Traumgeschehen an sich) ist er in mehrfacher Hinsicht. Er ist vielfach vermittelt, und dies in höchst ungesicherter Weise: Seine eigentliche Quelle ist unbekannt; eine Patientin Freuds, so heißt es, habe von ihm in einer Vorlesung über den Traum gehört und ihn prompt nachgeträumt. Als solch ein nachgeträumter und wiederum in der analytischen Kur nacherzählter hat Freud von ihm Kenntnis erhalten. Als ein Traum, der nicht vergessen, sondern übertragen und nachgeträumt wird, steht er ausgerechnet dem kurz darauf folgenden Kapitel „Das Vergessen der Träume“ voran. Doch insbesondere zeichnet sich seine „Eigentümlichkeit“ dadurch aus, dass er die über 480 Seiten erörterten Charakteristika von Träumen, anhand derer die Deutungsmethode des Traumes entwickelt wurde, zu einem wesentlichen Teil nicht erfüllt. Als ein Ausnahme-Traum setzt er die bislang errungenen Erkenntnisse gleichsam aus und trägt in die Traumdeutung, spät aber entschieden, eine Wende ein. Zunächst aber sei der Traum in seiner schriftlichen Fixierung durch Freud hier noch einmal wiedergegeben: Ein Vater hat tage- und nächtelang am Krankenbett seines Kindes gewacht. Nachdem das Kind gestorben, begibt er sich in einem Nebenzimmer zur Ruhe, läßt aber die Tür geöffnet, um aus seinem Schlafraum in jenen zu blicken, worin die Leiche des Kindes aufgebahrt liegt, von großen Kerzen umstellt. Ein alter Mann ist zur Wache bestellt worden und sitzt neben der Leiche, Gebete murmelnd. Nach einigen Stunden Schlafs träumt der Vater, daß das Kind an seinem Bette steht, ihn am Arme faßt und ihm vorwurfsvoll zuraunt: Vater, siehst

1 Jacques Lacan: „L’instance de la lettre dans l’inconscient …“, S. 267. 2 Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S.488.

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du denn nicht, daß ich verbrenne? Er erwacht, merkt einen hellen Lichtschein, der aus dem Leichenzimmer kommt, eilt hin, findet den greisen Wächter eingeschlummert, die Hüllen und einen Arm der teuren Leiche verbrannt, durch eine Kerze, die brennend auf sie gefallen war.3

Wiederholt unterstreicht Freud die Sonderstellung dieses Traumes. Umso verwunderlicher ist es, dass er nichtsdestoweniger recht schnell über ihn hinweg geht, allerdings in der Folge noch drei Mal kurz auf ihn zu sprechen kommt.4 Es ist, als könne er diesen erschütternden Traum stets nur kurz antippen, als bestünde aber auch die Notwendigkeit, immer wieder auf ihn zurückzukommen. Zunächst werden jedoch die Erwartungen, die mit dieser angekündigten Sonderstellung des Traumes verknüpft sind, enttäuscht: Anstatt ein komplexes Rätsel aufzugeben, das durch eine brillante Deutung entschlüsselt würde – wie dies bei anderen berühmten Träumen der Traumdeutung der Fall ist, man denke an den Traum von Irmas Injektion, an den Traum von der botanischen Monographie, im Übrigen beides Träume, die von Freud geträumt worden sind und die Entstehung der Traumdeutung selbst thematisieren, – heißt es unmittelbar nach der Wiedergabe der Traumerzählung: Die Erklärung dieses rührenden Traumes ist einfach genug und wurde auch von dem Vortragenden, wie meine Patientin erzählt, richtig gegeben. Der helle Lichtschein drang durch die offenstehende Tür ins Auge des Schlafenden und regte denselben Schluß bei ihm an, den er als Wachender gezogen hätte, es sei durch Umfallen einer Kerze ein Brand in der Nähe der Leiche entstanden.5

Die erstaunliche Nähe und Parallelität zwischen den wirklichen Abläufen und dem geträumten Geschehen wird durch den Hinweis auf einen Sinnesreiz erklärt. Und dies gleich zweifach: einmal von dem ungenannten Vortragenden, durch den Freuds Patientin von diesem Traum erfahren hat; dann von Freud selbst. Inwiefern jedoch diese so einleuchtende „Erklärung“ eine verkürzte Darstellung, wenn nicht sogar eine Verkennung des Traums sowie der Dramatik der Umstände impliziert, zeigt sich allein schon in der Verschiebung, die sich bezüglich der Schilderung der Brandumstände ergibt zwischen der Traumerzählung (in der eine Kerze brennend auf den Leichnam gefallen ist) und der Kommentierung (in der es heißt, dass ein Brand in der Nähe der Leiche entstanden war).6

3 4 5 6

Ebda. Ebda., S. 510, 525, 543. Ebda., S. 488. Vgl. ebda.

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Aufmerksame Leser der Traumdeutung können angesichts so einfacher und entschärfender Erklärungen nur irritiert sein, zumal sie inzwischen gelernt haben, dass der Traum nie eine direkte Übersetzung eines wirklichen Geschehens ist, auch dann nicht, wenn er ein realistisches Antlitz hat; dass der Traum stets die Frucht einer spezifischen Traumarbeit ist, die Eindrücke auseinandermontiert, verschiebt, verdichtet und auf verdrehte Weise neu zusammensetzt; dass der Traum keine einfachen Kausalitätsverhältnisse kennt. Die direkte Referenz dieses speziellen Traums auf ein äußeres, gerade stattfindendes katastrophales Ereignis gibt also die eigentlichen Fragen überhaupt erst auf. Denn sowohl die für die Traumbildung konstitutive Zeit der Latenz als auch der Bezug auf einen inneren Wunsch scheinen in diesem Traum ganz zurückzutreten.7 Dieser eigentümliche Traum führt die Traumdeutung in eine Krise. In mehrerer Hinsicht entzieht er ihr den Boden: Erstens aufgrund seiner vermeintlichen Unverhülltheit, in der die Regeln der Traumarbeit wie ausgenommen erscheinen. Sie macht die Geste des Enthüllens eines verborgenen Geheimnisses obsolet. Zweitens aufgrund der Unbekanntheit des ursprünglichen Träumers, der als einziger in der Lage wäre, gemeinsam mit dem Gegenüber des Psychoanalytikers etwas zur Deutung des Traums beizutragen. Denn – so die analytische Grundregel – nicht der Analytiker zaubert Deutungen aus seinem Hut, sondern der Analysand wird aufgefordert, sprechend mit seiner Traumerzählung einen Umgang zu finden. Freuds Haltung ist in der Tat ambivalent. Er bekundet, dass „Erklärung“ (ein Lichtreiz werde im Traum verarbeitet) und „Deutung“ (der Traum erfülle den Wunsch, das eigene Kind noch einmal lebendig zu sehen) „einfach genug“ seien und „keine Schwierigkeiten bereitet[en]“. Dann aber, als er später noch einmal auf den Traum zurückkommt, sagt er, dass die Deutung „nicht in unserem Sinne vollständig gegeben“,8 und nochmals später, dass der Traum letztlich „nicht analysierbar“ sei.9 Es besteht somit ein Widerspruch zwischen der Einfachheit und Widerstandslosigkeit der Erklärung des Traums einerseits und der Nichtvollständigkeit seiner Deutung und Unanalysierbarkeit andererseits. Nicht von ungefähr drückt Freud auf diesen Seiten, und dies mag ein erster Reflex seiner Auseinandersetzung mit diesem Traum sein, sein Ungenügen an einer herkömmlichen Vorstellung von Deutung überhaupt aus, der ein Anfänger in der Traumdeutung meist noch verhaftet ist:

7 Vgl. auch Cathy Caruth: Unclaimed experience, S. 94. 8 Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S. 510. 9 Vgl. ebda., S. 543.

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Am schwierigsten ist der Anfänger in der Traumdeutung zur Anerkennung der Tatsache zu bewegen, daß seine Aufgabe nicht voll erledigt ist, wenn er eine vollständige Deutung des Traums in Händen hat, die sinnreich und zusammenhängend ist und über alle Elemente des Trauminhalts Auskunft gibt.10

Die Vollständigkeit der Deutung ist immer nur eine vermeintliche. Daraus folgt, dass Deutung stets über sich hinausgehen muss. Deutung muss sich, um dem Traumgebilde gerecht zu werden, dem „Nabel des Traums, [der] Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt“, mithin der Undeutbarkeit aussetzen.11 Sie zeichnet sich mithin aus als eine Deutungsarbeit, die nicht unter die Alleinherrschaft der Bedeutungsfindung und Bedeutung zu bringen ist. In der Tat geht es nicht darum, in der Analyse die Traumarbeit rückgängig zu machen, um an eine ursprüngliche, vermeintlich unentstellte, wahre Bedeutung des Traums zu gelangen, wie dies zuweilen sogar noch in analytischen Kreisen die vorherrschende Idee ist, sondern die Analyse impliziert im Gegenteil eine zu dieser Vorstellung gegenläufige Arbeit am Traum. Die Abwesenheit einer ursprünglichen Bedeutung, ihr „Fort“-Sein, wird übersetzt in eine deutende Fort-Setzung der Prinzipien der Traumarbeit. Es ist, als müsse die deutende Arbeit in der Analyse das Wesen des Träumens gleichsam in sich aufnehmen und in den eigenen hervorgebrachten und montierten Assoziationsketten weitertreiben.12 Kehren wir zum Traum vom brennenden Kind zurück. Obwohl vieles so einfach und offensichtlich an ihm erscheint, bleiben in der Tat zahlreiche Aspekte unerkannt und unbekannt. Vor allem die Frage nach dem Subjekt dieser Traumerzählung kann nicht geklärt werden. Ist es der ursprüngliche Träumer? Ist dieser ursprüngliche Träumer der Vater des Kindes? Ist es der Professor, der (in Konkurrenz zu Freud?) interessante Vorlesungen über Träume hält? Ist es Freuds Patientin, die diesen Traum nachgeträumt hat? Und was hat sie genau nachgeträumt? Hat sie von diesem Vater geträumt? Hat sie sich selbst in der Rolle des

10 Ebda., S. 501. 11 Ebda., S. 503. 12 Ein Fall wie die nachgetragene Traumdeutung des berühmten Traums des „Wolfsmanns“ durch Nicolas Abraham und Maria Torok treibt die Vorstellung, über die Entschlüsselung der Worte des Traums, die als Kryptonyme und damit als unvollständige Symbole aufgefasst werden, in die sich andere, vor allem anderssprachige Worte eingeschrieben haben, die ursprüngliche Bedeutung eines Traums rekonstruieren zu können, ins Extreme. So faszinierend ihre Lektüre ist, so problematisch scheint sie mir in ihrem Anspruch, dass das psychoanalytische Hören eine entstellte Wahrheit wieder herstellen könne. Während zu Beginn der Abhandlung das Wagnis ihres Unternehmens noch thematisiert wird, steht am Ende ein rekonstruiertes Wörterbuch des Wolfmanns, das behauptet, eine Sprache des Unbewussten darbieten zu können (vgl. dies.: Cryptonymie. Le verbier de l’homme aux loups. Précédé de Fors par Jacques Derrida. Paris: Flammarion 1976, insbesondere S. 135–157 und S. 240ff.).

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Vaters geträumt oder gar in der Rolle der im Traum fehlenden Mutter? Ist es Freud, der auf seine Art das von der Patientin Erzählte wiedergibt? All diese Fragen scheinen so offensichtlich zu sein, dass sie weder Freud noch den nachfolgenden Interpreten – die wichtigsten sind Jacques Lacan, Samuel Weber und Cathy Caruth, auf deren Lektüren ich später eingehen werde – eine ausführlichere Erwähnung wert gewesen wären. Sie sind nichtsdestoweniger ausschlaggebend. Weil wir all dies nicht wissen, können wir auch nicht entscheiden, welche Elemente in dieser Erzählung als Erzählung der wirklichen Umstände, in denen dieser Traum entstanden ist, zu werten sind und welche Elemente dieser Erzählung zum eigentlichen Traum gehören. Denn sobald der Traum in den Status des nachgeträumten Traums eintritt, ist nicht auszuschließen, dass auch die Wirklichkeitselemente, welche die Vorbedingungen des Traums liefern sowie jene, welche die Reaktion des erwachenden Vaters zusammenfassen, selbst geträumte sind. Vielleicht nirgends sonst wie hier wird anschaulich, dass, wie Freud an anderer Stelle formuliert hat, der Traum ein Gedanke ohne Subjekt ist.13 All dies thematisiert Freud nicht explizit, aber es mag seiner knappen Bemerkung in der dritten Wiederaufnahme des Traums zugrunde liegen, wenn er schreibt, dass „wir die Analyse dieses Traumes nicht machen können“.14 Die aufgefächerten Fragen problematisieren prinzipiell die Möglichkeit, das Traumgebilde durch eine meist komplexe Wege gehende Rückbindung seiner Elemente an vorhandenes, im engeren und weiteren Sinne biographisches Material zu erklären. Sie fordern zu einer Suche nach anderen analytischen, respektive philologischen Umgangsformen damit auf. Dies umso mehr, als diesem kleinen Traum ja eine extreme Kraft innewohnt, jeden, der mit ihm lesend und studierend in Berührung kommt, zu bewegen, wenn nicht gar zu erschüttern. Es ist in der Tat, als gäbe er auch jenseits seiner Bedeutung für den ursprünglichen Träumer eine Frage auf, die uns hier und heute betrifft. Wenn dem so ist, dann eignet diesem Traum etwas gänzlich Unerledigtes, das durch jede seiner künftigen Deutungen fortgeschrieben wird. Als längst vergangener Traum steht er als künftiger, zu deutender stets noch bevor und fordert darin zugleich auf, sich ihm anders als im herkömmlichen Sinne deutend, sprich: nach Bedeutung suchend, zu nähern. In Frage steht damit ein philologisches Lesen dieser kleinen Traumerzählung, das sich quer zu einer Allegorese des Traums verhält, das sich dem Zwang, von ihm

13 So zumindest kann man die Beobachtung zuspitzen, dass uns „der fertige Traum als etwas Fremdes [erscheint], zu dessen Urheberschaft zu bekennen es uns so wenig drängt, daß wir ebenso gerne sagen: ‚Mir hat geträumt“ wie: ‚Ich habe geträumt.‘ Woher rührt diese ‚Seelenfremdheit‘ des Traumes?“ (Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S. 72). 14 Ebda., S. 543.

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eine „vollständige Deutung“ zu geben, entzieht, kurzum, das sich auf der Höhe einer nachträumenden Traumarbeit als Arbeit an diesem Traum bewegt. Konkret denke ich dabei an zwei an den Grenzen des philologisch-hermeneutischen Methodenfeldes sich bewegende Gesten. Die erste ist jene, die Samuel Weber in seiner Auseinandersetzung mit diesem Traum ausgeführt und die er „Überdeutung“ genannt hat. Diese wendet sich von Freuds Konstatierung der Durchsichtigkeit des Traums ab und arbeitet stattdessen die in ihm statthabende Entstellung als Artikulation eines Anderen – eines unbewussten, infantilen, überdeterminierten Wunsches – heraus. Dies allerdings nicht im Sinne der Enthüllung einer Bedeutung, wie es eine herkömmliche Deutung behaupten würde, sondern im Sinne der Hervorhebung jener Entstellungs-Dynamik, die dafür verantwortlich ist, dass sich die Bedeutung in diesem Traum stets entzieht. Die Überdeutung ist damit eine Deutung, die sich auf den im Traum formulierten Vorwurf – nicht zu sehen – durchaus gefasst macht. Webers entscheidende Schlussfolgerung lautet: „Denn das Ich, das nur Sinn sehen will, übersieht gerade, was in die Augen springt und den Sinn sprengt: die Bewegung der Entstellung.“15 Ich verfolge hingegen einen etwas anders akzentuierten Weg, der Freuds Insistenz auf der besonderen Durchsichtigkeit dieses Traums – eine Erfahrung, die ja auch die Leser dieser Traumerzählung machen – zunächst einmal für bare Münze nimmt.16 Ich frage, wie wir lesend mit etwas Durchsichtigem und Offensichtlichem umgehen können. Im Gegensatz zur „Überdeutung“ plädiere ich für eine extrem zurückgenommene Deutung, um ein „Weniger-als-Deuten“, das sich in diesem Fall nun strikt darauf beschränkt, die Traumerzählung zu zitieren und zu rezitieren und auf diese Weise das in ihr gegebene Wortmaterial immer wieder anders zu akzentuieren. Dieses Lesen bezieht sich ausschließlich auf das auf der Textoberfläche Gegebene; es beschäftigt sich mit dem Sichtbaren, mit dem Offensichtlichen, das ja im Traum das zentrale Thema ist: das Offensichtliche, das nicht gesehen wird. Eine solche Akzentuierung impliziert ein gleichsam taktiles Herangehen an die Textualität dieses Traums, um die darin eingewebten Muster reliefartig hervorzuheben. Es geht um die Unterstreichung differentieller Momente in diesem Traum, die so zunächst in ihrer schieren Stofflichkeit aufscheinen. Das Verfahren zielt ausdrücklich nicht auf etwas ab, was sich hinter der Traumerzählung verbergen und dadurch das bedeutende Ergebnis einer Deutung bilden könnte. Ein solches Leseverfahren produziert anstelle einer Bedeutung

15 Samuel Weber: Freud-Legende. Drei Studien zum psychoanalytischen Denken. Olten, Freiburg: Walter 1979, hier: S. 102. 16 Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S. 489: „… stoßen wir auf diesen Traum, welcher der Deutung keine Aufgabe stellt, dessen Sinn unverhüllt gegeben ist“ und S. 525: „der vorangestellte, ganz besonders durchsichtige Traum“.

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vielmehr eine Verschiebung des vorhandenen Materials, deren schiere Remontage, die Hervorbringung von Material für weitere Deutung. Es bewirkt dadurch einen Aufschub, oder auch: eine Fort-setzung von Deutung, was eine Öffnung bzw. ein Offenhalten von Bedeutung impliziert, für das ich im ersten Kapitel angesichts der Frage nach der literarischen und philologischen Arbeit am Trauma plädiert habe.

2 Der Traum im Zeichen der Verdopplung Ein erster Schritt in einem solchen Leseverfahren betrifft die Problematisierung der scheinbar so klaren Untergliederung dieser Traumerzählung in drei Teile, die sich wie folgt darbietet: ein erster, drei Sätze umfassender Abschnitt, der die Vorbedingungen des Traumes (beim angenommenen ersten, anonymen Träumer) schildert; ein zweiter, kursiv gesetzter Abschnitt, der in einem einzigen Satz den eigentlichen Traum repräsentiert; schließlich ein dritter Abschnitt, der in einem Satz das Erwachen des Träumers benennt und die von ihm wahrgenommene katastrophale Situation des brennenden Leichnams beschreibt. Diese Gliederung ist nur haltbar, ich deutete das oben bezüglich der Frage nach dem Subjekt des Traums schon an, sofern man den Traum an den anonymen Vater zurückbindet, der sich selbst und sein eigenes Kind träumt. Schon auf der Ebene des von der Patientin nachgeträumten Traums muss eventuell davon ausgegangen werden, dass auch die geschilderten Umstände des Traums in den Traum eingegangen sind, sprich: onirischen Status haben, was nicht zuletzt zu einer gänzlichen Loslösung dieser Traumerzählung von realistischen, biographischen Daten eines bestimmten Traumsubjekts führt. Eine solche Loslösung des Traummaterials lässt den in der Erzählung erwähnten Vater gleichsam zu einer unpersönlichen, mythischen Figur eines versagenden und zugleich ver-sagenden (Ur-)Vaters werden. Innerhalb des Gefüges sticht der vom toten Kind geäußerte Vorwurf an den Vater als diejenige Aussage hervor, die, obwohl sie in ihrer Pragmatik unrealistisch ist, eine nicht zu leugnende Wahrheit ausspricht: dass das Kind brennt und der Vater dies nicht sieht, obwohl er sich doch in unmittelbarer Nähe aufhält. Nun ist bemerkenswert, dass der in der Erzählung kursiv gesetzte, den eigentlichen Traum repräsentierende Satz – „daß das Kind an seinem Bette steht, ihn am Arme faßt und ihm vorwurfsvoll zuraunt: Vater, siehst du denn nicht, daß ich verbrenne?“ – maßgeblich aus Sprachelementen besteht, die in der Traumerzählung zuvor schon genannt worden sind („das Kind“, „das Bett“, „Vater“; „blicken“ wird zu „sehen“, „murmeln“ wird zu „zuraunen“) bzw. nach ihm wiederaufgenommen werden („Arm“, „verbrenne“). So wie der Arm des Vaters, den das

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Kind im Traum erfasst, gleichsam in den brennenden Arm des Kindes hinüberreicht, so durchlässig erscheinen hier auch die Sätze untereinander. Die als realistisch einzustufenden Gegebenheiten, ganz gleich, ob sie nun geträumte sind oder nicht, bringen durch eine leichte Verstellung des durch sie gelieferten Wortmaterials den in seiner Pragmatik unrealistischen (ein totes Kind spricht) und zugleich so unleugbar wahren Satz hervor. Alle Substantive dieses zentralen Satzes sowie das Verb „verbrennen“ kommen in der gesamten Traumerzählung mindestens doppelt vor. Allein das Adverb „vorwurfsvoll“ hat keine Entsprechung außerhalb dieses Satzes: Es findet stattdessen sein Echo noch im selben Satz, im Partikel „denn“, das – so der Duden – in Fragesätzen den Ausdruck des Zweifels und des Unglaubens verstärkt. Wenn man diese Verdopplungsstruktur hervorhebt, erscheint der zentrale Traumsatz als eine Art Echo der ihn umstellenden Sätze und umgekehrt. Noch einmal etwas anders gelesen und gezählt, zeichnet sich die insgesamt fünf Sätze umfassende Traumerzählung durch vielfache Wortwiederholung auf engstem Raum aus: Viermal wird das „Kind“ erwähnt, viermal die „Leiche“; viermal der „Vater“.17 Viermal geistert auch der Signifikant „wach“ durch den Text: zunächst in „gewacht“ (die Wache des Vaters am Krankenbett), dann in der (Toten-)„Wache“, zu der der alte Mann bestellt worden ist, dann in „er erwacht“ (man bemerke hier auch die doppelte Einschreibung von „er“), schließlich in der Bezeichnung des alten Mannes als „greiser Wächter“. Dreimal wird der Signifikant „brennen“ genannt: einmal in der ersten Person Singular Präsens („ich verbrenne“), dann als Partizip Perfekt („verbrannt“), schließlich als Partizip Präsens („brennend“). Zweifach finden sich die Wörter „Bett“, „Kerze“, „umstellt“/„bestellt“, „Schlaf“ und „Zimmer“. Die räumliche Organisation der Szene ist dabei streng parallel gestaltet und spricht ihrerseits von äußerster Nähe: Da ist auf der einen Seite das Zimmer mit der aufgebahrten Leiche, das „Leichenzimmer“, und auf der anderen Seite das Schlafzimmer des Vaters, das „Nebenzimmer“. Das Nomen „Leiche“ und die Präposition „neben“ haben ihren zwar fragwürdigen, aber zu Spekulationen anregenden wortgeschichtlich gemeinsamen Nenner im Wörtchen „gleich“.18 Die Leiche ist, was sich absolut gleich ist, was dieselbe Gestalt, dasselbe Gesicht, was

17 Genauer: dreimal als Signifikant „Vater“, einmal in der pronominalen Wiederaufnahme „er“. 18 Vgl. für die sprachliche Nähe zwischen „Leiche“ und „gleich“ Giorgio Agamben: „Das unvordenkliche Bild“. In: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 543–553, hier: S. 543; für die semantische Nähe zwischen „neben“ und „gleich“ siehe den Eintrag in Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch: „in gleicher linie mit (im vergleich mit), zur seite, an der seite von, nahe bei.“

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denselben Anblick bietet;19 der „Nebenraum“ ist einer, der nicht nur „unmittelbar an der Seite dazu“, „dicht bei“ dem Leichenraum ist, sondern in gewisser Weise diesem immer auch schon „gleich“ ist. Eine geöffnete Tür markiert die Schwelle zwischen diesen direkt beieinander liegenden, ja vielleicht sogar gleichen Räumen und Sätzen. Auch wenn sich der Vater zur Ruhe legt, will er immer noch in Blickkontakt mit seinem toten Kind bleiben. Es ist, als traue er dem alten, zur Wache bestellten Mann diese Aufgabe von vornherein nicht zu, während er seine eigenen Kräfte überschätzt. Denn anstatt zu schauen, schließt er die Augen und schläft ein – wie im Übrigen ja auch der Wächter.20 Es sind Verdopplungen, räumliche Parallelitäten, wenn nicht gar Gleichheiten und eine Reihe von Stellvertretungen, welche diese Erzählung auszeichnen. In dem Moment, da der alte Mann die Wache des Vaters übernimmt, übernimmt der Vater, indem er sich niederlegt und einschläft, mimetisch die Position des toten Kindes. Der alte Mann jedoch versagt in seiner Stellvertretung und nimmt seinerseits schlafend die Position des Kindes ein. So liegen zuletzt alle danieder. Eine unwiderstehliche Schwerkraft scheint alle im Spiel stehenden Körper in die horizontale Lage gezwungen zu haben. Da vermag auch die Kerze nicht mehr aufrecht zu stehen: Sie fällt – ausgerechnet auf den Leichnam. Der einzige, der daraufhin aufsteht und Alarm schlägt, ist, im Traum, das tote Kind – anstelle des Wächters, anstelle der väterlichen Instanz. Es ist, als dürfe die Verbindung durch den Blick, die das Verhältnis des Vaters zu seinem Kind prägt, nicht durch eine mimetische Bindung, die das Niederlegen und Einschlafen implizieren und die einer Art Nachsterben gleichzukommen

19 Vgl. hierzu die Ausführungen von Maurice Blanchot: L’espace littéraire. Paris: Gallimard 1955, S. 344 und 346: „L’image, à première vue, ne ressemble pas au cadavre, mais il se pourrait que l’étrangeté cadavérique fût aussi celle de l’image. Ce qu’on appelle dépouille mortelle échappe aux catégories communes: quelque chose est là devant nous, qui n’est ni le vivant en personne, ni une réalité quelconque, ni le même que celui qui est en vie, ni un autre, ni autre chose. […] Fait frappant […], à ce moment où la présence cadavérique est devant nous celle de l’inconnu, c’est aussi que le défunt regretté commence à ressembler à lui-même […]. Oui, c’est bien lui, le cher vivant, mais c’est tout de même plus que lui, il est plus beau, plus imposant, déjà monumental et si absolument lui-même qu’il est comme doublé par soi, uni à la solennelle impersonnalité de soi par la ressemblance et par l’image. […] Et si le cadavre est si ressemblant, c’est qu’il est à un certain moment la ressemblance par excellence, tout à fait ressemblance, et il n’est rien de plus. Il est le semblable à un degré absolu, bouleversant et merveilleux. Mais à qui ressemble-t-il? À rien.“ 20 „Wächter“ heißen in der Traumdeutung im Übrigen die Instanzen der Zensur. Es wird ihnen notorische Unvorsichtigkeit zur Nachtzeit bescheinigt (vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S. 541).

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drohen, ersetzt und abgelöst werden. In der Tat kommt hier etwas dazwischen – nämlich ein Traum, in dem das Kind seinen Vater in den Blick („siehst Du denn nicht…?“) und damit ins wache Leben zurückruft. Indem es dies tut, führt es eine nochmals andere Art der Bindung vor: Denn indem das Kind im Traum ans Bett des Vaters kommt, ihn anfasst, sich über ihn beugt, ihm zuspricht, insistiert es nicht nur auf der Frage des Sehens bzw. Nicht-Sehens, sondern auch auf der verlassenen Stelle am Bett, die im wörtlichen Sinne eine klinische (von griech. kline: Bett) ist. Das Klinische impliziert ein geneigtes Sprechen, das sich im Beispiel unserer Traumerzählung bis in die typographische Heraushebung des Satzes durch Kursivschrift, einer im buchstäblichen Sinne inklinierten Schrift, durchsetzt. Über den Traum kehrt also nicht nur die Mahnung an den schrecklichen Brand wieder, sondern in ihm taucht auch eine klinische Haltung auf, die, obwohl der Vater „tage- und nächtelang am Krankenbett seines Kindes gewacht hat“, gefehlt zu haben scheint. Der geträumte und nur als geträumter realisierbare Satz bildet in mehrfacher Hinsicht das entscheidende Moment der ganzen Szene: Inmitten der direkten Referenz auf die erzählten Umstände ist er derjenige Satz, der, kursiv bzw. schräg stehend, die nicht gesehene Offensichtlichkeit der ganzen Szene auszusprechen in der Lage ist. Er verweist damit nicht zuletzt auf seinen in ihm längst qua WortVerdoppelung angelegten Evidenzeffekt, der durch die in und durch ihn verdoppelten und vervielfachten Signifikanten in der Erzählung erzeugt wird. Und zugleich liefert er dem Vater und damit auch uns Lesern einen Wink, wie mit diesem Dilemma umzugehen wäre: durch eine Hinwendung, die, wenngleich zu spät, trotzdem genau jetzt als Haltung der Trauer ansteht. Freud geht auf diese Hinwendung nicht ein. Auf die Grenzen der Deutung stoßend, wendet er stattdessen unversehens seine Fragerichtung um. Was nachfolgend im 7. Kapitel der Traumdeutung entwickelt wird, steht im Zeichen des Abschieds vom Deutungsparadigma überhaupt. Anstatt zu deuten, geht es Freud nun darum, zu einer eigentlichen Psychologie der Traumvorgänge vorzudringen, also zu fragen – und der Traum vom brennenden Kind lässt in der Tat diese brennende Frage aufkommen – warum „überhaupt ein Traum zustande kam, wo das rascheste Erwachen geboten war“.21 Damit wird der letztlich unanalysierte Traum zum Anlass, darüber nachzudenken, wie wir uns überhaupt träumend zur Wirklichkeit verhalten. In methodischer Hinsicht erscheint rückblickend die Deutung im Sinne eines aufklärerischen Unternehmens, das Licht ins Dunkel trägt, als die „bequeme und behagliche Strecke unseres Weges“.22 Bislang konnte das

21 Ebda., S. 489. 22 Vgl. ebda., S. 490.

3 Vor und nach – stets daneben

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Dunkle und Unbekannte jeweils auf Bekanntes zurückgeführt werden. Jetzt, sagt Freud, den Traum vom brennenden Kind vor den Augen und im Ohr, steht Anderes bevor, Schwierigeres. Selbst unverhüllt und vom Feuer hell erleuchtet, kann zusätzliche Aufklärung nichts weiter erhellen. Es geht nun darum, mit der blendenden Helligkeit des Traums weiter ins Dunkle vorzudringen. Damit ist der Traum nicht mehr nur Objekt eines etablierten Verfahrens, sondern er wird zum Instrument, mit dem das Verfahren – nun in Hinblick auf eine erstmals theoretische Erkundung des Unbewussten – problematisiert und weiterentwickelt wird. Es gilt also, mit der rätselhaften Unverhülltheit und brennenden Helligkeit des Traumes weiterzugehen und weitere unbekannte Gefilde zu erkunden.

3 Vor und nach – stets daneben Jacques Lacan kommt seinerseits im Zusammenhang der Erörterung der Rolle von tyche und automaton (Zufall und Wiederholung) in den psychischen Vorgängen auch auf den Traum vom brennenden Kind zu sprechen.23 Er verlagert dabei den Akzent radikal von der Deutung auf die Frage des grundsätzlich verfehlten, weil verspäteten Sich-Verhaltens des Subjekts zur Wirklichkeit. Die Traumerzählung erzählt, so könnte man Lacans Ausführungen verknappt wiedergeben, im Wesentlichen vom Verpassen als das, was Katastrophen hervortreibt. Nun ist dieser durch Lacan prominent gemachte zeitliche Aspekt eines irreparablen Verfehlens in die Erzählung ebenfalls längst buchstäblich eingeschrieben. Das weniger als deutende Lesen, mit dem ich die Verdopplungsstruktur der Traumerzählung als einen wesentlichen Aspekt der „Unverhülltheit“ dieses Traums herausgearbeitet habe, zeigt auch, inwiefern in der Verdopplung stets schon eine zeitliche Verschiebung und Verrückung angelegt ist. Es genügt, dass wir nun unseren Blick von den Substantiven und Verben auf das Spiel der als Präfixe getarnten Präpositionen verlagern. Durch diese abermalige Blickverschiebung wird nicht zuletzt auch die im Traum formulierte Frage reflektiert, wohin man schauen muss bzw. schauen soll, um das Offensichtliche zu sehen. In der Tat sehen und erfassen wir nie alles auf einmal. Auch darum sei an dieser Stelle der Traum abermals wiedergegeben, nun die einleitenden Vorbemerkungen Freuds mitzitierend: Unter den Träumen, die ich durch Mitteilung von seiten anderer erfahren habe, befindet sich einer, der jetzt einen ganz besonderen Anspruch auf unsere Beachtung erhebt. Er ist mir von

23 Jacques Lacan: Le Séminaire, Livre XI, Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse (1963/64). Paris: Seuil 1973, S. 68–71.

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einer Patientin erzählt worden, die ihn selbst in einer Vorlesung über den Traum kennengelernt hat; seine eigentliche Quelle ist mir unbekannt geblieben. Jener Dame aber hat er durch seinen Inhalt Eindruck gemacht, denn sie hat es nicht versäumt, ihn ‚nachzuträumen‘, d. h. Elemente des Traums in einem eigenen Traum zu wiederholen, um durch diese Übertragung eine Übereinstimmung in einem bestimmten Punkte auszudrücken. Die Vorbedingungen dieses vorbildlichen Traumes sind folgende: Ein Vater hat tage- und nächtelang am Krankenbett seines Kindes gewacht. Nachdem das Kind gestorben, begibt er sich in einem Nebenzimmer zur Ruhe, läßt aber die Tür geöffnet, um aus seinem Schlafraum in jenen zu blicken, worin die Leiche des Kindes aufgebahrt liegt, von großen Kerzen umstellt. Ein alter Mann ist zur Wache bestellt worden und sitzt neben der Leiche, Gebete murmelnd. Nach einigen Stunden Schlafs träumt der Vater, daß das Kind an seinem Bette steht, ihn am Arme faßt und ihm vorwurfsvoll zuraunt: Vater, siehst du denn nicht, daß ich verbrenne? Er erwacht, merkt den hellen Lichtschein, der aus dem Leichenzimmer kommt, eilt hin, findet den greisen Wächter eingeschlummert, die Hüllen und einen Arm der teuren Leiche verbrannt durch eine Kerze, die brennend auf sie gefallen war.24

Die Unterstreichungen lassen folgendes erkennen: Die gesamte Erzählung, die von einem finalen Streben und zugleich einem verpassten Jetzt des rechtzeitigen Eingreifens handelt, ist von einem insistierenden „zu“ durchwirkt, zugleich aber in ein Wechselspiel von „vor“ und „nach“ aufgespannt. Es ist, als sei dieses auffällige Verhalten der Präfixe und Präpositionen eine Art Textsymptom für das Auseinanderklaffen, von dem der Traum immer schon erzählt: nämlich dem Hiat zwischen dem Offensichtlichen und dem (Nicht-)Gesehenen, dem in Sich-Abgeschlossenen und radikal Offenen der Szene, dem Beabsichtigten und dem Geschehenden, dem Träumen und dem Erkennen, der Wahrnehmung und dem Bewusstsein. Lacan erkennt genau in diesem Auseinanderklaffen das Traumatische der Szene.25 Obwohl alles von einer in sich geschlossenen Gleichheit spricht, ereignet sich eine irreduzible Verspätung. Etwas – eine schiere Differenz – scheint zu insistieren, etwas, das weder durch das Sehen noch durch das Träumen assimiliert und auch nicht im Moment des Erwachens in eine Koinzidenz übergeführt werden kann. Etwas kommt hier nicht zum Abschluss, etwas klafft hier immer wieder neu auf; etwas ist immer schon geschehen und steht zugleich immer noch bevor, bzw. genauer: wird stets immer noch bevorgestanden haben.26 Cathy Caruth hat in ihrer Auseinandersetzung mit Lacans Lektüre davon gesprochen, dass diese Traumerzählung die Frage nach der ethischen Beziehung zum Realen stelle.27 Dabei bleibt jedoch gänzlich im Vagen, worin diese ethische 24 25 26 27

Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S. 488. Vgl. Jacques Lacan: Le Séminaire, Livre XI, S. 65. Vgl. Samuel Weber: Rückkehr zu Freud, S. 12. Vgl. Cathy Caruth: Unclaimed experience, S. 102.

3 Vor und nach – stets daneben

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Beziehung zum Realen bestehen kann. Wenn ich an dieser Stelle mehr Spezifizität einfordere, dann meine ich damit keine Spekulation über die möglichen Hintergründe des Todes des Kindes, sondern vielmehr, dem Echoraum nachzugehen, den dieser Traum, der von biographischen Eckdaten, wie wir gesehen haben, gänzlich entkoppelt ist, entstehen lässt. Die Unmöglichkeit der Assimilierung des Traums in eine gegenwärtig greifbare Bedeutung führt zwangsläufig zur Fortsetzung des Traums über das Aufwachen des vorgestellten Träumenden hinaus, d. h. zu einem Nachträumen des Traums auf Seiten seiner Leser in einer anhaltenden Gegenwart. Ein solches Nachträumen, das sein Ergebnis nicht in einer Bedeutung findet, impliziert das Phänomen der Übertragung des Traums auf seine Leser und Deuter. Wo diese Übertragung nicht geleugnet werden kann, darf sie aber auch nicht einfach als selbstredendes Zeugnis einer Retraumatisierung mitgetragen werden, sondern sie muss vielmehr methodisch reflektiert und zum Einsatz gebracht werden. Eine Möglichkeit sehe ich darin, die psychische Übertragung in eine der Traumarbeit verwandte Operation der Montage zu übersetzen, durch welche die vielfachen Echobildungen, die durch den kindlichen Anruf in diesem Traum ausgelöst wird, zumindest bis zu einem gewissen Grad jenseits einer rein persönlichen Affiziertheit intelligibel gemacht werden können. Mit „Echo“ ist dabei eine akustische Wiederholungsstruktur benannt, die hier genau in dem Moment einsetzt, wo etwas Offensichtliches nicht gesehen wird bzw. nicht gesehen werden kann. Das Versagen des Sehens provoziert den Appell an das Hören, den Ruf des Kindes, der seinen Ursprung – das Nicht-Gesehen-Werden – schon benennt. Sofern die Leser von diesem Ruf, der in der Erzählung dem Vater gilt, erreicht werden, können sie nicht umhin, ihn als (fremde) Stimme ihres jeweils eigenen Gewissens zu hören, als eine Stimme, die ihnen von außen zukommt, als Imperativ, als Anrufung, als Frage, die von dieser Szene an sie ergeht.28 Solcherart von der Deutung in die Übertragung gleitend, wird die Stimme des Kindes, die an den Vater adressiert ist, auch für einen selbst hörbar. Was aber wird darin hörbar? In dem Moment, wo sich der Anruf auf andere überträgt, ist er nicht nur schlechterdings (re-)traumatisierend, sondern bietet auch die Möglichkeit, wahrzunehmen, dass ihm etwas Wertvolles mitgegeben ist. In der Tat enthält der geträumte Vorwurf des Kindes – wie so viele andere Vorwurfsträume in der Traumdeutung – auch einen Entwurf: Dieser Entwurf verklammert die Frage des Sehens bzw. Nicht-Sehens, über die auch die Frage des Deutens und des adä28 Vgl. zum Appellcharakter der Sprache im Allgemeinen Andrea Allerkamp: Anruf, Adresse, Appell. Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur. Bielefeld: transcript 2005 und in Bezug auf die Unmöglichkeit der Vision, die einen Appell hervortreibt, dem man sich nicht entziehen kann, v. a. S. 310f.

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II Deuten, Nachträumen, Montieren: Freuds Traum vom brennenden Kind

quaten, rechtzeitigen Handelns mitverhandelt wird, mit der Frage der Trauer. Eine Trauer, die auch das Deuten, den zu vollziehenden Abschied von der Deutung betrifft. Denn der Vorwurf, nicht zu sehen, betrifft immer auch das analytische Deuten. Davon zeugt insbesondere der Traum von Irmas Injektion, der die Angst des Analytikers artikuliert, offensichtliche physiologische Entzündungen zu übersehen. Die Deutung birgt in sich stets das Risiko, den Blick für das Offensichtliche zu verstellen und dadurch unmittelbares Handeln und Eingreifen eher zu verhindern als zu befördern. Zwischen dem Sehen des Offensichtlichen und dem Deuten schreibt sich eine Kluft ein. Was hieße „einen Brand sehen“ gegenüber „einen Brand deuten“? Würde das Sehen jenes punktgerechte Eingreifen erlauben, das Deutung aufgrund der Zeit, die sie benötigt, stets aufzuschieben neigt? Wäre dem so, so würde dieser Traum auch von der Zeit, die die Deutung benötigt, sprechen, von ihrer ihr eigenen Nachträglichkeit, mit der sich die Philologie und insbesondere auch die Psychoanalyse, die ja den Anspruch auf verändernden Eingriff in den Lauf einer Lebensgeschichte erhebt, in ihrem Verhältnis zum Ereignis auseinandersetzen müssen. Es bleibt also die Frage, welche Instanz bzw. welche Geste in der Lage sein würde, sich auf den im Traum formulierten Imperativ zu beziehen, bzw. ihm „adäquat“ zu antworten. Wenn sie nicht gerade heraus beantwortet werden kann, so liefert der Traum eine schräge Entgegnung: nämlich in der Haltung des Kindes, an das Bett des Vaters zu treten, bei ihm zu sein, ihn am Arm (was auch impliziert: ihn in seinem Arm- und Verlassensein) zu berühren, ihn mit inklinierten Worten anzureden.

4 Übertragung, Montage, Trauer In der von Caruth benannten „ethischen Haltung zum Realen“ hat Slavoj Žižek eine „Positivität des Verkennens“ ausgemacht.29 Nach dem bislang Entwickelten können wir sagen, dass diese Positivität des Verkennens exakt darin begründet ist, dass sie Bedeutungen verfehlt. Unter der Schwelle der Bedeutungen ereignet sich die „ethische Haltung zum Realen“ als eine Übertragung des affektiven Potentials, vom Kind auf den Vater und weiter auf die Leser. Die Kluft zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit, Träumen und Wachen, von der der Traum erzählt, wird in jeder Rede darüber unwiederbringlich fortgesetzt. Es ist eine Kluft, die jede Rede darüber zum zerklüfteten Gelände macht, in der wiederum etwas aufklafft. Während die herkömmlich auf Bedeutung ausgerichtete Deutung diese Kluft füllen und zum Verschwinden bzw. Verstummen bringen möchte, ist

29 Vgl. Slavoj Žižek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst!, S. 13, 19f.

4 Übertragung, Montage, Trauer

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für die Montage genau diese Kluft konstitutiv. Sie behauptet weder die Kluft abzubilden, noch diese zu schließen, sondern sie macht sie zu ihrem eigenen Verfahren, indem sie heterogenes, nicht zusammen passendes Material zusammenprallen lässt und dadurch Wirkungen erzeugt, die ebenso inkommensurabel sein dürften wie diejenigen dieses Traumgebildes, das ja selbst wesentlich montiert ist.30 Der Montage geht es um die Öffnung dieses vermeintlich eindeutig an den Vater adressierten Satzes, um darin andere Implikationen hör- und lesbar zu machen. Sie bildet damit einen Echoraum, in dem die Stimmen der Toten zur Apostrophe für die Lebenden werden, um darüber aber auch mit anderen toten Stimmen zusammen zu geraten. Die klassische Apostrophe, durch die normalerweise Tote angeredet und animiert werden,31 wird hierdurch nicht nur verkehrt, sondern auch zu einer gleichsam stereophonen Echolalie vervielfältigt. Das dreimal in der Traumerzählung genannte Verb „verbrennen“ ist sprachlicher Bestandteil dieses Echoraums. Ihm gehe ich nun insbesondere nach und folge damit einer Spur, die Lacan in seiner Lektüre angezeigt hat, in dem Moment, da er formulierte: „Père, ne vois-tu pas, je brûle. Cette phrase elle-même est un brandon – à elle seule, elle porte le feu là où elle tombe“ – „Vater, siehst du denn nicht, dass ich verbrenne? Dieser Satz ist eine Fackel – er allein legt Feuer an alles, worauf er fällt.“32 Lacans Beobachtung erfasst die starke Eigendynamik, die diesem, vom toten Kind an den Vater gerichteten Satz innewohnt, eine Eigendynamik, die sich gerade aufgrund der aufgezeigten Unmöglichkeit, die Szene an eine ursprüngliche Bedeutung zurückzubinden, entfaltet. Die Argumente, die eine auf diese 30 Den Traum als eine Montage bzw. bricolage von vorhandenem Material zu betrachten, ist ein wesentlicher Zug in Freuds Traumdeutung. Das impliziert auch schon eine Nähe des Traums zum Mythos, wie ihn Levi-Strauss definieren wird (vgl. ders.: La pensée sauvage. Paris: Plon 1962, S. 49f.). Wichtig ist mir dabei der unpersönliche Charakter des Traums sowie der unweigerlich träumende Charakter des eigenen Verfahrens. Zum unpersönlichen Charakter trägt überdies auch das Verb „zuraunen“ bei, das Foucault einmal als ein kollektiv, anonymes Raunen beschrieben hat (vgl. Hinweis bei Cornelia Klettke: „Die Insel der Schatten und ihr beredtes Schweigen – Heterotopie und Heterologie in L’Île aux musées von Cécile Wajsbrot“. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 3/4 (2013), S. 367–396, hier: S. 384). 31 Vgl. Barbara Johnson: A world of Difference. Baltimore, London: Johns Hopkins University Press 1987, S. 187. 32 Jacques Lacan: Le Séminaire, Livre XI, S. 70. Lacans Satz ist lesbar im Sinne dessen, was Werner Hamacher unter einer sprachlichen Inflammation versteht. Hamacher schreibt: „Dass die Sprache und alles, was mit ihr in Berührung kommt, brennt, ist keine Metapher. Es ist die – metonymische, über kontingente Verbindungen verlaufende – Artikulation eines Traumas“ (vgl. ders.: „Für – die Philologie“. In: Jürgen Paul Schwindt (Hg.), Was ist eine philologische Frage?. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 21–60, hier: S. 43).

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II Deuten, Nachträumen, Montieren: Freuds Traum vom brennenden Kind

Weise hervorgerufene wilde Übertragung einzugrenzen und abzufedern in der Lage wären, sind hier ja, wie ich gezeigt habe, sämtlich außer Kraft gesetzt. Gerade dies nötigt dazu, mit dem extremen Wirkungspotential dieses Traums, das durch jedes neue Lesen entfacht wird, einen Umgang zu suchen. Es ist ein Wirkungspotential, das nicht zuletzt jede Auseinandersetzung mit ihm, sei sie deutend, sei sie montierend, zu einem weiteren Nachträumen, d. h. einem determinierten und zugleich inkommensurablen, weil unbewussten Regeln folgenden Umgang mit wahrgenommenem und Erinnerungs-Material werden lässt. Dies gilt für den Umgang mit Träumen schlechthin, insofern ein ausschließlich an der wissenschaftlichen Vernunft orientierter Diskurs nie in der Lage sein wird, mit einem Traumgebilde einen adäquaten Umgang zu finden. Eine gewisse Kontamination durch den Traum bildet gewissermaßen die Voraussetzung dafür. Sie führt in unserem besonderen Traumbeispiel nicht zuletzt dazu, dass die Leser aufgefordert sind, ihre aufrechte Haltung zu verlassen, aber zugleich auch dem Sog, sich in die rein horizontale Lage all der schlafenden und toten Körper zu begeben, zu widerstehen. Die zu beiden Stellungen schräg verlaufende Haltung wäre diejenige eines Nachträumens im Wachzustand. Wie inkommensurabel dieses Nachträumen ist, zeigt nicht zuletzt Lacans eigene Lektüre. Es ist bezeichnend, dass seiner Darstellung zufolge allerhand im Traum geschieht, wovon in der bei Freud überlieferten Erzählung gar nicht die Rede ist: So wird bei ihm unter der Hand „das Kind“ zum Sohn („le fils“33), was nebenbei die ungelöste Geschlechterfrage in diesem Traum aufwirft.34 Darüber hinaus schläft bei Lacan der Wächter einfach weiter: „[C]elui qui était chargé de veiller près de son corps, reste encore endormi, même d’ailleurs quand le père survient après s’être réveillé“.35 Auch ist bei ihm der Traum voller Geräusche, von denen in der überlieferten Szene ebenfalls nicht berichtet wird.36 Lacans Bemerkung – „Cette phrase elle-même est un brandon – à elle seule, elle porte le feu là où elle tombe“ – ist eben aus diesem Nachträumen heraus formuliert worden. Das Nachträumen bewirkt, dass das Brennen, auf das der Satz verweist, den Satz entzündet, ihn zu einem brennenden macht. Er erhellt nicht seinen Gegenstand, wie es eine aufklärende Geste tun würde, sondern alles, was mit ihm in Berührung kommt, riskiert, Feuer zu fangen, zu verbrennen und vernichtet zu werden. Kein Mehr an Deutung und Klärung wird durch ihn erreicht, sondern vielmehr eine Übertragung seines zerstörerischen Potentials auf andere Gegenstände, Fragen und Kontexte. Die Eigendynamik einer solchen Fortschrei33 34 35 36

Jacques Lacan: Le Séminaire, Livre XI, S. 69. In Kap. VI. 9 komme ich noch einmal auf diese Frage aus anderer Perspektive zurück. Ebda. Vgl. ebda., S. 70.

4 Übertragung, Montage, Trauer

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bung der traumatischen Szene über sie selbst hinaus kommt vielleicht nirgends so präzis zum Ausdruck wie in der Konjugationsabfolge des Verbs „(ver)brennen“, wie sie die Traumerzählung skandiert: „verbrenne“, „verbrannt“, „brennend“: Das Partizip Präsens schreibt das Brennen als ein schon Verbranntes in eine andauernde Gegenwart fort. Etwas an diesem Satz, an diesem Vorwurf hört nicht auf zu brennen.37 Lacan hat mit seiner Formulierung die Voraussetzungen für diese gefährliche, weil Brand stiftende Versetzung der Szene geliefert, sie aber nicht weiter ausgeführt. Doch setzt sich ein solches Nachträumen im Sinne einer unbewussten Übertragung des Traums auf denjenigen, der durch ihn, ihn lesend, angesprochen wird, genau dann durch, wo verbürgte Überlieferungszusammenhänge, wie in diesem Traum, durchbrochen sind.38 Wohin führt aber dieses Nachträumen? Sicherlich nicht zu einer Restitution von Bedeutung. Stattdessen öffnet es auf weitere Verschiebungen des Traums. Es montiert ihn bzw. Teile von ihm in andere Fragekomplexe. Sofern er in unsere Erinnerungskultur mit ihren gesicherten Diskursen und Gedenkritualen verschoben wird, trägt er in diese einen anderen, irritierenden Ton ein. Denn er stellt ja, und zwar als Teil-Brand, noch einmal, aber zugleich ganz anders, die Frage, wie der nicht zu übersehende Allbrand – die „toute-brûlure“ bzw. der „brûle tout“, wie Blanchot und Derrida den euphemistischen Begriff wörtlich übersetzt und darin einen Wahrheitseffekt produziert haben39 – nicht gesehen werden konnte. Das Feuer der Verbrennungsöfen ist im Gegensatz zur Gaskammer ein sichtbarer Aspekt der Vernichtungslager gewesen. Die Tötungsprozesse waren nicht unsichtbar. „Selbst aus größeren Entfernungen wurden die Tötungen beobachtet. Aus der Richtung von Kattowitz sah man das Feuer von Auschwitz noch 20 km

37 Samuel Weber schreibt bezüglich der Benjaminschen Rede vom „Erwachenden“: „the present participle is never complete, always returning, but forever unfinished“ (ders.: Benjamin’s – abilities. Cambridge, London: Harvard University Press 2008, S. 171). 38 Die Tatsache der ungesicherten Überlieferung dieses Traums zeugt davon ebenso wie die Unterbrechung der Generationsabfolge. Es ist bemerkenswert, dass Kinder, deren Eltern sterben, zu Waisen werden, dass es umgekehrt aber keinen Ausdruck für Eltern gibt, deren Kinder vor ihnen gestorben sind. Vgl. dazu Gianluca Solla: Nomi di nomi. Milano, Genova: Marietti 2006, der in Anbetracht eines Gemäldes von Rembrandt, das den Vater darstellt, der seinen verloren geglaubten Sohn wieder empfängt, schreibt: „[I]l padre restando è abbandonato alla sua idiozia: d’essere un genitore senza figlio ossia un genitore che l’ha perduto. Quando capita il contrario, si dice che il figlio è «orfano». Per una madre o un padre che perdono il loro figlio non esiste espressione corrispondente, forse semplicemente la lingua si rifiuta di dare nome a una perdita inimmaginabile che interrompe ogni presunta naturalità del decorso delle vite, secondo cui sono sempre i figli a seppellire i genitori“ (S. 194). 39 Vgl. Einführung, Fußnote 7.

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II Deuten, Nachträumen, Montieren: Freuds Traum vom brennenden Kind

weiter“, schreibt zum Beispiel der Historiker Raul Hilberg in seinem epochemachenden Buch The Destruction of the European Jews von 1961.40 Insofern der Satz, der im Traum vom toten Kind ausgesprochen wird, in uns ein Echo bildet, müssen wir uns da nicht eingestehen, dass unser eigenes Verhalten zur Geschichte, unser geschichtliches Verständnis des Holocaust, mit der Schläfrigkeit des Vaters ebenso wie mit seinem zu späten Aufwachen und seiner Stummheit irgendwie verwandt ist? Wenn dem so ist, dann stellt sich im Lesen und Nachlesen dieser Traumerzählung erneut die Frage, welche Antworten es auf diesen Vorwurf, das Offensichtliche – einen Brand, einen Allbrand – nicht gesehen haben, geben kann. Diese Wiederkehr der Frage, die durch die traumatische Wiederkehr einer Katastrophe im Traum zu Tage befördert worden ist, zeigt ihrerseits, dass der erschütternde Traum in sich ein Geschenk birgt. Durchsichtig und abwehrend zugleich ist der Traum ein Schirm, auf dem etwas vom Trauma erscheinen und benannt werden kann. Etwas vom namenlosen Schrecken wird durch die direkte Anrede, die der Traum mit sich bringt, gebunden. Denn in gewisser Weise stellen die mahnenden und zugleich im buchstäblichen Sinne klinischen Worte des Kindes auch schon einen Hinweis bereit bezüglich eines immer nur mehr nachträglichen, trauernden Umgangs mit dieser Katastrophe.

5 Der ausgreifende Brand Die hier vorgenommene Montage steht zugegebenermaßen versetzt zu einer historiographisch ausgerichteten wissenschaftlichen Vernunft. Nichtsdestoweniger erwies sie sich wider solche Vernunft als notwendig, wo es galt, einer sich aufdrängenden Assoziation Ausdruck in einer philologischen Arbeit am Trauma zu verleihen. Sie setzt sich dabei einer Ver-rücktheit aus, zu der das Traumatische in dieser Szene auffordert. Insofern das Verfahren aber dennoch auch der Vernunft verbunden bleibt, stellt es zunächst einmal, anstatt Antworten zu geben, folgende Fragen, die an eine noch zu entwickelnde, philologisch orientierte Auseinandersetzung mit historischen Katastrophen gerichtet sind: Kann/kann nicht, darf/darf nicht, muss/muss nicht im unerhörten Ruf des Kindes der unerhörte, aber unüberhörbare Hilferuf der Deportierten aus den Lagern wahrgenommen werden? Oder anders gefragt: Wo fängt der Brand an – bei welcher brennenden Leidenschaft, bei welchem Fieber – und wohin breitet er sich aus? Sobald sich die wissenschaftliche Vernunft den verrückenden Dynamiken des Traumatischen aussetzt, ist sie aufgerufen, solche Fragen zu stellen, durch

40 Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Berlin: Olle & Wolter 1982, S. 652.

5 Der ausgreifende Brand

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die ein Brand entfacht zu werden droht. Es besteht das Risiko, dass sich die Signifikanten entzünden und ganz unterschiedliche Brandherde zu einem einzigen Flächenbrand werden lassen. Denn lesen wir so, dann schießt nicht nur das brennende Kind aus der Traumerzählung mit dem Allbrand zusammen, sondern rückwirkend wird auch das in den Armen des Vaters sterbende Kind aus Goethes Erlkönig davon erfasst, und weitere Brandherde sind nicht auszuschließen, in denen die vernünftige Rede der Väter („Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind: In dürren Blättern säuselt der Wind / Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau […]“) eine in den Worten des Kindes drängende Not verkennen.41 Bei einem solchen Flächenbrand geht das Konzept des Schauplatzes, das die Rahmung einer Katastrophe immer noch zu garantieren schien, gänzlich in Flammen auf.42 Das bedingt auch, dass es auch für die Leser keinen vor diesen Flammen geschützten Platz gibt, von dem aus sie den Brand bzw. die Brände unbeeinträchtigt betrachten, geschweige denn deuten könnten. Im Feuer können sie nicht sein, ohne daran zugrunde zu gehen. Sie sind aber auch nie einfach in einer feuerfreien Zone; ihre Position ist der Rand, wo sie das Risiko auf sich nehmen müssen, sich mit ihren angebrannten philologischen Instrumenten die Finger zu verkohlen. In Flammen geht auch der klassische Intertextualitäts-Begriff auf. Es bleibt, wie Cornelia Klettke schreibt, ein „Raunen“, „ein vielstimmiger Klangkörper“,43 in dem sich bewusste und unbewusste Zitate oder Reminiszenzen nicht mehr auseinander halten lassen, und es auch unerheblich ist, ob Autor und Leser über das gleiche Textrepertoire verfügen.44 41 Caruth erwägt das Anklingen von Goethes Gedicht in einer Fußnote, ohne dies weiter zu erörtern, vgl. dies.: Unclaimed experience, S. 145. Ich denke, dass die Auswendigkeit, die dem Erlkönig im deutschen Sprachraum eignet, maßgeblich zu seiner Wiederholung im Traum beiträgt. 42 Interessant zu bemerken ist, dass Freud selbst das für ihn bislang so maßgebliche Fechnersche Konzept des Schauplatzes im 7. Kapitel der Traumdeutung durch ein anderes topologisches Modell ablöst: nämlich die Zwischenräume zwischen den Linsen eines Fernrohrs, in denen ein virtuelles Bild entsteht (vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S. 512f.). Der mit dem Traum vom brennenden Kind aufkommende Zweifel am Gelingen der Rekonstruktion einer ursprünglichen, „hinter der Traumerscheinung“ liegenden Bedeutung führt hier zur Umformulierung des Modells, das den psychischen Apparat vorstellen soll. 43 Cornelia Klettke: „Die Inseln der Schatten …“, S. 386. 44 Vgl. dies.: Der postmoderne Mythenroman Michel Tourniers am Beispiel des Roi des Aulnes. Bonn 22012, S. 53. Cornelia Klettke hat die Verbindung zwischen Goethes Ballade und den NaziVerbrechen, wie sie in Tourniers Roman Le Roi des Aulnes gezogen wird, eingehend analysiert. Sie kommt zu dem Schluss, dass der Erlkönig gleichsam als mythischer Archetyp der Katastrophe und des Allbrands anzusehen ist.

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II Deuten, Nachträumen, Montieren: Freuds Traum vom brennenden Kind

Die hier zur Diskussion gestellte Montage versucht, über ein Lesen und Wiederlesen dieses Traumes – zwischen Deuten, Entzug des Zu-Deutenden und des unvermeidlichen Nachträumens – kulturelle, geschichtliche Haltungen bezüglich des Allbrands zu hinterfragen und einen gedanklichen Raum zu eröffnen jenseits der wissenschaftlichen Rationalisierung, die wesentlich historisch vorgeht, aber auch jenseits seiner Mystifizierung im Sinne eines unaussprechlichen, unsagbaren und schlechterdings unerklärlichen Ereignisses. Die Montage operiert mit der Nicht-Assimilierbarkeit und der daraus resultierenden Eigendynamik dieses Traums. Dabei ist sie weit davon entfernt, den Skandal der Unterbrechung von Überlieferung und Entzug der Bedeutung zu reparieren; vielmehr ist sie aus Unterbrechung und Bedeutungsentzug hervorgetrieben worden. Als solche reproduziert sie, abermals verschoben, die im Traum ausgestellte irreduzible Spaltung zwischen der Wahrnehmung und dem Bewusstsein, zwischen dem Offensichtlichen und dem Sehen. Diese Kluft wird nicht aufgehoben, allein sie wird in andere Kontexte getragen, die durch diese gleichsam schlafwandlerische Operation aufgestört werden dürften. Die Montage operiert nachträumend an einem immer noch zu vollziehenden Erwachen in das bewusste Wahrnehmen einer katastrophalen Wirklichkeit. Sie verschiebt dabei die Aufmerksamkeit vom schweigenden Vater zum Kind, in dessen Sprechen und Handeln zusammen mit dem Vorwurf auch eine klinische Geste aufscheint. Die Rede des Kindes konstituiert ein Band: es ist ein Band des Vorwurfs, durch das der Vater für immer an sein Kind gebunden bleibt, aber schlimmer als dieses Band, das im Versagen immer noch von der Suche nach einer Verantwortung spricht, wäre das Fehlen eines Bandes überhaupt. Die Notwendigkeit des Bindfadens im Spiel des kleinen Ernst mit der Spule, die geworfen wird und darin – das wird nun deutlich – immer auch schon einen buchstäblichen Vorwurf als Bindung ausbildet, scheint an dieser Stelle noch einmal deutlich auf. Nicht zuletzt wird sowohl anhand des Traums vom brennenden Kind als auch über das Spiel mit der Spule die schreckliche Möglichkeit eines hysteron proteron der Generationen verhandelt.45 Dort wo durch den Tod des Kindes die Generationenfolge und damit der übliche Weg der Überlieferung durchbrochen wird, bringt der Traum als Wiederkehr eines katastrophalen Ereignisses ein anderes Band bei. Übertragen und montiert in die riesigen Fragefelder, die sich um den Allbrand bilden, mag die kleine Traumerzählung ein Dispositiv darbieten, um sich einerseits mit der unbeantworteten Frage des Versagens rechtzeitigen Eingreifens auseinanderzusetzen, und andererseits Haltungen angesichts des Verstummens, das in der Regel einsetzt, wenn diese Frage gestellt wird, zu erproben.

45 Vgl. Jacques Derrida: „Spéculer – sur «Freud»“, S. 354.

5 Der ausgreifende Brand

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Will sich die Philologie dem Allbrand nähern, ist sie gezwungen, höchst gefahrvolle Wege einzuschlagen, da die geläufigen und ausgetretenen Wege schlechterdings einen großen Bogen um den Brand machen. Dabei kann dieser kleine Traum hilfreich sein, insofern er einen methodischen Hinweis mitgibt, der dazu auffordert, das Sehen und Deuten als klinische Gesten – sich dem Anderen zuneigende Gesten am Bett – auszurichten. Ausgehend von diesem im Traum mitgegebenen Wink können Haltungen und Verfahren entwickelt werden, um sich in der Nähe zum Brand zu halten, ohne von ihm verbrannt zu werden; um den Brand einzudämmen, ohne seine entgrenzende zerstörerische Dimension zu leugnen. Ein solches zu entwickelndes Verfahren muss, der Unauslotbarkeit des Brennens eingedenk, selbst – wie Lacans Fackelsatz – entzündende Kraft haben. Es mag diese gewinnen, indem es sich in seiner Gebundenheit an die wissenschaftliche Vernunft dem Wahnsinn aussetzt, das eigene Maß an einer geträumten Wahrheit zu nehmen.

Zweiter Teil

III „Ritorno“, mise en abyme, Parenthese. Primo Levis Schreiben über Auschwitz Le monde entier était fermé.1

1 Vorbemerkungen zur Forschungslage und Vorgehensweise Die Auseinandersetzung mit Primo Levis Werk steht im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Nicht nur, weil Levi mit Se questo è un uomo einen der frühesten autobiographischen Berichte über seine Inhaftierung im Konzentrationslager BunaMonowitz, einem Außenlager von Auschwitz, vorgelegt hat, und er in Italien, aber auch über Italien hinaus, bis heute einer der meistzitierten Zeugen ist, sondern auch weil seine Texte maßgeblich sind für die weitere Erkundung des traumatisierten Raums – besonders in Hinblick auf seine geographisch-politischen, psychischen und dann vor allem auch gattungsspezifischen und narratologischen Implikationen. Levis ausführlichste und direkteste Auseinandersetzung mit der Lagererfahrung erfolgt wesentlich in drei Texten: Zunächst in den beiden autobiographischen Berichten – Se questo è un uomo (1947) über seine Inhaftierung vom Februar 1944 bis Januar 1945 sowie La tregua (1963) über seine lange und schwierige Heimkehr von Auschwitz nach Turin, vom Januar 1945 bis Oktober 1945; dann in I sommersi e i salvati (1986), seiner philosophisch-essayistischen Reflexion über Zeugenschaft, Erinnerung, Schuld und Scham, in der er, mit mehr Distanz, dafür umso tiefer in die schmerzhaften Aporien der Lagererfahrung vordringt. Die Forschung zu Levis Werk ist umfangreich, zu meinem Bedauern allerdings geprägt von einem Pathos, das den Blick auf seine écriture häufig zu verstellen droht.2 Dies liegt zum einen an der Rolle des Zeugen, die Levi Zeit

1 Piotr Rawicz: Le sang du ciel. Paris: Gallimard 1961, S. 79. 2 Klar und streng wird dies von Risa B. Sodi benannt: „One of the consequences is that Levi has been denied the sort of bare bones literary and linguistic analysis he merits as an author. […] There are several possible reasons for such puzzling neglect by literary critics, starting with the perception that Levi was an amateur writer and therefore not subject to rigorous literary analysis – a perception that was encouraged by the author himself. Indeed, many critics took their clue from Levi’s own words and disregarded the literary underpinnings of his work, focusing primarily on his message, his testimony and, in large measure, his biography“ (vgl. dies.: „The Rhetoric of the Univers Concentrationnaire“. In: Roberta S. Kremer (Hg.): Memory and Mastery:

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III Primo Levi: „Ritorno“, mise en abyme, Parenthese

seines Lebens in der Öffentlichkeit erfüllt hat. In dieser Rolle hat Levi unzählige Aussagen über sein eigenes Werk, über sein Selbstverständnis als Autor und Zeuge getroffen, die von der Forschung oft unkritisch übernommen wurden. Zum anderen liegt dies an seinem Selbstmord am 11. April 1987, der als biographisches Faktum, wie dies auch bei Jean Améry und Sarah Kofman der Fall ist, in die philologische Auseinandersetzung eingegangen ist.3 Aus diesem Grund herrscht die von Levi selbst genährte Vorstellung vor, dass es sich bei den genannten Texten um eine stilistisch brilliante, in jedem Fall aber sachliche Berichterstattung handele.4 Das Literarische wird als stilistische Qualität hervorgehoben, jedoch nicht im Sinne eines literarischen Eigenwerts des Textes. Levi selbst hat sich dazu in einem Interview im Jahre 1985 geäußert: „Durante questi quarant’anni ho costruito una sorta di leggenda attorno a quest’opera [gemeint ist insbesondere Se questo è un uomo], affermando che l’ho scritto senza alcuna pianificazione, di getto, senza meditarci sopra […]. Ora che ci penso, capisco che questo libro è colmo di letteratura.“5 In der Forschung hält sich diese Legende recht hartnäckig; sie führt zuweilen sogar zur Schlussfolgerung, dass dem Imperativ, die Wahrheit der Lager zu übermitteln, jede Beziehung zur Literatur an sich fremd sei.6

Primo Levi as Writer and Witness. Albany: State University of New York Press 2001, S. 35–55, hier: S. 36). 3 Es ist zwar richtig, dass der Selbstmord der vom Trauma der Vernichtung gezeichneten Schriftsteller nicht einfach als ein kontingentes biographisches Faktum aus der Erörterung des Werks, das sie hinterlassen haben, ausgeklammert werden kann. Eine radikale philosophische Diskussion des Selbstmords findet sich in Imre Kertész’ Roman Liquidation, aus dem Ungarischen von Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüger, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 83–86, und zwar im Abschiedsbrief des in Auschwitz geborenen Protagonisten, des Schriftstellers Bé. Gleichwohl befremden Argumentationslinien, die Levis Selbstmord in dessen Werk antizipiert sehen. So besuchte beispielsweise François Rastier Levis Wohnhaus in Turin und meinte zu bemerken, dass das Treppenhaus, in das sich Levi gestürzt hatte, an eine Zisterne erinnere, von der Levi in Se questo è un uomo berichtet habe. Dies wirkt deplatziert, zumal in einem ansonsten durchaus lesenswerten Buch (vgl. ders.: Ulisse a Auschwitz. Levi, il superstite. Napoli: Liguori 2009, S. 46ff.). 4 Als Beispiel sei hier angeführt, wie Nicholas Patruno Levis Stil charakterisiert, der einer „trademark“ gleichkomme: „His concise, sober, lean style, is reflective of a mind that insists on being guided by reason and civility. His emphasis on clarity, his dispassionate approach, his accurate observations, honed by his scientific training, eschewed emotions, leaving them to his readers“ (ders.: „At an Uncertain Hour: The Other Side of Primo Levi“. In: Roberta S. Kremer (Hg.): Memory and Mastery, S. 91–102, hier: S. 93 und 95). 5 Primo Levi: Conversazioni e interviste 1963–1987. Hg. von Marco Belpoliti. Torino: Einaudi 1997, S. 65f. 6 Vgl. z. B. Alain Parrau: Écrire les camps. Paris: Belin 1995, S. 285, aber auch in zahlreichen neueren kulturwissenschaftlichen Forschungen zu Literatur und Zeugenschaft ist diese rein sachorientierte Lesart zu beobachten.

1 Vorbemerkungen zur Forschungslage und Vorgehensweise

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Dieser interpretatorische Kurzschluss spiegelt sich in der Auffassung wider, Levis eigentlicher Beitrag zur Lagerliteratur bestehe in der sachlichen Zeugenprosa, seine Gedichte hingegen seien bloßes sporadisches Beiwerk. In dieser vorherrschend inhaltsorientierten Lesart kommen die Gedichte, wenn überhaupt, nur als affektiver Gegenpol zur rationalen Prosa in den Blick. Dass diese Perspektive rückwirkend die sachhaltige Prosa als Medium der Affektabspaltung profiliert, wird dabei allerdings nicht bedacht. Desiderat ist von daher nach wie vor eine eingehende Auseinandersetzung mit narratologischen und poetologischen Aspekten von Levis Werk. Hierzu wollen die folgenden Ausführungen ihren Beitrag leisten. Das heißt auch, dass der Begriff des Traumas (der im Übrigen in der Forschung zu Primo Levi erstaunlich selten verwendet wird) im Rahmen dieser Arbeit weniger als Bezeichnung für die extremen Erfahrungen verstanden wird, die Levi im Lager machen musste und die ihn als Überlebenden nachhaltig gezeichnet haben, sondern als Begriff, der in Hinblick auf narrative Muster gelesen wird, welche diese vermeintlich so klare, sachliche, streckenweise chronologisch angelegte Prosa unterwandern. Mit dem Signifikanten „ritorno“ kann die traumatische Struktur in Levis Werk umkreist werden. Mindestens fünf Bedeutungsfelder sind in diesen Signifikanten eingefaltet, was nicht zuletzt das jedem „ritorno“ eingeschriebene Bild eines sich schließenden Kreises verzerrt und verneint. „Ritorno“ meint erstens im Moment der Befreiung des Lagers durch die Russen die Wiederkehr der Subjektivität des Lagerhäftlings;7 zweitens bedeutet „ritorno“ die Heimkehr aus dem Lager; drittens, heimgekehrt, die Wiederkehr des Lagers im (Alp)traum; viertens verweist „ritorno“ darauf, dass das Schreiben nicht nur eine freisetzende Verarbeitung ist, sondern auch ein Medium, in dem abgespaltene Affekte wieder aufgerufen werden; fünftens schließlich kann auch das Rezitieren und Zitieren anderer Texte – hier vornehmlich von Dante Alighieris Commedia – als eine Manifestation des „ritorno“ aufgefasst werden. Diese unterschiedlichen Manifestationen des „ritorno“ bilden nun gleichsam semantische Verwirbelungen aus, die das vermeintliche Fortschreiten von Levis Prosa mit gegenläufigen Unterströmen stören und damit die kathartische Wirkung des Erzählens, auf die Levi vertraut („il libro è stato scritto […] a scopo di liberazione interiore“8), wenn nicht widerlegen, so doch in Zweifel ziehen.

7 Vgl. zu diesem Aspekt insbesondere Primo Levi: I sommersi e i salvati. Torino: Einaudi 1986, S. 53–67 (Kap: „La vergogna“) und Giorgio Agamben: Quel che resta di Auschwitz. Torino: Bollati Boringhieri 1998, S. 81–126. 8 So Primo Levi im Vorwort zur Neuausgabe von Se questo è un uomo 1958 (zitiert nach ders.: Se questo è un uomo (Neuausgabe 1958); La tregua (1963). Torino: Einaudi 1989, S. 9).

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In der Texttopologie, die diese sich kreisartig überschneidenden Verwirbelungen ausbilden, wird entfaltet, was Levi in einem erzählten Traum, auf den ich noch genauer zu sprechen komme, artikuliert: Fraglich sei, ob es aus dem Raum des Lagers überhaupt einen Ausweg gebe, ob ein anderer Raum als das Lager existiere oder ob nicht vielmehr die gängige Opposition zwischen dem Lager als einem Haftraum und dem heimatlichen Raum als einem geschützten, intimen Raum durch die Erfahrung des Lagers in irreparabler Weise zusammengebrochen sei.9 Zugleich ruft uns Levis Werk dazu auf, eben genannte Fragen nicht nur als Phantasma eines traumatisierten Überlebenden zu begreifen, sondern als Fragestellungen, die unsere Kultur und unsere Gegenwart insgesamt unmittelbar betreffen.

2 Im Lager von der Zukunft träumen Es ist erstaunlich, welche Bedeutung der so sachorientierte Levi den Träumen in seinen Berichten einräumt. Er scheint darauf zu vertrauen, dass Träume Aussagen über historische Wirklichkeiten treffen können – zumal solche, die sich dem Zugriff des rationalen Verstehens entziehen. Um zu betrachten, wie Träume von Levi eingesetzt werden, eignet sich besonders gut das Kapitel „Le nostre notti“ in Se questo è un uomo. Dieses beginnt mit der allgemeinen Feststellung, dass der Mensch selbst unter extremen Bedingungen die Fähigkeit besitze, sich einen Schlupfwinkel („una nicchia“) zu schaffen und um sich herum eine dünne Schutzwand („un guscio“) zu errichten.10 Selbst mit den spärlichsten Mitteln gelinge es dem Menschen, sich ein Nest zu bauen: „ci si è fatto un nido, il trauma del travasamento è superato“.11 „Schlupfwinkel“, „Nische“, „Schutzwand“, „Nest“ werden gegen das Wort „Trauma“ aufgerufen. Levi fasst den Schlaf als eine konkrete Ausprägung solcher Vorrichtungen auf, die der Abwehr des Traumas dienen sollen. Er spricht – nun mit Blick auf die Nächte im Lager – von der „esile corazza del sonno“.12 Der Traum, der im Deutschen dem griechischen Wort Trauma so nah steht, zeugt jedoch nicht so sehr von der Überwindung des „trauma del travasamento“ –

9 Eine ähnliche Erfahrung artikuliert auch Charlotte Delbo und gibt dieser Ausdruck schon im Titel des ersten Bands ihrer Auschwitz-Trilogie: Aucun de nous ne reviendra. Auschwitz et après I. Paris: Minuit 1970. 10 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 50. 11 Ebda. 12 Ebda.

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was immer man sich unter diesem Ausdruck auch vorstellen mag13 – sondern vielmehr von einem in dieser Wendung immer schon eingeschriebenen genitivus subiectius, der ein „Umschütten“ des Traumas meint. So gelesen würde das Trauma metaphorisch als eine Flüssigkeit vorgestellt, die in das Gefäß des Traumes geschüttet würde. Was aber passiert in diesem Umgießen? Das Partizip „superato“ in der Wendung „il trauma del travasamento è superato“ beginnt, ganz nach der Art des Status des Signifikanten im Traum, zu schwanken zwischen „Überwindung“ und „Steigerung“. Unentschieden bleibt, ob das geträumte Trauma zu seiner Überwindung beiträgt oder vielmehr den Traum gleichsam zum Überlaufen bringt und dadurch das Traumatische am Trauma noch überbietet. Es zeigt sich jedenfalls bereits hier bei genauer Lektüre, dass die Logik des Nestbaus, an die gerade noch erinnert worden ist, im Lager nicht aufgeht. Die daraufhin geschilderten Träume machen dies noch deutlicher: Sie dementieren und demontieren die eingangs formulierte Reizschutztheorie.14 Die geschilderten Träume bezeichnet Levi als typisch und kollektiv. Sie werden nicht so sehr als Ausprägung einer singulären Psyche verstanden, sondern als Symptome der Lagerrealität gewertet. In ihnen artikuliert sich das Begehren nach einer Zukunft, in der zwei wesentliche orale Bedürfnisse – nämlich das Erzählen der erlittenen Qualen sowie der Genuss von lang entbehrten Speisen – erfüllt werden sollen. Der Traum findet dafür Bilder, in denen die Erfüllung dieser Bedürfnisse stets vorenthalten bleibt. Schauen wir uns dafür den ersten erzählten Traum genauer an: Qui c’è mia sorella, e qualche mio amico non precisato, e molta altra gente. Tutti mi stanno ascoltando, e io sto raccontando proprio questo: il fischio su tre note, il letto duro, il mio vicino che vorrei spostare, ma ho paura di svegliarlo perché è più forte di me. Racconto anche diffusamente della nostra fame, e del controllo dei pidocchi, e del Kapo che mi ha percosso sul naso e poi mi ha mandato a lavarmi perché sanguinavo. È un godimento intenso, fisico, inesprimibile, essere nella mia casa, fra persone amiche, e avere tante cose da raccontare: ma non posso non accorgermi che i miei ascoltatori non mi seguono. Anzi,

13 Heinz Riedt übersetzt für die deutsche Ausgabe von Se questo è un uomo vereindeutigend „Trauma der gewaltsamen Verpflanzung“ (vgl. Primo Levi: Ist das ein Mensch?. München: dtv 16 2007, S. 66). 14 Die Rolle der Träume ist durchaus umstritten unter den Zeugen der Lager. Jean Cayrol hat ihnen eine, wenngleich ambivalente, Schutzfunktion zugewiesen: „[L]es rêves devenaient un moyen de sauvegarde […]. Une certaine irréalité devenait, ainsi que son no man’s land nocturne, la meilleure défense de la réalité humaine à l’état pur“ (ders.: Lazare parmi nous. Neuchâtel: Baconnière 1950, S. 16). Selbst wenn Levi daran anknüpft, führt er doch vor, dass man sich im Lager in keiner Weise imaginär der Realität entziehen konnte.

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essi sono del tutto indifferenti: parlano confusamente d’altro fra di loro, come se io non ci fossi. Mia sorella mi guarda, si alza e se ne va senza far parola.15

Wenn der Traum einerseits imaginär eine Differenz zur Gegenwart des Lagers vorstellt, indem er auf eine Zukunft verweist, die innerhalb der Logik des Lagers ausgeschlossen ist (genau diese lebensnotwendige Qualität mag der Grund dafür sein, dass im Lager unter schwierigsten materiellen, körperlichen und psychischen Bedingungen gerade Träume für aufzeichnenswert erachtet wurden16), so erweist sich doch die in ihm vorgestellte Zukunft zugleich als eine abweisende, ja, in gewissem Sinne in das Lager immer schon zurückweisende, wie wir später genauer sehen werden. Die zitierte Traumerzählung impliziert nicht nur, dass hier ein häufig wiederkehrender Traum wiedergegeben wird. Sie hat darüber hinaus metadiegetische Bedeutung, da sie auch das Erzählen, das sich im Aufzeichnen des Berichts Se questo è un uomo vollzieht, reflektiert. In gewisser Weise träumt sich das erzählte Ich hier als künftigen Erzähler voraus, der er, in jenem Moment, wo er diesen Traum im Rahmen des autobiographischen Berichts aufzeichnet, tatsächlich ist. Kein sprachliches Signal zeugt jedoch davon, dass die im Traum verhandelte Angst eine vergangene, inzwischen widerlegte und überwundene wäre. „Qui c’è mia sorella, […] si alza, se ne va“ – das sind Sätze, die in einer Art absoluten Präsens verfasst sind, das Lawrence L. Langer treffend als „durational time“ bezeichnet hat.17 Die Erzählung ist selbst da bedroht, wo sie endlich stattfinden kann: Sie ist bedroht durch das Fehlen von aufmerksamen Zuhörern, welche die Voraussetzung dafür sind, dass die Erzählung ihrerseits bezeugt wird und als solche Bestand hat. Nun aber schildert Levi an anderer Stelle, dass eine der schlimmsten Erfahrungen des Lagers genau den Zusammenbruch der Kommunikation betrifft: eine unüberbrückbare Kluft zwischen sprachlicher Äußerung und Rezeption, zwischen Sprechen und Hören macht sich auf. Im Traum wird dieser Kommunikationsverlusts über die Lagergrenzen hinaus in die Zukunft projiziert und entfaltet seine Wirkmacht im künftigen, ersehnten und befürchteten Zuhause.

15 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 53. 16 Traumdarstellungen, die aus dem Lager selbst stammen, sind überliefert bei Jean Cayrol: Lazare parmi nous, bei Charlotte Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 87–94; des Weiteren bei Bruno Bettelheim: Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft. München: Szczesny Verlag 1965; sowie bei Viktor E. Frankl: … trotzdem ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München: Kösel-Verlag 1977. 17 Lawrence L. Langer: „‚Legacy in Gray‘. Primo Levi: Writer, Witness, and Holocaust Educator“. University of British Columbia and the Vancouver Holocaust Education Centre. 4th November 1995, zitiert nach Risa B. Sodi: „The Rhetoric of the Univers Concentrationnaire“, S. 37.

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Die Sprachfindung als eine Erfahrung von Differenz trifft auch Zuhause auf eine Indifferenz, in der die nationalsozialistische Politik der Auslöschung jeglicher Differenz nachwirkt: „I miei ascoltatori non mi seguono. Anzi, essi sono del tutto indifferenti.“ So wird die Vorstellung einer Zukunft, in dem Moment, wo sie auftaucht, auch schon zunichte gemacht. An ihre Stelle tritt das andauernde Präsens, hier im Sinne einer indifferenten, sprach- und bindungslosen Zeit. „Parlano confusamente d’altro fra di loro come se io non ci fossi“. Auch dieser Satz gemahnt an eine Spracherfahrung im Lager, die Levi im Kapitel „Iniziazione“ kurz vor dem Kapitel „Le nostre notti“ schon erwähnt hat: La confusione delle lingue è una componente fondamentale del modo di vivere quaggiù; si è circondati da una perpetua Babele, in cui tutti urlano ordini e minacce in lingue mai prima udite, e guai a chi non afferra a volo. Qui nessuno ha tempo, nessuno ha pazienza, nessuno ti dà ascolto.18

Die direkte Gegenüberstellung dieser Schilderung des Lageralltags mit dem oben zitierten Traum von einem künftigen Zuhause macht deutlich, inwiefern letzterer zutiefst von einem Vokabular geprägt ist, das gerade noch der realistischen Beschreibung des Lagers gegolten hat. Das Frappierende daran ist, dass auch zum Zeitpunkt des Erzählens diese Überlagerung nicht in Frage gestellt wird. Im Gegenteil, wir haben gesehen, dass der Traum so erzählt wird, als halte er über die Gegenwart des Erzählens hinaus immer noch an. Der Traum berichtet davon, wie im Moment der Wiedergewinnung der Sprache letztere auch schon wieder versiegt. Er endet mit der Wendung „senza far parola“: Diese Wendung bezieht sich auf das Schweigen der Schwester („si alza, se ne va senza far parola“), markiert zugleich aber eine Absolutheit, die sich nur bedingt auf eine subjektive Unwilligkeit zuzuhören und zu kommunizieren reduzieren lässt. Andernfalls hätten Wendungen wie „senza parlarmi“ oder „senza rivolgermi una parola“ näher gelegen. 40 Jahre später wird Levi in I sommersi e i salvati von der „eclissi della parola“ sprechen, womit er die verhängnisvolle Dynamik im Lager meint, das einzelne Subjekt auf ein definitives Verstummen und eine endgültige Stufe der Indifferenz gegenüber dem Anderen zu reduzieren.19 Aus dieser Perspektive auf den hier erörterten ersten Traum in Se questo è un uomo zurückblickend wird deutlich, dass der unpersönliche Infinitiv „senza far parola“ sich keineswegs einfach auf eine singuläre Kommunikationsstörung

18 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 33. Das Kapitel wurde von Levi für die Neuausgabe von Se questo è un uomo von 1958 hinzugefügt. Vor dem Hintergrund dieses Kapitels erscheint der Traum von der Schwester, die seiner Erzählung kein Gehör schenkt, als eine in die Zukunft projizierte Rückwendung in die Lagerrealität. 19 Primo Levi: I sommersi e i salvati, S. 79.

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bezieht, sondern auf eine grundsätzliche, tödliche Sprachlosigkeit, auf „ein Verstummen der Sprache“, das zur „Signatur des totalitären Staates“ gehört20 und das nachhaltige Auswirkungen auf die Erinnerung und die Versprachlichung der Lagererfahrung hat. Der Traum ist zumeist als Hinweis auf die reale Schwierigkeit der Überlebenden gedeutet worden, in der unmittelbaren Nachkriegszeit ihre Erfahrungen mitzuteilen.21 Diese Schwierigkeit betraf auch Levi, wurde Se questo è un uomo doch zunächst von den wichtigen italienischen Verlagen abgelehnt, konnte 1947 vorläufig nur in einem kleinen Verlag, dem Turiner Verlagshaus De Silva, erscheinen und blieb lange von der Öffentlichkeit unbemerkt. Doch abgesehen von diesen biographischen Schlussfolgerungen gibt es auf der Textebene weitere betrachtenswerte Aspekte zu entdecken. „Qui c’è mia sorella“ – ich hatte diese, die Traumerzählung einleitende Wendung als ein absolutes Präsens gewertet, durch das der Traum als eine über die Erzählgegenwart hinaus anhaltende Erfahrung charakterisiert wird. Jedoch wird dieser Satz im Anschluss sofort widerlegt. Indem die Schwester das Zuhören verweigert und weggeht, ist sie ja gerade nicht „hier“. Sie ist auch dort bzw. fort, nämlich eingeschlossen in die gerade noch geschilderte Traumsequenz, in der Deportation und Zwangsarbeit evoziert werden. Die Deixis ist äquivok, denn unentschieden bleibt, auf welchen Bereich sich das Pronomen „qui“ bezieht. Weist es zurück auf die geträumte Zwangsarbeit? Weist es voraus auf das geträumte Zuhause, wo niemand bereit ist, dem überlebenden Heimkehrer zuzuhören? Und, auf die Ebene des discours bezogen: Verweist es auf eine Szene, die auf den Traum begrenzt bleibt oder betrifft es immer noch die Erzählgegenwart? Levi kommentiert den Traum direkt im Anschluss an seine Schilderung folgendermaßen: […] non è un sogno qualunque, ma che da quando sono qui l’ho già sognato, non una ma molte volte, con poche variazioni di ambiente e di particolari. Ora sono in piena lucidità, e mi rammento anche di averlo già raccontato ad Alberto, e che lui mi ha confidato, con mia meraviglia, che questo è anche il suo sogno, e il sogno di molti altri, forse di tutti. Perché questo avviene? Perché il dolore di tutti i giorni si traduce nei nostri sogni così costantemente, nella scena sempre ripetuta della narrazione fatta e non ascoltata?22

20 Reinhart Koselleck: „Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich“. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 278–299, hier: S. 289. 21 Vgl. z. B. dazu Lidia Beccaria Rolfi: „La memoria dopo il ritorno“. In: Giovanna Ioli (Hg.): Primo Levi: Memoria e invenzione. San Salvatore Monferrato: Edizioni della Biennale Piemonte 1995, S. 54–58. 22 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 54 (Hervorhebung von mir).

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Wieder ein „qui“: Diesmal referiert es auf die Gefangenschaft des träumenden und nun erwachten Ichs. Dieses erzählt seinen Traum Alberto, dem besten Freund im Lager. Im Gegensatz zur Schwester und zu den anderen im Traum erscheinenden Personen hört Alberto zu und kann auf die Traumerzählung reagieren, weil er dieselbe Traumerfahrung gemacht hat. Doch lässt sich hieraus nur bedingt ableiten, es habe im Lager eine funktionierende Kommunikation gegeben. Angedeutet ist in der Gleichheit der Träume der Gefangenen die „Zwangsgemeinschaft“, wie H. G. Adler das Lager genannt hat,23 die selbst den Traum seiner Möglichkeit der singulären Ausgestaltung beraubt hat. Damit erweist sich sogar das Träumen als Bestandteil des Terrors des Lagers: „Bereits als Erscheinung sind die Träume Vollzugsweisen des Terrors selbst“, hat Reinhart Koselleck treffend formuliert.24 Es gibt Levi zufolge nur eine Instanz, die den Traum als Vollzugsweise des Lagerterrors unterbrechen kann. Es ist ein Wort, das im Gegensatz zu allen anderen stets Gehör findet: Es ist der Lagerbefehl – mal auf deutsch: „Aufstehen“, häufiger auf polnisch: „Wstawać“. Er reißt aus dem Schlaf, jedoch nur um in den Terror des Lagers – „qui e ora“ – zurückzuführen: All’ora della sveglia […] suona a lungo la campanella del campo, e allora in ogni baracca la guardia di notte smonta: accende le luci, si alza, si stira, e pronunzia la condanna di ogni giorno: – Aufstehen, – e più spesso in polacco: – Wstawać. […] La parola straniera cade come una pietra sul fondo di tutti gli animi. «Alzarsi»: l’illusoria barriera delle coperte calde, l’esile corazza del sonno, la pur tormentosa evasione notturna, cadono a pezzi intorno a noi, e ci ritroviamo desti senza remissione, esposti all’offesa, atrocemente nudi e vulnerabili.25

„Qui e ora“: Das Jetzt des Lagers ist der Traum und zugleich die Unterbrechung des Traums, es ist die „ora della sveglia“.26 Der Weckruf erlöst aus den quälenden

23 Hans Günther Adler: Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Tübingen: Mohr 1955. 24 Reinhart Koselleck: „Terror und Traum“, S. 286. Bezeichnend sind hierfür auch die von Charlotte Delbo beschriebenen Träume, unter denen sich ebenfalls der Rückkehrer-Traum befindet: „un cauchemar […], peut-être celui où l’on rentre à la maison, où l’on revient et où l’on dit: C’est moi, me voilà, je reviens, vous voyez, mais tous les membres de la famille qu’on croyait torturés d’inquiétude se tournent vers le mur, deviennent muets, étrangers d’indifférence“ (dies.: Aucun de nous ne reviendra, S. 90). 25 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 56. 26 Franco Fortini hat auf die Insistenz des „qui e ora“ bei Levi hingewiesen, das keines der Identitätsversicherung sei, sondern auf eine Gegenwart verweise, „che è sempre sul punto di disfarsi in una morte priva dei conforti della religione“ (ders.: „L’opera in versi“. In: Alberto Cavaglion (Hg.): Primo Levi. Il presente del passato. Giornata internazionale di studio. Milano: Franco Angeli 1991, S. 137–140, hier: S. 139).

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Träumen, doch nur, um in eine Realität zurückzuführen, welche die geträumte Gewalt bei weitem übertrifft, eine Realität, von der viele Zeugen gesagt haben, dass sie, weil sie jedes Vorstellungsvermögen sprenge, nur als geträumte wahrgenommen werden könne. Genau dies bekundet Levi gleich zu Beginn seines Berichts, wenn er schreibt: „Tutto era silenzioso come in un acquario, e come in certe scene di sogni“,27 und in solcher Weise die Vorgänge der Deportation als gleichsam traumhaftes Geschehen vorstellt. Es ist, als impliziere die Tatsache, dass die Realität des Lagers nur traumhaft wahrgenommen werden kann, auch schon den Traum von der gescheiterten Mitteilung des Lagers im Moment der Rückkehr. Ein Indiz ist dafür entscheidend: Der geträumte Befehl, aufzustehen – „alzarsi“ – klingt noch in der geträumten Abwendung der Schwester nach: „si alza e se ne va senza far parola“ [Hervorhebung von mir]. Das Phantasma der Indifferenz hält auch nach der Rückkehr lange Zeit an. Davon spricht nicht zuletzt auch die Tatsache, dass I sommersi e i salvati, 40 Jahre nach Se questo è un uomo unter dem Eindruck der aggressiven öffentlichen Auftritte der Negationisten verfasst, genau mit der Erwähnung dieses Angsttraums, von dem so viele andere Überlebende in ihren Memoiren ebenfalls berichten, einsetzt.28

3 Zuhause vom Lager träumen Das einzige Wort, das die sich wiederholenden Träume zu durchbrechen weiß, ist der Weckruf im Lager, der jeden Morgen unerbittlich in den Alptraum der Lagerrealität zurückverweist. Es wird im abschließenden Kapitel „Il risveglio“ von La tregua zum zentralen Wort eines Traums, der das Ich nach dessen tatsächlich erfolgter Rückkehr aus dem Lager in seiner Heimatstadt Turin heimsuchen wird: È un sogno entro un altro sogno, vario nei particolari, unico nella sostanza. Sono a tavola con la famiglia, o con amici, o al lavoro, o in una campagna verde: in un ambiente insomma placido e disteso, apparentemente privo di tensione e di pena; eppure provo un’angoscia

27 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 17. Siehe darüber hinaus Terrence Des Pres: Der Überlebende – Anatomie der Todeslager. Stuttgart: Klett-Cotta 2008, S. 84–108 (Kap. „Alptraum und Erwachen“) sowie Hans Günter Adler: Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, S. 667: „Man sagt von Gespenstern, sie hätten die Eigenschaft, in einem zu sein und nicht zu sein. So war es hier. […] Man träumte. Man glaubte zu träumen und träumte auch. Man lebte am Rande zwischen Etwas und Nichts. Entweder war die Wirklichkeit anders, als man dachte, oder man anders, als die Wirklichkeit wollte, oder beides traf zu. […] Dies war eine ‚unwirkliche Wirklichkeit‘.“ 28 Vgl. Primo Levi: I sommersi e i salvati, S. 3f.

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sottile e profonda, la sensazione definita di una minaccia che incombe. E infatti, al procedere del sogno, a poco a poco o brutalmente, ogni volta in modo diverso, tutto cade e si disfa intorno a me, lo scenario, le pareti, le persone, e l’angoscia si fa più intensa e più precisa. Tutto è ora volto in caos: sono solo al centro di un nulla grigio e torpido, ed ecco, io so che cosa questo significa, ed anche so di averlo sempre saputo: sono di nuovo in Lager, e nulla era vero all’infuori del Lager. Il resto era breve vacanza, o inganno dei sensi, sogno: la famiglia, la natura in fiore, la casa. Ora questo sogno interno, il sogno di pace, è finito, e nel sogno esterno, che prosegue gelido, odo risuonare una voce, ben nota: una sola parola, non imperiosa, anzi breve e sommessa. È il commando dell’alba in Auschwitz, una parola straniera, temuta e attesa: alzarsi, «Wstawać».29

Dieser Traum, in den ein weiterer als mise en abyme eingefaltet ist, ist in mehrfacher Hinsicht unheimlich. Erstens dementiert er die Idee, dass die Heimkehr mit der Befreiung koinzidiert, indem er dem träumenden Ich vor Augen führt, dass es immer wieder ins Lager zurückkehrt; zweitens scheint es aus diesem eingefalteten Traum kein Entkommen mehr zu geben. „Il risveglio“ ist immer nur ein Erwachen in das Lager hinein, das nun selbst als Traum zurückkehrt. Die Erzählung widerspricht hiermit ihrer eigenen Intention, Heimkehr und Erwachen aus einem Alp koinzidieren zu lassen. Sie sprengt jenen Plot, auf den sie in mancher Hinsicht noch anspielt, dem zufolge nach der Peripetie letztlich das Dénouement eintritt.30 Da das Erwachen nur in den Traum und dieser in das Lager hineinführt, findet im eigentlichen Sinne kein Erwachen aus dem Traum mehr statt. Damit kann auch das, was hier vorgestellt wird, nur noch unter Vorbehalt als Traum bezeichnet werden. Denn das einzige stichhaltige Kriterium dafür, ob etwas Traum oder Wirklichkeit ist, ist allein die Tatsache des Erwachens als Moment der Selbstvergewisserung. Was in diesen letzten Zeilen von Levis autobiographischem Bericht anklingt, verweist hingegen auf das, was André Breton als Programm des Surrealismus skizziert hat: „la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité“.31 Bei Levi – wie im Übrigen bei vielen anderen Überlebenden – verwirklicht sich Bretons Vision insofern, als der Lagerterror den psychischen Apparat total in Beschlag nimmt.32

29 Primo Levi: La tregua, S. 325. 30 In I sommersi e i salvati, S. 53 setzt sich Levi schließlich dezidiert von diesem aristotelisch geprägten Erzählschema ab, das er als untauglich für die autobiographische Zeugenschaft von einer Lagererfahrung erklärt. 31 André Breton: Œuvres complètes, Band 1. Paris: Gallimard 1988, S. 319. 32 Vgl. z. B. Jorge Semprun im Kapitel „Le jour de la mort de Primo Levi“. In: ders., L’écriture ou la vie. Paris: Gallimard 1994, in dem er sich ausführlich mit Levis Traum beschäftigt und dann von

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III Primo Levi: „Ritorno“, mise en abyme, Parenthese

Die gefährliche Angleichung von der Lagerrealität und dem Lebensbereich zuhause, die sich schon in dem im Lager geträumten Traum von der verfehlten Erzählung ankündigte, wird durch diesen Traum weiter vorangetrieben. Lager und Heimat sind zu einem Vexierbild zusammengezogen; sie können sich in jedem Moment unversehens in ihr jeweiliges Gegenteil verwandeln, wodurch ihr gegensätzlicher Charakter grundsätzlich in Frage gestellt und ihre unheimliche Nähe offenbar wird. Der Traum vom Lager hat das letzte Wort. Dies ist die erschreckende Pointe des Berichts über die Heimkehr.33 Warum aber beendet Levi seine autobiographische Erzählung von der Rückkehr nach Turin mit diesem wiederkehrenden Traum? Levi hat – wie so häufig – selbst eine Antwort darauf gegeben, die er für eine Schulausgabe von La tregua im Jahre 1965 formuliert hat. Dort heißt es: Questa pagina, che chiude il libro su una nota inaspettatamente grave, chiarisce il senso della poesia posta in epigrafe [auf dieses Gedicht werde ich im Folgenden noch genauer eingehen], e ad un tempo giustifica il titolo. Nel sogno, il Lager si dilata a un significato universale, è divenuto il simbolo della condizione umana stessa e si identifica con la morte, a cui nessuno si sottrae. Esistono remissioni, ‚tregue‘, come nella vita del campo l’inquieto riposo notturno; e la stessa vita umana è una tregua, una proroga; ma sono intervalli brevi, e presto interrotti dal ‚commando dell’alba‘, temuto ma non inatteso, dalla voce straniera […] che pure tutti intendono e obbediscono. Questa voce comanda, anzi invita alla morte, ed è sommessa perché la morte è iscritta nella vita, è implicita nel destino umano, inevitabile, irresistibile; allo stesso modo nessuno avrebbe potuto pensare opporsi al comando del risveglio, nelle gelide albe di Auschwitz.34

Levis Formulierung läßt eine Tendenz erkennen, die Lagererfahrung zu allegorisieren, die damit zu einer Aussage über das Leben schlechthin wird.35 Er weicht

sich selbst sagt: „La soirée du samedi 11 avril 1987 fut comme sont les soirées lorsque ces souvenirs s’imposent, prolifèrent, dévorant le réel par une procédure de métastases fulgurantes. Comme elles le sont, du moins, depuis que l’écriture m’a rendu de nouveau vulnérable aux affres de la mémoire. Elle fut partagée entre un bonheur de surface – je dînais ce soir-là avec des amis chers – et l’angoisse profonde qui m’emmurait. Ce fut un espace partagé en deux territoires, brutalement. Deux univers, deux vies. Et je n’aurais su dire, sur le moment, laquelle était la vraie, laquelle un rêve“ (S. 303). Vgl. auch Charlotte Delbo: Une connaissance inutile, S. 183: „Je reviens d’un autre monde / dans ce monde / que je n’avais pas quitté / et je ne sais / lequel est vrai / dites-moi suis-je revenue de l’autre monde? Pour moi / je suis encore là-bas / et je meurs / làbas“. 33 Vgl. dazu auch d. Verf.in: Trauma e nostalgia. Per una lettura del concetto di «Heimat». Milano, Genova: Marietti 2009, S. 113–119. 34 Zitiert nach Primo Levi: Opere. Hg. von Marco Belpoliti. Torino: Einaudi 1997, Band 1, S. 1421. 35 Dieser Interpretation folgt ein großer Teil der Forschung, was dazu führt, dass eine eigentliche Lektüre dieses Traums weitgehend ausfällt. Beispielhaft sei dafür verwiesen auf Carlo Prosperi:

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damit der Frage entschieden aus, was diese plötzliche Schlusswende für seinen autobiographischen Bericht insgesamt bedeutet.36 Vom Ende her gelesen erscheint das Wort „tregua“, in dessen Namen der Bericht schließlich steht, in einem anderen Licht. „Tregua“ ist ein Wort, das nicht zuletzt deutschsprachigen Ursprungs ist, auf das gothische Wort „treiggwa“ (Abmachung) zurückgeht, später durch das fränkische Wort „triuwa“ (Sicherheit, Treue) überlagert wird und im Gegenwartsitalienisch wörtlich „den Waffenstillstand“, im übertragenen Sinne aber, wie die deutsche Übersetzung auch aufgreift, eine „Atempause“ meint.37 Dabei lässt sich aus der Entwicklung des Worts eine entscheidende Bedeutungsverschiebung herauslesen: von einer unbedingten Abmachung und zeitlosen Treue zu einer vorübergehenden Parenthese. Ereignispolitisch steht Levis La tregua zwischen dem Ende des 2. Weltkriegs und dem Beginn des Kalten Kriegs, autobiographisch gesehen ist es die Zeit der Irrfahrt des Ichs zwischen dem Lager und dem Zuhause, die mit dem Ende der Erzählung selbst ein Ende findet. Narratologisch gesehen ist es die Erzählung selbst, die diesen Ein- bzw. Aufschub gewährt und diesen auch beendet, indem sie in die Rückkehr nach Hause mündet. „Il ritorno“ beendet in der Tat nicht nur die Reise, besiegelt auch nicht allein den Beginn des Kalten Kriegs, sondern schließt vor allem diesen Zwischenraum, der durch die Erzählung eröffnet worden war, in sich ab. Nun haben es Einschübe und Parenthesen an sich, dass sie sich leicht aus ihrem Kontext herauslösen lassen. Das macht ihren prekären Status aus. Was passiert aber hier, wenn der Einschub – diese erzählte Ausnahmesituation – ausgenommen wird? Dann prallt das, was vor dieser Klammer stand, mit dem, was nach der Klammer steht, unmittelbar zusammen. In Levis Fall würde sich dann ein Zusammenstoß ereignen zwischen den letzten (zehn) Tagen der Gefangenschaft im Lager und dem Traum, in dem das Ich ins Lager zurückgeworfen wird.

„‚La gioia liberatrice del raccontare‘. Una lettura de La tregua di Primo Levi“. In: Giovanna Ioli (Hg.): Primo Levi. Memoria e invenzione, S. 85–101, hier: S. 88 sowie Nicholas Patruno: Understanding Primo Levi. Columbia: University of South Carolina Press 1995, S. 29f. Belpoliti vermutet aufgrund von Levis Selbstkommentar, dass diese Passage erst später der eigentlichen Erzählung angefügt worden sei, „quasi a ribadire, oltre che una radicata filosofia della vita, il legame che unisce questa seconda opera, nonostante le sue movenze picaresche e umoristiche, a Se questo è un uomo“ (Primo Levi: Opere, Band 1, S. 1422). 36 Philippe Mesnard beobachtet allgemein, dass es für Levi charakteristisch ist, dass er stets dem Allgemeinen den Vorrang gebe, anstatt sich auf das Besondere einzulassen (ders.: „Ein Text ohne Belang“. In: ders. (Hg.): Primo Levi. Bericht über Auschwitz. Berlin: BasisDruck 2006, S. 11–58, hier: S. 11). 37 Vgl. den Eintrag „tregua“ in Ottorino Pianigiani: Vocabolario Etimologico della Lingua Italiana. Roma: Albrighi & Segati 1907.

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III Primo Levi: „Ritorno“, mise en abyme, Parenthese

Wenn wie im Falle von La tregua beinahe die gesamte Erzählung als Klammereinschub gewertet werden muss, dann wird dadurch freilich der kathartische Charakter des Erzählens, den Levi noch zu Beginn von Se questo è un uomo beschworen hatte, entschieden in Frage gestellt. „Il veleno di Auschwitz“, das Levi in seinen Adern fließen spürt,38 kann durch keinen erzählerischen Aderlass dem Organismus entzogen, sondern nur vorübergehend und provisorisch abgeführt werden. Dafür steht das Ende von La tregua ein. Weder das Motiv der Reise im Sinne einer Pilgerschaft noch das Motiv der Erzählung als Zurücklegen einer mentalen Wegstrecke im Sinne des Bildungsromans können die Wiederkehr des Unbewältigten verhindern, die sich ereignet in der nicht kontrollierbaren Wiederkehr dieses Traums „[che] non ha cessato di visitarmi, ad intervalli ora fitti, ora radi, un sogno pieno di spavento“.39 „Non ha cessato di visitarmi“: Die Erzählung kippt hier vom imperfetto bzw. passato remoto in ein passato prossimo, das sich nun über die Erzählgegenwart von 1962 hinaus ausdehnt. Zwei Seinsbereiche werden in diesem in sich geschachtelten Traum benannt. Den inneren Bereich bildet die Familie, die Intimität der Freundschaft; er wird als „ein bloßer Traum“, als eine „breve vacanza“ bezeichnet, womit die Metaphorik der Parenthese in den Traum selbst eingeführt ist. Der äußere Traum wird gebildet durch die Auflösung des inneren Traums, der durch die sich auflösenden Wände des familiären Heims (in denen „l’esile corazza del sonno“ noch einmal aufgerufen ist) bildlich dargestellt wird. Dieser äußere Traum, der eine Unterscheidung zwischen innen und außen zunichte macht, setzt sich als gleichsam unendlicher durch und fort.40 Aus diesem äußeren, totalen Traum vom Lager gibt es kein Entkommen, weil der Weckruf – „la condanna di ogni giorno“ – nun selbst geträumt wird und den Traum als nur mehr einzige Wahrheit bestätigt. Das Lager erscheint in diesem Traum nicht mehr als der abgeschlossene Raum, sondern als Raum, der alles andere umschließt und auf diese Weise das Eingeschobene zunächst durchdringt, verschlingt und dann absorbiert.

38 Primo Levi: La tregua, S. 324. 39 Ebda., S. 325. 40 Ein Traum von sich auflösenden Wänden findet sich auch in der Traumsammlung von Charlotte Beradt: Das dritte Reich des Traums. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1966, S. 25. Er steht hier im Kontext des Totalitarismus und wird lesbar als Ausdruck der Erfahrung des Zusammenbruchs der klassischen politischen Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum: „Ein Arzt träumt im Jahre 1934: ‚Während ich mich nach der Sprechstunde, etwa gegen 9.00 Uhr abends, mit einem Buch über Matthias Grünewald friedlich auf dem Sofa ausstrecken will, wird mein Zimmer, meine Wohnung plötzlich wandlos. Ich sehe mich entsetzt um, alle Wohnungen, soweit das Auge reicht, haben keine Wände mehr. Ich höre einen Lautsprecher brüllen: ‚Laut Erlaß zur Abschaffung von Wänden vom 17. des Monats‘.‘“

3 Zuhause vom Lager träumen

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Das Bild von unterschiedlichen, hierarchisch geschachtelten Räumen mutiert in dem Moment, als sich die Differenzen zwischen diesen Räumen auflösen, zur (topologischen) Figur des Möbiusbandes: Dabei handelt es sich um eine einzige, in sich gedrehte Oberfläche, die weder ein Außen noch ein Innen und damit weder eine Spiegelung noch eine Wende kennt. Oder anders gesagt: Es gibt einen stetigen und nicht verortbaren Übergang von einer Seite des Bandes auf die andere; die Erfahrung des Übergangs von einer Seite auf die andere findet darin aber nicht statt.41 Wo der Bericht nach Hause führt, führt der Traum zurück ins Lager. Wo der Bericht von der Notwendigkeit und freisetzenden Kraft der Erzählung spricht, zeugt die Traumerzählung vom Wunsch nicht mehr zu erwachen, nicht mehr erzählen zu müssen. An diesem Punkt drängt sich ein Vergleich mit dem im vorigen Kapitel erörterten Traum vom brennenden Kind auf. Während dieser von einer nie zur Ruhe kommenden Dialektik zwischen Schlafbedürfnis und Notwendigkeit des Erwachens zeugt, kommt es in Levis Traum zum Zusammenbruch dieser Dialektik. Denn der ethische Imperativ, den wir im Traum vom brennenden Kind erkannt haben, fällt in Levis Traum in eins mit dem Lager-Imperativ. Der Lagerappell fordert kein Erwachen ein, sondern das (sofortige) Aufstehen. Der eine Ruf ist ein Ruf der Wahrheit, der andere zwingt in die kollektive Gleichschaltung der Körper. Wenn die Imperativ-Struktur des Traums vom brennenden Kind von einem – mit Benjamin sprechend – schwachen messianischen Charakter geprägt ist, verhält sich Levis Traum umgekehrt dazu: Je lauter der Ruf zu erwachen wird, der Levis Erzähldrang zugrunde liegt, desto unerbittlicher kehrt das Phantasma wieder, das Phantasma, dass der einzige Ruf, der letzten Endes gehört wird, der Weckruf des KZ-Wärters ist. Damit kehrt gerade im Moment der Befreiung die Angst wieder, sogar zuhause noch im Lager gefangen zu sein, nie daraus zu erwachen, sondern immer aufs Neue gezwungen zu sein, dort aufzustehen.

41 Zur Topologie des Möbiusbandes, Jacques Lacan: Das Seminar. Buch X. Die Angst (1962/63). Wien: Turia + Kant 2010, S. 125f. Vgl. des Weiteren Max Kleiner: „Im Zeichen des Knotens – die verschlungenen Beziehungen der Psychoanalyse zur Topologie“. In: Wolfram Pichler, Ralph Ubl (Hg.): Topologie. Falten, Knoten, Netze, Stülpungen in Kunst und Theorie. Wien: Turia + Kant 2009, S. 91–116, hier: S. 100.

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4 Zehn Tage außerhalb der Welt und der Zeit Der Traum, in welchem sich das Lager zur totalen Gegenwart ausdehnt, hat in Levis autobiographischem Textensemble das letzte Wort. Er wird auch im Essayband I sommersi e i salvati nicht widerlegt. Im Gegenteil: Was der Traum als Wahrheit zu erkennen gibt, dass nämlich nichts als das Lager wahr ist – „nulla era vero all’infuori del Lager“ –, wird in Levis letztem Buch durch eine historischpolitische Reflexion bestätigt. Levi thematisiert hier sowohl die logistischen Implikationen der Lager mit der Außenwelt als auch die Figur des Deportierten als entrechtetes, staatenloses Subjekt, die erstmals von Hannah Arendt so pointiert in den Blick gerückt worden war.42 Die sich im Traum manifestierende paradoxe Topologie der Lager wird auf diese Weise in den Bereich der rationalen Argumentation zurückgebunden. So schreibt Levi gleich zu Beginn von I sommersi e i salvati: I Lager costituivano un sistema esteso, complesso, e profondamente compenetrato con la vita quotidiana del paese; si è parlato con ragione di „univers concentrationnaire“, ma non era un universo chiuso. Società industriali grandi e piccole, aziende agricole, fabbriche di armamenti, traevano profitto dalla mano d’opera pressoché gratuita fornita dai campi.43

Das Lager ist zwar einerseits ein abgeschlossenes Universum, dehnt sich aber andererseits aus und dringt in alle Bereiche des Lebens ein, die (nur) scheinbar außerhalb des Lagers liegen. Dadurch unterscheidet sich das Lager wesentlich von einem einfachen Haftraum. Während für den Gefängnisinsassen eine Flucht immer noch vorstellbar ist, weiß der Lagerhäftling – zumal der jüdische – nicht, wohin er denn fliehen sollte: [L’]immagine schematica della prigionia e dell’evasione assomiglia assai poco alla situazione dei campi di concentramento. Intendendo questo termine nel suo senso più vasto (includendo cioè, oltre ai campi di distruzione dal nome universalmente noto anche i moltissimi campi per prigionieri e internati militari, esistevano in Germania parecchi milioni di stranieri in condizione di schiavitù, affaticati, disprezzati, sottoalimentati, mal vestiti e mal curati, tagliati fuori dal contatto con la madrepatria. […] Il caso particolare (ma numericamente imponente) degli ebrei era il più tragico. Anche ammettendo che fossero riusciti a superare lo sbarramento di filo spinato e la griglia elettrificata, a sfuggire alle pattuglie, alla sorveglianza delle sentinelle armate di mitragliatrice nelle torrette di guardia, ai cani addestrati alla caccia all’uomo: verso dove avrebbero potuto dirigersi? A chi chiedere

42 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperalismus, Totalitarismus (1955). München: Piper 61998, S. 564ff. 43 Primo Levi: I sommersi e i salvati, S. 7; Levi bezieht sich mit dem Ausdruck „univers concentrationnaire“ auf den gleichnamigen Text von David Rousset aus dem Jahre 1947.

4 Zehn Tage außerhalb der Welt und der Zeit

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ospitalità? Erano fuori mondo, uomini e donne d’aria. Non avevano più una patria (erano stati privati dalla cittadinanza d’origine) né una casa, sequestrata a favore a dei cittadini a pieno titolo.44

Vor dem Hintergrund einer derartigen „Lagerisierung“ der Welt rückt für den Häftling die Idee zu fliehen oder der bloße Gedanke, in Freiheit zu leben, in unerreichbare Ferne. Die Frage der ethischen und psychischen Implikationen des Überlebens, nachdem in den Lagern systematisch Millionen von Menschen vernichtet worden sind, erweist sich als ein Problem, das durch die Neuordnung Europas und die Staatsgründung Israels nach dem Zweiten Weltkrieg nur scheinbar gelöst wird. Viel grundlegender ist die Frage, wie ein „essere fuori mondo“, ein Mensch, der gänzlich aus der Welt ausgeschlossen wurde, überhaupt in die Welt zurückkehren kann. Wie und wo können die Menschen, die zu „Luftmenschen“ – „uomini e donne d’aria“ – erklärt worden sind, wieder auf der Erde wohnen?45 Die Vorstellung eines durch das Lager geschaffene „essere fuori mondo“ prägte auch schon Se questo è un uomo. Der Ausdruck bezieht sich hier bezeichnenderweise nicht auf die ganze geschilderte Zeit der Haft, sondern insbesondere auf jene schon erwähnten zehn Tage, die das Ende des Lagers, das mit der Flucht der Deutschen koinzidiert, von der Befreiung des Lagers durch die Russen trennen und die aus der Perspektive des total erschöpften, in der Krankenbaracke dahinsiechenden Häftlings wie eine Unendlichkeit erscheinen. Diese Schlussphase von Auschwitz wird im letzten Kapitel von Se questo è un uomo unter dem Titel „Storia di dieci giorni“ verhandelt. Darin findet sich folgende denkwürdige Formulierung, der zufolge es sich bei dieser Geschichte um eine „storia dei dieci

44 Ebda., S. 124f. Levi verlagert hier den Akzent von der Frage nach der Klassifizierung der unterschiedlichen Lager auf die Masse all jener Einrichtungen, die unter dem Signifikanten „Lager“ verhandelt werden. Seine Reflexion stützt Untersuchungen wie diejenige Agambens auf philosophischer Seite oder diejenige Sebalds auf literarischer Seite (vgl. Kapitel V). Es geht hier um eine epistemologische Entscheidung, ob man die Realität der Lager topologisch als ein Universum betrachtet, das in die Welt als ihre normalisierte Ausnahme eingelassen worden ist, oder als eine Serie von Orten, die sich voneinander unterscheiden, was zur historischen Differenzierung beiträgt, aber auch zu einer Auseinanderdividierung des Lagerkomplexes führt. 45 Der Ausdruck „Luftmenschen“ ist ursprünglich eine jiddische Erfindung und positiv konnotiert (sie sind Projektemacher, die von der Luft leben). Der NS wendet den Ausdruck in ein antisemitisches Attribut für die vermeintlich heimat- und wurzellosen Juden im Gegensatz zum bodenständigen deutschen Volk. Im Kontext des Holocaust sind sie in den 50er Jahren zu Asche in der Luft gewordene Menschen – so bei Paul Celan (Die Todesfuge) und André Schwarz-Bart (Le dernier des justes. Paris: Seuil 1959). Vgl. zu diesem Komplex Nicolas Berg: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen: Wallstein 2008.

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giorni fuori del mondo e del tempo“ handele.46 Der Bericht führt seiner eigenen Aussage zufolge in einen zeit- und weltlosen Raum. Er wählt dabei aber eine Erzählform, die die Zeit in Tagen zählt und damit an diejenige eines Tagebuchs gemahnt. So sind die Erzählabschnitte mit durchlaufenden Daten vom 18. bis 27. Januar 1945 versehen. Die Zeit „außerhalb der Welt und der Zeit“ wird somit durch eine strukturierte Einheit von zehn Tagen erzählerisch begrenzt. Wie ist dies zu verstehen? Zunächst ist zu beobachten, dass der autobiographische Duktus, der die 16 vorausgehenden Kapitel geprägt hat, an dieser Stelle durch das Tagebuch abgelöst wird. Während die Autobiographie retrospektiv, aber im Präsens erzählt, zeichnet sich das Tagebuch durch die Abwesenheit einer solchen Perspektivierung aus, auch wenn es in der Vergangenheitsform verfasst ist.47 Die Frage nach Zeit- und Raumlosigkeit wird hier zunächst einmal in der Verdrehung von Zeiten und Perspektiven fassbar. Massimo Lollini zufolge erzeugt das veränderte Verhältnis von erzählter zu erzählender Zeit im Tagebuch einen Effekt der Verlangsamung, durch welchen die zehn Tage eine extreme Ausdehnung erfahren. Risa Sodi spricht ebenfalls von einem gänzlichen Ausfall erzählerischen Schwungs auf diesen Seiten.48 Wo Handlung gleichsam ausfällt, dominieren plötzlich minutiöse Zeitangaben: „verso mezzogiorno“, „non vi erano orologi, ma dovevano essere le ventitre“, „dopo pochi minuti“, „il mattino seguente“, „all’indomani“ etc.49 Sie stellen die Erzählung auf Zeitlupentempo ein, welche die erzählte Zeit gleichsam aus- und überdehnt und den Eindruck verstärkt, dass die Zeit nicht vergeht. Der zehnte Tag, der mit der offiziellen Befreiung von Auschwitz durch die Russen zusammenfällt, führt zu keiner zeitlichen Wende, ja, er verlängert diese zehn Tage gleichsam über sich selbst hinaus, wenn es nur lakonisch heißt: „Ci mettemmo al lavoro come ogni giorno [Hervorhebung von mir].“50 Ohne die Struktur des Tagebuchs bliebe das Beschriebene ein „timeless blur“.51 Das Lager ist von den Nazis verlassen, aber es ist noch nicht befreit worden. Die Häftlinge, die bei Gesundheit waren, wurden auf die Todesmärsche geschickt. Levi, an Scharlach erkrankt, entgeht diesem Schicksal ebenso wie die anderen zurückgelassenen Kranken. Während der Lagerbetrieb unter den Deut-

46 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 138. 47 Zur Gegenüberstellung von Autobiographie und Tagebuch bei Levi vgl. Massimo Lollini: „Trauma e letteratura in Primo Levi“. In: Peter Kuon (Hg.): Trauma et texte. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2008, S. 255–272, hier: S. 262f. 48 Risa B. Sodi: „The Rhetoric of the Univers Concentrationnaire“, hier: S. 49: „[…] nearly devoid of any sense of narrative drive“. 49 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 134–153. 50 Ebda., S. 153. 51 Risa B. Sodi: „The Rhetoric of the Univers Concentrationnaire“, S. 50.

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schen immer noch eine „Welt“ darstellte – „quel feroce mondo che pure era un mondo“52 –, fällt nun diese Welt auseinander, ohne dass jedoch eine neue Welt entstünde. Die letzten Spuren der Zivilisation sind mit den Nazis verschwunden. Anstatt Erleichterung zu bringen (wenn schon nicht die Befreiung), steigert dieses nicht endende Ende des Lagers die grausame Realität ins Unermessliche: Quello che vedemmo non assomiglia a nessuno spettacolo che io abbia mai visto né sentito descrivere.53 […] Noi giacevamo in un mondo di morti e di larve. L’ultima traccia di civiltà era sparita intorno a noi e dentro di noi. L’opera della bestializzazione, intrapresa dai tedeschi trionfanti, era stata portata a compimento dai tedeschi disfatti.54

Diese unendlichen zehn Tage bedeuten eine problematische Verlängerung des Lagers über sein Ende hinaus: einen Aufschub des Endes, der nicht mit der Gesamtzeit des Lageraufenthalts verrechnet werden kann, sondern den AndersRaum einer Nicht-mehr-Welt eröffnet. Es sind die allerschlechtesten Voraussetzungen, unter denen nun der schwierige Prozess der Rückgewinnung von Subjektivität zu beginnen hat, von eigenständigem Handeln und Sprechen. „Dieci giorni fuori mondo e fuori tempo“ entfalten eine Ausnahme als mise en abyme des Lagers, die einer Befreiung aus dem Lager geradewegs entgegensteht und mit der Traum-im-Traum-Figur am Ende von La tregua strukturell korrespondiert. In der Tat löst sich mit der Niederschlagung der Deutschen – die Wendung „tedeschi disfatti“, die im Traum am Ende von La tregua als „tutto cade e si disfa intorno a me“ nachhallt, kündigt das an – das Lager auf, nicht, um für immer zu verschwinden, sondern um alle anderen Bereiche des Lebens auf phantasmatische Weise heimzusuchen. Es wird sich als ein unendlich schwieriges, ja, vielleicht sogar unmögliches Unternehmen erweisen, aus dieser Zone des sich selbst überlassenen Lagers je wieder in die Welt zurückzufinden. Nichtsdestoweniger verwandeln sich die Häftlingsmonaden, indem sie untereinander den Brotvorrat aufteilen, in Subjekte zurück, die wieder einen Sinn für Gemeinschaft zu entwickeln beginnen: „Credo che si potrebbe fissare a quel momento l’inizio del processo per cui noi che non siamo morti, da Häftlinge siamo lentamente ridiventati uomini.“55 Nachdem sie unter Aufbietung der allerletzten Kräfte einen Herd zum Brennen gebracht haben

52 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 152. 53 Ebda., S. 140. 54 Ebda. S. 152. 55 Ebda., S. 142. Die Vorstellung des Häftlings als versiegelte Monade wird von Levi hingegen in I sommersi e i salvati, S. 25f. entwickelt.

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und sich darum versammeln – eine Urszene menschlicher Gemeinschaft –, heißt es: „Eravamo rotti di fatica, ma ci pareva, dopo tanto tempo, di avere finalmente fatto qualcosa di utile; forse come Dio dopo il primo giorno della creazione.“56 Doch wenn Gott bei der Schöpfung auf ein Chaos ohne Vorgeschichte blickte, schauen die wenigen Überlebenden auf riesige Leichenberge, Zeugnisse eines unauslöschlichen Vorher: „Intorno tutto era distruzione e morte. Il mucchio di cadaveri, di fronte alla nostra finestra, rovinava ormai fuori della fossa.“57 Erst die langsame Rückkehr von Subjektivität lässt den im Lager erlittenen Verlust jeglicher Zeit- und Raumkoordinaten nachträglich bewusst werden. Das Paradox, in Tagebuchform von Zeitlosigkeit zu erzählen, legt genau davon Zeugnis ab. Es ist das Kapitel, das Se questo è un uomo abschließt, von Levi aber als allererstes, unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Turin, geschrieben wurde. Entstanden ist es aus höchster Dringlichkeit;58 gleichzeitig ist es das unheimlichste Kapitel. Im Zuge dieses geschilderten, unendlich schwierigen Prozesses, inmitten einer Landschaft aus Leichenbergen wieder Subjekt zu werden, ruft Primos französischer Freund Charles am fünften Tag (den 23. Januar 1945) staunend und zugleich verstört aus: „Primo, on est dehors!“59 Der Angerufene kommentiert nüchtern: „Era così: per la prima volta dal giorno del mio arresto, mi trovavo libero, senza custodi armati, senza reticolati fra me e la mia casa.“60 Aber auch ohne Stacheldraht bleibt wahr: „Intorno tutto era distruzione e morte.“61 „Primo, on est dehors!“, nicht: „Nous sommes libres“. „On est dehors“ gemahnt, selbst wenn hier zum ersten Mal eine Idee von Freiheit anklingt, immer auch an jenes „fuori“, mit dem Levi die eigentümliche Zeit- und Weltlosigkeit des Lagers bezeichnet. Auf die persönliche Anrede des Freundes Primo folgt unmittelbar das unpersönliche Pronomen „on“. Der scheinbar so eindeutige Ausruf erweist sich bei genauer Lektüre als überaus äquivok. Denn der Eigenname neigt dazu, sich in die Ordnungszahl „primo“ [erster] zu verwandeln, was an die Auslöschung des Namens durch die KZ-Nummer gemahnt, oder verweist überhaupt auf etwas „Erstes“, von dem unentschieden bleibt, ob es etwas Neues, nun Beginnendes impliziert oder vielmehr das Enden des Lagers meint, das noch ganz am Anfang steht. Darüber hinaus trägt die Insistenz des graphischen Zeichens „o“

56 Ebda., S. 142f. 57 Ebda., S. 150. 58 Siehe den Hinweis von Marco Belpoliti: Note a Se questo è un uomo. In: Primo Levi: Opere, S. 1375. 59 Primo Levi, Se questo è un uomo, S. 149. 60 Ebda. 61 Ebda., S. 150.

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in den emphatischen Verweis auf ein Außen wiederum die Vorstellung des Eingeschlossenseins ein. Die Aussage „On est dehors“, die im Raum dieser Zeit- und Weltlosigkeit ausgesprochen wird, verweist auf eine Situation, in der Freiheit und Außen-Sein, Ausgenommen-Sein, Ausnahme-Sein ununterscheidbar geworden sind. Der Ausgang aus dem Lager in die zivile Welt bedeutet also keinen Übergang in die Freiheit, sondern impliziert den Eintritt in ein Außen, von dem bislang nur eine unendlich scheinende „pianura livida“ erkennbar ist.62 Die für die Heimkehr notwendige Durchquerung dieser konturlosen Ebene wird von Levi erst 15 Jahre später in La tregua erzählt. Dieser Bericht setzt indes auf der Ebene der histoire genau mit dem Ende von Se questo è un uomo, dem zehnten Tag „außerhalb der Welt und der Zeit“ wieder ein. Auch später wird der Erzähler immer wieder auf dieses „interregno“63 zu sprechen kommen.

5 Heimkehr: Von einem Lager zum nächsten La tregua – Levis Bericht von der schwierigen, neun Monate dauernden Odyssee „alla ricerca problematica del Consorzio Civile“64– muss im Zeichen dieser unüberwundenen, ja, unabgeschlossenen zehn Tage gelesen werden, selbst wenn nun wieder der autobiographische, retrospektive Erzählmodus vorherrscht. Das Bild der wüsten Ebene wird hier ein weiteres Mal aufgenommen, es steht für die räumliche Ausdehnung des Lagers: „La libertà, l’improbabile, impossibile libertà, così lontana da Auschwitz che solo nei sogni osavamo sperarla, era giunta: ma non ci aveva portati la Terra Promessa. Era intorno a noi, ma sotto forma di una spietata pianura deserta.“65 Auf Lastwagen verfrachtet und streckenweise zu Fuß

62 Ebda., S. 149. Die ebene Landschaft steht für eine horizontale Ausdehnung des Lagers, die sich quer zur ebenfalls in Levi präsenten Vorstellung eines „laggiù“ verhält, das vor allem im Kapitel „Sul fondo“ präsent ist und von der Forschung zumeist als eine Reminiszenz an Dantes Höllenfahrt eingestuft wird. Auch bei Charlotte Delbo dominiert im Übrigen die horizontale Vorstellung einer sich ausdehnenden Ebene. „La plaine couverte de marais“, „la plaine glacée à l’infini“, „la plaine sans bord“ bilden bei ihr ein durchgehendes Motiv (vgl. dies.: Aucun de nous ne reviendra, S. 72ff. und passim). 63 Primo Levi: La tregua, S. 172. Wenn der Erzähler die Überlebende Frau Vitta aus Trieste schildert als eine Person, die gesund, aber zugleich zutiefst verletzt war, „ulcerata da quanto aveva subito e visto in un anno di Lager, e in quegli ultimi orribili giorni [Hervorhebung von mir]“ (ebda.), wird abermals deutlich, dass die zehn Tage bezüglich der Zeitrechnung des Lagers abseits stehen. 64 Ebda., S. 180. 65 Ebda., S. 187.

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geht es zunächst ins sogenannte große Lager: Damit ist das inzwischen unter russischem Kommando stehende Stammlager von Auschwitz gemeint, wo sich die Prozedur von Säuberung und Rasur des Körpers wiederholt. Daran anschließend geht es von einem Sammellager (im italienischen Original heißt es meistens nur „campo“) zum nächsten. Zwei Auffassungen, die unvereinbar nebeneinander stehen, begleiten diesen Weg. Die erste, an die das erinnerte Ich noch glaubt, das erinnernde Ich schon nicht mehr, geht vom Ende des Krieges aus: „Ma la guerra è finita […] e la pensavo finita, come molti in quei mesi di tregua, in un senso molto più universale di quanto si osi pensare oggi.“66 Die zweite steht dem radikal entgegen und wird von dem Griechen Mordo Nahum, der eine Woche lang Primos enger Begleiter ist, ausgesprochen: „Guerra è sempre“.67 Während Primo das Lager als „mostruoso stravolgimento, una anomalia laida della mia storia e della storia del mondo“ betrachtet, steht es für Mordo in Kontinuität zur Welt, „come una triste conferma di cose notorie“.68 Die Worte des Griechen klingen einige Seiten später in den Worten eines polnischen Rechtsanwalts auf Französisch nach: „La guerre n’est pas finie – . Le parole del greco.“69 Nun wird Primo selbst wiederholen: „[L]a guerra non è finita, guerra è sempre.“70 In der Tat führt die Befreiung aus dem Lager nur zu weiteren Aufenthalten hinter Stacheldraht: „[A] che serviva essere stati liberati, se poi passavamo ancora i nostri giorni in una cornice di filo spinato?“71 Eine erneute Wende verspricht am 8. Mai 1945 mit dem Kriegsende einzutreten, das Levi in einem Sammellager in Kattowitz, nur knapp 30 km von Auschwitz entfernt, erlebt. Begeisterung und brennendes Heimweh prägen diesen Tag. Der „Victory Day“ – so auch die Überschrift des Kapitels – endet damit, dass Levi von extremer Atemnot befallen wird, die sich erst später als eine langwierige Brustfellentzündung herausstellt.72 Ein Zwischenfall, der nicht ohne allegorische Bedeutung ist, als mit dem mentalen Näherrücken der Heimat – „da quel giorno, infatti, le nostre case non erano più proibite, nessun fronte di guerra più ce ne separava“73 – das Atmen zum Problem wird. Die Atempause manifestiert sich plötzlich als Atemstörung.

66 67 68 69 70 71 72 73

Ebda., S. 189. Ebda. Ebda. Ebda., S. 191. Ebda. Ebda., S. 204. Ebda., S. 225. Ebda., S. 221.

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Ebenso allegorisch muss dann die Beschreibung der Heimkehr in ratternden Zügen gelesen werden, die, von undurchschaubarer sowjetischer Geisterhand gelenkt, zunächst in die falsche Richtung geht und vom Ich im Fieberzustand erlebt wird. Eine dem Traum ähnliche Derealisierung ist die Folge, die nicht nur der Krankheit Levis geschuldet ist, sondern als unmittelbarste Folge der Entwurzelung aufgefasst wird: „È questo il frutto più immediato dell’esilio, dello sradicamento: il prevalere dell’irreale sul reale“.74 Szenen der Deportation – wie das Verladen von Menschen in Güterwaggons – wiederholen sich.75 Die „spietata pianura deserta“ hört nicht auf und kehrt in Staryie Doroghi, einem Sammellager in Weißrussland, als angstbesetzte Erfahrung eines unendlich erscheinenden Raumes, aus dem es keinen Ausgang gibt, wieder: In nessuna altra parte d’Europa, credo, può accadere di camminare per dieci ore, e di trovarsi sempre allo stesso posto, come in un incubo: di avere sempre davanti a sé la strada diritta fino all’orizzonte, sempre ai due lati steppa e foresta, e sempre alle spalle altra strada fino all’orizzonte opposto, come la scia di una nave; e non villaggi, non case, non un fumo, non una pietra miliare che in qualche modo segnali che un po’ di spazio è pure stato conquistato; e non incontrare anima viva […].76

Staryje Doroghi benötigt weder Stacheldraht noch Überwachung; die Weite, von der das Lager umgeben ist, bildet seine eigentliche Einzäunung: Chi voleva, se ne poteva andare. Parecchi lo fecero, alcuni per pura noia o spirito di avventura, altri tentando di passare i confini e tornare in Italia; ma ritornarono tutti, dopo qualche settimana o mese di vagabondaggi: poiché, se il campo non era né sorvegliato né cintato, lo erano invece, e fortemente, le lontane frontiere.77

Es ist ein anderer Typ von Lager, der an das sowjetische Gulag-System gemahnt, vielleicht bereits längst Teil von ihm ist. Zumindest entwickelt sich in diesem Lager, wie für den Gulag typisch, eine Art zivile Gemeinschaft.78 Das Nichtstun wird mit Theateraufführungen und Kinovorstellungen ausgefüllt. In diesem Zusammenhang muss schließlich auch der Umstand allegorisch gelesen werden, dass die lang erwartete Ankündigung der Weiterfahrt nach Hause auf einer Bühne ausgerufen wird – inmitten eines zum wiederholten Mal aufgeführten Machwerks

74 Ebda., S. 233. 75 Vgl. ebda., S. 249. 76 Ebda., S. 256. 77 Ebda., S. 265. Dasselbe Rückkehrphänomen ins Lager wird einige Seiten weiter nochmals wiederholt (vgl. S. 279). 78 Vgl. zu diesem Aspekt Franziska Thun-Hohenstein: Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation. Berlin: Kadmos 2007.

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mit dem Titel „Naufragio degli Abulici“.79 Trotz wiederholter Bestätigung, dass diese Ankündigung kein Spiel, sondern wirklich sei, haftet ihr der Fiktionscharakter nachhaltig an. Die Abreise verzögert sich, und als sie losgeht, tut sie dies nur sehr schleppend, und weiterhin ziellos: „con una lentezza e irregolarità esasperanti, con deviazioni e fermate incomprensibili, percorrendo talora solo qualche decina di chilometri nelle ventiquattr’ore“.80 Der Lokführer weiß auf die Frage, wohin sie fahren, nur zu antworten: „Non lo so, carissimi, non lo so. Andiamo dalla parte dove troviamo binari.“81 Eine Auskunft, die umso beunruhigender ist, als man auf solche Weise auch nach Auschwitz gelangen könnte. Und in der Tat führt Levis Weg noch einmal in die unmittelbare Nähe des „anus mundi“82: Speravamo di passare dall’Ungheria all’Austria senza complicazioni di confine, ma non fu così: il mattino del 7 ottobre, ventiduesimo giorno di tradotta, eravamo a Bratislava, in Slovacchia, in vista dei Beschidi, degli stessi monti che sbarravano il lugubre orizzonte di Auschwitz. Altra lingua, altra moneta, altra via: avremmo chiuso l’anello? Katowice era a duecento chilometri: avremmo ricominciato un altro vano, estenuante circuito per l’Europa?83

Levi hat diesen langen (Um-)weg auf einer Landkarte abgebildet, die zwischen die Erzählung seiner Reise und dem letzten Kapitel – „Il risveglio“ – von seiner erfolgten Heimkehr (und dem damit einsetzenden Traum) eingefügt ist.84 Sie zeigt, wie er zunächst Richtung Osten weit in sowjetisches Gebiet bis fast nach Minsk geschickt wird, wie dann sein Weg weit hinunter in den Süden führt nach Rumänien bis fast nach Bukarest und erst dann die Westrichtung einschlägt über Ungarn nach Wien und München. In der zerstörten Stadt nimmt er die Deutschen wahr als verstummte und in ihre Ruinen wie in eine Festung gewollter Unwissenheit eingeschlossene Wesen. Von München geht dann die Fahrt weiter über den Brenner nach Turin. Die schwarze, durch kleine Pfeile ausgerichtete Linie repräsentiert den etwa 6000 km langen Heimweg. Doch zugleich wird sichtbar – wie im Übrigen auch die kreisförmig angelegte Erzählstruktur verdeutlicht – dass Anfang- und Endpunkt, Auschwitz und Turin, durch eben diese schwarze Linie für immer miteinander verbunden bleiben.

79 80 81 82 83 84

Vgl. Primo Levi: La tregua, S. 297. Ebda., S. 302. Ebda., S. 303. Vgl. Primo Levi: I sommersi e i salvati, S. 49. Primo Levi: La tregua, S. 316. Ebda., S. 320f.

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Es ist daher erstaunlich, dass Levi diese unter schrecklichen materiellen und geistigen Bedingungen stattfindende Irrfahrt, in der sich immer wieder Wenden und Öffnungen ankündigen, die dann doch keine sind, als „tregua“ bezeichnet: „I mesi or ora trascorsi, pur duri, di vagabondaggio ai margini della civilità, ci apparivano adesso come una tregua, una parentesi di illimitata disponibilità, un dono provvidenziale ma irripetibile del destino.“85 Das Pathos lässt sich allein vor dem Hintergrund des drohenden Zusammenfalls von Start und Ziel verstehen. Denn Anfangs- und Endpunkt der Reise bilden, wenn die Parenthese der „tregua“ ausgenommen wird, zusammengeschoben eine Kippfigur. In der Tat wird die „Storia di dieci giorni“ im Traum am Ende von La tregua fortgeschrieben.86 Allein auf dem Weg zwischen diesen beiden Punkten, nicht mehr im Lager und noch nicht zuhause, realisiert sich „la tregua“. Ausgerechnet also im Bereich dieser staatenlosen Unentschiedenheit, dieser „spietata pianura deserta“, die Osteuropa und die Sowjetunion, wo der deutsche Vernichtungskrieg die größten Zerstörungen angerichtet hat, am Ende des Krieges sind. Nicht von ungefähr kommt die Wendung „senza tregua“ (deutsch: ohne Unterlass, ohne Frieden) darin ebenso oft vor wie „la tregua“.

6 Insistenz des Gedichts An den Enden der beiden Berichte, so wurde deutlich, faltet sich die Narration jeweils in eine mise en abyme ein. Damit bringt sich die Erzählung um ihren eigenen Abschluss. Das Ende der Erzählung markiert vielmehr das Nicht-Enden dessen, was durch die Erzählung hätte abgeschlossen werden sollen. In diesem (Nicht-)Enden der Erzählung wird auch die Frage des Endes des Lagers verhandelt. Verweilen wir darum an diesen Erzählrändern und schauen wir uns nun, nachdem wir uns bislang auf das Enden der beiden autobiographischen Berichte konzentriert haben, ihre jeweiligen Anfänge an. Beide sind markiert durch ein Gedicht, das ihnen voransteht und in solcher Position in wörtlichem und übertragenem Sinne eine Vorschrift bildet. Es handelt sich um die Gedichte Shemà und Alzarsi, die Levi im Januar 1946 – also nur wenige Monate nach seiner Rückkehr aus Auschwitz – geschrieben hat. Während Levi wiederholt seinen Prosatexten die Autorität der Zeugenschaft zugeschrieben hat, aus der er die Legitimation seines Schreibens zieht, hat er sich über seine Gedichte betont

85 Ebda., S. 324. 86 So auch treffend beobachtet von Massimo Lollini: „Trauma e letteratura in Primo Levi“, S. 268.

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abfällig geäußert, wie zum Beispiel in einem Interview aus dem Jahre 1981 für La Nuova Italia deutlich wird: Il mio stato naturale è quello di non fare poesie, però ogni tanto capita questa curiosa infezione, come una malattia esantematica, che dà un rush [eruzione cutanea]. Non mi metterò mai a comporre poesie metodicamente. Mi è capitato di scriverne cinque o sei nel giro di due o tre giorni, come quelle che danno inizio all’Osteria di Brema. Mi capita adesso per ragioni che non so, forse per il fatto che ho più tempo libero, ma è un fenomeno totalmente incontrollato. Ad un certo punto uno si trova in corpo il nocciolo di una poesia, il primo verso o un verso, poi viene fuori il resto. A volte sta in piedi, altre volte la butto via, ma è un fenomeno che non capisco, che non conosco, che non so teorizzare, di cui rifiuto addirittura il meccanismo. Non fa parte del mio mondo. Il mio mondo è quello di pensare a una cosa, di svilupparla in modo quasi… da montatore, ecco, di costruirla poco per volta.87

Diese Aussage, die das Verfassen von Gedichten als fremde Erfahrung vorstellt, ist für Levis Literatur- und Zeugenschaftsbegriff bezeichnend. Während die Zeugenberichte seiner Intention entsprechen, entstehen die Gedichte in unvorhersehbarer Weise: Sie stoßen ihm zu wie ein Unglück, wie ein Traum, sporadisch und doch wiederholt, im Körper, nicht im Geist. Sie brechen dort aus wie eine Krankheit, deren Entstehung in Levis Worten zugleich an eine Geburt oder vielmehr an eine Ausgeburt mahnt. Diese Sprachgebilde kommen wie das nächtliche Traumgeschehen von woanders her; sie widerstreben dem sachlichen Zeugenbericht, weil sie, wie Levi ebenfalls bekundet hat, besser als die Prosa seine Zwangsvorstellungen auszudrücken vermögen. Doch zugleich bilden gerade sie eine Art Ursprung seines autobiographischen Erzählens: „Le poesie vengono prima, ero appena tornato in Italia. È stato come trovarmi in mezzo a una fungata: non si sa mai dove e quando nasce un fungo.“88 Das Erzählwerk geht daraus hervor und steht dazu zugleich in Spannung.89 Was hat es nun damit auf sich, dass Levi die beiden Gedichte Shemà und Alzarsi seiner autobiographischen Zeugenprosa als Epigraphen voranstellt, wenn er diesen Gebilden doch so skeptisch gegenübersteht? Indem er dies tut, rückt er

87 Primo Levi: Conversazioni e interviste, S. 181f. 88 Ebda. 89 Belpoliti zieht daraus folgenden Schluss für die Genese des Werks: „[L]a poesia di Levi nasce da un’esigenza narrativa, ma anche viceversa: la prosa contiene una continua tensione verso la poesia, sia come forma sia come espressione“ (vgl. ders.: Primo Levi. Milano: Bruno Mondadori 1998, S. 23). Rastier meint in der Poesie die Stimme der Toten zu vernehmen (Poesie als Ort der Prosopopeia) und in der Prosa die Zeugenschaft, die den Lebenden zu übermitteln sei (ders.: Ulisse ad Auschwitz, S. 71–82). Levis Gedichte sind zunächst in dem Band L’Osteria di Brema, Milano: Scheiwiller 1975 erschienen, später, erweitert um andere Gedichte, in dem Band Ad ora incerta, Milano: Garzanti 1984.

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die Dichtung als einen anderen Modus des Sprechens in die größte Nähe seiner Prosaberichte. Um dem spezifischen Verhältnis zwischen Gedicht und Prosa auf die Spur zu kommen, sollen zunächst die beiden Gedichte Shemà und Alzarsi genauer betrachtet werden: Shemà Voi che vivete sicuri Nelle vostre tiepide case, Voi che trovate tornando a sera Il cibo caldo e visi amici: Considerate se questo è un uomo Che lavora nel fango Che non conosce pace Che lotta per mezzo pane Che muore per un sì o per un no. Considerate se questa è una donna, Senza capelli e senza nome Senza più forza di ricordare Vuoti gli occhi e freddo il grembo Come una rana d’inverno. Meditate che questo è stato: Vi comando queste parole. Scolpitele nel vostro cuore Stando in casa andando per via, Coricandovi alzandovi; Ripetetele ai vostri figli O vi si sfaccia la casa, La malattia vi impedisca, I vostri nati torcano i visi da voi.90

Dieses erste Gedicht geht aus einer Um- und Nachschrift – „a marvelous, contorted, and brutal paraphrase“91 – des jüdischen Shema-Gebetes [hebräisch für „Höre!“] hervor, das Teil des rituellen Morgen- und Abendgebets und als solches in erster Linie die eindringliche Anweisung ist, sich des jüdischen Gottes zu erinnern. Die Worte des Gebetes gehen auf die Stelle im Deuteronomium zurück, wo Moses seinem Volk die göttlichen Gebote erläutert: […] hier sind die Gebote, die der Herr befahl, euch zu lehren: Höre, oh Israel, Gott ist Allmächtig, Gott ist Eins! Liebe deinen Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele und deinem

90 Primo Levi: Shemà, in: ders.: Ad ora incerta, S. 15 und (ohne Nennung des Titels) in: ders.: Se questo è un uomo, S. 7. 91 Risa B. Sodi: „The Rhetoric of the Univers Concentrationnaire“, S. 39.

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ganzen Wesen. Und diese Worte, die ich euch heute befehle, mögen in euren Herzen bleiben. Und wiederholt sie euren Söhnen und sprecht mit ihnen darüber, während ihr in euren Häusern zusammensitzt, spazieren geht, euch zu Bett begebt und wieder aufsteht. Und bindet sie als ein Zeichen auf eure Hand und lasst sie Zeichen zwischen euren Augen sein. Und meißelt sie an die Türstöcke eures Hauses und auf eure Tore.92

Das Beten dieser Bibelverse in Form des Shema als einem Imperativ, der zum Hören aufruft, dem wir in Levi nun schon des Öfteren begegnet sind, ist Performanz: Bezeugung bzw. Beglaubigung des Glaubens, eines Glaubens, der sich maßgeblich als Erinnerung an den einen Gott artikuliert. Glaube, Bindung, Erinnerung fallen in eins, erhalten sich allein durch ständig wiederholten Vollzug und die darin vorgesehene Übermittlung an die nachstehenden Generationen, durch einen Vollzug, an den das Aufstellen äußerer Merkzeichen abermals erinnern soll. In Levis Um- und Nachschrift bezieht sich die Ermahnung, sich zu erinnern nicht mehr auf den monotheistischen jüdischen Gott, sondern auf die Wunde, die der Menschheit von Menschen zugefügt worden ist, auf den radikalen Versuch der Nationalsozialisten, Menschen aus der Menschheit, Menschen aus der Welt auszuschließen. Doch obwohl die Wunde groß und unübersehbar ist, scheint die Erinnerung daran ebenso wenig gesichert zu sein wie die Erinnerung Israels an seinen Gott. Es muss stets aufs Neue daran erinnert werden, sich zu erinnern, der Aufruf bedarf seiner ständig wiederholten Beglaubigung. Nur in der ununterbrochenen Erinnerung an den Bruch, so die Vorstellung, die in diesem Gedicht zum Ausdruck kommt, kann dem irreparablen Bruch, der Unterbrechung von Generation („freddo il grembo“ verweist auf die fehlende Zeugung) etwas entgegengestellt werden, das den Fortbestand der Menschheit, den Zusammenhang der Generationen garantiert. Zeugnis ablegen stiftet ein menschliches Band dort, wo Zeugung unterbrochen ist. Als Epigraph vorangestellt, wird das Gedicht als Um- und Nachschrift an die Funktionsstelle einer Vorschrift platziert, und dies in zeitlichem, räumlichem, logischem und modalem Sinn. Zeitlich, weil das Gedicht früher als der Bericht geschrieben worden ist; räumlich, weil es im Textraum voran steht; logisch, weil es die Voraussetzung für das ist, was folgt; modal, weil es als Vorschrift bemüht ist, den Imperativ, den es formuliert, performativ durchzusetzen. Als Nachschrift und Vorschrift zugleich steht das Gedicht zwischen dem alten Bund – Israels mit Gott – und diesem neugefassten, neuen Bund: der Menschheit mit der Vernichtung. Doch insofern der religiöse Bund mit Gott nicht ohne Wei-

92 5. Moses 6, 4–9 zitiert nach der Einheitsübersetzung.

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teres in diese traumatische Bindung übersetzt werden kann, zugleich aber hier genau in dieser Weise überschrieben und umgeschrieben wird, bildet das Gedicht nicht, wie man vielleicht auf den ersten Blick meinen könnte, die Vermittlungsinstanz zwischen zwei unvereinbaren Gedächtnisimperativen. Vielmehr zeigt gerade die Montage der unterschiedlichen Textsorten – Bibeltext, Gebet, Gedicht, Epigraph, Prosabericht –, dass wir es hier mit Rissen und inkommensurablen Sprüngen zu tun haben. Die montierte Staffelung von Voraussetzungen (die im Übrigen das im Zitat skizzierte Selbstbild von Levi als Monteur aufnimmt, aber ins Bodenlose verlängert) zeigt, dass der Bezug auf Traditionslinien unvermeidlich und zugleich höchst brüchig geworden ist. Das am 11. Januar 1946, nur einen Tag nach Shemà verfasste Gedicht Alzarsi spitzt die Problematik des Zeugens und Erzählens weiter zu. Alzarsi fungiert ebenfalls als Epigraph, diesmal von La tregua, dem Bericht, der, 15 Jahre später verfasst, auf der Ebene der histoire direkt an das Ende von Se questo è un uomo, den 27. Januar 1945, anschließt. Da sowohl das Gedicht Alzarsi mit seinem Datum verzeichnet ist als auch Zeit und Ort des Abfassens von La tregua („Torino, dicembre 1961 – novembre 1962“93) markiert sind, gehen Zeitpunkt und Zeitraum des Verfassens beider Texte in die histoire selbst mit ein. Die Gegenwart des Erzählens 1961/62 aktualisiert nicht nur die Zeit vom 27. Januar 1945 bis 19. Oktober 1945 als erzählte, sondern muss sich auch mit dem Datum des Gedichts – einer anderen Zeit des Schreibens, die ihm vorausgeht – konfrontieren. Während Shemà einen Raum und eine Zeit des Erzählens behauptet und gleichsam zum kategorischen Imperativ erhebt, sind in Alzarsi genau dieser Raum und diese Zeit als eine unmögliche, immer schon vergangene gezeichnet: Alzarsi Sognavamo nelle notti feroci Sogni densi e violenti Sognati con anima e corpo: Tornare; mangiare; raccontare. Finché suonava a breve sommesso Il comando dell’alba: «Wstawać»; E si spezzava in petto il cuore. Ora abbiamo ritrovato la casa, Il nostro ventre è sazio,

93 Primo Levi: La tregua, S. 325.

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Abbiamo finito di raccontare. È tempo. Presto udremo ancora Il comando straniero: «Wstawać».94

Wir treffen in diesem Gedicht abermals auf eine Reihe von Motiven, die wir schon in unserer Auseinandersetzung mit den Traumerzählungen in Se questo è un uomo und La tregua erörtert haben. Hier nun sind sie auf engsten sprachlichen Raum zusammengezogen. Die erste Strophe erinnert – parataktisch, Infinitive setzend, sehr verknappt – den kollektiven, immer wiederkehrenden Traum des KZ-Häftlings von einer Zeit nach dem Lager, die als eine Zeit der Heimkehr, des Essens und Erzählens imaginiert wird. Wir haben gesehen, inwiefern dieser Traum nur vermeintlich ein Wunschtraum ist, wie sich in ihm durch permanenten Entzug der Befriedigung des Essens und Erzählens der Terror des Lagers fortsetzt. Genau dieser Entzug wird im Gedicht durch die zweite Strophe gleichsam performativ vollzogen. Denn hier werden die Infinitive „tornare“, „mangiare“, „raccontare“ der ersten Strophe einmal um die Spiegelachse in die vollendete Vergangenheit gewendet: „Ora abbiamo ritrovato la casa / Il nostro ventre è sazio / Abbiamo finito di raccontare.“ Zugleich wird damit – im Gegenzug dieser Rückwendung – das, was in der ersten Strophe als Vergangenes markiert war, nämlich das Ertönen des Morgenappells im Lager, als eine unmittelbar anstehende Zukunft vorgestellt. „Wstawać“ – das polnische Wort ist wie seine italienische Entsprechung eine infinite Form des Imperativs – durchbricht in seiner unveränderten Wiederkehr als eine Art hysteron proteron die chronologische Zeit, verkehrt Vergangenheit und Zukunft, macht sie miteinander verwechselbar, löscht Gegenwart als Differenzpunkt zwischen den Zeiten aus und reduziert die Gegenwart damit auf einen Knick, eine Achse, um die herum sich Vergangenheit und Zukunft im Kreise drehen. La tregua – die Parenthese – kann als der Versuch gewertet werden, diese hier eingefaltete Gegenwart, die Mitte zwischen erster und zweiter Strophe, wiederum auszufalten. So wie in Alzarsi die Zeiten ineinander gewendet sind, so findet auch im Übergang von Shemà zu Alzarsi ein plötzliches Kippen, eine plötzliche Wende innerhalb des Zeugens, Erinnerns und Erzählens statt: Wenn Shemà an das fortwährende, konstante Erinnern gemahnt, so lässt es doch die Nacht – den

94 Primo Levi: „Alzarsi“. In: ders.: Ad ora incerta, S. 16 und (ohne Titelnennung) in: ders.: La tregua, S. 155.

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Schlaf mit seinem Traumgeschehen – aus, also das, was sich zwischen dem Abend- und dem Morgengebet ereignet. Wenn Shemà eine emphatische Aufforderung an das Hören ist, so wird in Alzarsi zuletzt allein der Lager-Appell hörbar: „presto udremo ancora […]“. Alzarsi zeugt von der Schwelle, die zwischen dem nächtlichen Traumgeschehen – dem unbewussten Gedächtnis – und dem täglichen Erinnerungsgebot liegt, zeugt damit von dem prekären Moment des Aufwachens, das in sich die Ambiguität trägt, dass es einerseits aus den quälenden Träumen befreit, andererseits den Erwachenden abrupt in die alptraumhafte Realität des Lagers zurückweist. Wenn in der zweiten Strophe – zuhause – „Wstawać“ wiederkehrt, dann ist dies auch ein Reflex darauf, dass der zum Überleben antreibende, starke Wunsch heimzukehren („tornare“) stets Gefahr läuft, in die Wiederkehr (ebenfalls: „tornare“) der Vergangenheit als Heimsuchung durch das Lager zu kippen und dass der kategorische Imperativ des Gedächtnisses „vi comando queste parole“, zu dessen Überbringer sich das Ich in Shemà aufschwingt, schlagartig von einem anderen „comando“, dem Morgenappell im Lager, durchkreuzt werden kann. Beide Gedichte liegen in ihrer Entstehung nur einen Tag, genauer, eine Nacht auseinander; sie grenzen aneinander – unvereinbar – wie Tag und Nacht. In dieses Angrenzen ist die Zeit eingefaltet, die zwischen der Entstehung von Se questo è un uomo und La tregua vergangen ist, nämlich 15 Jahre, in denen Levi nicht aufhört zu erzählen, Zeugenschaft abzulegen und unter anderem Se questo è un uomo für die zweite, nun endlich in dem großen italienischen Verlag Einaudi erscheinende Edition von 1958 zu redigieren. Es sind Jahre des Erzählens, Zeugens und Schreibens, die selbst unerzählt bleiben, die aber als Versuch gewertet werden können, eine Brücke zwischen diesen beiden aufeinander bezogenen und zugleich so unvereinbaren Gedichten zu schlagen. Welche Sprache, so könnte man fragen, kann vermitteln zwischen einem Du und Ihr, das in Shemà insistiert (dabei aber ein Ich und Wir ganz ausklammert) und einem Wir, das in Alzarsi auf sich selbst zurückgeworfen ohne jegliches Gegenüber erscheint? Welche Sprache kann vermitteln zwischen dem Imperativ des Zuhörens, der so emphatisch durch das hebräische Wort „Shema“ formuliert wird und der unerlösten Dringlichkeit des Erzählens, die sich in Alzarsi ausdrückt? Welche Sprache kann vermitteln zwischen einem Imperativ des Erinnerns und der unbewussten Wiederkehr des Unbewältigten, der Insistenz eines anderen Imperativs – dem KZ-Appell –, wie es in der zweiten Strophe von Alzarsi geschieht? Das Gegenüber der Gedichte stellt miteinander unvereinbare, sich gegenseitig ausschließende und einander durchkreuzende Aufforderungen vor. Die nicht-apophantische Rede, die den indikativischen, autobiographischen Berich-

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ten je voransteht, spricht widersprüchliche Aufforderungen aus.95 Genau das schlägt sich denn auch in der Prosa nieder als unauflöslicher Widerspruch zwischen einem Schreibimpuls, der „a scopo di liberazione interiore“ entstanden ist und Momenten in diesem Schreiben, in denen das Ich auf sich selbst als verwundetes zurückgeworfen wird. Wenn die Dichtung als Imperativ der Prosa erscheint, der Indikativ der Prosa dabei versucht, dem Imperativ der Dichtung nachzukommen, dieser Imperativ aber als gedoppelter aufzufassen ist, spaltet sich das indikativische Sprechen in eines, das den hebräischen Gedächtnisimperativ einzulösen versucht, und in ein anderes, das bestrebt ist, dem Phänomen der nächtlichen Wiederkehr des Unbewältigten zu antworten. In diesem gegenläufigen Prozess von Vor- und Nachschriften ereignet sich ein permanentes Umschreiben, das immer wieder an das fremde Wort „Wstawać“ stößt, das durch keine dieser Umschriften – obwohl ins Italienische übersetzt – assimiliert werden kann, sondern vielmehr jedes Mal die Schrift – sei es die des Gedichts, sei es die des Prosaberichts – zum Abbruch zwingt, um sich selbst als letztes – und als letztes auch wiederkehrendes – Wort zu behaupten. Denn als eines, das in sich lautlich gleichsam gedoppelt ist (oder gar, wenn wir „W“ als „doppia V“ lesen, vervierfacht), entfaltet es eine Echostruktur, aus der heraus es sich selbst ständig von Neuem generiert und alles andere zu übertönen droht. Dass jedoch diese in sich so verschlungene, kreisförmig angelegte Erzählanlage aus Gedicht und Prosa – Shemà / Se questo è un uomo/ Alzarsi/ La tregua – sich dennoch nicht zum Kreis schließt, markiert nicht zuletzt auch die Asymmetrie, die trotz des spiegelbildlich-verkehrten Verhältnisses zwischen der ersten und der zweiten Strophe von Alzarsi besteht. Denn der vierte Vers der ersten Strophe, der mit dem Verb „raccontare“ endet, findet sein Echo im dritten Vers der zweiten Strophe; und „Il comando dell’alba / Wstawać“ (Vers 6/7) seines in „Il comando straniero / Wstawać“ (Vers 5/6). Zu einer vollkommenen Spiegelsymmetrie fehlen der zweiten Strophe immerhin zwei Verse: ein anderer, zusätzlicher Anfangsvers und ein anderer, zusätzlicher Endvers. Es ist, als ob diese minimale Differenz auf eine Öffnung hinweist, die in die Wiederholung eine Verschiebung einschreibt und mit dieser Verschiebung die implizite Aufforderung an die Leser artikuliert, zwei Verse zu ergänzen, dabei aber zu vermeiden, dass sich durch eine solche Ergänzung das Gedicht zur symmetrisch abgeschlos-

95 Zur Unterscheidung zwischen apophantischer und nicht apophantischer Rede siehe Aristoteles: Peri hermeneias. Übers. und erläutert von Hermann Weidemann. In: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Hg. von Hellmut Flashar. Berlin: Akademie-Verlag 1994, Band 1, Teil 2, 4, 17a4–7. Siehe auch die Ausführungen dazu von Giorgio Agamben: Qu’est-ce que le commandement, Paris: Rivages 2013.

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senen Struktur fügt. Wenn dem so ist, dann ginge es stets noch darum, den Lagerruf durch einen anderen Ruf zu widerlegen; dann ginge es immer noch darum, das fremde Wort nicht in ein „Alzarsi“, sondern in ein wirkliches Erwachen aus dem Alp des Lagers zu übersetzen. Die Elemente sind dafür gegeben, allerdings in grundsätzlich verstellter Weise. Denn die Konstellation aus gegenläufigen Imperativformen – der religiös ethische, die unbewusste Insistenz, der Lager-Appell – und unterschiedlichen indikativischen Arten, darauf eine Antwort zu finden, bildet ein Dispositiv, das jeden künftigen Leser zur weiteren Durcharbeitung auffordert. 40 Jahre später fügt Levi diesen gegenläufigen poetischen Imperativen ein weiteres Gedicht hinzu: Il superstite von 1984 ist im Zusammenhang mit der Arbeit an I sommersi e i salvati entstanden. Wiederum handelt es sich um ein Gedicht, das aus Umschriften hervorgegangen ist. Als eine wichtige Folie liegt ihm Coleridges The Rime of the Ancient Mariner96 zugrunde, dessen Bedeutung für das eigene Schreiben Levi vielfach betont hat. Auch in Il superstite dominiert ein Imperativ, diesmal ist es jedoch ein apotropäischer. Der gequälte Überlebende will von den ihn heimsuchenden Gespenstern nichts mehr wissen: Since then, at an uncertain hour, Dopo di allora, ad ora incerta, Quella pena ritorna, E se non trova chi lo ascolti Gli brucia in petto il cuore. Rivede i visi dei suoi compagni Lividi nella prima luce, Grigi di polvere di cemento, Indistinti per nebbia, Tinti di morte nei sonni inquieti: A notte menano le mascelle Sotto la mora greve dei sogni Masticando una rapa che non c’è. «Indietro, via di qui, gente sommersa, Andate. Non ho soppiantato nessuno, Non ho usurpato il pane di nessuno, Nessuno è morto in vece mia. Nessuno. Ritornate alla vostra nebbia. Non è mia colpa se vivo e respiro E mangio e bevo e dormo e vesto panni».97

96 Samuel Taylor Coleridge: The Rime of the Ancient Mariner. New York: D. Appleton 1857. 97 Primo Levi: Ad ora incerta, S. 76.

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Zu bemerken ist die Wiederaufnahme des Motivs der Erzählung, die von niemandem erhört wird und die damit verbundene Wiederkehr eines heftigen Schmerzes zu unbestimmter Stunde. All das, was über die Erzählung nicht gelöst bzw. veräußert oder durchgearbeitet werden konnte, kehrt nun im überlebenden Subjekt, das hier in der dritten Person auftritt (nach dem „Voi“ von Shemà, dem „Noi“ von Alzarsi, nun die objektivierte Perspektive), als fragmentarische, nebelhaft verschwommene Vision des Lagers zurück. In den letzten sieben Zeilen erfolgt eine Art innerer Monolog des Überlebenden, der im Befehlston die andrängenden Erscheinungen zu verjagen sucht. Nirgends ist die doppelte Bewegungsrichtung des „ritorno“ enger zusammengeführt als in diesen Verszeilen, wo auf „Quella pena ritorna“ der Imperativ „Andate […] Ritornate alla vostra nebbia“ antwortet. Bemerkenswert an diesem Gedicht, das mit einigen von Coleridge direkt übernommenen Zeilen wiederum als Epigraph, nun I sommersi e i salvati, voransteht, ist insbesondere auch, dass es sich doppelt gegenwendig verhält. Zunächst einmal gegen Coleridges Vorlage: Dessen berühmte Ballade spricht bekanntlich emphatisch vom Gelingen der Erzählung, von der erfolgreichen Mitteilung an die Welt über die erlittene Katastrophe.98 In Levis Umschrift bleibt einmal mehr die Erzählung ungehört, so dass der Überlebende schließlich nichts mehr von den Toten hören will, für die er sprechen soll. Dann aber verhält sich das Gedicht auch gegenwendig zu I sommersi e i salvati. Denn mit diesem Essayband nimmt sich Levi 40 Jahre nach Se questo è un uomo und 25 Jahre nach La tregua doch noch einmal der Fragestellungen an, welche die nationalsozialistischen Lager für die europäischen Gesellschaften aufwerfen. Nicht mehr narrativ, sondern nun essayistisch, wagt er sich an die weitgehend unerforschten ethischen Gebiete, vor die ihn die wiederkehrenden Gespenster immer wieder stellen, von denen das Gedicht spricht: erstens die Grauzone des Lagers als Zone, in der die Häftlinge auf perverse Weise in ihren eigenen Vernichtungsprozess involviert werden und damit zu nicht unschuldigen Opfern werden;99 zweitens die Grauzone, mit der Levi das Ideal der Klarheit insofern problematisiert, als er anerkennt, dass angesichts der bis zur gänzlichen Unverständlichkeit pervertierten Lagerrealität jeder Versuch, klare Unterscheidungen („chiarezza, il taglio netto“) zu treffen schematisch, stereotyp bleibt;100 drittens schließlich die Scham des eigenen Überlebens, die sich mit der Feststellung konfrontieren muss, dass es – rassistisch-darwinistische Vorstellungen auf den Kopf stellend – in der Regel die „Schlimmsten“ 98 Vgl. dazu die Interpretation von François Rastier: Ulisse ad Auschwitz, S. 15–25, der sowohl den offensichtlichen Bezug zu Coleridge als auch den versteckteren Bezug zu Dante (Inf. XXXIII, 141) in diesem Gedicht kommentiert und darüber hinaus die infratextuellen Werkbezüge aufzeigt. 99 Vgl. Primo Levi: I sommersi e i salvati, S. 31. 100 Vgl. ebda., S. 25.

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waren, die überlebt haben: „i peggiori, cioè i più adatti; i migliori sono morti tutti.“101 Gerade der Essay, der keine autobiographische Erzählung, keine intimen Aussagen über Befindlichkeiten vorsieht, entpuppt sich als jener Ort, an dem die traumatische Dimension der Lagererfahrung am stärksten hervortritt. Dies betrifft zum einen die hier vorgenommene Beschreibung des Eintritts ins Lager als „urto“, als ein Schock, der zur Affektabspaltung führt.102 Im Lager, in dem der Tag weitestgehend damit ausgefüllt ist, ums schiere Überleben zu kämpfen, gibt es für den Affektausdruck keine Zeit; aus dem Lager zurückgekehrt gibt es dafür auch nur bedingt Zeit, weil der Auftrag der Zeugenschaft, der Züge einer Buße für ein immer wieder auftauchendes Schuldgefühl annimmt, erfüllt werden muss. Erst spät wird darum der Affekt selbst Gegenstand der Reflexion. In I sommersi e i salvati wird dieser „urto“ thematisiert als Moment, in dem die Ordnungsmuster zusammenbrechen, mit denen sich der Deportierte zunächst zu orientieren suchte. Dies betrifft vor allem die Unterteilung des Lagers in Täter und Opfer. In der Exponierung des sogenannten Judenrats, den Levi anhand der Figur von Chaim Rumkowski diskutiert, setzt er sich fragend und insistierend, wie vor ihm sonst nur Hannah Arendt, dem Punkt der hier agierenden Gegenrationalität aus, durch den sämtliche, das abendländische Denken prägende Oppositionen – seien diese ethischer, politischer, ökonomischer Art – hinfällig werden.103 Genau an diesem Punkt der Unerträglichkeit kehrt das Gedicht als Ausdruck der Abwehr der Erinnerung und Auseinandersetzung mit dem Unbewältigten zurück. Damit lässt sich abschließend festhalten, dass die drei Gedichte, wo sie von Levi als Epigraphen, bzw. wörtliche und buchstäbliche Vorschriften in engen Zusammenhang mit seiner berichtenden und essayistischen Prosa gestellt werden, die so oft behauptete Opposition zwischen der aufklärerischen Sachlichkeit seiner Prosa und der dunklen Besessenheit seiner Lyrik weit hinter sich lassen. Stattdessen können wir sagen, dass gerade in den Gedichten die Frage nach der Wirkmächtigkeit von Sprache und Erzählen verhandelt wird: die Notwendigkeit

101 Ebda., S. 64. 102 Ebda., S. 25f. Die Beschreibung folgt hier ganz dem Trauma-Modell, wie wir es in den Studien über Hysterie angetroffen haben. Vgl. Kapitel I.2. 103 Siehe zur Frage der Gegenrationalität des nationalsozialistischen Vernichtungssystems sowie zur Rolle des Judenrats darin v. a. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper 1994, S. 160ff., sowie die Arbeiten des Historikers Dan Diner: „Jenseits des Vorstellbaren. Der ‚Judenrat‘ als Situation“. In: Hanno Loewy, Gerhard Schoenberger (Hg.): „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Getto in Lodz 1940–44. Wien: Loecker 1990, S. 32–40; ders.: „Zivilisationsbruch, Gegenrationalität, gestaute Zeit. Drei interpretationsleitende Begriffe zum Thema Holocaust“. In: Hans Erler, Ernst Ludwig Ehrlich, Ludger Heid (Hg.): „Meinetwegen ist die Welt erschaffen“. Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. Frankfurt, New York: Campus 1997, S. 513–520.

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des Erzählens und Zuhörens, das Scheitern des kommunikativen Paktes, die Wiederkehr des Nicht-Vermittelbaren in Form von Phantasmen und Alpträumen. Wenn die Psychoanalyse das Dramatische als mimetisches Ausagieren des Traumatischen und die Diegese als erzählerische Form der Durcharbeitung traumatischer Erfahrung kennt (vgl. dazu Kapitel I.2), so schweigt sie doch über den Modus lyrischen Sprechens. Adornos – missverstandene – Aussage über das Gedichtschreiben nach Auschwitz hat ihrerseits dazu beigetragen, dass der Zusammenhang von dichterischem Sprechen, Trauma und Zeugenschaft unterbelichtet geblieben ist, wenngleich Lyrik im Korpus der Lagerliteratur einen nicht zu unterschätzenden quantitativen und qualitativen Status einnimmt.104 In Hinblick auf Mimesis und Diegese des Traumatischen erscheint bei Levi das Gedicht als eine Art sprachliche Einkapselung des Affekts, das als gegenwendige Dynamik zur Diegese deren entscheidende Herausforderung darstellt, und zwar jedes Mal neu: Während Se questo è un uomo als Einlösung des Auftrags gelesen werden kann, der in Shemà artikuliert wird, erscheint Alzarsi als das, auf was La tregua entgegen der Erzählabsicht hinsteuert; und gegen die fatale Tendenz der Verschließung der Ohren gegen die Stimmen der Toten, die in Il superstite gestaltet wird, bäumt sich mit aller Macht noch einmal Levis Essayband auf, der sein letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch bleiben wird. Das sprachliche Gesamtgefüge zeugt aber davon, dass es in sich keinen Abschluss findet. Auch wenn schon alles gesagt ist, bleibt immer ein Rest, der noch darauf wartet, gesagt zu werden.

7 Dante rezitiert und zitiert „Parler, écrire, est, pour le déporté qui revient, un besoin aussi immédiat et aussi fort que son besoin de calcium, de sucre, de soleil, de viande, de sommeil, de

104 Bezüglich Adornos Aussage, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne, sagt Levi, das eigene lyrische Schreiben an dieser Stelle wiederum aufwertend: „La mia esperienza è stata opposta. Allora mi sembrò che la poesia fosse più idonea della prosa per esprimere quello che mi pesava dentro. Dicendo poesia, non penso a niente di lirico. In quegli anni, semmai, avrei riformulato le parole di Adorno: dopo Auschwitz non si può più fare poesia se non su Auschwitz“ (Primo Levi: Conversazioni e interviste 1963–1987, S. 137). Ebenso äußert sich im Übrigen auch Imre Kertész: „Ich würde ihn [den bekannten Ausspruch Adornos] in einem ebenso weiten Sinn, so modifizieren, daß man nach Auschwitz nur noch über Auschwitz Gedichte schreiben kann“ (ders.: „Lange, dunkle Schatten“. In: ders.: Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 53–60, hier: S. 54).

7 Dante rezitiert und zitiert

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silence.“105 Diese Aussage, die Georges Perec im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Robert Antelmes L’Espèce humaine (1947) getroffen hat, erinnert an Levis Vers „Tornare; mangiare; raccontare“. Essen und Erzählen stehen in engstem Zusammenhang, in harter Konkurrenz, ohne einander ersetzen zu können. Obgleich es den Überlebenden nach beidem gleichzeitig drängt, kann der Mund stets nur eine Tätigkeit auf einmal ausführen. Sprechen ist für Levi nicht nur Veräußerung, sondern auch Nahrung. Daran hält er bis zu seinem Lebensende fest: Sprachfindung und Findigkeit in der Sprache stellen den einzigen Weg dar, aus dem Lager in die menschliche Gemeinschaft zurückzufinden, weil die menschliche Gemeinschaft im Wesentlichen auf dem Dialog – dem Zusammenhang von Sprechen und Zuhören – beruht.106 Zu Levis vordringlichstem Bestreben gehört es, sich im Sprachenwirrwarr des Lagers zurechtzufinden. Im Gespräch mit Germaine Greer erzählt er, dass er im Lager Privatstunden in Deutsch genommen und diese mit einer Brotration bezahlt habe.107 Dieser ungewöhnliche Tausch findet im Rahmen einer strikten Überlebensökonomie statt. Die deutsche Sprache – „una forma di tedesco molto rozzo“108 – hat im Lager keinen poetischen Klang, dafür unmittelbaren Nutzwert. Dagegen hebt sich der elsässische Häftling Jean Samuel ab, der den Wunsch äußert, bei Levi Italienisch zu lernen, nicht weil ihm das im Lager nützlich wäre, sondern weil er Italien liebt („gli piace l’Italia“109). Levi schildert diese Italienisch-Stunde im Kapitel „Il canto di Ulisse“. Sie ist gratis im vollen Sinne des Wortes (nämlich kostenlos und Gnade zugleich). Mit dem Skandieren des Lagerwortschatzes auf Italienisch – „zup-pa“, „cam-po“, „ac-qua“ – nimmt sie ihren Anfang. Nach einem Absatz und Auslassungszeichen – Markierung eines unsagbaren Sprungs – folgt dann die Italienisch-Einheit auf der Grundlage der Commedia: „…Il canto di Ulisse. Chissà come e perché mi è venuto in mente“.110 Wir sind im 26. Gesang des Inferno, in dem das Danteschen Ich Odysseus begegnet und Odysseus ihm von seiner letzten Fahrt und seinem Untergang erzählt. Was so fern

105 Georges Perec: „Robert Antelme ou la vérité en littérature“. In: ders.: L. G. Une aventure des années soixante. Paris: Seuil 1992, S. 87–114, hier: S. 89. 106 Patricia Sayre and Linnea Vacca sprechen von Levis „endeavor, as writer and Holocaust survivor, to reconstitute humanity through language“ (dies.: „On Language and Personhood“. In: Roberta S. Kremer (Hg.): Memory and Mastery, S. 115–130, hier: S. 116). Die Autorinnen erkennen in La tregua „a journey of linguistic reintegration“ (S. 129). Man könnte ausgehend von diesem Befund die Frage stellen, warum, wenn all das gelingt, dennoch das Scheitern in Form der Wiederkehr des Lagers das letzte Wort behält. 107 Primo Levi: Conversazioni e interviste 1963–1987, S. 67. 108 Ebda. 109 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 100. 110 Ebda.

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von der Lagersprache liegt, liegt so nahe; der Übergang verdankt sich den sprunghaften Verbindungen zwischen dem gerade Gehörten und dem über die schiere Gegenwart hinausreichenden Gedächtnis. Die sprachlichen Elemente einer rudimentären Lagersprache verknüpfen sich mit Signifikanten, die zu Dante führen: „campo“ treibt paronomastisch „canto“ hervor, „acqua“ auf metonymischem Weg „mare“. Das Kapitel legt Zeugnis davon ab, dass Dichtung im Lager einen unschätzbaren Wert haben konnte. Das ist keine Erfindung, keine nachträgliche Stilisierung. Im Lager tritt die lebenswichtige Dimension der Dichtung (und wie wir gleich sehen werden auch der Philologie) wie von selbst zu Tage, die wir Literaturwissenschaftler in unserer Normalgesellschaft oftmals erst rechtfertigen müssen.111 Levi erklärt den unschätzbaren Wert so: „[I versi] mi permettevano di ristabilire un legame col passato, salvandolo dall’oblio e fortificando la mia identità. […] Mi concedevano una vacanza effimera ma non ebete, anzi liberatoria e differenziale: un modo insomma di ritrovare me stesso.“112 Eine solche Wirkung von Literatur wird auch von vielen anderen Überlebenden bezeugt.113

111 In diesem Sinne sollen die hier vorliegenden Überlegungen auch als ein Beitrag zur Diskussion der Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft gelesen werden. Vgl. für diesen Zusammenhang Ottmar Ette: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften“. In: Lendemains. Études comparées sur la France. Zeitschrift für vergleichende Frankreichforschung, H. 125, Jg. 32 (2007), S. 7–32; Wolfgang Asholt, Ottmar Ette (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Narr 2010 sowie die Trilogie von Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kadmos 2004; ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kadmos 2005 sowie ZusammenLebensWissen. 112 Primo Levi: I sommersi e i salvati, S. 112. 113 Liliana Millu schreibt ihrerseits: „Durante gli incontri in cui parlo di Lager, c’è sempre un momento in cui affermo che anche ‚laggiù‘ la poesia poteva offrire un modo per rimanere umani“ (dies.: „Primo Levi: Tre momenti“. In: Giovanna Ioli (Hg.): Primo Levi: memoria e invenzione, S. 59–63, hier: S. 60f.). Auch die Autorinnen Cordelia Edvardson und Ruth Klüger, die als Kinder nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert worden sind, sprechen von der Erfahrung, „dass man von den Worten eines Gedichts buchstäblich leben und sich ernähren kann“ (Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer, S. 15); vgl. des Weiteren Ruth Klüger: weiter leben. Göttingen: Wallstein 1992, S. 123f. Man denke darüber hinaus auch an Jorge Sempruns performativen Nachvollzug von Gedicht-Rezitationen in Buchenwald (ders.: L’écriture ou la vie). Vgl. zur philologischen Reflexion der Rolle der Dichtung im Lager Katja Schubert: „Zeitvertreib und Zauberspruch. Zu den Gedichten in weiter leben von Ruth Klüger“. In: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hg.): Terror und Kunst. Zeugnis, Überlebenshilfe, Rekonstruktion und Denkmal. Dachauer Hefte 18, Dachau: Verlag Dachauer Hefte 2002, S. 109–121; Ottmar Ette: ZusammenLebensWissen, S. 199–219 und die Verf.in: „Kata/strophisches Lesen. Baudelaire in Buchenwald“. In: Ottmar Ette, d. Verf.in (Hg.): Unfälle der Sprache, S. 117–130.

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Das Kapitel gilt zu Recht als eine der elaboriertesten Passagen unter den unzähligen Dante-Reminiszenzen innerhalb der gesamten Lagerliteratur.114 Es ist darüber hinaus eine seltene Stelle, in der Dante auf der Ebene der histoire im Lager eine Rolle spielt. Die Forschung hat dieses Kapitel unter dem Druck der Autorität der Commedia zumeist allegorisch überfrachtet. Eschatologische Vorstellungen unterwandern die Lektüre des ansonsten als so sachlich aufgefassten Lagerberichts.115 Dante Alighieris eigene Aussage über den moralischen Gehalt seines Werks wird angeführt, um den ethischen Einsatz dieses Kapitels zu untermauern.116 Anders, zurückhaltender, philologisch strenger und dadurch weiterführender argumentiert Martin von Koppenfels. Er hat vor allem auf das retardierende Moment des auswendigen Zitierens hingewiesen, das in dieser Italienisch-Stunde im Lager zum Einsatz kommt.117 Damit benennt er die rhetorische Funktion, die Dichtung als mnemotechnisches Gefüge hat. Die Rezitation der Commedia übernimmt damit eine doppelte Rolle: Erstens fügt sie – freilich zerstückeltes, von Gedächtnislücken durchsetztes – Dichtungsmaterial in die Erzählung ein und bewirkt damit eine aufschiebende Parenthese. Levi nennt dies „una vacanza“, was einerseits an „la tregua“ anschließt, andererseits aber auch auf eine Vakanz verweist, in welcher die Gedächtnislücke auch als Leerstelle exponiert wird. Zweitens kommt das Gedächtnis des Auswendiggelernten strukturell betrachtet genau zwischen dem ethischen Gedächtnisimperativ von Shemà und dem unbewussten Gedächtnis von Alzarsi zu stehen. Es teilt mit dem ethischen Gedächtnisimperativ den ritualisierten und einstudierten Charakter ebenso wie den moralisch wertvollen Inhalt. Mit dem unbewussten Gedächtnis verbindet es hingegen seine unvermutete, vermutlich aufgrund von lautlichen Assoziationsverbindungen hervorgerufene Aktualisierung ebenso wie seine Unverfügbarkeit da, wo es auf Lücken stößt. Als Erinnerungsrest, als der die Commedia ins Spiel kommt, steht

114 Dazu genauer Kapitel VI.1. Für eine systematische Untersuchung der intertextuellen Bezüge zur Commedia in Levis Werk vgl. Risa B. Sodi: A Dante Of Our Time. Primo Levi and Auschwitz. New York: Peter Lang 1990. 115 Vgl. z. B. Thomas Taterka, der davon spricht, dass das „göttliche Epos Trost im Lager“ schenke (ders.: Dante Deutsch. Studien zur Lagerliteratur. Berlin: Erich Schmidt 1999, S. 64). 116 Ebda., S. 79. Dante zufolge ist der moralische Sinn der Commedia, „die Lebenden in dieser Welt aus dem Zustand des Elends zu entfernen und in den Zustand des Glücks hinzuführen“ (Dante Alighieri: Das Schreiben an Cangrande della Scala. Lateinisch-Deutsch. Philosophische Werke 1, übers., eingeleitet und kommentiert von Thomas Ricklin. Hamburg 1993, S. 17 [Epistola XIII, 39]). 117 Martin von Koppenfels: „Dante in- und auswendig. Primo Levis Gedächtnisfuge“. In: Poetica 32 (2000), S. 203–225.

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das rezitierende Gedächtnis der unbewussten Insistenz mindestens genauso nah wie der bewussten Aneignung.118 Die Wiederholung, die der Auswendigkeit eignet, ist nicht stumpf. Im Gegenteil, sie führt im monotonen Lageralltag – „i giorni si somigliano tutti“119 – dazu, dass Primo erstmals bestimmte Textqualitäten bemerkt, und dies nicht nur auf inhaltlicher und identifikatorischer, sondern vor allem auch auf formaler Ebene.120 Das Vokabular, mit dem er seine Rezitation kommentiert, ist weder seemännisch noch, wie man im Rahmen einer Italienisch-Stunde vermuten könnte, sprachdidaktisch, es ist philologisch: mit „canto“, „commedia“, „rima“ (2x), „prosa“, „verso“ (2x), „terzine“, „proposizione consecutiva“ sind die Elemente dieser philologischen Sprache benannt. Sie sind nicht inhaltsbezogen, sondern betreffen die Poetik. So gilt Primos großes Erstaunen der Wiederholung eines Wortes in Variation. Nachdem der Vers „acciò che l’uom più oltre non si metta“ (Inf. XXVI, 109) ins Gedächtnis gerufen wurde, mit dem an das Gesetz erinnert wird, gegen das der Odysseus der Commedia verstößt, indem er über die Säulen des Herkules, das Ende der Welt, hinaus aufs weite Meer fährt, bemerkt Primo: „«Si metta»: dovevo venire in Lager per accorgermi che è la stessa espressione di prima, «e misi me»“.121 Solche Details lassen sich sprachdidaktisch nicht vermitteln, daher wird Jean alias Pikolo, dem Schüler, die Entdeckung vorenthalten. Gegenüber seinen potentiellen Lesern hält der Erzähler sie nichtsdestoweniger für mitteilenswert. Sie sind in der Tat von philologischem Interesse. Wir könnten auf dieser Ebene, dem Erzähler folgend, weiter bemerken, dass das Verb „mettersi“ auch schon in „Mise fuori la voce, e disse: Quando…“ vorkommt, dem Vers, mit dem Odysseus’ Rede anhebt. Überhaupt ist dieser rezitierte Vers interessant, führt er doch „mettere“ im Kontext der Sprachfindung (hier von Odysseus) ein, die dann prompt in die Gedächtnislücke des Ichs fällt. Sobald Odysseus zu sprechen anhebt, bricht seine Rede – in der und durch die Rezitation – ab. Damit wird die Schwierigkeit der sprachlichen Artikulation reflektiert, mit der Levi zu kämpfen hat, ganz im Gegenteil zu Dante Alighieris Höllenbewohnern, die bei gleichem Mitteilungsdrang auf keinerlei Ausdrucksschwierigkeiten oder Gedächtnisschwächen stoßen.

118 Zum Status des Erinnerungsrestes vgl. Sigmund Freud:Jenseits des Lustprinzips, S. 235. 119 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 37. 120 Die Interpretationen dieses Kapitels sind hingegen insgesamt von der Tendenz geprägt, Primo mit dem antiken Odysseus zu identifizieren. Vgl. v. a. Peter Kuon: Il mio maestro e ’l mio autore. Die produktive Rezeption der Divina Commedia in der Erzählliteratur der Moderne. Frankfurt a. M.: Klostermann 1993, S. 118f.; Axel Dunker: „Odysseus in Auschwitz. Primo Levis ‚Gesang des Odysseus‘“. In: Dante-Jahrbuch 71 (1996), S. 77–98; François Rastier: Ulisse ad Auschwitz, passim. 121 Primo Levi, Se questo è un uomo, S. 102.

7 Dante rezitiert und zitiert

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Daran mag der Erzähler anknüpfen, indem er sich qua Auswendiglernen diesen fremden Sprachspeicher einst angeeignet hat und nun daraus rezitieren kann. Wenn das erzählte Ich auf „misi me“ insistiert und Jean erklärt, dass es sich um einen unglaublich starken und wagemutigen Ausdruck handelt – „mettersi“ impliziert den Aufbruch in unbekannte Gefilde –, der ein „scagliare se stessi al di là di una barriera“ meint, so ist auch das nicht nur im abbildlichen Sinne zu verstehen, wodurch Odysseus’ Hinaussegeln über die Säulen des Herkules und sein Aufbruch aufs offene Meer mit dem Überwinden des Stacheldrahts gleichgesetzt würde,122 sondern als Aufbruch in die Sprache selbst: eben als „mettere fuori la voce“ im Sinne der eindringlichen Aufforderung zur Sprachfindung. Es ist bemerkenswert, dass dem Erzähler in seinen detailgenauen Beobachtungen trotzdem Fehler beim Re-zitieren des Rezitierten unterlaufen: In der Commedia heißt es und wird das erste Mal richtig rezitiert „ma misi me“, rerezitiert wird der Halbvers jedoch leicht verschoben zu „e misi me“. Ist dies ein Symptom der Hast, mit welcher Primo diese eigentümliche Italienisch-Stunde erlebt und mit welcher der Erzähler sie wiedergibt? Jedenfalls wird das verzögernd adversative „ma“ durch die beschleunigende Koordination „e“ ersetzt und dadurch auch die lautliche Varianz der Vokale a-e-i auf e-i reduziert. Daran knüpft sich die Frage nach der Klangvielfalt und die Frage der Zeit, die das Wort betrifft; und genau diese wird im betreffenden Kapitel ebenfalls verhandelt. Von Koppenfels nennt dieses Kapitel eine „Zäsur in dem beklemmenden Bericht“,123 eine „Atempause“, und er stellt damit einen klaren Bezug zum später folgenden Bericht La tregua her. Dante-Verse auswendig zu rezitieren bedeutet einen Aufschub im rastlosen Lageralltag, der nach dem Prinzip „Arbeit durch Vernichtung“ organisiert ist. Eine Strategie des Überlebens, die Levi hier von Jean lernt, besteht darin, Zeit zu schinden. Beim Suppeholen gilt es Umwege zu machen, langsam zu gehen: „Rallentammo il passo. Pikolo era esperto, aveva scelto accortamente la via in modo che avremmo fatto un lungo giro, camminando almeno un’ora […]“124 Der langsame Schritt schenkt Zeit, Zeit für die ItalienischStunde. Das schrittweise Rezitieren entfaltet eine retardierende Kraft, auch auf der Ebene des Berichts. Der Umweg ist nicht zuletzt eine entscheidende Dynamik in der Commedia. Der kurze Weg – „la via diritta“ – ist versperrt. Es ist notwendig, der eigenen Ungeduld Herr zu werden und zu akzeptieren, dass nur ein langer, spiralartiger Weg zum ungewissen Ziel führt. Umweg und Eile gehen in der Commedia 122 So François Rastier: Ulisse ad Auschwitz, S. 36ff. Martin von Koppenfels’ Argumentation verhält sich gegenwendig dazu, wenn er „mettersi“ mit „sich stürzen“ übersetzt und darin Odysseus’ Todestrieb zu erkennen meint (vgl. ders.: „Dante in und auswendig“, S. 223). 123 Ebda., S. 207. 124 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 100.

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zusammen und machen ihre räumliche und zeitliche Spannung aus. Bei Levi wird der Lagerraum auf dem Weg zur Suppenküche Schritt für Schritt umbesetzt in einen poetischen Raum, den es ohne Abkürzungen, ohne Zusammenfassungen zu durchschreiten gilt. Gerade darum bezeichnet der Erzähler das prosaische Zusammenfassen mancher Terzinen als Sakrileg.125 Kurzum: Was hier narrativ in Szene gesetzt wird, stellt bezüglich der so häufig vorkommenden, tropisch-abkürzenden Rede vom Lager als einem Inferno ein gänzlich anderes Prozedere dar. Levi inszeniert gleichsam einen Wettlauf durch die Commedia, ein Rezitieren gegen die verfließende Zeit der „vacanza“, welche durch den Umweg zur Suppenküche gewährt wird. Es ist, als solle die ganze Commedia genau in die knappe, geschundene Zeit im Lager eingepasst werden. Im Zeitschinden, im Verlangsamen hat Levi eine unglaubliche Eile: „Ho fretta, una fretta furibonda“, kommentiert der Erzähler sein eigenes Vorgehen. Wie kann man Abkürzungen im Umgang mit der Commedia finden, ohne etwas auszulassen? Auf der Suche nach einer Lösung stolpert Primo über irreparable Gedächtnislücken, die ihn zum Springen nötigen und die Commedia in einen Lückentext verwandeln. Das wenige zur Verfügung stehende Material wird dadurch allerdings noch kostbarer und erfährt, trotz Zeitknappheit, eine philologische Kommentierung: Eine außergewöhnliche Wortstellung wird ebenso bemerkt wie eine klangliche Wiederaufnahme. Das sind Anzeichen dafür, dass es nicht nur um den Handlungsverlauf im 26. Gesang des Inferno geht (dass es um diesen nur zweitrangig geht, davon zeugt auch die Selbstbezichtigung des Erzählers, wenn er einzelne Passagen in Prosa wiedergibt). Es geht nicht nur um die identifikatorische Assoziation – auch wenn diese in der plötzlich wachwerdenden Erinnerung an den Blick auf die Alpen, wenn Odysseus den Purgatoriumsberg auftauchen sieht, besonders eindringlich ist126 –, sondern es wirken auch andere Kräfte auf das Ich ein, die dem Wortlaut selbst innewohnen. Auch wenn die Rezitation erbauliche Inhalte transportiert, wie etwa die Ermahnung Odysseus’, dass der Mensch für Tugend und Erkenntnis geschaffen sei, was als mächtige Gegenstimme zum Weckruf des Lagers hörbar wird und in tropischer Weise die Situation der Gefangenschaft reflektiert, so liegt ihr Mehrwert doch anderswo. Denn die schiere Re-zitation, Akt der Wiederholung einer angeeigneten fremden Rede, schenkt Zeit und – mindestens ebenso wichtig – sprachliches „piacere“. Damit ist eine Grundvoraussetzung für Kommunikation benannt, die im Kontext der Frage des Verhältnisses zwischen Literatur und Zeugenschaft zuweilen vernachlässigt wird. Jean, auch wenn er nicht 125 „E anche il viaggio, il temerario viaggio al di là delle colonne d’Ercole, che tristezza, sono costretto a raccontarlo in prosa: un sacrilegio“ (ebda., S. 101). 126 Ebda., S. 102: „… oh Pikolo, Pikolo, di’ qualcosa, parla, non lasciarmi pensare alle mie montagne, che comparivano nel bruno della sera quando tornavo in treno da Milano a Torino!“

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alles versteht, was Primo ihm im Eiltempo vorführt, scheint jedenfalls ebenso sein Vergnügen daran zu haben wie die Leser von Se questo è un uomo an dieser Stelle. Das Kapitel endet damit, dass die beiden Protagonisten in der stumpfen Menge verschwinden und auf die Ausgabe der Suppe warten. Die einzigen noch vernehmbaren Worte auf der Ebene der histoire sind „Kraut und Rüben“, auf Deutsch, Französisch und Polnisch.127 Darauf folgt noch ein Vers, der letzte des 26. Gesangs. Dieser wird nicht mehr vom erinnerten Ich rezitiert, sondern vom Erzähler zitiert. Es handelt sich um eine der seltenen Stellen, wo erinnertes und erinnerndes Ich klar auseinandertreten. Es ist, als wolle der Erzähler der „Krautund-Rüben-Sprache“ des Suppen-Kommandos nicht das letzte Wort lassen.128 Doch dabei unterläuft eine minimale, aber entscheidende Veränderung des Verses, ein weiterer Fehler – ein Lapsus? Im Original lautet der Vers: „Infin che ’l mar sopra noi richiuso“; hier hingegen heißt es: „Infin che ’l mar sopra noi rinchiuso“.129 Das Bild des über den Schiffbrüchigen zusammenschlagenden Meers in der Commedia kippt hier in das Bild eines Meeres, welches das Wir in einen Gefängnisraum einschließt. Das Pathos des Schiffuntergangs bleibt den Deportierten vorenthalten. Ihre letzte Reise ist noch nicht zu Ende. Auch wenn die Commedia das letzte Wort behält, erklärt hier nicht die Commedia das Lager, sondern das Lager entstellt zuletzt die Commedia und schreibt sich auf diese Weise doch noch in dieses letzte Wort ein. Zugleich aber verweist das ebenfalls zitierte Syntagma „come altrui piacque“ schon wieder über den Odysseus-Gesang hinaus, in den Beginn des Purgatorio hinein, wo es noch einmal zitiert wird (vgl. Purgatorio I, 133). Dies ist in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Erstens, weil hier der referentielle Rahmen des 26. Inferno-Gesangs und des Inferno an sich gesprengt wird. Und zweitens, weil von Koppenfels’ These, dass dieses Kapitel eine Atempause, eine Parenthese darstelle, durch die diskrete Einspielung des Purgatorio weitere wichtige Unterstützung erfährt. Denn das Purgatorio, das eine Mitte ausschreibt, die weder das Inferno noch das Paradiso kennen, bildet innerhalb der Commedia eine diegetisch entscheidende Zwischenposition – insbesondere auch für die Unterstreichung des notwendigen Ausschreitens von langen Umwegen als Zeit des Aufschubs, welche die Zeit des Erzählens ist. Vor dem Hintergrund meiner Lektüre, die den Akzent von der inhaltlichen Identifikation auf den rhetorisch-poetischen Eigenwert des auswendig rezitierten

127 Ebda., S. 103: „Siamo oramai nella fila per la zuppa, in mezzo alla folla sordida e sbrindellata die porta-zuppa degli altri Kommandos. I nuovi giunti ci si accalcano alle spalle. – Kraut und Rüben? – Kraut und Rüben –. Si annunzia ufficialmente che oggi la zuppa è di cavoli e rape: – Choux et navets. – Káposzta és répak.“ 128 Wortprägung von Martin von Koppenfels: „Dante in und auswendig“, S. 221. 129 Primo Levi, Se questo è un uomo, S. 103.

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Materials verschoben hat, möchte ich nun einen abschließenden Blick auf die Wiederkehr der Commedia auf der Ebene des discours von Se questo è un uomo werfen. Es ist wichtig zu erwähnen, dass Levi die meisten Commedia-Reminiszenzen erst in die Ausgabe von 1958 eingebracht hat.130 Auf den ersten Blick wird dadurch in der Tat eine nicht unproblematische Analogie zwischen dem Lager und dem Danteschen Inferno suggeriert. Verteidigt wurde dies häufig mit dem Argument, dass auf diese Weise die nicht repräsentierbare Welt von Auschwitz kommunizierbar würde, woran Levi ganz besonders gelegen gewesen sei. Dies kann mich aus mehreren Gründen nicht ganz überzeugen. Erstens unterschätzt diese These die erste Version des Textes von 1947: Diese besticht auch ohne Dante Alighieris Beihilfe. Zweitens blendet sie das Bezugsfeld zwischen den beiden Modi des Zitierens – auf der Ebene der histoire und auf der Ebene des discours – weitgehend aus. Drittens muss sie, wo sie sich auf die Analogie einlässt, stets die Grenze der Analogisierung neu bestimmen, um nicht die Botschaft von Levis Bericht unter dem Gewicht des heilsgeschichtlichen Plans, welcher der Commedia zugrunde liegt, gänzlich zu verzerren.131 Mit welchen Kriterien entscheidet jedoch ein Interpret, wie weit die Analogie zu gehen hat? Durch Analogisierung wird dem Lagersystem unweigerlich ein Sinn zugeschrieben, den es nicht hat. Levi ist sich dieser Tendenz bei sich selbst und bei den anderen KZ-Häftlingen durchaus bewusst: „Avevamo una incorreggibile tendenza a vedere in ogni avvenimento un simbolo e un segno.“132 Das klingt, wie von Koppenfels schreibt, nach „Warnung und Entschuldigung zugleich“.133 Die Analogie verzerrt das Lager, aber auch die Commedia: Sie wird zur Trope verkürzt, wo ihre eigentliche Botschaft doch darin besteht, dass es keine Abkürzung auf der Suche nach einer Sprache für eine traumatische Verlusterfahrung gibt.134

130 Vgl. dazu im Einzelnen Giovanni Tesio: „Su alcune aggiunte e varianti di Se questo è un uomo“. In: Studi piemontesi, VI, 2 (1977), S. 270–288; des Weiteren Peter Kuon: Il mio maestro, S. 132f. 131 Symptomatisch stehen dafür die Argumentationen von François Rastier: Ulisse ad Auschwitz, S. 98 und Peter Kuon: Il mio maestro, S. 118. Beide betonen, dass die Einspielungen der Commedia sicherlich keine Übernahme seines christlichen Wertesystems impliziere (die Frage bleibt aber, wer das hier wie entscheidet). Carlo Prosperi diskutiert dagegen diesen Sachverhalt überhaupt nicht; seine Darstellung ist eine einzige Kaskade von „come in Dante“ (ders.: „‚La gioia liberatrice del raccontare’: Una lettura de La tregua di Primo Levi“. In: Giovanna Ioli (Hg.): Primo Levi: memoria e invenzione, S. 85–101, hier: v. a. S. 95; ebenso im selben Band Lorenzo Mondo: „Primo Levi e Dante“, S. 224–229). 132 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 70. 133 Martin von Koppenfels: „Dante in und auswendig“, S. 211. 134 Siehe dazu ausführlich Kapitel VI.

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Als verkürzte Trope in Levis discours würde die Commedia in unversöhnlichem Gegensatz zu ihrem Einsatz auf der Ebene der histoire stehen, wo sie als Aufschub, Einschub und Parenthese, zur Retardierung beiträgt. Es lohnt sich daher zu überlegen, ob die intertextuellen Verweise im discours nicht eine ähnliche Rolle spielen könnten wie im „Ulisse“-Kapitel, das Rastier als Matrix des gesamten Textes bezeichnet hat. Bei genauer Betrachtung fällt jedenfalls auf, dass sie nicht wesentlich etwas zur sachlichen Erschließung der Lagerrealität beitragen. Dass der Krankenbau als „limbo“ bezeichnet wird,135 der Kapo schnellfüßig wie die Teufel von Malebolge ist,136der Block als „bolgia buia e urlante“137 erscheint, hat einen anderen kommunikativen Wert, den es hier zu befragen gilt. In der Tat führt Levi in vielen Fällen Vergleiche mit der Commedia nur ein, um zu sagen, dass es in Buna ganz anders ist. So gemahnt die Deportation „laggiù“ zwar an eine Höllenfahrt, aber der wachhabende deutsche Soldat wird mit Charon verglichen, nur um zu sagen, dass er nicht so spricht wie dieser.138 Der erste Tag im Lager wird als „antiinferno“ bezeichnet;139 dies ist doppelt lesbar, abbildend als „Vorhölle“, buchstäblich aber auch als Gegenhölle, als Gegenentwurf zum Inferno. Die groteske Lagerordnung wird durch ein weiteres Zitat belegt, diesmal aus dem 21. Höllengesang: „Qui non ha luogo il Santo Volto, / qui si nuota altrimenti che nel Serchio!“ (Inferno XXI, 48–49). Aber auch dieser Satz, indem er schon in der Commedia verneint ist, entzieht sich eindeutiger Referenz und impliziert ebenfalls eine Abwendung von der suggerierten Analogie. Wenn wir also mit Rastier davon ausgehen, dass die Commedia-Referenzen im discours aus dem „Ulisse“-Kapitel generiert werden, wo sie selbst auf der Ebene der histoire stehen, dann müssen wir unsere spezielle Lektüre dieses Kapitels, um innerhalb unserer Argumentation kohärent zu bleiben, auch auf den discours ausdehnen. Auf diesem Weg verabschieden wir uns von der Trope Inferno im Sinne kommunikativer Abkürzung, und die Dante-Anspielungen erscheinen mehr und mehr im Lichte einer gleichsam kontrapunktisch verfahrenden Ausschmückung. Dies wiederum versetzt der zum Stereotyp erstarrten Auffassung von Levis Erzählungen als nüchtern-sachliche Berichte einen Schlag. Den Kapo mit den Teufeln von Malebolge zu vergleichen hat in der Tat nichts Sachliches, eher schon

135 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 44. 136 Ebda., S. 96. 137 Ebda., S. 105. 138 Ebda., S. 18: „Accende una pila taschabile, e invece di gridare «Guai a voi, anime prave» ci domanda cortesemente ad uno ad uno, […] se abbiamo danaro od orologi da cedergli: […] Si vede bene che è una piccola iniziativa privata del nostro Caronte.“ 139 Ebda., S. 25.

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einen ironischen Beiklang, mit dem Effekt der Distanzierung zur geschilderten Realität. Aber nicht nur das. „Malebolge“, „limbo“, „bolgia“ – das sind klingende Worte, sie klingen weich und anders als die harte deutsche Konsonantensprache. Erkennbar wird also auch hier eine diskrete Lust am Zitieren.140 So betrachtet würde sich die Dante-Performanz bei Levi radikal unterscheiden von derjenigen, die am Ende von Kertész’ Roman eines Schicksallosen zum Einsatz kommt, wo ein Journalist, der das Lager nur vom Hörensagen kennt, den Vergleich mit der Danteschen Hölle als bequeme Trope einsetzt, was vom Erzähler-Ich als unzulässige Metapher kritisiert wird.141 Doch was hat es dann – vor dem Hintergrund des Erörterten – mit dem Satz „Questo è l’inferno.“ auf sich, der sich zu Beginn des zweiten Kapitels „Sul fondo“ befindet. Stünde an seinem Ende ein Doppelpunkt, wäre die Referenz auf den folgenden Satz – „una camera grande e vuota, […] c’è un rubinetto che gocciola e l’acqua non si può bere, e noi aspettiamo qualcosa di certamente terribile e non succede niente“142 – eindeutig. „Questo è l’inferno.“ Der Satz ist durch einen Punkt in sich abgeschlossen. Er wird dadurch diskret abgesetzt von dem, auf was er zu verweisen scheint und zurückgewendet auf sich selbst. Wenn er ein selbstreferentieller Satz ist, dann wird durch ihn das autobiographische Schreiben als Prozess lesbar, der mit dem Durchgang des Ichs durch das Inferno zu tun hat. Dies würde Sinn machen, da die Commedia insgesamt – ich werde das in Kapitel VI ausführlich darstellen – als ein Dispositiv der Durcharbeitung einer weitgehend unbenannten und unbenennbaren Verlusterfahrung lesbar ist. Nicht das Inferno ist die traumatische Verlusterfahrung; es ist schon Teil der sprachlichen Bearbeitung dieser Erfahrung. So gesehen würde der Satz „Questo è l’inferno.“ deiktisch nicht auf die Realität des Lagers verweisen, sondern auf die zu leistende Versprachlichung derselben. Nicht die Realität ist ein Inferno, sondern Literatur ist ein Inferno, insofern sie ein erstes Dispositiv der Durcharbeitung von Gewaltund Verlusterfahrungen bietet. Ausgehend von der Lagererfahrung muss ein neues Inferno geschrieben werden, muss das Inferno neu geschrieben werden. Dafür bedient sich Levi einiger Bruchstücke der Commedia, die ihm zur Hand sind – nicht mehr und nicht weniger.

140 Auch François Rastier betont den Lustcharakter dieses Rezitierens: „[Levi] recita Dante, con piacere, anche con humour, senza vedere in Auschwitz il compimento di una profezia o la realizzazione dell’inferno cristiano su terra“ (ders.: Ulisse ad Auschwitz, S. 147). 141 Insofern ist es auch fraglich, ob Kertész’ Kritik an der Höllenmetapher in Lagertexten wirklich Levi betrifft, wie Martin von Koppenfels suggeriert (vgl. ders.: „Dante in und auswendig“, S. 207). Vgl. dazu Kapitel IV.4. 142 Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 19.

IV Raum ohne Mangel: Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen 1 Kaum merkliche Schwellen Der ungarische Schriftsteller und Nobelpreisträger Imre Kertész, 1929 in Budapest geboren, 10 Jahre jünger als Primo Levi, wurde 1944 im Zuge der sogenannten Ungarn-Transporte nach Auschwitz und nach Buchenwald deportiert. Wie Levis Schreiben steht auch dasjenige von Kertész im unerbittlichen Zeichen von Auschwitz. 1973 notiert er: Denke ich an einen neuen Roman, denke ich wieder nur an Auschwitz. Ganz gleich, woran ich denke, immer denke ich an Auschwitz. Auch wenn ich scheinbar von etwas ganz anderem spreche, spreche ich von Auschwitz. Ich bin ein Medium des Geistes von Auschwitz, Auschwitz spricht aus mir. […] Auschwitz und alles, was damit zu tun hat (aber was hat schon nichts damit zu tun?), ist das größte Trauma der Menschen in Europa seit dem Kreuz, auch wenn es vielleicht Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern wird, bis sie sich dessen bewußt werden.1

Kertész’ erster, 1975 erschienener Roman Sorstalanság wurde in Ungarn zunächst totgeschwiegen. Erst die Neuauflage von 1985 wurde in einem liberaleren politischen Klima von einem breiteren Publikum wahrgenommen. 1990 erschien die erste deutsche Übersetzung Mensch ohne Schicksal,2 der Durchbruch beim deutschsprachigen Publikum erfolgte aber erst 1996 mit der zweiten Übersetzung Roman eines Schicksallosen.3 Sorstalanság bildet den ersten Teil von Kertész’ Tetralogie über Auschwitz. Ihm folgt 1988 der Roman A kudarc (dt. Fiasko, 2000), in dem er die Erfahrung der Ablehnung von Sorstalanság sowie die Existenz eines Schriftstellers unter den Bedingungen der Diktatur schildert. 1990 erscheint Kaddis a meg nem született gyermekért (dt. Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, 1992). In Form des jüdischen Gebets, das zum Totengedenken gesprochen wird, entwickelt sich der Monolog eines Schriftstellers und Holocaust-Überlebenden, der nach Auschwitz kein neues Leben mehr in eine Welt, die Auschwitz zugelassen hat, setzen will. Den vierten Teil bildet der Roman Felszámolás (dt. Liquidati-

1 Imre Kertész: Galeerentagebuch. Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993 [ungarische Originalausgabe: Gályanapló. Budapest 1992], S. 32f. 2 Imre Kertész: Mensch ohne Schicksal. Aus dem Ungarischen von Jörg Buschmann, Berlin: Rütten & Loening 1990. 3 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996 [ungarische Originalausgabe: Sorstalanság, Budapest 1975].

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on, 2003), der rückblickend die kommunistische Diktatur als eine durchaus gewollte Fortsetzung des Lagers reflektiert. Der Zusammenbruch des Regimes ist für den Protagonisten, den Schriftsteller und Auschwitz-Überlebenden Bé fatal, weil für ihn die Fortsetzung seiner Gefangenschaft die einzig mögliche Form des Überlebens darstellte. Im Folgenden will ich mich vornehmlich auf eine genaue Lektüre des ersten Romans, Roman eines Schicksallosen, einlassen, weil dieser die räumliche Ausdehnung des Lagers in exemplarischer Weise als Infiltrierung der literarischen Sprache durch die NS-Lagerverwaltungssprache artikuliert. Zugleich stellt dieses Buch, im Unterschied zu Levis Werk, den ausdrücklichen Versuch dar, dem Lager literarisch und fiktiv beizukommen. Die Wirkungskraft des Romans zeichnet sich insbesondere durch eine grundsätzliche Irritierung seiner Leser aus. Deren emotionale Voreinstellung zum Thema wird ebenso unterlaufen wie deren räumliche und zeitliche Vorstellung vom Lager. So wird der Eintritt in die Lagerwelt nicht so sehr als ein alles radikal und plötzlich veränderndes Ereignis registriert, sondern vielmehr als ein schleichender und als solcher irreversibler Prozess erzählt. Wo fängt das Lager an? Wo hört das Lager auf? – auf diese Fragen gibt auch dieser Roman keine versichernden Antworten mehr. Der 14-jährige homodiegetische Ich-Erzähler György Köves gerät, gleichsam ohne Bewusstsein, von seiner Heimatstadt Budapest nach Auschwitz, von dort nach Buchenwald, dann in das Arbeitslager Zeitz und von dort wieder nach Buchenwald und schließlich zurück nach Budapest. Anhand der fiktiven Geschichte des Protagonisten wird narrativ die Deportation nachvollzogen, die Kertész durchlitten hat. Der Roman beginnt an dem Tag, an dem Köves’ Vater zum „Arbeitsdienst einberufen worden ist“.4 Ob dem Sohn und den anderen Erwachsenen bewusst ist, dass sich hinter der euphemistischen Formel „zum Arbeitsdienst einberufen werden“ die Deportation in ein deutsches Konzentrationslager verbirgt, bleibt im Vagen. Der Moment des Abschieds ist jedenfalls von einem rhetorischen und gestischen Pathos von Seiten der Erwachsenen getragen, dem der Junge irritiert beiwohnt. Während die Stiefmutter „weinte“, was dem Jungen „wieder ziemlich peinlich“ war, sagt dieser selbst nur ein einziges Wort: „entsetzlich“, und er meint damit seinen Kohldampf. Auf die erwachsenen Worte, die adäquat sein sollen, in den Ohren des Jungen aber falsch klingen, reagiert der Junge seinerseits mit einem pathetischen Adjektiv, das aber in seiner Referenz versetzt wird. Später wird der Gebrauch desselben Adjektivs von Seiten verschie-

4 Ebda., S. 7.

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dener KZ-Häftlinge, die damit die Lagerrealität zu charakterisieren versuchen, durch den Jungen abermals als inadäquat markiert: ‚Was sagen Sie dazu? Was sagen Sie dazu?‘ – und die Antwort darauf war entweder Schweigen oder aber fast immer das gleiche: ‚Entsetzlich‘. Doch es ist nicht dieses Wort, nicht genau dieses Erlebnis – jedenfalls nicht für mich, versteht sich –, mit dem ich Auschwitz wirklich kennzeichnen würde.5

Zwei Monate später wird Köves selbst zum Arbeitsdienst in die Shell-Erdölraffinerie abberufen, um dort „kriegswichtige Arbeit“ zu leisten.6 Dies ist die erste Station einer langen Irrfahrt durch die Welt der Lager, die als eine einzige Abfolge von Heterotopien aufgefaltet wird. Die nächste Station ist „das Zollhaus“, in das der Protagonist kurze Zeit später verbracht wird.7 Dort passiert zunächst gar nichts, und Köves legt sich die neue Situation folgendermaßen zurecht: „[H]ier in der Kühle war es angenehmer als draußen bei der Arbeit.“8 Nach unbestimmter Zeit marschieren er und die mit ihm Abgefangenen auf unbekannten Straßen, bis sie zur nächsten Station – „eine Art Kasernenhof“ – gelangen.9 Nach einer in einem Pferdestall verbrachten Nacht wird Köves mit den anderen in einen Sonderzug der Straßenbahn „gestopft“, „an einem Platz am Donauufer auf ein Schiff verladen“, um dann schließlich in einer „Ziegelei“ anzukommen.10 Kurze Zeit darauf wird er wiederum in einen Güterzug verladen, um nach mehrtägiger Reise an dem bis dato unbekannten Ort Auschwitz-Birkenau anzukommen, wo er, noch ehe sich die Waggontüren öffnen, zunächst einmal einschläft.11 Diese Reise, die an keiner Stelle im Roman „Deportation“ genannt wird, entspricht in der Erzählung aus der Perspektive des 14-jährigen Protagonisten dem „natürlichen Lauf der Dinge“, einem Lauf der Dinge, der einleuchtet, „irgendwie verständlich“ ist, zugleich aber nicht genau fokussiert werden kann. Die Leser werden durch die Erzählung an den Punkt geführt, an dem sie nicht mehr in der Lage sind, den Beginn von Köves’ Deportation und Gefangenschaft genau auszumachen. Gleichsam fließend geht Köves’ Mitarbeit im väterlichen Holzlager in seinen Arbeitsdienst in der Shell über, ebenso wie die Verschleppungen ins Zollhaus und in die Ziegelei in die Deportation und die Ankunft in AuschwitzBirkenau übergleiten. Zwischen den einzelnen Stationen liegt Zeit, die „wir uns

5 Ebda., S. 132. 6 Ebda., S. 35. 7 Ebda., S. 52. 8 Ebda., S. 54. 9 Ebda., S. 66. 10 Ebda., S. 72. 11 Ebda., S. 88.

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[…] irgendwie vertreiben [mussten]“.12 Jede Station steht im Zeichen der Arbeit, die – so notiert Kertész in seinem Galeerentagebuch, welches die 13 Jahre lange Arbeit am Roman eines Schicksallosen begleitet hat – „bislang alles niedergewalzt und alles gerechtfertigt [hat] (Auschwitz und Sibirien, um die Extrembeispiele zu nennen)“.13 Dieser Satz kann als eine radikale Umformulierung eines anderen Satzes aufgefasst werden: „Travaillons sans raisonner, […] c’est le seul moyen de rendre la vie supportable“, so die Quintessenz des Philosophen Martin am Ende von Voltaires Satire Candide.14 In der Tat stolpert Köves, eine Art Widergänger Candides, dieser in seinem schelmenhaften Optimismus unzerstörbaren Figur, in die Welt der Lager, um dort nichts anderes als die beste Welt zu erkennen.15 Nach einem dreitägigen Kurzaufenthalt in Auschwitz befindet sich Köves schon wieder im Zug, nun in Richtung Buchenwald. Der Name „Buchenwald“ provoziert auf dem Gesicht manch eines Gefangenen „den Abglanz eines irgendwie zärtlichen, irgendwie träumerischen Gefühls“.16 Und bald kann der IchErzähler auch von sich behaupten, dass er Buchenwald in der Nähe von Weimar, der Stadt Goethes, von dem er einige Gedichte auswendig kann, „liebgewonnen“ habe.17 Auch in Buchenwald bleibt Köves nicht lange, bald darauf wird er in das „Provinz-KZ“ Zeitz verlegt, „nur ein Arbeitslager“, sagt man in Auschwitz. Doch der Ich-Erzähler wird es als ein extrem hartes Lager erleben, das ihn beinahe umbringt. Nach der quälenden Ankunft – „[e]s gibt nichts, was mühseliger und aufreibender ist als die quälenden Strapazen, die man offensichtlich jedes Mal auf sich nehmen muß, wenn man wieder in ein neues KZ kommt, jedenfalls war das nach Auschwitz und Buchenwald auch in Zeitz meine Erfahrung“18 – gewöhnt er sich auch hier ein. Die Eingewöhnung geht mit einer zunehmenden Auslöschung von Wahrnehmung und Bewusstsein einher: „[U]nd indem ich mich an jede Stufe immer wieder einzeln gewöhnte, habe ich dann eigentlich doch nichts wahrgenommen.“19 Die Logik des Überlebens erzwingt die „Selbstliquidie-

12 Ebda., S. 82. 13 Imre Kertész: Galeerentagebuch, S. 88. 14 Voltaire: Candide ou de l’optimisme. In: Voltaire: Romans et contes. Hg. von René Pomeau. Paris: Fayard 1966, S. 259. 15 Cornelia Klettke liest Voltaires Roman als eine strikte Abfolge von Heterotopien. Ihre Lektüre, die nicht auf Kertész eingeht, konturiert die strukturelle Parallelität zwischen beiden Romanen besonders deutlich (vgl. dies.: „Candide de Voltaire à travers les lunettes de l’hétérotopie et de l’hétérologie“, hier: v. a. S. 277–286). 16 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 135. 17 Ebda., S. 143. 18 Ebda., S. 144. 19 Ebda., S. 171.

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rung“, ein Gedanke, der sich durch Kertész’ gesamtes Werk zieht und hier z. B. so ausgedrückt wird: Andererseits fühlte ich […], daß etwas in mir unwiederbringlich kaputtgegangen war, von da an dachte ich jeden Morgen, es sei der letzte, an dem ich noch aufstehen würde, bei jedem Schritt, daß ich den nächsten nicht mehr tun, bei jeder Bewegung, daß ich die nächste nicht mehr schaffen würde; aber ja nun, vorläufig schaffte ich sie noch jedesmal.20

Die Verschiebung vom „letzten Morgen“ zu etwas „Vorläufigem“, weiter zur Vorstellung eines anhaltenden „Noch“ und „Jedesmal“ vollzieht hier auf rhetorischer Ebene eine Ausdehnung des „Letzten“ über sich selbst hinaus. Diese andauernde Verschiebung des Letzten kennzeichnet das Überleben wesentlich. Der darin noch anklingende Optimismus ist zugleich Ausdruck eines Zerstörungsprozesses, dem keine Grenzen gesetzt sind. Nachdem sich Köves in Zeitz eine Knieentzündung zugezogen hat und beinahe auf die Stufe eines „Muselmanns“ reduziert worden ist, der gänzlich apathisch und gleichgültig gegenüber seiner Umwelt Schläge, Kälte und Hunger über sich ergehen lässt, folgt sein Rücktransport nach Buchenwald. Dieser ist mit dem „Glück“ und der „Freude“ sowie mit der Erinnerung an „die schönen Tage von damals“ verbunden.21 Halbtot kommt Köves in Buchenwald an. In diesem Zustand macht sich gegen alle Vernunft eine hartnäckige Stimme der Sehnsucht breit: „[Ei]n bißchen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager.“22 Kertész’ Protagonist teilt mit Candide die gleichsam kindlich optimistische Naivität, doch im Unterschied zu seinem Vorgänger, der sich in Anbetracht des Erdbebens von Lissabon kritisch von der Leibnitzschen Konzeption der Theodizee abwendet, bleibt diesem eine solche Entwicklung vorenthalten. Denn er kennt weder einen Gott noch einen Begriff von Gerechtigkeit; er macht weder die Erfahrung von Peripetien und Lösungen, noch hat er einen Begriff von der Modalität der Möglichkeit. Dies macht seine Schicksallosigkeit aus.23 Köves’ Vor-

20 Ebda., S. 188. Vgl. zum Aspekt der Selbstliquidierung Miklos Györffy: „Imre Kertész“. In: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, 60. Nlg 3 (2003), S. 8; vgl. v. a. in Hinblick auf Kertész’ Roman Liquidation Mona Körte: Essbare Lettern, brennende Schrift. Buchund Schriftvernichtung in der europäischen Literatur der Neuzeit. München: Fink 2011, S. 152–157 sowie dies.: Blatt für Blatt: Text, Tod und Erinnerung bei Thomas Bernhard und Imre Kertész. Graz: Grazer Universitätsverlag 2012. 21 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 203. 22 Ebda., S. 209. 23 Die Vorstellung der „Schicksallosigkeit“ bei Kertész wird ausführlich diskutiert in László Földényi: Schicksallosigkeit: ein Imre-Kertész-Wörterbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009 (Eintrag „Bildungsroman“, S. 57–60 sowie Eintrag „Schicksal“, S. 249–252).

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stellung einer „besten Welt“ kennt überhaupt keine anderen Welten, geschweige denn eine „gute Welt“. Das Ende des Lagers Buchenwald wird als Groteske inszeniert: Durch eine anonyme Lautsprecherdurchsage, die sich nicht an die Gefangenen, sondern an die SS richtet, wird verkündet: „An alle SS-Angehörigen […] Das Lager ist sofort zu verlassen.“24 Erst Stunden später ergattert der Lagerälteste den Lautsprecherkasten und ruft: „[W]ir sind frei“. Es folgen Reden in verschiedenen Sprachen, die sich Köves anhört und dabei vor allem an die noch ausstehende Suppe denkt, die indessen keiner erwähnt. Die beschworene Freiheit wird als leere Rede entlarvt, die einen leeren Magen nicht zu füllen vermag.

2 Grenz- und Angstlosigkeit Der bislang avancierteste Versuch, die Erzähllogik sowie die Art des Räsonnierens in Kertész’ Erzählpraxis auf einen Punkt zu bringen, stammt von Martin von Koppenfels. Aus der Perspektive des von ihm entwickelten Konzepts „moderner Affektpolitik“ formuliert er folgende These: Eine Affekttheorie, die modernem Erzählen (unter das er Kertész’ Roman zählt, wobei zu fragen wäre, ob die Lagerliteratur schlechterdings der modernen Literatur zugeschlagen werden kann) gerecht werden will, muss sich vom Denken des Tragischen absetzen.25 Kertész setze anstelle des tragischen Pathos eine an Flaubert geschulte Affektpolitik für seinen autobiographischen Roman über die nationalsozialistischen Lager ein. Genau das führe zu einer systematischen Unterwanderung der Affekterwartungen von Seiten der Leser.26 Wenn von Koppenfels schreibt, dass die Erzählung systematisch darauf abziele, stets das „unpassende Wort“ zu setzen, „systematisch ‚neben das Ziel‘ zu treffen“,27 so suggeriert dies jedoch noch, dass es ein adäquates Sprechen über die Lager gäbe, selbst wenn dies das tragische Pathos, das möglicherweise noch

24 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 257. 25 Martin von Koppenfels: Immune Erzähler, S. 324. Die Absetzung vom Tragischen wird bei Kertész selbst ausführlich thematisiert, im Galeerentagebuch vor allem im Zusammenhang mit dem für Kertész so wichtigen Begriff der „Schicksallosigkeit“, der das Motto des Romans selbst ist. Ohne Tragödie kein Schicksal, da dem Schicksal immer noch ein Begriff von Freiheit innewohnt. 26 Vgl. ebda., S. 328f. 27 Ebda., S. 327. Dieser Gedanke findet sich auch schon bei Jan Philipp Reemtsma: „Überleben als erzwungenes Einverständnis. Gedanken bei der Lektüre von Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen“. In: Wolfgang Mauser, Carl Pietzcker (Hg.): Trauma. Würzburg: Königshausen und Neumann 2000, S. 55–77, hier: S. 62.

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am Horizont der Lesererwartung steht, nicht mehr leisten kann. Ich denke hingegen, dass Kertész rigoros vorführt, dass es kein wahreres Sprechen als dieses unpassende, dieses verfehlte Sprechen über die Lager gibt. Es ist ein Sprechen, das durch die Lager gegangen ist, durch die Lager beschädigt ist, ja zutiefst von der Lagersprache geprägt ist. Mona Körte spricht in Bezug auf Kertész’ Prosa treffend von einer konsequent ausgeführten „sprachlichen Assimilation an Auschwitz“.28 In diesem Sprechen ist ausgerechnet der für Außenstehende erwartbarste Affekt – nämlich die Angst – zunächst einmal nicht auffindbar. Das heißt nicht, dass das Ich angstlos wäre, sondern in erster Linie, dass seine „Angstbereitschaft“ wie suspendiert ist. Das wiederum weist in Freudschen Termini darauf hin, dass das Ich einem übermäßigen Ansturm von äußeren Reizen ausgesetzt ist, welcher zur Durchbrechung seines Reizschutzes geführt hat. Die Folge davon ist, dass die gleichsam unter Schock entstehenden Eindrücke von den mit ihnen normalerweise einhergehenden Affekten isoliert werden, der Affekt also keine Verankerung auf der Ebene der Signifikanten erfährt, wo wir Leser sie wahrnehmen könnten. Paradox genug führt dies dazu, dass eine entstandene übergroße Erregung in eine Art Anästhesie treibt. Was passiert aber, wenn die Angst bzw. der Ausdruck von Angst versagen? Freud hat der Angst die Funktion einer Signalwirkung zugesprochen; und Lacan hat in seiner Auseinandersetzung mit Freuds These formuliert, dass die Angst das sei, was nicht täuscht, sie sei daher die Ursache des Zweifels.29 Wenn nun aber Angst nicht artikuliert wird, wo sie eigentlich auftauchen müsste, dann, so könnte man umgekehrt schließen und der Roman scheint dies zu bestätigen, wird alles zur Täuschung, und keiner ist mehr in der Lage, dem einen Zweifel entgegenzusetzen. Oder anders gewendet: Wenn Angst ausfällt, dann fehlen die von der Angst auferlegten Grenzen, an denen ein Zweifel formuliert werden könnte. Denn Angst ist in erster Linie vor allem die Erfahrung einer Grenze: im Sinne einer Hemmung oder eines Hindernisses ebenso wie im Sinne von etwas, hinter dem man sich verschanzen kann. Lacan schreibt über die Angst, dass sie „die Erfahrung des Balkens“ sei. Er denkt dabei vor allem an den Balken, der in seiner Zeichensprache – $ („S barré“) – das Subjekt als bedrängtes und gespaltenes und mithin als ein begehrendes markiert.30 Doch gerade die Versprachlichung einer solchen Erfahrung des Balkens fällt im Roman gänzlich aus. Die immer schon stattgefundene Entgrenzung, die die Idee einer Grenze

28 Mona Körte: Essbare Lettern, brennende Schrift, S. 153. 29 Jacques Lacan: Das Seminar. Buch X. Die Angst, S. 101. 30 Vgl. ebda., S. 21.

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längst durchgestrichen hat, wird in gleichsam atonaler Weise nicht nur als Schicksallosigkeit, sondern auch als affektive Ausdruckslosigkeit ausgeschrieben.31 Unentscheidbar bleibt im Fall von Kertész’ Roman, ob der immer schon unbegrenzte Raum des Lagers als Ursache der Affektlosigkeit zu bewerten ist oder aber die Abwesenheit von Angst auf der Ebene der Signifikanten die Ursache einer räumlichen Wahrnehmung ist, die keine Unterschiede und Grenzen mehr zu erkennen vermag. Angezeigt ist hiermit ein Paradox, dem auch Freud in seiner Erkundung der Angst begegnet ist, wenn er einerseits feststellt, dass die Angst eine Folge ebenso wie eine Ursache von Verdrängung ist. Angst scheint strukturell genau in diesem Widerspruch zu bestehen.32 Umgekehrt können wir annehmen, dass die Abwesenheit des Ausdrucks von Angst Ursache und Folge zugleich eines totalitären – unendlich ausgedehnten, totalen – Raums ist, in dem das Konzept der Verdrängung nicht mehr greift. Lacan schreibt weiter, dass eine Bedingung, damit Angst erscheinen kann, das Auftauchen eines Mangels ist. Dass ein Mangel als Mangel benannt werden kann, impliziert aber, dass die „defizitären Tatsachen begrenzt genug sind, damit das Subjekt sie innerhalb der Prüfung, in die es gestellt ist, eingrenzen kann, und dass auf Grund dieser Grenze die Lücke als solche im objektiven Feld erscheint“.33 Es müssen also bestimmte Grenzen vorhanden sein, die das Defizitäre markieren, wodurch sich ein Begehren artikulieren kann. Ohne ein Feld des Mangels gibt es kein Begehren. Der Raum des Lagers, der den Raum des gesamten Romans einnimmt, ist so betrachtet vor allem ein Raum ohne Mangel. Er ist immer ein voller: Genau da, wo es an allem mangelt, mangelt es an nichts. Darum ist dieser Raum stets in der Lage, sich als die beste Welt auszugeben, allerdings, dies sei hier noch einmal unterstrichen, unter dem radikalen Ausschluss des Begriffs „möglicher Welten“. Es mangelt an „vollem Leben“, wie Kertész im Galeerentagebuch notiert.34 Im Roman mangelt es an „vollem Leben“ nicht nur, weil das Lager über weite Strecken als Langeweile dargestellt wird, sondern vor allem, weil Köves keinen Begriff davon hat. Es mangelt nicht einfach an „vollem Leben“, sondern es mangelt vielmehr am Mangel an „vollem Leben“. Der größte Mangel ist hier, dass es an Mangel mangelt.

31 Zur Atonalität in Imre Kertész’ Werk vgl. insbesondere Dietmar Ebert: Das Glück des atonalen Erzählens. Studien zu Imre Kertész. Dresden: Edition Azur 2010. 32 Vgl. Sigmund Freud: „Hemmung, Angst und Symptom“. In: Studienausgabe, Band VI, S. 227– 310, hier: S. 254. 33 Jacques Lacan: Das Seminar. Buch X. Die Angst, S. 84. 34 Imre Kertész: Galeerentagebuch, S. 28.

3 Pervertierte Sprache

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3 Pervertierte Sprache In einem Raum, in dem es an nichts mangelt, außer an Mangel, ist zuletzt alles Täuschung. Diese Täuschung artikuliert sich in einer rein indikativen Sprache, die, wie Jan Philipp Reemtsma treffend formuliert hat, keinen Konjunktiv – also keinen Entwurf von etwas Anderem, nicht Existierendem, als möglich Vorgestelltem – kennt.35 Sie ist zugleich eine durch und durch tropische Sprache, oder wie Nietzsche schreibt: „ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien“, wobei im Wort „Heer“ auch schon anklingt, dass es nicht um eine Wahrheit, sondern um eine Macht geht, die auf dem menschlichen „Metapherntrieb“, sprich: seinem „unbesiegbaren Hang, sich täuschen zu lassen“, gründet.36 Der Roman nennt keinen anderen Ort, von dem aus die Täuschung korrigiert werden könnte. Im Gegenteil: Er inszeniert einen totalen Raum, der so tut, als ob er restlos, ohne Rückstand sei. Er simuliert die Ausstreichung des Anderen, der das Begehren des Subjekts, das stets Begehren eines Anderen ist, überhaupt erst konstituiert. Das Ergebnis ist die Erzählung von einem völlig hilflosen, in totaler und ausdrucksloser Angst gefangenen Ich, das nichtsdestotrotz keine Angst kennt und sich ständig zu helfen weiß. Wenn der Roman behauptet, dass es nichts gibt als diesen totalen und totalitären Raum, wie steht es dann um ihn selbst als literarische Annäherung an diesen Raum? Kertész hat sich dazu folgendermaßen geäußert: „Das Konzentrationslager ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht. (Auch nicht – und vielleicht sogar dann am wenigsten –, wenn wir es erleben).“37 Dieser Satz ist keinesfalls, wie zuweilen vermutet worden ist, ein Hinweis darauf, dass die schreckliche Realität der Lager den Lesern nur in literarischer Form zumutbar sei – Kertész führt ja gerade die Unzumutbarkeit einer solchen literarischen Zumutung vor. Seine ganze Technik zielt darauf, die Leser aus ihrer gesicherten Position herauszureißen, sie zu verletzen. Gerade sein atonal-affektloses Erzählen soll die Schlagkraft besitzen, die Leser sekundär zu traumatisieren.38

35 Jan Philipp Reemtsma: „Überleben als erzwungenes Einverständnis“, S. 60. 36 Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv 1999 (Neuausgabe), Band 1, S. 873–890, hier: S. 880, 887f. 37 Imre Kertész: Galeerentagebuch, S. 253. 38 Vgl. „Ich will meine Leser verletzen. Der Ungar Imre Kertész über seinen Roman eines Schicksallosen“. In: Der Spiegel 18/1996, S. 228. Zur Atonalität als Irritation der Lesererwartungen und Bruch mit Übereinkunft und Tradition, siehe auch László Földényi: Schicksallosigkeit: ein ImreKertész-Wörterbuch, S. 27–34.

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IV Raum ohne Mangel: Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen

Dass das Konzentrationslager ausschließlich als Literatur vorstellbar sei, mag also vielmehr ein Hinweis darauf sein, dass allein ein literarisches Verfahren vielleicht in der Lage ist, jene Frage zu beantworten, die Kertész ebenfalls im Galeerentagebuch formuliert hat: „Wie können wir eine Darstellung aus dem Blickwinkel des Totalitären vornehmen, ohne den Blickwinkel des Totalitären zum eigenen Blickwinkel zu machen?“39 Es geht somit darum, die literarische Fiktion, der man in Inversion der platonischen Ablehnung der Dichtung als lügnerische zutraut, qua Lüge und Täuschung die Wahrheit zu sagen, der lügenhaften totalitären Sprache extrem anzunähern, ohne dabei jedoch die minimale Differenz, die zwischen beiden besteht, preiszugeben. Dieses Unternehmen ist mit einem hohen Risiko behaftet, weil es die gesicherte Position eines Humanismus, die Kertész als absurd anachronistisch, harmlos und lügenhaft bloßstellt, unwiderruflich verlassen hat.40 Der einzige Referenzpunkt bleibt die tödliche Sprache der Nazis, der sich dieses literarische Unternehmen in extremer Weise aussetzt.41 Wie es ausgeht, darüber ist sich die Forschung nicht einig. Thomas Meyer hat vor diesem Hintergrund den Roman als „a-literarisch“ bezeichnet, eben weil er ausschließlich auf die „Welt der reinen Negation“ referiere.42 Von Koppenfels entscheidet dieses Unternehmen dagegen als gelungen, wenn er schreibt, dass „die Technik der Lüge“ – gemeint ist die totalitäre Nazi-Sprache – im Mund des Erzählers zu einer „Offenbarung“ werde.43 Kertész würde dem vermutlich wiederum folgende Notiz aus dem Galeerentagebuch entgegenhalten: „Wer aus dem KZ-Stoff literarisch als Sieger, das heißt ‚erfolgreich‘, hervorgeht, lügt und betrügt todsicher.“44 Wird die Literatur in solch mimetischer Annäherung von der Realität des Lagers völlig vereinnahmt oder gelingt es ihr, sich der Realität des Lagers zu bemächtigen? Kertész’ eigene Überlegungen machen deutlich: Es gibt nur den Weg des Literarischen, aber dieser ist weit davon entfernt, erfolgreich zu sein. Daran festhaltend würde ich hinter die dezisionistischen Interpretationen von Meyer und von von Koppenfels einen Schritt zurückgehen und vielmehr noch

39 Imre Kertész: Galeerentagebuch, S. 21. 40 Vgl. ebda. 41 Kertész notiert dazu: „Das würde bedeuten, daß das Werk, statt ‚Darstellung‘ zu sein, sich das anverwandelt, was es darstellt: die äußere Struktur wird zur ästhetischen Struktur und gesellschaftliche Gesetze zu Gesetzen der Romantechnik“ (ebda., S. 27). 42 Vgl. Thomas Meyer: „Anmerkungen zu Imre Kertész’ Projekt der Schicksallosigkeit“. In: Manuela Günter (Hg.), Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah. Würzburg: Königshausen und Neumann 2002, S. 97–120, hier: S. 111f. 43 Vgl. Martin von Koppenfels: Immune Erzähler, S. 330. 44 Imre Kertész: Galeerentagebuch, S. 30.

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eine Weile auf dem hohen Risiko dieses Unternehmens insistieren, von dem nicht von vornherein entschieden ist, ob es diese Umwendung von der Lüge in die Wahrheit vorzunehmen weiß oder aber der NS-Sprache erliegt. Während von Koppenfels’ Entscheidung implizit noch voraussetzt, dass Literatur auch im Fall von Kertész’ Roman durch die Fiktion die Wahrheit sagen kann, steht dieser Zusammenhang ja genau in Frage, wenn die Fiktion selbst zutiefst von der Lügensprache der Nazis durchdrungen ist. Sie ist zwar nicht mit der Lügensprache der Nazis identisch, denn diese kopierend schafft die Fiktion einen Abstand zu ihr, gerade da, wo sie sich qua Kopieren in aufdringlichster Weise an sie anschmiegt. Doch bleibt fraglich, ob es die Fiktion unter diesen extremen Umständen noch vermag, die Lüge in die Fiktion aufzunehmen, um sie dort in eine Wahrheit zu konvertieren. Es scheint vielmehr, dass die „Offenbarung“ im Munde des Erzählers darin liegt, deutlich zu machen, dass es über die Lager keine angemessenere Sprache als die täuschende Lager-Sprache der Nazis gibt; dass die Lager wesentlich durch diese pervertierte, in sich verdrehte und zugleich so unscharfe, katachrestische Verwaltungssprache, die sich wesentlich durch Aussparung und Euphemismus auszeichnet, hervorgegangen sind;45 ja dass diese Sprache ein wesentlicher Teil der Lagerrealität ist. Der Roman führt aus, dass es kein Außen bezüglich dieser Sprache gibt, auch die literarische Fiktion kann diese Position nicht halten. Die Lagerverwaltungssprache kennt keine Metasprache, und ebenso wenig lässt der Roman zu, dass in der Position der Nachträglichkeit, aus welcher der Ich-Erzähler schreibt, eine andere Perspektive ins Spiel kommt als diejenige des 14-jährigen Köves. Es gibt kein Außen bezüglich dieser Sprache, die buchstäblich und tropisch zugleich ist. Sie ist selbst von einem irreduziblen Außen gezeichnet, insofern sie uns nicht ins „Herz“ des Lagers führt, sondern in einen Wörternebel, in dem das Lager zunehmend zu einer buchstäblich indifferenten Größe wird, die sich von keiner anderen Realität wirklich unterscheidet und bewirkt, dass sämtliche Unterschiede ausgelöscht werden. Dies kann auch den verkehrten Effekt haben, dass Auschwitz innerhalb des Lagersystems von den Häftlingen zur absoluten Größe deklariert wird, angesichts derer die anderen Lager geradezu unbedeutsam erscheinen. Symptomatisch ist hierfür der Ausruf eines Häftlings in Buchenwald zur Begrüßung des gerade ankommenden Köves: „Aber Mensch, um Gottes Willen, wir sind doch hier nicht in Auschwitz“.46 Inwiefern der Bezug auf ein Außerhalb der Lager gänzlich verloren gegangen ist, zeigen auch Passagen, in denen die Lokaldeixis, die normalsprachlich auf ein solches Außen verweisen würde, wiederum nur auf den Innenbereich des Lagers

45 Vgl. Martin von Koppenfels: Immune Erzähler, S. 330. 46 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 140.

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referiert: „Der kommt heute raus“ heißt in der Krankenbaracke, dass der Häftling wieder in seinen Block eingegliedert wird. „Der geht heute nach Hause!“ heißt, dass sich der Häftling wieder in sein Arbeitskommando einzureihen hat.47 Die Leser sind über die hier vorgeführte Nivellierung von Unterschieden und Widersprüchen zutiefst beunruhigt, umso mehr als sie den Protagonisten selbst nicht zu beunruhigen scheint. Dieser stellt häufig widersprüchliche Beobachtungen an, ohne das Widersprüchliche daran zu reflektieren. Hat der junge Köves bei seiner Ankunft in Auschwitz gerade noch die NS-Offiziere in hohen Stiefeln und enganliegender Uniform mit goldenen Sternen bewundert und deren Autorität akzeptiert, äußert er kurz darauf, dass er wohl „in irgendein sinnloses Stück hineingeraten“ sei, in dem er seine Rolle nicht recht kennen würde.48 Letztere Einsicht, die in Ansätzen die SS-Uniformen als Maskerade entlarvt, bleibt jedoch ohne Folge, sie widersetzt sich letztlich nicht der Unterwerfung unter den Autoritätseffekt dieser äußeren Erscheinung. Die beiden Affirmationen bilden für Köves keinen Widerspruch, weil letzterer die Kraft fehlt, einen wirklichen Widerspruch zu formulieren. Im Gegenteil: Jeder Ansatz von Widerspruch wird durch eine im Roman dominante und konsequent durchgehaltene kausale KurzschlussLogik glattgebügelt, die selbst für die abstrusesten und ungereimtesten Begebenheiten noch eine scheinbar rationale Begründung liefert. Jedes Mal, wenn dem Ich-Erzähler etwas „seltsam“ oder „komisch“ vorkommt, ist er in der Tat sogleich bemüht, eine vermeintlich plausible Erklärung zu geben. Mal ist es die Art, sich selbst davon zu überzeugen, dass es hier doch letztlich angenehmer sei als am vorangegangenen Ort;49 dann ist es der „ordnungsgemäße“ Verweis auf eine entsprechende „Vorschrift“ oder der wiederholte Verweis auf „offenbar irgendeine allgemeine Anweisung von Zuständigen“.50 Der Versuch, zu verstehen, bleibt unerschütterlich und bleibt zugleich stets auf der Hälfte des Weges stecken. Er mündet in ein Verständlich-Machen unter Anführung von Argumenten, an die Köves glauben will, obwohl sie falsch sind. Hermeneutik wird in dieser Weise auf eine konformistische Plausibilitätsstrategie verkürzt, handelt es sind doch um Argumente, die stets die Fügung in die von den Nazis etablierte Ordnung implizieren.51 Ein frappantes Beispiel sei hier angeführt. Als im Güterwaggon eine alte Frau kurz vor dem Verdursten wahnsinnig wird und stirbt, kommentiert der IchErzähler:

47 48 49 50 51

Vgl. ebda., S. 231. Ebda., S. 67. Ebda., S. 54. Ebda., S. 39 und S. 67. Vgl. auch Jan Philipp Reemtsma: „Überleben als erzwungenes Einverständnis“, S. 64.

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Da hieß es bei uns, sie ist gestorben, weil sie kein Wasser bekommen konnte. Aber wir wußten ja: sie war krank und alt gewesen, und so fanden alle, auch ich selbst, den Fall doch verständlich, letzten Endes.52

Derartige Syllogismen stützen bis zuletzt den Primat des Sinns, der auf der einen Seite die Anerkennung einer sinnlosen Wirklichkeit verstellt, auf der anderen Seite aber konstitutiver Bestandteil von Köves’ Überlebens-Taumel ist – von Überlebensstrategie kann ja bei dieser Figur nicht wirklich gesprochen werden. Die Verkürzung der Schlussfolgerungen sowie deren Durchdringung durch die Nazi-Sprache implizieren darüber hinaus, dass der Erzähler immer weniger scharf beobachtet,53 „alles ein bisschen verwischt wahr[nimmt]“ und zunehmend die Orientierung verliert.54 Die Kontamination der eigenen Sprache durch die Lagersprache und die nachlassende Raumwahrnehmung bedingen sich dabei gegenseitig. So wie Köves nur mehr die Lager-Verwaltungssprache zur Verfügung steht, um eine eigene Erfahrung zu erzählen, welche jede eigene Erfahrung auslöscht, so gelingt es ihm auch nicht, den Raum des Lagers zu beschreiben. In der Weite des Lagerraumes verschwimmen die einzelnen Gebäude und Gegenstände; sie bilden keine Orientierungspunkt mehr. So heißt es von Birkenau: Alles in allem stand da nur ein schmuckloses, von außen an einen großen Schuppen erinnerndes Holzgebäude: offensichtlich unser Zuhause. […] Dahinter die breite, blendende Landstraße – oder eben wieder eine solche Straße, denn auf dem Weg vom Bad hierher waren Straßen, Plätze und die gleichförmigen Gebäude in diesem ungeheuren, überall flachen Gelände nicht mehr im Einzelnen auseinanderzuhalten gewesen, zumindest für meine Augen nicht.55

Auch wenn dies alles seltsam und zunehmend befremdend ist, sorgt der kausale Kurzschluss dafür, dass das alles erklärt und als „natürlicher Lauf der Dinge“ verzeichnet werden kann. Die ständig im Einsatz sich befindenden Adverbien „irgendwie“ und „natürlich“ befördern in besonderem Maße die Nivellierung von Diskrepanzen und gellenden Widersprüchen. Je pervertierter die Realität der Lager in Köves’ Erzählung erscheint, desto häufiger tauchen diese beiden Adverbien, häufig im Verein, auf und treiben damit die Assimilation der Sprache und Argumentationslogik an die Nazi-Sprache auf die Spitze. An dieser Spitze bildet sie ein Symptom aus. Es entwächst dieser „Welt der reinen Negativität“, geht selbst aber nicht mehr vollständig in ihr auf. 52 53 54 55

Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 86. Ebda., S. 61. Ebda., S. 64. Ebda., S. 115.

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4 Sprachtics Ein Schrei, ein Aufbegehren, auf das man als Leser vergebens wartet, ist in Köves’ Erzählung nicht einfach nicht vorhanden, sondern unterdrückt. Den Beweis dafür liefert auf der Textoberfläche ein Symptom, das durch die sprachliche Assimilation hervorgetrieben worden ist. Ein Symptom ist stets aufzufassen als eine Kompromissbildung zwischen einem Anspruch und einer diesen Anspruch unterdrückenden Kraft. Als Kompromiss ist es nicht einfach Ausdruck einer unterdrückten Wahrheit, sondern es hat immer schon Teil an der Unterdrückung der Wahrheit. Insofern ist es trügerisch. Doch ist es inmitten dieser trügerischen Welt durch eine Auffälligkeit markiert. Aufgrund dieser Eigenschaft trägt es in die Scheinlogik, die diese Erzählung so konsequent vorführt, einen Widerstand ein. Das Symptom, von dem die Rede ist, besteht in einer Art Sprachtic, der Köves’ Erzählweise charakterisiert.56 Man könnte nun annehmen, dass der Sprachtic gleichsam am Ende jener Kette steht, in der die Hermeneutik auf die Logik, die Logik auf den Kurzschluss und schließlich der Kurzschluss auf eine automatische Reaktion, wie ihn der Tic darstellt, reduziert wird. Doch zugleich muss vermerkt werden, dass sich der Tic, am Endpunkt dieser Reduzierung von Sprache und Denken stehend, gleichsam gegenwendig zu dieser Kette, in die er eingebunden ist, verhält. Ihm fehlt freilich die argumentative Kraft, diese Kette zu widerlegen. Aber er bildet doch am Ende dieser Kette eine sichtbare Störung und damit ein Signal aus, an das sich die Leser halten können. Wenn es in diesem Roman eine Form des Einspruchs gegen diesen totalen Raum des Lagers geben sollte, dann einzig als Tic, als ein buchstäbliches Anklopfen, das darauf aufmerksam macht, dass es etwas gibt, das im totalen und totalitären Raum nicht restlos aufgeht. Genau das ist der verschobene Ort der auf der erzählten Ebene ausgelöschten Angst. Hier taucht sie, verstellt, noch einmal in ihrer Signalwirkung, in ihrer Funktion als Grenze auf. Dieser Sprachtic äußert sich in der Redundanz der schon erwähnten Adverbien „irgendwie“ und „natürlich“ sowie von deren Varianten „versteht sich“, „im Grunde genommen“, „offensichtlich“ u. ä. Verschliffen wird durch ihren Einsatz die Betonung von Unschärfe und Unbestimmtheit mit einer wiederholten Unterstreichung von Evidenz. Einige Beispiele sollen veranschaulichen, mit welch hoher Frequenz diese Wendungen zum Einsatz kommen:

56 In der Forschung zu Kertész scheint mir dieser sehr auffällige Aspekt bislang unterbelichtet. Besonders symptomatisch geschieht dies bei Reemtsma, der Kertész’ Roman mit Krapps letztes Band vergleicht, dabei auf die Rolle des Tics in Becketts Stück verweist, aber mit keinem Wort auf eine ähnliche Funktion des Tics bei Kertész eingeht (vgl. Jan Philipp Reemtsma: „Überleben als erzwungenes Einverständnis“, S. 60).

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Genauso wie im Zollhaus oder zuletzt in der Ziegelei mußten wir uns auch in der Eisenbahn die Zeit irgendwie vertreiben. Das war hier vielleicht doch so viel schwieriger, als sich aus den Umständen ergab, natürlich.57 [I]rgendwie war ich eher gleichgültig. Und dann habe ich das ganze Ereignis [die Ankunft in Auschwitz] auch ein bißchen verpaßt.58 Vom weiteren zu berichten ist schwer: irgendein breiig brodelnder, wirbliger Strom nahm mich auf, strudelte über mich hinweg, riß mich mit sich.59 Nur eines fehlte irgendwie, und ich habe dann auch herausgefunden, was: nämlich, daß ich in der Umgebung der Häuser keine Spur von Bewegung, von Leben sah. Aber ich dachte mir dann, das dürfte ja wohl natürlich sein, schließlich war für die Bewohner Arbeitszeit.60 Nun ja, und dann standen wir doch schließlich an der Schwelle zu einem neuen Leben, und ich sah ein, daß das letztlich eine ganz andere Situation war als auf der Gendarmerie, natürlich.61 Es mag unverständlich sein, aber dieser Verlust [des Schamhaars, nach Zwangsrasur] schmerzte mich irgendwie noch mehr als der meines Kopfhaars. Ich war überrascht und auch ein wenig aufgebracht – aber ich habe dann eingesehen, daß es lächerlich gewesen wäre, sich wegen einer solchen Kleinigkeit aufzuhalten, im Grunde genommen.62 Auch in Buchenwald gibt es ein Krematorium, versteht sich, aber insgesamt nur eines, denn das ist hier nicht der Zweck, nicht das Wesen der Sache […], sondern es werden nur solche verbrannt, die im Lager verscheiden, unter den gewöhnlichen Umständen des Lagerlebens sozusagen.63 Die Hauptsache ist, sich nicht gehenzulassen: irgendwie wird es schon werden, denn es ist noch nie vorgekommen, daß es nicht irgendwie doch geworden wäre […].64 Ich habe dann bald eingesehen, daß […] auch Freundschaft nur etwas Begrenztes ist, etwas, dem das Gesetz des Lebens einmal ein Ende setzt – natürlicherweise übrigens, ganz klar.65

57 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 82 [die Unterstreichungen in diesem wie in den folgenden Zitaten stammen von der Verf.in]. 58 Ebda., S. 86. 59 Ebda., S. 92. 60 Ebda., S. 103. 61 Ebda., S. 108. 62 Ebda., S. 109. 63 Ebda., S. 142. 64 Ebda., S. 152. 65 Ebda., S. 171.

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[Als ein Soldat von Köves’ Geruch angewidert ist] Ich bin schließlich nicht allein daran schuld, ursprünglich ist das eigentlich nicht meine Natur – nur wäre es schwierig gewesen, das zu beweisen, das sah ich ein, natürlich.66 Wenn man will, dann läßt sich zum Beispiel vielleicht sogar das beobachten, auf welche Art jemand verhungert – schließlich mag auch das auf seine Art interessant, in höherem Sinn nützlich sein, warum denn nicht, das mußte ich zugeben.67

Dieser langen Reihe ließen sich viele weitere Beispiele anfügen. Auffällig ist, dass die rhetorische Markierung von Unbestimmtheit eher am Satzanfang, die Unterstreichung von Evidenz meist am Satzende steht. Zusammen bilden sie eine Rahmung, die jegliche Rahmung zur Unschärfe verwischt und das gleichsam zwanghafte Gesetz, dass selbst das Widersinnigste noch einen Sinn ergeben muss, bis zuletzt aufrecht erhält. Zugleich aber produzieren diese eigentümlichen Rahmungen immer auch schon einen Überschuss, der durch sie nicht mehr gerahmt werden kann. Denn ihrer Redundanz ist ein nicht ausgeschriebenes, aber hörbares Fragezeichen mitgegeben. Es ist darüber hinaus nicht ohne Interesse darauf hinzuweisen, dass im Ungarischen „irgend“ durch das Indefinitpronomen „vala“ ausgedrückt wird, das im Originaltext ebenso penetrant auftaucht wie „irgend“ in der deutschen Übersetzung. Die ursprüngliche, inzwischen verblasste Bedeutung von „vala“ ist „seiend“, „befindlich“. Einer unwahrscheinlichen, aber hartnäckig sich haltenden grammatischen Spekulation zufolge sei „vala“ einst die Vergangenheitsform des Seinsverbs in der Funktion des Hilfsverbs gewesen, mit der überhaupt erst eine Vergangenheit sprachlich geformt werden konnte.68 Zieht man diese Spekulation mit in Betracht, würde in Kertész’ Roman das Wörtchen „vala“ als verblasstes und zugleich unwahrscheinliches Hilfsverb lesbar: als ein kaum mehr wahrgenommener Hilferuf ebenso wie als der vergebliche und unwahrscheinliche Versuch, das geschilderte Geschehen in eine Vergangenheit des Seins überzuführen.69

66 Ebda., S. 192. 67 Ebda., S. 224. 68 Vgl. Eintrag „vala“ in Károly Gerstner (Hg.): Etymologisches Wörterbuch des Ungarischen II (1994), sowie in Loránd Benkõ (Hg.): A magyar nyelv történeti-etimológiai szótára (1976). Ich danke Maria Kelemen, Universität München für ihre sprachgeschichtlichen Hinweise sowie für ihre Bereitschaft, sich mit mir mit dem ungarischen Original im Vergleich mit seiner deutschen Übersetzung auseinanderzusetzen. 69 Vgl. zur Dominanz des Gegenwärtigen im Erzählpräteritum auch Jan Philipp Reemtsma: „Überleben als erzwungenes Einverständnis“, S. 63.

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Doch in seiner verblassten Form eignet sich das Pronomen nur noch zum stereotyp wiederkehrenden Füllwort. Als solches bewirkt es, zusammen mit den vielen adverbialen Ausdrücken der vermeintlich natürlich gegebenen Einsichtigkeit (die auch lesbar ist als die einzige im Lager gültige Sicht, aber auch als die begrenzte Sichtweise eines Einsichtigen), dass die Schilderung der Realität immer undeutlicher wird. Solcherart überträgt sich die sprachliche Unschärfe der NSSprache auf den Ich-Erzähler. Die von ihm verwendeten Adverbien bestätigen die Scheinlogik der Lagersprache, zugleich aber bilden sie genau jene Stellen im Erzählerdiskurs aus, an denen eine, wenngleich minimale Differenz zu dieser aufscheint. Denn auch wenn diese Adverbien das Aufbrechen eines offenen Widerspruchs zwischen der Lagerlogik und der Sprache des überlebenden IchErzählers verhindern, sind sie darin aufgrund ihrer Redundanz eine Störung. Der Wiederholungsautomatismus wendet sich damit gegen den mimetischen Gestus der Erzählerrede. Anders gesagt: Wo dem Erzählerdiskurs jegliches Pathos fremd ist, bildet er einen gleichsam pathologischen Auswuchs. Das Dauersymptom wirkt wie eine Schutzformel.70 Denn die automatisch wiederkehrenden Adverbien bestätigen – wörtlich genommen – die NS-Ordnung, buchstäblich gelesen stören sie aber aufgrund ihrer unnatürlich hohen Frequenz, mit der sie Natürlichkeit suggerieren, diese Ordnung empfindlich. Wir können sagen: Der Sprachtic bildet einen „absens“ im Sinne Lacans, wie wir ihn in Kapitel I.6 dargelegt haben: Er macht keinen Sinn, er ist aber auch nicht Unsinn oder Nicht-Sinn. In Abwesenheit eines anderen Sinns formuliert sich, als Symptom, ein „absens“, der verhindert, dass die totalitäre Welt des Lagers ganz mit sich identisch wird. Je mehr sich der Erzähler bemüht, die Lagerwelt zu verstehen bzw. verständlich zu machen, desto unschärfer wird seine Beschreibung. Die Adverbien „irgendwie“ und „natürlich“ steigern sich dabei einer dialektischen Schleife zufolge ins Unermessliche. Der Roman setzt der nebulösen NS-Sprache keine begriffliche Schärfe entgegen, sondern unterläuft diese bzw. treibt diese über sich selbst hinaus in der tic-artig wiederholten Affirmation von unscharfer Evidenz.71

70 Ein Zusammenhang, den Freud schon in seiner frühen Studie des Falls von Frau Emmy von N. herausgestellt hat, vgl. Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien über Hysterie, insbesondere S. 110ff.; vgl. des Weiteren zur psychischen Dimension des Tics Sandor Ferenczi: „Psychoanalytische Betrachtungen über den Tic“ (1921). In: Schriften zur Psychoanalyse II, Frankfurt a. M.: Fischer 1972, S. 39–69. 71 Die Erzählperspektive in Kertész’ Roman kennt nicht den klinisch-chirurgischen Blick Flauberts, wie von Koppenfels meint (vgl. ders.: Immune Erzähler, S. 325). Vielmehr zeigt Kertész durch die Sichtweise seines Protagonisten auf das Lager, dass hier das chirurgische Paradigma,

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Trotzdem bildet der Tic bezüglich dieser totalen Sprachrealität nicht einfach ein Außen. Immerhin aber markiert er, dass die Affekte, die auf der erzählten Ebene nicht mehr da sind, nicht einfach nicht sind: Sie sind verschoben, verrückt und verwandelt; sie verschaffen sich Ausdruck im Kompromissgebilde des Symptoms. Mit ihm wehrt der Erzähler das von ihm Erzählte ab, indem er es, sich selbst auslöschend, bestätigt. Es ist vergleichbar mit der von der Psychologie beschriebenen Notfallreaktion des Kindes, das in seiner ungeheuren Angst, Hilf- und Schutzlosigkeit gezwungen ist, sich mit dem Täter zu identifizieren, um seelisch zu überleben.72

5 Draußen: Konfrontation mit der „Hölle“ Als Köves am Ende des Romans aus Buchenwald nach Budapest zurückkehrt, führt seine Konfrontation mit der Welt „draußen“ zu Irritationen. Diese betreffen sowohl die Normalität, mit der hier „draußen“ alles weitergegangen zu sein scheint und weitergeht (die Menschen haben es eilig, sind zielstrebig; in der Straßenbahn findet Köves als gerade zurückgekehrter mittelloser KZ-Häftling ohne Fahrschein kein Erbarmen von Seiten des Schaffners73), als auch die Begegnung mit Menschen, die von der Existenz der Konzentrationslager und dem Ausmaß der Verbrechen dort erfahren haben und „entsetzt“ sind. So ein Journalist, der sich gegen jenen sturen Schaffner empört, sich Köves annimmt und ihm eine Fahrkarte spendiert. Interesselos ist diese Hinwendung allerdings nicht,

dem zufolge der Erzähler-Chirurg immer recht genau weiß, wo das Messer anzulegen ist, nicht mehr greift. 72 Vgl. allgemein zur „Notfallreaktion“ Werner Bohleber: „Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse“, S. 803. Bruno Bettelheim hat die im Konzentrationslager erzwungene Regression der Häftlinge auf infantiles Verhalten und Imaginierung der SS-Männer als grausame und autoritäre Vaterfiguren schon in seinem ebenso bahnbrechenden wie umstrittenenen Essay „Individual and Mass Behaviour in Extreme Situations“, in: Journal of Abnormal and Social Psychologie 38 (1943), dt. „Individuelles und Massenverhalten in Extremsituationen“. In: ders.: Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1980, S. 48–95 beschrieben. Im Roman eines Schicksallosen ereignet sich diese Regression auf der Ebene des discours in der Ausbildung des Tics, auf der Ebene der histoire z. B. in der Szene, in der der Ich-Erzähler bewundernd die glänzenden Stiefel und enganliegende Uniform mit goldenen Sternen eines Nazis beschreibt (Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 66). 73 Dergleichen bezeugt übrigens auch Liana Millu bei ihrer Rückkehr aus Birkenau nach Venedig. Auf der nur 2 km langen Strecke Mestre-Venezia wird sie vom Schaffner kontrolliert, der kein Verständnis für die Tatsache aufbringen kann, dass jemand, der ein Jahr im Lager verbracht hat, kein Geld für einen Fahrschein hat. Vgl. Liana Millu: „Guardare in un fondo dove striciano serpenti“. In: Alberto Cavaglion (Hg.): Il ritorno dai Lager, S. 53–57, hier: S. 53f.

5 Draußen: Konfrontation mit der „Hölle“

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denn als Journalist kann er nicht umhin, sogleich Köves zu interviewen und mit ihm eine Artikelserie zu planen.74 Das führt jedoch zu einem Missverständnis, das diesmal von Köves nicht mehr plausibel gemacht wird. Die im Lager erworbene Sprache erweist sich nun als geeignetes Mittel, sich erstmals gegen die Welt der Erwachsenen zu behaupten und die Sprache der Außenstehenden in ihrer leeren Metaphorizität und ihrer reflexartigen Tendenz zur tropischen Rede zu entlarven. Hier sei die entscheidende Passage des Dialogs zitiert: ‚Kommst du aus Deutschland, mein Junge?‘ ‚Ja.‘ ‚Aus dem Konzentrationslager?‘ ‚Natürlich.‘ ‚Aus welchem?‘ – ‚Aus dem in Buchenwald.‘ Ja, er hatte davon gehört, wußte auch, daß es ‚einer der Kreise des Nazi-Infernos‘ war, so hat er sich ausgedrückt.

Und etwas später, als die Irritation des Journalisten über Köves’ einsilbige Weise, mit ‚ja‘ und ‚natürlich‘ zu antworten, schon laut geworden ist: ‚Mein Junge, möchtest du nicht über deine Erlebnisse berichten?‘ Ich staunte ein bißchen und sagte, sehr viel Interessantes könnte ich ihm nicht erzählen. Da hat er ein wenig gelächelt und gesagt: ‚Nicht mir: der Welt.‘ Darauf staunte ich noch mehr und wollte wissen: ‚Aber worüber denn?‘ ‚Über die Hölle der Lager‘, antwortete er, worauf ich bemerkte, darüber könne ich schon gar nichts sagen, weil ich die Hölle nicht kenne und sie mir nicht einmal vorstellen kann. ‚Haben wir uns denn‘, fragte er, ‚das Konzentrationslager nicht als Hölle vorzustellen?‘, und ich sagte, während ich mit dem Absatz ein paar Kreise in den Staub zeichnete, jeder könne es sich vorstellen, wie er wolle, ich meinerseits könne mir jedenfalls nur das Konzentrationslager vorstellen, denn das kenne ich bis zu einem gewissen Grad, die Hölle aber nicht.75

In diesem Schlagabtausch kommt nicht nur die Schwierigkeit der sprachlichen Vermittlung der Lagererfahrung zum Ausdruck, wie sie von zahlreichen Überlebenden thematisiert worden ist, sondern auch der Aufprall von zwei nicht miteinander kompatiblen Weisen, Sprache und Wörter zu gebrauchen. Der Journalist greift gleichsam reflexartig (und damit dem Sprachautomatismus von Köves gar nicht so unähnlich) auf einen Topos zurück, wodurch Kertész die in zahlreichen Zeugenschaften bemühte tropische Wendung von der „Hölle der Lager“ und die darin implizite intertextuelle Referenz auf Dantes Inferno problematisiert. Die „Hölle“ ist nicht nur Bestandteil eines metaphorisch ausweichenden, sondern ist auch Ausdruck eines Sprechens, das in kulturellen und literarischen Traditionszusammenhängen stattfindet und das angesichts der Lager obsolet geworden ist. Dagegen steht die Erfahrung des jungen Köves, der von

74 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 274. 75 Ebda., S. 271f.

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Dante kaum eine Ahnung haben dürfte. Seine Bildung hat wesentlich im Lager stattgefunden; sie ist an das traditionelle Bildungsgut nicht anschließbar. An dieser Stelle taucht im Roman zum ersten Mal eine Art Grenzziehung auf, die die Leser 270 Seiten lang schmerzlich vermisst haben. Sie erfolgt durch den Zweifel, der in Köves’ Antwort auf die Rede des Journalisten zum Ausdruck kommt. Diese Grenze wird zudem graphisch markiert in den Kreislinien, die Köves gleichsam reflexartig mit seinem Fuß in den Staub zeichnet. Wo die deutsche Übersetzung – möglicherweise unbeabsichtigt – eine Nähe zwischen den „Inferno-Kreisen“ des Journalisten und den kreisförmigen Fußspuren des Ich-Erzählers suggeriert, unterscheidet das ungarische Original genau: Dantes Höllenkreise – „le bolge“ – heißen „burgyra“; die Kreise, die Köves zeichnet, werden indessen „karikát“ genannt. Sie legen eine Assoziation mit „bolge“ keineswegs nahe. Der Fehlleistung der deutschen Übersetzung verdanken wir jedoch, dass Köves’ unwillkürliche, wiederholte Fußgeste zur Frage wird. Die tropische Rede, die ein spezifisch räumliches, dreidimensionales Gebilde der Commedia ins Spiel bringt, wird durch einen unbewussten, körperlichen Reflex abgewehrt, der dieses auf einen schlichten zweidimensionalen Kreis reduziert. In dem Moment, da Köves – unwissend und zugleich unglaublich weitsichtig – den Vergleich abwehrt, ihn gleichsam mit dem Fuß von sich stößt, agiert er die Trope, entstellt, als körperlichen Reflex aus und zitiert – gewollt oder nicht – nebenbei eine Stelle aus dem Purgatorio, in der Sordello mit dem Finger einen Strich in die Erde einzeichnet und damit Dante und Vergil zu erkennen gibt, dass sie bei Untergang der Sonne nicht einmal mehr diese Linie überschreiten können (Purg. VII, 52–54). Beide Linien sind in Staub gezeichnet, sie sind vergänglich, und zugleich erweisen sie sich im performativen Moment ihres Gezeichnet-Werdens als Grenzsetzungen. Das scheint mir die entscheidende erzählerische Pointe an dieser Stelle zu sein. Damit erweist sich ein und dasselbe Zeichen (wie schon der Sprachtic, der im Übrigen während des ganzen Dialogs aktiv bleibt) abermals als Abwehr und unwillkürliche Bestätigung des Abgewehrten. Ähnlich wie der Sprachtic ist auch diese unwillkürliche Geste Affirmation und Grenzziehung zugleich. Von der spezifischen Gesprächssituation absehend kann in dieser Passage auch Kertész’ Auseinandersetzung mit der in der Holocaust-Literatur so insistenten Bezugnahme auf die Commedia erkannt werden. Von Koppenfels bemerkt dazu, dass die Hölle den Anschluss an ein „großes Reservoir an Pathos“ verspreche, Kertész hingegen zeige, dass die Literatur durch die Erfahrung der Lager von ihren Traditionen, einschließlich denen des Pathos abgeschnitten sei.76 Zugleich mache er aber auch deutlich, „daß es viel schwerer ist, nicht Dante zu

76 Vgl. Martin von Koppenfels: „Dante in- und auswendig …“, S. 206.

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zitieren, als ihn zu zitieren“.77 Dieser Tatbestand betrifft nun eben nicht nur den reflexartigen Bezug auf das Inferno von Seiten des Journalisten, der nicht aufhört, auf diesem Vergleich zu bestehen, sondern insbesondere auch Köves’ Fußreflex, der unterdessen nicht aufhört, weitere Kreise zu ziehen: Aber wenn nun doch?, drängte er [der Journalist], und nach ein paar weiteren Kreisen sagte ich: ‚Dann würde ich sie mir als einen Ort vorstellen, wo man sich nicht langweilen kann‘, wohingegen man das, so fügte ich hinzu, im Konzentrationslager könne, sogar in Auschwitz – unter bestimmten Voraussetzungen, versteht sich.78

Dabei scheint die Geste des Fußes – Reflex oder Zerstreuung, Grenzlinie oder Kritzelei – auch einen impliziten Kommentar zur nichtssagenden Rede des Journalisten zu formulieren. In diesem Fall wäre der in den Staub eingezeichnete Kreis nicht so sehr die Widerlegung, sondern die Markierung der Rede als einer stereotypen. Es ist eine Rede, die anders, aber ebenso totalitär wie die Lagersprache ist. Denn diese kennt kein Sprechen außerhalb der Höllenmetaphorik; sie sitzt einem Kurzschluss auf, der meint, Auschwitz an die tropische Rede zurückbinden zu können. Beide Sprachen sind Sackgassen und stehen unversöhnt einander gegenüber. Angesichts dieser Ausweglosigkeit gibt es nichts anderes als den Fußreflex, gleichsam als symptomatisches, körperliches Ausagieren des Fehlens richtiger Worte. Doch genau in dem Moment, da die zur Rhetorik erstarrte Höllenanalogie auf den Fuß überspringt und von diesem als Kreis gezeichnet wird, geschieht etwas Anderes. Zumindest ließe sich von da aus zum Beispiel nach dem Status der Höllenkreise in der Commedia fragen und inwiefern der Raum der Hölle begrenzt bzw. er durch die Kreise gerade entgrenzt ist. Hier weiterfragend erwiese sich die Commedia als ein struktureller Intertext des Romans eines Schicksallosen. Nur haben vermutlich weder Köves noch der Journalist die Commedia gelesen. Insofern gelingt es ihnen auch nicht, die richtigen Fragen an sie zu stellen. Hätten sie sie gelesen, dann würden sie, zumal angesichts der Frage der Konzentrationslager, bemerken, dass Dantes Inferno nur oberflächlich betrachtet einen klar begrenzten Raum darstellt, dass ein beunruhigender Aspekt der Commedia gerade darin besteht, dass nicht klar ist, wo das Inferno anfängt und wo es aufhört; und auch fraglich ist, was es mit der sogenannten „Vorhölle“ auf sich hat, durch die das Inferno über sich selbst nach vorne hinausragt (Inferno III und IV liegen zwar jenseits des Höllentores, aber noch vor der eigentlichen Hölle, die durch den Acheron noch einmal abgetrennt ist) und mit dem sogenann-

77 Ebda. 78 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 272.

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ten Vorpurgatorium, das in vieler Hinsicht wie eine Verlängerung der Höllengesetze nach hinten erscheint. Genau solche Fragen der Ausdehnung eines Raumes über seine eigenen Grenzen hinweg bilden auch einen der irritierendsten Aspekte in Kertész’ Roman. Es werden keine klaren Grenzen zwischen der zivilen und der Lagerwelt und innerhalb der Lagerwelt zwischen dem einen und dem anderen Lager markiert. Die Grenzen und Schwellen sind nicht wirklich identifizierbar, weil sowohl das Dantesche Ich als auch Köves diese Übergänge stets verpassen, entweder weil ihnen die Sinne verwirrt sind oder weil sie schlafen oder aus anderen Gründen bewusstlos sind. Ohnmacht und Schlaf stehen für ein Verpassen der bewussten Wahrnehmung von Schwellen und Übergängen, zugleich ist die Bewusstlosigkeit aber stärkstes Anzeichen für die Macht der Schwelle. Doch unterscheiden sich das Dantesche Ich und Köves wesentlich da voneinander, wo ersteres sein starkes Affiziertwerden durch das Geschaute sprachlich zum Ausdruck bringt, während Köves affektlos schildert, was mit ihm geschieht. Und auch eine Parallele zwischen Köves und den Bewohnern des Inferno wäre verfehlt, denn letztere zeichnen sich durch einen von Pathos getragenen Sprechdrang aus, der Kertész’ Protagonisten völlig abgeht. Ein Vergleich auf inhaltlicher und bildlicher Ebene mit der Commedia ist unhaltbar; zugleich aber erscheint der Roman nichtsdestoweniger als eine Umschrift strukturell-räumlicher Aspekte der Commedia. Insofern darf Köves’ halbbewusste Fußbewegung als der vielleicht passendste Kommentar auf seine eigene Erzählweise gelesen werden. Nun stellt die Fußbewegung, die den Vergleich der Lagerwelt mit dem Inferno zurückweist und die Trope in ein graphisches Zeichen umschreibt, nicht nur die wichtige und komplexe Frage nach dem Zusammenhang von Tradition, Insistenz und automatischem Reflex, sondern auch die Frage nach dem Medium, in dem diese Umschrift vorgenommen wird. Es ist nämlich der Staub, jene Materie, die, ein Fast-nichts, stets unpassend ist.79 Halten wir an dieser Bestimmung des Staubes zunächst einmal fest, so wird deutlich, dass das Medium, das hier der Zeichenträger ist, als ein Fast-nichts nichts anderes ist als das Übriggebliebene. Es ist aus Staub, d. h. aus dem, was bleibt, wenn Festeres zerfällt. Es ist dauerhafter als jeder andere Zeichenträger und zugleich als Zeichenträger denkbar ungeeignet, dauerhaft zu sein. Staub mag zwar die „ideale Einschreibefläche von Abdrücken“ bilden (in Detektivromanen werden Täter über die Identifikation von

79 Vgl. Roland Meyer: „Kleinerer Versuch über den Staub. Eine Spurensuche“. http://www.wobleibt-die-zeit.de/preis/Meyer.pdf, S. 2 (aufgerufen am 8.11.2013).

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solchen Abdrücken überführt),80 doch zugleich werden solche in Staub geschriebenen Zeichen schnell aufgestoben und damit unlesbar. Das Medium ist also ein höchst prekäres, dazu „am falschen Ort“, denn Staub ist nie am richtigen Ort, sondern stört grundsätzlich. Die Vorstellung, dass sich das Lager in den Staubund Aschepartikeln, die aus den Türmen der Krematorien in die Atmosphäre gestoßen worden sind, als dauerhafter Rest fortsetzt und sich auf alle anderen Gegenstände wie auch auf sich selbst legt, liegt hier nahe. Intertextualität und der Bezug auf Traditionszusammenhänge, die beim Sprechen gleichermaßen unvermeidlich sind, werden, ebenso unvermeidlich, in dieses stets am falschen Ort sich befindliche Medium eingetragen. Es gibt sie weiterhin, auch angesichts der Lager, doch sind sie dort zwangsläufig staubige Rede, verstaubte Rede, Staub. Dies ist die Pointe eines Erzählens, in dem alles auf die Erfahrung eines unbelesenen Kindes reduziert wird, zugleich aber vom übergeordneten Erzähler immer schon eine Literatur zweiten Grades geschrieben wird, welche Erfahrungen im Lichte bereits literarisierter anderer Erfahrungen vorstellt.81 Hans-Jost Frey hat in einem anderen Zusammenhang geschrieben, dass „[b]eim Schreiben in den Staub kein Gesagtes mitgeteilt, sondern nur der Akt des Einzeichnens vollzogen [wird]“.82 Der Akt des Einzeichnens wäre so betrachtet die erste Manifestation von Schrift. Als Schrift im Staub bildet sie einen sermo humilis im radikalsten Sinne: noch diesseits von Bedeutung ist sie Wiedereinzeichnung einer Differenz, die im Raum des Lagers verloren gegangen ist.

6 Schritte machen Köves’ Fuß spricht auf den letzten Seiten des Romans aber auch noch eine andere Sprache. Seine unwillkürliche Geste bringt nicht nur Kreis und Grenze ins Spiel, sondern auch die Frage, wie und auf welchem (sprachlichen) Weg man als Überlebender der Lager vorwärts gehen sollte. Der kurze Weg über die Trope Inferno ist – wie wir dies auch bei Levi nachgewiesen haben – zurückgewiesen worden und übergesprungen auf den Fuß, der nicht mehr voranschreitet, sondern Kreise zieht. Weil er sie in den Staub,

80 Ebda., S. 7. 81 Vgl. Manuela Günter: „Writing Ghosts. Von den (Un-)Möglichkeiten autobiographischen Erzählens nach dem Überleben“. In: dies. (Hg.): Überleben schreiben, S. 21–50, hier: S. 44. 82 Vgl. Hans-Jost Frey: „Verszerfall“. In: ders., Otto Lorenz: Kritik des freien Verses. Welche Kriterien gibt es heute für den freien Vers? Antworten auf die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom Jahr 1979. Heidelberg: Lambert Schneider 1980, S. 9–82, hier: S. 42.

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dem dauerhaften und zugleich so prekären Medium einzeichnet, muss er sie fortwährend nachziehen. Damit ist eine Unterbrechung des Voranschreitens in die Budapester Nachkriegsnormalität markiert. Im Nachziehen der Kreise gibt der Fuß ein weiteres Mal Dante Alighieri Recht, dessen Werk ein ausdrücklicher Einwand gegen jede Abkürzung, gegen jedes „corto andar“, ebenso wie eine großartige Widerlegung jedes geradlinigen Voranschreitens ist. So gesehen wehrt die Fußbewegung den Kurzschluss des Inferno-Vergleichs auch als etwas ab, das der Commedia in keiner Weise gerecht wird, ja ihren Sinngehalt pervertiert. Gleichzeitig markiert sie eine Abwehr jeden sprachlichen Kurzschlusses überhaupt. Durch sie stellt sich der Ich-Erzähler erstmals gegen die Syllogismen, die wesentlicher Teil der Lagerrealität sind. Umgekehrt erscheint die Sprache des Journalisten gleichsam in Fortsetzung zu dieser. Nichtsdestoweniger muss Köves weiter gehen. Er verlässt den Journalisten und sucht sein Elternhaus in Budapest auf, in dem sich inzwischen fremde Menschen eingemietet haben. Köves gelingt es, seinen Fuß in die Tür zu stellen, um einen Spalt für Sprache und erklärende Worte offen zu halten. Auch wenn dieser Versuch erfolglos bleibt, so ist die Geste doch entscheidend, weil auch sie sich zum ersten Mal entschieden einer schließenden Geste widersetzt. In die Nachbarwohnung wird er von einstigen Bekannten des Vaters eingelassen und freudig begrüßt. Sie teilen Köves in den üblichen pathetischen Floskeln mit, dass sein Vater „nach kurzem Leiden verschieden sei in einem deutschen Lager“,83 und erzählen dann, wie es ihnen selbst ergangen ist. Die Redeweise ist dem IchErzähler schwer erträglich, auch weil sie in mancher Hinsicht der eigenen ähnlich ist: Unterdessen erzählten die beiden Alten, ‚ja, auch hier zu Hause‘ sei es ‚nicht leicht‘ gewesen. Ihr Bericht gab mir den Eindruck eines wirren, verwickelten und nicht nachvollziehbaren Geschehens von nebelhaften Umrissen, die eigentlich nichts so recht erkennen und verstehen ließen.84

Auch deren Rede ist von redundanten, verschleiernden Sprachformeln durchsetzt, wie nun Köves kritisch bemerkt: Es war mehr die häufige, fast schon ermüdende Wiederholung eines Wortes, was mir an ihrer Litanei auffiel, ein Wort, mit dem sie jede neue Wende, jede Veränderung, jede Bewegung bezeichneten: so ‚kamen‘ zum Beispiel die Judenhäuser, ‚kam‘ der fünfzehnte Oktober, ‚kamen‘ die Pfeilkreuzler, ‚kam‘ das Ghetto, ‚kam‘ die Sache am Donau-Ufer, ‚kam‘ die Befreiung. Nun und dann war das der übliche Fehler: als hätte dieses ganze verwischte,

83 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 278. 84 Ebda., S. 279.

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in Wirklichkeit unvorstellbar erscheinende und auch in den Einzelheiten […] für sie nicht mehr vollständig nachvollziehbare Geschehen […] gewissermaßen auf einmal, irgendwie in einem einzigen Wirbel […] [stattgefunden].85

Die Anderen sprechen dieselbe Sprache wie Köves, und dennoch gibt es kein gegenseitiges Verstehen, sondern Verstörung darüber, dass der jeweils Andere einem dieselben Sprachfloskeln widerspiegelt. Diese Sprachfloskeln, selbst wenn sie gemeinsamer Wortschatz sind, ermöglichen keinen Dialog, weil sie Abwehrformeln sind, hinter denen die Wirklichkeit und mit der Wirklichkeit auch das jeweilige Gegenüber verschwinden. Wenn Köves bekundet, er „habe von den Greueln nichts bemerkt“, reagieren die Anderen verstört, obwohl sie denselben Satz hätten äußern können. Sie reagieren verstört, weil dies mit dem stereotypen Bild, das sie vom Lager längst haben, nicht übereinstimmt und darum dieser Satz Köves sozusagen nicht zusteht. Dasselbe gilt, als Köves im Laufe einer immer gereizteren Diskussion bemerkt, dass – wie er selbst – auch sie „Schritte gemacht“ hätten.86 „Was für Schritte?“ lautet die verstörte Nachfrage von denen, die sich darauf berufen, dass sie nicht gewusst hätten, was sie hätten tun können. Schritte: In Auschwitz, erklärt Köves, sind das die Schritte, die dafür sorgen, dass sich die Reihe von Gefangenen ständig fortsetzt.87 Hinter den Dingen, die „kommen“, stehen immer Schritte, die einer tut. Im Lager, im Leben sind es immer nur die eigenen Schritte, so Köves, die nie ein „neues Leben beginnen“, sondern stets „das alte fortsetzen“.88 Genau an dieser Stelle – über das Wort „Schritt“, das in der unwiderruflichen Passivität auch eine aktive Verantwortung erkennt – macht Köves einen weiteren Schritt, den die Anderen nicht vollziehen wollen oder können, weil sie Angst haben, plötzlich als Schuldige dazustehen.89 Daraufhin geht Köves wieder weiter, allein, ohne Widerpart, und treibt auf der letzten Seite des Romans ohne jegliche Gegenstimme die durch die Lagerrealität hervorgetriebene Verkehrtheit sämtlicher ethischer Grundsätze auf die Spitze.

85 Ebda., S. 279f. 86 Ebda., S. 281 und 285. 87 Vgl. ebda., S. 281f. 88 Vgl. ebda., S. 284. 89 Vgl. ebda., S. 285. In der Diskussion des „Schritts“ am Ende des Romans eines Schicksallosen könnte m. E. auch eine Aktualisierung der semantischen Ausfaltung des „passo“ als Schritt, Engpass und wagemutiges Unternehmen („alto passo“) in der Commedia gelesen werden.

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7 Vom Glück der Konzentrationslager Das Ende des Romans ist aufgrund seines skandalösen Charakters berühmt geworden. Köves bekundet „Heimweh“ nach dem Lager. Denn „bei den Schornsteinen gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war“.90 Es ist die für ihn denkwürdigste Erfahrung, von der er eigentlich erzählen müsste, doch alle fragten ihn immer nur nach den „Greueln“. Wie ist dies jenseits der vordergründigen Provokation zu verstehen? Ist dies die letzte Konsequenz eines totalitären Raums? Köves hat die Lager überlebt. Aber überlebt nun in seiner Vorstellungswelt die Welt des Lagers als einzig vorstellbarer? Liegt die unheimliche Kraft des Lagers darin, Heimweh zu verursachen und damit den Zusammenfall von Sinn und Gegensinn des Wortes „Heim“ zu bestätigen und auf die Spitze zu treiben?91 Hinter der vordergründigen Provokation steht mehr: nämlich die Ambivalenz des Schritts. Einerseits treibt Köves mit diesem Schritt die im Roman systematisch betriebene Subversion unserer Vorstellung von einem Lager auf ihren Höhepunkt. Andererseits aber erweist sich dieser Schritt als eine unerhörte Regression. Unfähig, das Missverständnis auszuhalten und auszutragen, verfällt der Protagonist, kaum dass er sich von seinem Gegenüber abgewendet hat, einer Sehnsucht nach dem Ort, wo sämtliche Widersprüche ausgeschlossen waren, wo unter der totalen Herrschaft der Nazis eine vermeintliche Harmonie herrschte, in der man sich sozusagen zu Tode verstanden hat. Auch dies scheint eine Folge der rational nur schwerlich, vielleicht gar nicht nachzuvollziehenden, aber doch häufig zu beobachtenden affektiven Bindung an traumatische Erfahrungen zu sein.92 So präzise Köves’ Einspruch gegen die Sprache der Anderen ist, so tief bleibt seine eigene Sprache der Prägung durch das Lager verhaftet. Wenn es am Schluss heißt, dass es eigentlich darum gehen müsste, vom Glück der Konzentrationslager zu erzählen, dann ist damit nicht zuletzt eine weitere Schlaufe angekündigt, die zu artikulieren verstünde, was an dieser Erzählung die „unvermeidliche Falle das Glück“93 ausmacht. Damit werden zum einen die gleichsam idyllischen Beschreibungen des Lagers rekapituliert, die den Lagerterror ins Gegenrationale

90 Ebda., S. 286f. 91 Zur paradoxen Dialektik zwischen dem Heimlichen und dem Unheimlichen siehe Sigmund Freud: „Das Unheimliche“ (1919). In: Studienausgabe, Band IV, S. 241–274 sowie Jacques Lacan: Das Seminar. Buch X. Die Angst, S. 66: „[D]ie Definition des unheimlich [ist] die […], heimlich zu sein. Das was an der Stelle des Heim ist, das ist Unheim“. Zur Nähe von Heimat und Lager vgl. auch d. Verf.in: Trauma e nostalgia, v. a. S. 108–132. 92 Vgl. dazu insbesondere Kapitel I.5. 93 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 287.

7 Vom Glück der Konzentrationslager

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steigern, wie sie zum Beispiel in der folgenden Passage auffallen, in der erzählt wird, welches der erste Eindruck des Ich-Erzählers von Auschwitz war: Was ich auf diesem kurzen Weg von der Umgebung sah, fand alles in allem ebenfalls mein Gefallen. Im besonderen war ich über einen Fußballplatz sehr erfreut, auf einer gleich rechts vom Weg gelegenen großen Wiese. Ein grüner Rasen, die zum Spielen nötigen weißen Tore, weiß ausgezogene Linien – es war alles da, verlockend, frisch, in allerbestem Zustand und größter Ordnung.94

Noch abgründiger ist diese Passage: In der Zwischenzeit – hörte ich – sei man sehr freundlich zu ihnen [zu denjenigen, die gleich vergast werden sollen, Anm. d. Verf.], sie würden liebevoll umsorgt, die Kinder sängen und spielten Ball, und der Ort, wo sie vergast wurden, sei sehr hübsch gelegen, zwischen Rasenplätzen, Wäldchen und Blumenbeeten.95

Das gehört zum perversen Arrangement der Nazi-Lager und ist Teil ihrer Camouflage. Zum anderen, und gewichtiger noch, wird hiermit aber auch das Glück des Erzählens problematisiert. Denn es wird ja durch nichts anderes garantiert als durch die im Lager entstandene Sprache, gegen die sich der Erzähler doch zu wenden hätte. Der Überlebenswille des einzelnen Häftlings trägt, so Kertész’ strenge Schlussfolgerung, zum Fortbestehen des totalitären Systems bei: „[…] vorausgesetzt, daß der Mensch auch unter den Bedingungen des Totalitarismus am Leben hängt, so trägt er mit dieser Wesenheit zum Erhalt des Totalitarismus bei: Das ist der einfache Trick der Organisation.“96 Genau das führt Köves’ Erzählweise vor. Sie wird von Kertész strikt weitergeführt bis zu seinem letzten Roman Liquidation. Hier wird die kommunistische Diktatur in Ungarn als Fortsetzung der Lagerrealität bloßgestellt, aber mit dem Hinweis, dass allein sie das Überleben des Protagonisten Bé, der in Auschwitz geboren worden ist, garantiert hat. Das Ende der Diktatur bedingt darum den „philosophischen Selbstmord“97 des Protagonisten. „Der Vorwand zum Leben, der Überlebenszustand“ wird durch die

94 Ebda., S. 102. 95 Ebda., S. 124f. Eine ähnlich irritierende Sehnsucht nach dem Lager wird zum Beispiel auch von Liana Millu bekundet, wenn sie über das Glück ihres 1944 in Birkenau verbrachten Weihnachtsfests spricht: „[U]n’agnizione mi aveva sconvolta, mi ossessionava. Il Natale del ’44, il Natale di Lager era stato – ora me ne accorgevo – un Natale dolce, luminoso di speranze, caldo e di abbracci fiduciosi. Lo constatavo con spavento“ (dies.: „Guardare in un fondo dove striciano serpenti“, S. 57). 96 Imre Kertész: Galeerentagebuch, S. 29. 97 Imre Kertész: Liquidation, S. 25.

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Vorstellung aufgehoben, dass die ganze Welt jetzt plötzlich offen vor ihm liege.98 Es bliebe ihm jetzt nur noch übrig, „aus dem Gefängnis in den unendlichen Raum hinauszutreten, in dem sich alles auflöst und zerfällt […]“;99 „Und er hatte es satt, sich neue Gefängnisse zu suchen.“100 Überleben wird hier von Kertész weitergeschrieben als irreduzible Ambivalenz zwischen dem Einspruch gegen die Politik der Auslöschung und die gleichzeitige Anpassung an diese. Liquidation macht damit explizit, was den Roman eines Schicksallosen so ambivalent erscheinen lässt. Die Überlebenserzählung macht sich unweigerlich zum Komplizen dessen, gegen das sie anerzählen möchte. Das Glück des Erzählens impliziert das Unglück, dass dem so ist. Denn das Glück der Erzählung verdankt sich allein dieser – unglücklichen und zugleich glücklichen – Fügung, dass die Lagersprache als einzige zur Verfügung stehende Sprache sich zur Erzählung über das Lager eignet. In Liquidation wird daraus der Schluss gezogen, dass diese Erzählung selbst zurückgenommen – liquidiert – werden muss. Der Selbstmord des Schriftstellers Bé bedingt hier auch das Verbrennen seines Manuskripts durch seine ehemalige Frau Judit. Von Maurice Blanchot ist das Glück des Erzählens, das sich sogar noch in der unglücklichsten Erzählung einstellt, als der unvermeidlich „idyllische Zug“ jeder Erzählung, auch der Erzählung über Auschwitz gedeutet worden. Er schreibt: „L’Idylle, récit d’avant Auschwitz […] À quelque date qu’il puisse être écrit, tout récit désormais sera d’avant Auschwitz.“101 „D’avant Auschwitz“: Jede Erzählung ist in aussagelogischer Hinsicht vor Auschwitz geschrieben, selbst wenn sie historisch gesehen nach Auschwitz geschrieben worden ist. „D’avant Auschwitz“ kann aber auch im räumlichen Sinne heißen, dass die idyllische Erzählung bis vor das Tor von Auschwitz führt.102 Denn die Idylle, die sich wie ein roter Faden durch die europäische Literatur seit ihren Anfängen zieht, ist ebenso wie die Lagersprache eine falsche Sprache, aber als falsche Sprache stets die einzige zur Verfügung stehende Sprache: Sie kehrt immer wieder, sie macht vor keinem Ort Halt. All das sagt nicht so sehr etwas über eine vermeintlich idyllische Natur der Lager aus, sondern etwas über das europäische Paradigma der Idylle, das – radikal und wörtlich gelesen (dem griechischen Etymon eidyllion zufolge) – ein

98 Vgl. ebda., S. 106. 99 Ebda., S. 85. 100 Ebda., S. 106. 101 Maurice Blanchot: Après coup précédé par Le ressassement éternel. Paris: Minuit 1983, S. 99. 102 Vgl. dazu d. Verf.in: „Idyllen. Von Blanchot und Kofman zu Loridan-Ivens und Kertész“. In: Ottmar Ette (Hg.): Wissensformen und Wissensnormen des Zusammenlebens. Literatur – Kultur – Geschichte – Medien. Berlin: de Gruyter 2012, S. 142–153.

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Bildchen, einen blendenden Schein zur Schau stellt, der auch vor Auschwitz nicht Halt macht. An dieser Stelle erweist sich das Konzept des traumatisierten Raumes als eines, welches das Erzählen der Lager entscheidend betrifft. Wenn das Lager als ein letztlich nicht zu begrenzender Raum erscheint, so lässt sich auch die Rede davon nicht eindeutig bestimmen als eine Rede davor, danach oder darüber: Sie scheint immer schon vom Lager und dessen perverser Ordnung durchdrungen. Als eine solche Rede ist sie unentschieden wahr und falsch zugleich. Dieses Unbehagen bleibt unaufhebbar und führt dazu, dass jede Erzählung über Auschwitz, die Bestand hat, immer schon dabei ist, gegen sich selbst Einspruch zu erheben, ja, sich selbst zu liquidieren.

V Eine Raumtheorie des Lagers in Romanform. W. G. Sebalds Austerlitz À quoi bon la littérature? Einzig vielleicht dazu, daß wir uns erinnern und daß wir begreifen lernen, daß es sonderbare, von keiner Kausallogik zu ergründende Zusammenhänge gibt […].1

1 Orte als Übertragungsstätten W. G. Sebalds letzter zu seinen Lebzeiten erschienener Roman Austerlitz aus dem Jahre 2001 schildert in mehreren gestaffelten und Nachträglichkeit inszenierenden Erzählmomenten die bewegende Lebensgeschichte von Jacques Austerlitz. Als Historiker, dessen Spezialgebiet die europäische Baugeschichte des 19. Jahrhunderts ist, reist Austerlitz durch Europa, zunächst um die von ihm nach Wittgenstein benannten „Familienähnlichkeiten“ zwischen so unterschiedlichen Monumenten wie Festungsbauten, Justizpalästen und Bahnhöfen im Zeitalter der Industrialisierung zu ergründen; dann, nachdem er spät von seiner eigentlichen Herkunft aus Prag und der Deportation seiner Eltern erfahren hat, erweisen sich seine Forschungsreisen als Suche nach den Spuren seiner Mutter, die in Theresienstadt interniert war und von dort in ein Konzentrationslager „im Osten“ verschleppt worden ist, wo sie getötet wurde, sowie nach seinem Vater, dessen letzte Zeugnisse ins südfranzösische Lager Gurs führen. Die zweite Figur des Romans ist der in England lebende Ich-Erzähler, der Austerlitz Ende der 1960er Jahre im Wartesaal der Antwerpener Centraalstation kennenlernt und ihm in unregelmäßigen Abständen, im Laufe von mehr als 30 Jahren, zunächst zufällig, dann verabredet, an anderen Orten immer wieder begegnet. Austerlitz legt ihm nach und nach seine Lebensgeschichte dar, deren eigentliche Hintergründe er erst in den 1990er Jahren entdeckt, und er überträgt ihm am Ende des Romans schließlich sogar die weitere Spurensuche. Beide Protagonisten sind höchst idiosynkratische Charaktere. Austerlitz – und in ähnlicher Weise der Ich-Erzähler, der in mancher Hinsicht eine Art Doppelgänger ist – wird vielerorts von einem vagen, aber darum nicht weniger intensiven Unbehagen erfasst, das ihm diese Orte „verdunkelt“, ja zuweilen sogar als (lebens-)bedrohlich erscheinen lässt, obwohl an ihnen schlechterdings nichts passiert. Die Orte wirken, als seien sie von einer Katastrophe heimgesucht, die an

1 W. G. Sebald: Campo Santo. München: Hanser 2003, S. 247.

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diesen Orten nicht als Ereignis erzählt werden kann. Dies ist ein Motiv, das sich durch Sebalds gesamtes Werk zieht. Während in den früheren Texten – Schwindel, Gefühle (1990), Die Ausgewanderten (1992) und Die Ringe des Saturn (1995) – melancholische Charaktere auftauchen, die die Katastrophe als allgemeinen Zerstörungsprozess der Zivilisationsgeschichte reflektieren, verengt sich in Austerlitz die Perspektive zunehmend auf die Zerstörung, die die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nach sich gezogen hat. Doch trotz dieser historischen Konkretisierung, die Sebalds Auffassung von der Geschichte als einer „kontinuierlichen Katastrophe“2 erfährt, geht der Roman ausgesprochen zurückhaltend mit dem Vokabular um, das für die Thematisierung der Vernichtung der europäischen Juden ausgeprägt worden ist. Unter den vielen Orten, die der Roman evoziert, sind nur vier in expliziter Weise mit der Geschichte des Nationalsozialismus verbunden. Es handelt sich erstens um das Fort Breendonk in der Nähe von Antwerpen, zweitens um das KZ Theresienstadt in Tschechien, drittens um das KZ Gurs im Südwesten Frankreichs und viertens um das Fort XI in Kaunas in Litauen. Breendonk, Theresienstadt und Fort XI sind einst als militärische Festungsanlagen konzipiert worden und stehen damit architektonisch von Anbeginn „im Zeichen der Repression und Gewalt“.3 Das südfranzösische KZ Gurs war schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein großes Internierungslager für politische Flüchtlinge und Kämpfer des spanischen Bürgerkriegs. Unter der nationalsozialistischen Besatzung wurden alle vier Orte in Konzentrationslager bzw. Massenexekutionsstätten für Juden umgewandelt; an allen vier Orten befindet sich heute eine Gedenkstätte. Breendonk wird vom Ich-Erzähler zu Beginn und am Ende des Romans besucht; Theresienstadt steht in der Mitte des Romans. Dorthin begibt sich Austerlitz, nachdem er 1993 von seiner Herkunft aus Prag und seinen eigentlichen Eltern sowie von der Deportation der Mutter in dieses Lager überhaupt erst erfahren hat. Das Fort XI in Litauen wird am Ende des Romans allein durch des Ich-Erzählers Lektüre von Heshel’s Kingdom, einem Roman des südafrikanischen Autors Dan Jacobson, ins Spiel gebracht. Ebenso wie das KZ Gurs, das Austerlitz am Ende des Romans zu besuchen beabsichtigt, weist es über den eigentlichen Erzählrahmen in signifikanter Weise hinaus.4

2 Walter Benjamin: „Zentralpark“. In: Gesammelte Schriften, Band I.2, S. 655–690, hier: S. 683. 3 Vgl. Wolfgang Sofskys Beobachtung zu den frühen NS-Lagern, die vornehmlich in „Monumenten totaler Organisationen: Arbeits- und Zuchthäuser, Wehrschlösser, Klöster“ eingerichtet wurden. „Meterdicke Mauern und Festungstürme, lange Durchgänge und niedrige Gewölbe, Zellen und Eisengatter, die Architektur war selbst ein Zeichen der Repression und Gewalt“ (ders.: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a. M.: Fischer 1993, S. 62). 4 Vgl. W. G. Sebald: Austerlitz. München: Hanser 2001, S. 416. Judith Ryan weist darauf hin, dass über den Verweis auf Jacobsons Roman am Ende von Austerlitz Holocaust und Kolonialismus eng

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V Eine Raumtheorie des Lagers in Romanform. W. G. Sebalds Austerlitz

Nicht nur das litauische Lager ist literarisch vermittelt; für die Passagen in Breendonk steht Jean Amérys Zeugenschaft Pate, der 1930 dort von der SS und der Gestapo gefoltert worden ist;5 das Konzentrationslager Theresienstadt wird über lange Zitate aus H. G. Adlers Abhandlung Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft vergegenwärtigt. Als der Ich-Erzähler zum ersten Mal gleich zu Beginn des Romans die Gedenkstätte Breendonk besucht, durchzuckt ihn ein Schrecken eigentümlicher Art: Er starrt dort in ein grubenartiges Verlies, und plötzlich blitzt die Erinnerung an das Waschhaus und die Metzgerei in W. auf – mit der vermutlich die deutsche Kleinstadt gemeint ist, in der er seine Kindheit verbracht hat. Waschhaus und Metzgerei haben objektiv gesehen nichts mit der dokumentierten Gewalt in Breendonk zu tun; beide Realitäten werden nichtsdestoweniger narrativ für einen Augenblick enggeführt. Auch und insbesondere in Austerlitz’ Rede werden auf derartig assoziative Weise die wenigen explizit im Roman erwähnten nationalsozialistischen Lager mit einer langen Reihe anderer Orte in Verbindung gebracht, und zwar mit den von Austerlitz studierten und besuchten Orten wie dem Brüsseler Justizpalast, den Bahnhöfen in Antwerpen, Prag, London und Paris, aber auch dem Kurort Marienbad, dem Veterinärmuseum in Maisons-Alfort in der Nähe von Paris, der Bibliothèque Nationale de France und anderen mehr. An diesen Orten gibt es keine Gedenkstätten; allein das seismographische Gespür von Austerlitz artikuliert an ihnen ein unbestimmtes Unbehagen. Der Roman verschränkt die beiden hier getrennt aufgeführten Serien auf subtile Weise miteinander, und zwar sowohl auf der Ebene der histoire als auch auf der Ebene des discours. Im Folgenden soll vor allem interessieren, wie diese Verschränkung jenseits einer rein subjektiven Assoziation von Seiten eines fiktiven Charakters auch narrativ und poetisch intersubjektiv intelligibel gemacht wird. Denn genau diese Frage hat uns auch schon im zweiten Kapitel beschäftigt, angesichts der eigenen Assoziation des Traums vom brennenden Kind mit Aspekten, die die Auseinandersetzung mit dem Holocaust betreffen. Sie steht nicht zuletzt im Zentrum des Konzepts des traumatisierten Raums, mit dem die Durch-

aufeinander bezogen werden. Genau diese Engführung findet auch schon zu Beginn von Austerlitz statt, und zwar in den Erzählpassagen, die dem Antwerpener Bahnhof gewidmet sind. Vgl. Judith Ryan: „Kolonialismus in W. G. Sebalds Roman Austerlitz“. In: Axel Dunker (Hg.): (Post-) Kolonialismus und Deutsche Literatur: Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 267–282. 5 Jean Améry: „Die Tortur“. In: ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten (1966). Stuttgart: Klett-Cotta 1977 (Neuausgabe), S. 46–73.

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dringung des zivilen Raums durch das Phantasma des Lagers untersucht werden soll. Im Unterschied zu Levi und Kertész geht es bei Sebald weder um die Darstellung einer autobiographischen noch einer fiktiven Erfahrung eines Lagerhäftlings. Mit Austerlitz wird eine Figur ins Spiel gebracht, die nicht selbst in ein Lager deportiert worden ist, deren Lebensgeschichte nichtsdestoweniger maßgeblich durch die Lager beeinträchtigt worden ist.6 Dies betrifft sowohl den Verlust seiner Eltern, die von den Nazis getötet worden sind, als auch den Verlust seiner tschechischen Heimat. Mit einem Kindertransport des Roten Kreuzes ist Austerlitz nach England gerettet worden und dort unter dem Namen Dafydd Elias als Adoptivsohn eines melancholischen walisischen Predigers und seiner kranken Frau aufgewachsen, ohne lange Zeit überhaupt etwas über seine eigentliche Herkunft zu wissen. Mit dem Ich-Erzähler kommt hingegen eine Figur ins Spiel, die ihre Kindheit scheinbar unbeschadet in Nazideutschland verbracht hat und im Erwachsenenalter nach England ausgewandert ist. Beide Figuren zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich der Geschichte aus einer nachträglichen Perspektive nähern. Dies gilt insbesondere für Austerlitz, dessen Kindheitstrauma lange Zeit unerinnert, aber freilich nicht ohne Auswirkungen geblieben ist. Erst sehr spät erfährt er von seiner eigentlichen Identität. Auch wenn er daraufhin versucht, die Ereignisse seiner Kindheit zu rekonstruieren, bleibt entscheidend, dass die Narration vor allem die anhaltenden Wirkungen des Kindheitstraumas auf der psychischen Ebene des Protagonisten in den Blick nimmt. Wichtig darüber hinaus ist die Tatsache, dass mit Austerlitz die Figur des Historikers thematisiert wird und auf diese Weise unterschiedliche Arten, die Geschichte zu erzählen, verhandelt werden. Im Roman werden eine Reihe geschichtsphilosophischer Theoreme entfaltet, die hier nicht wissenschaftlich, sondern narrativ artikuliert werden und die für ein Verständnis von Geschichte als traumatisierter entscheidend sind. Zwei solcher Theoreme sollen im Folgenden näher betrachtet werden. Für eine weitere philologische Zuspitzung des Konzepts des traumatisierten Raums erscheinen sie mir grundlegend: Es handelt sich zum einen um den am Anfang des Kapitels schon genannten Wittgensteinschen Begriff der „Familienähnlichkeit“, zum anderen um das geometrische Konzept der Stereometrie. Austerlitz bringt beide ins Spiel, wenn er seine eigenen Raum- und Geschichtsvisionen erläutert. Beiden Konzepten scheint mir darüber hinaus im-

6 Zur Problematik der transgenerationellen Übertragung des Traumas siehe vor allem die Arbeiten von Marianne Hirsch: „The Generation of Postmemory“. In: Poetics Today, 29:1 (Spring 2008), S. 103–128 (hier insbes. die Ausführungen zu Sebalds Austerlitz und die Rolle der Photographie als Übertragungsmedium), sowie dies.: The Generation of Postmemory. Visual Culture after the Holocaust. New York: Columbia University Press 2012.

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V Eine Raumtheorie des Lagers in Romanform. W. G. Sebalds Austerlitz

plizit eine Theorie der Signatur zugrunde zu liegen, deren Ursprünge in der frühen Neuzeit liegen und die Sebald für eine poetologische Erkundung der Verbrechen des 20. Jahrhunderts und der weitverzweigten Spuren, von der die Landkarte Europas bis heute nachhaltig gezeichnet ist, aktualisiert.

2 Familienähnlichkeit, Signatur, Stereometrie Austerlitz’ methodisches Vorgehen beim Verfassen seiner Baugeschichte des 19. Jahrhunderts steht im Zeichen von Wittgensteins Sprachphilosophie. Er bekundet, dass es ihm darum geht, die „Familienähnlichkeiten“ herauszuarbeiten, die „zwischen all diesen Gebäuden“ bestehen, die in der „kapitalistischen Ära“ entstanden und von einem Baustil geprägt sind, der sich insbesondere durch „den Ordnungszwang und den Zug ins Monumentale“ auszeichnet und sich bevorzugt in „Gerichtshöfen, Strafanstalten, in Bahnhofs- und Börsengebäuden, in Opern- und Irrenhäusern und den nach rechtwinkligen Rastern angelegten Siedlungen für die Arbeiterschaft“ manifestiert.7 Dabei geht es Austerlitz weniger um jedes einzelne Bauwerk denn vielmehr um das Netz, das sich zwischen ihnen aufspannt: Es betrifft die Logistik, z. B. das „gesamte System der Eisenbahnen“,8 aber auch die Ebene des Affekts. Austerlitz spricht von „unbegreiflichen Gefühlsströmungen“,9 die diese einzelnen Orte durchziehen, sie miteinander verbinden und die überhaupt erst dank seines Verfahrens erkennbar werden. Wittgenstein bezeichnete in seinen Philosophischen Untersuchungen (1953) als „Familienähnlichkeit“ Eigenschaften von Begriffen, die mit einer taxonomischen Klassifikation nicht hinreichend erfasst werden. Sein Konzept beruht auf der Beobachtung, dass Begriffe häufig nicht fest definiert werden können, sondern verschwommene, unscharfe Grenzen ausbilden. Am Beispiel der Begriffe „Sprache“, „Spiel“ und „Sprachspiel“ illustriert Wittgenstein sein Konzept. Er unterstreicht, dass es keine allgemeinen Merkmale gibt, die für alle Sprachen, Spiele und Sprachspiele Geltung beanspruchen können. Zwar gibt es Wittgenstein zufolge einige Sprachen, Spiele und Sprachspiele mit gemeinsamen Merkmalen, die aber mit anderen Sprachen, Spielen und Sprachspielen wiederum keine Gemeinsamkeiten aufweisen. So lassen sich „Brettspiele“, „Kartenspiele“, „Ballspiele“ und „Kampfspiele“ nicht taxonomisch klassifizieren und in eine hierarchische

7 W. G. Sebald: Austerlitz, S. 48. 8 Ebda., S. 49. 9 Ebda.

2 Familienähnlichkeit, Signatur, Stereometrie

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Gruppe fassen. Sie sind Wittgenstein zufolge allein über „Familienähnlichkeiten“ miteinander verwandt.10 Damit führt Wittgenstein ein Prinzip der Gruppenbildung ins Feld, das nicht vertikal und hierarchisch ausgerichtet ist, sondern – horizontal sich verzweigend – zu einem taxonomischen Ordnungsprinzip quer steht. Man hat Wittgensteins Konzept darum auch als eine grundsätzliche Zurückweisung des naturwissenschaftlichen Exaktheitsideals verstanden, das für die Definition eines Begriffs sowie für die Behauptung einer Verwandtschaft zwischen zwei Begriffen notwendige und hinreichende Bedingungen erfordert. Die „Familienähnlichkeiten“ gemahnen hingegen an ein Denken in Korrespondenzen, das das Denken der Frühen Neuzeit prägte und dann im Zuge einer zunehmenden Rationalisierung der Wissenschaften verdrängt worden ist. Michel Foucaults Geschichte der Ordnung und Ordnungsprinzipien Les mots et les choses (1966) stellt eindrücklich dar, wie dieses Denken in Korrespondenzen davon ausging, dass Dinge – auch über große Distanzen und große Differenzen hinweg – miteinander in Beziehung stehen. Wo dieses Denken wissenschaftlich verdrängt worden ist, spielt es im Bereich der Künste bis heute eine große Rolle. Denn das Denken in Korrespondenzen, das sich in konkreten Räumen, wie zum Beispiel der frühneuzeitlichen Wunderkammer, artikuliert, ist nicht zuletzt in moderne artistische MontageTechniken eingegangen. Lautréamonts vielzitierte Äußerung von der Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch ist zum Leitsatz eines künstlerisch erkennenden Verfahrens im 20. und 21. Jahrhundert geworden. Dessen Kraft liegt insbesondere darin begründet, stets aufs Neue einen fremden und überraschenden Blick auf die Welt zu eröffnen, der gerade dort Ähnlichkeiten erkennt, wo auf den ersten Blick keine zu sehen sind. Foucault unterscheidet in der frühneuzeitlichen Wissenskultur vier Typen solcher unsichtbaren Ähnlichkeiten: die convenientia als eine Ähnlichkeit, die sich über eine räumliche Nähe erschließt; die aemulatio als eine ortsentbundene Ähnlichkeit, die über Spiegelreflexe in der Welt verstreut liegende Dinge aufeinander antworten lässt; die analogia als einer Synthese aus convenientia und aemulatio, aufgrund der es möglich wird, dass ein Punkt unendlich viele Verwandtschaftsverhältnisse eingehen kann; und schließlich die simpatia, die Ähnlichkeit auf die Gravitation und damit auf die Berührung zurückführt.11 Wie und wo wir diese unsichtbaren Ähnlichkeiten erkennen können, erschließt sich erst durch die Signatur, die das sichtbare Erkennungszeichen einer

10 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (1958). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, siehe vor allem § 66–71, S. 48–50. 11 Vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses, S. 32–40.

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unsichtbaren Ähnlichkeit ebenso wie die Methode, dieses zu lesen, gleichermaßen bezeichnet. Dieser Zeichentheorie liegt die Verdopplung als Prinzip zugrunde: Die Signatur zeigt die Ähnlichkeit an, und umgekehrt erweist sich unter den vielen Zeichen und Merkmalen genau dasjenige Zeichen als Signatur, dessen Zeichenwert die Ähnlichkeit ist.12 In der Signatur überlagern sich eine Hermeneutik der Ähnlichkeiten und eine Semiologie, welche ergründet, wie Zeichen instituiert werden und miteinander in Verbindung treten. Foucault bemerkt, dass das Schriftzeichen darin eine „Kerbe“ bildet, welche verhindert, dass die Hermeneutik und die Semiologie je zur Deckung kommen. Vielmehr entsteht am Schriftzeichen ein Denken, das den Abstand zwischen beiden „par un zigzag indéfini“ auszuschreiten hat.13 Giorgio Agamben hat im Rahmen seiner Reflexion über die Methode in den Geisteswissenschaften die Theorie der Signaturen aktualisiert. Er hat dabei die Kluft zwischen Hermeneutik und Semiologie, die Foucault festgestellt hat, mit Benvenistes Überlegungen zur „double signifiance“ in Verbindung gebracht. Mit „double signifiance“ bezeichnen Benveniste und mit ihm Agamben den Hiat, der zwischen dem Zeichen und dem Diskurs, bzw. zwischen dem einzelnen Wort in seiner Zeichenhaftigkeit und der Botschaft einer Rede, die nicht einfach durch die Addition der einzelnen Worte gewonnen werden kann, besteht.14 Dem Wort gilt somit eine andere Annäherung als der Botschaft. Benveniste schreibt, dass das Wort als Zeichen für etwas erkannt und anerkannt, während die Botschaft verstanden werden muss. Zwischen beiden besteht kein fließender Übergang, sondern ein Sprung. Genau in diesem Sprung hat nun die Theorie der Signaturen ihren Platz. Agamben formuliert dies so: „Die Zeichen sprechen nicht, wenn die Signaturen sie nicht zum Sprechen bringen.“15 Darin wird jene Verdopplungsstruktur hervorgehoben, die auch Benvenistes „énonciation“ zugrunde liegt und die den Blick von der Frage der Referenz der Zeichen auf den Wirkungsüberschuss des Zeichens verlegt, der durch den Verdopplungseffekt der Rede provoziert wird und der nicht in der Botschaft des Diskurses aufgeht. Um einen solchen Überschuss innerhalb des Zeichens, das zur Zeichenhaftigkeit des Zeichens nichts beiträgt, es sei denn, dass es das Zeichen zeichnet, geht es, wenn Agamben schreibt:

12 Vgl. ebda., S. 44. 13 Vgl. ebda., S. 45. 14 Giorgio Agamben: Signatura rerum, S. 41–100; Émile Benveniste: „Sémiologie de la langue“ (1969). In: ders.: Problèmes de linguistique générale. Paris: Gallimard 1974, Band 2, S. 43–66. 15 Giorgio Agamben: Signatura rerum, S. 76.

2 Familienähnlichkeit, Signatur, Stereometrie

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… die Signaturen bilden […] keine semiotischen Relationen aus und schöpfen keine neuen Bedeutungen; vielmehr bezeichnen sie die Zeichen auf der Ebene ihrer Existenz, markieren sie mit ihrem ‚Charakter‘ und aktualisieren und verschieben so ihre Wirksamkeit.16

Ehe ich auf die Implikationen dieser Methode, Ähnlichkeitsbeziehungen zu erkennen, für die Poetik von Sebalds Roman einerseits und andererseits für eine Philologie, die sich der Frage des latenten Nachwirkens von Traumata im Raum widmet, genauer eingehe, soll hier zunächst das zweite, ebenfalls durch den Protagonisten ins Spiel gebrachte Theorem der Stereometrie erörtert werden: [Austerlitz erklärt] Es scheint mir nicht […], daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können […].17

Bezeichnend für Sebalds Erzählverfahren ist auch an dieser Stelle, dass ein solches wissenschaftliches Theorem in einer insgesamt affektgeladenen Sprache formuliert wird. „Klarheit der logischen Überlegungen“ und „Verwirrung der Gefühle“ gehen bei Austerlitz in eins, wie im Übrigen bei Wittgenstein, über den im Roman genau diese Aussage getroffen wird – auch hier besteht also eine „Familienähnlichkeit“.18 Affektgeladen erscheint hier eine geschichtsphilosophische Aussage, die vornehmlich räumlich argumentiert. Sie argumentiert räumlich, und das ist entscheidend, nicht weil die Zeit meist über räumliche Metaphern versinnbildlicht wird, sondern weil die Zeit als eine ausgesetzte vorgestellt wird. Es ist, „als gäbe es überhaupt keine Zeit“. Die Zeit ist in ihrer Wirksamkeit ausgesetzt, sie ist gleichsam abwesend. Der Raum symbolisiert hier nicht die Zeit, sondern er setzt sich an die Stelle der Zeit. Geschichte wird nicht mehr als eine Abfolge von Ereignissen aufgefasst, die auf einem Zeitstrahl markiert werden könnten; sie besteht vielmehr aus ineinandergeschobenen Räumen: aus Räumen, in denen die Toten, die einstigen Akteure der Geschichte, weiterhin herumgeistern, sowie aus Räumen, in denen sich die Lebenden zu orientieren versuchen. Beide Arten von Räumen sind in Austerlitz’ Formulierung nicht klar voneinander

16 Ebda., S. 79. 17 W. G. Sebald: Austerlitz, S. 265. 18 Ebda., S. 60. Wichtig in diesem Zusammenhang ist nicht nur die vom Ich-Erzähler bemerkte physiognomische Ähnlichkeit zwischen Austerlitz und Wittgenstein, sondern auch der Hinweis, dass Wittgensteins „Klarheit seiner logischen Überlegungen“ mit der „Verwirrung seiner Gefühle“ eng einhergehe.

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getrennt, sie sind ineinander verschachtelt. So gibt es Zonen des Übergangs, in denen nicht mehr klar ist, in welchem Raum man sich eigentlich befindet. Austerlitz’ suggestive, ja poetische Formulierung, die nicht zuletzt an die lange Tradition literarischer Jenseitsreisen anknüpft, welche mit Dante Alighieris Commedia im nächsten Kapitel ins Zentrum rückt, umreißt in trefflicher Weise die Wirkung des Traumatischen. Das Trauma setzt die Zeit in ihrer verändernden Wirkung außer Kraft. Das Vergangene vergeht nicht, wird zu keiner geschichtlichen Erfahrung, sondern bleibt, obwohl vergangen, präsenter als jede Gegenwart. Diese Wahrnehmung erweist sich als weitgehend resistent gegen jede Form von Realitätsprüfung. Sie neigt deshalb dazu, sich zunehmend zu verselbständigen. Vor dem Hintergrund des bislang Gesagten verfolge ich nun ein doppeltes Anliegen. Zunächst soll gezeigt werden, inwiefern die von Austerlitz formulierten Theoreme für die narrative Poetik des Romans fruchtbar gemacht werden. Dann sollen die beiden, von Austerlitz ja noch getrennt dargelegten Theoreme zusammengeführt, von der spezifischen Idiosynkrasie und Lebensgeschichte des Protagonisten sowie von seiner metaphernreichen Sprechweise abgerückt werden, mit dem Ziel, daraus ein philologisches Leseverfahren abzuleiten, mit dessen Hilfe das latente Nachwirken der Vorstellung eines Lagers in Orten, die selbst kein Lager sind und auch nicht bewusst mit einem Lager in ein Ähnlichkeitsverhältnis gebracht werden können, intelligibel gemacht werden soll. Am Beispiel der neuen Pariser Nationalbibliothek, die gegen Ende von Austerlitz ins Spiel kommt, soll dies vorgeführt werden. Das Leseverfahren setzt bei der Analyse des Romans an, um dann aber auch nicht-literarische Quellen in den Blick zu nehmen.

3 Topographie, Toponymie, Inschrift Der erste und prominenteste Signifikant im Roman, der der Logik der „Familienähnlichkeit“ unterworfen ist, ist „Austerlitz“. Die identitätsstiftende Funktion dieses Namens wird im Laufe des Romans zunehmend verunsichert. Auch wenn die Leser den Protagonisten unter dem Namen Jacques Austerlitz kennenlernen, erfahren sie doch bald, dass er seine Kindheit und einen Teil seiner Jugend als Dafydd Elias im Haus eines calvinistischen Predigers an der walisischen Küste verbracht hat. Im Alter von 15 Jahren wird ihm vom Direktor des Internats von Stower Grange, in dem er seine Schulausbildung erhält, mitgeteilt, dass sein eigentlicher Name Jacques Austerlitz laute. Dieser Name ist zunächst ein unverständliches Fremdwort. Denn dort, wo der Protagonist aufwächst, heißt niemand so. Demjenigen, der gerade dabei ist, ihn als seinen eigenen annehmen zu müssen, sagt er schlechterdings gar nichts. Er bildet eine Leerstelle – eine Leer-

3 Topographie, Toponymie, Inschrift

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stelle, die sich bestens dafür eignet, mit Bedeutungen aufgefüllt zu werden. Diese werden auch kurz darauf geliefert, wieder durch die Instanz der Schule, nun von Austerlitz’ verehrtem Geschichtslehrer André Hilary. Dessen Lehreinheiten über Napoleons Herrschaft über Europa vermitteln dem Protagonisten ein erstes „Wissen“ über diesen, seinen fremden Namen: Unabdingbar verknüpft sich der Name daraufhin im Gedächtnis des Protagonisten, wie dies im Gedächtnis eines einigermaßen gebildeten Lesers längst der Fall sein dürfte, mit Napoleons militärischem Triumph in der Schlacht von Austerlitz im Jahre 1805. Dies ist der erste Moment, in dem der Name Austerlitz „ähnlich“ gemacht wird. Die semantische Verknüpfung des Namens mit der Schlacht trägt maßgeblich dazu bei, dass aus dem jungen Protagonisten später ein exzellenter Historiker wird, der insbesondere das 19. Jahrhundert wie seine Westentasche kennt. Doch zugleich ist diese Absorption des Eigennamens durch die große Geschichte des 19. Jahrhunderts dafür verantwortlich, dass dem Protagonisten andere Implikationen seines Namens – zum Beispiel auch die Frage nach seiner Familiengeschichte – zunächst ganz aus dem Blick geraten und erst viel später von ihm rekapituliert werden. Hätte Austerlitz zum Beispiel die Geschichte der jüdischen Familiennamen studiert (was er nicht tut und der Roman thematisiert diese Geschichte nur indirekt), hätte er erfahren, dass diejenigen jüdischen Familiennamen, die sich von Ortsnamen ableiten, häufig das Ergebnis einer administrativen Registrierung sind, die im 17. Jahrhundert begonnen hat und im Zuge derer die Juden, die ja in der Regel keinen Familiennamen trugen, qua Zuweisung eines solchen nach ihrer Herkunft verzeichnet wurden.19 Der Name Austerlitz bezeichnet dabei allerdings nicht diejenige Person, die in Austerlitz wohnt (was zur Folge gehabt hätte, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Bewohner eines Ortes denselben Namen getragen hätten), sondern diejenige, die aus Austerlitz kommt, aber inzwischen woanders angesiedelt worden ist. Damit zeugt der Name Austerlitz wie viele andere jüdische Familiennamen von zwei einander gegenläufigen Tatsachen: Erstens davon, dass es bis ins 17. Jahrhundert im mährischen Austerlitz eine wichtige jüdische Gemeinde gegeben hat;20 und zweitens, dass zum Zeitpunkt der Namenszuteilung längst eine Vertreibung, Umsiedelung bzw. Versprengung die-

19 Siehe zu diesem Aspekt vor allem Nelly Weiss: The Origin of Jewish Family Names. Morphology and History. Bern, New York: Peter Lang 2002. 20 Vgl. Marcel Atze: „Die Gesetze der Wiederkunft der Vergangenheit. W. G. Sebalds Lektüre des Gedächtnistheoretikers Maurice Halbwachs“. In: Franz Loquai (Hg.): Sebald. Lektüren. Eggingen: Edition Isele 2005, S. 195–211, hier: S. 203. Atze zitiert ausführlich den Artikel von Josef Heller: „Austerlitz“. In: Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. Berlin: Eschkol 1929, Band 3, Spalten 736–737.

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ser jüdischen Gemeinde stattgefunden hat. Der Name bezeugt die Zugehörigkeit zu einem Ort, zugleich ist er Zeugnis einer unwiderruflichen Privation und Vertreibung. Austerlitz, so ließe sich schon an dieser Stelle formulieren, ist der Name für eine „Familienähnlichkeit“, die es überhaupt nur gibt aufgrund eines administrativen und politischen Zwangs zur Gruppenbildung von vertriebenen und versprengten Personen. Der Name Austerlitz wird somit lesbar als jener Punkt, an dem die Genealogie immer schon Gefahr läuft, von einer Politik mit der Geographie, kurzum: von der Geopolitik ausgelöscht zu werden. Diesem Sachverhalt fügt Sebalds Roman noch eine weitere Dimension hinzu, die dann wirksam wird, wenn Austerlitz auf der Spurensuche nach seinem Vater nach Paris und dort an die Gare d’Austerlitz und das einst dort gelegene Camp d’Austerlitz gelangt. Denn hier verwandelt sich die im Namen angelegte topographische Referenz in eine toponymische, die ihrerseits zu einer weiteren räumlichen Verschiebung und Dissemination von Bezügen und Bedeutungen beiträgt. Wenn man heute das Schicksal der europäischen Juden mit einem Ort verbindet, so heißt dieser nicht Austerlitz, aber beinahe. Der andere, im Roman ungesagte Name klingt darin nur als Paronomasie an. Er ist darin gleichsam suspendiert und in solcher Weise nichtsdestoweniger wirksam: Er insistiert darin, ohne sich je ganz zu manifestieren. Er ist darin latent im Sinne einer besonderen Abwesenheit, die immer schon eine hochwirksame und mithin insistierende ist. Das zentrale Wort, der symbolische Name für die Vernichtung fehlt, aber er ist zugleich allgegenwärtig, insofern er zwar nicht ganz, aber doch fast dem Namen des Protagonisten buchstäblich eingeschrieben ist.21 Austerlitz’ Spurensuche, die die späte Wiedererinnerung seiner Prager Kindheit ebenso umfasst wie das spät erlangte, fragmentarisch bleibende Wissen über die Deportation seiner Eltern, ist als ein unaufhörliches Umkreisen dieses blinden Punktes, der in seinen eigenen Namen eingeschrieben ist, konzipiert. Die Referenz des Namens, ob diese nun geographischer, genealogischer oder auch toponymischer Natur ist, wird dabei im Roman durch einen weiteren Modus durchkreuzt: denjenigen der Inschrift, einer Art negativen Signatur, die durch kein referentielles Repräsentationsmodell mehr erfasst wird, ja durch die vielmehr alle Referenzen außer Kraft gesetzt werden. Wie diese Inschrift, die Referenz durchstreicht, wirkt, zeigt sich zum Beispiel in eindrücklicher Weise in der Erzählpassage, die Austerlitz’ Aufenthalt im Jahr 21 Mark Anderson spricht in Bezug auf Sebalds Roman von einem „Holocaust-in-absence“: „[I]t is everywhere and nowhere, at once metonymy and allegory of the darknesses in all of modern European history“ (ders.: „The Edge of Darkness: On W. G. Sebald“. In: The New England Quarterly (2003), S. 102–121, hier: S. 105).

3 Topographie, Toponymie, Inschrift

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1972 in Marienbad evoziert. Ausgerechnet in Marienbad, dem Kurort, der zur Genesung beitragen sollte, wird Austerlitz von einem heftigen und unheimlichen Unwohlsein heimgesucht. Den Lesern wird dafür erst nachträglich eine halbwegs plausible psychologische Erklärung geliefert, wenn erzählt wird, dass Austerlitz als Kind mit seinen Eltern eine Reise in dieses berühmte Bad unternommen hatte, und zwar kurz bevor der Vater exilierte, kurz bevor er selbst mit einem Kindertransport nach London gebracht und kurz bevor seine Mutter nach Theresienstadt deportiert wurde. Trotz der nachgeschobenen Darlegung dieser Umstände durch den übergeordneten Erzähler muss Austerlitz’ Unbehagen in Marienbad – daß mir irgend etwas Unbekanntes hier in Marienbad das Herz umdrehe, etwas ganz Naheliegendes, wie ein einfacher Name oder eine Bezeichnung, auf die ich mich nicht besinnen kann, um nichts und niemanden auf der Welt;22 […] daß es mir schien, als wüßten die stummen Fassaden der Häuser etwas Ungutes über mich“23 –

den Lesern unverständlich bleiben, solange sie dessen Ursachen nur auf der inhaltlichen Ebene der Ereignisse suchen. Auch die in Sebalds Erzählweise stets mitlaufende intertextuelle Ebene, die in dieser Passage Reminiszenzen an Goethe, Kafka und Alain Resnais einspielt, vermag hier nicht wirklich Anhaltspunkte für das extreme Unbehagen des Portagonisten zu liefern.24 Stattdessen wird diesseits der intertextuellen Verrätselung auf der Oberfläche des Textes über unterschiedliche Signalworte Marienbad blitzartig mit Theresienstadt zu einer einzigen Realität zusammengezogen. Die Nazis hatten – der Roman erinnert daran – dieses Lager als einen für die Juden bestimmten „böhmischen Luftkurort namens Theresienbad mit schönen Gärten, Spazierwegen, Pensionen und Villen“ camoufliert.25 Noch ein weiteres sprachliches Detail sorgt für die blitzartige Überblendung von Marienbad mit dem NS-Vernichtungssystem: So wird erzählt, wie Austerlitz eine Gruppe von Kurgästen – „auffallend untersetzte, leicht vornübergebeugte 22 W. G. Sebald: Austerlitz, S. 304. 23 Ebda., S. 308. 24 Vgl. für eine Analyse des intertextuellen Spiels in dieser Passage Peter Schmucker: Grenzübertretungen. Intertextualität im Werk von W. G. Sebald. Berlin, New York: de Gruyter 2012, S. 479–495. 25 W. G. Sebald: Austerlitz, S. 339 (Hervorhebung von mir). Zum Aspekt der Camouflage siehe wiederum Kertész (Kapitel V.2) sowie die bei Sebald ausführlich zitierte Abhandlung von H. G. Adler: Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, S. 108f. Die enorme Wirkung solch verbergender Rede zeigt sich zum Beispiel in der Tatsache, dass zahlreiche Juden riesige Summen – bis zu 500 000 Reichsmark – bezahlt haben, um sich das Anrecht auf eine dauerhafte Bleibe in ihrem zukünftigen Luxus-Altersheim Theresienbad zu sichern.

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Gestalten“26 – beobachtet, die ständig damit beschäftigt sind, das Wasser der sogenannten Auschowitzer Heilquellen zu trinken.27 Auschowitz ist der einstige Name der Marienbader Quellen, deren therapeutische Kraft gegen Ende des 18. Jahrhunderts von der österreichisch-ungarischen Kaiserin Maria Theresia entdeckt worden war. In ihrem Doppelnamen vereinigen sich abermals die beiden Realitäten Marienbad und Theresienstadt zu einem untrennbaren Kompositum, gleichsam um diese an sich unausgesprochene, aber stets miterzählte „Familienähnlichkeit“ zwischen den beiden Orten ihrerseits noch einmal zu signieren. Jedenfalls wird deutlich, dass es nicht so sehr inhaltliche oder intertextuell vermittelte, sondern vor allem Bezüge auf der Ebene der Signifikanten sind, genauer eine unentwirrbare Kombination aus phonetischen, buchstäblichen und wörtlichen Ähnlichkeiten zwischen Marienbad und Theresienbad und Theresienstadt, zwischen Kurbad und Lager, zwischen Auschowitz und Auschwitz, die auf der Ebene des discours Austerlitz’ Unwohlsein in eine Leseerfahrung übersetzen. Sebalds Erzählprosa gibt den Lesern in solchen Momenten eine Erfahrung vom Drängen des Buchstäblichen, von der Tatsache, dass das Signifikante als Inschrift immer auch ins Signifizierte eingeht – es signierend durchstreicht.28 Die explizite Auslassung und zugleich latente Präsenz des Ortsnamens, der meist stellvertretend für die unzählbare Menge von Vernichtungsorten genannt wird, erweist sich als narratologischer Kunstgriff, um aus einer radikalen Position der Nachträglichkeit, die Sebalds Fiktionen einnehmen, eine latente Allpräsenz zu evozieren. Zugleich aber schafft diese Auslassung den notwendigen Abstand, der es überhaupt möglich macht, dass es eine Erzählung gibt, eine Erzählung, die nicht sogleich von Auschwitz verbrannt wird.

4 „Lager“ und seine Abkömmlinge Die phonetisch-buchstäbliche Verknotung und gegenseitige Infragestellung von Bedeutungen im Namen Austerlitz wird von einer weiteren Wortkette durchkreuzt, die sich gleichermaßen durch den latenten Mittransport von Affekten ausweist. Den Verknüpfungspunkt ihrer Elemente bildet der Signifikant „Lager“. Die diese Kette auszeichnende Überdeterminiertheit wird nicht – wie noch im Falle des Namens „Austerlitz“ – durch Quasi-Homophonie, sondern nun durch eine über Komposita und Derivation beförderte Homonymie produziert. Die Witt26 W. G. Sebald: Austerlitz, S. 309. 27 Ebda., S. 306, wo die Auschowitzer Quellen wörtlich genannt werden, und S. 309, wo sie als „Quellwasser“ wieder aufgerufen werden. 28 Vgl. Jacques Lacan: „L’instance de la lettre dans l’inconscient …“, hier: v. a. S. 257.

4 „Lager“ und seine Abkömmlinge

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gensteinsche „Familienähnlichkeit“ erweist sich dabei abermals als eine buchstäblich in die Sprache übertragene „Zwangsgemeinschaft“. Für eine genauere Analyse soll zunächst einmal die Kette der Lagerwörter, wie sie der Roman ausschreibt, wiedergegeben werden: Belagerungskunst (S. 22), Belagerung (S. 25), Befestigungs- und Belagerungswesen (S. 25), Auffang- und Straflager (S. 28), Haupt- und Nebenlager (S. 33), Belagerungszustand (S. 44), Lager der Hebräer in der Wüste Sinai (S. 81),29 [Bett]Lager [gemeint ist das Krankenbett von Gwendolyn, Austerlitz’ walisischer Adoptivmutter] (S. 90), Archipelagos (S. 162),30 Lagerplatz (S. 310, S. 404), Barackenbestandteillager (S. 334), Lumpenlager (S. 337), lagernde Menschenmenge (S. 362), Lagerhäuser (S. 382), Lagerplatz Austerlitz-Tolbiac (S. 404), Lagerhallen (S. 404), Lager Gurs (S. 406).

Wenn wir im Sinne eines mentalen Experiments diese Lagerwörter in Wittgensteins Philosophische Untersuchungen einfügen, wo die „Familienähnlichkeiten“ am Beispiel des Wortes „Spiel“ erläutert werden, an dessen Stelle wir nun das Wort „Lager“ setzen, ergibt sich folgender Text: Betrachte z. B. einmal was wir ‚Lager‘ nennen. Ich meine ‚Belagerungskunst‘, ‚Belagerung‘, ‚Befestigungs- und Belagerungswesen‘, ‚Auffanglager‘, ‚Straflager‘, ‚Haupt- und Nebenlager‘, ‚Belagerungszustand‘, ‚Zeltlager‘, ‚Bettlager‘, ‚Lagerhäuser‘, ‚Lagerplatz‘, ‚Lagerhallen‘, ‚Lumpenlager‘, ‚Überlagerung‘, ‚Barackenbestandteillager‘, ‚Arbeitslager‘, ‚Durchgangslager‘. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Lager‘ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn, wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! – […] Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘. […] Wie würden wir denn jemandem

29 Gemeint ist ein Zeltlager, das in einer walisischen Kinderbibel abgebildet ist, dem sich Austerlitz imaginär zugehörig fühlt: „Tatsächlich, sagte Austerlitz […] als er die walisische Kinderbibel aufschlug, wußte ich mich unter den winzigen Figuren, die das Lager bevölkerten, an meinem richtigen Ort“ (ebda., S. 81). Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass das imaginäre Phantasma ein Echo in einer historischen Abhandlung findet. In ihrer monumentalen Abhandlung Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung. Berlin, München: Propyläen 2001 kommen die französischen Historiker Joël Kotek und Pierre Rigoulet im Rahmen der Frage nach den Ursprüngen des Konzentrationslagers auf das hebräische Zeltlager zu sprechen, um nach den Lebensbedingungen darin zu fragen: „Wo und unter welchen Umständen lebten beispielsweise die Hebräer, die von den Ägyptern für manche Großprojekte eingesetzt wurden?“ (ebda., S. 22). 30 Nach Alexander Solschenitzyns Archipel Gulag (russ: Архипелаг ГУЛАГ, transkribiert: Archipelag GULAG, ersch. 1973) kann man kaum umhin, in „Archipelagos“ auch das Lager mitzuhören.

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erklären, was ein Lager ist? Ich glaube, wir werden ihm Lager beschreiben, und wir könnten der Beschreibung hinzufügen: ‚das, und Ähnliches, nennt man Lager’. Und wissen wir selbst denn mehr? Können wir etwa nur dem Andern nicht genau sagen, was ein Lager ist? – Aber das ist nicht Unwissenheit. Wir kennen die Grenzen nicht, weil keine gezogen sind. Wie gesagt, wir können – für einen besondern Zweck – eine Grenze ziehen. Machen wir dadurch den Begriff erst brauchbar? Durchaus nicht! Es sei denn, für diesen besondern Zweck. […] Aber wenn der Begriff ‚Lager‘ auf diese Weise unbegrenzt ist, so weißt du ja eigentlich nicht, was du mit ‚Lager‘ meinst‘. […] Man könnte sagen, der Begriff ‚Lager‘ ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern. – Aber ist ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff?31

Die Sebaldschen Figuren nehmen Wittgenstein beim Wort. Es gelingt ihnen nicht, zwischen den miteinander verketteten Komposita semantische Grenzen zu ziehen. Sie halten sich in der Zone der „verschwommenen Ränder“ auf, sie behaupten auch nicht, ins Zentrum eines Begriffs vordringen zu können, erst recht nicht da, wo es um „Lager“ geht. Auf diese Weise scheint das „Lager“ überhaupt erst mitsamt seinen Homonymen auf. Sie bilden eine Wortkette, die im Roman von den nationalsozialistischen Konzentrationslagern wegführt, doch nur, um diese konsequent einzukreisen. In dieser einkreisenden Bewegung werden vornehmlich die ausgefransten semantischen Ränder von Worten und Begriffen erkundet, mit denen Orte und Räume bezeichnet werden. Der Roman deutet damit nicht nur das historisch brisante Thema an, dass die Lager logistisch mit dem zivilen Raum eng verschlungen sind, sondern er führt insbesondere als sprachliches Experiment vor, wie weit das Lager in unsere Alltagssprache und in unseren Alltag immer schon ausgreift. Man hat aufgrund solcher Reihenbildungen Sebalds Romane immer wieder als Texte aufgefasst, deren Figuren an einer Art „Beziehungswahn“ leiden, das heißt, dass sie dazu neigen, alltägliche, kontingente Vorgänge in der Umwelt miteinander in eine notwendige Verbindung zu setzen und diese wiederum auf sich selbst zu beziehen.32 Dies mag auf der Ebene der histoire der Fall sein (wenngleich es uns nicht darum gehen kann, an literarischen Figuren eine Diagnose

31 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 66–71, S. 48–50, modifiziert durch die Verf.in: anstelle des Wortes „Spiel“ wird das Wort „Lager“ geschrieben. Auf die Bedeutung Wittgensteins für Sebalds Roman gehen ein: Nina Pelikan Straus: „Sebald, Wittgenstein, and the Ethics of Memory“. In: Comparative Literature, vol. 61/1 (2009), S. 43–53, die sich auf die biographische und physiognomische Folie, die Wittgenstein für den Charakter Austerlitz abgibt, konzentriert; des Weiteren Sarah Schmidt: „Der Falter in der Schachtel. W. G. Sebalds poetischphilosophischer Dialog mit L. Wittgenstein“. In: Peter Fischer, Andreas Luckner, Ulrike Ramming (Hg.): Die Reflexion des Möglichen. Münster: LIT-Verlag 2012, S. 129–144, die vor allem den Aspekt der „Privatsprache“ bei Wittgenstein und Sebald analysiert. 32 Vgl. Marcel Atze: „Koinzidenz und Intertextualität. Der Einsatz von Prätexten in W. G. Sebalds Erzählung ‚All’estero‘“. In: Franz Loquai (Hg.): W. G. Sebald. Eggingen: Isele 1997, S. 151–175,

4 „Lager“ und seine Abkömmlinge

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anzustellen), auf der Ebene des discours wird hingegen eine vom Aussagesubjekt weitgehend unabhängige „Koinzidenzpoetik“33 entfaltet. Wir haben mit der Verkettung der „Lager“-Wörter kein Gebilde vor uns, das ein Subjekt umschließen und gleichsam einsperren würde (die Wortkette bildet kein metaphorisches Lager, in dem der Protagonist gefangen wäre, er reagiert auch nicht idiosynkratisch auf dieses Wort), sondern eine offene Reihe, welche für die Leser die Vorstellung eines Lagers in andere, mit demselben Wort bezeichnete Räumlichkeiten einschreibt. Sebalds Roman zeigt damit die Notwendigkeit an, die phantasmatische Dimension des Lagers zu analysieren. Diese verläuft quer zu einem historischen Vorgehen, das insbesondere an der Feststellung von Standorten und Praktiken sowie an der Differenzierung zwischen verschiedenen Lagertypen interessiert ist. Die Rationalisierung durch die Geschichtswissenschaft einerseits und das poetische Weiterschreiben der traumatischen Dimension des Lagers andererseits stehen hier gegeneinander. Das zunehmende Interesse an Sebalds Werk von Seiten der Historiker zeugt aber davon, dass die Geschichtswissenschaft, wo sie durch die Realität des Lagers auf die Grenzen ihrer eigenen Methode stößt, durchaus versucht, sich mit literarischen Darstellungsformen in ein Verhältnis zu setzen.34 In der Tat kann zum Beispiel die Beschreibung dieser sprachlichen Ausweitung des Lagers an seinen unscharfen Begriffsrändern in Zusammenhang mit der historischen Tatsache gelesen werden, dass die nationalsozialistischen Konzentrationslager aufgrund ihrer Ausstülpung in zahllose Außenlager gleichsam „lagerisierten Landstriche“ ausgeprägt haben. Der Neologismus „Lagerisierung“, der in diesem Fall nicht aus einem literarischen, sondern einem geschichtswissenschaftlichen Text stammt, zeugt seinerseits von der Dehnbarkeit des Begriffs ebenso wie von einer dadurch angezeigten unfassbaren Räumlichkeit.35 Die aristotelisch geprägten topographischen Prinzipien der Einheit von Zeit und Raum treffen auf das Lager nicht zu. Dass das Lager eine andere Topologie

hier: S. 153; Julia Kraushaar: Kaleidoskopisches Erzählen. Die gegenseitige Durchdringung von Fotografie und Prosa bei W. G. Sebald. Hamburg: Diplomica 2013, S. 61. 33 Vgl. Marcel Atze: „Koinzidenz und Intertextualität“, S. 147. 34 Vgl. für eine vornehmlich geschichtswissenschaftlich ausgerichtete Lektüre Sebalds insbesondere die Sondernummer „W. G. Sebald, the Writing of History“. European Review of History/ Revue Européeenne d’Histoire. Hg. von Jean-Marc Dreyfus und Emmanuelle Loyer, Volume 19, Number 3 (2012). 35 Der Ausdruck findet sich bei Bernd Weisbrod: „Entwicklung und Funktionswandel der Konzentrationslager 1937/38 bis 1945. Kommentierende Bemerkungen“, S. 353f., siehe auch Fußnote 3 in der Einführung zu dieser Arbeit.

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begründet, darum kreisen alle drei hier analysierten kanonischen Werke der Holocaust-Literatur. Doch zurück zu Sebald: Bemerkenswert an der den Roman durchziehenden „Lager“-Wortkette ist, dass sie nur aus zwei – im übrigen nicht ganz so bekannten – wörtlich so erwähnten Konzentrationslagern besteht. Es ist die Erwähnung von „Haupt- und Nebenlagern“ im Zusammenhang mit Breendonk am Anfang des Romans, sowie der kurze Hinweis auf das Lager Gurs im Südwesten Frankreichs am Ende des Romans (Theresienstadt und das Fort XI in Kaunas sind Konzentrationslager, werden im Roman aber nicht explizit so bezeichnet). Alle anderen wörtlichen Erwähnungen von „Lager“ verweisen gerade nicht auf ein Konzentrationslager. Dass es dennoch zu einer räumlich so ausgreifenden Ausfaltung der Lagerwelt in diesem Roman kommt, verdankt sich also zwei narrativen Prinzipien: erstens der kryptisch-paronomastischen Einschreibung des stellvertretenden Namens für die NS-Vernichtungspolitik in den Namen des Protagonisten; zweitens der metonymischen Kontamination des allgemeinen Worts „Lager“ durch die NSRealität der Konzentrations- und Vernichtungslager. Auf diese Weise werden die beiden eingangs erwähnten Serien von Orten – ausgewiesene Einrichtungen des nationalsozialistischen Vernichtungssystems einerseits, Orte, an denen Austerlitz von einem vagen, aber zugleich intensiven Unbehagen heimgesucht wird, andererseits – miteinander verknüpft. Auch wenn die expliziten Verweise auf NS-Verbrechen im Roman quantitativ relativ begrenzt sind, sind fast alle in ihm evozierten Orte davon infiziert. Die Grundlage für diese Infizierung bilden Assoziationszwänge, von denen nicht nur die erzählten Figuren, sondern auch die Leser erfasst werden. Vorgeführt wird, dass Wörter nicht nur ein auf Referenz basierendes Wissen, sondern auch eine affektgeladene, phantasmatische Dimension in sich tragen, mit der sie – nach der schon zitierten Formulierung von Paul Celan – „angereichert“ sind, ohne dass sie je in der Lage wären, etwas davon mitzuteilen.36 Das „Angereicherte“ bleibt darin stumm, aber nicht ohne Wirkung. Es kann nicht gesagt werden, wird aber auf der Ebene der Erzählung gleichsam ausagiert. Die poetische Wirkung des Romans verdankt sich insbesondere einer weit verzweigten metonymischen Bewegung, der zufolge ein Signifikant nicht nur auf ein Signifikat verweist, sondern vielmehr signifikant für einen anderen Signifikanten wird. Auf diese Weise werden Bedeutungszusammenhänge suggeriert, die quer zur referentiellen Funktion der Sprache stehen. Dieses Verfahren führt zu

36 Vgl. Paul Celan: „Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen“, S. 38.

5 Vom Stereotyp zum Hypogramm

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einer Reihe von Verschiebungen ebenso wie zu Momenten des unerwarteten Zusammenstoßes und der Koinzidenz unterschiedlicher Realitäten. Es zeigt dabei, dass die Sprache, die Tatbestände und die Orte nie zu einer Einheit finden, sondern dass die Sprache im Wesentlichen dasjenige Medium ist, durch welches die unartikulierten Reste, die in dieser nie aufgehenden Gleichung zurückbleiben, weitergetragen werden.

5 Vom Stereotyp zum Hypogramm Mit Blick auf die Frage, wie wir Geschichte lesen und schreiben, trifft Austerlitz’ Geschichtslehrer Hilary einmal folgende Aussage: Unsere Beschäftigung mit der Geschichte [ist] eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, auf die wir andauernd starren, während die Wahrheit irgendwo anders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt.37

Auch diese Aussage kann als eine der vielen kritischen Stellungnahmen zur geläufigen Geschichtsschreibung gewertet werden, wie sie im Roman, nicht zuletzt von Historikerfiguren, die Hilary und Austerlitz ja beide sind, hervorgebracht werden. Vorurteile, Stereotypen und Phantasmen, so suggeriert das Zitat, determinieren den Blick auf die Geschichte und führen unvermeidlich zu Entstellungen. Zugleich wird diese Aussage jedoch getroffen in einem literarischen Werk, das in kaum zu übertreffender Weise den Spuren der Geschichte – insbesondere den katastrophalen Folgen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik – in unserer Gegenwart nachgeht. Insofern meint diese Aussage keine Absage an die Geschichte, sondern leitet eine spezifische Arbeit an den schon „vorgefertigten“, „eingravierten Bildern“ ein, eine Lockerung und Verlagerung des Blickes von diesen Bildern weg auf andere hin, ohne jedoch – dies muss hier gleich hinzu gesagt werden – den von der Geschichte hervorgebrachten Phantasmen zu entkommen, ohne je das „von keinem Menschen noch entdeckte Abseits“ aufzudecken und es begrifflich in ein greifbares Hier und Jetzt überzuführen. Es geht jedoch von diesem Zitat eine Aufforderung aus, den Zwischenraum jenseits der vorgefertigten Bilder und diesseits des unerreichbaren Abseits auszuschreiten und ausgehend von dieser kritischen Beobachtung Geschichtsbilder – zumal diejenige vom Konzentrationslager – zu dynamisieren.

37 W. G. Sebald, Austerlitz, S. 105.

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Wollte man das „eingravierte Bild“ des Konzentrationslagers auf den Punkt bringen, könnte man das vielleicht in folgender Weise tun: Vorherrschend ist die Vorstellung vom KZ als einem hermetisch „abgeriegelten Kosmos“, der irgendwo „abseits“, weit weg liegt.38 Wenn die Überlebenden von der Deportation Zeugnis ablegen, dann wird in vielen Fällen die Vorstellung einer unendlich lang erscheinenden Fahrt unter extremen Bedingungen in ein weit abgelegenes und unbekanntes Gebiet geweckt. Der „abgeriegelte Kosmos“ wird schließlich als ein großes Gefängnis imaginiert. Inwiefern solche „erstarrten Bilder“ die Wirklichkeit der Lager verfehlen, hat schon unsere Auseinandersetzung mit Levis und Kertész’ Werk deutlich gemacht. Levi hat sich – ich bin darauf in Kapitel IV nicht eingegangen – in I sommersi e i salvati explizit mit den Stereotypen auseinandergesetzt, von denen die Vorstellung derjenigen durchsetzt ist, die die Lager nur vom Hörensagen kennen.39 Er ist sich dabei durchaus bewusst, dass diese Stereotypen – zum Beispiel die Vorstellung vom KZ als Gefängnis, aus dem man, wenn man nur schlau genug ist, entfliehen kann – nicht einfach beseitigt werden können, sondern selbst eine Folge der Traumatisierung sind, von der die Gegenwartskultur in irreparabler Form gezeichnet ist. Die Erinnerung an das Lager, d. h. seine sprachliche und bildliche Repräsentation, ist dadurch zwangsläufig entstellt. Bezeichnend ist, dass Levi immer wieder gezwungen war, auf stereotype Formen der Zeugenschaft zurückzugreifen. Er erzählt, wie er von einer Schulklasse aufgefordert wurde, das Lager an der Tafel zu skizzieren, mitsamt Wachtürmen, Toren, Zäunen und Elektrozentrale. Er folgte der Aufforderung mit Unbehagen. Ein Schüler erklärte ihm daraufhin anhand der Zeichnung, wie er aus dem Lager hätte entkommen können. Levi schildert diese Szene ausführlich und zieht den Schluss, dass sich der Abstand zwischen den Tatsachen und dem Bild, das in Büchern, Filmen und Erzählungen gegeben wird, zunehmend vergrößert hat.40 Die Entfernung der Lager, ihr „Abseits“, ist somit vor allem mental und folglich sprachlicher Natur. Zur Dynamisierung erstarrter Bilder des Lagers tragen insbesondere literarische Zeugnisse wie die in dieser Arbeit analysierten bei. In noch zu geringem Maße kommunizieren allerdings die unterschiedlichen Diskurssysteme – Geschichtswissenschaft, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft, Zeugenberichte, literarische Texte – miteinander. Dies hat nicht zuletzt auch mit der Art zu tun, wie sich unser Wissen weiterhin in einem engen disziplinären Rahmen artikuliert und fortentwickelt. 38 Vgl. kritisch dazu Sofsky, der zwar auch vom „abgeriegelten Kosmos“ spricht, aber immer deutlich macht, dass dieser ganz nah liegt (ders.: Die Ordnung des Terrors, S. 24). 39 Vgl. Primo Levi: I sommersi e i salvati, S. 124f. 40 Ebda., S. 128.

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In gleichsam paradigmatischer Weise wird eine Wissensordnung, die eine inter- und transdisziplinäre Arbeitsweise eher verhindert als befördert, durch die neue Französische Nationalbibliothek in Paris repräsentiert. Das in ihr aufbewahrte Weltwissen unterteilt sich in vier Bereiche, nach denen auch die vier aufgeklappten Büchertürme bzw. Regale benannt sind, die das Wahrzeichen dieser Bibliothek darstellen: Tour du temps, Tour des lois, Tour des nombres, Tour des lettres. Alles ist hier aufbewahrt, aber räumlich und systematisch voneinander getrennt. So symbolisieren die vier Türme der Nationalbibliothek, beabsichtigt oder nicht, die Hybris des Turmbaus von Babel ebenso wie dessen Zerstörung und die daraus folgende babylonische Sprachverwirrung. Nun konkretisiert sich ausgerechnet in dieser prestigeträchtigen Einrichtung, die 1995 feierlich eingeweiht und 1998 für das Publikum eröffnet worden ist, jenes „Abseits der Geschichte“, von dem Austerlitz’ Geschichtslehrer Hilary gesprochen hat. Denn die neue Pariser Nationalbibliothek steht auf einem Gelände, auf dem sich von 1943 bis 1945 ein Außenlager des Konzentrationslagers Drancy befand. Dass diese räumliche Überlagerung zum Thema des Romans wird, ist aus narratologischer Sicht wiederum dem Namen des Protagonisten geschuldet. Im Zuge dieses merkwürdigen räumlichen Ausschreitens des fremden Eigennamens gelangt der Namensträger beinahe zwangsläufig auch irgendwann an die Pariser Gare d’Austerlitz, von der ab 1942 die Deportationen der Pariser Juden ihren Ausgang nahmen und von der die neue Nationalbibliothek wiederum nur wenige Meter entfernt liegt. In Sebalds Roman wird diese Konstellation folgendermaßen erzählt: Auf dem Ödland zwischen dem Rangiergelände der Gare d’Austerlitz und dem Pont Tolbiac, auf dem heute diese Bibliothek sich erhebt, war beispielsweise bis zum Kriegsende ein großes Lager, in dem die Deutschen das gesamte von ihnen aus den Wohnungen der Pariser Juden geholte Beutegut zusammenbrachten.41

Ein Lager wird dort lokalisiert, wo zwischenzeitlich „Ödland“ war, das dazu aufruft, gefüllt und genutzt zu werden, zumal in einem dichten Stadtraum, wie ihn Paris darstellt. Das „Ödland“ suggeriert, dass dort, wo gebaut werden soll, „nichts“ gewesen sei;42 genau dieses „Nichts“ stellt jene Zwischenschicht dar, die sich zwischen das Lager und die Bibliothek geschoben hat. Nur ein „Nichts“ trennt beide voneinander, könnte man überspitzt formulieren. Nur ein „Nichts“ 41 W. G. Sebald: Austerlitz, S. 403. Dass das Lager Camp d’Austerlitz (!) hieß, wird im Roman nicht erwähnt; es hätte vermutlich die Poetik der Koinzidenz überstrapaziert. 42 Der französische Ausdruck für ein solches Ödland – „terrain vague“ – verweist wiederum auf die verschwommenen, ausgefransten Ränder, die Unmöglichkeit, einen Ort mit einer Linie einzugrenzen.

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hält die beiden Realitäten auseinander, wo sie direkt aufeinanderzustoßen drohen. Genau dies führt der literarische Satz vor, indem er zusammenführt, was an keiner Stelle an diesem Ort als Zusammenhang reflektiert wird. Im Unterschied zu den Räumen, die bislang im Roman erzählt worden sind, handelt es sich hier um eine konkrete Koinzidenz und Superposition unterschiedlicher Einrichtungen. Doch ausgerechnet an der Stelle eines einschlägigen historischen Realismus wird nun das poetische Prinzip kryptischer Inschrift auf die Spitze getrieben: Denn der Signifikant „Lager“ wird hier gleichsam auf den Kopf gestellt und in sein Palindrom „Regal“ verkehrt. Heraus kommt ein Wort, das metonymisch für die Ordnung von Büchern und Wissen, mithin für die Institution Bibliothek einsteht. Während die Buchstabenfolge „Regal“ im Text zwar vorkommt, aber unauffällig bleibt, kommt die damit assoziierte Vorstellung gleich viermal über eingestreute Photographien ins Bild: Das erste Mal als Photographie des engen Büros von Austerlitz, „das einem Bücher- und Papiermagazin glich und in dem zwischen den am Fußboden und vor den überfrachteten Regalen sich stapelnden Konvoluten kaum Platz gewesen ist für ihn selber […]“.43 An dieser Stelle sei daran erinnert, dass zu einem späteren Zeitpunkt erzählt wird, dass Austerlitz diese Konvolute zerstören wird, da sie offensichtlich ein historisches Wissen versammeln, das sich für seine eigentliche Suche als untauglich erweist. Die zweite Photographie zeigt den Lesesaal der alten französischen Nationalbibliothek mit leeren Regalen und leeren Tischen, die knapp zwanzig Seiten zuvor mit dem Verweis auf Alain Resnais’ Dokumentarfilm Toute la mémoire du monde (1956) als „Strafkolonie“ bezeichnet worden ist.44 Die dritte Photographie zeigt die Türme der neuen französischen Nationalbibliothek, die an Bücherregale gemahnen, die vierte die Regale der Registraturkammer in Theresienstadt.45 Austerlitz entdeckt letztgenannte Photographie zufällig beim Blättern in einer amerikanischen Architekturzeitschrift im Lesesaal der Nationalbibliothek. In der abgebildeten Registraturkammer erkennt er nachträglich seinen „wahren Arbeitsplatz“, was nicht zuletzt den von ihm wahrgenommenen Arbeitsplatz im Lesesaal der Nationalbibliothek als verfehlten markiert.46 Die anagrammatische Inversion des Signifikanten „Lager“ in sein Palindrom „Regal“ und umgekehrt liefert für die Koinzidenz zwischen der Nationalbibliothek und dem Lager auf der Ebene des discours das sprachdynamische Surplus.

43 W. G. Sebald: Austerlitz, S. 47. 44 Siehe für die Abbildung der alten französischen Nationalbibliothek, ebda., S. 386f.; für den Hinweis auf Alain Resnais’ Film, S. 368. Als Strafkolonie wird späterhin auch das Fort Breendonk bezeichnet, siehe S. 414. 45 Ebda., S. 390 und S. 398f. 46 Ebda., S. 397ff.

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Sie trifft hier mit dem im Roman allgegenwärtigen Namen Austerlitz und dessen eigenem latenten Potential in explosiver Weise zusammen. Gerade darum besteht die Gefahr, diesem Moment, an dem sich alles zusammenfügt – an dem sich ein Lager, das auch noch so heißt wie der Protagonist, der von einem Lagerphantasma heimgesucht wird, in ein Regal verwandelt – ontologische Wahrheit zu bescheinigen. Insofern die Operation, den Signifikanten anagrammatisch zu lesen, auch noch das Wörtchen „egal“ hervortreibt, wird in und durch sie eine Gleichheit suggeriert, die jedoch trügerisch ist. Wichtig zu unterstreichen ist, dass das hypogrammatische Leseverfahren zwischen dem Wort und seinem Anagramm keine Identität konstatiert – würde sie dies tun, wäre sie traumatischer Ausdruck des Traumatischen. Das Verfahren unterstreicht vielmehr, indem es die Inschriften aus ihrer Unkenntlichkeit heraushebt, ein poetisches Prinzip; es problematisiert dabei, indem es die Inschrift zu einem „effet de réel“ macht, was eine einsinnig von links nach rechts voranstrebende Lektüre nicht wahrnimmt und neigt, darum für unwahr zu erklären. Es geht diesem Verfahren also nicht um die Behauptung einer Wahrheit, sondern um die Unterbrechung von wahrheitsproduzierenden Diskursen; es geht ihm darum, die Frage, wie wir die Geschichte der Lager erzählen, schreiben und lesen, wie sie zuletzt in Bücher gefasst Regale füllen, grundsätzlich neu zu stellen.

6 Die französische Nationalbibliothek und das Phantasma eines Lagers47 Auf dem Barackengelände befand sich, noch ehe die Nationalbibliothek gebaut wurde, eine Gedenktafel, die an die Internierung von Tausenden von Opfern des Nationalsozialismus erinnerte. Sie wurde während der Bauarbeiten entfernt, allerdings von mir noch 2002 als Kopie an einem Bauzaun gesichtet. Auf dieser Kopie stand geschrieben, dass die Stadt Paris nach Abschluss der Arbeiten die Plakette an geeigneter Stelle wieder anbringen würde. Dies ist, soweit ich es überblicke, bis heute nicht geschehen. Es wird vermutlich auch nicht mehr für nötig erachtet, nicht zuletzt weil die beiden französischen Historiker Jean-Marc Dreyfus und Sarah Gensburger die Bibliothek von solch unguter Infizierung inzwischen freigesprochen haben. In ihrer Abhandlung über die Pariser Lager schreiben sie mit Blick auf Sebald: 47 Dem folgenden Abschnitt liegt der Essay der Verf.in zugrunde: „Die Bibliothèque Nationale de France und das Phantasma eines Lagers“. In: Alexandra Klei, Katrin Stoll und Annika Wienert (Hg.): Die Transformation der Orte. Annäherung an die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. Bielefeld: transkript 2011, S. 101–118.

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Sebald décrit le camp d’Austerlitz comme enseveli sous la nouvelle et pharaonique Bibliothèque nationale de France, ce qui est faux. La bibliothèque se trouve plus près de la gare d’Austerlitz, à plusieurs centaines de mètres de l’emplacement du camp. La description détaillée du camp est en total décalage avec la réalité dont elle veut témoigner.48

Dreyfus’ und Gensburgers Idee historischer Exaktheit immunisiert gegen einen Wahrheitsbegriff, der zu einem historiographischen Diskurs quer steht, nichtsdestoweniger aber die Geschichte direkt betrifft. Ihr Statement zeugt von einem grundlegenden Missverständnis des Sebaldschen Vorhabens. Denn es geht Sebald nicht um historische Exaktheit, sondern um die Ausfransung von Rändern an jenen Stellen, wo die Zeichen in andere übergreifen und bezüglich ihrer deiktischen Funktion ver-rücken. In der Tat entspringt der literarische Satz in erster Linie keiner realistischen, räumlichen Überlagerung, sondern einer Reihe von vorgenommenen Verschiebungen und Verdichtungen. Er provoziert darüber hinaus eine weitere Verschiebung, und zwar in der Vorstellung der Leser, die mit der Geschichte der französischen Lager einigermaßen vertraut sind, denn neben das bekannte, nördlich von Paris gelegene Lager Drancy tritt nun ein weiteres, weitgehend unbekanntes Lager. Mit einem Mal rückt die Vorstellung vom Lager in den Kernbereich der Stadt Paris, intra muros.49 Was in Sebalds fiktionalem Satz – „Auf dem Ödland […] auf dem heute diese Bibliothek sich erhebt, war beispielsweise bis zum Kriegsende ein großes Lager […]“50 –, einem Satz, der in einem fiktionalen Text steht, darum aber noch kein fiktiver Satz ist, ausgesagt wird, geht auf einen nicht fiktionalen Text zurück, nämlich auf den Zeitungsartikel Die Türme des Schweigens, den der Journalist Alexander Smoltczyk im Winter 1997 im Zeitmagazin veröffentlicht hatte. Dort steht: Vor einem Monat wurde mit großem Pomp die neue französische Nationalbibliothek eröffnet. Der Bauplatz sei Ödland gewesen, heißt es. In Wahrheit steht Europas größte

48 Jean-Marc Dreyfus, Sarah Gensburger: Des camps dans Paris. Austerlitz, Lévitan, Bassano juillet 1943 – août 1944. Paris: Fayard 2003, S. 290. 49 Lange gab es zu diesem Lager nur spärliche Zeugnisse, so z. B. finden sich einige wenige Hinweise zu den Außenlagern von Drancy im Stadtinneren von Paris in Serge Klarsfeld: Le calendrier de la persécution des Juifs de France 1940–1944. Paris: Association Les fils et les filles des Déportés Juifs de France, The Beate Klarsfeld Foundation 1993, S. 450ff. und S. 849ff. Weitere Zeugenaussagen finden sich in Dreyfus, Gensburger, Des camps dans Paris, die erstmals – und einige Jahre nach Erscheinen von Sebalds Roman – aus historischer Perspektive den Blick vom Konzentrationslager Drancy auf dessen Außenstellen in Paris selbst verschieben. 50 W. G. Sebald: Austerlitz, S. 403.

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Wissenssammlung an einem Ort der Barbarei: Schon 1943 wurden hier Bibliotheken aus jüdischem Privatbesitz konzentriert. Doch darüber spricht man nicht.51

Und weiter: Im November 1943 eröffnete die SS auf dem Eisenbahngelände Tolbiac das Camp d’Austerlitz. Es war eine Nebenstelle des Konzentrationslagers Drancy im Pariser Nordosten. […] In unmittelbarer Nähe des heutigen Bibliotheksgeländes, am Quai de la Gare Nr. 43, wurde bis August 1944 von – im Nazijargon – Halb- oder mit Ariern verheirateten Juden Beutegut aus jüdischen Haushalten sortiert, um in die ausgebombten Städte des Reichs gebracht zu werden.52

Der gut recherchierte Zeitungsartikel hat kaum ein weiteres Echo erfahren. Smoltczyk ist allerdings nicht der erste, der auf diesen Zusammenhang aufmerksam geworden ist. Er bezieht sich unter anderem auf Künstler, die in den an die Bibliothek angrenzenden ehemaligen Kühllagern der Stadt, den so genannten frigos, illegal wohnen und jahrelang – ohne Erfolg – versucht haben, ein Bewusstsein für die unerhörte Koinzidenz zu schaffen, dass genau dort, wo sich heute das einschlägige Symbol des kulturellen und nationalen Gedächtnisses, nämlich die neue Nationalbibliothek, befindet, einst ein Außenlager des KZ Drancy stand. In das kulturelle und nationale Gedächtnis ist diese Überlagerung (noch) nicht gedrungen. Diese Koinzidenz wird, wenn überhaupt, stets nur punktuell ans Licht gebracht, worauf dann aber keine „adäquate Reaktion“53 erfolgt, als sei dieses Faktum in gewisser Weise bewusstseinsresistent. Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn man die öffentlichen Diskurse, die den Bau der Bibliothek, seine Einweihung und Eröffnung begleitet und kommentiert haben, einer genaueren Analyse unterzieht. An erster Stelle sei hier eine Aussage des Architekten Dominique Perrault über sein Bauwerk zitiert: Le jury s’intéressait à ce projet, c’est qu’il avait été fortement sensible à la clarté de son expression. […] Ces «quatre livres ouverts» énoncent clairement un signe. […] c’est comme un moyen mnémotechnique pour identifier et repérer la Bibliothèque dans la ville. Ensuite, d’autres perceptions moins immédiates, plus contradictoires et complexes, apporteront d’autres niveaux de lecture. […] J’ai cherché dans la Bibliothèque à retrouver des émotions bâties sur des paradoxes entre présence et absence, entre monumental et humain, entre opaque et lumineux, sans parler d’être ou de ne pas être dans Paris. […] L’architecture de la

51 Alexander Smoltczyk: „Die Türme des Schweigens“. In: Zeitmagazin, 24. Januar 1997, S. 11– 18, hier: S. 11. 52 Ebda., S. 12. 53 Vgl. Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien über Hysterie, S. 32. Ausführlich dazu Kapitel I.2 dieser Arbeit.

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Bibliothèque est composée de ces matières abstraites que sont le vide et le silence. […] Ce monument trace un acte fondateur pour l’est parisien. Ce n’est pas quelque chose de planté là, seul; c’est un lieu qui se découvre, un lieu initiatique qui doit être vécu pour être compris. La virtualité de cet espace introduit la notion d’abstraction en architecture. Sur l’esplanade piétonne, prise entre les quatre angles et au bord du jardin central, les systèmes d’absence, d’inversion, de cadrage trouvent une autre évidence. […] Elle [l’architecture] est le sismographe de l’époque et rend compte de notre culture.54

Das lange Zitat macht deutlich: Die hier zum Einsatz gebrachte Rhetorik möchte die Leser für eine Sache gewinnen, an der sie offensichtlich Zweifel haben könnten. Will die Rede auf den ersten Blick davon überzeugen, dass hier ein Bauwerk entsteht, welches nicht nur prestigeträchtig ist, sondern darüber hinaus auch das Selbstverständnis einer großen Nation in einen bislang unterentwickelten Stadtraum von Paris trägt und dort zu einer „rédemption du lieu“55 (einer Heilung bzw. Auferstehung des Ortes) wirksam beiträgt, so verkehrt derselbe Diskurs seine Vorzeichen, wenn wir ihm die räumliche Nähe von Lager und Bibliothek, von dem er selbst nichts weiß, voranstellen. Die Schlüsselbegriffe „le vide“, „le silence“, „l’absence“, „l’inversion“, „être ou ne pas être à Paris“ legen – folgt man Perraults eingestreuten Aufforderungen zur Erschließung weiterer, widersprüchlicherer Bedeutungsebenen der architektonischen Symbolik – ein Konnotationsfeld offen, welches auf das verweist, was hier gerade nicht genannt wird. Verwiesen wird hier wohlgemerkt nicht auf die historische Realität des Camp d’Austerlitz, des Außenlagers von Drancy, in dem ab Juli 1943 das Raubgut der deportierten Pariser Juden repariert, aufpoliert und für den Versand in die deutschen Städte fertig gestellt wurde;56 stattdessen scheint in einer Art Vexierbild die abstrakte Vorstellung von einem Lager auf. Ähnliches lässt sich in den Stellungnahmen der Kritiker der neuen französischen Nationalbibliothek beobachten, die vornehmlich in der renommierten Zeitschrift Le Débat in den Jahren 1999 und 2000 veröffentlicht worden sind. Aus ihrer Sicht handelt es sich – zitiert seien hier die Schlüsselworte – um „une honte 54 Interview mit Dominique Perrault. In: Bibliothèque nationale de France 1989–1995. Dominique Perrault, architecte. Paris: o. V. 1995, S. 49ff. Die Beschreibung der Bibliothek gemahnt an Foucaults Beschreibung des Museums als eine Heterotopie der abendländischen Kultur des 19. Jahrhunderts: „[L]’idée de tout accumuler, l’idée de constituer une sorte d’archive générale, la volonté d’enfermer dans un lieu tous les temps, toutes les époques, toutes les formes, tous les goûts, l’idée de constituer un lieu de tous les temps qui soit lui-même hors du temps, et inaccessible à sa morsure, le projet d’organiser ainsi une sorte d’accumulation perpétuelle et indéfinie du temps dans un lieu qui ne bougerait pas […]“ (ders.: „Des espaces autres“, S. 1578). 55 Dominique Perrault: „Un monument pour l’est parisien“. In: Vis à vis, Nr. 2, numéro spéciale, la BnF, o. J., o. S. 56 Siehe Jean-Marc Dreyfus, Sarah Gensburger: Des camps dans Paris, S. 93–160.

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nationale“, „un délire pharaonique“, „un héritage encombrant“, „une humiliation nationale“, „une bibliothèque maudite“, „un tombeau pour le livre“, „une malédiction“, „une catastrophe“.57 Der französische Historiker Pierre Nora, der für sein in den 1990er Jahren entwickeltes Konzept des lieu de mémoire bekannt geworden ist, war einer der Protagonisten in diesem Generalangriff gegen die Bibliothek. Einer seiner in diesem Kontext entstandenen Beiträge ist überschrieben mit dem Titel „Retour sur les lieux du crime“. Ohne je auf die einstige Präsenz eines Lagers am Ort der Bibliothek einzugehen, entwirft Nora in Anbetracht der technischen Mängel der Nationalbibliothek ein dämonisches Lagerbild: L’historique des malheurs qu’a connu la B. N. F. […] n’est plus à faire. […] Malheureusement, il est clair que l’institution ne se remettra pas de si tôt de ses contradictions initiales et de ses erreurs de principe. […] Les malformations de naissance qu’on découvre aujourd’hui […]. L’erreur de base est inscrite dans le projet lui-même. Un bon sens élémentaire aurait notamment suggéré que la bibliothèque consiste dans une salle de lecture centrale vers laquelle puissent converger les livres. Non: une esplanade vide de six hectares – de surcroit plantée d’arbres qui interdisent la construction de magasins souterrains. Un rectangle inutile flanqué de quatre tours d’angle distantes de près de trois cents mètres, qui condamnent à des circulations permanentes et épuisantes. […] L’impression prévaut d’un programme pervers méthodiquement poursuivi et tenacement appliqué. Prenez l’escalier: on ne le monte dans son inutile majesté que pour redescendre, comme dans un puits, par un vertigineux trottoir roulant. Ce génie du contraste et de la disproportion se vérifie dans tous les éléments essentiels de la bibliothèque. […] Exiguïté, courants d’air, architecture brute, postes de travail installés de façon invraisemblable […], éclairage souvent inadapté, morcellement des tâches, espace confiné, traité à l’économie. Même contraste et même disproportion entre ces couloirs qui n’en finissent pas et ces sas métallisés dont on se sent prisonnier, ces portes de prison, dix mille au total, qui font qu’on ne sort de l’agoraphobie que pour tomber dans la claustrophobie.58

Man könnte hier die Erfahrungsberichte von zahllosen Bibliotheksbesuchern anschließen. In ihnen insistiert ein Vokabular, das angesichts einer Reihe von technischen Mängeln und baulichen Ungeschicklichkeiten inadäquat erscheinen muss. Die Überdeterminiertheit der Worte mag eine rationale Erklärung in der Diskrepanz zwischen dem extrem hohen Anspruch, mit dem das Projekt behaftet ist, und einer mangelhaften Ausführung finden. Nichtsdestoweniger bleibt festzustellen, dass die Worte, mit denen diese Diskrepanz zum Ausdruck gebracht wird, ein semantisches Potential mit sich führen, in dem phantasmagorisch das stereotype Bild eines Lagers aufscheint, das mit keinem realen Ort übereinstimmt, 57 Vgl. Dossier spécial „Bibliothèque Nationale de France: Expériences vécues“. In: Le Débat, 105 (1999), S. 118–175 und Dossier spécial „Bibliothèque Nationale de France: suite et fin“. In: Le Débat, 109 (2000), S. 100–137. 58 Pierre Nora: „Retour sur les lieux du crime“. In: Le Débat 105 (1999), S. 118–121.

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an dem es zur Ruhe kommen könnte. Es stellt einen Rest dar dort, wo Orte, Fakten und Worte zur Übereinstimmung gebracht werden sollen (die museale Gedenkkultur beruht weitgehend auf einem solchen Prinzip). Dieser Rest agiert und durchkreuzt alle weiteren Versuche eines solchen Zugriffs. Die Ausbildung des Phantasmas ist damit nicht nur als Abwehrreaktion zu werten (die es auch ist), sondern auch als Motor einer anhaltenden Suche, die zu keinem Abschluss findet.59 Die Tatsache, dass sich das Bild des Lagers, das in sich geschlossene Bild von vier Wachtürmen und Stacheldraht, das Levi noch an die Schultafel malen musste, in den unterschiedlichen Schilderungen der Bibliothek wiederfinden lässt, zeugt davon, dass eben dieses geschlossene Bild auf etwas geschichtlich Unabgeschlossenes verweist. Denn das Bild wandelt sich genau dann zum Phantasma, wenn es an ungeeigneter Stelle und unbewusst in die Gegenwart einer Aussage drängt, die offensichtlich einen ganz anderen Referenzbereich anstrebt. Nun bilden sich Phantasmen bevorzugt angesichts traumatisierender Ereignisse aus. Wir haben im ersten Kapitel dargelegt, dass traumatisierende Ereignisse solche sind, die im schockhaften Zusammentreffen mit einer Psyche diese derart verletzen, dass letztere nicht mehr in der Lage ist, adäquat auf das Ereignis zu reagieren. Anstelle einer solchen adäquaten Reaktion tritt das Phantasma als Schirm, der etwas abschirmt, aber an dem immer auch zugleich etwas aufscheint, was gerade nicht gezeigt werden darf. Das Phantasma, das sich anstelle der Erinnerung ausbildet, wandert – einem Gespenst gleich, nach dem es ja benannt ist – von einem Ort zum anderen und bleibt dort stets ungreifbar. Als Gespenst bildet es einen Fremdkörper, der zwar in kein Bild integrierbar, aber an der Ausbildung von Bildern, sprich: an Repräsentationen maßgeblich beteiligt ist. Das Verhältnis zwischen Lager und Bibliothek ist darum gerade nicht im Sinne eines Abbildungs- oder Analogieverhältnisses zu denken. Es besteht keine Äquivalenz zwischen beiden; auch ist die Bibliothek nicht als unbeabsichtigt ikonisches Zeichen des Lagers zu werten. Sondern insofern in der Produktion von Abbildungen Abbildung gerade ausgesetzt wird, muss deren Verhältnis, das Sebalds Roman sprachlich als anagrammatisches Inversionsverhältnis zwischen Lager und Regal einführt, im Sinne eines Ausnahmeverhältnisses gedacht werden.60

59 Zur Doppelfunktion des Phantasmas als Abwehr und Köder, vgl. Jacques Lacan: Das Seminar, Buch X. Die Angst, S. 70. 60 Vgl. zur anagrammatischen Inschrift als einer sprachlichen Manifestation des Traumatischen Anselm Haverkamp: „Anagramm und Trauma: Zwischen Klartext und Arabeske“. In: Susi Kotzinger, Gabriele Rippl (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1994, S. 169–174 sowie ders.: Figura cryptica, S. 163–176.

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Was aber impliziert dies genau? Die Ausnahme bedeutet, wie wir im ersten Kapitel schon skizziert haben, eine vorübergehende Suspension bestehender gesetzlicher oder allgemein institutioneller Gegebenheiten unter prinzipieller Beibehaltung derselben. Die Suspension meint also keine reine Aufhebung der Gegebenheiten, sondern zugleich deren Bestätigung. In der Ausnahme kommen somit zwei sich widersprechende Wirklichkeiten gleichzeitig zur Geltung, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Im Schatten der Norm tendiert die Ausnahme dazu, ihre eigene Normalität auszubilden: Sie wird so zur Regel, zur dauerhaften Einrichtung. Agamben hat diese Dialektik für die räumlich-politische Bestimmung des Lagers fruchtbar gemacht.61 Eine ebensolche Dialektik zwischen Norm und Ausnahme scheint, wie wir gesehen haben, auch das Verhältnis von Psyche und Trauma zu beherrschen. Dies wurde uns durch Breuers und Freuds Formulierung des Traumas „in Ausnahmsstellung“ suggeriert. Ein Denken und Schreiben, das dieser Ausnahme eingedenk sein will, muss, ich erinnere an Benjamins Formulierung, einen „wirklichen Ausnahmezustand“ herbeiführen. Es müsste also eine Sprache sprechen, welche die Unentschiedenheit zwischen der Bedeutung des Zeichens und seiner Inschrift, durch die die Bedeutung suspendiert wird, auszudrücken wüsste. In Hinblick auf unseren Fall hieße dies: wir müssten in der Lage sein, in einem Atemzug Lager und Regal zu sagen; wir müssten „Lager“ vorwärts und rückwärts zugleich lesen können. Man könnte vor diesem Hintergrund hypostasieren, dass die von Agamben dargelegten juristisch-politischen Bedingungen des Lagers immer schon die Bedingungen seiner Versprachlichung bzw. Erinnerbarkeit implizieren. Dies würde zunächst ermöglichen, den Bruch, den Levi zwischen den Tatsachen und deren Repräsentationen feststellt, nicht mehr als unüberwindbare Differenz deuten zu müssen. Aus der Perspektive der Ausnahme erschiene dieser Bruch vielmehr als Konvergenzpunkt: Das Lager kann nicht erinnert bzw. repräsentiert werden, aber es dringt in andere Bilder und andere Wörter ein, es berührt andere Bilder und andere Wörter, indem es diese in ihrer Repräsentation bzw. Referenz aussetzt. Indem es die Darstellung oder Erinnerung von Anderem durchkreuzt bzw. auseinanderreißt, scheint es ex negativo auf: in Bruchlinien, in Störungen, im untergründigen Rauschen des Diskurses oder auch in architektonischen Fehlleistungen. Man wird dabei nicht so sehr des Lagers habhaft, dafür aber Zeuge davon, wie sich die Bibliothek, die mit dem Lager in einem Kontiguitätsverhältnis steht, in eine störanfällige Institution verwandelt. Das gepriesene Symbol des kulturellen Gedächtnisses einer Nation scheint somit immer wieder für Momente als ein trauma-

61 Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer, siehe v. a. Teil III, Kap. 7 „Il campo come nomos del moderno“, S. 185–201.

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tisierter Gedächtnisraum auf: als ein Gedächtnis, das nicht funktioniert und als ein Raum, der befremdet; als ein Gedächtnis, das Erinnerungen verwirft, das vergisst, wobei das Vergessen im Wesentlichen dem Auseinanderreißen von Zusammenhängen geschuldet ist und weniger der Unterdrückung von Inhalten. Die Nationalbibliothek erscheint nicht zuletzt als ein Raum, in dem sich die Leser nicht zurecht finden; sie wird von ihren Benutzern regelmäßig als ein Zwangsraum beschrieben. Bezeichnenderweise geht Austerlitz’ eigener Erkundung der Französischen Nationalbibliothek ein psychischer Zusammenbruch voraus, der seine Einlieferung in die durch Jean-Martin Charcot berühmt gewordene Psychiatrie der Salpêtrière zeitigt. Sie befindet sich im Stadtraum von Paris genau zwischen der neuen Nationalbibliothek und der Gare d’Austerlitz. Die von Sebald vorgenommene vertikal-archäologische Erkundung des Ortes, welche die Überlagerung von Bibliothek und Lager zu Tage befördert, wird zusätzlich von einer horizontalurbanen Lektüre durchkreuzt, die einer virtuellen Achse der Kontinguität folgend die räumliche Nähe zwischen Bibliothek, Psychiatrie, Bahnhof ins Spiel bringt. Mit dem berühmten psychiatrischen Krankenhaus spielt der Roman das pathologische Register ein. Es erscheint hier gleichsam als notwendiges Moment, um Zusammenhänge sichtbar zu machen, die der Hinweis auf das „Ödland“ zu tilgen versucht. Was der Historiker und Psychiatriepatient Austerlitz über die Bibliothek sagt, ist jedoch nichts anderes, als das, was auch in den Diskursen von Perrault und Nora zum Ausdruck kommt. Die Bibliothek liege, so Austerlitz, im „desolaten Niemandsland“; in ihrer „äußeren Dimensionierung und inneren Konstitution“ sei sie „menschenabweisend und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kompromißlos entgegensetzt“.62 Weitere Syntagmen aus Austerlitz’ Beschreibung der Bibliothek, die vom selben Phantasma zeugen, seien hier angeführt: Die steilen Stufen zu erklimmen, sei „nicht ganz gefahrlos“, und die Esplanade erscheint wie ein „gänzlich ungeschützter Plan, über den der Wind den Regen treibt“. Es ist vom „leeren Raum“ die Rede, vom „babylonischen Eindruck“, den das Gebäude erwecke. Die Leser, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen, müssten sich einem „Abwärtstransport“ anvertrauen, nachdem sie eben erst mit viel Mühe auf das Plateau hinaufgestiegen seien. Weiter heißt es, dass Austerlitz’ Fahrt nach unten in die unterirdischen Lesesäle „vor einer provisorisch wirkenden […] mit einer Vorhängekette verschlossenen Schiebetüre endete, an der man sich von halbuniformierten Sicherheitsleuten durchsuchen lassen mußte.“63 Von den Bäumen, die in den unzugänglichen Garten der Bibliothek verpflanzt worden sind, sagt Austerlitz, sie seien „hierher an den Ort ihres

62 W. G. Sebald, Austerlitz, S. 388. 63 Ebda., S. 391.

6 Die französische Nationalbibliothek und das Phantasma eines Lagers

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Exils gebracht worden“.64 Sie bilden zusammen mit den großen Fensterfronten des Lesesaals eine tödliche Falle für die Vögel, die sich in diesem eingeschlossenen Garten niedergelassen haben: „Mehrfach sei es auch vorgekommen, sagt Austerlitz, daß Vögel, die sich in den Bibliothekswald verirrten, in die in den Glasscheiben des Lesesaals sich spiegelnden Bäume hineingeflogen und, nach einem dumpfen Schlag, leblos zu Boden gestürzt sind.“65 Die hier zentralen Wörter „menschenabweisend“, „nicht ganz gefahrlos“, „leerer Raum“, „babylonisch“, „Abwärtstransport“, „Exil“, „dumpfer Schlag“, „leblos zu Boden stürzen“, „von niemanden vorhergesehene Unfälle“, „Todessturz“ verweisen zunehmend weniger auf die Bibliothek und sprechen mehr und mehr von einem Zwangsraum, in dem schemenhaft derjenige aufscheint, in dem Austerlitz’ Eltern getötet worden sind. Zugleich aber erweist sich für Austerlitz die Bibliothek als völlig unbrauchbar bei der Suche nach den Spuren seines in Paris zuletzt gesehenen und dann verschollenen Vaters.66 Kurz darauf wird Austerlitz vom Bibliothekar Lemoine auf das so genannte Belvedere der Bibliothek geführt, das sich im 18. Stockwerk der Tour des lois befindet. Hier wird nun der stereometrische Raum, d. h. die historische und zugleich signifikante Schichtung des Grundes, auf dem die Bibliothek erbaut worden ist, zum Thema. Lemoines Diskurs beginnt mit den schon zitierten Worten, die hier noch einmal angeführt seien: Auf dem Ödland zwischen dem Rangiergelände der Gare d’Austerlitz und dem Pont Tolbiac, auf dem heute diese Bibliothek sich erhebt, war beispielsweise bis zum Kriegsende ein großes Lager, in dem die Deutschen das gesamte von ihnen aus den Wohnungen der Pariser Juden geholte Beutegut zusammenbrachten.67

Während Lemoine spricht, geht die Sonne unter, und vor Austerlitz’ Augen reduziert sich die Bibliothek langsam auf ein – wie es heißt – „gleichmäßig schwarzes Geviert“.68 Das „gleichmäßig schwarze Geviert“, eine Silhouette, ein Schattenbild, zu dem die Bibliothek zuletzt zusammenschmilzt, meint zum einen den Abgrund, in den es den Protagonisten zieht; zum anderen ist mit dieser schwarzen Fläche auch das Ende des Bildes, das Ende der Repräsentationen und Projektionen angedeutet. Keine Wachtürme mehr, kein Stacheldraht, kein Tor, kein Fluchtweg. Das Phantasma zieht sich zurück, verdunkelt sich, die Empfindung, die sich einstellt, ist nun gegenstandslos. Man stelle sich vor, Levi hätte vor

64 65 66 67 68

Ebda., S. 393. Ebda., S. 394. Ebda., vgl. S. 395. Ebda., S. 403. Ebda., S. 405.

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dreißig Paar Schüleraugen eine schwarze Fläche auf die schwarze Schiefertafel gezeichnet. Oder aber: Er hätte seine stereotype Lagerskizze langsam wieder ausgewischt und den Schülern das schwarze Geviert der Schiefertafel als letztes Bild gelassen. Im Akt dieses Zurücktretens des Bildes gewinnen die Fragen Kontur, all die Fragen, auf die die Bibliothek – „das Schatzhaus unseres gesamten Schrifterbes“69 wie es in Austerlitz heißt – keine Antworten gibt.

7 Der stets versetzte Schauplatz Austerlitz’ „hoch entwickeltes topographisches Bewußtsein“70 ist eines, das im Roman als eine Graphie ausgeschrieben wird, die die Topoi durchstreicht. Auf diese Weise entsteht eine Geometrie und Geographie der Katastrophe, die quer zu unserer Kultur der Erinnerungsorte verläuft, sofern letztere im wörtlichen Sinne topographisch, also auf einzelne Orte fixiert bleibt. Der euklydische Raum als „homogenes Kontinuum des Auseinander- und gleichzeitig Nebeneinanderseins“71 hat nur einen sehr begrenzten Stellenwert, wo es um die Beschreibung eines traumatisierten Raums geht, der vor allem durch die latente Einschreibung und Insistenz von Signifikanten konstituiert ist. Dieser Raum ist auch nicht mehr mit dem Foucaultschen Begriff der Heterotopie zu fassen. Es sei denn, diese wird im Sinne einer Heterologie weiterentwickelt, die die alptraumhaften Verschiebungen, die Heterotopien immer schon implizieren, zu denken versucht.72 Darin kann der spezifische Beitrag von Sebalds Roman zu raumtheoretischen und zugleich geschichtsphilosophischen Überlegungen gesehen werden. Freilich läuft dieser Versuch stets auch Gefahr, alle Orte auf einen einzigen Signifikanten – Auschwitz – zu reduzieren. Die labyrinthisch angelegte und prinzipiell unendlich weit verzweigte Erzählung steht unter „saturnischen Ringen“, wie der Titel eines anderen Romans von Sebald suggeriert.73 Sie sorgen dafür, dass alle evozierten

69 Ebda., S. 395. 70 Vgl. ebda., S. 282. 71 Vgl. die Definition bei Samuel Weber: Rückkehr zu Freud, S. 56. 72 Cornelia Klettke operiert mit einem solcherart weiterentwickelten Begriff der Heterotopie als Heterologie in ihrer Lektüre von Cécile Wajsbrots Roman L’Île aux musées (2008). Eine „differentielle Verschiebung der Heterotopien“ ermöglicht es, in Wajsbrots Roman, in dessen Zentrum die Berliner Museumsinsel steht, auch „eine Allusion an die Gaskammern des Konzentrationslager [zu provozieren]“, die selbst kein Thema des Romans sind (dies.: „Die Insel der Schatten und ihr beredtes Schweigen – Heterotopie und Heterologie in L’Île aux musées von Cécile Wajsbrot“, S. 377). 73 W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn, Frankfurt a. M.: Fischer 1995.

7 Der stets versetzte Schauplatz

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Details Teil jener „Zwangsgemeinschaft“ werden, die im Roman in erster Linie als sprachlich-assoziativer Zwang, als „Familienähnlichkeit“, ausgeschrieben wird.74 Austerlitz’ Topographie kennt den Ort als eine Einheit mit Anfang und Ende nicht. Im Gegenteil, er, der immer ortloser wird, durchkreuzt allenfalls die Orte: Dabei entstehen Linien, durch die eine zweidimensionale Raumabbildung in einen in sich zusammengezogenen, komplex stereometrischen Raum umgeformt wird. Mit dieser narrativ hervorgebrachten Dynamisierung treibt der Roman Fragen hervor, die nicht zuletzt über seine Erzählung weit hinausreichen: Die erste Frage betrifft das Zusammenwirken so gegenstrebiger Dynamiken wie Konzentration und Zerstreuung, wie es dem Vernichtungsgeschehen zugrunde liegt; die zweite Frage betrifft die Deportation als Transportlogistik auf Schienen, die den europäischen Raum durchziehen. Beide Fragen werden im Roman in eine Narratologie übersetzt, die auf Überdeterminierung, Inschrift und metonymischer Reihenbildung beruht. Während Austerlitz hinter den Dingen und in den Orten nach einer Antwort für sein Leben sucht, führt der übergeordnete Erzähler vor, dass hinter den Dingen und in den Orten nichts zu finden ist, sondern dass sich Spuren der prinzipiellen Ausweitung des Lagers ins allgegenwärtige Phantasma nur in der Sprache aufzeigen lassen, wo Wörtern in erster Linie andere Wörter eingeschrieben sind, die die unbewusste Seite unserer Affekte berühren. Bevor sich Austerlitz für immer von seinem Freund, dem Ich-Erzähler, verabschiedet, übergibt er ihm die Schlüssel seines Hauses in London in der Alderney Street, nicht ohne auf eine Ziegelmauer hinzuweisen, in der ein Tor eingelassen ist, das zu einem verborgenen jüdischen Friedhof aus dem 18. Jahrhundert führt.75 Von diesem Ort, der selbst aus einer mentalen Verschiebung des existierenden jüdischen Friedhofs in der Alderney Road in den imaginären in der Alderney Street hervorgegangen ist, sagt er: „[M]an hätte meinen können […], man sei eingetreten in eine Märchenerzählung.“76 Der Ich-Erzähler, dem „die Geschichte von dem Begräbnisplatz […] nicht mehr aus dem Sinn“ geht, tritt indessen nicht durch das Tor in der Ziegelmauer in die „Märchenerzählung“ ein.77 Es ist zu vermuten, dass das in die „Ziegelmauer“ eingeschriebene Wort „Lager“

74 Genau dieser Aspekt hat immer wieder auch heftige Abwehrreaktionen gegen den Roman hervorgerufen, vgl. zum Beispiel Thomas Steinfeld: „Die Wünschelrute in der Tasche der Nibelungen“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.3.2011, S. 4. Steinfeld bezeichnet darin Austerlitz als einen „Inquisitor“ in einer Welt, in der „alle Wege nach Theresienstadt führen“ (zit. nach Anderson: „The Edge of Darkness: On W. G. Sebald“, S. 104). 75 W. G. Sebald: Austerlitz, S. 410. 76 Ebda., S. 411. 77 Ebda.

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sowie all die anderen Ziegelmauern, die hier aufgerufen werden und die im Roman häufig im Zusammenhang mit Stätten der Gewalt erwähnt werden, verhindern, dass der Roman schlechterdings in diesen jüdischen Friedhof, an dem die Toten friedlich an ihrem Platze liegen, einmüdet. Dennoch darf Austerlitz’ Märchenerzählung als eine Gabe gewertet werden, die den Ich-Erzähler begleiten wird, wenn er nun noch einmal nach Antwerpen reist, um „hinauszufahren nach Breendonk“,78 wo wir Leser ihn schon zu Beginn des Romans angetroffen haben. Die Suche geht weiter, die Geschichte beginnt von Neuem, aber nun unter einem anderen Vorzeichen, dank dem sie vielleicht noch einmal anders erzählt werden kann.

78 Ebda., S. 412.

Dritter Teil

VI Insistenz, Inversion, Paradox: Dante Alighieris Commedia Nicht ‚Heilung‘ heißt die Aufgabe, sondern ‚Wunde‘.1

1 „Dante in Auschwitz“. Methodische Vorbemerkungen Kein anderer Text insistiert in den literarischen Zeugenschaften und philosophischen Überlegungen zum Lager in derart ausgeprägtem Maße wie Dante Alighieris Commedia. Thomas Taterka hat in seiner Abhandlung Dante Deutsch eine umfassende Bestandsaufnahme dieser Bezugnahme geliefert.2 Zahlreiche Autoren, die für das Schreiben über Auschwitz kanonisch geworden sind, haben sich in unterschiedlicher Weise, vergleichend, übersteigernd, oft auch abgrenzend, zur Commedia in Bezug gesetzt. Neben Hannah Arendt, David Rousset, Peter Weiss, Victor Klemperer, Cordelia Edvardson, Giorgio Pressburger und vielen anderen seien hier noch einmal Primo Levi und Imre Kertész erwähnt, bei denen ich das intertextuelle Spiel mit der Commedia eingehend analysiert habe (Kapitel III.6 und IV.4).3

1 Günther Anders: Besuch im Hades. Auschwitz und Breslau 1966. Nach ‚Holocaust‘ 1979. München: C. H. Beck 1979, S. 188. 2 Neben Thomas Taterka: Dante Deutsch. Studien zur Lagerliteratur, vgl. zu diesem Komplex auch Mona Körte: „Limbus und Hölle – Metaphern des Unbeschreiblichen. Theresienstadt in literarischen Texten“. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Frankfurt a. M., New York: Campus 1996, Band 5, S. 196–210 sowie Gisela Bock: „Einführung“. In: dies. (Hg.): Genozid und Geschlecht. Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem. Frankfurt a. M.: Campus 1995, S. 7–20, hier: S. 16ff. Kritisch angemerkt sei an dieser Stelle, dass Taterka den literarischen Gebrauch der Höllen-Metaphorik im Allgemeinen mit intertextuellen Bezugnahmen auf Dante Alighieris Commedia in problematischer Weise verwischt. 3 Erinnert sei hier insbesondere an Hannah Arendt, die in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 920f. die Lager als die „tatsächliche Herstellung durch den Menschen dessen, was die menschliche Phantasie seit Jahrtausenden in ein Reich jenseits menschlicher Kompetenz verbannt hat: Hölle und Fegefeuer“ begreift. Siehe außerdem dies., „Das Bild der Hölle“. in: dies.: Nach Auschwitz. Essays und Kommentare I. Hg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann. Berlin: Edition Tiamat 1989, S. 49–62; des Weiteren David Rousset: L’univers concentrationnaire; Peter Weiss: Die Ermittlung, Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1965, siehe dazu Jürgen Wöhl: Intertextualität und Gedächtnisstiftung. Die Divina Commedia bei Peter Weiss und Pier Paolo Pasolini. Frankfurt a. M., Berlin, Bern: Peter Lang 1997 sowie Silke Segler-Meßner: „Moderne Höllendarstellungen: Peter Weiss und Primo Levi im Gespräch mit Dante“. In: Jahrbuch

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VI Insistenz, Inversion, Paradox: Dante Alighieris Commedia

Die Bezugnahmen haben, obgleich sie sich dem Imaginären gleichsam spontan aufdrängen, nichts Selbstverständliches, ja, sie sind nicht selten von einer heftigen Abwehr derselben durchdrungen: Denn die Lager haben mit der Hölle, wie sie sich die menschliche Phantasie seit Jahrtausenden ausgemalt hat, vermutlich ebenso wenig gemein wie mit Dante Alighieris Inferno. Beispielhaft kommt die Ambivalenz, mit der dieser Vergleich behaftet ist, in einer Stellungnahme des Romanisten Viktor Klemperer zum Ausdruck. Er schreibt zu einer von Arnold Zweig herausgegebenen Anthologie von Ghettotagebüchern, in der dieser vom Ghetto als einem Inferno spricht: Für den gebildeten Leser ist es geradezu unvermeidlich (und mir ist es oft genug ebenso ergangen) die Hölle des KZ mit dem Danteschen Inferno zu vergleichen und sich zu fragen, wo die größere Grausamkeit herrsche – denn an Scheußlichkeiten und ihrer genauesten, veristischen Ausmalung fehlt es bei Dante gewiß nicht – und warum es ein ästhetischer Genuß sei, im Inferno zu lesen und eine Qual, sich in irgendwelche Schilderungen aus dem KZ zu vertiefen.4

Bemerkenswert sind an diesem Kommentar mehrere Aspekte: Erstens spricht Klemperer davon, dass die Assoziation, die er für unzulänglich erklärt, zugleich unvermeidlich sei. Zweitens diskutiert er die Inadäquatheit des Vergleichs von vornherein nicht auf inhaltlicher, sondern auf poetologischer Ebene. Drittens kommt in der Wendung „irgendwelche Schilderungen aus dem KZ“ eine Abwehr gegen das Thema überhaupt zum Ausdruck, die im Fall des jüdischen Intellektuellen Klemperer, der aus seiner eigenen Wohnung ausgewiesen wurde, in verschiedenen Dresdner Judenhäusern überlebte und der Deportation nur knapp entkam, komplexe Implikationen haben mag. Viertens ist zu bemerken, dass ihm literarisch hochwertige Zeugenschaften wie die frühen Texte von Robert Antelme und Primo Levi, die er nur schwerlich als „irgendwelche Schilderungen“ hätte abtun können, 1959 offensichtlich nicht gegenwärtig waren. Deutlich wird an Klemperers Stellungnahme, dass die Kritik am Vergleich jedoch der nachgerade seriellen Wiederkehr des Dante-Echos keinen Einhalt zu gebieten vermag, ja sie verlängert es nur mehr. Etwas manifestiert sich in dieser Referenz, das sich dem Argument, dem zufolge der Vergleich unstimmig, ja unzulänglich sei, selbst und gerade dort, wo er als Figur der Steigerung eingesetzt wird, zu entziehen scheint. Der Hölle eignet ein unüberbietbarer Superlativ des

für internationale Germanistik, 39/1 (2007), S. 51–80; Weitere literarische Texte sind z. B. Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer; Giorgio Pressburger: Nel regno oscuro. Milano: Bompiani 2008. 4 Vgl. Viktor Klemperer: „Inferno und Nazihölle“. In: Neue Deutsche Literatur, 7. Jg., Heft 9–10 (1959), S. 245–252, hier: S. 246, siehe dazu auch Thomas Taterka: Dante Deutsch, S. 67f.

1 „Dante in Auschwitz“. Methodische Vorbemerkungen

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Grauens, der offensichtlich allein durch den Komparativ des Vergleichs überboten werden kann. Eine theoretisch grundlegende und befriedigende Erörterung dieses doch sehr auffälligen Phänomens steht allerdings bislang immer noch aus.5 Man muss in diesem Echoraum selbstverständlich differenzieren: Es ist ein Unterschied, ob der Vergleich von einem überlebenden Zeugen in einem literarischen oder in einem nicht-literarischen Zeugnis gemacht wird, oder ob er angestellt wird von Literaturkritikern, die sich mit diesen und anderen Zeugnissen auseinandersetzen. Unterschiedlich sind die Reminiszenzen darüber hinaus in ihrer jeweiligen Kenntnis der Commedia ebenso wie im Ausmaß ihrer intertextuellen Ausarbeitung. Letztere reicht vom schieren Anspielen auf die „Hölle“ bzw. das „Inferno“ über das Zitieren sprichwörtlich gewordener Passagen aus der Commedia bis zur Aneignung von Momenten von Dante Alighieris Erzählstruktur, wie wir dies bei Levi und Kertész herausarbeiten konnten. Peter Kuon deutet in seiner systematischen Studie zur Rezeption der Commedia in der Erzählliteratur der Moderne die Commedia als einen „allegorischen Bezugsrahmen“, der „zu den Werken der Weltliteratur [gehört], die nicht nur als Bestandteil einer Bibliothek verfügbar sind, sondern als kulturelles Wissen überliefert werden“.6 Er sieht bei den modernen Autoren in erster Linie die Intention am Werk, über die wörtliche Ebene ihres literarischen Erzeugnisses hinaus eine zusätzliche allegorische Sinnebene zu erschließen. Zugleich problematisiert er dieses Verfahren unter den Vorzeichen der Sinnfragmentierung bzw. des Sinnverlusts, von denen die Moderne an sich gekennzeichnet sei. Er schlussfolgert, dass die Wiederaufnahme der Commedia als allegorische Folie „den autoritativen Prätext […] weit seltener ‚wieder-holend‘ bestätigt als in ernsthafter und/oder parodistischer Absicht bis zur Unkenntlichkeit verwandel[t]“.7 Doch auch diese

5 Taterkas Abhandlung ist in erster Linie ein Inventar, das selbst keine weiterführende, theoretische Ergründung dieser Insistenz liefert. Ebenso stellt sich dies für den Beitrag von Zygmunt G. Baranski: „The Power of Influence. Aspects of Dante’s Presence in Twentieth-Century Culture“. In: Strumenti critici, Nr. 1 (1986), S. 343–376 dar, der die Insistenz Dantes in der italienischen Kultur des 20. Jahrhunderts ähnlich inventarisch vorstellt. Vergleichbares hat Eva Hölter: Der Dichter der Hölle und des Exils: Historische und systematische Profile der deutschsprachigen DanteRezeption. Würzburg: Königshausen und Neumann 2002 für die deutsche Literatur geleistet. Manuele Gragnolati erwähnt im Vorwort zu dem von ihm mitherausgegebenen Band Metamorphosing Dante. Appropriations, Manipulations and Rewritings in the Twentieth and Twenty-First Centuries. Wien: Turia + Kant 2010 „Dante’s obsessive presence within modernity, which often seems paradoxical or even contradictory“ (S. 10), ohne allerdings dieses Paradox weiter zu vertiefen. Auch streift der Band nur am Rande die Insistenz der Commedia in der Lagerliteratur. 6 Peter Kuon: Il mio maestro, S. 32f. 7 Ebda., S. 35.

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VI Insistenz, Inversion, Paradox: Dante Alighieris Commedia

angenommene Verschiebung und Entstellung der Commedia in ihrer modernen Wiederaufnahme kann die Grundvorstellung, dass „der Rückgriff auf die Divina Commedia für manchen Schriftsteller eine Möglichkeit dar[stellt], die moderne Wirklichkeit, die nicht mehr erzählbar scheint, dennoch zu erzählen und, wenn auch nur ‚ex negativo‘, mit einem wie auch immer begrenzten oder relativierten Sinn zu versehen“,8 nicht erschüttern. Die Commedia wird in Kuons Überlegungen weiterhin als großes sinnstiftendes Reservoir aufgefasst, das von modernen Autoren noch einmal in Anspruch genommen wird. Intertextualität ist in seinen Ausführungen demnach ein intentionales, allegorisches Verfahren, das sogar in der Sinnentstellung noch in der Lage ist, Sinn zu stiften. In vergleichbarer Weise begründet Taterka das anhaltende Referieren der Commedia in Lagertexten, wenn er schreibt: Dantes Inferno scheint eine Möglichkeit anzudeuten, wie ‚es‘ sprachlich vermittelt werden könnte, wenn ‚es‘ sprachlich vermittelt werden könnte. Es ist, als ob die Commedia den Autoren den am weitesten vorgeschobenen Punkt auf der asymptotischen Parabel bezeichne, auf der man sich der jeder Sprache abgewandten Welt der Konzentrationslager sprachlich anzunähern versucht.9

Ich habe Zweifel an diesen Erklärungen und zwar aus folgendem Grund. In der insistenten Serialität dieser Reminiszenzen manifestiert sich etwas, das sich nicht durchgehend auf die bewusste Bezugnahme auf das sinnstiftende Reservoir eines mittelalterlichen, zudem hochkomplexen Textes zurückführen lässt. Sie muss vielmehr als eine Art Verselbständigung des Inferno gefasst werden, das sich im Laufe von 700 Jahren Rezeption einerseits zur Trope bzw. Pathosformel10 verfestigt, andererseits zu einem vagen, aber anhaltenden Imaginären verflüssigt hat. Mit der Textualität der Commedia hat diese Form der Rezeption nur noch wenig zu tun. Levis lückenhaftes, auf schulischer Auswendigkeit beruhendes Rezitieren der Commedia in Auschwitz ist auch eine implizite Reflexion darüber – nämlich über die unweigerliche Entstelltheit, mit der die Commedia in unsere säkularisierte Gegenwart hineinragt. Die von Levi zitierten Verse aus der Commedia sind nicht so sehr im metaphysischen Sinne sinnstiftend, sondern stehen vielmehr für das Genießen einer anderen Sprache und eines anderen Klangs und damit vor allem für die Unterbrechung der totalitären Lagersprache. Sobald hingegen die Commedia als Sinngefüge ins Spiel kommt, droht sie in Konfrontation mit der Realität der Lager mit Straf-, Reinigungs- und Einheitsphantasmen ver-

8 Ebda. 9 Thomas Taterka: Dante Deutsch, S. 52. 10 So Martin von Koppenfels: „Dante in- und auswendig…“, S. 206.

1 „Dante in Auschwitz“. Methodische Vorbemerkungen

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schliffen zu werden. Dies reflektiert in trefflicher Weise die ironisch ausgestellte, unbedachte Art, mit der der Journalist in Kertész’ Roman eines Schicksallosen die Höllen-Metapher in den Mund nimmt. Bestehen bleibt indessen das Faktum der Insistenz, dem wir im Kontext unserer Überlegungen zu traumatischen Konfigurationen immer wieder begegnet sind als einem Phänomen, das sich wider alle Vernunft aufdrängt und sich auch nicht durch vernünftige Argumentation beseitigen lässt. Der Begriff der Insistenz spitzt hier den Begriff der Intertextualität zu als drängende Wiederkehr von Texten und Zeichen innerhalb der Literaturgeschichte, die zu keiner abschließenden Bedeutung und Form gefunden haben. Die Vorstellung von einer intentionalen, allegorischen Bezugnahme auf ein Sinngefüge wird damit in den Bereich der latenten Wiederkehr von etwas, das nicht beherrscht werden kann, verschoben.11 Meine Hypothese ist daher, dass schon in der Commedia selbst etwas unbewältigt bleibt, das sich nachträglich und vornehmlich in Texten des 20. Jahrhunderts, insbesondere in literarischen Texten über die nationalsozialistischen Lager, manifestiert. Um an dieser Stelle weiterzudenken, will ich die Frageperspektive verkehren. Ich frage nicht mehr, wie dies bislang zumeist getan worden ist, inwiefern die Commedia mit dem Inferno ein Modell liefert, die Lagerwelt darstellbar zu machen, sondern zum einen, was es mit diesem Unbewältigten in der Commedia auf sich hat und zum anderen, welche Elemente die Commedia insgesamt bereitstellt, die, ohne die Lagerwelt darzustellen oder einen Gegenentwurf zu ihr vorzustellen, von einem narrativen und poetisch avancierten Umgang mit traumatischen Ereignissen zeugen. Es folgt ein lesender Durchgang durch die Commedia, der sich vor allem auf diejenigen mikro- und makrostrukturellen Momente konzentriert, die für die Frage nach Wiederholung und Durcharbeitung einer traumatischen und somit unbewältigten Situation relevant sind. Während eine traditionelle, allegorische Lesart der Commedia zu versprechen vorgibt, dass jedes Zeichen in diesem Textgewebe eine feststehende Bedeutung hat, erweist sich gerade die drängende Wiederkehr der Commedia in Kontexten, in denen die Ordnung der Worte und der Dinge gänzlich auseinandergebrochen

11 Für ein Intertextualitätskonzept, das sich nicht auf die intentionale Bezugnahme auf andere Texte durch den Autor reduzieren lässt, vgl. insbesondere Julia Kristeva, Σημειωτική. Recherches pour une sémanalyse. Paris: Seuil 1969 (darin vor allem: „Le mot, le dialogue et le roman“, S. 82– 122), des Weiteren Roland Barthes: Le plaisir du texte. Paris: Seuil 1973 und ders.: „Texte (théorie du)“. In: Encyclopaedia Universalis France. Paris: Éditeur à Paris 1973, Band XV, S. 1013–1017, ferner Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990 sowie die jüngste Diskussion dieser Ansätze bei Ottmar Ette: Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies. Berlin: Kadmos 2012, S. 147–157.

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ist, nicht so sehr als Lösung und Wiederherstellung einer verloren gegangenen Ordnung, sondern vielmehr fordert umgekehrt der Kontext, in dem die Commedia verkürzt und entstellt wiederkehrt, dazu auf, diese wieder neu und anders zu lesen. Dabei wird deutlich, wie ich im Folgenden zeigen möchte, dass uns die Commedia hier und heute, zumal im Zusammenhang mit Fragen des Traumas, genau dann etwas zu sagen hat, wenn sie aus ihrer theologisch-allegorischen Lesart freigesetzt wird und stattdessen, wie es ein Zweig der Dante-Forschung, der bis auf Boccaccios Trattatello in laude di Dante (1362)12 zurückreicht, immer auch getan hat, als ein grundsätzlich dichterischer Beitrag gelesen wird.13 Das irdische, vitale Prinzip von Dichtung liegt nicht in der Aufhebung ihrer ihr innewohnenden Aporie sub specie aeternitatis; es liegt in ihrer irreduziblen Zeichenkonfliktualität, in der andere, unvorhergesehene und primär nicht intendierte sprachliche Formen des Umgangs mit existentieller Not, mit Sinnverlust, Gewalt und Vernichtung statthaben können. Im Auseinanderdriften von Sagen und Bedeuten kommt die Dichtung damit notwendig von ihrem Weg zum inkarnierten Wort ab, so wie das Dantesche Ich zu Beginn der Commedia.14

12 Giovanni Boccaccio: Trattatello in laude di Dante. Introduzione, prefazione e note di Luigi Sasso. Milano: Garzanti 42013. 13 Auf diesen grundlegenden Streit um die Frage der Deutung der Commedia kann ich hier nur am Rande eingehen. Die Forschung diskutiert seit den frühesten Kommentaren, ob die Commedia ausschließlich allegorisch zu lesen sei oder ob sie als „sacrato poema“ dem vierfachen Schriftsinn standhalte. Wichtig für unseren Zusammenhang ist Gerhard Regns Hinweis auf die komplexe Operation, die Dante Alighieri unternimmt, um den Status seiner eigenen Worte an denjenigen der Theologie anzuschließen. Im zeitgenössischen scholastischen Diskursfeld war die poetica bekanntlich die niedrigste Disziplin und für die Vermittlung höchster Wahrheit geschweige denn für Offenbarung schlechthin ungeeignet (vgl. ders: „Doppelte Autorschaft: Prophetische und poetische Inspiration in Dantes Paradies“. In: Renate Schlesier und Beatrice Trînca (Hg.): Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft. Hildesheim: Weidmann 2008, S. 139–155, hier: S. 140). Wie wird nun diese Aufwertung der Poesie zum prophetischen Wort bewerkstelligt? Regn zufolge, indem Alighieri Gott selbst als einen Dichter fasst, der nach irdischen Dichtungsgesetzen verfährt (vgl. ebda., S. 145). Andreas Kablitz spricht hingegen in Hinblick auf das „heilige Gedicht“ – „il sacrato poema“ – von einem „Konkurrenzverhältnis“ zwischen Dichtung und Bibel. Er argumentiert, dass die „funktionale Rechtfertigung der Fiktion durch die Allegorie einem unausdrücklichen Eingeständnis der Wirkungslosigkeit der Offenbarung gleichkomme“ und Erlösung deshalb dichterisch „wiederholt“ werden müsse (vgl. ders.: „Poetik der Erlösung. Dantes Commedia als Verwandlung und Neubegründung mittelalterlicher Allegorese“. In: Glenn Most (Hg.): Commentaries – Kommentare. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1999, S. 353–379, hier: S. 355 und S. 361). 14 Mit „Ich“ bzw. „Danteschem Ich“ wird im Folgenden die Figur im Text bezeichnet, die „io“ sagt und die mal mehr in der erlebenden, mal mehr in der nachträglich das Erlebte schildernden Perspektive erscheint. In Differenz dazu nenne ich den Autor der Commedia, wie dies in der Literaturwissenschaft in Bezug auf beinah alle anderen Autoren üblich, in der Dante-Forschung

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Es ist Beatrice, die im ersten Gesang des Paradiso diesen Vergleich zwischen der grundlegenden Nicht-Koinzidenz von Form und Absicht eines irdischen, materiell gebundenen Kunstwerks einerseits und dem Abkommen vom Weg andererseits ins Spiel bringt: Vero è che, come forma non s’accorda molte fïate all’intenzion de l’arte, perch’a risponder la materia è sorda, così da questo corso si diparte talor la creatura, c’ha podere di piegar, così pinta, in altra parte; (Par. I, 127–132)15 [Gewiß, wie oftmals nach dem innern Willen / Der Kunst die Formen sich nicht fügen mögen, / Weil taub der Stoff ist, / So können auch noch diesem Lauf die Wesen / Bisweilen weichen, denn mit solchem Triebe / Sind sie noch fähig, seitwärts abzubiegen.]16

Beatrice, die stets als Allegorie der Theologie aufgefasst worden ist, denunziert hier die Kunst als ein Produkt aus Spannungen zwischen Form, taubem Stoff und Trieb, das notwendig vom Weg abkommen muss. Umgekehrt aber wird lesbar, dass erst und gerade das Abkommen vom Weg Dichtung hervorzubringen weiß, dass Dichtung stets aus der Abweichung entsteht und in der Abweichung besteht. Und dass Dichtung als ein solches Produkt insbesondere dazu aufgerufen ist – das sagt Beatrice nicht, dafür aber die Commedia als vorhandene Dichtung –, sich dem Abkommen des Menschen von seinem Weg auszusetzen. Gerade weil Dichtung eine Kenntnis von der Nicht-Koinzidenz mit sich selbst ebenso wie vom eigenen Stumm-Bleiben hat, ist sie im besonderen Maße dazu berufen, sich mit der traumatischen, im Wesentlichen stummen Erfahrung des Sich-Verirrens, wie sie in der Commedia thematisiert wird, auseinanderzusetzen. Unter diesen Vorgaben schlage ich im Folgenden eine Lektüre der Commedia vor, die die bislang in der Forschung dominierende Fragerichtung umkehrt. Die

aber eher unüblich ist, mit Vor- und Nachnamen bzw. nur mit Nachnamen. Ich markiere dadurch bewusst meine entsakralisierende und zeitgenössische Lesart der Commedia und unterstreiche ihren Experimentcharakter. 15 Zitiert wird im Folgenden nach Dante Alighieri: La Commedia secondo l’antica vulgata. Hg. von Giorgio Petrocchi, 4 Bände, Milano: Mondadori 1966–67. 16 Wenn nicht anders spezifiziert, stammen die Übersetzungen aus der Feder von Hermann Gmelin (Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch, übersetzt und kommentiert von Hermann Gmelin, 6 Bände. Stuttgart: Ernst Klett 1949–1957). Hier allerdings habe ich schon eine Modifizierung vorgenommen, und statt „dieweil die Stoffe keine Antwort geben“, wie Gmelin schreibt, die wortgetreuere Übersetzung von Philaletes „weil taub der Stoff ist“ bevorzugt (Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Aus dem Italienischen von Philaletes. Frankfurt a. M.: Fischer 52012).

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Commedia soll nun nicht so sehr in Bezug auf die Halt- bzw. Unhaltbarkeit der in der Lagerliteratur wirksam werdenden Reminiszenzen an das Inferno interessieren, sondern als ein höchst komplexes Modell schriftlicher Durcharbeitung einer traumatischen Situation überhaupt. Ausgehend von der Beobachtung der Insistenz der Commedia in vielen literarischen Bearbeitungen der Lagerrealität des 20. Jahrhunderts möchte ich nun mit den Erkenntnissen, die wir in unserer Auseinandersetzung mit aktuellen TraumaTheorien einerseits und den philologischen Beobachtungen, die wir im zweiten Teil der Arbeit durch die Lektüre drei kanonischer Texte der Holocaust-Literatur gewinnen konnten, den Versuch wagen, die Commedia neu zu lesen. Und zwar zu lesen als einen ersten großen Text der Weltliteratur, in dem eine traumatische Erfahrung nicht in einem antiken, tragischen Modell aufgehoben wird, sondern zu einem letztlich unaufgelösten Spiel und Widerspiel der Wiederholung führt, als immer wieder neu sich stellende Unentschiedenheit zwischen der schieren Insistenz und Wiederkehr eines Unbewältigten und der Chance seiner Durcharbeitung mit dichterischen Mitteln.

2 Zeitlosigkeit und das verändernde Wort Im Purgatorio deklariert das erzählende Ich in einer seiner direkten Leseransprachen, dass seine Dichtung nicht die Abbildung des Geschauten beabsichtige, sondern ein anderes Ziel verfolge: A descriver […] più non spargo rime, lettor; ch’altra spesa mi strigne. (Purg. XXIX, 97–98) [Nicht Reime mehr verschwend’ ich, Leser, ihre Gestalt zu schildern, denn ein anderer Aufwand drängt mich.]17

An dieser markierten Absetzung von einem mimetisch-beschreibenden Dichtungsbegriff wurde oftmals Alighieris theologische Mission festgemacht, um die Commedia daraufhin immer weniger im Zeichen des poetischen Eigenwerts und zunehmend mit theologischen Parametern zu erforschen. Lesen wir jedoch die zitierten Verse noch einmal, so bemerken wir, dass das Adjektiv „altra“, indem es

17 Übersetzung nach Philaletes. Die ökonomische Vorstellung, die im Verb „spargere“ sowie im Substantiv „spesa“ aufgerufen wird, bleibt sowohl bei Gmelin als auch in den Übersetzungen von Walter Naumann und Hartmut Köhler, auf die ich mich später noch beziehen werde, unterbelichtet.

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eine Differenz zum „descrivere“ markiert, noch nicht spezifiziert, worin dieser andere Aufwand, diese andere Verausgabung („spesa“) besteht. Da im Kontext dieser Arbeit die Commedia als eine Dichtung interessiert, die nachhaltig auf die moderne Literatur gewirkt hat und innerhalb der Lagerliteratur eine intertextuelle Sonderstellung einnimmt, sollen die zitierten Verse also zunächst einmal als Hinweis auf etwas Anderes von der Dichtung intendiertes gelesen werden. Innerhalb der hier zu entwickelnden Argumentation ist dies von besonderem Interesse, da eine solche Äußerung die kritische Absetzung von jener, innerhalb der Holocaust-Literatur dominanten Rezeption ermöglicht, die im Inferno eine Darstellungsform des Grauens sieht, die auch für die Schilderung der Lagerrealität mustergültig ist. Meine These hingegen ist, dass die Commedia in der Holocaust-Literatur nur vordergründig als Darstellungsparadigma nachwirkt, dass ihre eigentliche und nachhaltige Kraft indessen darin liegt, dass sie ein überaus vielschichtiges sprachliches Dispositiv darstellt, mit dem unterschiedliche Verhältnisse zu einer unbewältigten Situation erprobt und in solcher Weise erarbeitet und durchgearbeitet werden können. Eine solche traumatische Situation ist zu Beginn der Commedia angedeutet: Die anfängliche Situation des Ichs in Inferno I ist nicht nur schrecklich, sondern sie lässt es vor allem auch sprachlos; für sie muss überhaupt erst noch eine Sprache gefunden werden. Wie schwer sie innerhalb der gesamten Commedia wiegt, kann allein schon an der Tatsache ermessen werden, dass die 99 Folgegesänge das gesamte Aligheri zugängliche antike Wissen, die mittelalterliche Theologie und Kosmologie bemühen, um es für die im Wesentlichen dichterisch vorgehende Findung einer Sprache, welche die anfängliche Sprachlosigkeit des Danteschen Ichs zu überwinden wüsste, in den Dienst zu nehmen. Den nun schon mehrfach verwendeten Begriff der Durcharbeitung verstehe ich hier als eine sprachliche Geste, die nicht primär auf Abbildung ausgerichtet ist, sondern in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Wiederkehr des Unbewältigten in produktiver Weise mit der Differenz arbeitet, die in jedem Schreib- und Sprechakt am Werk ist. In der Commedia wird diese Durcharbeitung in einen als Jenseits konzipierten Raum verlagert, also in einen Raum, der sich durch ein zeitloses, mit Hegel gesprochen, „wechselloses Dasein“ auszeichnet.18 Ausgerechnet im und durch das Jenseits, wo sich nichts mehr verändert, weil alles ewig ist, ereignet sich eine Durcharbeitung, die vor allem darin besteht, in

18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III. In: Werke. Hg. von Eva Modenhauer und Karl Markus Michel. 20 Bände. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, Band 15, S. 407.

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eine zeitlose, nicht veränderbare Situation, die das irdische Leben des Danteschen Ichs betrifft, Veränderungen einzutragen.19 Das Sprechen des erlebenden Ichs ist – insbesondere im Inferno und im Paradiso – Worten und Gesten Anderer ausgesetzt, deren Kraft darin besteht, sich für immer zu wiederholen bzw. Letztgültigkeit zu behaupten. Solchen Worten kann weder widersprochen, noch können sie widerlegt werden. Demgegenüber kennen solche Worte nicht die Kraft zur Veränderung, um die es diesem dichterischen Unternehmen doch geht. Denn das Ich, das hier vorgestellt wird, drängt nach Veränderung. Es zeigt sich, wie Karlheinz Stierle treffend schreibt nicht in der Endgültigkeit eines Charakters oder einer eingeschliffenen Figur des Selbst, sondern als offenes, bewegliches in Widersprüchen lebendes Ich, das die Bestimmtheit eines endgültigen Selbst noch nicht gefunden hat. […] e[s] ist ein ‚schwacher‘ Charakter im Kontrast zur vollkommenen Individualität und Bestimmtheit des Charakters, die seinen Führer Vergil auszeichnen, der nie die innere Mitte seines Selbstbewußtseins verliert.20

Dieses Ich, das als instabiler, sich wandelnder Fremdkörper – wobei das Fremde sowohl seine irdische Lebendigkeit im jenseitigen Totenreich betrifft als auch das Fremde, das das Ich als ungelöstes und nicht assimilierbares Problem in sich trägt – die Sphären des Jenseits durchquert, trägt in alle drei Räume eine Differenz: eine Irritation und Störung der jeweils herrschenden Ordnung. Eine Differenz, die freilich dem Einfluss der jeweiligen Sprachsphäre immer auch ausgesetzt ist: Während es im Inferno darum geht, die Differenz des eigenen Sprechens (von Seiten des Danteschen Ichs) gegen die Gewalt der Höllengesetze, die vor allem auch darin besteht, das Sprechen der dorthin verdammten Seelen in Hinblick auf Läuterung und Veränderung unwirksam zu machen, mühsam aufrecht zu erhalten, geht es im Paradiso hingegen um die schmerzliche Erfahrung, dass sich das eigene Sprechen nie auf der Höhe dieser Sphäre

19 Diese Bestimmung trifft zumindest auf das Inferno und das Paradiso zu. Das Purgatorio unterscheidet sich insofern von diesen beiden Sphären, als in ihm Zeitlichkeit durchaus eine Rolle spielt. Siehe dazu ausführlicher Kapitel VI.8. Dass die Commedia die Dynamik der Durcharbeitung einer traumatischen Situation annimmt, steht in Kontinuität zu Erich Auerbachs Beobachtung, dass ihr Gegenstand, auch wenn sie den Stand der Seelen nach dem Tod schildert, in erster Linie das irdische Leben in seinem ganzen Umfang und Inhalt ist. „[A]lles was unten oder oben im jenseitigen Reiche geschieht, bezieht sich auf das Menschendrama im diesseitigen“ (ders.: Dante als Dichter der irdischen Welt. Mit einem Nachwort von Kurt Flasch. Berlin: de Gruyter 22001, S. 166). 20 Karlheinz Stierle: „Selbsterhaltung und Verdammnis. Individualität in Dantes Divina Commedia“. In: Manfred Frank, Anselm Haverkamp (Hg.): Individualität, S. 270–290, hier: S. 289.

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bewegt. Je höher das Ich steigt, desto mehr versagen die ihm zugänglichen sprachlichen Mittel. Zugleich ereignet sich diese Dichtung in der Differenz der menschlichen Sprache zu den ewigen Sprachsphären, einer Differenz, die im Inferno als überlebensnotwendig, im Paradiso als schmerzliches Defizit erscheint. In der und durch die Dichtung wird eine Erfahrung extremer Desorientiertheit, Verlorenheit und Fremdheit durchgearbeitet. Dafür sind lange sprachliche Umwege nötig. Die Durcharbeitung zeichnet sich dabei gerade nicht dadurch aus, diese Entfremdung zu verstehen und damit zu einer vertrauten Erfahrung zu machen, sondern sie impliziert für das Ich, sich dem Fremden überhaupt auszusetzen. In Breuers und Freuds Studien über Hysterie wird, wie wir gesehen habe, das Trauma als der Einbruch eines Fremdkörpers in die Psyche beschrieben. Wenn wir dies auch als gültige Beschreibung für das vorgestellte Geschehen in Inferno I annehmen, auf das ich gleich genauer eingehe, dann ist die Antwort, welche die Commedia darauf gibt, folgende: Es geht nicht darum, das anfängliche Trauma zu verstehen, es als dann nicht mehr fremdes ins Ich zu integrieren und damit zum Verschwinden zu bringen, sondern das Ich setzt sich gleichsam selbst an die Stelle des Fremdkörpers Trauma. Dies nicht im Sinne einer Identifizierung oder gar Identität, sondern im Sinne einer grundsätzlichen Substitution. Dieser strukturelle Ersetzungsakt, in dem die traumatische Ausnahmesituation in einem absoluten Ausnahmegang fortgeschrieben wird, scheint mir eine entscheidende Grundvoraussetzung für ein anderes Verhältnis zum Traumatischen zu sein, welches die Commedia – auch gerade dank ihrer noch nicht neuzeitlichen Vorstellung des Ichs als einem selbstbestimmten Subjekt – vorzustellen in der Lage ist und der Moderne als Erbe mitgegeben hat.

3 Inferno I: Traumatischer Anfang Im Folgenden möchte ich an exemplarischen Stellen darlegen, wie sich die verschiedenen Canti der Commedia an der unbewältigten Situation, die in Inferno I geschildert wird, abarbeiten und umgekehrt auch immer wieder von dieser heimgesucht werden. Vorausgeschickt sei schon an dieser Stelle, dass sich so betrachtet die Commedia als ein Text erweist, der von einer irreduziblen Spannung zwischen Inferno I einerseits und den 99 Folgegesängen gezeichnet ist. Sogar in den Paradies-Gesängen, in denen die irdische Welt mit Emphase als Frucht des göttlichen Heilsplans vorgestellt wird, so werde ich später darlegen, wirkt Inferno I nach als etwas, das darin nicht aufgeht. Inferno I zeichnet sich zunächst einmal durch seine hybride Position in der Gesamtkonzeption der Commedia aus: Ist Inferno I Prolog der gesamten Comme-

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dia? Wenn ja, wie meist angenommen, warum wird dann dieser Canto strukturell dem Inferno zugerechnet? Wenn wir ihn hingegen als Auftakt des Inferno betrachten, warum beginnt die Hölle dann mit einer irdischen Situation? Und umgekehrt: Warum gehört die in Inferno I vorgestellte irdische Situation schon der jenseitigen Sphäre der Hölle an? Wie immer wir Inferno I drehen und wenden und strukturell in die Commedia einbinden: Dieser Canto markiert gleich zu Beginn einen Überschuss, etwas, das sich in die Symmetrie der Dreizahl nicht integrieren lässt. Die Commedia beginnt demnach mit einer inhaltlichen und strukturellen Ausnahme: Inferno I ist der einzige Gesang, dem die Qualität zugeschrieben werden kann, dass das in ihm geschilderte Geschehen ein irdisches ist; Inferno I stellt eine irdische, d. h. im Wesentlichen zeitliche Situation vor, die aber, indem sie in ihrer gleichsam versteinerten Unveränderlichkeit vorgestellt wird, Aspekte eines Unendlichen aufweist, die dem Jenseitigen eignen. Schauen wir uns in Hinblick auf diese anfängliche aporetische Verschränkung diesseitiger, zeitlicher und jenseitiger, unendlicher Charakteristika nun den ersten Gesang genauer an: Nel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura, ché la diritta via era smarrita. (Inf. I, 1–3) [Grad in der Mitte unsrer Lebensreise / Befand ich mich in einem dunklen Walde, / Weil ich den rechten Weg verloren hatte.]

Ein Ich, das in der Mitte seines Lebens steht, das auch „unser“ Leben ist, befindet sich in einem finsteren Wald und hat den geraden Weg, der auch der rechte Weg ist, verloren. Der Verlust des rechten Weges – „diritta via“ – impliziert den drohenden Verlust des Lebens – „vita“: „Vita“ bildet das Endwort im ersten Vers, auf das „smarrita“ reimt, und dies umso härter, als es keinen dritten Reim darauf gibt, wie das in jedem Canto für den Auftaktpaarreim der Fall ist. Gerade vor dem Hintergrund der durchgehenden Terzinenstruktur erfährt damit dieser erste Reim „vita“ / „smarrita“ einen harten, gleichsam unwiderruflichen Charakter, dem das dritte Element als ein Fehlendes eingeschrieben ist und das im WiederholungsPräfix „ri“ in „ritrovai“ als Ungesagtes mit aufgerufen scheint. Denn wie das Ich in diese schwierige, nicht weiter konkretisierte, sondern in zunehmend allegorischer Weise dargestellte Situation geraten ist, kann es nicht sagen; obwohl und womöglich weil das Präfix „ri“ (das in „rinova“, Inf. I, 6 und „ridir“, Inf. I, 10 wiederaufgenommen wird) auf eine wiederholt schon erlebte Lage verweist, hat das Ich keine Erinnerung daran, da es, als es vom rechten Weg abgekommen ist, „pien di sonno“ [schwer vom Schlaf] – modern gesagt: unzurechnungsfähig – war

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(Inf. I, 11).21 Daher fällt es dem Ich unglaublich schwer zu sagen, wie dieser Wald war: Ahi quanto a dir qual era è cosa dura esta selva selvaggia e aspra e forte (Inf. I, 4–5) [Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen, / Der wilde Wald, der harte und gedrängte]

Die metadiskursive Behauptung der Schwere des Sagens ist zugleich ihre konkrete Veranschaulichung. Die Armut der zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel führt in der Tat zu einer eigenartigen Ökonomie: „selva“ wird qua figura etymologica zu „selva selvaggia“ erweitert; der Wald bringt gleichsam von selbst seine wilde Art, Wald zu sein, hervor. Die Figur zeugt von höchster Verknappung. Dagegen steht dann der vergleichsweise Überfluss von drei weiteren, wenngleich kurzen Adjektiven: „aspra“, „forte“ und das zwei Zeilen später nachfolgende „amara“. Dies sind allesamt seelische Qualitäten, die ihrerseits den allegorischen Charakter der „selva“ herauskehren. Erkennbar werden in dieser Adjektivreihung sowohl die spärlichen sprachlichen Möglichkeiten des Ichs für die Schilderung seiner eigenen Situation als auch sein unbedingtes Drängen nach sprachlichem Ausdruck: Die Verse zeugen in der Tat von einer wahrhaftigen Sprachnot, insofern die Not sowohl die Knappheit und Enge als auch die Notwendigkeit, aus dieser Not herauszufinden, ausdrückt. Die semantischen Nuancen der Adjektive sind gering: Ihr kommunikativer Wert mag daher vor allem in der Steigerung des bedrohlichen Waldseins des Waldes gesehen werden, nicht aber in der beschreibenden Ausfaltung, die, im Gegenteil, da wo sie sich anschickt, eine solche zu sein, zur Tautologie tendiert, ohne freilich einfach eine solche zu sein. Die solcherart als Klimax vorgestellte Bedrohung des Waldes hat auch eine zeitliche Komponente, hält sie doch bis in die Gegenwart des Sprechens und Erinnerns des Ichs an: Ahi quanto a dir qual era è cosa dura esta selva selvaggia e aspra e forte che nel pensier rinova la paura! (Inf. I, 4–6)22

21 Andreas Kablitz schreibt, dass das Diesseits in Inf. I ganz auf eine „Allegorie seiner Sündhaftigkeit reduziert erscheint“ (vgl. ders.: „Dantes poetisches Selbstverständnis (Convivio – Commedia)“. In: Winfried Wehle (Hg.): Über die Schwierigkeiten (s)ich zu sagen. Horizonte literarischer Subjektkonstitution. Frankfurt a. M.: Klostermann 2001, S. 17–58, hier: S. 51, Hervorhebung von mir). 22 Insgesamt lässt sich im Inferno beobachten, dass die Präsensform vorherrschend ist, was die Nachträglichkeit des Erzählens ohne zeitlichen Abstand erscheinen lässt, vgl. dazu auch Jeremy Tumbling: Dante and Difference: Writing in the Commedia. Cambridge: Cambridge University Press 1988, S. 30.

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[Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen, / Der wilde Wald, der harte und gedrängte, / Der in Gedanken noch die Angst erneuert.]

Das sprechende Ich, das keine Erinnerung daran hat, wie es in diesen Wald geraten ist, wird, sobald es sich rückblickend an diesen Wald erinnert, immer noch von derselben Angst heimgesucht, die es dort einst empfunden hat. Die anhaltende Angst und die anhaltende Sprachnot scheinen sich also gegenseitig zu bedingen. „Paura“ wird im ersten Gesang nicht nur fünf Mal erwähnt, sondern spannt darüber hinaus ein verwandtes semantisches Netz um sich, das sowohl aus Wendungen wie „far tremare“ (I, 90), „perdere la speranza“ (I, 54), „piangere“ (I, 57) besteht, als auch in der Begegnung mit den drei qua Alliteration miteinander verbundenen wilden Tieren „lonza“, „leone“, „lupa“ allegorisch überformt wird. In der dreifach gesteigerten und zusätzlich durch den stabenden Anlaut potenzierten Tierfratze, in der die drei Adjektive „aspra“, „forte“, „amara“ nachhallen, kehrt das unerinnerbare Abkommen von der „diritta via“ gleichsam entstellt zurück.23 Der einstige Verlust des rechten Wegs stellt sich nun als Problem des verstellten Weges dar. Je mehr das Ich zurückschaut auf das, was es nicht erinnern kann, desto mehr steigert sich seine Angst, gerade weil es da nichts zu sehen gibt, außer einem Loch, einer Abwesenheit, die die Erinnerung an sich betrifft und die sich als solche immer wieder neu präsentiert. Der Anfang ist somit eingeschrieben als Wiederholungsschleife von etwas, das nicht mehr präsent, aber immer noch da ist. In das semantische Feld um „paura“ eingeflochten ist ein weiteres Wortfeld, das ausgehend vom Verb „volgere“ (wenden) entfaltet wird. In der Tat starrt das Ich auf etwas, das es nicht sehen kann und das stattdessen die drei wilden Tiere hervortreibt, von deren Anblick es sich vergeblich abzuwenden versucht: [una lonza] non mi si partia dinanzi al volto (Inf. I, 34) [Gmelin übersetzt: Er [ein Panther] wollt’ mir nicht mehr aus den Augen gehen; Köhler: Die Pantherkatze ging mir nicht mehr vor dem Gesicht weg;24 Naumann: [ein Panther] wich nicht vor meinem Gesicht25]

23 Andreas Kablitz weist mit Blick auf die drei wilden Tiere auf die im Mittelalter verbreitete Gattung der Psychomachie, d.h. der allegorischen Ausmalung eines inneren Seelenkampfes, hin (ders.: „Dantes poetisches Selbstverständnis“, S. 51). 24 Dante Alighieri: La Commedia/Die Göttliche Komödie. Italienisch / Deutsch. In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Stuttgart: Reclam 2010–2012. 25 Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Übersetzt von Walter Naumann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003.

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Darauf reimt der Vers ch’i’ fui per ritornar più volte vòlto (Inf. I, 36). [Gmelin übersetzt: Daß ich mich mehrmals schon zur Umkehr wandte; Köhler: dass ich mich unverwandt zur Umkehr wandte; Naumann: daß ich mehrmals zur Rückkehr umkehrte]

Gmelin und Naumann arbeiten das durch „più volte“ indizierte wiederholte Vorgehen heraus; Köhler bringt mit „unverwandt“ die in der Wiederholung implizierte Vergeblichkeit des Bestrebens, sich von der Erscheinung der Pantherkatze abzuwenden, auf den Punkt. Wo die Übersetzung die homophone Unterwanderung der Semantik von „volto“ durch „vòlto“ – auf diese Weise schwankend zwischen den „wiederholten Malen“, dem „Gesicht“ und der „Wendung“ – nicht ausdrücken kann, versuchen insbesondere Naumann und Köhler das Spiel der Wortverdopplung auf andere Weise zu retten: Köhler, indem er mit „unverwandt […] wandte“ das Paradox der Situation hervorkehrt, Naumann, indem er die Bewegung tautologisch ausschreibt („zur Rückkehr umkehrte“). Nimmt man hingegen das homophone Gefüge „volto – vòlto“ beim Wort, so wird deutlich, dass in diesem Reim, wie man ihn auch dreht und wendet, alles von einer Verdopplung und darin implizierten Unschärfe spricht, die unentscheidbar macht, ob wir es mit einem doppelten Gesicht zu tun haben (was das Deutsche wiederum mit der Doppeldeutigkeit von Gesicht in seiner subjektiven und seiner objektiven Bedeutung, als Vorderseite des menschlichen Kopfes und als Erscheinung im Sinne eines Traumgesichts auszudrücken vermag) oder mit einem mehrfachen Sich-Wenden und Abwenden, das nicht in der Lage ist, eine wirkliche Umkehr einzuleiten. Das Gesicht abzuwenden erweist sich als unmöglich, weil es an die schreckliche Ansicht gebunden bleibt. Wo allegorisch „la lonza“ als Angstbild auftaucht, und mit ihr auch das später mehrfach ausgesprochene Verbot zurückzuschauen, erscheint sprachlich die Homophonie als Angstpol der Dichtung, in der die ihr zur Verfügung stehenden Wörter in ihrer semantischen Differenz Gefahr laufen, zu einem indifferenten Klang zusammenzufallen. Was auf psychischer Ebene als tödliche Gefahr des Zurückschauens verhandelt wird (besonders eindringlich in Inf. IX, 55–60, wo Vergil gerade noch mit seinen Händen das Gesicht des Ichs verhüllt, andernfalls wäre hier womöglich dessen Reise durch den versteinernden Blick der Gorgo Medusa beendet worden), wird auf sprachlicher Ebene als Sorge laut, dass auch die gewählten Worte zurückund in sich zusammenfallen könnten, was wiederum einer Erstarrung der Sprache gleichkäme. Vergleichbar mit der figura etymologica der „selva selvaggia“ haben wir es auch im Fall des wiederholten Lauts „volto“ mit einem gleichsam tautologischen

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Überschuss zu tun, der – das unterstreicht auch die semantische Verbindung zum Wenden und verbotenen Zurückschauen – einen Affektstau anzeigt. Die in diesen Versen zum Ausdruck gebrachte Vergeblichkeit, sich woandershin zu wenden, führt auf der Ebene des poema erstmals zu einem paronomastischen Reim, der in die terza rima eine empfindliche Störung einfügt. Umstellt von Gesichtern, wohin auch immer das Ich das eigene Gesicht wenden mag, reimt auf „volto“ hier nur „vòlto“. Dies mag als sprachliches Indiz dafür gewertet werden, dass es in dieser beengenden und angsterfüllten Situation keinen vom Reim getragenen phonetischen Sprung heraus gibt, sondern dass das Gleiche als das Gleiche und zugleich Fremde, weil nicht Schaubare, zurückkehrt und sich damit einer sprachlich eindeutigen Identifizierung entzieht.26 Die bedrohliche Situation, in der sich das Ich einst befand (sie wird im passato remoto wiedergegeben), ist – das ist entscheidend und soll an dieser Stelle noch einmal hervorgehoben werden – eine immer noch anhaltende: Das gegenwärtig sprechende Ich stellt sich vor als eines, das immer noch in dieser Situation gefangen ist bzw. beim Sprechen abermals von dieser Situation eingeholt wird. Es ist nicht frei, sich ihr zuzuwenden oder sich von ihr abzuwenden, stattdessen kommt eine zwanghafte Gebundenheit an diese Ausgangssituation zum Ausdruck, die sie als eine unüberwundene erscheinen lässt. Das erzählende Ich spricht also nicht aus der Position des schon Erlösten, der seine Pilgerschaft schon vollzogen hat und nun davon Bericht erstattet, sondern es spricht als eines, dem alles noch bevor steht, obwohl es den ganzen Weg durchs Jenseits, von dem es in der Folge als einer schon gemachten Erfahrung erzählt, schon gegangen ist.27 26 An dieser Stelle böte es sich an, der Spannung und Beziehung zwischen dem paronomastischen Reim und dem identischen Reim nachzugehen und diesen in Bezug auf das Phänomen der unheimlichen Wiederkehr zu untersuchen. Zu ersterem siehe Ignazio Baldinelli: „Rima“. In: Enciclopedia Dantesca. Hg. von Umberto Bosco, Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana 1970– 1978, Band 4, S. 930–949 sowie Karlheinz Stierle: „Der Reim als Wortgeburt und Dantes Reimkunst“. In: Achim Hölter, Monika Schmitz-Emans (Hg.): Wortgeburten. Zu Ehren von Karl Maurer. Heidelberg: Synchron 2009, S. 15–28, insbesondere S. 23. Zu letzterem (in Hinblick auf das dreifache sich reimende „Cristo“ in Par. XIV, 104–108) siehe v. a. John Freccero: „La terza rima“. In: ders.: La poetica della conversione. Bologna: Il Mulino 1989, S. 346 und Teodolinda Barolini: The Undivine Comedy. Detheologizing Dante. Princeton: Princeton University Press 1992, S. 219. Beide vertreten die Auffassung, dass es sich in letzterem Fall um einen Moment handelt, in dem die poetische, vorantreibende Struktur der terza rima ins Stottern gerät und gleichsam ihrer Zerstörung entgegenstrebt. 27 Zum schwankenden Status des Ichs im Text der Commedia siehe Albert Ascoli: Dante and The Making of a Modern Author. Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 305: „The two [I] share emotions (Inf. I, 3–6; XXVI, 19–21), at times they are confused grammatically (Inf. VI, 4–9), the personaggio is designated as an accomplished poet (Inf. I, 86–87; Inf. IV, 97–105) on his way

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Festzuhalten ist weiter, dass der Verlust des rechten Weges von Beginn an vor allem einen Verlust der Sprache impliziert. In der Tat finden wir, in nur knapper, allegorisch abstrakter Weise eine höchst beengte Situation vorgestellt, die nicht weiter ausgefaltet werden kann.28 Die Frage, vor der das schreibende und dichtende Ich steht, ist folgende: Welcher sprachliche Weg führt aus dieser höchsten Not heraus? Von Belang ist dabei die Tatsache, dass ein schmaler Weg inmitten der Evokation des bedrohlichen Waldes schon angezeigt ist. Nachdem letzterer als „selvaggia“, „aspra“, „forte“, „amara“ bezeichnet worden ist, heißt es: ma per trattar del ben ch’i’ vi trovai, dirò de l’altre cose ch’i’ v’ho scorte. (Inf. I, 8–9) [Doch um des Guten, das ich dort gefunden, / Sag ich die andern Dinge, die ich schaute.]

Auch wenn das Ich seinen Blick von den Angst erregenden Eindrücken nicht abwenden kann, die es kaum zu artikulieren weiß, kündigt es an, auch von anderen Dingen zu sprechen, die es ebenfalls in diesem Wald angetroffen hat und die „gut“ sind.29 Der in der gestotterten Wendung „selva selvaggia“ evozierte Wald wird hiermit als ein zweifacher vorgestellt – buchstäblich wird er ja in „selva selvaggia“ auch schon verdoppelt – als ein gesehener und ein gesprochener: In dem einen Wald gibt es noch einen anderen Wald, in dem „Gutes“ zu finden sei. Auf der Ebene der histoire ist es Vergil, der Dichter, der dem Ich zum Meister und Führer wird, der nach dem Erscheinen der drei wilden Tiere in diesem Wald, dem gleichen Wald, der sich nun als ein anderer erweist, auftaucht. Auf der Ebene des discours hingegen können wir beobachten, dass ausgerechnet im Wald der Sprachnot das Prinzip der Dichtung auftaucht, als eine spezifische Arbeit an der Sprache, der es gelingt, den vermeintlich festgeschriebenen, kargen Formulierungen – so zum Beispiel der „selva selvaggia“ – noch etwas anderes abzugewinnen. Etwas anderes im selben zu finden, verweist zunächst einmal darauf, sich auf das Vorhandene, auch wenn es etwas Schreckliches, Karges, Wildes, Bitteres ist, zu besinnen und damit einen anderen lesenden Umgang zu

to bigger and better things.“ Es gilt also in jedem Fall von einer Trennung zwischen Autor, erzählendem und erlebendem Ich auszugehen. 28 Auch der moderne Roman und die moderne Autobiographie setzen zuweilen mit einer extremen Sprach- und Erinnerungsnot ein, die zunächst die Möglichkeit dichterischer Entfaltung völlig auszuschließen scheint – ich denke hier an Prousts Recherche und an Perecs W ou le souvenir d’enfance. 29 Man darf darüber hinaus nicht vergessen, dass „silva“ für Vergil ein überaus wichtiges Wort ist. Im 6. Buch der Aeneis begibt sich Aeneas zielgerichtet in den Wald, um den Proserpina geweihten goldenen Zweig zu suchen, den es zu brechen gilt, um in die Unterwelt zu gelangen.

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erproben: also sich anders auf das schon Vorhandene zurückzuwenden. Folgte man dieser impliziten Aufforderung, so ließe sich in der aus Sprachnot hervorgebrachten figura etymologica „selva selvaggia“ nicht nur der Wald als ein doppelgesichtiger, als ein böser und ein guter, erkennen, sondern würde darin auch – die Vokale umwendend, dies wäre an dieser Stelle mein Vorschlag – in der „selva“ das entstellt eingeschriebene Heil – „salve“ – lesbar. Damit wäre ein wichtiger sprachlicher Umgang mit dem Traumatischen angedeutet. Es geht darum, Mittel und Wege zu finden, um von der scheinbar eindeutigen, weil von der Autorität der etymologischen Wortbildung bekräftigten Bedeutung (der zufolge „la selva“ gleichsam „naturgemäß“ „selvaggia“ ist) zum dazu quer stehenden anagrammatischen Bedeutungspotential zu gelangen, das die hier angelegte Wortontologie aufstört und in diesen höchst beengten sprachlichen Raum eine Wende einführt. Zu einer solchen Lektürearbeit, in den Worten „altro“ aufzufinden und hörbar zu machen, ruft die Commedia implizit immer schon auf: in „selva“ „salve“ zu hören und zugleich der Wildheit des Waldes eingedenk zu bleiben; den „passo“ in I, 26, der zunächst die Engstelle, den Wald als gefährliche Passage meint30 und mit der Enge wiederum die Angst impliziert, zum „passo“, dem Schritt, dem Weg, dem „alto passo“, den mit Risiken behafteten, aber doch weiterführenden Weg aus Inferno II werden zu lassen. Es geht darum, dem Zusammenfall von Wortbedeutungen ebenso eingedenk zu sein wie darum, genau hier Differenzen einzuführen: zwischen dem antiken und dem christlichen „amor“; zwischen „conversio“ als Wort des Umsturzes ins Chaos und der christlichen Konversion (siehe Kapitel VI.5 zu Inferno V); zwischen der Zauberin Manto und der nach ihr benannten Stadt Mantua, aus welcher Vergil stammt (siehe Kapitel VI.6 zu Inferno XX); zwischen den beiden Bedeutungen des Wortes „sacrato“ – heilig und verdammt –, mit dem in der Commedia diese selbst benannt wird (siehe Kapitel VI.9). Solchen sprachlichen Kippmomenten und dem jeweiligen Umgang damit widmen sich die nachfolgenden Ausführungen. Bereits an dieser Stelle zeigt sich, dass der Sprachnot die sprachlichen Elemente, die in sie eine Umstellung und Veränderung eintragen könnten, wenngleich entstellt, schon mitgegeben sind. Es erweist sich, dass eine Arbeit am Wort erfordert ist, die nicht so sehr deuten und auch nicht so sehr neue Worte erfinden muss, sondern vielmehr in den vorhandenen Worten eine Akzentverschiebung vorzunehmen hat, um in ihnen anderes hörbar zu machen.31 Dieser Umgang mit

30 Vgl. diesbezüglich die Anmerkung von Anna Maria Chiavacci Leonardi zu Inf. I, 26, in Dante Alighieri: Commedia. Con il commento di Anna Maria Chiavacci Leonardi, Inferno. Milano: Mondadori 1991, S. 15. 31 Vgl. zu dieser Aufgabe, die ich als eine spezifisch poetische, aber auch philologische Arbeit am Wort verstehe, Ottmar Ette, d. Verf.in (Hg.): Unfälle der Sprache, darin v. a. das Vorwort d.

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Sprache, so deutet sich in Inferno I an, vermag aus einer angsterfüllten, zeit- und ortlosen Situation heraus eine Bewegung einzuleiten, welche diese nun im Gewand einer gigantischen Jenseitsvision durchquert. Für eine solche umstellende, den Akzent verschiebende Arbeit am Wort benötigt das taumelnde Ich („i’ rovinava“, Inf. I, 61) einen Anderen, der die Worte anders wiedergibt. Dies ist zunächst der Dichter Vergil, der nach dem Erscheinen der drei wilden Tiere in diesem, d. h. in dem diesem mitgegebenen zweiten, gleichen und doch anderen Wald auftaucht. In seiner ersten Anrede bildet das „o“ ein mehrfaches Echo: „od ombra od omo certo! / […] Non omo, omo già fui“ (Inf. I, 66–67), das im Anruf der Musen zu Beginn von Inferno II wieder aufgenommen wird und dem klagenden „Ahi“ (Inf. I, 4) einen anderen Ton gegenüber stellt. Dem „dir“ als „cosa dura“ (Inf. I, 4) kommt nun über den Dichter Vergil ein „parlar sí largo fiume“ (Inf. I, 80) bei, das sogar und sogleich gegen das Untier eingesetzt werden soll: Vedi la bestia per cu’ io mi volsi; aiutami da lei, famoso saggio, ch’ella mi fa tremar le vene e i polsi. (Inf. I, 88–90) [Sieh dort das Tier, vor dem ich mich geflüchtet. / Errette mich vor ihm, ruhmreicher Weiser, / Es läßt mich noch in allen Adern beben.]

In diesem wilden Wald voller wilder Tiere verheißt Dichtung Rettung. Denn Dichtung verleiht dieser spracharmen Notlage Worte und mit diesen Worten einen ersten Hinweis: «A te convien tenere altro vïaggio», rispuose, poi che lagrimar mi vide, «se vuo’ campar d’esto loco selvaggio»; (Inf. I, 91–93) [«Du mußt auf einem andern Wege gehen», / Sprach er, da er in Tränen mich erblickte, / «Wenn du aus dieser Wildnis willst entfliehen»].

Dies ist Vergils Antwort auf des Ichs angstvolles Starren auf die Bestie, vor der es umgekehrt ist, ohne sich jedoch von ihr abwenden zu können. Sein Ratschlag meint nichts anderes, als dass es darum geht, sich zu diesem Angstbild anders als starrend, wegschauend und wieder hinstarrend zu verhalten. Es gilt einen ande-

Verf.in: „Für eine Philologie der Kata/strophe“ sowie der Beitrag von Ottmar Ette: „Angst und Katastrophe / Angst vor Katastrophen. Zur Ökonomie der Angst im Angesicht des Todes“, S. 233–272, welcher der Angst in Bezug auf die Vektorisierung einer Bewegung nachgeht.

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ren Weg einzuschlagen, der, wie die Commedia deutlich zeigt, nicht an der Angst vorbeisteuert, sondern geradewegs durch den Raum führt, der im menschlichen Vorstellungsvermögen der angstbesetzte überhaupt ist: die Hölle. Was unterscheidet nun den von den wilden Tieren verstellten Weg im Wald vom Weg durch die Hölle? Es ist die Tatsache, dass der erste Weg direkt in den Tod führen würde („questa bestia […] / non lascia altrui passar per la sua via, / ma tanto lo ’mpedisce che l’uccide“ [Dieses Untier […] / läßt keinen seines Wegs vorüberziehen, / es hindert ihn so sehr, daß es ihn tötet] (Inf. I, 95–96)), während durch die Hölle ein, wenngleich höllischer, Umweg führt. Der Unterschied ist ebenso groß wie er auch klein ist. Denn in der Tat ist der Weg durch das Inferno gezeichnet von wiederholten Rückfällen des Ichs in die anfängliche, ausweglose Lage. Und dies, obwohl es inzwischen nicht mehr allein ist, sondern durch den weisen Vergil angeleitet wird. Seine wiederholten Ohnmachts- und Schlafanfälle, die sich vornehmlich an Schwellen von einem Raum zum nächsten ereignen, Schwellen, die immer noch an die Gefahr eines Engpasses, eines „passo“ im Sinne eines „Nicht weiter“ gemahnen, erscheinen aus dieser Perspektive wie eine symptomatische Wiederkehr des anfänglichen „sonno“, durch den und in dem er vom Weg abgekommen war und sich „wieder“ im finsteren Wald fand (vgl. Inf. III, Inf. V, Purg. IX, und sogar noch im Paradiso begegnen wir Formen solcher Bewusstlosigkeit). Aber genau auf diese Weise, durch eine Rückkehr, die vorantreibt und durch ein Voranschreiten, das von der Wiederkehr des Überwunden-Geglaubten durchdrungen ist, gelangt das Ich von der „selva selvaggia e aspra e forte“ (Inf. I, 5) über eine „altra via, che fu sí aspra e forte“ (Purg. II, 65), womit Vergil den gerade zurückgelegten Weg durchs Inferno bezeichnet, ins Purgatorio und schließlich ins Paradiso. Immer wieder erinnert die Commedia an das Durcharbeiten als Erprobung eines anderen Umgangs mit der traumatischen Ausgangssituation, nicht zuletzt an jenen Stellen, in denen sie im emphatischen Sinne von einem „altro“ spricht: einer anderen Reise („A te convien tenere altro vïaggio“ (Inf. I, 91)), einem anderen Weg („altra via, che fu sí aspra e forte“ (Purg. II, 65)), einem anderen Auftrag („altra spesa mi strigne“ (Purg. XXIX, 98)). Jedesmal geht es um die Einzeichnung einer weitgehend unbestimmt gelassenen Differenz, die als Abweichung von den gewohnten Pfaden lesbar wird. Die anfängliche „via smarrita“ wird in solchen Formulierungen also gleichsam wiederaufgenommen und umgeschrieben zur Voraussetzung, um andere Wege bestreiten zu können.32 Zugleich

32 Winfried Wehle schreibt mit Verweis auf Domenico de Robertis: Dal primo all’ultimo Dante. Firenze: Le Lettere 2001, insbes. Kap. IX, „L’invenzione della beatitudine“, S. 125ff., dass „la via smarrita“ eben nicht nur der verlorene Weg sei, sondern der Eintritt ins Bewusstsein, in die Erkenntnis, während „il diritto“ das unmittelbare, gleichsam vorbewusste und unschuldige Dasein betreffe, wie es Adam und Eva vor der Vertreibung gelebt haben. „Adam und Eva hatten

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schreibt sich in diesen anderen Weg immer auch die Gefahr ein, selbst nichts anderes zu sein als ein weiteres Sich-Verirren, und dies, obwohl dieser andere Weg, der bis zur „Pforte des Heiligen Petrus“ (Inf. I, 134) führen wird, in den Schlussversen von Inferno I durch Vergil schon angekündigt wird.33 Die Ankündigung ermutigt das Ich, diesen anderen, beschwerlichen Weg auf sich zu nehmen, befreit es aber längst nicht von der Angst, die die Ursache seines anhaltenden Zweifels ist. Der anhaltende Zweifel, der die Commedia über weite Strecken leitmotivisch durchzieht, macht deutlich, dass das Unternehmen der sprachlichen Durcharbeitung einer traumatischen Situation stets in riskanter Nähe zur schieren Wiederholung steht, ja von ihr durchsetzt ist. Der erste Raum dieses Durcharbeitens ist das Inferno, in dem das Ich mit der Sprache und der Gestik der Verdammten konfrontiert wird, die, im contrapasso gefangen, keinen „passo“ machen, sondern in schierer Wiederholung ihres Vergehens gefangen bleiben. Es ist die Begegnung mit einem Sprechen und Bekennen, das keine Veränderung herbeiführt. Der zweite Ort des Durcharbeitens ist das Purgatorio, wo dem Ich das Prinzip des büßenden Durcharbeitens vor Augen geführt wird, dem sein eigenes Sprechen und Handeln am nächsten steht. Sprechen wird im Purgatorio als eine langsam sich vollziehende Einsicht in die eigene Verirrung und Verblendung vorgestellt. Der dritte Ort des Durcharbeitens ist das Paradiso, wo dem Ich zunächst die eigene Ausgangssituation – das Abkommen vom Weg – als Schicksal der menschlichen Natur nach der Vertreibung aus dem Paradies vorgestellt wird.34 Die Schuldverstrickung, die im Bild des Abweges immer wieder aufgerufen wird, bleibt indessen ungesagt und ungelöst. Im Paradiso wird dann die menschliche Rede des Ichs als defizitäre vorgeführt, was wiederum an die anfängliche Sprachnot gemahnt. Nirgends driften Sehen und Sprechen so sehr auseinander wie hier. Das Gesehene gibt sich allein im Modus

im Paradies unmittelbar („diritta“) Zugang zum Glück; sie waren unbewusst glücklich. Nachdem sie aber vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, wurden sie bewusst unglücklich. Wollten sie werden wie zuvor, dann nur ausgehend von dem ‚Wirrwarr‘, in das sie sich gebracht hatten. Glück wurde für sie nun etwas, das sich der Reflexion auf die Ursachen von Unglück verdankt“ (ders.: „‚Rückkehr nach Eden‘. Über Dantes Wissenschaft vom Glück in der Commedia“. In: DanteJahrbuch 78 (2003), S. 13–66, hier: S. 14). 33 Die Vorbestimmtheit des Wegs wird auch danach immer wieder in Erinnerung gerufen, z. B. in Inf. V, 22–24: „Non impedir lo suo fatale andare: / vuolsi così colà dove si puote / ciò che si vuole, e più non dimandare [Du sollst ihm seinen Schicksalsgang nicht hindern; / So will man es dort oben, wo das Können / Dem Wollen folgt, mehr sollst du jetzt nicht fragen]“ erwidert Vergil dem Minos, der schon drauf und dran ist, dem Danteschen Ich seinen Platz im „doloroso ospizio“ (Inf. V, 16) zuzuweisen. 34 Martells Rede in Paradiso VIII führt ihm klar vor Augen, wie im irdischen Leben die guten Anlagen leicht abdriften können („la traccia vostra è fuor di strada“ (Par. VIII, 148)).

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des sprachlichen Entzugs. Doch eine entscheidende Selbsterkenntnis kommt hier erstmals zum Ausdruck, die Inferno I bestätigt und zugleich widerlegt: „che pur da mia natura / trasmutabile son per tutte guise! [der ich von Natur aus / Veränderlich bin in aller Weise!35]“ (Par. V, 98–99). Eine Einsicht, die in klarem Kontrast zu Inferno V steht, dem Gesang, in dem Paolo und Francesca als nicht veränderbare Wesen vorgestellt werden (s. weiter unten). Das „trasmutabile“, zumal es sich „per tutte guise“ vollzieht, ist Voraussetzung sowohl für das Abkommen vom Weg als auch für das Weitergehen und Suchen nach einem anderen Weg. Da die Fähigkeit zur Veränderung während des Flugs in den zweiten Himmel ausgerufen wird, wird ihr eine klare Aufwärtsrichtung zugeschrieben; zugleich aber impliziert die adverbiale Ergänzung „per tutte guise“ auch andere, davon abweichende Weisen bzw. Bewegungsrichtungen.

4 Inversionen, Konversionen, Torsionen In den folgenden Kapiteln will ich im Einzelnen darlegen, inwiefern Inferno I durch die ganze Commedia hindurch mitdekliniert wird und sich dadurch die anfängliche traumatische Situation als eine bis zuletzt unüberwundene darstellt. Die drei Cantiche sind daher nicht nur aus einer zielgerichteten Perspektive zu beurteilen, sondern als ein Gefüge, das in sich gegenstrebig angelegt ist: Das Voranschreiten ist von sich regelmäßig wiederholenden Rückfällen in die Situation des Prologs durchsetzt.36 Dass der Weg jene spiralförmige Choreographie annimmt, die die Topologie der Commedia auszeichnet, ist nicht zuletzt dieser gegenstrebigen Dynamik – zwischen teleologischer Zielgerichtetheit und antiteleologischer Wiederholung des Unbewältigten – geschuldet. Dabei bildet das Unbewältigte in dieser Anlage keinen starren, unbeweglichen Punkt, und der zu vollziehende Weg „hindurch“ keine direkte bzw. gerade („diritta“) aufsteigende Linie. Punkt und Linie treten hierbei zueinander in ein Verhältnis, das zur Krümmung der Linie führt. Ziel (die Pforte Petrus’, die Wiedervereinigung mit Beatrice zu erreichen) und Objekt (das Unsagbare, Unbewältigte aus Inferno I), um die die Reise gleichermaßen kreist, scheinen nicht einfach zur Deckung zu kommen. Diese auseinanderdriftende Dynamik durchkreuzt in gewisser Weise das Verhältnis zwischen dem Geraden

35 Übersetzung nach Philaletes. 36 Wenn Auerbach beobachtet, dass im Jenseits der Commedia vor allem die irdische Welt enthalten ist (ders.: Dante als Dichter der irdischen Welt, S. 113), so ist dieses Faktum nicht nur, wie er dies tut, auf die konkrete Anschaulichkeit der Bewohner des Jenseits zu beziehen, sondern auch und insbesondere auf den Weg des Danteschen Ichs.

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und dem Gewundenen, wie es als Gesetz des Purgatorio formuliert wird: „salendo e rigirando la montagna / che drizza voi che ’l mondo fece torti [Herauf, den Berg umkreisend und ersteigend, / Der grad euch macht, die jene Welt gekrümmt hat37]“ (Purg. XXIII, 125–126). Die Buße wird hier als ein aufsteigendes SichDrehen geschildert, das den Menschen wieder gerade biegt und auf den rechten Weg bringt. Auch wenn die beschriebene gegenwendige Dynamik der Commedia, wie ich sie im Folgenden nun anhand der Momente der Wiederkehr des Unbewältigten von Inferno I in allen drei Jenseitssphären aufzeigen möchte, durchaus auch etwas von diesem Bußgesetz hat (es entspricht der voranstrebenden Kraft in dieser gegenwendigen Anlage), so geht sie dennoch nicht ganz darin auf. Denn insofern das Unbewältigte, das sich nicht zuletzt der Buße und dem Bekenntnis, wie wir sehen werden, stets entzieht, auf dem Weg mit- und in ihn strukturell und semantisch eingetragen wird, krümmt sich dieser und vollzieht inkommensurable Wenden, die in den eingangs durch Vergil übermittelten, rettenden Horizont jene Offenheit einschreibt, die nicht zuletzt das irdische Schicksal eines jeden Menschen ausmacht. In der Tat zeichnet sich die Commedia trotz ihres ausgesprochenen Sinns für Symmetrie und Ordnung sowohl auf der Ebene der Mikrostruktur der Terzinen als auch auf der Ebene der Makrostruktur der Einteilung in drei gleichlange Cantiche durch eine Bewegung aus, die in sie eine irreduzible Asymmetrie einträgt. Denn diese mittelalterliche Anordnung kennt das lineare Telos nicht, das wir moderne Leser gerne als Maß an die Commedia anlegen würden. August Nitschke formuliert schlüssig: „Das Mittelalter kennt das Kontinuum eines Bewegungsflusses, der unterschiedliche Richtungen haben kann.“38 Auch wenn das Ziel der Pilgerschaft die Suche nach dem Heil in der Vereinigung mit Gott ist, so heißt dies noch nicht, dass sich der Weg dorthin ohne innere Zweifel vollzieht, zumal er eben kein gerader ist. Die „diritta via“ (Inf. I, 3), die das Ich, wie es eingangs heißt, verloren hat, gilt es also gerade nicht wiederzufinden. Denn sie ist für immer verloren bzw. durch die drei wilden Tiere verstellt. Die andere Reise, zu der Vergil das Ich auffordert, ist alles andere als geradlinig, selbst wenn das Wort „diritto“ im Vergilschen Imperativ „drizza“, dieser wiederholten Ermahnung, die Augen und den Blick nach vorne zu richten, stets nachklingt. John Freccero hat diese „andere Reise“ als eine Poetik der Konversion gelesen und Konversion folgendermaßen definiert: „Morte e rinascita hanno nella tradizione un nome preciso: la conversione, cioè la sepoltura dell’uomo vecchio e la 37 Übersetzung nach Philaletes. 38 August Nitschke: „Ziele und Methoden historischer Verhaltensforschung“. In: Historische Zeitschrift, 3 (1974), S. 74–97, hier: S. 93, zitiert nach Anselm Haverkamp: Typik und Politik im Annolied. Zum Konflikt der Interpretationen im Mittelalter. Stuttgart: Metzler 1979, S. 24).

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nascita dell’uomo nuovo.“39 Diese Wende vollzieht sich in Kreisen und Ringen – Freccero spricht von einem „pelegrinaggio a spirale“.40 Im Unterschied zu Freccero, der Dantes Poem im Zeichen einer vollzogenen Konversion liest, geht es mir darum zu zeigen, inwiefern die Commedia conversio gleichsam auf Dauer stellt. So schreiben sich die spiralförmigen Kreise und Ringe ja nicht nur in die Höhe, sondern ihr Schrauben schlägt sich auch in poetischen Verdrehungen, rhetorischen Inversionen und körperlichen Torsionen nieder, die in die KonversionsVorstellung empfindliche Störungen einzeichnen. Denn letztere lassen die „andere Reise“ als eine gewundene erscheinen, als eine Reise, auf der die anfängliche Wunde stets weiter fort getragen wird. Genau dieses Weitertragen einer unverheilten, alten Wunde in ein neues Leben macht deutlich, inwiefern in die Dynamik der Konversion auch eine Abweichung eingetragen ist und damit die Konversion zwar im Vollzug, aber nicht als vollendete vorgestellt wird. Liest man also den Prolog, Inferno I, im Zeichen einer nicht zu verwindenden, sich weiter windenden Verwundung und damit unter dem Vorzeichen des Traumas als einer Kraft, welche die für das Mittelalter konstitutive Einbindung der sprachlichen Zeichen in den Horizont des Heils durchkreuzt, so führt dies zunächst einmal zur Frage: Wie weiter? und damit zur Problematisierung des Übergangs zu etwas Neuem, d. h. zur Problematisierung der Übergänge in der Commedia von einem Bereich in den nächsten überhaupt.41 Eine solche Problematisierung kann nur schwerlich geleistet werden, wenn man die Commedia aus der Perspektive einer schon vollzogenen Konversion liest, die nur mehr retrospektiv in Form einer schon gemachten Jenseitsreise vorgestellt wird. Eine solche Perspektive macht freilich unmittelbar einsichtig, dass es einen Weg bis in die höchsten Sphären des Paradiso gibt, denn sie liefert allein dadurch, dass dieser Weg rückwirkend erzählt wird, den Beweis dafür. Doch lässt sich die Commedia narratologisch nicht auf die Perspektive des schon erfahrenen Heils reduzieren. Denn an keiner Stelle gibt sie die Position des Ichs „nach“ dessen Konversion zu erkennen. Die Perspektive des geläuterten Ichs bleibt verdeckt.42 Wäre dem nicht so, so blieben alle Zweifelsbekundungen von Seiten des Ichs nur noch leere Rhetorik.

39 John Freccero: Poetica della conversione, S. 96. 40 So die Überschrift des 4. Kapitels „Un pellegrinaggio a spirale“. In: ebda., S. 111ff. 41 Zur Verschiebung der Übergänge und Grenzen zwischen den drei Jenseitssphären siehe auch schon Kapitel V dieser Arbeit, wo ich im Kontext von Kertész’ Schwellenkunde darauf zu sprechen komme. 42 Vgl. Barbara Vinken: „Encore: Francesca da Rimini. Rhetoric of Seduction – Seduction of Rhetoric“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 62 (1988), S. 395–415, hier: S. 399.

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Auch das von Augustinus übernommene, selbst schon paradox zugespitzte Erzählmodell der Konversion als einer Bewegung, die nach unten führt, um nach oben zu führen (zufolge der im 4. Buch formulierten Aufforderung „Descendite, ut ascendatis, et ascendatis ad deum. Cecidistis enim ascendendo contra deum“43), vermag die gewundene Gesamtanlage der Commedia nicht zufriedenstellend zu erklären. Denn wenn dieses Modell für den ersten Teil – den Abstieg in die Hölle, um aus ihr hinaufzusteigen – durchaus zutreffen mag, so bleibt darin unreflektiert, dass die Aufwärtsbewegung im Purgatorio und im Paradiso von einem ständig drohenden Abwärts und Zurück geprägt ist. Es zeichnet sich ab, dass das Verhältnis zwischen dem Hinauf und dem Hinab, dem Nach-Vorne-Streben und dem Zurückfallen in der Commedia wesentlich vielschichtiger und komplizierter ist, als dies in der durch Augustinus geprägten Narration der Konfession der Fall ist, wenngleich auch hier die Fragen und Zweifel weit über das eigentliche, im achten Buch geschilderte Konversionsgeschehen hinaus anhalten. Die Differenz zwischen Augustinus’ Confessiones und der Commedia ist indessen maßgeblich der Tatsache geschuldet, dass es in letzterer im eigentlichen Sinne keine Narration einer Konversion gibt, zumal das Schuldbekenntnis von Seiten des Ichs ausfällt, obwohl Beatrice mehrfach und vergebens dazu auffordert. Zudem zeigen schon die Begegnungen mit den Verdammten, inwiefern die Bewegung hinab in die Hölle nicht allein auf ein Hinauf ausgerichtet, sondern im Wesentlichen inkommensurabel ist, auch weil sich in den Schattenleibern in gleichsam objektivierter Weise das „essere smarrito“ des Ichs selbst verkörpert. Die Hölle erscheint so gesehen nicht so sehr als ein nach unten führender Aufstieg aus ihr hinaus, sondern zunächst einmal als der andere Schauplatz einer wiederholten Rückkehr in die „selva selvaggia“. Denn es gilt ja zu bedenken, dass die Hölle gerade als jene Sphäre vorgestellt wird, in der das Partizip „converso“ gar nicht im christlichen Sinne lexikalisiert ist, sondern zunächst einmal einfach „Umkehr“ und „Umsturz“ heißt, wie zum Beispiel in Inferno XII, 40–43: Da tutte parti l’alta valle feda tremò sì, ch’i pensai che l’universo sentisse amor, per lo qual è chi creda più volte il mondo in caòsso converso[.]

43 Aurelius Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch / Deutsch. Übers., hg. und kommentiert von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Stuttgart: Reclam 2009, 4. Buch, XII, 19, S. 176: „Steigt hinab, um aufzusteigen, um zu Gott aufzusteigen! Denn dadurch, daß ihr Gott zuwider aufsteigen wolltet, seid ihr gestürzt“. Freccero macht diese Augustinus-Referenz zur Illustration seines Konversions-Erzählmodells für die Commedia stark, vgl. ders.: Poetica della conversione, v. a. S. 118.

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[Da hat das schmutzige Tal auf allen Seiten / So sehr gezittert, daß ich dacht’, das Weltall / Sei liebentbrannt, wodurch, wie manche glauben, / Die Welt mehrmals ins Chaos schon verwandelt [.]]

Als Grund für den Sturz der Welt ins Chaos nennt Vergil „amor“: Nicht die gleichnamige christliche Liebe, die am Ende der Commedia die Sonne und all die anderen Sterne bewegt, sondern die Liebe im unversöhnlichen Streit mit dem Hass und in ihrer unheilvollen Verquickung mit dem sündhaften Begehren. Die Hölle erscheint also als jener narrative Bereich, in dem vor dem Horizont der Konversion die in sie homonym eingeschriebene Dynamik des Umsturzes ins Chaos, ins „essere smarrito“ ausgeschrieben wird. Davon zeugen unter anderem die zahlreichen Rückfälle des Ichs in seine anfänglich vorgestellte Lage. Schauen wir uns dafür den berühmten 5. Höllengesang an, in dem das Ich dem unzertrennlichen Liebespaar Paolo und Francesca begegnet.

5 Inferno V: Äquivozitäten und Rückfälle Der zweite Höllenkreis, der mit dem 5. Gesang beginnt, evoziert zunächst Minos als einen weiteren Höllenwächter, der von den Neuankömmlingen ein Sündenbekenntnis, also eine confessio erzwingt, allerdings eine, die keine Konversion nach sich zu ziehen vermag, sondern nur dazu dient, den Sündern das Maß ihrer Strafe und damit den Höllenbezirk, in dem sie verbleiben sollen, zuzuweisen (vgl. Inf. V, 8). Die Hölle wird somit als der Raum ausgezeichnet, in dem Bekenntnis und Konversion, die dogmatisch gesehen eng aneinander gebunden sind (die conversio bildet die Voraussetzung für die confessio), auseinander driften. An die Stelle der Konversion tritt hier der contrapasso als eine Variante der buchstäblichen Bedeutung von Konversion, die, wie wir gerade gesehen haben, auch „Umkehr“, „Umsturz“ heißen kann und – bezogen auf die menschliche Seele – nichts anderes als den „Rückfall“ meint. In einer solchen inwendigen Verdrehung der Konversion ereignet sich ein Kippen des cum ins contro. Genau in dieser Verdrehung der Konversion mit bzw. gegen sich selbst, ihrer Ersetzung durch den contrapasso, liegt das perverse Gesetz des Inferno begründet. Am Beispiel von Francesca und Paolo wird diese Verdrehung in besonders eindrücklicher Weise vorgeführt, denn Francesca scheint, wenn sie dem Ich emphatisch ihre Schuld vorträgt, von der christlichen Idee der confessio beflügelt. Und dennoch bleibt sie durch das Gesetz des contrapasso, das sich hier bezeichnenderweise als ein einziger Wirbelsturm manifestiert, in dem die Verdammten in einer beständigen Drehung um sich selbst gefangen sind, an den Punkt ihres

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Fehlgehens eisern gebunden.44 Francesca exponiert, malgré elle, ihre anhaltende Verstricktheit in das, was sie sprechend loswerden möchte. Barbara Vinken hat daher in Hinblick auf Francescas Rede zutreffend von „verdrehten Sprechakten“ gesprochen: In the state of sin, Francesca cannot but expose her entanglement in sin. Thus she continues her sin in talking about her sin and in doing so repeats her sin. Since there are no valuesystems independent of the divine order, there is no „outside“ but a perversio of this order, to which everything remains in a necessary relationship. Francesca is aware of divine order but knowingly deviates from it; she cannot represent it, but remains in her sin. The damned cannot speak the truth. One is tempted to argue that the sin all of them shared in different degrees during their lives on earth is the distortion of speech acts. […] In their after-life they are condemned to continue „to do (bad) things with words“ in an ironic idle motion. Linguistically, hell could be defined as the place of distorted speech acts.45

Schon die prominenten antiken Fleischessünder – Semiramis, Kleopatra, Helena, Achilles, Paris und Tristan –, die in diesem Gesang vorüberwehen, haben im Ich tiefe Betroffenheit hervorgerufen: „e fui quasi smarrito.“ (Inf. V, 72). In der darauf folgenden zweiten Hälfte des Canto steht dann Francescas Rede (vermischt mit Paolos Tränen) im Mittelpunkt, deren Pathos die Reihe der großen tragischen Liebesfiguren aus der antiken Mythologie und den mittelalterlichen Stoffkreisen (die hier stumm bleiben) noch übertrifft. Francesca spricht gleichsam für all diejenigen mythologischen Figuren, von denen sie sich – wie ihr Verweis auf die Lanzelot-Lektüre verdeutlicht – selbst hat anstecken lassen. So wirkungslos ihre Rede in Hinblick auf die Vergebung ihrer Sünden ist, so stark wirkt hingegen ihre Rede auf denjenigen, der ihr zuhört: nämlich das Dantesche Ich. Wieder wird es vom Mitleid erfasst, und diesmal schwinden ihm wirklich die Sinne: […] sì che di pietade io venni men così com’ io morisse. E caddi come corpo morto cade. (Inf. V, 140–142) [[…] daß ich aus Mitleid / Ohnmächtig wurde, wie wenn ich gestorben. / Und ich fiel nieder wie ein toter Körper.]

Auffällig an diesen Schlussversen ist die strikt durchgeführte Verdopplung dieses zweifach mit „come“ eingeführten Vergleichs: „io“ taucht ebenfalls zweimal im 44 „La bufera infernal, che mai non resta, / mena li spirti con la sua rapina; / voltando e percotendo li molesta [Der Sturm der Hölle, der dort niemals rastet, / Der treibt die Geister hin in seinem Wirbel / Und dreht und schüttelt sie zu ihrer Plage]“ (Inf. V, 31–33). 45 Barbara Vinken: „Encore …“, S. 403.

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selben Vers auf; „morisse“ wird in „morte“ wieder aufgenommen, „caddi“ in „cade“. Die Verdopplung scheint mir einerseits die Frage der Doppeldeutigkeit der Wörter, die in Inferno V im Spiel ist und auf die ich gleich eingehen werde, aufzunehmen und schreibt gleichsam ihre Unentschiedenheit als Klimax aus, die das Ich zum Erliegen bringt. Seine Ohnmacht ist wie ein Rückfall in die bedrohliche Ausgangssituation der Commedia. Nun suggerieren auf der inhaltlichen Ebene das starke Interesse und Mitleid, welche das Ich für die „peccator carnali“ (Inf. V, 38) bezeugt, dass es sich mit den fatal Liebenden identifiziert, weil auch in ihm eine vergleichbare Wunde brennt. Doch auf der formal-sprachlichen Ebene kommt noch Anderes zum Ausdruck. So frappiert neben der komplexen Verdopplungsstruktur der abschließenden Verse die wörtliche Wiederaufnahme des Partizips „smarrito“ aus Inferno I, 3 („la via […] smarrita“) in diesem Kontext: pietà mi giunse, e fui quasi smarrito. (Inf. V, 72) [Hat Mitleid mich gepackt und fast verwirret.]

Es scheint, als hätte Francescas buchstäblich mitreißende Rede – gerade da, wo sie für sie selbst nicht freisetzend ist – vor allem bewirkt, dass das Ich nun vom contrapasso des Sich-um-die-eigene-Wunde-Drehens erfasst wird. Über das Hören und Sehen überträgt sich auf den Jenseits-Reisenden jene Ansteckung, von der Francesca und Paolo in ihrer Lektüre heimgesucht worden sind. Erneut wird das Ich von seiner eigenen, anfänglichen Lage in der „selva selvaggia“, wo die „via diritta“ „smarrita“ war, erfasst. Buchstäblich fällt es, „smarrito“, in seine anfängliche Bewusstlosigkeit zurück. Seine Ohnmacht am Ende des Canto erinnert an jenes „pien di sonno“ aus Inf. I, 11, von dem es umnebelt war und – wie sich hier nun zeigt – wieder und vielleicht sogar immer noch ist. Die Bewusstlosigkeit ist Folge der Tatsache, dass sich das Ich zu nah auf diese anziehenden Erscheinungen eingelassen hat, Erscheinungen, in denen palimpsestartig die Fratzen der drei wilden Tiere aus Inf. I aufscheinen, die als Gesichte das Ich ebenso umkreisten wie es hier nun die Fleischessünder tun.46

46 Giorgio Agamben erkennt in der Episode von Francesca und Paolo Dantes Bestreben, in der Wiederaufnahme der Motive der erotischen Dichtung des 13. Jahrhunderts diese vom tragischen ins komische Register umzuschreiben. Es handele sich um ein „vero e proprio «rivolgimento categorico», che fa nuovamente ruotare l’amore dalla tragedia alla commedia“ (ders.: Categorie italiane. Studi di poetica. Venezia: Marsilio 1996, S. 19). Ich würde dem hinzufügen wollen, dass gerade die Episode von Paolo und Francesca deutlich macht, wie riskant und immer noch unsicher dieses Unternehmen ist. Die Ohnmacht des Ichs scheint mir überdies Ausdruck dafür zu

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Vor dem Hintergrund von Vinkens These, der zufolge sich die in dieser Szene inszenierte Affektivität auf die Sprache als ein fatales Sich-Verdrehen der Performativität auswirkt, ergibt sich für die Betroffenheit des Ichs noch eine weitere Dimension: was hier so beängstigt, ist nämlich vor allem die schockartige Erkenntnis, dass man trotz Einsicht in das eigene Fehlgehen, trotz der Tatsache, dass man einen Begriff von Gott haben kann,47 dass man trotz mitleiderregendem Bekenntnis, in dem Zustand, aus dem man sich gerade durch die Rede freizusetzen sucht, gefangen bleiben kann. Kurzum, dass Sprache wirkungslos bleiben kann, ja dass unter gewissen Umständen sogar die stärkste Rhetorik, das stärkste Pathos ohne Kraft zur Veränderung ist und stattdessen fatale Ansteckung verbreitet (wie sie das Ich gerade erfährt). So wird das Ich durch Francescas Bekenntnis in seinem gerade mit Vergils Hilfe angetretenen Weg nicht bestärkt, sondern gleichsam aus der Bahn geworfen, indem es buchstäblich fällt: nämlich zu Boden wie ein toter Körper, worin freilich der Sündenfall noch einmal nachklingt und gleichsam gestisch-mimetisch nachvollzogen wird.48 Die Wirkung von Francescas Rede auf das Ich ist buchstäblich traumatisch, weil sie ihm erstens vorführt, dass das eigene Sprechen wirkungslos bleiben kann; zweitens, dass es ein irreparables Zu-spät der Reue und des Bekenntnisses gibt. Die bekennende Rede erweist sich gänzlich entkoppelt von der Konversion,49 sie ist conversio nur noch im rhetorischen Sinne; als Wortwiederholung ist sie vor allem ein Wiederkäuen.50 An dieser Stelle muss nun auch nach dem Status der Tränen gefragt werden, die Paolo – dieser an Francesca gebundene andere Leib – vergießt. Sie machen

sein, dass hier die Gattungsordnungen ins Schwanken geraten und wir uns auf unsicherem Boden zwischen dem Tragischen und dem Komischen befinden. 47 Francesca hat ja einen solchen Begriff („se fosse amico il re de l’universo“, Inf. V, 91), er bleibt aber unerreichbar. Gott ist eben kein Freund und hat auch kein Mitleid mit ihrem „mal perverso“ (Inf. V, 93). 48 Francescas erotisch geladene Rede – Vinken spricht von einer Verführungsrhetorik – zeugt zugleich von der Erotisierung der Verwundung, die auch das Dantesche Ich erfahren hat. Das heißt nicht nur, dass eine erotische Liebe diese Wunde zugefügt hat, sondern dass die Wunde selbst erotisch ist, dass das Fallen am Ende des Canto selbst erotische Qualität hat. Siehe dazu auch Kapitel I.5. 49 Zwar wird im dogmatischen Sinne conversio als Voraussetzung für confessio verstanden, doch benötigt die conversio zugleich immer auch das Geständnis der Sünden. Gäbe es eine vollendete conversio, würde sich die confessio als überflüssig erweisen. 50 Conversio im rhetorisch enggefassten Sinne einer Wortwiederholung am Satzende (epiphora) ist in der Commedia allerdings so gut wie abwesend (vgl. Francesco Tateo: „conversio“. In: Enciclopedia dantesca, Band 2, S. 189).

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Francescas Redefluss zu einem wörtlich strömenden und appellieren darum umso stärker an die Anteilnahme des Zuhörers: Mentre che l’uno spirto questo disse, l’altro piangëa, sì che di pietade io venni men così com’io morisse. (Inf. V, 139–141) [Indes der eine Geist also gesprochen, / Weinte der andre so, daß ich aus Mitleid / Ohnmächtig wurde, wie wenn ich gestorben.]

Das Ich wird von diesen Tränen gänzlich überwältigt, und dies aus mehreren Gründen. Tränen bezeugen im Mittelalter vor allem das Verhältnis zu Gott, sie sind „Beweis einer sich tief in das Fleisch gewordene Wort versenkenden Liebe, die sich in der schuldbeladenen, da nie genügenden Vergegenwärtigung der Passion Christi äußert“.51 Die eigentliche Erschütterung des Ichs dürfte allerdings der Tatsache geschuldet sein, dass diese Tränen zugleich auch „Tränen zum Tode“ sind,52 also das Indiz für eine fehlgeleitete Liebe und damit für eine zu verurteilende Selbstaffizierung. Tränen sind hier nicht einfach „der Indikator für die erreichten Stufen von Sündenentfernung und Gottesgnade“,53 wie in den Heiligenlegenden der Fall, sondern sie sind wesentlich ambivalent. Auch wenn in ihnen ein Begriff von Gott lesbar wird, sind sie zugleich doch noch dem Wirken Amors geschuldet und damit der gleichsam narzisstische Reflex auf die Verstricktheit des eigenen Begehrens. Die hier geweinten Tränen, auch das ist wichtig zu vermerken und wird im Folgenden noch weiter bedeutsam, werden vom Mann, nicht von der Frau vergossen. Auch in dieser Hinsicht sind sie einer Inversion bzw. Verkehrung geschuldet, die im 20. Gesang des Inferno an ein und demselben Körper ausbuchstabiert wird. Da laufen den in sich verdrehten Körpern die Tränen in die Gesäßbacken – quando la nostra imagine di presso vidi sì torta, che ’l pianto de li occhi le natiche bagnava per lo fesso. (Inf. XX, 22–24)

51 Beate Söntgen, Geraldine Spiekermann: „Tränen. Ausdruck – Darstellung – Kommunikation. Eine Einführung“. In: dies. (Hg.): Tränen. München: Fink 2008, S. 9–16, hier: S. 14; siehe dazu auch Pirska Nagy: Le Don des Larmes au Moyen Âge. Paris: Albin Michel 2000. 52 Nach einer Formulierung von Barbara Vinken, „Tränen zum Leben, Tränen zum Tode“. In: Beate Söntgen, Geraldine Spiekermann (Hg.): Tränen, S. 17–25, hier: S. 19. 53 Vgl. ebda., S. 22.

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[Als ich dort unser Bild so sehr verschroben (genauer: „verdreht“, wie Naumann übersetzt, Anm. d. Verf.) / Gesehn, daß aus den Augen ihre Tränen / Herunterfielen auf die Hinterbacken.]

– und werden damit als abjekte Ausscheidung entwertet. Die in der Hölle vergossenen Tränen sind wertlose, weil sie weder reines Zeichen der Anteilnahme an der christlichen Passion sind, noch in der Ökonomie des antiken Katharsis-Begriffs aufgehen. Denn ebenso wie Francescas Rede zu keinem Ende findet, hören Paolos Tränen nie auf. Das Sprechen „darüber“ führt zu keiner Bewältigung, sondern zur Unterstreichung des Noch: Amor, ch’al cor gentil ratto s’apprende, […] … e ’l modo ancor m’offende. Amor, ch’a nullo amato amar perdona, […] che, come vedi, ancor non m’abbandona. (Inf. V, 100–105, Hervorhebung von mir) [Liebe, die schnell ein edles Herz ergreifet, / […] noch muß die Art mich schmerzen. / Liebe, der kein Geliebtes kann entgehen / […] / Das, wie du siehst, mich heut noch nicht verlassen.]

„Amor“ ist hier – großgeschrieben als römische Liebesgottheit und in betonter anaphorischer Stellung – der unüberwundene, alles beherrschende Name für die unbewältigte Wunde, die sich in Francescas zu spät kommender Rede unüberwunden, immer noch weiter windet. Dass sie in dieser Weise Amor den ersten Platz einräumt, zeigt wiederum, dass ihre bekennende Rede noch zutiefst von Begriffen durchdrungen ist, die einem christlichen Liebesverständnis fremd sind (selbst wenn letzteres den gleichen Namen trägt; gerade das führt zu Francescas Konfusion). Vinkens Hinweis folgend, dass Francescas Rede ein „misreading“ der von ihr anzitierten Texte, zumal von Augustinus’ Confessiones, darstellt, könnte man sagen, dass sie im Text zu jenem Ort wird, an dem alle Worte in ihrem Sinn noch einmal verdreht werden. Oder anders gesagt: Francescas Mund wird zum Ort der Äquivozierung der Worte: „Amor“ bleibt hier unentschieden zwischen christlicher, kosmologischer und fleischlicher Liebe. Der Name „Paolo“ steht sowohl für ihren Geliebten als auch für den Apostel Paulus, dessen Lektüre bei Augustinus zum Ereignis seiner Konversion wird.54 Und nicht zuletzt erweist sich der Signifi-

54 Aurelius Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse, S. 215: „Ich griff sie [die Schrift des Apostels] auf, öffnete und las stillschweigend den ersten Abschnitt, der mir in die Augen fiel: ‚Nicht in

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kant conversio als einer, der unentschieden schwankt zwischen seiner wörtlichen Bedeutung eines Umsturzes ins Chaos, seiner christlich-theologischen Begrifflichkeit und seiner Bedeutung als rhetorischer Figur. Diese Äquivozierung wird als ein Hin- und Herwenden der Worte in sich selbst inszeniert, das erst durch eine erfolgte conversio in ein eindeutiges Lesen überführt werden könnte. Diese ist aber für Francesca unerreichbar und steht dem Ich immer noch bevor. Insofern dieser Punkt erzählerisch nie eingeholt wird – in der Tat fällt im Unterschied zu Augustinus in der Commedia die Bekehrung als erzähltes und datierbares Ereignis aus – haben wir in jedem Moment mit einem potentiellen „misreading“ bzw. Umschlagen der Signifikanten in ihren mit eingeschriebenen Gegensinn zu rechnen. Aus dieser Perspektive wird nun auch die Frage von Allegorese und Intertextualität noch einmal neu beleuchtet. Deutlicher als zuvor erweist sich, dass die Übertragung von Figuren und Worten stets affektgeleitet ist und damit inkommensurable Wege einschlägt, die weder durch ein typologisches Konzept noch durch ein rational begründetes Rezeptionsmuster ganz aufgefangen werden kann.

6 Inferno XX: Verdrehte Körper, verdrehte Verse Die Um- und Rückwendung der conversio, die in Inferno V vorgeführt wird, hat ihr kreatürliches Pendant in Inferno XX. Dort wird in den ersten vierzig Versen besonders eindringlich geschildert, wie der contrapasso als Winden und Wenden der Körper und Körperglieder wirkt. Die hier vorgestellten Verdrehungen und Verrenkungen der Zauberer und Wahrsager, die, weil sie zu Lebzeiten beanspruchten, die Zukunft sehen zu können, nun dazu verdammt sind, auf ewig zurückzuschauen, betreffen das Ich ebenfalls in ganz besonderer Weise. Auch dieser Gesang führt aus, was das Ich in Inferno I erlebt hat: die qualvolle Verdrehung des eigenen Körpers aufgrund einer unüberwindlichen Fixierung auf einen Angstpunkt und eines zugleich sich manifestierenden Triebs, der von diesem Punkt wegdrängt. Die Folge davon sind die wiederholt geschilderten Körper- und Kopfbewegungen des Ichs; sie deuten auf ein orientierungsloses Hinund Herwenden, das bisweilen sogar zur Ohnmacht führt. Im 20. Höllengesang versinnbildlicht sich nun dieser Widerstreit in den in sich verdrehten Körpern:

Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid, sondern ziehet an den Herrn Jesus Christus und hütet euch vor fleischlichen Gelüsten‘. Weiter wollte ich nicht lesen, brauchte es auch nicht. Denn kaum hatte ich den Satz beendet, durchströmte mein Herz das Licht der Gewißheit, und alle Schatten des Zweifels waren verschwunden.“

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ché da le reni era tornato ’l volto, e in dietro venir li convenia, perché ’l veder dinanzi era lor tolto. (Inf. XX, 13–15) [Zum Rücken nämlich standen die Gesichter, / Und alle mußten darum rückwärts gehen, / Weil sie nach vorwärts nicht mehr schauen konnten.]

Das Wortfeld um „volgere“, das, wie gezeigt wurde, schon im Prolog insistiert (siehe oben) wird hier weitergesponnen und als „torsione“ kreatürlich veranschaulicht. Die Wendungen „apparve esser travolto“ (v. 11) „tornato ’l volto, e in dietro“ (vv. 13/14), „si travolse“ (v. 17) „torta“ (v. 23), „li duo serpenti avvolti“ (v. 44) verweisen allesamt auf eine Verdrehung, Verkehrung und Entstellung von Körpern. Im Unterschied zu Francesca, die ihr Vergehen einsieht, aber dennoch daran gebunden bleibt, zeichnen sich diese „ombre“ durch keinen Besserungswillen aus. Im Gegenteil, es scheint, als gäben sie ihrer alten Neigung, zu weit in die Zukunft vorausschauen zu wollen, immer noch nach, wo sie von der Strafe, nun auf ewig zurückzuschauen und rückwärts gehen zu müssen, längst geschlagen sind. Gerade die Verdrehung, von der die Körper dieser Verdammten gezeichnet sind, zeigt ja, dass die sündhafte Neigung absolut unbeugsam ist, ja, dass auch die unerbittlichste Strafe ihr nichts anhaben kann.55 Denn wirkte die Strafe, wären die Wahrsager einfach zur Rückschau verdammt, und ihre Körper müssten diese Torsion nicht erleiden. Aber gerade das ist hier nicht der Fall und führt uns zweierlei vor: Erstens, dass Körper nicht zerbrechen, sondern einerseits unendlich träge, andererseits unendlich dehnbar sind. Zweitens, wie weiter oben schon angemerkt, fließen ihre Tränen direkt ins Gesäß (Inf. XX, 24), sie sind also gleichsam abjekte Ausscheidung und ohne kathartische Wirkung (zudem hier ohne die Selbstaffizierung, die bei Francesca und Paolo noch so einschlägig ist). Trotzdem wird das Ich wiederum von Mitleid erfasst. Abermals gefährdet dies sein Fortschreiten: „Certo io piangea, poggiato a un de’ rocchi [Da weinte ich wahrlich, angelehnt am Felsen]“ (Inf. XX, 25). Diesmal wird sein Ein- und Anhalten von Vergil mit gesteigertem Unmut quittiert: „Ancor se’ tu de li altri sciocchi?

55 Folgende Passage aus Aristoteles’ Ethik scheint hier durch: „Es findet sich aber bei den Menschen von Natur noch anderes, etwas Vernunftwidriges und was gegen die Vernunft kämpft und ihr widerstrebt. Genau so wie gelähmte Körperteile, wenn man sie nach rechts bewegen will, sich nach links und verkehrt bewegen, so ist es bei der Seele. Die Strebungen der Unbeherrschten gehen gerade verkehrt. Allerdings sehen wir beim Körper die verkehrten Bewegungen, bei der Seele hingegen nicht“ (Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Übers. von Olof Gigon, neu hg. von Rainer Nickel. Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler 2005, S. 31 (Erstes Buch, 13, 1102b–1103a)).

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[Bist auch du noch von jenen Dummen?“ (Inf. XX, 27), Hervorhebung von mir56]. Das Immer noch des Fehlgehens, das die Verdammten auszeichnet, macht sich auch in ihm auf bedrohliche Weise bemerkbar. Harsch fordert Vergil seinen Schützling auf, nun endlich den Kopf zu heben und dem Anblick dieser verdrehten Körper Stand zu halten: „Drizza la testa, drizza, e vedi“ (Inf. XX, 31),57 was sich in den Imperativen „Mira“ (v. 37) und „Vedi“ (v. 40) fortsetzt.58 Der Gesang stellt bis hierhin zunächst einmal folgende Frage: Wohin darf und kann bzw. soll geschaut werden? Weder das Zu-weit-Vorausschauen, das Hybris ist, noch das Zurückschauen, das hier als Form der Verdammung eingeführt wird, kommen als richtige Haltung in Frage. Wenn Vergil das Ich auffordert, den Kopf zu heben, um die monströsen Entstellungen, die aus einem unentschiedenen Vor und Zurück erwachsen, genau zu betrachten, dann geht es offensichtlich auch darum, weder mitleidig-identifikatorisch zu schauen noch einfach wegzuschauen. Zugleich aber schwingt in den Imperativen, die Vergil seinem Schützling entgegenschleudert, auch eine Frage mit, die ihn selbst angeht. Dies wird besonders einsichtig, als die Zauberin Manto auftaucht, welche die Reihe der Auguren abschließt. Ihrer wird eingehend gedacht. Als Namensgeberin von Vergils Heimatstadt betrifft sie ihn – nicht zuletzt auch in seiner Rolle der Zukunft verkündenden Führerfigur – ganz direkt.59 Vergil legt dar, dass zu ihren Ehren über ihren Gebeinen die Stadt Mantua errichtet worden sei. Zugleich betont er, dass dieser Akt kein Ausdruck magischen Glaubens gewesen sei (Inf. XX, 93). Er unterstreicht damit einerseits das Ende der Zauberei (auch, um keinen Verdacht bzgl. seiner

56 Gmelins Übersetzung habe ich hier um ein von ihm unterschlagenes „noch“ ergänzt, auf das es mir ankommt. 57 Gmelin: „Richt auf dein Haupt und sieh“; Naumann nimmt die Wortwiederholung genauer: „Richte den Kopf auf, richte dich auf und sieh“. 58 Schon im nächsten Canto fällt das Ich wieder zurück in eine zögerliche, ja gleichsam gelähmte Haltung, wenn es sich von dem schrecklichen Anblick des schwarz brodelnden Teers im Malebolge nicht losreißen kann und nur mehr fliehen will: „Allor mi volsi come l’uom cui tarda / di veder quel che li convien fuggire / e cui paura sùbita sgagliarda, / che, per veder, non indugia ’l partire [Da wandt ich mich, wie einer, der recht eilig / Das sehen möchte, was er fliehen sollte, / Und dem ein schneller Schreck den Mut genommen, / So daß er schaut und doch zugleich schon aufbricht]“ (Inf. XXI, 25–28). 59 Dasselbe gilt später für Sordello (Purg. VI), der ebenfalls aus Mantua stammt und wie Vergil, zumindest streckenweise, zu einer Führerfigur wird. Es ist, als seien in der Commedia Mantuaner besonders geeignet, Führungsaufgaben zu übernehmen. Der Subtext suggeriert, dass sie eine prophetische Gabe besitzen, die sie den mantischen Wahrsagern durchaus gefährlich ähnlich sein lässt. Das wäre an anderer Stelle weiter zu entwickeln. Vergil erzählt an dieser Stelle etwas ganz anderes über die Stadtgründung als die Aeneis, Dante korrigiert also die Vorlage, mit dem Bestreben, die Legende zu entzaubern. Vgl. dazu auch Hermann Gmelin in: Dante Alighieri: Die göttliche Komödie, Band IV (Kommentar), S. 313 und 316.

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eigenen voraussehenden Gabe und daran gebundenen Aufgabe, das Ich zu führen, aufkommen zu lassen), andererseits aber rückt genau in dieser, die Zauberei verabschiedenden Namensgebung die Möglichkeit semantischer Übertragung, die der Dichtung eignet, an ihre Stelle.60 Wenn sich „Mantua“ von Manto ableitet, zugleich aber „Mantua“ die falsche Wahrsagerei der Manto abwenden soll, dann haben wir es wieder mit einer etymologischen Engführung zu tun, in der zueinander im Gegensatz stehende Konzepte aufbewahrt sind. Und wieder ginge es um ein Lesen, welches das eine vom anderen zu trennen wüsste. Solange wir uns aber im Reich der sprachlichen Äquivozität bewegen (und wir sehen, dass auch das von Alighieri gedichtete Jenseits davon nicht frei ist), werden wir stets in der Akzentuierung der einen Sinnrichtung auch die andere mitdenken müssen. Die eigentliche Gefahr geht also nicht (mehr) so sehr von der Mantik im engeren Sinne aus, sondern von der Tatsache, dass sie in die Semantik der Worte und Namen eingewandert ist und dort sowohl als Äquivozität als auch als ansteckende Übertragungskraft wirkt. „Semantik“ leitet sich etymologisch zwar nicht von „Mantik“ (aus griech: mantikos), sondern aus dem griechischen Wort semainein (bedeuten) ab, gerät jedoch im Akt der Namensgebung, die zugleich eine semantische Abwendung vom Mantischen sein soll, in deren homophone Nähe. Es ist darüber hinaus nicht zu leugnen, dass die Lehre vom Bedeuten, die Semantik, immer auch schon die Frage des Deutens – und damit die Frage der Mantik als Zukunftsdeutung – betrifft: nämlich die zukünftige Deutung und Bedeutung eines Wortes.61 Und doch wehrt sich in Vergils Rede alles gegen eine solche Wendung der Semantik. „Drizza“, „Mira“, „Vedi“ – das sind auch Aufforderungen, dieser möglichen Ansteckung zu widerstehen. Es geht darum, sehend die Worte und das Geschaute auf Abstand zu halten. Dies geht unmittelbar auch die Leser an, die sich schon in Inferno V durch die beiden liebend Lesenden in ihrer Lesepraxis in Frage gestellt sahen. Wie sollen sie lieben, wie sollen sie lesen? – zwei Fragen, die in der Commedia auf das Engste verknüpft sind und die auch die Frage der Philologie im Sinne einer wörtlich verstandenen Liebe zum Wort impliziert. Wie sollen die Leser die Worte der Dichtung deuten und verstehen, und was geben diese gleichsam von selbst zu verstehen? Sollen sie sich von den in der Dichtung vorgestellten ver-

60 Thomas Ricklin diskutiert Nähe und Distanz des Vergil zur Mantik in: ders.: „Dante zwischen Zauberern und Divinatoren. Einige möglicherweise nicht nur prosaische Hinweise zu Inferno XX“. In: Loris Sturlese (Hg.): Mantik, Schicksal und Freiheit im Mittelalter (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 70), Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2011, S. 129–151. Er legt dar, dass zum Beispiel Boccaccio Vergil noch als neapolitanischen Astrologen herausstellte, während die moderne Dante-Forschung (Ricklin hat hier vor allem Hollander im Blick) alles dafür getan habe, um Vergil von seinem mittelalterlichen Ruf als Magier zu befreien (vgl. ebda., S. 141f.). 61 Vgl. dazu auch Thomas Schestag: Mantisrelikte. Basel: Engeler 1998, S. 8.

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drehten Gestalten ebenso in Bann ziehen lassen wie der Protagonist? Oder sollen sie Vergils kühlem Geist folgen, der auf Abstand geht und behauptet, die guten und die schlechten Bedeutungspotentiale eines Namens klar voneinander trennen zu können? Nun fordern Vergils Imperative das Ich und darüber hinaus auch die Leser entschieden zur Desidentifikation auf: Für das Ich gilt es, Abstand von den verdrehten Sündigern zu nehmen; für die Leser heißt dies auch, Abstand zum Protagonisten, aber auch insgesamt zum Dargestellten zu gewinnen. Die philologisch versierten Leser tun dies, indem sie zum Beispiel ihre Aufmerksamkeit vom Geschilderten auf die formale Gestaltung des Textes verlagern. Dort treffen sie auf ein poetisches Prinzip – den Vers –, das selbst wiederum etwas von den Verdrehungen weiß, die gerade erzählt worden sind. Dieser wird in diesem Canto, der die Verdammung der Wahrsager und Zauberer vorstellt, als ein dem Magischen durchaus verwandtes Sprechen selbst zum Gegenstand der Betrachtung.62 Was verbindet den Vers mit diesen Gestalten? Und inwiefern verhält er sich gegenwendig zu ihnen? Gleich zu Beginn des 20. Gesangs wird das Dichten thematisiert: Di nova pena mi conven far versi e dar matera al ventesimo canto de la prima canzon, ch’è d’i sommersi. (Inf. XX, 1–3) [Gmelin übersetzt: Von einer neuen Strafe muß ich dichten; / Sie gibt den Stoff zum zwanzigsten Gesange / Des ersten Lieds, das von den Sündern handelt; Philaletes schreibt für „sommersi“ „Versunknen“, Naumann „Versenkten“; Köhler schreibt „Untergegangenen“.]

Auf „versi“ reimt „sommersi“, ihnen sind die Verse gewidmet. Wenn sich das Formprinzip mit seinem Inhalt reimt, was passiert dann im Kontext der Gefahr semantischer Kontamination mit dem Vers? Was verbindet ihn mit den Untergegangenen? Geht er mit ihnen zusammen auch selbst unter? Folgen wir dieser Spur, können wir beobachten, wie auch hier das signifikante Potential des Verses aktiv wird. Denn insofern „verso“ auch die Partizipialform des lateinischen Verbs vertere (wenden) ist,63 welche wiederum den Wortstamm von „Konversion“, „In-

62 Man bedenke, dass die früheste Dichtung aus den Zaubersprüchen entstanden ist, dass Vers und Reim gleichsam magische Kräfte entfalten können. Vgl. dazu insbesondere Jean Starobinski: Les mots sous les mots, Les anagrammes de Ferdinand de Saussure. Paris: Gallimard 1971 sowie Thomas Ricklin: „Dante zwischen Zauberern und Divinatoren…“, S. 130, wo er auf die Nähe des Zaubers der poesis zur mittelalterlichen Divination eingeht. Siehe des Weiteren Nevill Drury: Magie. Vom Schamanismus und Hexenkult bis zu den Technoheiden. Aarau, München: AT-Verlag 2003, S. 32f.

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version“, „Perversion“ bildet, steht er mit diesen Formen der Wendung in Verbindung und klingt in ihnen gleichermaßen nach. Es ist, als bilde er damit geradezu das Scharnier, das diese einander entgegengesetzt ähnlichen Bewegungen zusammenhält. Das Kippen von Bedeutungen, das wir in Francescas Rede, aber auch in der Unterscheidung zwischen Propheten und Wahrsagern im Spiel sahen, ereignet sich an dieser Scharnierstelle. Zunächst und anhaltend bleibt unentschieden, auf welche Seite der „verso“ kippen wird. Die eben erörterten Torsionen sind kreatürlicher Ausdruck dieser Unentschiedenheit. Der Vers als das feste Maß des Sprechens, das eingebunden in den Reim das formale Korsett der dichterischen Äußerung bildet, ist an den Drehungen und Wendungen, von denen er berichtet, in mancher Hinsicht beteiligt, ist er doch selbst Drehung und Wendung. Anders gesagt: Der Vers ist der Zwang, der auf die Sprache selbst ausgeübt wird und zu ihrer Verdrehung führt. So betrachtet erscheint er als ein Werkzeug der Drehung; auf diese Weise bewirkt er die Verlängerung des contrapasso in die Dichtung selbst hinein. Wenn Auerbach über Alighieris Dichtkunst schreibt: Fast jede Zeile der Komödie verrät die gewaltige Anstrengung, und in den harten Fesseln von Reim und Silbenzahl bäumt und windet sich die Sprache; die Gestalt mancher Verse und Sätze erinnert an einen Menschen, der in sonderbar gezwungener Stellung versteinert oder erfroren wäre, deutlich und ausdrucksvoll im Übermaß, aber ungewohnt, erschreckend und übermenschlich,64

so ist mit dieser trefflichen Beobachtung der Vers (es handelt sich wohlgemerkt um den Elfsilber, den Alighieri als den vorzüglichsten hinsichtlich der Fähigkeit, Inhalte, Konstruktionen und Wörter aufzunehmen, gelobt hat65) als eine Art per-

63 Als Partizipialform wird „verso“ zumeist als „Linie“, „Reihe“ lexikalisiert (vgl. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin: de Gruyter 2003, Band III, Eintrag „Vers“, S. 761), was sich gerade in Hinblick auf die kreisförmig konzipierte Commedia als irreführend erweist. Vielmehr würde ihr der Wendecharakter des Verses (der sich von der Bewegung des pflügenden Ackers ableitet, auf die der Vers zuweilen zurückgeführt wird) mehr zustehen. Vgl. in einem umfassenden Sinne dazu Maurizio Bettini: Vertere. Un’antropologia della traduzione nella cultura antica, Torino: Einaudi 2012. 64 Erich Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt, S. 203. 65 Vgl. Dante Alighieri: De vulgari eloquentia, übers. von Michael Frings und Johannes Kramer, Stuttgart: Ibidem-Verlag 2007, Liber Secundus, V, 3, S. 136, hier freilich in Hinblick auf die Gattung der von ihm selbst verwendeten Kanzone: „Quorum omnium endecasillabum videtur esse superbius, tam temporis occupatione quam capacitate sententie, constructionis et vocabulorum [Vor allem scheint der Elfsilber der vorzüglichste zu sein, sowohl hinsichtlich der rhythmischen Fülle als auch hinsichtlich der Fähigkeit, Inhalte, Konstruktionen und Wörter aufzunehmen.]“

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verses Folterwerkzeug, mit dem die Sprache malträtiert wird, anschaulich gemacht. Der Vers führt zur Abweichung von der natürlichen Wortstellung, „die Dante häufiger und härter verwendet“66 als alle anderen. Diese Feststellung verleitet Auerbach nun dazu zu behaupten, dass Alighieri Sätze zertrümmere, Zusammengehöriges auseinanderreiße und das gewöhnlich Getrennte zusammenfüge.67 An dieser Stelle würde ich jedoch einhalten und anstelle des Bruchs, wie schon in Hinblick auf die Körper des 20. Gesangs, von einer nicht nur vitalen, sondern zugleich auch unheimlichen Dehnbarkeit der Sprache sprechen, die zu solchen Verdrehungen einlädt. Man gewinnt zuweilen den Eindruck, dass sich die Commedia aus dieser Versfessel befreien möchte. Sie überdehnt den Vers, als wolle sie ihn gleichsam von sich abschütteln. Es ist, als ob der häufig abrupte Wechsel in Ton und Stil – Auerbach spricht von „Umschaltungen“68 – in diesem Sinne verstanden werden müsse: nämlich als Versuch, dort einen Bruch, einen Schnitt herbeizuführen, wo hingegen das, was überwunden werden soll, sich unendlich auszudehnen geneigt ist. Die Spannung zwischen Vers und Ausdruckswillen greift nun ihrerseits das Problem auf, dass die Konversion stets von potentiellen Inversionen und Perversionen unterwandert wird, dass in der christlichen Auffassung von amor die antike noch nachklingt, dass in Mantua das Mantische eingeschrieben ist etc., dass nicht zuletzt der Vers gezeichnet ist von seiner eigenen Äquivozität, die schwankt zwischen seiner in sich gespaltenen präpositionalen Valenz im Sinne von „gegen“, „in Richtung von“ und seinem substantivischen Gebrauch.69 Der 20. Gesang beruht auf der Zusammenführung dieser beiden grammatikalischen Funktionen und den daraus divergierenden Wortbedeutungen. Denn einerseits wird in diesem Gesang der Vers als dichterisches Element thematisiert und andererseits wird, wenn wir im Signifikanten „verso“ den Richtungsaspekt mithören, auch die Frage mitverhandelt, wohin man sich wenden darf, kann und muss70 – eine Frage, die für die ganze Commedia zentral ist, die Haltung des Ichs 66 Erich Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt, S. 203. 67 Vgl. ebda. 68 Erich Auerbach: „Farinata und Cavalcante“, in: ders.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern, München: Francke 31964, S. 171. 69 Siehe dazu auch Ugo Vignuzzi: „verso“. In: Enciclopedia dantesca, Band 5, S. 980–982. 70 In Dante Alighieri: De vulgari eloquentia, Liber Secundus, XI, 12, S. 174 klingt in der Erörterung des Verses eine durchaus wörtliche Bedeutung des Versfußes an, der nicht nur als ein Vers aus Füßen, sondern auch als ein Fuß aus Versen aufgefasst wird, wobei die Verse selbst als Kehren erscheinen: „Nec pretermictendum est quod nos e contrario regulatis poetis [damit sind die lateinischen Dichter gemeint] pedes accipimus, quia illi carmen ex pedibus, nos vero ex carminibus pedem constare dicimus, ut satis evidenter apparet [Man darf nicht außer Acht lassen, dass

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unmittelbar betrifft und darüber hinaus im mantischen Figurenpersonal eindrücklich vorgeführt wird. Wenn nun im 20. Gesang „versi“ das Reimwort „sommersi“ hervorruft (Inf. XX, 1 und 3), so wäre „sommersi“ nicht nur als Gegenstand der ersten Cantica zu verstehen (die Untergegangenen im Sinne der in die Hölle Verdammten), sondern auch in Bezug auf den Vers selbst zu lesen. In gewisser Weise behauptet der Reim das Untergegangensein des Verses selbst. Das kann einerseits heißen, dass er verdammt ist wie die Zauberer und Wahrsager, die in keinem anderen Medium als dem Vers vorgestellt werden; das kann andererseits heißen, dass er von oben (von der Erdoberfläche ebenso wie vom sermo sublime) herabsteigen musste, um sich durch die Sphäre der „sommersi“ hindurch- und von dort wieder hinaufzuwinden. Als gleichsam infernalischer ist der Vers zugleich das tragende Prinzip der gesamten Commedia. Jede sprachliche Äußerung in ihr ist unabdingbar an den Vers gebunden, an jene Fessel, die die Bedeutung eines Wortes an seinen Klang, und darüber vermittelt, an eine andere Bedeutung, ja manchmal gar an eine Gegenbedeutung bindet.71 Der Vers bindet Bedeutungen zusammen: Dies ist auch der Tatsache geschuldet, dass der Vers immer zwei, ja drei, nie einfach eins ist. Der Vers kann immer nur geschehen, wenn er schon da ist, wenn er in eine Wiederholung eingeschrieben ist.72 Zugleich scheint genau in dieser strukturellen und semantischen Doppeltheit das Potential zu liegen, das den Vers von dem in ihm angelegten Untergehen zurückhält. Immerhin bildet er das Grundprinzip, mit dem Aligheri dichtend voranschreitet, und er trägt dabei dessen gewisses „Sommersi-Sein“ bis in die höchsten Sphären des Paradiso (dort wird sich seine Verdrehung als Problem des Paradoxes erweisen, siehe Kapitel VI. 10). Noch dort sind es ja dieselben „versi“. Sie werden durch keine andere poetologische Auffassung von Dichtung abgelöst (es ist auch fraglich, ob es eine Alternative dazu geben kann), es sei denn durch die Auflösung des dichterischen Sprechens an sich, wie es sich am Ende im zunehmenden Auseinanderdriften von Sehen (dessen Kraft nach und nach zunimmt) und Sprechen (das zuletzt in einem kleinkindlichen Lallen aufgehen würde (Par. XXXIII, 106ff., 121ff.)) ankündigt.73

wir ‚Füße‘ im Gegensatz zu den Dichtern in der Regel anders verstehen, denn sie setzen einen Vers aus Füßen zusammen, während wir einen Fuß aus Versen zusammengesetzt verstehen. Das ist ja ganz klar]“. 71 Giorgio Agamben schreibt treffend: „[L]a parola-rima è innanzitutto un punto di indecidibilità tra un elemento per eccellenza asemantico (l’omofonia) e un elemento per eccellenza semantico (la parola)“ (ders.: Categorie italiane, S. 115). 72 Vgl. Hans-Jost Frey: „Verszerfall“, S. 51. 73 Zu bedenken wäre hier, inwiefern das Lallen, von dem Alighieri spricht, dem Übergang des Reims ins Schweigen entsprechen könnte, das er in De vulgari eloquentia, Liber Secundus XIII, 8,

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So sehr sich die Commedia von ihrem Verszwang befreien möchte, so sehr bezeugt sie den unwiderstehlichen Drang zum Verseschmieden. Unübertroffen kommt dies in Alighieris poetologischen Überlegungen im Zweiten Buch von De vulgari eloquentia zum Ausdruck, und zwar in dem Moment, als er diese plötzlich und unvermutet unterbricht, um die Dichtung an sich zu Wort kommen zu lassen, und zwar ausgerechnet mit einem Vers von Bertran de Born, der nichts anderes als eben diesen unwiderstehlichen Dichtungstrieb ausdrückt: „Non posc mudar c’un cantar non exparia.“74 Wenn Paul Valéry die Dichtung als „hésitation prolongée entre le son et le sens“ beschreibt,75 eine Formulierung die auch Agamben in seinen Categorie italiane wieder aufgreift,76 so scheint er damit etwas zu berühren, was den dichterischen Raum der Commedia wesentlich bestimmt. Tatsächlich können die Dehnungen und Verdrehungen als dichterisches Zögern gelesen werden, das sich, wie ich gezeigt habe, hauptsächlich in den Momenten von Homophonie und Homonymie innerhalb der Terzinenstruktur manifestiert, dort wo Klang und Sinn in besondere Spannung zueinander treten, entweder ganz auseinanderzustreben oder auch ganz zusammenzufallen drohen. Als unwiderstehlicher Dichtungstrieb durchzieht dieses Zögern das beschriebene Konversionsgeschehen und ist nicht zuletzt verantwortlich dafür, dass sich letzteres nicht vollendet, sondern stets immer noch bevorsteht.

Exkursus: Konversionshysterie Es wurden unterschiedliche Formen der Äquivozierung und der damit verbundenen Suspendierung der Konversion dargelegt. Zwar drängen in der Commedia viele Kräfte zum Vollzug der Konversion, und doch wird die Bewegung dorthin

S. 186 als den schönsten Aspekt der Schlussverse ausmacht: „Pulcerrime tamen se habent ultimorum carminum desinentiae, si cum rithmo in silentium cadant. [Am Schönsten verhalten sich allerdings die Schlussverse, wenn sie mit einem Reim ins Schweigen übergehen.]“ Oder anders gefragt: Wenn, wie Agamben suggeriert, das Ende der Dichtung in der Aufhebung der Spannung zwischen Klang und Sinn besteht, äußert sich diese Aufhebung dann in einem solchen Lallen? Falls ja, so würde dieses Lallen unentschieden zwischen dem Ausdruck der Glückseligkeit, die die mystische Vereinigung zwischen Klang und Sinn mit sich bringt, und dem immer versagenden Ausdruck für deren Trennung stehen. 74 „Ich kann es nicht ändern, ich muß einen Gesang anstimmen“, vgl. Dante Alighieri: De vulgari eloquentia, Liber Secundus, II, 7, S. 121. 75 Paul Valéry: Rhumbs. In: Œuvres. Paris: Gallimard 1960, Band 2, S. 637. 76 Vgl. Giorgio Agamben: Categorie italiane, S. 113.

6 Inferno XX: Verdrehte Körper, verdrehte Verse

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stets von einer Gegenkraft zurückgehalten.77 Körper und Seele treten auseinander: Die Folge davon ist, dass der Körper und mit ihm die Sprache zum Schauplatz einer in sich gewundenen und sich aufbäumenden Seele werden. Es offenbart sich hier eine Spaltung ohne Schnitt. Am Ende des 19. Jahrhunderts wird dieses Phänomen als „Konversionshysterie“ ein erstes wichtiges Konzept der gerade im Entstehen begriffenen Psychoanalyse bilden. Es befindet sich in Freuds gemeinsam mit Breuer verfassten Studien über Hysterie aus dem Jahre 1895, die ja schon im ersten Kapitel der Arbeit eine zentrale Rolle in der Erörterung des psychoanalytischen Trauma-Begriffs einnahmen. Das Kompositum „Konversionshysterie“ ist eine Zusammenziehung von zwei sich gegenseitig abstoßenden Begriffen. Immerhin wurden im Mittelalter die hysterischen Symptome als Beweis für die Besessenheit der Betroffenen durch den Teufel gedeutet,78 während die Konversion ja gerade eine Hinwendung zu Gott meint und damit eine größtmögliche Entfernung vom Teufel unterstreicht. Wie kommt es am Ende des 19. Jahrhunderts zu diesem paradoxen Ausdruck und inwiefern kann er als ein konstitutives Moment in der Begründung der Psychoanalyse betrachtet werden? Konversion heißt in der psycho-neurologischen Sprache von Breuer und Freud die Umwandlung eines seelischen Konflikts in einen körperlichen Ausdruck. Der hysterische Anfall – meist in Form von Lähmung, Kontraktur, Halluzination, Verdrehung und Verrenkung der Körperglieder – meint eine Abfuhr der psychischen Spannungen, die einer missglückten Katharsis gleichkommt. „Psychisches Leiden wird in körperliches übersetzt, bzw. seelische Energie in körperliche Innervation umgewandelt.“79 Die hysterische Konversion erscheint somit als ein spezifischer „Modus der Konfliktverarbeitung“, der jedoch nur einer „Pseudolösung“ gleichkommt.80 Konversionshysterie meint also eine in sich gewendete Wendung; eine invertierte Konversion, in der conversio ausfällt, weil sie von einem Widerstand durchzogen ist, der sie gegen sich selbst wenden lässt. Das körperliche Ausagieren wird von Breuer und Freud schließlich weniger dem Bereich des Kathartischen, denn vielmehr dem Wiederholungszwang zugeschlagen. Katharsis im Sinne einer Freisetzung der eingeklemmten Affekte

77 Giorgio Agamben schreibt: „Il poema è come il catéchon […] qualcosa che frena e ritarda l’avvento del Messia, cioè di colui che, compiendo il tempo della poesia e unificando i due eoni, distruggerebbe la macchina poetica precipitandola nel silenzio“ (ebda., S. 118). 78 Vgl. dazu Stavros Mentzos: „Einleitung“ zu: Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien über Hysterie, S. 7. Siehe zur Geschichte der Hysterie in der Antike und im Mittelalter v. a. Ilza Veith: Hysteria. The History of a Disease. Chicago: University of Chicago Press 1965. 79 Vgl. Stavros Mentzos: „Einleitung“, S. 11. 80 Ebda., S. 12f.

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ereignet sich erst in der Sprachfindung.81 Aber auch die rhetorisch gewandte, sprachliche Äußerung kann sich, wie wir in Inferno V gesehen haben, der Katharsis versperren. Inferno V setzt hinter die freisetzende Kraft der Sprache sowie hinter die kathartische Wirkung der Tränen ein entschiedenes Fragezeichen. Es sind endlose Tränen, die das endlose Sprechen, das zu keiner Konversion führt, immer auch schon zu ersticken drohen. Inferno XX führt dann die daraus resultierende „somatische Konversion“82 vor, man könnte sagen, wir haben hier eine gleichsam treffliche Illustration der Konversionshysterie ante litteram vor uns. So gesehen erscheinen die beiden Canti nicht nur deutlich in ihrem Bezug zueinander, sondern zusammengenommen auch als der andere Schauplatz, an dem sich die traumatischen Eindrücke des Danteschen Ichs als hysterische Symptome reproduzieren, was hier freilich nicht als pathologisches Phänomen, sondern in erster Linie als Verhandlung von Repräsentationsformen interessiert. Doch kommt mit dem Hysteriebegriff eine Genderproblematik ins Spiel, die ich hier nicht ganz unter den Tisch fallen lassen möchte, wenngleich sie uns von der eigentlichen Thematik fortführt. Es sei nur soviel gesagt, dass die hier vorgenommene Montage zwischen der Commedia und Freuds Begriff der Konversionshysterie die Frage der Geschlechterinversion aufwirft, die nicht ganz irrelevant ist, denn das Ich ist wie die Frauen leicht erregbar, es fällt wie die Frauen leicht in Ohnmacht und nicht zuletzt erzählt es wie die Frauen in der Volkssprache. Das Reim- und Versprinzip bleibt dabei in der Schwebe zwischen der Hervorbringung einer dichterischen Sprache, die das Ich vorantreibt (insofern der Versrede eine spezifische Überzeugungskraft innewohnt, die zur motorischen Kraft der Rede werden kann), und der Hemmung, Aufhaltung, Verkehrung und Einsperrung der Sprache, eine Tendenz, die ebenfalls im metrischen Zwang der Versrede begründet ist, die daraus gleichsam vergebens ihre Freisetzung sucht. Friedrich Nietzsche hat in seinen Überlegungen zum Ursprung der Poesie in eindrücklicher Weise den Zwangscharakter von Metrum und Rhythmus sowie die dadurch bedingte Affektentladung hervorgehoben.83 Er erläutert dies am antiken, ungebundenen Vers. Die Frage, die sich für die Commedia stellt, ist, inwiefern sich diese Beobachtungen in Bezug auf den gebundenen Vers verschärfen und vielleicht auch verschieben. Meine These, die der hier erfolgten Textanalyse zugrunde liegt, ließe sich wie folgt formulieren: Wo der Reim den zwanghaften

81 Siehe auch Martin von Koppenfels: Immune Erzähler, S. 37ff. und Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne (darin: Einleitung und 1. Kap.). 82 So fasst Elisabeth Bronfen Freuds Verwendung des Begriffs der Konversion, den er für die Fehlleitung einer psychischen Erregung in eine physische Spannung verwendet, vgl. ebda., S. 77. 83 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: Kritische Studienausgabe, Band 3, Zweites Buch, 84, S. 439ff.

7 Ausgang per Kopfstand

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Charakter der Versrede noch steigert, wird die Entladung des Affekts eher zurückgebunden und aufgeschoben. In der Tat erfolgt ja hier kein orgiastischer Tanz, wie noch in Nietzsches dionysischer Auffassung der antiken Dichtung, stattdessen zeugt die Dichtung von einem gleichsam unerbittlichen Maß, dem die Affekte untergeordnet werden. Das Aufbäumen der „terza rima“ ist die poetologische Folge dieser Spannung, die wiederholten Ohnmachtsanfälle des Ichs deren Folge auf der Ebene der histoire. Interessant ist darüber hinaus Nietzsches Hinweis auf die mantische Dimension der Versrede, von der er sagt, dass sie unausrottbar sei. Dieser Aspekt unterstreicht abermals eine gefährliche Nähe zwischen dem dichterischen Prinzip der Commedia und den Wahrsagern des 20. Höllengesangs, wohin die Verse sowohl durch ihre Thematisierung als auch aufgrund ihres eigenen verdrehten Charakters in gewisser Weise verbannt sind. Nietzsche schreibt: […] ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott. Ein solches Grundgefühl läßt sich nicht mehr völlig ausrotten, – und noch jetzt, nach Jahrtausenden langer Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, daß er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daher kommt.84

Freilich trifft diese Aussage nicht ungebrochen auf die Commedia zu, aber sie bildet die Folie, vor der die Commedia in ihrer Spannung zwischen sermo sublime und sermo humilis zu lesen wäre, eben als Versuch, der Hybris, die der Versdichtung immer schon innewohnt, in der Versdichtung selbst entgegenzutreten.85 Genau diese doppelt-gegenwendige Dynamik des Verses als Werkzeug einer Verdrehung gegen sich selbst verhindert eine kathartische Freisetzung der Affekte ebenso wie deren Konversion.

7 Ausgang per Kopfstand Wenn es einen Ausweg aus der Hölle gibt, so nur in und durch die Verdrehung. In diesem Fall ist es eine trickreiche Umwendung, in der nebenbei auch noch einmal das Paradox der Konversionshysterie als größte Nähe und zugleich größte Ferne zum Teufel thematisiert wird.

84 Ebda., S. 442. 85 Vgl. zu letzterem Aspekt insbesondere Erich Auerbach: „Sacrae scripturae sermo humilis“. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern: Francke 1967, S. 21–26.

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Aus den Verdrehungen der Hölle hinauszufinden, gelingt in der Tat nur über eine weitere Umwendung, die gegenläufig und quer zu denen des contrapasso zu verlaufen hat, dabei aber dessen Dynamik ausnützt und gegen diesen ausspielt. In Inferno XXXIV wird der contrapasso buchstäblich auf den Kopf gestellt. Im Maul des riesigen Luzifer, der seinerseits fest mit den Füßen auf dem Boden steht, steckt der Kopf des Erzverräters Judas, während dessen Beine in der Luft zappeln: «Quell’anima sù c’ha maggior pena», disse il maestro, «è Giuda Scarïotto, che ’l capo ha dentro e fuor le gambe mena. […]» (Inf. XXXIV, 61–63) [«Die Seele, die dabei am meisten leidet, / Ist Judas, der Verräter», sprach mein Meister, / «Der Kopf ist drin, die Beine zappeln draußen. […]»]

Und umgekehrt stecken Brutus’ und Cassius’ Beine im Maul des Teufels und hängen ihrerseits mit den Köpfen nach unten (vgl. Inf. XXXIV, 64ff.). Nun führt gerade der artistisch anmutende Kopfstand, den Vergil und sein Schützling ausführen und in dem man eine Art mimetische Aneignung dieser Strafe erkennen mag, aus der Hölle hinaus. Hinzu kommt, dass sie diesen Kopfstand in der allerintimsten Nähe zum Teufel vollziehen müssen. Zum ersten Mal kommt damit über den Blick auf das Höllenspektakel hinaus auch die körperliche Berührung ins Spiel. Bekanntlich klettern die beiden am Leib des Teufels hinunter, indem sie sich an seinem zottigen Fell festhalten, mit Verlaub: das hat schon beinah zotigen Charakter. Ausgerechnet in dieser extremen Nähe, sich am Körper dessen, der das Böse schlechthin inkarniert, festhaltend, soll nun Distanz zum Bösen entwickelt werden: «Attienti ben, ché per cotali scale», disse ’l maestro, ansando com’ uom lasso, «conviensi dipartir da tanto male». (Inf. XXXIV, 82–84) [«Halt dich gut fest, denn über solche Stufen», / Sprach da mein Meister keuchend und ermattet, / «Muß man vom großen Übel sich entfernen».]

Hier wird deutlicher denn je, dass das Prinzip des Bösen genutzt werden kann, um woanders hin zu gelangen. Dafür muss man sich, wie Vergil es tut, kopfüber hinunterhängen, um mit dem Kopf voran zuerst zur Hüfte des Teufels zu gelangen: Quando noi fummo là dove la coscia si volge, a punto in sul grosso de l’anche,

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lo duca, con fatica e con angoscia, volse la testa ov’elli avea le zanche (Inf. XXXIV, 76–79) [Als wir dort angekommen, wo der Schenkel / Gerade in die breite Hüfte mündet, / Da wandt der Führer voller Sorg und Mühe / Den Kopf dahin, wo erst die Füße waren].

In diese körperliche Extremlage gebracht, geraten dem Danteschen Ich die Raumkoordinaten der Hölle gänzlich durcheinander. In der Tat erscheint es ihm, als müsse es nun wieder in die Hölle zurückkehren: „sì che ’n inferno i’ credea tornar [Daß ich zur Hölle umzukehren glaubte]“ (Inf. XXXIV, 81). Dies ist nun aber nur mehr eine Sinnestäuschung, die daher rührt, dass das Ich den Gravitationspunkt, der mit dem Zentrum des Bösen zusammenfällt, überschritten hat (v. 111) und jetzt auf der anderen Seite – jenseits davon – zu stehen gekommen ist. Von hier aus sieht es so aus, als nehme der Teufel dieselbe Stellung wie die Sünder ein, von denen er umgeben ist: nämlich mit dem Kopf nach unten. Die Hölle als eine verkehrte Welt erscheint abermals in sich verkehrt. Diese doppelte Verkehrung kann sowohl als Steigerung der Perversion als auch als Markierung jener Distanz, die das Ich im Durchgang durch die intimste Nähe gewonnen hat, aufgefasst werden. Die auf den Kopf gestellte, verkehrte Welt des Inferno, die Stierle als „regno della torsione“86 bezeichnet hat, ragt jedoch latent ins Purgatorio und Paradiso weit hinein. Auch darauf hat Stierle hingewiesen, speziell mit Blick auf Paradiso III, den Gesang, dessen narrative Spannung ganz auf dem Antagonismus zwischen Torsion und vertikaler Ausrichtung beruhe.87 So werden zum Beispiel gerade in Par. III, 21–33, im irritierten Hin- und Her-, Vor- und Zurückwenden des Blicks die Kräfte der Torsion gegen die vertikale Drehung voll ausgespielt.88 Natürlich benötigt das Hinaufschrauben auf den Gipfel des Läuterungsberges und der Übergang ins Paradiso die energetische Kraft der Drehung. Darin liegt aber auch stets das Risiko der Gegenbewegung begründet: Il movimento circolare non è altro che l’energia di un desiderio verticale, quello cioè dell’unione con Dio. Ma se questa è la direzione di tutte le energie emanate da Dio e mosse dal desiderio di ritornare a lui, nella Commedia esiste anche il movimento deviato ed erroneo, il movimento contro la legge divina, da Dante spesse volte indicato con il verbo torcere.89

86 Karlheinz Stierle: „‚Di collo in collo‘. La spazialità in Dante e Petrarca“. In: Johannes Bartuschat, Luciano Rossi (Hg.): Studi sul canone letterario del Trecento. Ravenna: Longo 2003, S. 99–121, S. 101. 87 Vgl. ebda. 88 Vgl. ebda. 89 Ebda., S. 100.

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Die zirkulare Bewegung ist also einerseits entscheidend für die vertikal angelegte göttliche Ordnung, doch andererseits trägt sie, eben aufgrund ihrer Zirkularität, stets schon die Tendenz zu ihrer Invertierung in sich. So wie sich das Inferno als Gesetz der Torsion in Purgatorio und Paradiso einschreibt, so könnte man das Nachwirken der Commedia in der Moderne abschließend vielleicht abermals pointieren als ein Sich-Winden und Auf-denKopf-Stellen. Die Commedia wirkt in den modernen Texten, zumal in den Lagertexten, gleichsam qualvoll und Linderung bringend zugleich nach. In diesen neuen Versionen, die aus Drehungen und Verdrehungen des alten Textes entstanden sind, scheint das Unerlöste in der Commedia auf: als etwas, über das keiner je verfügt, sondern das sich weiterschraubt und sich immer wieder neu als ungelöste Frage aufdrängt.

8 Purgatorio: Fortwährende Sprachlosigkeit Auch wenn meine Lektüre die Frage der Rezeption des Inferno in der HolocaustLiteratur verkehrt hat in die Analyse der traumatischen Strukturen innerhalb der Commedia, verblieben die bisherigen Erörterungen immer noch im Referenzbereich des intertextuell manifesten Beziehungsfeldes. Zugleich hat die Reflexion über mögliche Implikationen der Insistenz der Commedia in der Lagerliteratur längst dazu geführt, mit einem Blick, der durch die Auseinandersetzung mit der Holocaust-Literatur für die Auswirkungen des Traumas auf die Narration geschärft worden ist, die Commedia insgesamt und dadurch anders zu lesen. Ich habe in der Commedia die Insistenz eines Unbewältigten unterstrichen, und es gilt jetzt zu zeigen, inwiefern sich diese Insistenz nicht allein auf das Inferno beschränkt, was immer noch die Vorstellung implizieren würde, dass im Purgatorio und schließlich im Paradiso eine „Lösung“ dafür gefunden würde, sondern dass diese Insistenz die gesamte Commedia heimsucht, darin schlechterdings ungelöst bleibt, aber nichtsdestoweniger entscheidende Veränderungen erfährt. Anders gesagt: Das Inferno bildet zum ersten Canto einen après coup, der auch im Purgatorio und schließlich noch im Paradiso zuschlägt. Dieser Sachverhalt trägt maßgeblich dazu bei, dass der Commedia insgesamt eine Nachträglichkeit eignet, die sich nicht nur, aber insbesondere in Lagertexten des 20. Jahrhunderts manifestiert. Inwiefern auch das Purgatorio ganz im Zeichen der in Inferno I vorgestellten abgespaltenen und darum nicht sagbaren Situation steht, einer Situation, die sich nichtsdestoweniger wie von selbst an anderen Schauplätzen Ausdruck verschafft, wird nirgends so deutlich wie an seinem Ende, ausgerechnet im dort vorgestellten irdischen Paradies, als endlich die von langer Hand angekündigte und sehn-

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suchtsvoll erwartete Beatrice erscheint. Doch ihr Auftreten ist streng, ja bisweilen sogar harsch. Sie hält eine lange Gerichtsrede, in der sie gegen das Dantesche Ich harte Vorwürfe erhebt, die sie ihm gegenüber nicht direkt äußert, sondern an fromme, engelgleiche Wesen, die „sustanze pie“ (Purg. XXX, 101) genannt werden, richtet. Ob letztere einen „schermo pietoso“ darstellen, wie Chiavacci Leonardi behauptet,90 oder aber einen Adressaten verkörpern, durch den vor allem ein pointiertes Nicht-Ansprechen des Ichs zum Ausdruck kommt, das dadurch als ihrer Rede unwürdig erklärt wird, muss dahin gestellt bleiben. Jedenfalls ist das Ich über diese lange Schimpfrede tief beschämt. Es verstummt und auch als es durch Beatrice aufgefordert wird, selbst zu sprechen, endlich ein Geständnis abzulegen, bringt es nur ein verzagtes Stammeln hervor: […] poi disse: «Che pense? Rispondi a me; ché le memorie triste in te non sono ancor da l’acqua offense.» (Purg. XXXI, 10–12) [«Willst du zögern? / Antworte mir; noch ist dir nicht erloschen / Im Wasser die Erinnerung des Bösen.»] Confusione e paura insieme miste mi pinsero un tal ‚sì’ fuor de la bocca, al quale intender fuor mestier le viste. (Purg. XXXI, 13–15) [Furcht und Verwirrung miteinander trieben / Mir dann ein solches «Ja» aus meinem Munde, / Daß man das Auge braucht’, es zu vernehmen.]

Anstelle von Worten brechen aus dem Ich Tränen und Seufzer hervor, und „die Stimme erstarb [ihm] im Munde“ (Purg. XXXI, 21). Daraufhin spricht Beatrice weiter, wiederum anstelle des Ichs und wieder voller Vorwürfe. Nur einmal wird ihr Redefluss unterbrochen, und zwar durch folgende Terzine, in der das Ich zu einem Schuldbekenntnis zumindest ansetzt: Piangendo dissi: «Le presenti cose col falso lor piacer volser miei passi, tosto che ’l vostro viso si nascose.» (Purg. XXXI, 34–36) [Verweint sprach ich: «Die gegenwärtigen Dinge / Verführten mich mit ihrem falschen Glanze, / Sobald sich Euer Antlitz mir verborgen.»]

90 Anna Maria Chiavacci Leonardi: „Introduzione a Purg. XXXI“. In: Dante Alighieri: La Commedia. Purgatorio. Commento di Anna Maria Chiavacci Leonardi. Milano: Mondadori 1994, S. 906.

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Doch Beatrice kann eine derart vage Formulierung nicht als Bekenntnis akzeptieren. Sie erkennt darin abermals nur Verschweigen und Leugnung und belehrt das Ich weiter darüber, wie es sich hätte verhalten sollen. Ihr Hauptvorwurf gilt der Tatsache, dass es seine Verbindung zu ihr alsbald nach ihrem Tod aufgegeben hat: Pon giù il seme del piangere e ascolta: sì udirai come in contraria parte mover dovieti mia carne sepolta. (Purg. XXXI, 46–48) […] Ben ti dovevi, per lo primo strale de le cose fallaci, levar suso di retro a me che non era più tale. (Purg. XXXI, 55–57) [Laß ab vom Grund des Weinens jetzt und horche: / Dann hörst du, wie nach einer andern Seite / Mein toter Leib dich hätte führen sollen. […] Vielmehr hättst du schon bei dem ersten Pfeile / Der falschen Dinge dich erheben sollen / Zu mir, die nicht mehr ihnen angehörte.]

Beatrice erläutert, dass allein die Trauer als wahrhaftes Eingedenken der Toten die entscheidende ethische Maßgabe für das eigene Leben bietet. Ihr zuhörend und selbst wortlos, gelangt das Ich zu einer „riconoscenza“ – einer Schulderkenntnis –, die es jedoch wieder in Ohnmacht fallen lässt und darum die Elaboration der Trauer – insofern die Ohnmacht als ein melancholischer Reflex des Nachsterbens zu werten ist – abermals verfehlt: Tanta riconoscenza il cor mi morse, ch’io caddi vinto (Purg. XXXI, 88–89) [Soviel Erkenntnis nagte mir am Herzen, / Daß ich zu Boden fiel].

„Riconoscenza“ und Bewusstlosigkeit fallen hier in eins zusammen; „riconoscenza“ wird, wo sie sich gerade einstellt, auch schon wieder ausgesetzt. Angesichts des außerordentlichen Sprechdrangs und Ausdrucksvermögens der Höllenbewohner, deren Schuldbekenntnis freilich zu spät kommt und daher wirkungslos bleibt, sowie angesichts der Bußfertigkeit der Seelen im Purgatorio, die sich durch Bekenntnis und Reue langsam den Berg hinaufarbeiten, ist es erstaunlich, dass dem Danteschen Ich selbst der Zugang zur bekennenden Rede gänzlich versperrt bleibt. Dieser Widerspruch wird beiseite geschoben, wenn manche Forscher kurzerhand feststellen, dass das Bekenntnis des Ichs durch Beatrices Strafrede vollzogen wird.91 Auch wenn dies richtig ist, so ist doch hier

91 Ebda., S. 905.

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eine komplizierte Figur der Stellvertretung angedeutet. Die Implikationen der Tatsache, dass in einem wie auch immer gearteten Konflikt (und für gewaltsame Konflikte gilt dies ganz besonders) häufig nur eine Seite spricht, häufiger das überlebende Opfer als der überlebende Täter, sind weitreichend. Hier haben wir – wie auch schon im Traum vom brennenden Kind – die Situation vorgestellt, dass die Toten zu sprechen beginnen. In der Tat hat Beatrices Gerichtsrede aussagelogisch vieles gemein mit dem vorwurfsvollen Appell, den im Traum das tote Kind an seinen Vater richtet (vgl. Kapitel II dieser Arbeit). Umgekehrt wird in der Annahme, dass Beatrice das Aussprechen des Bekenntnisses für das Ich übernimmt, verkannt, dass auch dessen eigener dichterischer Gang durch das Bußreich in einem ersetzenden Verhältnis zu Buße, Konversion und Bekenntnis gelesen werden muss. Wie immer man diese Ersetzungen deutet, das (Nicht-)Bekenntnis, das im Wesentlichen eine Wiedererinnerung dessen beinhalten würde, was in Inferno I unausgedrückt geblieben ist, bildet jedenfalls eine entscheidende und auffällige Leerstelle in der Commedia. Genau dieser Zusammenhang macht einsichtig, dass es verkürzt wäre, das Purgatorio als Überwindung des Inferno zu lesen (und das Paradiso wiederum als Überwindung des Purgatorio). Zunächst muss hingegen festgestellt werden, dass das Purgatorio über weite Strecken wie eine Fortsetzung des Inferno geschildert wird. Dies gilt insbesondere für den Bereich des sogenannten Vorpurgatoriums, das die Canti I – IX umfasst. Doch auch darüber hinaus wirken infernalische Elemente nach, wie sich wiederum besonders deutlich an den geschilderten Körpergesten ablesen lässt. Die Leiber sind hier nicht mehr wie im Inferno verdreht, aber doch gezeichnet von gekrümmten und gebeugten Haltungen, die die hier Büßenden einzunehmen gezwungen sind. Ein gerades und aufrechtes („dritto“) Stehen und Gehen ist auch im Purgatorio nicht möglich. Dies erfährt auch das Dantesche Ich. Gleich zu Beginn, gerade der Hölle aufgrund einer absoluten Ausnahme entstiegen, stellt es sich als gespaltenes vor: gespalten zwischen seiner körperlichen Trägheit und seinen vorauseilenden Gedanken, die den Körper schon gerne viel weiter oben auf dem Berg wähnten (Purg. II, 10–12). Genau diese Spannung führt dazu, dass das Ich wie ein Betrunkener oder ein Schlafwandler durch dieses steile Gelände taumelt („a guisa di cui vino o sonno piega“, Purg. XV, 123). Wenn ihm vorübergehend eine aufrechte Körperstellung gelingt, dann bleiben hinwiederum seine Gedanken geduckt (so in Purg. XII, 7–9). In dieser Art agiert das Ich gleichsam mimetisch die verschiedenen Körperstellungen aus, derer es im Purgatorio ansichtig wird: die Gierigen werden an den Boden gedrückt, die Hochmütigen sind gebeugt und die Trägen kleben an der Erde. Mehr noch als ein brennendes Fegefeuer ist das Purgatorio das Reich einer besonderen Schwerkraft, welche die von Sündenlast beschwerten Körper machtvoll nach unten zieht. Zugleich ist es, wie im Inferno, auch hier

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strikt untersagt, zurückzuschauen. Das Gesetz des Purgatorio lautet, dass wer sich umdreht, wieder ins Vorpurgatorium zurück muss: „«Intrate; ma facciovi accorti / che di fuor torna chi ’n dietro si guata»“ (Purg. IX, 131–132). An einem Berghang heißt Zurückschauen immer auch nach unten zu schauen. Vergil muss auch hier, wie schon im Inferno, seinen Schützling wiederholt dazu ermahnen, immer schön den Kopf zu heben und nach vorn zu blicken (z. B. Purg. IX, 132; Purg. XII, 70–72; Purg. XIX, 59ff.). Denn die eigentliche Aufgabe besteht im Purgatorio für das Ich wie für all die dort sich befindenden Seelen in einem Ablösungsprozess: Wie die büßenden Schatten muss sich auch das Ich von seinen materiellen, kreatürlichen Bedürfnissen, von seinem irdischen, triebhaften Begehren verabschieden. Nur auf diese Weise kann man diesen Berg hinaufsteigen. Jedes Mal, wenn sich eine Seele von ihren triebhaften Anlagen ein Stück weit löst, wird der Purgatoriumsberg von einem Beben erschüttert (Purg. XXI, 76–79). Die Erschütterung impliziert eine vorübergehende Aussetzung der Schwerkraft, führt zu einer Entbindung mit freisetzender Wirkung. Jenseits der Glaubensdoktrin, der zufolge die Grenzziehung zwischen Inferno und Purgatorio bekanntlich eindeutig ist, ist diese sich zuweilen ereignende Erschütterung die zunächst einzige für das Ich konkret erfahrbare Unterscheidung zwischen dem Inferno und dem Purgatorio. Diese Beben sind allerdings ihrerseits schreckenerregend und nicht ohne Weiteres als Heilsbotschaft zu erkennen. In der Tat ähneln sich die Bereiche sehr: Wie das Inferno ist auch das Purgatorio vom Gesetz der Wiederholung geprägt, mit dem Unterschied, dass im Inferno die Wiederholung die anhaltende Spiegelstrafe mit sich bringt, während im Purgatorio die Spiegelstrafe Läuterung verspricht und dadurch zeitlich begrenzt ist. Wie schmal der Unterschied zwischen der Verdammung ins Inferno und der Rettung ins Purgatorio ist, wird insbesondere in der Gegenüberstellung von Inferno V und Purgatorio V deutlich. Während bei Paolo und Francesca die Reue knapp zu spät einsetzt und Francescas Bekenntnis dazu verurteilt ist, sich auf ewig zu wiederholen, ohne je zu einer Läuterung zu führen, treten nun im 5. Gesang des Purgatorio Seelen, wie zum Beispiel der Graf Buonconte di Montefeltro auf, die bekennen, dass sie bis zur letzten Stunde ihres Lebens schreckliche Sünder waren, aber kurz vor dem eigenen Tod bereut und vergeben haben (vgl. Purg. V, 52ff.). Auf diese Weise sind sie gerade noch ins Purgatorio geschlittert. Dort büßen sie für ihre Sünden und flehen das Ich an, bei seiner Rückkehr ins irdische Leben für sie Fürbitte zu leisten. Die anhaltenden Zweifel des Danteschen Ichs machen jedoch deutlich, dass die Unterscheidung zwischen der Wiederholung als einer ewigen Wiederkehr des Gleichen und der Wiederholung als Unterbrechung der ewigen Wiederkehr und Erfahrung von Differenz nicht von vornherein einsichtig ist. Sie kann immer erst nachträglich getroffen werden und steht immer noch bevor.

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Das Purgatorio ist von einem Versprechen getragen: Je höher einer, den Berg umrundend, steigt, desto gerader wird er: salendo e rigirando la montagna che drizza voi che ’l mondo fece torti. (Purg. XXIII, 125–126) [Wir stiegen und wir kreisten an dem Berge, / Der euch zurechtbiegt, was die Welt verbogen.]

Und desto leichter kommt er voran: ed esser mi parea troppo più lieve che per lo pian non mi parea davanti. (Purg. XII, 116–117) [Und ich erschien mir schon um vieles leichter, / Als ich vorher auf ebnem Pfad gewesen.]

Doch ein anderes Hindernis baut sich nun auf: Dieses geht nicht mehr von der über weite Strecken so mächtigen Schwerkraft der Erde aus, sondern vom Himmel. Je mehr das göttliche Licht zunimmt, desto stärker wird das Ich geblendet und ist gezwungen, zu Boden zu blicken (vgl. z. B. Purg. XIV, 148–150; Purg. XV, 22–24). „Zu Boden schauen“ heißt, wie in Purg. XIX, 52ff. deutlich wird, im Wesentlichen, dass das Ich von anhaltenden Zweifeln an diesem ganzen Unternehmen geplagt wird. Das auf diese Weise blendende Licht hat hier noch dieselbe bremsende Wirkung wie die Dunkelheit: Es hält auf, treibt zurück (vgl. Purg. VII, 57ff.). Mit Blindheit geschlagen, entweder durch zu großes Licht oder durch Dunkelheit, droht dem Ich immer noch das Abkommen vom rechten, weiterführenden Weg. Denn solange die Seele nicht ganz gereinigt ist, kann der richtige Weg immer noch mit dem Irrweg verwechselt werden, wie Purg. X, 1–3 nochmals in Erinnerung ruft: Poi fummo dentro al soglio della porta che ’l mal amor de l’anime disusa, perché fa parer dritta la via torta [Als wir des Tores Schwelle überschritten, / Das viel gemieden wird aus schlechter Liebe, / Die recht erscheinen läßt die falschen Wege].

Der Pilger hat weiter mit Konflikten zu kämpfen, denen er auch schon im Inferno ausgesetzt war: seine Unentschiedenheit, wohin er schauen soll, seine plagenden Zweifel, seine Sprachlosigkeit und seine immer wiederkehrende Ohnmacht. Auch im Purgatorio geht es nur über ein Vor und Zurück zugleich voran. Aber es gibt auch Unterschiede. Frappant ist, dass die Begegnungen mit den Seelen, die das

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Purgatorio durchlaufen, emotional nicht so aufgeladen sind wie noch diejenigen mit den Höllenbewohnern. Der identifikatorische Reflex hat entschieden nachgelassen. Gerade dort, wo die Seelen aufdringlich um Fürbitte betteln, fühlt sich das Ich bedrängt, belästigt und sucht nach Abstand (vgl. insbesondere Purg. VI, 9ff. und 15–16). All das zeigt, dass das Hinauf nicht ohne Zaudern, nicht ohne Rückwendungen und Rückschläge vor sich geht. Vergils Schützling scheint dies mehr zu begreifen als Vergil selbst. Letzterer repräsentiert allein das gerade VorwärtsPrinzip. Er kennt das traumwandlerische Taumeln, das das Dantesche Ich über weite Strecken auszeichnet, nicht. Gerade darum kennt er auch nicht die Vision, sondern nur das Ziel. Letzteres verliert er nie aus den Augen, auch wenn er sich im Purgatorio nicht mehr ganz so gut auskennt wie noch im Inferno. Es kann mithin festgestellt werden, dass die Bindung des Ichs an Vergil, der auf dem Weg durch das Inferno noch uneingeschränkte Vorbild-Funktion hatte, nachlässt. Im Purgatorio tritt Statius an die Seite von Vergil, und schließlich übergibt Vergil an Beatrice die Führung, um selbst zurückzubleiben. Auch auf dieser Ebene findet also ein Ablösungsprozess statt. Ascoli spricht von „Dante’s definitive sorpasso of his maestro e autore“ im Purgatorio.92 Wiederum die Parallelitäten zwischen Inferno und Purgatorio betonend, muss darüber hinaus festgehalten werden, dass das Ich an entscheidenden Schwellen – dem Übergang vom Vorpurgatorium ins eigentliche Purgatorium in Purgatorio IX, dem Gang durch das reinigende Feuer in Purgatorio XXVII, das Eintauchen in den Lethe-Fluss in Purgatorio XXXI – abermals ohne Bewusstsein, nämlich entweder im Schlaf- oder im Ohnmachtszustand ist, oder – wie im Falle der Feuerprobe in Purgatorio XXVII – aufgrund übergroßer Angst von starker Einbildung übermannt wird. Gerade diese Momente implizieren stets die Gefahr eines „Rückfalls“. Doch kommen nun zunehmend weibliche Figuren als helfende und beistehende Kräfte ins Spiel, um dem entgegenzuwirken. Besonders markant ist dies in Purgatorio IX. Hier fällt das Ich am Ende des ersten Tages in tiefen Schlaf. Am frühen Morgen träumt es, wie es von einem Adler hinauf in die Sphäre des Feuers getragen wird: Ivi parea che ella e io ardesse; E sì lo ’ncendio imaginato cosse, che convenne che ’l sonno si rompesse. (Purg. IX, 31–33) [Dort glaubte ich mit ihm zugleich zu brennen, / Und so sehr brannte das geträumte Feuer, / Daß es mir meinen Schlaf zerreißen mußte.]

92 Albert Ascoli: Dante and the Making of a Modern Author, S. 302.

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Wenngleich der Adler im figuralen Sinne auf Lucia, die erleuchtete Gnade bzw. im anagogischen Sinne auf Christus verweist und dieser Traum damit prophetisch auf Par. I, 76ff. voraus weist,93 wo der Pilgerer die Feuerzone zwischen der irdischen Luft und der Mondsphäre zu durchqueren hat, so handelt es sich hier doch auch, wie Jacques Le Goff treffend bemerkt hat, um einen Alptraum, der das träumende Subjekt glauben macht, geradewegs wieder in die Hölle zurückgekehrt zu sein.94 Die allegorische Deutung kommt nicht um die Begegnung mit einem gespaltenen Sinn herum. Erlösung und Verdammung bilden hier eine Kippfigur der Unentschiedenheit, die, wie wir vor allem in unserer Auseinandersetzung mit Primo Levis Lagertraum gesehen und gezeigt haben, für Träume insgesamt typisch ist. Es ist bemerkenswert, und ich werde später darauf genauer eingehen, dass diese Kippfigur nicht am Ende steht, wie in La tregua von Levi, sondern an einem anderen, dritten Ort, in der Mitte, dem Purgatorio, das ja, wie Levis Schilderung der Rückreise von Auschwitz nach Turin als „tregua“, ebenfalls eine Art Parenthese darstellt (vgl. dazu Kapitel III dieser Arbeit). Doch im Unterschied zum Ich bei Levi, das im Schrecken der Unentschiedenheit des Traumbildes zwischen Heimat und Lager gefangen bleibt, erwacht das Dantesche Ich durch den Schrecken aus seinem Traum und erfährt nachträglich von Vergil, dass es, während es geträumt hat, von Lucia zur Pforte ins eigentliche Purgatorio getragen worden ist. Das Ich wird hier also durch den Alptraum nicht nur zurückgeworfen; es wird durch ihn zugleich auch ein Stück weiter den Berg nach oben getragen.

9 Angesichts der Gefahr zu verbrennen: weibliche Inklinationen Lucia, die dem Ich hier zu Hilfe eilt, wird schon in Inferno II als dessen entscheidende Fürsprecherin bei Beatrice genannt. Allegorisch steht sie für die Gnade, buchstäblich ist sie Licht. Sie hilft dem Pilgerer nicht nur über dessen Trägheit hinweg, indem sie ihn ein Stück weiter den Berg hinaufträgt, sondern sie scheint ihn auch aus den unheimlichen Traumbildern, in die er sich verfangen hat, herauszugeleiten. Allegorisch gelesen gelingt es gerade der Märtyrerin Lucia,

93 Vgl. Dino S. Cervigni: „The Pilgrim’s Dream in Purgatorio IX: Its Meaning and Function“. In: L’Alighieri, XIX (1978), S. 3–17 sowie ders.: Dante’s Poetry of Dreams. Firenze: Olschki 1986, S. 102ff. Beide Beiträge laufen auf eine Allegorese des Traums hinaus, auf die es mir gerade nicht ankommt. 94 Jacques Le Goff: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter. München: dtv 21991, S. 421.

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die ihre Jungfräulichkeit standhaft gegen jeden Versuch der Schändung zu verteidigen wusste, das nächtliche Abgleiten des Ichs in die Sphären brennender, möglicherweise verbotener Wünsche abzuwenden (die Schlange lauert ja die ganze Zeit am Rande des Lagerplatzes (Purg. XIII, 94ff.)). Als buchstäbliche Inkarnation des Lichts, das sie umso mehr geworden ist, als ihr Martyrium in ihren ausgestochenen, vom Körper abgetrennten Augen besteht, vertreibt sie die dunklen Mächte und eröffnet zugleich einen anderen Bezug zum blendenden Licht, das dem Danteschen Ich, je höher es steigt, desto mehr zusetzen wird, wie auch zum Feuer, dem sie, zwar blind, aber selbst Licht seiend, zu begegnen weiß. Die Frage, wie man mit dem brennenden Feuer umgehen soll, bleibt eine entscheidende. In Purgatorio XXVII wird das Ich von einem Engel aufgefordert, durch das Feuer zu gehen, um ins irdische Paradies zu gelangen, wo ihm versprochen ist, Beatrice wiederzusehen. Die Worte des Engels erschrecken zu Tode: per ch’io divenni tal, quando lo ’ntesi, qual è colui che ne la fossa è messo. (Purg. XXVII, 14–15) [Weshalb ich, als ich seine Worte hörte, / Wie einer ward, den man zu Grabe leget.]

Denn: guardando il foco e imaginando forte umani corpi già veduti accesi. (Purg. XXVII, 17–18) [Zum Feuer blickend, und erfüllt mit Bildern / Von Leibern, die ich einst gesehn im Brennen.]

Wieder kehrt der Eindruck des Inferno machtvoll zurück. Erst als Beatrice erwähnt wird, löst sich die Angststarre. Das Ich findet nun den Mut, in dieses Feuer, das „maßlos brennt“, einzutreten (Purg. XVII, 51). Der Durchgang durch das Feuer – eine Geste, die nun rückblickend einschlägig zu werden verspricht für einen nochmals anderen, unmöglichen und zugleich notwendigen Umgang mit dem Allbrand – führt zugleich zum Abschied von Vergil. Was nach dem Durchgang durch das Feuer kommt, kann aus der Warte der durch ihn verkörperten Vernunft nicht mehr geschaut werden. Der Durchgang durch das Feuer erscheint als Feuerprobe für all das, was Alighieris Dichtung von seinem großen Vorbild unterscheidet. Rückblickend auf unsere Überlegungen, die wir an Freuds Traum vom brennenden Kind angestellt haben, stellt sich nun die Frage, inwiefern uns die Commedia weitere poeto-methodologische Hinweise für den Umgang mit dem Brennenden zu geben vermag. Hier lassen sich nun zumindest zwei Überlegungen anbringen, die meine Ausführungen zum Traum vom brennenden Kind noch einmal weitertreiben:

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Erstens stellt sich die Frage, ob es auch diesseits von Alighieris heilsgeschichtlicher Konstruktion in der modernen Gegenwart Möglichkeiten gibt, dem ewigen Feuer des Allbrands ein zeitliches Feuer anbei zu stellen. Das heißt nicht, das ewige Feuer des Allbrands durch ein zeitliches zu ersetzen, um zu suggerieren, dass es ein zeitliches Ende der Durcharbeitung gäbe. Die Frage wäre vielmehr, ob wir uns nicht – und dies vermutlich ohne je zum Abschluss zu kommen – an Teilbränden, die qualvoll aber nicht vernichtend sind, abarbeiten müssen in Hinblick auf das ewige Feuer des Allbrands, das undurchdringlich bleibt, weil es ein vernichtendes ist? Anders gefragt: Inwiefern sind wir aufgerufen, die eigene Arbeit am Komplex des Holocausts in solchen Termini zu denken, und was würde daraus folgen? Ein erster Gewinn läge vermutlich darin begründet, die brennende Dringlichkeit einer solchen, unweigerlich qual- und schmerzvollen Aufgabe immer wieder neu ins Bewusstsein zu rufen. Die zweite Überlegung betrifft die Frau, nicht zuletzt in ihrer mütterlichen Rolle. Kann sie zum brennenden Anderen, ob dies das anonyme Kind in Freuds Traum oder das Dantesche Ich ist, ein anderes Verhältnis entwickeln als die Figur des Vaters? Es ist – stellt man den Traum aus Purgatorio IX neben Freuds Traum – zumindest bezeichnend, dass in letzterem keine weiblichen Figuren, abgesehen von der den Traum nachträumenden Patientin, vorkommen, während sich in der Commedia immer wieder in den brenzligen Situationen, in die das Ich gerät, gerade noch rechtzeitig Helferinnen einfinden. Besonders markant wird dies im Zusammenhang mit der Gefahr, die vom Feuer ausgeht. Lucia wacht hier nicht sehend über das Ich; es geht gerade nicht um ein sehendes bzw. nicht sehendes Verhältnis, das in dem Verhältnis des Vaters zu seinem Kind im Traum vom brennenden Kind dominiert. Lucia, die Märtyrerin ist, weil ihr aufgrund ihrer standhaften Verteidigung des Glaubens die Augen gewaltsam entrissen wurden, hat ein anderes als sehendes bzw. nicht sehendes Verhältnis zum Anderen. Ihre Standhaftigkeit lässt sich außerdem auch nicht auf die von Vergil propagierte aufrechte, „römische“ Körperhaltung zurückführen. Im Gegenteil: Ihre aufrechte Haltung besteht darin, dass sie sich niederbeugt, dass sie das Ich wie ein schlafendes Kind auf den Arm nimmt – „pigliare“ (Purg. IX, 56) ist das Verb, das „tragen“ und „fassen“ zugleich meint und in jedem Fall einen festen Zugriff impliziert –, es ein Stück weiterträgt und dann vor der Eingangspforte zum eigentlichen Purgatorium niederlegt („posò“, Purg. IX, 61). Es ist eine der seltenen in der Commedia erzählten Stellen, in der dem Ich durch eine körperliche Berührung Hilfe zukommt. Lucias Geste ist eine mütterliche: Sie beugt sich nieder, sie berührt den bedürftigen Anderen. Das erinnert uns wiederum an das Kind, das im Traum seinen Vater am Arm fasst und ihm auf diese Weise auch etwas auf den Weg gibt, das ihn weitertragen kann, gerade da, wo es ihn so unerbittlich auf sein Versagen aufmerksam macht.

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Es handelt sich in beiden Fällen um Beugungen, die weder mit den Torsionen und Krümmungen der Verdammten und Büßenden koinzidieren, noch in Vergils Geradheit aufgehen, noch mit der horizontalen Lage der Schlafenden und Toten zu tun haben. Es sind Beugungen der Zuneigung. Durch sie wird ein Raum ethischer Haltungen eröffnet, der quer zu den bislang bestimmenden vertikalen Parametern von „oben“ und „unten“ steht, ebenso wie er quer steht zu einer orthopädisch ausgerichteten moralischen Vorstellung vom Menschen als einem „krummen Holz“, das wieder gerade gebogen werden muss95 (eine Vorstellung, die in der Opposition von „dritto“/ „diritto“ versus „storto“ / „torto“ weite Teile der Commedia beherrscht). Mit den Frauenfiguren, die gegen Ende des Purgatorio vermehrt auftauchen, wird bezüglich dieser Opposition eine andere Dynamik eröffnet – jenseits der vertikalen Aufrichtigkeit und diesseits der Neigung im Sinne einer Verbiegung, einer Torsion, die in der christlich-abendländischen Tradition meist als eine Hinwendung zum Schlechten verstanden worden ist.96 Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich dann auch narratologisch die allegorische Bedeutung von Lucia als Gnade. Eine ethische Haltung kommt hier ins Spiel, die keine der männlichen Figuren der Commedia, nicht einmal der hilfreiche Vergil, kennt. Denn auch seine Hilfe bleibt in einer unflexiblen Aufrichtigkeit gefangen. Vergil kennt nicht das Aus-Sich-Selbst-Heraustreten, die Ekstase. Gerade deshalb muss ihm auch der Bereich des Paradiso, wo dieses Heraus-Treten im Zeichen der Liebe immer wichtiger wird, versperrt bleiben. Von dieser Warte noch einmal auf den Traum vom brennenden Kind zurückblickend, gewinnt nun auch Freuds Patientin, die diesen Traum nachgeträumt und Freud davon berichtet hat, an Kontur. In der Übertragung dieses Traums auf sie fügt sich in ihn das mütterliche Element ein, so als ob hier nachträglich, an der Leerstelle der Mutter, eine andere, nämlich sich auch körperlich zuwendende, berührende Geste bezüglich des Kindes träumend gesucht würde, die der Traum durch die Haltung des Kindes auch schon vorstellt. Im irdischen Paradies, das das Ich erreicht, nachdem es die Feuerprobe bestanden hat, begegnet es neben Beatrice auch noch einer anderen Frauenfigur. Es ist Matelda, eine der enigmatischsten Figuren der Commedia, wie die DanteForschung allgemein befindet. In ihr erfährt das mütterliche Element eine weitere Steigerung. Insofern sie als eine der wenigen singulär heraustretenden Figuren in der Commedia nie mit ihrem Namen angesprochen wird – dieser wird erst spät und eher beiläufig von Beatrice erwähnt (Purg. XXXIII, 119) – tritt der in ihn

95 Vgl. dazu insbesondere auch Adriana Cavarero: Inclinazioni. Critica della rettitudine. Milano: Raffaello Cortina 2013, S. 88. 96 Ebda., S. 25f.

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buchstäblich eingeschriebene Signifikant „mater“ besonders hervor.97 Matelda belebt die Landschaft des irdischen Paradieses, „lächelnd, mit gesenktem Blick, singend, blumenpflückend, mit tanzenden Schritten“,98 dann aber auch hoch aufgerichtet („dritta“, Purg. XXVIII, 67). Angesichts von Beatrices strenger Gerichtsrede vor Scham ohnmächtig, trägt Matelda das bewusstlose Ich über die nächste Schwelle, indem sie es – gleichsam einen Taufakt nachvollziehend – durch den Lethefluss zieht. Wie zuvor Lucia fasst auch sie das Ich an bzw. fordert es, nachdem es erwacht, auf, sich an ihr festzuhalten, um nicht unterzugehen: «Tiemmi, tiemmi!» Tratto m’avea nel fiume infin la gola, e tirandosi me dietro sen giva sovresso l’acqua lieve come scola. (Purg. XXXI, 93–96) [«An mir mußt du dich halten.» / Sie stieß mich in das Wasser bis zum Halse / Und zog mich hinterher, indem sie flüchtig / Wie eine Spindel auf dem Wasser schwebte.]

Bis zum Hals im Wasser steckend kommt das Ich wieder zu sich und darf die Gnade erfahren, dass ihm auch ohne eigenes Schuldbekenntnis die Absolution erteilt wird. Das reinigende Bad des Vergessens, das ihm Matelda beschert, steht dafür ein, dass anstelle einer eigenen Buße nun die göttliche Vergebung tritt.99 Nach diesem Bad darf das Ich zum ersten Mal Beatrices enthülltes Gesicht erblicken. In Purgatorio XXXII fällt es dann, von den Eindrücken überwältigt, in Schlaf, und wieder steht Matelda, die Barmherzige („quella pia“ (Purg. XXXII, 82)), als es erwacht, bei ihm, ja in diesem Falle „über“ ihm („sovra me starsi“ (Purg. XXXII, 83)). Und zuletzt führt sie das Dantesche Ich an den zweiten Fluss, Enoe, dessen

97 Es ist bezeichnend, dass die Dante-Forschung, insofern sie für ihre Deutung von Matelda entweder die Lehre des vierfachen Schriftsinns oder aber den für die mittelalterliche Namensgebung typisch prismatischen Charakter des Eigennamens (in dem alle möglichen historischen Frauenfiguren zusammenfließen) geltend macht, gerade das buchstäbliche Anklingen von „mater“ in Matelda nicht zu benennen weiß. Sie streitet darum, wer oder was Matelda ist („Matelda ist eine Vorläuferin Beatrices“, „Matelda ist eine rein allegorische Gestalt“, „Matelda ist sinnbildliche Darstellung des aktiven und des kontemplativen Lebens in eins“ (so Anna-Maria Schurr-Lorusso: Das Bild der Frau im dichterischen Werk von Dante. Neuried: ars una 2007, S. 251; vgl. auch Hermann Gmelin in: Dante Alighieri: Die göttliche Komödie, Band V (Kommentar), S. 440ff. sowie Fiorenzo Forti: „Matelda“. In: Enciclopedia Dantesca, Band III, S. 854–860. Ob dieser Spekulationen wird schlechterdings vergessen, den Namen als signifikantes Zeichen zu lesen. 98 So fasst Hermann Gmelin die Erscheinung Mateldas in Purg. XXVIII zusammen, vgl. ebda., S. 435. 99 Anna Maria Chiavacci Leonardi schreibt diesbezüglich: „L’uomo che dimentica significa in realtà che Dio ha dimenticato“ (vgl. dies.: „Introduzione a Purg. XXXI“, S. 907).

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Wasser das Gedächtnis nicht nur löscht, sondern nun umpolt in Hinblick auf den ausschließlichen Erhalt der guten Erinnerungen. Dieser zweite Trank wird, das Purgatorio abschließend, als eine Wiedergeburt vorgestellt, in der dem zweifachen „ri“ eine dreifache Bestätigung des Neuen antwortet: „rifatto sì come piante novelle / rinovellate di novella fronda [War neugeboren wie die neuen Pflanzen, / Wenn sie ihr grünes Laub erneuert haben]“ (Purg. XXXIII, 143–144). Was mit diesem – zugegebenermaßen sprunghaften – Gang durch das Purgatorio gezeigt werden sollte, ist also einerseits die Fortsetzung des infernalischen Gesetzes, andererseits die Differenz dazu, die in allererster Linie durch das Hinzutreten weiblicher Figuren zum Ausdruck kommt. Letztere führen in ihrer Hingabe und Hinwendung eine andere ethische Geste ein.

10 Paradiso: Reich des Paradoxes Wer sich das Paradiso als „ein Bild weiß in weiß“,100 als „cloyingly serene“,101 als einen Ort harmonischer Koinzidenzen vorstellt, wird durch die genaue Lektüre der dritten Cantica eines Besseren belehrt. Über weite Strecken erweist sich dieser Teil des poema als derjenige, der zwar einerseits die Torsionen des Inferno und die Krümmungen des Purgatorio in kosmische Choreographien umzuschreiben weiß, aber andererseits nichtsdestoweniger von gespanntesten Gegensätzen durchzogen ist, die immer wieder in paradoxen Konstellationen kulminieren. Dies betrifft zunächst den Topos der Unsagbarkeit, der gleich im ersten Gesang des Paradiso prominent ausgestellt wird und dessen Echo wir in der HolocaustLiteratur noch wahrnehmen können, wenn dort um sprachlichen Ausdruck für das Erlittene gerungen wird. Hier artikuliert er die Unmöglichkeit des Gedichts, das im Paradiso Geschaute auszudrücken. Er betrifft nicht das im Inferno Erfahrene. Zwar haben wir es auch dort mit Ausdrucksschwierigkeiten zu tun, vor allem von Seiten der Höllenbewohner, wie Auerbach schreibt: Aus Qual und Mühe entringen sich den schrecklich verwandelten oder bedrückten Körpern, die in ewiger Bewegung oder schmerzvoller Ruhe kaum Kraft und Muße für solche Manifestationen finden, die Worte oder Gesten, die sie zu äußern ebenso wohl wünschen wie

100 Karlheinz Stierle: Das große Meer des Sinns. Hermenautische Erkundungen in Dantes Commedia. München: Hanser 2007, S. 279. 101 Teodolinda Barolini: The Undivine Comedy, S. 166. Sie weist daraufhin, dass die exegetische Tradition eine theologisierende Lektüre der dritten Cantica bevorzugt hat, die maßgeblich zu einer harmonisierenden Darstellung des Paradiso beigetragen hat, von der sich ihre Arbeit in erfrischender Weise unterscheidet.

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gezwungen sind, und eben aus der Qual und Mühe gewinnen die Worte und Gesten ihre drängende Gewalt.102

Zugleich aber gilt, dass die verdrehten und zuweilen verstümmelten Körper in einer letztlich unzerstörten Sprache sprechen. Stierle geht sogar so weit, in Hinblick auf das Inferno zu statuieren, dass in der Sprache „der unzerstörbare Kern des Ich“ gerettet sei.103 Im Paradiso verhält es sich damit anders: Die Paradies-Bewohner sprechen ohne Schwierigkeiten, während das Ich von einem dringenden Sprechen-Wollen und gleichzeitigen Nicht-Sprechen-Können gequält wird. Es fällt zwar nun nicht mehr in Schlaf oder Ohnmacht, aber es ist beständig mit der Begrenztheit seiner Wahrnehmungskraft sowie seiner Ausdrucksmöglichkeiten konfrontiert. Beatrices grenzenlose Schönheit ist so blendend, dass sie für sein menschliches Auge unerträglich ist. So muss das Ich auch im Paradiso wiederholt seinen Blick abwenden, nach unten senken oder die Augen schließen. Am Ende des 25. Gesangs wird es gar mit Blindheit geschlagen, was Beatrice mit folgenden Worten kommentiert: „[…] fa ragion che sia / la vista in te smarrita e non defunta [[…] denke dir, daß deine Augen / Nur in Verwirrung sind, nicht abgestorben]“ (Par. XXVI, 8–9). Sofern in „vista smarrita“ noch einmal die „via smarrita“ aus Inf. I, 3 nachklingt, bleibt ihre Ermutigung durchaus ambivalent, tröstlich und bedrohlich zugleich. Indem man den Gemeinplatz der Lager als Inferno noch einmal bemüht und zugleich die Poetologie der Commedia bewusst ausblendet, könnte man überspitzt sagen, dass das Paradiso für das Ich durchaus „infernalische“ Züge annimmt. Und zugleich könnte man umgekehrt und ebenso überspitzt sagen, indem man die Poetologie der Commedia heraushebt und den Gemeinplatz des Infernalischen hingegen durchstreicht, dass das Inferno, zumindest im Vergleich zur Repräsentationsproblematik der nationalsozialistischen Lager, eine Art „Paradies“ der Darstellung ist.104 Denn das Inferno ist konkret und kreatürlich anschaulich, die Selbstdarstellungen der Höllenbewohner sind fesselnd und stoßen auf keinerlei Ausdrucksgrenzen von Seiten des erzählenden Ichs, zumindest nicht auf solche, die einer Thematisierung wert wären. Das Inferno ist räumlich fassbar und seine Ewigkeit besteht darin, dass seine Qualen andauernd sind. Dagegen ist

102 Erich Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt, S. 174. 103 Karlheinz Stierle: „Selbsterhaltung und Verdammnis. Individualität in Dantes Divina Commedia“, S. 280. 104 Auch Teodolinda Barolini weist daraufhin, dass nicht so sehr das Inferno, sondern das Paradiso das größte Risiko für das erzählende Ich darstellt: „Much more dangerous, from the point of view of the writing writer, is the Paradiso“ (dies.: The Undivine Comedy, S. 166).

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das Paradiso aufgespannt in eine zwar hierarchisch gestaffelte Ordnung unterschiedlicher Himmel, es wird aber zugleich als eine ewige Gegenwart ohne Unterschiede aufgefasst, die sich der Diegese, die unvermeidlich linear verläuft, tendenziell entzieht. Diese Entzugsdynamik, die nicht zuletzt den Wegfall jeglicher zeitlicher und räumlicher Parameter impliziert, findet ihren Höhepunkt im Empyreum, dem höchsten Himmel, dem die letzten vier Canti des Paradiso gewidmet sind. Cornelia Klettke spricht in ihrer Analyse von Paradiso XXX treffend von einem Utopos: L’Empireo rappresenta un Utopos che si sottrae ad una collocazione topografica in base alle leggi della fisica e della matematica. Di conseguenza, nel testo non è riconoscibile alcuna indicazione di luogo riferita ad un ‚ingresso‘ in questa sfera né tanto meno il momento preciso dello stesso.105

Der Hiat zwischen den grausamsten Qualen im Inferno, die kognitiv und narrativ bewältigt werden, und den himmlischen Sphären des Paradiso, deren räumliche und zeitliche Implikationen hingegen narrativ unbewältigt, dem verstehenden Zugang versperrt bleiben, ein Hiat, der die Commedia wesentlich auszeichnet, zeigt abermals, dass die Rede der nationalsozialistischen Lager als einem Inferno verkürzt und entstellend ist, zugleich aber auch, dass in der Commedia ingesamt eine Problematik ausgefaltet wird, die durchaus für die literarischen Darstellungsprobleme der Lagerrealität von Belang ist. In gewisser Weise haben wir im traumatisierten Raum des Lagers eine Art Zusammenfall von Inferno und Paradiso vorliegen, bzw. ein ins Negative gewendetes Paradiso, das als solches aber nicht dem Inferno entspricht, sondern vielmehr die beunruhigende Nähe zwischen traumatischen Raum- und Zeitverhältnissen einerseits und andererseits Ewigkeitsvorstellungen im Sinne einer andauernden Gegenwart ohne Veränderung bzw. totaler Simultaneität ausstellt.106

105 Cornelia Klettke: „Mistica del Paradiso al limite del non rappresentabile. Par. XXX: wordpainting dantesco e disegno botticelliano – Analisi di un intercambio mediale“. In: Quaderns d’Italià, Nr. 17 (2012), S. 113–147, hier: S. 121. 106 Dante Alighieris Paradiso-Konzept liegen maßgeblich die Vorstellungen der beiden spätantiken Autoren Augustinus und Boethius zugrunde. Vgl. Aurelius Augustinus: Confessiones/ Bekenntnisse, Liber undecimus, 11, 13, S. 582f.: „non autem praeterire quicquam in aeterno, sed totum esse praesens; nullum vero tempus totum esse praesens“ [Im Ewigen aber geht nichts vorher, dort ist das Ganze gegenwärtig, während keine Zeit ganz gegenwärtig ist]; Anicius Manlius Severinus Boethius: Trost der Philosophie. Hg. von Kurt Flasch. München: dtv / C. H. Beck 52013, S. 142: „Was jedoch die ganze Fülle des unbegrenzbaren Lebens gleichzeitig umgreift und besitzt, dem weder etwas am Zukünftigen abgeht noch vom Vergangenen verflossen ist, das wird mit Recht als ewig aufgefaßt, und das muß notwendigerweise, seiner selbst mächtig, immer als ein

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Das Paradiso löst den Konflikt der Unsagbarkeit dieser Verhältnisse nicht, es erliegt ihm aber auch nicht, sondern übersetzt ihn in eine Kaskade von Paradoxen. Die körperlichen Torsionen des Inferno und mit Einschränkungen noch des Purgatorio werden damit in ein geistig-rhetorisches Prinzip der Verdrehung übergeführt, wie es für die religiöse Literatur insgesamt nicht untypisch ist.107 Denn rhetorisch betrachtet eignet sich das Paradox ganz besonders für die Artikulation von Glaubenswahrheiten, die dem Verstand unzugänglich bleiben müssen. Auch dafür ist der Vers als Prinzip der Verdrehung das geeignete Medium. In der Tat ist das Paradox einem mystischen Sprechen nicht fremd; es steht aus der Perspektive einer theologisch orientierten Lektüre unter dem Dach des höchsten Paradoxes – der Inkarnation.108 Doch noch ehe alle Paradoxe im Mysterium Christi aufgelöst werden, wodurch am Ende in der Commedia die Sprache in ein schieres Lallen übergeht,109 soll es hier darum gehen, einige von ihnen herauszugreifen und unter narratologischen Gesichtspunkten zu würdigen. Jedenfalls ist unweigerlich anzuerkennen, dass sich das Paradiso vom Inferno und vom Purgatorio, die beide auf dem Prinzip des contrapasso beruhen (das Bußgesetz ist ja im Grunde nur eine abgeschwächte und zeitlich begrenzte Form desselben), gerade durch das Paradox als einer nochmals anders gewendeten Form der Verdrehung absetzt. Während der contrapasso auf dem Prinzip des Gleichen beruht, steht das Paradox – und dies im Paradiso, wo gerade dies nicht zu erwarten wäre – für den Widerspruch und damit für die Differenz ein.110

Gegenwärtiges in sich verweilen und die Unendlichkeit der bewegten Zeit als eine Gegenwart vor sich haben.“ 107 Vgl. Alois Haas: Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, insbesondere S. 127–171. 108 In diese Richtung weisen die Überlegungen von John Freccero: Poetica della conversione, S. 286. Zum „mystical turn“ im Paradiso (so William Franke: Dante and the Sense of Transgression. ‚The Trespass of the Sign‘. London, New Delhi, New York: Bloomsbury 2013, S. 20) siehe des Weiteren Giuliana Carugati: Dalla menzogna al silenzio: La scrittura mistica della Commedia di Dante. Bologna: Il Mulino 1991, Manuela Colombo: Dai mistici a Dante: Il linguaggio dell’ineffabilità. Firenze: La Nuova Italia 1987 sowie Marco Ariani: Lux inaccessbilis: Metafore e teologia della luce nel Paradiso di Dante. Roma: Aracne 2010. 109 Siehe Par. XXXIII, 106–108: „Omai sarà più corta mia favella, / pur a quel ch’io ricordo, che d’un fante / che bagni ancor la lingua a la mammella [Nunmehr wird meine Sprache noch viel ärmer / Für das auch, was ich weiß, als die des Kindes, / Das noch am Mutterbusen letzt die Zunge]“. 110 Teodolinda Barolini hat darauf aufmerksam gemacht, dass die sprachlichen Markierungen von Differenz wie „differente“, „differentemente“, „differenza“, „differire“, „diversamente“, „distinzione“ fast ausschließlich in der dritten Cantica auftauchen (vgl. dies.: The Undivine Comedy, S. 174).

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Dass die Logik des contrapasso hier nicht greift (auch nicht positiv gewendet als Prinzip der Belohnung für ein tugendhaftes Leben), darauf verweisen nicht zuletzt zahlreiche Ausnahmefälle im Paradiso, die dem ökonomisch-logischen Denken einen entscheidenden Schlag versetzen. Man denke zum Beispiel an die Paradiesstrafe für die Ordensschwester Piccarda, die das Dantesche Ich zur folgenden Aussage über das Paradiso bewegt: Chiaro mi fu allor come ogne dove in cielo è paradiso, etsi la grazia del sommo ben d’un modo non vi piove. (Par. III, 88–90) [Da ward mir klar, daß droben allerorten / Im Himmel Paradies, und doch die Gnade / Des höchsten Gutes dort verschieden regnet.]

Durch die Verwendung der lateinischen adversativen Konjunktion „etsi“ (deutsch: „wenn auch“, „obschon“) wird der dieser Einsicht immanente und ungelöste Widerspruch in besonderer Weise hervorgehoben. Während Piccarda zu weit nach „unten“ versetzt erscheint, ist die Liebessünderin Cunizza zu weit nach „oben“ in den Venushimmel platziert worden (siehe Par. IX). Sie hätte durchaus auch, wie Köhler schreibt, im zweiten Kreis der Hölle landen können.111 Dasselbe gilt für die Prostituierte Raab, die auch hier oben ihren Platz hat (siehe ebenfalls Par. IX). Chiavacci Leonardi spricht von „una delle grandi pagine anticonformiste proprie di Dante“.112 Im 20. Gesang des Paradiso begegnet das Ich schließlich einigen ungetauften Heiden, die anstatt im Limbus im Jupiterhimmel gelandet sind: Chi crederebbe giù nel mondo errante, che Rifèo Troiano in questo tondo fosse la quinta de le luci sante? (Par. XX, 67–69) [Wer glaubte drunten im verirrten Leben, / Daß der Trojaner Ripheus hier im Kreise / Das fünfte – von den heiligen Lichtern wäre?]

Das alles ist gemäß den Maßstäben, die uns zur Verfügung stehen, völlig unverständlich. Was nach himmlischen Maßgaben keinen Widerspruch darstellt, bleibt es den irdischen zufolge, welche durch die vielen Fragen des Ichs stets mittransportiert werden. Sie treiben in diese Welt der vollkommenen Präsenz die „Höh111 Vgl. Erich Köhler in: Dante Alighieri: La Commedia. Die Göttliche Komödie III, Paradiso/ Paradies, S. 194. 112 Anna Maria Chiavacci Leonardi: „Introduzione al Canto IX“. In: Dante Alighieri: Commedia, Paradiso, S. 239.

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lung des Zweifels“.113 Dieser Kontrast überträgt sich nicht zuletzt auf die narratologischen Gesetze des Poems. Denn will die Dichtung beiden – den himmlischen und den irdischen – Kräften gerecht werden, kann sie sich nicht mit der Darstellung des harmonischen Tanzes der Himmelskörper und Lichtgestalten begnügen, sondern sie muss das Risiko auf sich nehmen, verstörende Momente in das Paradiso einzubauen: Dies einerseits, um der irdischen Perspektive, die durch das Eindringen des Danteschen Ichs in diese Sphären gegeben ist, weiterhin Gewicht zu verleihen; und andererseits, um etwas von der göttlichen Wahrheit als einer, die sich dem menschlichen Fassungsvermögen entzieht, überhaupt erahnen zu lassen. Einer der verstörendsten und zugleich faszinierendsten Momente im Paradiso ist aus narratologischer Sicht zweifelsohne der berühmte 17. Gesang, wo dem Ich von seinem Urahn, der väterlichen Figur Cacciaguida, die Zukunft prophezeit wird. Es ist eine Zukunft der Verbannung und des Exils. Nach Beatrices Gerichtsrede im Purgatorio wird nun durch Cacciaguida eine zweite Erklärung nachgeliefert, wie und warum das Ich in die in Inferno I vorgestellte anfängliche Situation totaler Orientierungslosigkeit überhaupt geraten konnte. Neben den affektiven Verirrungen sind es politische Gründe.114 Es ist bemerkenswert, dass es in beiden Fällen jeweils eine andere Figur ist, die das Sprechen über diese schmerzlichen Erfahrungen auf sich nimmt, das Ich hingegen jedes Mal in die zuhörende Position gestellt wird. Während Beatrices Gerichtsrede im Modus der Vergangenheit davon gesprochen hat, wie das Ich vom rechten Weg abgekommen ist, stellt Cacciaguida dessen Exil als ein noch bevorstehendes dar. Auch wenn dieses bittere Schicksal als Teil des göttlichen Heilsplans (dem „cospetto etterno“ (Par. XVII, 39)) vorgestellt wird, der für den menschlichen Verstand und sogar noch für die paradiesische Lichtgestalt Cacciaguida uneinsichtig bleibt (obwohl letzterer darin lesen kann), so durchbricht genau diese Prophezeiung den zunächst schrittweise und nun im Flugmodus fortschreitenden Parcours, der von der in Inferno I vorgestellten Situation heraus „nach Hause“ führen soll.115 Doch wie wir schon 113 Karlheinz Stierle: Das große Meer des Sinns, S. 158. 114 Die Forschung sieht in Beatrices Rede über das Leben des Ichs in der Regel die Darstellung der privaten und innerlichen Seite seines Lebens, in Cacciaguidas Prophezeiung hingegen die Darstellung seines öffentlichen Lebens (vgl. Anna Maria Chiavacci Leonardi: „Paradiso XVII“. In: Filologia e critica Dantesca. Studi offerti a Aldo Vallone. Firenze: Olschki 1989, S. 309–327, hier: S. 311). 115 Dass der Weg als Heimweg konzipiert ist, wird explizit in Inferno XV erklärt, wo das Dantesche Ich seinem Lehrer Brunetto Latini darlegt: „«Là sù di sopra, in la vita serena / […] mi smarri’ in una valle, / avanti che l’età mia fosse piena. / Pur ier mattina le volsi le spalle: / questi m’apparve, tornand’ïo in quella, / e reducemi a ca per questo calle.» [«Droben in dem hellen Leben», / Sprach ich, «verlor ich mich in einem Tale, / Bevor noch meines Lebens Lauf voll-

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mehrfach beobachtet haben, führt dieser Weg nicht nur aus der Niederung, in die sich das Ich verirrt hatte, heraus nach Hause, sondern auch immer wieder in diese Verirrung zurück. Auch hier, wie bei Levi, ist das Thema des „ritorno“, von dem Chiavacci Leonardi schreibt, dass es als Muster dem ganzen Werk unterliegt,116 doppelt gefasst. In Paradiso XVII bricht diese Niederung nun abermals machtvoll und schockartig herein, und zwar als etwas, was immer noch bevorsteht, aber zugleich in einer Vorzeitigkeit, noch vor der Verirrung in der „selva selvaggia“ anzusiedeln ist. Der Canto führt also, aus der Mitte paradiesischer Ewigkeit als simultaner Allpräsenz, in eine Zukunft, die noch vor dem Beginn der Commedia zu stehen kommt. Die prophezeite Zukunft geht nicht in der Allpräsenz des Paradieses auf, sondern spaltet diese auf in die traumatische Zeit eines immer schon Vergangenen, das stets noch bevorsteht. Daher stellt der Gesang nicht einfach eine „abschließende Erklärung“ der Geschichte das Ichs dar.117 Chiavacci Leonardi hat zu Recht von einem Fehler gesprochen, diesen Gesang als denjenigen zu betrachten, in dem der ganze Sinn des Poems enthalten sei.118 Ich würde sagen, er öffnet die Anlage der Commedia, bricht den Sinn, wo dieser nachträglich gegeben werden soll, auf und verschiebt ihn in ein uneinholbares Morgen, das zugleich vor den Beginn der Commedia zurückreicht. In solcher Weise würde mit dem 17. Gesang in die Gesamtanlage der Commedia, die wir ja als ein Dispositiv der Durcharbeitung der in Inferno I angedeuteten Situation des Verlorenseins gefasst haben, ein Bogen einbeschreiben, der aus der Mitte des Paradiso in eine über das Ende des Gedichts hinausreichende Zukunft voraus weist und zugleich vor den Anfang des Gedichts zurückführt. Im göttlichen „cospetto“ haben die Verbannung des Ichs und sein Exil ihren Platz und ihren Sinn. Aber können sie diesen Sinn auch in der menschlichen Sprache dieses Gedichts finden? Können Verbannung und Exil durch dieses Gedicht assimiliert werden? Zunächst scheint dem nicht so zu sein. Denn auch wenn aus den Höhen des Paradiso tief in die „Unausweichlichkeit des Schicksalhaften für den Mensch der irdischen Welt“ geblickt wird, bleibt „auch im Paradies […] die Grenze des irdisch Gegebenen nicht überschreitbar“.119 Wenn

endet. / Erst gestern morgen wandt ich ihm den Rücken. Der hier erschien mir, als ich dorthin kehrte. / Nun führt er heimwärts mich auf dieser Straße».“] (Inf. XV, 49–54). 116 Anna Maria Chiavacci Leonardi: „Paradiso XVII“, S. 310. 117 So Hermann Gmelin in Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, Band VI (Kommentar), S. 316. 118 Vgl. Anna Maria Chiavacci Leonardi: „Introduzione al Canto XVII“. In: Dante Alighieri: Commedia, Paradiso, S. 469. 119 Vgl. Reinhard Trávnicek: „Der Widerstand der Fortuna. Zur christlichen Deutung einer paganen Allegorie in Dantes Göttlicher Komödie“. In: Dante-Jahrbuch 82 (2007), S. 87–118, hier: S. 116.

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dem so ist, würde das Irdische hier das Paradies in seine Schranken verweisen. Ja, insofern diese irdische und traumatische Situation keinen eigenen, gegenwärtigen, in sich geschlossenen Part im poema hat, sondern zerspalten in eine unvordenkliche Vergangenheit und in eine immer noch anstehende Zukunft vorgestellt wird, bildet sie gleichsam den erzählerisch uneinholbaren Rahmen für die Vision des Jenseits, die die Commedia ist. Es handelt sich dabei um keinen stabilen, festen Rahmen, sondern eher um eine zweizeitige Struktur aus Wiederkehr und Nachträglichkeit, wie sie uns aus unseren Untersuchungen zum Trauma bekannt ist. Die Ewigkeit der paradiesischen Sphären ist gegen diesen Einbruch der Zeit, die selbst kein Ende kennt, weil sie die Zeit einer traumatischen Rückkehr ist, nicht abgedichtet. In die Ewigkeit reicht noch die unendliche Wiederkehr des Unbewältigten, der Verbannung, als etwas immer noch Bevorstehendes. Ob die paradiesische Ewigkeit oder die ewige Wiederkehr der Verbannung das letzte Wort haben werden, ist an dieser Stelle der Commedia offen – gerade das macht nicht zuletzt ihre dramatische Spannung aus. Zu dieser Unentschiedenheit bzw. Offenheit trägt auch die Tatsache bei, dass das Thema der Erfragung der Zukunft einerseits, das Thema von Verbannung und Exil andererseits, durch einen doppelten mythischen Vergleich eingeführt wird. Dies weist uns abermals darauf hin, dass hier kein persönliches Einzelschicksal um seiner selbst willen vorgestellt wird, sondern dass es um ethische Fragen geht, die an dieser Stelle, aufgespalten in mehrere Mytheme, verhandelt werden. Die Ankündigung der noch kommenden und zugleich schon stattgefundenen Verbannung aus der Mitte des Paradiso heraus stellt in mancher Hinsicht eine narratologische Katastrophe für das Paradiso dar. Sie gemahnt an Phaetons fatale Fahrt mit dem Sonnenwagen und dessen verheerenden Sturz aus dem Himmel, worauf gleich zu Beginn des Gesangs diskret angespielt wird. Anders als Phaeton, der seinen Vater, den Sonnengott Helios, nach seiner Herkunft befragt, erkundigt sich das Ich bei seinem Urahn nach seiner Zukunft. Auch wenn und gerade weil die Fragerichtung umgekehrt wird, ist sie nicht ohne Risiko. Insofern das Ich etwas Zukünftiges erfahren will, verfällt es der Hybris, der Phaeton erliegt, als er mit dem von seinem Vater als Zeichen seiner Vaterschaft erbetenen Sonnenwagen durch den Himmel rast und abstürzt.120 Das Dantesche Ich fährt zwar nicht mit dem Himmelswagen, aber es ist doch mit Beatrice fliegend im Himmel unterwegs, und der Blick in die Zukunft hat nicht zuletzt schon manchen Wahrsager in die Hölle verbannt, wovon Inferno XX eindrücklich zeugt.121 120 Vgl. Ovid: Metamorphosen. Übersetzt von Erich Rösch. München: dtv / Artemis 41994, S. 51– 61 (Zweites Buch, vv. 1–344). 121 Marguerite Mills Chiarenza weist in ihrer Studie „Time and Eternity in the Myths of Paradiso XVII“. In: Studies in Honour of C. S. Singleton. Binghamton, New York: Center for Medieval & Early

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Das zweite Mythem, das in Paradiso XVII ins Spiel kommt, erzählt ebenfalls von einem großen Unglück. Diesmal ist es nicht der Erzähler, der die mythische Ebene ins Spiel bringt, sondern Cacciaguida, der zu Beginn seiner Prophezeiung sein Gegenüber mit Hippolytos vergleicht: Qual si partìo Ipolito d’Atene per la spietata e perfida noverca, tal di Fiorenza partir ti convene. (Par. XVII, 46–48) [Wie Hippolyt ward aus Athen vertrieben / Durch die Stiefmutter falsch und ohn Erbarmen, / So wirst du müssen aus Florenz entfliehen.]

Hippolytos stürzt, nachdem er aufgrund eines falschen Verdachts von Theseus aus der Stadt verbannt wird, ähnlich wie Phaeton, von seinem Wagen, und wird von den Pferden zertrampelt.122 So unterschiedlich die Mytheme sind, so auffällig ist der Punkt – das Herunterfallen vom Wagen –, an dem sie konvergieren. Einmal handelt es sich um einen Unfall aufgrund eines anmaßenden Himmelssturms, der durchaus als kritische Anmerkung zum Unternehmen des Pilgerers ebenso wie als selbstkritischer Kommentar zum dichterischen Vorhaben des Autors gelesen werden kann. Dann handelt es sich um Theseus’ ungerechte Verleumdung und ungerechtfertigte Rache an seinem eigenen Sohn, die Cacciaguida als Vergleich für das angekündigte Schicksal des Ichs dient. Die erste mythische Referenz betrifft das drohende Fallen auf der Ebene der in der Commedia vorgestellten aktuellen Fragesituation, denn der Blick in die Zukunft ebenso wie die visionäre Fahrt durch göttliche Sphären, die die Commedia vorstellt, läuft Gefahr, ebenso anmaßend und hochmütig zu sein wie Phaetons Fahrt mit dem väterlichen Sonnenwagen. Die zweite mythische Referenz betrifft das Fallen auf der Flucht, und dies auf der Ebene der prophezeiten Zukunft. Die mythischen Referenzen agieren auf unterschiedlichen Ebenen, ihre Parallelität ist also eine schiefe. Während Phaeton anmaßend und hochmütig ist, ist Hippolytos rein und unschuldig. Während Phaetons Mythos die Geschichte einer Verdammung ist, mündet Hippolytos’ Mythos in eine Rettung; so erzählt zumindest seine Fortsetzung, dass er wiederauferstanden ist und in Italien unter dem Namen Virbius zusammen mit Diana und Egeria von den Latinern verehrt

Renaissance Studies, State University of New York at Binghamton 1983, S. 133–156, hier: S. 141 auf zwei Intertexte hin – nämlich Ciceros De officiis und John of Salisburys Polycraticus –, die beide vor dem Blick in die Zukunft ausdrücklich warnen. 122 Vgl. Ovid: Metamorphosen, S. 393f. (Fünfzehntes Buch, vv. 492ff.).

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wurde.123 Beide Mytheme stehen hier unentschieden und unvereinbar nebeneinander.124 Hinzu kommt eine dritte mythische Dimension: das Zwiegespräch zwischen Cacciaguida und dem Protagonisten ruft beständig Aeneas’ Begegnung mit seinem Vater Anchises im 6. Buch der Aeneis auf, bei der Anchises seinem Sohn die Größe und den geschichtlichen Auftrag Roms, der Stadt, die er gründen wird, prophezeit.125 Vor dieser Folie wird Cacciaguidas Prophezeiung nun wiederum abgefedert gegen den Verdacht falscher Wahrsagerei, und der Himmelsflug des Ichs wird auf diese Weise in figuralen Bahnen gehalten. Nicht zuletzt wird Vergil an dieser Stelle noch einmal ein Denkmal gesetzt. Auch wenn er in diese Sphären nicht einreisen darf, bleibt er gedanklich überaus präsent: In Paradiso XVII, 19–21 wird er nochmals als Führer durch Inferno und Purgatorio gewürdigt.126 Cacciaguidas Prophezeiung wird in jedem Fall durch diese mythischen und intertextuellen Verweise dramatisiert und in ihrer Bedeutung besonders hervorgehoben. Dies ist umso notwendiger, als sie auf den ersten Blick nur zu wiederholen und zu bestätigen scheint, was das Ich schon im Inferno – vornehmlich durch Farinata (Inferno X) und Brunetto Latini (Inferno XV) – längst zuteil geworden ist. Dabei ist die Tatsache, dass der Paradiesbewohner Cacciaguida die Aussagen der beiden Höllenbewohner als wahr bestätigt, durchaus bemerkenswert. Was aber ist neu an dieser Prophezeiung, worin unterscheidet sie sich vom schon längst Gesagten, Geahnten und Gewussten? Meine These ist, dass sie sich insbesondere durch zwei Aspekte von den bislang erhaltenen Unheilsbotschaften abhebt: Erstens durch ihren besonders schockartigen Charakter; und zweitens durch die Tatsache, dass Cacciaguida der harten Nachricht zugleich auch ein Rezept mitgibt, wie das Ich dem Schicksal zu begegnen hat, ein Rezept, das in der dritten Cantica, in der die Dichtung an ihre Ausdrucksgrenzen getrieben wird, noch einmal die Dichtung als Lebens- und Überlebensmittel auf der Erde stark macht.

123 Vgl. dazu insbesondere Marguerite Mills Chiarenza: „Time and Eternity“, S. 146 sowie dies.: „Hippolytus’ Exile: Paradiso XVII, vv. 46–48“. In: Dante Studies LXXXIV (1966), S. 65–68. 124 Phaetons unglückliche Fahrt mit dem Sonnenwagen kehrt allerdings als mythischer Vergleich noch einmal wieder, und zwar ausgerechnet in dem Moment – und auch da, nicht ohne für Verstörung zu sorgen –, als das Ich in der Lage ist, vom Heiligen Bernhard geführt, Maria zu schauen (vgl. Par. XXXI, 124–126). 125 Explizit wird Cacciaguida mit Anchises in Par. XV, 25–30 nicht nur verglichen, sondern er spricht bei seiner ersten Erscheinung sogar in Vergilschen Hexametern, die sich hier zu einer gereimten Alighierischen Terzine fügen. 126 Zur Präsenz und erweiterten Einflusszone Vergils in diesem Canto vgl. auch Anna Maria Chiavacci Leonardi: „Paradiso XVII“, S. 319.

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Zunächst zum ersten Aspekt: Selbst wenn das, was Cacciaguida in Paradiso XVII bekannt gibt, nur eine Wiederholung dessen sein sollte, was längst gesagt worden ist, trifft es doch nicht weniger, gerade auch weil diese harte Wahrheit aus der Mitte des Paradiso heraus gesprochen wird. Der Ort der Aussage sowie die völlig unverblümte Art der Aussage verstärken ihren gänzlich unvermuteten und darum so schockartigen Charakter: Qual si partìo Ipolito d’Atene per la spietata e perfida noverca, tal di Fiorenza partir ti convene. Questo si vuole e questo già si cerca, e tosto verrà fatto a chi ciò pensa là dove Cristo tutto dì si merca. (Par. XVII, 46–51) [Wie Hippolyt ward aus Athen vertrieben / Durch die Stiefmutter falsch und ohn Erbarmen, / So wirst du müssen aus Florenz entfliehen. / Dies wünscht man, dies wird dort schon eingeleitet, / Und bald wird’s dem gelingen, der drauf sinnet, / Dort wo man Christus täglich trägt zu Markte.]

Darauf folgen die berühmten Verse, die für das Exil überhaupt geradezu sprichwörtlich geworden sind: Tu lascerai ogni cosa diletta più caramente; e questo è quello strale che l’arco de lo essilio pria saetta. (Par. XVII, 55–57) [Du wirst, was dir am teuersten gewesen, / Verlassen, und dies ist die erste Wunde, / Die dir wird schlagen der Verbannung Bogen.]

Alles dreht sich hier um die Frage des Schocks, die mit der Härte des Aufpralls ebenso zu tun hat wie mit der blitzschnellen Geschwindigkeit sowie Durch- und Eindringlichkeit, mit der das Schicksal zuschlägt. Das reiche Aufkommen von Wörtern wie „colpo“, „saetta“, „strale“ in diesen Versen verstärkt den schockhaften Charakter der Aussage.127 Es ist merkwürdig, dass sich das Ich, in dem Moment, da es bekundet, etwas über seine Zukunft erfahren zu wollen, als „tetragono“ (v. 24) bezeichnet. Er stellt sich damit als unerschütterlicher Charakter vor, der schockresistent und jeder Zeit

127 Vgl. zu dieser Semantik von „saetta“ und „saettare“ die Einträge im Devoto-Oli und im Vocabolario Etimologico della Lingua Italiana von Ottorino Pianigiani.

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in der Lage ist, seinem Schicksal ins Auge zu blicken.128 Sein Begehren, von der Zukunft vorzeitig etwas zu erfahren, begründet er allerdings damit, dass auf diese Weise der schockhafte Aufprall des Schicksals auf seine Seele abgefedert werden könne: «[…] Dette mi fuor di mia vita futura parole gravi, avvegna ch’io mi senta ben tetragono ai colpi di ventura; per che la voglia mia saria contenta d’intender qual fortuna mi s’appressa: ché saetta previsa vien più lenta. […]» (Par. XVII, 23–27) [«[…] Da [in der Hölle] hört ich über mein zukünftiges Leben / Manch hartes Wort, obwohl ich mich vierschrötig / Den Schicksalschlägen gegenüber fühle. / Drum würdest du mir einen Wunsch erfüllen, / Wenn du mir sagtest, welches Schicksal wartet; / Denn Pfeile, die man sieht [genauer: vorhersieht, Anm. d. Verf.], sind minder schnelle. […]»]

Das Attribut „tetragono“ unterstreicht zwar seinen unbezweifelbaren Mut, unterschlägt aber doch seine leichte Affizierbarkeit, sein schwankendes Gehen, seine wiederholten Ohnmachtsanfälle. In der Tat ist das Ich kein unerschütterlicher Held: Es ist verletzlich, ja verletzt, weil es vom Schicksal, wie wir seit Inferno I ahnen, schon längst hart und plötzlich getroffen worden ist. Es ist also, als ob mit dieser Frage ein Anliegen ausgedrückt würde, das nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit betrifft. Es ist, als komme hier der Wunsch zum Ausdruck, Elemente des Wissens vor den schon erlittenen Schicksalsschlag zurückzuschicken, die einst fatalerweise gefehlt und daher zur traumatischen Verwundung, von der Inferno I zeugt, geführt haben. Zwar kann das Schicksal nicht abgewendet werden, insofern die Welt der Commedia ja eine „gerichtete“ darstellt,129aber nachträglich wird nichtsdestoweniger die Möglichkeit artikuliert, den Schlag des Schicksals durch gezielte Vorbereitung darauf abwenden zu können. Die Schilderungen in Paradiso XVII thematisieren einen längst schon erlittenen Verlust, der als solcher nie wirklich vom Bewusstsein verzeichnet worden ist und sich darum immer wieder von Neuem dem Bewusstsein vorstellt, mit dem impliziten Appell, ihn nun endlich zu realisieren, und zugleich mit der Kraft, sich ihm immer wieder von Neuem zu entziehen. Sie können als eine Fallbeschreibung 128 Die Forschung neigt dazu, diese Selbstdarstellung wörtlich zu nehmen und daraus die heroische Haltung des Danteschen Ichs abzuleiten. Vgl. dazu zum Beispiel die Darstellung des Protagonisten in Anna Maria Chiavacci Leonardi: „Paradiso XVII“, S. 312f. 129 Erich Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt, S. 108.

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gelesen werden, auf die die traumatische Schocktheorie durchaus zutrifft, deren Ursprünge auf Aristoteles’ Ethik zurückgehen, die für diese Szene ebenso Pate steht wie für Breuers und Freuds Studien über Hysterie.130 Das Dantesche Ich bewährt sich angesichts Cacciaguidas Rede, die in der Tat einem Hagel von Schlägen, Pfeilen und Blitzen gleichsieht, wirklich als „tetragono“. Denn es hält diesem Beschuss stand, es setzt sich ihm aus, es flieht nicht vor der Mitteilung. In wenigen Versen seinen Gang durchs Jenseits bis hierher rekapitulierend erreicht es schließlich den Punkt, an dem es über sein eigenes Dichten reflektiert (das erzählte Ich trifft hier mit dem erzählenden Ich zusammen) und darüber, mit welchen möglicherweise lebensbedrohlichen Risiken dieses Dichten verbunden ist: «Ben veggio, padre mio, sì come sprona lo tempo verso me, per colpo darmi tal, ch’è più grave a chi più s’abbandona; per che di provedenza è buon ch’io m’armi, sì che, se loco m’è tolto più caro, io non perdessi li altri per miei carmi […]» (Par. XVII, 106–111) [«Wohl seh ich, o mein Vater, daß die Zeiten / Die Sporen geben und mir drohn mit Schlägen, / Die härter dem, der sich nicht gut verteidigt. / Drum will ich mich mit der Voraussicht wappnen, / Daß ich, wenn ich den liebsten Ort verloren, / Die andern nicht verlier durch meine Lieder.]

Die Schicksalsfrage betrifft nun den Ort der Diegese, wird zum Ausdruck der Selbstreflexion über die Risiken des Schreibens im Exil, hier und jetzt. Cacciaguidas Antwort auf die bekundete Angst seines Gegenübers überspringt allerdings dessen Sorge. Sie ist nun nicht mehr im eigentlichen Sinne prophetisch, dafür aber umso weitsichtiger. Gerade durch den nun folgenden Zusatz, dies ist der zweite Aspekt, unterscheidet sich seine Rede entscheidend von Farinatas und Latinis unheilvollen Andeutungen, die als solche unfruchtbar geblieben waren. Cacciaguidas Prophezeiung hingegen ist auch ein Rezept gegen die Bitterkeit der Verdammung und des Exils mitgegeben. In der Tat erschüttert seine Rede nicht nur aufgrund des schrecklichen Inhalts, der vom Ich längst geahnt, vom Autor längst gelebt und von den Lesern längst gewusst wird, sondern weil sie auch noch etwas anderes impliziert. Ebenso wie im erörterten Traum vom brennenden Kind (siehe Kapitel II) der Traum nicht nur die schreckliche Wahrheit des Todes des Kindes vergegenwärtigt, sondern in ihm auch eine hilfreiche Geste geborgen ist, die vom geträumten Kind vollzogen wird, sind es in Cacciaguidas Rede Elemente,

130 Vgl. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, S. 68 (Drittes Buch, 11, 1116b–1117a).

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die es ermöglichen, sich nicht nur auf die Verbannung besser gefasst zu machen, sondern auch sich darin besser zurechtzufinden. So ist es Cacciaguida, der für das Ich den Wert und die Bedeutung seiner Dichtung auszusprechen weiß: Es ist ein gültiges Remedium gegen die Bitterkeit der Verbannung.131 Cacciaguida setzt auf die Wirkkraft der Worte des Dichter-Ichs („tua parola“, v. 126) und dessen Vision („tua visïon“, v. 128), die nun nicht als Waffe, sondern vielmehr als pharmakon vorgestellt werden, das auf die Sinnesorgane einwirkt: Die Worte sind rau, sie jucken und kratzen, sie sind bitter, aber in ihrer Bitterkeit sind sie ein „vital nodrimento“ (v. 131). Sie sind wie eine Medizin von scharfem Geschmack („sapor di forte agrume“, v. 117), die gegen den salzigen Geschmack des Brotes in der Fremde („Tu proverai sì come sa di sale / lo pane altrui […]“ v. 58–59) eingesetzt werden kann. Einem Toskaner, der an salzloses Brot gewöhnt ist, muss dieses besonders – nämlich im konkreten und übertragenen Sinne – aufstoßen. Zugleich ist diese Medizin aber auch schon gedacht in einem ethischen Sinne für alle künftigen Leser, die den brennenden Geschmack dieser Verse in sich aufnehmen werden. In dieser Dichtungskonzeption wird nicht zuletzt der Gang durch das Inferno – „lo mondo sanza fine amaro“ (v. 112) – profiliert als jene Quelle, aus der das Gedicht die nötige Bitterkeit bezieht. Dieser Gang ist damit als wesentlicher Prozess der Umschreibung des bitteren Schicksals in die bittere Medizin der Dichtung zu bewerten. Auf den plötzlichen und allzu schnellen Schlag, der zu einer Durchbrechung des Abwehrschirms, den das Bewusstsein darstellt, geführt hat, antwortet nun gerade nicht ein besseres Verteidigungssystem, wie es im Grunde vom Ich noch erwartet wird, wenn es um rechtzeitige Mitteilung seines Schicksals bittet, sondern vielmehr die Dichtung als pharmakon: für das Ich, das die Wunde erlitten hat, ebenso wie für die anderen, die ihm die Wunde zugefügt haben. Im Vers „e lascia pur grattar dov’ è la rogna [Und laß nur, wo die Räude beißt, sie kratzen]“ (v. 129), in dem der Jargon des Inferno ironisch nachklingt,132 wird die Schamröte,

131 Intertext ist hier, wie vielfach festgestellt, Boetius’ während seiner Haftzeit verfasste Consolatio philosophiae. Obwohl Boethius Christ war, nimmt er angesichts seines Elends und bevorstehenden Todes nirgends auf christliche Glaubenslehren Bezug, sondern sucht und findet seinen Trost ausschließlich in philosophischen Überlegungen. Es ist immerhin auffällig, dass auch Cacciaguida nicht einfach auf religiöse Sentenzen zurückgreift, um seinem Gegenüber angesichts dessen anstehenden Schicksals Trost zu schenken, sondern stattdessen den Einsatz der Dichtung betont, die nicht eigens als christliche Dichtung herausgestellt wird. 132 Die raue Direktheit der Worte Cacciaguidas, die zur besonderen Faszination dieses Gesangs beitragen, gemahnen an die konkrete Anschaulichkeit der Sprache im Inferno. Beispielhaft dafür sind eine Reihe von sprachlichen Ausdrücken, die im Paradiso auffällig sind, wie „sa di sale“, „duro calle“, „graverà le spalle“, „malvagia“, „scempia“, „ingrata“, „matta“, „empia“ (vv. 58–64).

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die die Gesichter seiner Gegenspieler färben wird („n’avrà rossa la tempia“, v. 66) gar zum Hautausschlag gesteigert, den sein Gedicht zu provozieren vermag. Die Dichtung bewirkt somit genau das Gegenteil des Reizschutzes, den sich das Ich durch vorauseilendes Wissen zu verschaffen hoffte. Dichtung schirmt nicht ab, sie wirkt nicht immunisierend. Umgekehrt holt sie aber auch nicht zum tödlichen Gegenschlag aus. In Differenz zu beiden, der verteidigenden und der aggressiven Haltung, provoziert sie, stört sie und stört sie auf, regt dadurch an und auf und ist auf diese Weise nicht zuletzt, wie in Cacciaguidas Rede mehrfach betont wird, Ernährung. Eine bittere Medizin, der es möglich sein wird, sogar dem bittersten Geschmack des Exils noch eine Süße abzugewinnen. Wir haben weiter oben offen gelassen, ob die paradiesische Ewigkeit oder die ewige Wiederkehr der Verbannung das letzte Wort haben werden, und dies als konstitutiv für die dramatische Spannung im Paradiso gewertet. Die größte Distanz zu Inferno I scheint das Ich in Paradiso XXII erreicht zu haben, als Beatrice, nachdem beide gemeinsam der Jakobsleiter entlang in den Fixsternhimmel gehoben worden sind, es zum ersten Mal auffordert, zurück, d. h. hinunterzuschauen und wahrzunehmen, wie weit es sich inzwischen von der nun lächerlich klein wirkenden Erde entfernt hat (vgl. Par. XXII, 124–135). Im darauffolgenden 23. Canto tritt jedoch, so meine These, diese größte Distanz zur Erde in eine höchste Spannung zu einer gleichzeitig anhaltenden extremen Nähe der irdischen Realität. Chiavacci Leonardi spricht bezüglich dieses Gesangs von einer Schwelle, einer Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Der Fixsternhimmel, in den das Ich nun eingetreten ist, „è l’ultimo luogo raggiungibile all’occhio umano, che è quasi la cerniera, il vallo divisorio […] tra il visibile e l’invisibile, tra l’umano e il divino“.133 Genau an dieser Schwelle taucht die absolute Sprachlosigkeit zusammen mit der Vorstellung des „cammin riciso“, des abgeschnittenen Weges, auf. Damit wird in denkbar größter Distanz der sichtbaren Welt zur Erde die traumatische Situation von Inferno I nochmals evoziert. In dieser Wiederkehr von Inferno I kommt nun, wie einige Canti zuvor durch Cacciaguida, abermals der Einsatz von Dichtung zur Sprache. Angesichts der unmöglichen (nicht einmal durch die Hilfe der Stimme der größten Dichter überhaupt zu bewältigenden) sprachlichen Vergegenwärtigung des Anblicks von Beatrices „santo riso“ (v. 59), heißt es: e così, figurando il paradiso, convien saltar lo sacrato poema, come chi trova suo cammin riciso. (Par. XXIII, 61–63)

133 Anna Maria Chiavacci Leonardi: „Introduzione al Canto XXIII“. In: Dante Alighieri: Commedia, Paradiso, S. 625.

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[Gmelin: Und so muß in der Paradiesbeschreibung / Das heilige Gedicht hier überspringen, / Wie jemand, der den Weg versperrt gefunden; Philaletes: So muß bei Schilderung des Paradieses / Das heil’ge Lied oft etwas überspringen, / Wie der so seinen Pfad trifft abgeschnitten; Naumann: und darum muß das heilige Gedicht, welches das Paradies / darstellt, einen Sprung tun wie einer, / der seinen Weg abgeschnitten findet; Köhler: So muss denn auch das geheiligte Dichtwerk, will es das Paradies abbilden, etwas überspringen, wie bei einem, dem ein Hindernis den Weg versperrt]

Das Gedicht – „lo sacrato poema“ – wird hier, so die geläufige Lektüre, als ein heiliges zwar anerkannt, aber zugleich in seiner Grenzstellung gegenüber der heiligen Sphäre des Paradieses verstanden. Um das Paradiso darzustellen, muss „lo sacrato poema“ springen. Die Interpreten lesen gemeinhin „lo sacrato poema“ – der lateinischen Wortstellung zufolge – als Subjekt des Satzes. Chiavacci Leonardi paraphrasiert, auf die wichtigsten Kommentare zurückgreifend: „conviene che il sacro poema salti, rinunci.“134 So gelesen heißt das: „lo sacrato poema“ ist elliptisch, es ist gezwungen, über Beatrices „santo riso“ zu schweigen. Teodolinda Barolini hingegen schlägt in ihrer Lektüre einen anderen Weg ein. Ihr zufolge geht es hier nicht um einen Verzicht auf Darstellung, sondern um die Formulierung einer Poetik des Sprungs: Not only does this passage break the narrative thread, tenuous as it is, that runs through the canto, but it announces that such breaks are programmatic, are indeed required, and that the only way to persist in weaving textuality at this stage of the journey is at the price of occasional holes in the fabric.135

Sie stellt fest, dass die zitierten Verse meist in Hinblick auf die Definition der Commedia als ein „sacrato poema“ gedeutet worden sind, dass hingegen oft überlesen wurde, dass dieses „sacrato poema“ springen muss, wie jemand, der seinen Weg abgeschnitten findet. Sie schlussfolgert, dass sich Dante Alighieri an dieser Stelle auf die Suche nach einer Textualität macht, die „more fractured, less discursive, less linear“ ist.136 Das Gedicht überspringt hier nicht nur etwas (wie meist paraphrasiert und übersetzt wird), sondern springt im absoluten Sinne – ein Objekt wird ja nicht genannt – woandershin (in Naumanns Übersetzung kommt dies am besten zum Ausdruck). Im Gegensatz zum antiken Grundsatz

134 Ebda., S. 638. 135 Teodolinda Barolini: The Undivine Comedy, S. 226. 136 Ebda.

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„Natura non facit saltus“, wie Barolini geltend macht, ist die Kunst aufgefordert, das Gesetz der Natur zu brechen: eben zu springen.137 Äußerst bemerkenswert für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist die Tatsache, dass in diesen zentralen Versen Inferno I gleich doppelt aufgerufen wird: Erstens erinnert der abgeschnittene Weg unweigerlich auch an den durch die drei wilden Tiere verstellten Weg und damit auch an Vergils Aufforderung, einen anderen Weg einzuschlagen. Es wäre zweitens zu vermuten, dass durch diese Reminiszenz auch der dem romanischen Wort „sacro“ mitgegebene Gegensinn „verflucht“ und „verbannt“ aktiv wird.138 Nun ist freilich darauf hingewiesen worden, dass die Signifikanten „sacro“ und „sacrato“ in der Commedia zunehmend mit dem Signifikanten „santo“ verbunden und verwoben werden: „[L]’idea di una santità progressivamente acquisita a mano a mano che Dante procede […], è suggerita proprio dall’alternarsi, nell’uso di „sacro“ con „santo“, con cui viene semanticamente a coincidere.“139 Diese Lesart lässt verstehen, dass im Paradiso ein Schwanken des Signifikanten, wie es noch in der Wiederaufnahme des Vergilschen Verses in Purg. XXII, 40–41 aufscheint, ausgeschlossen ist.140 Doch mag diese Vereindeutigung von „sacro“ und „sacrato“ (auch deren grammatikalische Differenz wird unterschlagen, wenn „sacrato“ als Synonym von „sacro“ bezeichnet wird141) an dieser Stelle nicht ganz überzeugen. Einiges weist darauf hin, dass hier der lateinische Doppelsinn noch nicht gänzlich in

137 An dieser Stelle wäre zu überlegen, inwiefern der Charakter des Danteschen Verses für dieses Springen geeignet ist; wir haben gesehen, dass ihm eine außergewöhnliche Dehnbarkeit eignet, die für einen solchen Sprung durchaus nutzbar gemacht werden kann. 138 „[C]’est […] en latin qu’on découvre le caractère ambigu du «sacré»: consacré aux dieux et chargé d’une souillure ineffaçable, auguste et maudit, digne de vénération et suscitant l’horreur“ (Émile Benveniste: Le vocabulaire des institutions indo-européennes. Paris: Gallimard 1969, Band 2, S. 188). Vgl. des Weiteren Karl Abel: Über den Gegensinn der Urworte. Leipzig: Wilhelm Friedrich 1884, S. 46 sowie die Ausführungen von Giorgio Agamben: Homo sacer, v. a. das Kapitel „L’ambivalenza del sacro“, S. 83–89. 139 Siehe Alessandro Niccoli: „sacro“. In: Enciclopedia dantesca, Band IV, S. 1066f. 140 Die negative Bedeutung von „sacro“ ist in der Commedia noch ziemlich eindeutig in der Wendung „sacra fame / de l’oro“ (Purg. XXII, 40–41) wirksam. Der Ausdruck beruht auf Aeneis III, 56–57: quid non mortalia pectora cogis, auri sacra fames!. Manche Interpreten entscheiden sich dafür, an dieser Stelle „sacro“ schon im Sinne von „santo“ zu vereindeutigen, indem sie die Verse als Ausdruck eines Wunsches lesen, im Sinne von: „Perché non sei tu, giusta e misurata brama dell’oro, a guidare l’appetito dei mortali, frenandolo così da impedire ch’esso degeneri?“ (vgl. den Eintrag „sacro“ im Vocabolario Treccani). Vgl. zu Purg. XXII, 40–41 auch Cornelia Klettke: „Ökonomische Ethik. Die Abwägung irdischer und himmlischer Güter in Dantes Commedia“. In: DanteJahrbuch, Band 87/88 (2013), S. 163–202. 141 Vgl. Alessandro Niccoli: „sacrato“, S. 1066.

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einer christlichen Vorstellung des „santo“ aufgeht, zumal gerade in dieser Terzine die lateinische Wortstellung so auffällig ist. Würde man also den im Signifikanten „sacrato“ eingetragenen Doppelsinn mitlesen, den das Wort „santo“ nicht kennt,142 so erwiese sich die in Frage stehende Terzine als eine kryptische Umschrift der traumatischen Szene in eine Diskussion der poetischen Darstellbarkeit des Paradiso. Wir hätten es so gelesen mit einem Umspringbild zu tun, einer Kippfigur, von der wir im Laufe unserer Arbeit schon mehrfach erfahren haben, dass sie, sofern sie in ihrer Äquivozität erhalten bleibt, den stärksten literarischen Einsatz im Bereich des Traumatischen überhaupt darstellt.143 Nicht nur haben wir an der Schwelle der sichtbaren zur unsichtbaren Himmelssphäre die traumatische Wiederkehr des versperrten Weges vor uns, sondern wir treffen nun auch auf eine Dichtung, die nicht nur springen muss, sondern springen kann, nämlich aus der Verbannung ins Heilige, ohne indes die Verbannung, aus der heraus sie entstanden ist, zu verkennen. Der Fall, der Unfall, an den die Verbannung in Paradiso XVII noch gemahnt, wird hier umgeschrieben in einen Sprung, in ein beständiges Springen zwischen den beiden semantischen Wertigkeiten von „sacrato“, die abgesehen von ihren beiden absoluten Bedeutungen keine Abstufung, keine Gradation kennen.144 Das Gedicht würde somit hin- und herspringen, ohne je mit der einen noch mit der anderen Bedeutung je identisch zu sein.145 Die Blickrichtung, die in Inferno und Purgatorio so sehr in Frage stand, ist hier suspendiert in einem Wort, das die beiden sprachlich unberührbaren Extrempole – traumatische Urszene und heilige Sphäre – ineinander schreibt. In Paradiso XXIII wird das Gedicht „sacrato poema“ genannt, in Paradiso XXV dann „poema sacro“. Wollte man sich nicht mit dem Hinweis auf Synonymität der beiden Ausdrücke begnügen, so ließe sich folgendes statuieren: Das Partizip Perfekt in der ersten Wendung deutet darauf hin, dass es sich um das Ergebnis einer Operation handelt; das Adjektiv in der zweiten Wendung stellt den

142 Émile Benveniste vermerkt, dass „santo“ von „sanctus“ aus „sancire“ nach und nach zu einem „équivalent pur et simple de venerandus“ geworden sei: „Là s’achève l’évolution [du mot]: sanctus qualifie alors une vertu surhumaine“ (ders.: Le vocabulaire des institutions indo-européeenes, S. 191). 143 Zum Umspringbild vgl. die unter diesem Stichwort versammelten Beiträge in Ottmar Ette, d. Verf.in (Hg.): Unfälle der Sprache, S. 77–138. 144 Vgl. Émile Benveniste: Le Vocabulaire des institutions indo-européennes, S. 192. 145 Liest man mit Ottmar Ette das Paradies in Genesis 3, 21–24 als Ort, der immer schon von der Vertreibung gezeichnet ist, wird nochmals deutlicher, inwiefern ausgerechnet im Paradiso die Erinnerung an die Verbannung wiederkehren muss und hier ihren stärksten Ausdruck, ja ihre stärkste Realisierung findet (vgl. ders.: Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies, S. 9– 11).

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Sachverhalt hingegen als gegebenen Zustand vor. Zunächst ist das Gedicht also noch an ein Agens gebunden, an einen Autor, der etwas mit diesem Gedicht macht, der das Gedicht zu etwas macht. Zugleich aber steht das Gedicht auch hier schon in der Subjektstellung des Satzes. Es ist selbst schon jenes Agens, das springen muss bzw. springen kann. Schon hier also deutet sich eine Ablösung des Gedichts von seinem Autor an, und damit die Entfaltung einer Eigendynamik, die schließlich in Paradiso XXV noch weitergetrieben wird: Se mai continga che ’l poema sacro al quale ha posto mano e cielo e terra, sì che m’ha fatto per molti anni macro, vinca la crudeltà che fuor mi serra del bello ovile ob’ io dormi’ agnello, nimico ai lupi che li danno guerra; con altra voce omai, con altro vello ritornerò poeta […] (Par. XXV, 1–8) [Wenn es dem heiligen Liede je gelänge, / An welchem Erd und Himmel Anteil haben, / So daß es viele Jahre an mir zehrte, / Die Grausamkeit zu überwinden, welche / Mich aus der schönen Hürde ausgetrieben, / Wo ich als Lamm, den Wölfen feind, geschlafen, / Dann kehre ich mit andrem Ton und Haare / Als Dichter heim […]

Die weitere Entbindung des Gedichts von seinem Autor wird jetzt als Ergebnis vorgestellt: das „poema“ heißt nun „sacro“. Nichtsdestoweniger wird diese Entbindung noch einmal als Prozess reflektiert, indem gesagt wird, dass sich der Autor während des Verfassens des Gedichts gänzlich verzehrt hat. An seiner Stelle sind Himmel und Erde zu jenen Instanzen geworden, die an das Gedicht Hand angelegt haben (das ist mehr und aktiver als „Anteil an etwas haben“, wie Gmelin übersetzt). „Cielo e terra“ – das impliziert: sowohl die heilige Sphäre des Himmels als auch die irdische Situation der Verbannung. Ausgerechnet dort, wo noch einmal mit großer Eindringlichkeit das Exil des Danteschen Ichs aufgerufen wird – es wird hier in seiner erzählenden Position akzentuiert als eines, dem das Exil nicht erst bevorsteht, sondern der es, wie der Autor Dante Alighieri gerade erleidet –, erscheint das „poema sacro“ als gänzlich losgelöst von seinem Autor. Insofern es die Grausamkeit der Verbannung besiegen kann, ist es „sacro“ und kann als solches auch nicht mehr als eines vorgestellt werden, das von seinem Autor geschrieben, d. h. berührt worden ist. Wenn das Ich als Dichter in seine Heimat einst zurückkehren sollte, weil das „poema sacro“ die Grausamkeit der Verbannung besiegen konnte, dann als ein gekrönter Dichter, der von der Idee, ein eigenes Gedicht geschaffen zu haben, Abschied genommen hat.

Epilog Unsere Lektüre der Commedia hat ihre innere Dynamik neu akzentuiert. Bringt man das Dantesche Ich als erzählende Instanz, von der gerade beschrieben wurde, wie sie in Paradiso XXV verabschiedet wird, noch einmal ins Spiel, so steht der Weg, der von dieser Instanz beschritten wird, im Zeichen des Einschreibens einer weiten Mitte, die die Ränder des Poems, die beide „sacrato“ sind, auseinanderhält. In dem Moment, da diese Ränder Gegenstand der Dichtung werden, in diese eingehen, um aus ihr ein „poema sacrato“ zu machen, fällt die erzählende Instanz von ihr ab. Sofern wir aber an dieser Instanz festhalten, erscheint das Gedicht als eines, das von seinen Rändern gleichsam in die durch sie gerahmte Mitte springt und diese Mitte wortwörtlich ausschreitet, ausdehnt und ausschreibt als einen Raum, der unermesslich reich an Worten, Gesten, Fragen und Zweifeln ist.1 In dieser Hinsicht ist Dante Alighieri, wie Auerbach pointiert hat, in der Tat Dichter der irdischen Welt. Diese Mitte, die an ihren Rändern von einer gleichsam unberührbaren Wiederholungsfigur eingekreist wird, bildet den dichterischen Raum der Durcharbeitung. Zwar dringen diese Ränder in ihn ein, indem sie ihn durchsetzen und sich auch in ihm wiederholen. Doch auf dem langen Weg durch die Mitte gelingt deren Umschrift in zahllose Erfahrungen von Differenz, die eine Suspension des einen Sinns von „sacrato“ ebenso wie einen Aufschub des anderen Sinns von „sacrato“ gewähren. Darin ereignet sich die narrative Zeit der Commedia als Zeit der Erfahrung und als Zeit des Lebens. Der Dichtung kommt eine doppelte Aufgabe zu: Einerseits ist sie aufgerufen, sich den Punkten traumatischer Inschrift und Insistenz auszusetzen, an denen Zeit, Geschichte und Narration als die ihr wesentlichen Elemente aufgehoben werden, andererseits besteht ihr Einsatz darin, eine Mitte bzw. wie wir bei Levi gesehen haben – eine Parenthese, eine Atempause, wie prekär auch immer diese sein mag – dort einzuschreiben, auszuschreiben und aufrechtzuerhalten, wo Anfang und Ende, erste und zweite Wiederholung drohen, sich in einem Kurzschluss zusammenzuschließen. Dies gilt auch für die untersuchten Werke von Kertész und Sebald. Dort hatten wir den Akzent auf die Erkundung der unscharfen und sich zu Zonen ausweitenden Ränder des Lagers gesetzt. Diese Ränder waren ebenfalls charakterisiert durch zahlreiche Momente schockartigen Zusammenfalls von einander 1 Geoffrey H. Hartman akzentuiert die Bedeutung des Ausschreibens der Mitte und Offenhaltens des Endes als einen lebenswissenschaftlich entscheidenden Impuls von Literatur, vgl. ders.: „The Voice of the Shuttle. Language from the point of View of Literature“ (1969). In: ders.: Beyond Formalism. Literary Essays 1958–1970. New Haven u. a.: Yale University Press 1970, S. 337–355.

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Epilog

ausschließenden Realitäten. Sprachlich manifestierte sich dies in Phänomenen der unheimlichen homophonen Nähe zwischen Austerlitz und Auschwitz, der anagrammatischen Inschrift des Lagers im Regal bei Sebald, sowie in der Infiltration des Erzählerdiskurses durch die NS-Lagersprache bei Kertész. Die besondere Leistung dieser beiden Erzählwerke ist darin zu sehen, dass sie sich, vor allem auf der Ebene der Signifikanten ihres discours, dieser traumatischen Äquivozität in extremer Weise aussetzen und dass es ihnen zugleich gelingt, diese aus ihrer Erstarrung zu lösen, indem sie sie diegetisieren, ohne sie dadurch allerdings in eine Eindeutigkeit überzuführen. Vielmehr schreiben sie die äquivoken Ränder als Mitte ihres Werkes aus. Ein letztes Mal sei ein Blick zurück an den Anfang der Commedia geworfen. „Nel mezzo del cammin di nostra vita“: Die Mitte ist hier schon benannt, als Mitte des Lebens, als der Punkt, an dem sich der eigene Weg als ein halber, ein abgeschnittener offenbart. Die Commedia als ganzes gesehen leistet die Umschrift dieses „mezzo“, das wie ein Ende schon erscheint, in eine immer weiter auszuschreitende Mitte. Sofern dies auch gültig ist für die drei anderen behandelten Werke aus dem Korpus der Holocaust-Literatur, ließe sich von allen gemeinsam sagen: Sie sind Teil des „mezzo“, des Mediums, das diese Aufgabe, ein Ende zur Mitte um- und auszuschreiben, auf sich zu nehmen bereit ist.

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Sachregister Äquivozität 55, 216, 225, 228, 265, 268 Abreaktion 27, 30 absens 53–55, 143 Abspaltung 10 Abwehr 21, 41, 47, 74, 84, 115, 146, 150–151, 182, 192, 261 Affekt 10, 24, 26–29, 31, 50, 70, 83, 115–116, 132–133, 144, 160, 163, 168, 172, 187, 206, 219, 231–233 – Affektabspaltung 39–40, 55–56, 83, 115 – Affektlosigkeit 10, 27, 134–135, 148 – Affektpolitik 132 Akzentverschiebung 12, 22, 38–39, 56, 208 Allegorie 196–197, 203, 243, 254 Anästhesie 133 Anagnorisis 31 Anagramm 176–177, 182, 208, 226, 268 Analogie 34, 124–125, 147, 182 Angst 26, 70, 86, 95, 103, 133–135, 140, 144, 151, 204–211, 222, 242, 244, 260 – Angstbereitschaft 43, 133 Anus mundi 104 Apophantisch 111–112 Apostrophe 71 Assoziation 29, 60, 74, 119, 122, 146, 158, 172, 187, 192 Aufschub 25, 31, 55, 63, 99, 121, 123, 125, 267 Auschwitz 2, 5, 55, 73, 81–82, 84, 91–92, 94, 97–98, 101–102, 104–105, 116, 118, 124, 126–130, 133, 137–138, 141, 147, 151, 153–155, 168, 186, 191, 194, 243, 268 Ausnahme 9, 25, 32–34, 36, 57, 93, 97, 99, 101, 182–183, 201–202, 239 – Ausnahmezustand 8, 33, 36 – Ausnahmsstellung 27, 32, 183 – Wirklicher Ausnahmezustand 25, 36, 38, 183 Auswendigkeit 75, 120, 194 Autobiographie 16, 81, 86, 91–93, 96, 98, 101, 105–106, 112, 115, 126, 132, 159, 207 Automatismus 140, 143, 145 Automaton 67

Begehren 85, 133–135, 216, 220, 240, 259 Camouflage 153, 167 Deixis 88, 137 Dekonstruktion 19 Deportation 5, 88, 90, 103, 125, 128–129, 156–157, 166, 174–175, 187, 192 Deutung 12–13, 31, 58–63, 66–67, 69–70, 72, 76, 225, 243 Diegese 116, 120, 250, 260 Discours 23, 56, 88, 124–125, 144, 158, 168, 171, 176, 207, 268 Durcharbeitung/durcharbeiten 7, 11, 24, 31, 52, 113, 116, 126, 195, 198–201, 210–211, 245, 254, 267 Echo 64, 69, 71, 74, 112, 169, 179, 192–193, 209, 248 Engel der Geschichte 25, 37 Entstellung 7, 62, 123, 146, 173, 194, 196, 204, 208, 223–224, 250 Epigraph 106, 108–109, 114–115 Erlkönig 75 Ethik 260 Euklydisch/er Raum 186 Evidenz / Evidenzeffekt 66, 140, 142–143 Familienähnlichkeit 156, 159–161, 163–164, 166, 168–169, 187 Fehlleistung 146, 183 Figura etymologica 203, 205, 208 Fiktion 104, 136–137, 168, 196 Fort/Da 48–52, 60, 63, 69–70, 88, 201 Fremdkörper 26–28, 31–32, 182, 200–201 Gedächtnislücke 119–120, 122 Gedenkort 4 Gegenrationalität 115 Geschichtsphilosophie 1, 10–11, 19, 27, 37, 159, 163, 186 Gleichschaltung 95 Grauzone 114 Gulag 103

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Sachregister

Heilung 24–25, 28–30, 43, 45, 47, 180, 191 Hermeneutik 138, 140, 162 Heterotopie 8–9, 13, 129–130, 180, 186 Heterotopien 186 Heterotopologie 7–8 Histoire 23, 56, 101, 109, 119, 123–125, 144, 158, 170, 207, 233 Holocaust 3, 7, 15–16, 20, 22–24, 35, 39, 41, 74, 97, 117, 127, 157–158, 245 – Allbrand 3, 73–77, 244–245 – Holocaust-Literatur 15, 21–23, 39–41, 53–54, 56, 146, 172, 198–199, 236, 248, 268 – Shoah 7, 21 – Vernichtung 2, 19–20, 34–36, 38, 53, 55, 82, 121, 157, 166, 172, 196 Humanismus 136 Hybridisierung 34 Hypnose 29, 31 Hypogramm 173, 177 Hysterie 24, 26, 28–31, 39–40, 51, 201, 231–232, 260, 269 Hysteron proteron 76, 110 Idylle 154 Imperativ 47, 53, 69–70, 82, 95, 108–114, 119, 213, 224, 226 Indikativ 111–113, 135 Infiltrat / Infiltrierung 31–32, 34, 128, 268 Inklination 243 Inschrift 164, 166, 168, 176–177, 182–183, 187, 267–268 Insistenz 6–7, 14, 16, 53, 89, 100, 105, 111, 113, 120, 148, 186, 191, 193, 195, 198, 236, 267 Intertextualität 7, 16, 75, 119, 125, 145, 149, 167–168, 191, 193–195, 199, 222, 236, 257 Inversion 34, 136, 176, 180, 182, 191, 212, 214, 220, 227–228, 232 Kaddisch 127 Katachrese 137 Katharsis 24, 29–30, 35, 53, 83, 94, 221, 223, 231–233 Kausalität 28, 38, 59 – Kausalitätsverhältnisse 59

klinisch 10, 66, 74, 76–77, 143 Koinzidenzpoetik 171 Kommunikation 86–87, 89, 122 Konjunktiv 135 Konversion 208, 212–216, 219, 221, 226, 228, 230–233, 239 – Konversionshysterie 230–233 Konzentrationslager 1–4, 32, 81, 128, 131, 135–136, 144–145, 147, 152, 156–158, 169–175, 178–179, 186, 194 Kopie / Kopieren 137, 177 Kulturelles Wissen 193 Kur 5, 30–31, 47–48, 57, 167–168 Lager 1–9, 11, 15–16, 21, 23, 25, 32–36, 42, 55, 73–74, 81–103, 105, 110–111, 114–115, 117–120, 122–126, 128–130, 132–137, 139, 141, 143, 145–146, 148–159, 164, 167–172, 174–185, 187, 191–192, 194–195, 243, 249–250, 267–268 – Lager-Appell 95, 110–111, 113 – Lagerisierung 2, 97, 171 – Lagerliteratur 13, 16, 83, 116, 119, 132, 194, 198–199, 236 – Regal 176–177, 182–183, 268 Lapsus 123 Latenz 27–28, 39, 42, 59 Lesen, das 12–13, 23, 55, 62, 67, 225 – Leseprozess 13 – Leseverfahren 12, 24, 62–63, 164, 177 Luftmensch 97 Lustprinzip 25, 42–46, 48, 51–52 Lysis 31 Möbiusband 95 Mangel 35, 134–135 Melancholie 43–44 Messianisch 95 Metapher / Metaphorizität 6, 71, 85, 94, 126, 135, 145, 147, 163–164, 171, 191, 195 Metonymie 118, 135, 172, 176, 187 Mimesis 30–31, 38, 65, 116, 136, 143, 198, 219, 234, 239 Mise en abyme 81, 91, 99, 105 Montage 7, 13–14, 52, 54–55, 63, 69–71, 74, 76, 109, 161, 232 Muselmann 131

Sachregister

Nachgeträumen 246 Nachträglichkeit 4, 10, 16, 21, 24, 31, 39, 56, 70, 137, 156, 168, 203, 236, 255 Nachträumen 61–62, 69, 72–73, 76, 245 Negation 35, 90, 136 Opfer 3, 19, 23–24, 41, 55, 114–115, 177, 239 – Opferidentität 12 – Opferrhetorik 55 Parenthese 81, 93–94, 105, 110, 119, 123, 125, 243, 267 Paronomasie 118, 166, 172, 206 Pathos 44, 81, 105, 123, 128, 132, 143, 146, 148, 194, 217, 219 Peripetie 91, 131 pervers, Perversion 114, 153, 155, 181, 216–217, 219, 227–228, 235 performativ, Performanz 13, 25, 52, 56, 108, 110, 118, 126, 146, 219 Phantasma 3–6, 8–9, 11, 14–16, 24, 34–35, 84, 90, 95, 99, 159, 169, 172, 177, 181–182, 184–185, 187 phantasmatische 171 Pharmakon 25, 38–39, 261 Philologie 1, 5, 10, 12, 16, 38, 54–55, 61–63, 70, 74–75, 77, 82, 118, 120, 122, 163–164, 198, 208, 225 Positivität des Verkennens 70 Pragmatik 63–64 Prosa 50, 83, 106–107, 112, 115, 122, 133, 168 Psychoanalyse 10–12, 15, 19–21, 23–24, 28–30, 32, 34, 38–41, 47–48, 53–54, 70, 116, 231 Rand 75, 267 Reales 54, 68–70 Redundanz 140, 142–143, 150 reenactment 14 Reflex 59, 111, 145–148, 161, 220, 238, 242 Regression 44–47, 54, 144, 152 Reizschutz 43, 85, 133, 262 Retardierendes Moment 119, 121 Rezitation, Re-zitation, Rezitieren 12, 55, 62, 83, 116, 118–123, 126, 194 Ritorno 15, 81, 83, 93, 114, 254

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Sacro, sacrato 196, 208, 262–267 Schauplatz 75, 186, 215, 231–232 Schock 4, 11, 24, 26–28, 115, 133, 182, 219, 254, 257–260, 267 Schwelle 49, 65, 70, 111, 127, 141, 148, 210, 214, 241–242, 247, 262, 265 Schwellen 148 Sermo humilis 149, 233 Sexualität 25, 40–42, 53–55 Shema / Shemà 105–112, 114, 116, 119 Sichtbarkeit, Unsichtbarkeit 4 Signatur 88, 160–163, 166 Simulakrum 34 Spiral/e 121, 212, 214 Sprachlosigkeit 88, 199, 236, 241, 262 Sprachnot 203–204, 207–208, 211 Sprachspiel 47, 160 Staub 145–149 Staunen, philosophisches 36–37 Stellvertretung 65, 172, 239 Stummheit, Verstummen 14, 19, 23, 52, 70, 74, 76, 87–88, 167, 172, 197, 217, 237 Subjektivität 83, 99–100 Surréalité 91 Syllogismus/en 139, 150 Symptom 7, 26, 28–32, 68, 85, 121, 139–140, 143–144, 147, 210, 231–232 Täterperspektive 12, 55 Tagebuch 98, 100 Taktil 62 Terror 21, 34, 55, 89, 91, 110, 152 Terza rima 206, 233 Terzine 120, 122, 202, 213, 230, 257, 265 The Rime of the Ancient Mariner 113 Theodizee 131 Theologie, theologisch 196–199, 222, 248, 251 Tic 25, 140, 143–144, 146 Topographie, topographisch 2–5, 7, 10, 34, 36, 164, 166, 171, 186–187 Topos 44, 145, 248 Torsion 214, 223, 227, 235–236, 246, 248, 251 Totalitarismus, totalitär 88, 94, 134–136, 140, 143, 147, 152–153, 194 Tragödienpoetik 30–31

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Sachregister

Trauer 43–44, 51–52, 54, 66, 70, 74, 238 Traum 4, 9, 15, 41, 43, 50, 52, 57–70, 72–74, 76–77, 84–96, 99, 103–106, 110, 158, 163, 239, 243–246, 260 – Alptraum 15, 48, 52, 83, 90, 116, 186, 243 – Traumarbeit 59–60, 62, 69 – Traumdeutung 4, 15, 57–60, 66, 69 – Traumerzählung 58–64, 66–68, 71, 73–76, 86, 88–89, 95, 110 Trauma 6–7, 10–12, 14–16, 19, 21–28, 31–34, 38–48, 52–56, 63, 68, 74, 83–85, 109, 115–116, 124, 126–127, 152, 164, 183, 196–198, 201, 208, 214, 219, 231, 236, 255, 259, 265, 268 – Festschreibung (des Traumas) 12, 19 – posttraumatischen Belastungsstörung 23 – Sakralisierung (des Traumas) 44 – Traumatische Neurose 41, 43 – Traumatisierung 38, 40, 42, 69, 135, 174, 182 – Universalisierung (des Traumas) 20 Traumatisierter Raum 6, 9, 12, 15, 19, 25, 31–35, 81, 155, 158–159, 184, 186, 250 Trieb 24–25, 39–40, 42, 44–48, 52, 197, 222, 240 – Dichtungstrieb 230 – Ich-Trieb 45–46 – Selbsterhaltungstrieb 40 – Sexualtrieb 39, 45–46, 56 – Todestrieb 45–46, 121 Trope, tropisch 7, 122, 124–126, 135, 137, 145–149, 194 Tyche 67 Überdeutung 62 Überleben 21, 40, 97, 111, 114–115, 117, 121, 128, 130–131, 139, 153–154

Überlieferung 73, 76, 193 Übertragung 16, 22–24, 38, 55, 57, 68–70, 72–73, 159, 169, 222, 225, 246 Umschrift 6, 51, 112–114, 148, 261, 265, 267–268 Unbewusstes 16, 30, 43, 60, 62, 67, 72, 75, 111, 113, 119–120, 146, 182, 187 Unfall 26–27, 42–43, 48, 50, 52, 256, 265 – Un-Fall 26 – Unfallneurotiker 42, 48, 50, 52 Verdrängung 134 Verschiebung 4, 12, 15, 28, 39, 51, 53, 55, 58–59, 63, 67, 73, 93, 112, 131, 163, 166, 173, 178, 186, 194, 209, 214 Vertere 226 Verwaltungssprache 128, 137, 139 Vexierbild 9, 92, 180 Wiederholung, wiederholen 10–12, 23–24, 26, 30–31, 39, 42–43, 45–54, 64, 67–69, 75, 102, 105, 108, 112, 120, 122, 143, 150, 195–196, 198, 200, 204–205, 211–212, 219, 229, 240, 258, 267 Wiederholungszwang 6–7, 43, 46–48, 52, 231 Wunsch 15, 43, 59, 62, 95, 110–111, 259, 264 Zauderrhythmus 45 Zeitlosigkeit 100, 198–200 Zeugenschaft 5–6, 15, 20, 22, 81–82, 91, 105–106, 111, 115–116, 122, 145, 158, 174, 191–192 Zitat 12, 62, 75, 83, 116, 119, 123–124, 126, 146–147, 193, 221 Zwangsgemeinschaft 89, 158, 169, 187