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German Pages 456 Year 2016
Schriften zum Strafrecht Band 302
Anerkennung und ordre public am Beispiel der Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
Von
Stefan Schumann
Duncker & Humblot · Berlin
STEFAN SCHUMANN
Anerkennung und ordre public
Schriften zum Strafrecht Band 302
Anerkennung und ordre public am Beispiel der Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
Von
Stefan Schumann
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.
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© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-14562-1 (Print) ISBN 978-3-428-54562-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84562-0 (Print & E-Book)
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2013 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation vorgelegt. Die Disputation der Arbeit erfolgte im Sommer 2014. Am Beispiel der Vollstreckungshilfeleistung bei freiheitsentziehenden Sanktionen im Rechtshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustitieller Entscheidungen, seine Entwicklung, primärrechtliche Verankerung und sekundärrechtliche Ausgestaltung ebenso wie seine Grenzen aus unions- und verfassungsrechtlicher Perspektive untersucht. Die Vollstreckungshilfe ist als Referenzgebiet für diese Untersuchung herangezogen worden, weil mit ihrer Leistung die weitestgehende Anerkennung der Strafrechtsordnung eines anderen Mitgliedstaates im Rahmen des durch Rechtshilfe international-arbeitsteiligen Strafverfahrens einhergeht, die mit gravierenden Veränderungen der tatsächlich zu verbüßenden Strafe verbunden sein kann. Kam die Vollstreckungshilfe in der Vergangenheit eher selten zur Anwendung, so lassen nicht nur die aktuellen Umwälzungen in Europa ihre steigende Bedeutung für die Praxis erwarten. Vielmehr hat auch der Bundesgesetzgeber mit Gesetz vom 24. Juli 2015 den Vollstreckungshilfeverkehr sowohl mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union als auch mit Drittstaaten neu geregelt und damit den für die vorliegende Studie zentralen Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung (RB 2008/909/JI) in innerstaatliches Recht umgesetzt. Für die Drucklegung der Arbeit, die in Teil 1–3 den Stand vor Umsetzung widerspiegelt, wurde, um den Bogen der Arbeit zu erhalten und zu erweitern, in Teil 1–3 auf die Neuregelung hingewiesen, soweit zum Verständnis bzw. zur Klarstellung notwendig, und ergänzend ein 4. Teil angefügt, der den zentralen Ergebnissen der Arbeit die mit der Neuregelung gewählten gesetzgeberischen Lösungen gegenüberstellt. Literaturverweise sind auf dem Stand bei Abgabe der Arbeit, nach Fertigstellung der Dissertation ergangene wesentliche Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union wurden, soweit möglich, eingearbeitet. Der Beschluss des BVerfG zur Identitätskontrolle (15.12.2015, 2 BvR 2735/14) wurde noch in die Nachweise einbezogen. An dieser Stelle möchte ich mich besonders bedanken bei Professor Dr. Gerhard Dannecker, nicht nur für die Anregung, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung am Beispiel der Vollstreckungshilfe zu untersuchen, sondern auch für die Übernahme der Erstbegutachtung der vorliegenden Arbeit. Danken
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Vorwort
möchte ich ihm ebenso für die lehrreiche Zeit als Wissenschaftlicher Assistent an seinem Lehrstuhl mit vielen wertvollen Anregungen und Diskussionen. Danken möchte ich ebenso Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter-Christian Müller-Graff für die Übernahme der Zweitbegutachtung der Arbeit sowie für spannende und lehrreiche Diskussionen, besonders während meiner Zeit am Europarechtsinstitut der Universität Wien. Besonders danken möchte ich auch RA Univ.-Prof. Dr. Richard Soyer, als dessen Habilitand ich an der Abteilung für Unternehmensstrafrecht und Strafrechtspraxis der Johannes Kepler Universität Linz tätig sein darf, für seine stete Unterstützung und Förderung. Frau Univ.-Prof. Dr. Petra Velten danke ich für ihre stete Bereitschaft, strafrechtliche Fragen und Thesen zu diskutieren. Herzlich danken möchte ich auch Frau ao. Univ.-Prof. Dr. Gerte Reichelt für wohlwollende Förderung während meiner Zeit in Wien. Für ihre wertvolle Hilfe bei der Drucklegung der Arbeit danke ich Mag. Katrin Forstner. Großer Dank gebührt aber vor allem meiner Familie, Nele und Karin, die während der Fertigstellung der Arbeit oftmals viel Geduld haben mussten, mir aber stets den nötigen Rückhalt geben. Linz, im Juli 2016
Stefan Schumann
Inhaltsübersicht Einführung: Gegenstand, Zielsetzung und Methodik
37
A. Einführung in das Thema der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
B. Vier grundlegende Fragestellungen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
C. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
D. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
E. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil 1 Rechtliche Einordnung, Ziele und Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe
64
Kapitel 1 Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit einer Vollstreckungshilfe
64
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
B. Ableitungen für die Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . .
97
C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential . . . . . . . . . . . . . . . 115
Kapitel 2 Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung
141
A. Völkervertraglich geregelte Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 B. Gesetzliche Vollstreckungshilfe vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 C. Ordre public-Grenze der Vollstreckungshilfe gegenüber Mitgliedstaaten der EU in der Konzeption des § 73 IRG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
8
Inhaltsübersicht Kapitel 3 Konzeption der Vollstreckungshilfe durch den Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung
170
A. Konzeptionelle Vorüberlegungen der Neuregelung: Vollstreckungshilfe aus Sicht der Strategieprogramme, Aktions- und Leitpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 B. Regelungsziele des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung 183 C. Geltungs- und Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 D. Terminologie des Rahmenbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 E. Kennzeichen der Grundkonzeption: Grundsätzlich zwingende Anerkennung sowie Verfahrensbeschleunigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 F. Grundsätzlicher Verzicht auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit . . . . . . . 193 G. Fallgruppendifferenzierung nach Resozialisierungschancen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 H. Initiativ- und Beteiligungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 I. Anerkennung der Sanktion und ihre Vollstreckung im Lichte der Strafzwecke und des Strafvollzugsziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 J. Beurteilung der Resozialisierungschancen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 K. Zusammenfassende Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Teil 2 Maßstab und Grenzen der Vollstreckungshilfe
243
Kapitel 1 Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen der Europäischen Vollstreckungsanordnung
243
A. Rechtsgrundlage des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung und Konsequenzen der Lissabonner Vertragsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 B. Wahrung der Kompetenzausübungsschranken bei Erlass des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 C. Primärrechtliche Auslegungsmaßstäbe und Grenzen für die Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze . . . . . . . . . . 271 E. Vollstreckungsüberstellung und unionsrechtliche Freizügigkeitsrechte . . . . . . . . 310 F. Rechtsform des Rahmenbeschlusses und mitgliedstaatliches Recht – Vorrang des Unionsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 G. Zusammenfassende Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
Inhaltsübersicht
9
Kapitel 2 Grenzen der Vollstreckungshilfe aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung
331
A. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit – notwendig oder verzichtbar? . . . . . . . . 331 B. Ordre public als Grenze der Vollstreckungshilfeleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 C. Konsequenzen für die Umsetzung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung in deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Kapitel 3 Grenzen der Vollstreckungshilfe nach der Konzeption des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung sowie im Lichte der Ergebnisse der Untersuchung
352
A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . 352 B. Verbleibender Schutzbedarf des ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Teil 3 Zusammenfassende Schlussfolgerungen
374
A. Ziele der und Bedürfnis für Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 B. Vergleich der Vollstreckungshilfe vor dem Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung mit dessen Neukonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 C. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 D. Schlussfolgerungen zur Legitimation der Europäischen Vollstreckungsanordnung und Anforderungen an ihre Handhabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 E. Weitergehender Integrationsbedarf im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 F. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 G. Kernthesen zu Anerkennung und ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Teil 4 Die Neuregelung der deutschen Vollstreckungshilfe im Rechtshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten derEU mit Wirkung zum 18. Juli 2015 – Überprüfung und Bewertung anhand zentraler Studienergebnisse 388 A. Neuregelung und zentrale Studienergebnisse – Zielsetzung des Vergleichs . . . . 388 B. Gesetzliche Grundkonzeption der Neuregelung der Vollstreckungshilfe . . . . . . . 389
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Inhaltsübersicht
C. Beiderseitige Strafbarkeit und nationale ordre public-Grenze der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 D. Gefahr systemwidriger Beeinflussung des Maßes der tatsächlichen Strafverbüßung und zeitliche Meistbegünstigung bei Aussetzung zur Bewährung . . . . . . . . 393 E. Absicherung des Resozialisierungsziels der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . 396 Anhang: Rahmenbeschluss 2008/909/JI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451
Inhaltsverzeichnis Einführung: Gegenstand, Zielsetzung und Methodik
37
A. Einführung in das Thema der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
B. Vier grundlegende Fragestellungen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vollstreckungshilfe zwischen nationalem Strafrecht und transnationaler Wertegemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausmaß der Neuerungen der Rechtshilfe durch Implementierung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grenzen der Anerkennung aus Sicht des Primärvertragsrechts und des deutschen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Weitergehender Harmonisierungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41 41
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C. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Formen der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterscheidung nach der Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein- und ausgehende Ersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vollstreckungsübertragung mit oder ohne Überstellung des Verurteilten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Überblick über die Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . 1. Überstellungsübereinkommen des Europarates (1983) und ergänzende völkerrechtliche Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . 3. Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) . . . . . III. Rechtsfragen der Vollstreckungshilfe im dogmatischen Konzept eines „international-arbeitsteiligen Strafverfahrens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterschiede im materiellen Strafrecht einschließlich des Sanktionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unterschiede im Strafvollstreckungsrecht einschließlich der Regelung der Strafrestaussetzung zur Bewährung und im Strafvollzug . . . . . . . . .
42 43 43 44
D. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtliche Einordnung und Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe . . 1. Rechtliche Einordnung und Ziele der sowie Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe de lege lata . . . . . . . . . . . . . .
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44 45 46 46 48 49 50 52
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Inhaltsverzeichnis
II.
III.
3. Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . Maßstab und Grenzen der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen der Europäischen Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzen der Vollstreckungshilfe aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzen der Vollstreckungshilfe nach der Konzeption des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung sowie im Lichte der Ergebnisse der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenführung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . .
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Teil 1 Rechtliche Einordnung, Ziele und Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe
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Kapitel 1 Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit einer Vollstreckungshilfe A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtshilfe als Element eines international-arbeitsteiligen Strafverfahrens zur Durchsetzung einer transnationalen Werteordnung . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff der Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. International-arbeitsteiliges Strafverfahren als Kompensation territorial beschränkter Hoheitsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Transnationale Werteordnung als Voraussetzung und Grenze einer Rechtshilfeleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Strafrecht als Schutz unterschiedlicher gesellschaftlicher Wertvorstellungen nur eingeschränkt transnational vergleichbar . . . . . . . . . . b) Wertegemeinschaft als Determinante von Reichweite und Grenzen der Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Dogmatische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Außen- und Innenverhältnis des Vollstreckungshilferechts – Innerstaatliche Grundrechte als „Vollstreckungshilfegegenrechte“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsquellenvielfalt und -hierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Außen- und Innenverhältnis des Rechtshilferechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Innerstaatliche Grundrechtsanforderungen im Außenverhältnis der Rechtshilfe – Grundrechte als „Auslieferungsgegenrechte“? . . . . . . . . . a) Zweidimensionale völkerrechtliche Betrachtungsweise – Begrenzung nur durch ius cogens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dreidimensionale Vollzugsaktstheorie – innerstaatliche Grundrechte als „Auslieferungsgegenrechte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
III.
IV.
c) Vermittelnder Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schlussfolgerungen für die Rolle der innerstaatlichen Grundrechte als verfassungsrechtliche Grenze einer Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . a) Zwingende Einbeziehung der Vollzugsebene bei der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sachliche Reichweite der Grundrechtsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Formale Prüfungsintensität: Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Maßstab der Prüfung: Dem innerstaatlichen Verfahren gleichwertiger Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Einordnung und Grundrechtsbindung des Freiheitsentzugs bei der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vollstreckungshilfe zwischen Rechtshilfe und Strafvollzug . . . . . . . . . . 2. Gesetzes- und Richtervorbehalt, Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG i.V. m. Art. 104 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Im Wesentlichen gleichwertige Anforderungen nach Art. 6 EU-GRCh 4. Prüfungsmaßstab in der vorliegenden Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchsetzung der Sanktion und Übernahme des Vollzugs der Sanktion als Elemente der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterscheidung von Strafvollstreckung und Strafvollzug . . . . . . . . . . . . a) Strafvollstreckung als Regelung des Ob der Verwirklichung der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Strafvollzug als Regelung des Wie der Verwirklichung der Strafe . . 2. Strafzwecke und Strafvollzugsziel als Determinanten der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schuldausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Spezialprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Resozialisierungsziel des Strafvollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B. Ableitungen für die Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . I. Problem: Zusammenhang von Strafübel, Strafvollstreckung und Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beeinflussung des tatsächlich verbüßten Strafübels durch Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vielfalt der Vollzugsformen trotz Regelfalls der einheitlichen Freiheitsstrafe; Unterschiede bei den Haftbedingungen . . . . . . . . . . . . . . b) Unterschiede im Strafvollstreckungsrecht, insbesondere bei der bedingten Entlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mögliche Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aus Sicht des Urteilsstaates: Ablehnung der Vollstreckungsüberstellung aufgrund Bedrohung effektiver Sanktionierung . . . . . . . . . . b) Aus Sicht des Verurteilten: Veränderung des (wahrscheinlich) zu verbüßenden Strafübels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis II.
III.
IV.
Lösungsansatz und Hypothesenbildung: Ausgestaltung der Vollstreckungshilfe im Prozess des Strafens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hypothese: Lokalisierung retributiver und präventiver Strafzwecke im transnationalen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antithese: Determinierung der Strafvollstreckung durch alle Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypothesenprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schuldausgleich und Präventionszwecke bei der Strafzumessung, § 46 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz der schuldangemessenen Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Berücksichtigung präventiver Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Limitierung präventiver Erwägungen durch die Schuld . . . . . . . . . . . 2. Effektuierung der Strafzwecke durch das Ob der Strafvollstreckung . . 3. Aussetzung des Strafrests zur Bewährung, §§ 57 ff. StGB . . . . . . . . . . . a) Rein spezialpräventiv ausgerichtete Verantwortungsprognose bei 2/3-Entlassung, § 57 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ermessensentscheidung über Halbstrafenentlassung, § 57 Abs. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bedingte Entlassung aus lebenslanger Freiheitsstrafe und Schuldschwere, § 57a StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Systematik der Regelungen zur bedingten Entlassung und Grundsatz der schuldangemessenen Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential . . . . . . . . . . . . I. Resozialisierungserschwernisse, individuelle und systemische Vollzugsbelastungen beim Strafvollzug an nicht integrierten Ausländern . . . . . . . . . 1. Rechtsgrundlagen des Strafvollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vollstreckungsrechtliche Sonderregelung des § 456a Abs. 1 StGB . . . . 3. Gefährdung des Resozialisierungszieles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sprachbarriere und/oder abweichender kultureller und religiöser Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausweisung und Abschiebung versus Wiedereingliederung . . . . . . . c) Weitgehender Ausschluss vom offenen Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ausschluss von resozialisierenden Vollzugslockerungen sowie Hafturlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ausschluss von Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten sowie therapeutischen Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Entlassungsvorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Systemische Resozialisierungshindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Formalgesetzliche Gleichbehandlung und faktische Differenzierung . . II. Quantitative Vollzugsbelastungen, Potential der Europäischen Vollstreckungsanordnung und deutsche Vollstreckungshilfepraxis . . . . . . . . . . . . . .
103 104 105 105 106 106 107 107 108 109 110 111 112 112 113 115 116 116 118 119 120 120 122 123 124 126 127 127 128
Inhaltsverzeichnis
III.
1. EU-Ausländeranteil an der Haft- und Gesamtpopulation in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. EU-Ausländeranteil an der Haftpopulation in ausgewählten anderen Mitgliedstaaten der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eigene Berechnungen auf Basis des European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eigene Berechnungen auf Basis der SPACE-Statistik (2010) . . . . . . c) Studie „Foreigners in European Prisons“ von van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel (2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erhebungen auf Basis der Integrierten Vollzugsverwaltung für Österreich (2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gegenwärtige Praxis der Vollstreckungshilfe in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Von Deutschland ausgehende Ersuchen um Vollstreckungshilfe . . . b) An Deutschland gerichtete Ersuchen um Vollstreckungshilfe . . . . . Zusammenfassende Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 2 Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung A. Völkervertraglich geregelte Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Europaratsübereinkommen zur Überstellung verurteilter Personen (1983) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Geltung für alle Mitgliedstaaten der EU und weitere Staaten . . . . . b) Nur Überstellungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Übernahme eigener Staatsangehöriger und Möglichkeit zur Erweiterung auf gleichzustellende Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überstellungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erfordernis der Zustimmung des Verurteilten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verbleibende Mindestverbüßungsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Initiativrecht von Urteils- und potentiellem Vollstreckungsstaat; Anregungsrecht des Verurteilten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regelung im Überstellungsübereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Resozialisierungsgebot begründet Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung durch deutsche Vollstreckungsbehörde . . . . . . . . 4. Entscheidung des ersuchten Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Offene Entscheidungsmöglichkeit des ersuchten Staates nach Überstellungsübereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
II.
III.
b) Resozialisierungsgebot begründet Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung durch deutsche Vollstreckungsbehörde . . . . . . . . . 5. Keine Regelung von Versagungsgründen oder ordre public-Klausel; Erklärung der Bundesrepublik Deutschland über Grenzen der Vollstreckungsübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Umgang mit der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übernahme der im Urteilsstaat verhängten Sanktion durch Adoption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umwandlung der Sanktion durch Exequatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Vollstreckung nach dem Strafvollstreckungsrecht des Vollstreckungsstaates; Gnaden- und Amnestierecht von Urteils- und Vollstreckungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergänzende und modifizierende völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . 1. Abkommen über die Anwendung des Übereinkommens des Europarates über die Überstellung verurteilter Personen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Mai 1987 . . . . a) Erstreckung des Anwendungsbereichs des Europaratsübereinkommens auf rechtmäßig permanent Aufhältige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eingeschränkte Anwendbarkeit mangels hinreichender Ratifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitel 5 SDÜ (1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Europaratsübereinkommens zwischen den Schengen-Staaten auf Fluchtfälle . . . . . . . . . . . . b) Entfall des Zustimmungserfordernisses des Beschuldigten in Fluchtfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusatzprotokoll des Europarates zum Europaratsübereinkommen (1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Parallelregelung zu Kapitel 5 SDÜ auf Europaratsebene . . . . . . . . . . b) Weitergehende Einschränkung des Zustimmungserfordernisses des Verurteilten bei aufenthaltsbeendigender Entscheidung des Urteilsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ratifikationsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. EG-Vollstreckungsübereinkommen (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vollstreckungsübernahme bei Aufenthaltsstaat im Konsens mit dem Urteilsstaat; kein Erfordernis der Zustimmung des Verurteilten b) Geringer Ratifikationsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassende Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Gesetzliche Vollstreckungshilfe vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 I. Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 II. Exequatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Inhaltsverzeichnis C. Ordre public-Grenze der Vollstreckungshilfe gegenüber Mitgliedstaaten der EU in der Konzeption des § 73 IRG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Exklusivitätsverhältnis von § 73 S. 1 zu S. 2 IRG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bedeutung des § 73 S. 2 IRG für die Vollstreckungshilfe mit den Mitgliedstaaten der EU bei freiheitsentziehenden Sanktionen de lege lata und de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetzliche Vollstreckungshilfe de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendbarkeit des § 73 S. 2 IRG auf die vertragliche Vollstreckungshilfe de lege lata? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anwendbarkeit des § 73 S. 2 IRG auf das Umsetzungsrecht über die Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Inhalt des Verweises auf den europäischen ordre public . . . . . . . . . . . . . . . 1. Statische Verweisung auf Art. 6 EU a. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einbeziehung der Grundrechtecharta und Rechtsprechung des EuGH zur Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anknüpfung an Art. 6 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kritische Stellungnahme zur dogmatischen Tragfähigkeit des Ausschlusses des nationalen ordre public als Grenze der Rechtshilfe für Mitgliedstaaten der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 3 Konzeption der Vollstreckungshilfe durch den Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung A. Konzeptionelle Vorüberlegungen der Neuregelung: Vollstreckungshilfe aus Sicht der Strategieprogramme, Aktions- und Leitpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Programmatische Vorgaben des Europäischen Rates . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konzeption der Umsetzung durch Rat und Kommission . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtspraktische Überlegungen und Zielkonkretisierung – Mitteilung der Kommission an den Rat und das Parlament zur gegenseitigen Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen (2000) . . . . . . . . . . . a) Verfolgung von Rechtsdurchsetzungsziel und Resozialisierungsziel sowie Anerkennung des Primats des Wohnsitzkriteriums . . . . . . . . . b) Anerkennung des Urteils und Verfahrensvereinfachung durch Adoption der getroffenen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vice versa Anerkennung der Vollstreckung und Verfahrenserleichterung durch ausschließliche Anwendung des Vollstreckungsrechts des Vollstreckungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Durchsetzung des Anerkennungsgrundsatzes und Verfahrenserleichterung durch Verzicht auf Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Kritisches Fazit: Fokussierung allein auf möglichst umfassende Anerkennung sowie Praktikabilität und Verfahrensvereinfachung . . . .
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Inhaltsverzeichnis 2. Grundkonstruktion und Bausteine des Anerkennungsmodells – Maßnahmenprogramm von Rat und Kommission zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Modulare Parameter zur sekundärrechtlichen Umsetzung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zielgewichtungen und Regelungseffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsprobleme der Vollstreckungshilfe – Grünbuch der Kommission über die Angleichung, die gegenseitige Anerkennung und die Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen in der Europäischen Union (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einfluss der Vollstreckungshilfe auf das erlittene Strafübel – Problembewusstsein und Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Probleme des Strafvollzugs an nicht integrierten Ausländern . . . . . . c) Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts – Nichtdiskriminierung von Unionsbürgern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Initiativrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Beschränkung der Versagungsgründe und Mindestanforderungen an die Strafvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Fazit: Rechtliches Problembewusstsein; Priorität der Sanktionsdurchsetzung als Voraussetzung eines effektiven Vollstreckungshilfeinstruments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B. Regelungsziele des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Resozialisierungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Sanktionsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Geltungs- und Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vollstreckungsübertragung mit und ohne Überstellung . . . . . . . . . . . . . . 2. Jegliche freiheitsentziehende Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Räumlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Inkrafttreten, Umsetzungsfrist und befristete Übergangsregelung . . . . . . . . 1. Inkrafttreten, Umsetzungsfrist und vertragsverletzende Nichtumsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übergangsregelung für Polen als rechtlich differenzierte Integration . .
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D. Terminologie des Rahmenbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 E. Kennzeichen der Grundkonzeption: Grundsätzlich zwingende Anerkennung sowie Verfahrensbeschleunigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 I. Ausgestaltung als rein justizielles Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
Inhaltsverzeichnis
II.
III.
1. Entfall des politischen Ermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beibehaltung der Trennung in Zulässigkeits- und Bewilligungsentscheidung im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschleunigung durch Formalisierung und Fristsetzung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Standardisierte Bescheinigung statt Urteilsübersetzung . . . . . . . . . . . . . 2. Fristsetzungen für Anerkennungsentscheidung und, wenn nötig, Überstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzlich zwingende Anerkennung und Einschränkung der Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anerkennung als weitgehend eingeschränkte Ermessensentscheidung . 2. Zumindest teilweise Anerkennung nach fakultativem Konsultationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
F. Grundsätzlicher Verzicht auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit . I. Rechtshilfe limitierende und einer Verfahrensbeschleunigung entgegenstehende Wirkung eines Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit . . . . . . II. Ersetzung des Erfordernisses durch den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unionsrechtliches Konzept der Abschaffung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit als Anerkennungsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . a) Zwingende Abschaffung des Erfordernisses bei Delikten mittleren und höheren Schweregrades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nichtvorliegen beiderseitiger Strafbarkeit bei sonstigen Delikten nur fakultativer Versagungsgrund für die Anerkennung . . . . . . . . . . 2. Bloßer teilweiser Prüfungsverzicht nach der Konzeption des deutschen Umsetzungsrechts zum Rahmenbeschluss Europäischer Haftbefehl? . . a) Anordnung des Entfalls der Überprüfung des Vorliegens beiderseitiger Strafbarkeit bei Listendelikten gem. Art. 2 Abs. 2 RB 2002/ 584/JI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmsweise materieller Verzicht auf das Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit nach (funktional durch § 84a Abs. 3 IRG ersetzten) § 80 Abs. 4 IRG bei Leistung von Vollstreckungshilfe . . . . . . . 3. Listenkonzept und Achtung der unterschiedlichen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Konzeptionelle Modifikationen des Verzichts auf die beiderseitige Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Adaption des Listenkonzepts in Abhängigkeit von der Schwere des mit der Vollstreckung der Entscheidung verbundenen Rechtseingriffs 2. Zwingende Abschaffung bei Europäischer Vollstreckungsanordnung nicht mehr vorbehaltlos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Systematisierung der Entwicklungsstufen und Zukunftsprognose . . . . .
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G. Fallgruppendifferenzierung nach Resozialisierungschancen . . . . . . . . . . . . . . 204 I. Vollstreckungsstaat als Heimatstaat und Lebensmittelpunkt oder Abschiebungsziel zur Übernahme verpflichtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
20
Inhaltsverzeichnis II.
Vollstreckungsstaat stimmt Übernahme im Einzelfall oder generell zu . . . 1. Einzelfallbezogene Zustimmung des Vollstreckungsstaates . . . . . . . . . . 2. Möglichkeit zu genereller Zustimmung des Vollstreckungsstaates . . . . a) Bei rechtlich verfestigtem Aufenthalt des Verurteilten . . . . . . . . . . . b) Bei eigenen Staatsangehörigen in nicht vom gesetzlichen Entfall erfassten Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205 205 205 205
H. Initiativ- und Beteiligungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Alleiniges Initiativrecht des Ausstellungsstaates; Ermessenskonkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Subjektives Recht des Verurteilten auf ermessensfehlerfreie Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abwägungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Teilweise Kompensation durch Zustimmungserfordernis des Vollstreckungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zustimmungserfordernis des Verurteilten; Entfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzlich Zustimmung erforderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahmsweiser Entfall des Zustimmungserfordernisses . . . . . . . . . . . . 3. Rechtliche Ausnahme als faktischer Regelfall? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung des Zustimmungserfordernisses und seines Entfalls . . . . . . . 5. Zeitlich begrenztes unbedingtes Zustimmungserfordernis des Verurteilten im Vollstreckungshilfeverkehr mit Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Unbedingtes Stellungnahmerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207
I. Anerkennung der Sanktion und ihre Vollstreckung im Lichte der Strafzwecke und des Strafvollzugsziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anerkennung der Sanktion, nur ausnahmsweise Anpassung bei Unvereinbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundsatz: Recht des Vollstreckungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anrechnung bereits verbüßter Haft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zugemessene Strafe und tatsächliche Verbüßungsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedingte Entlassung als „Quasi“-Korrektur der richterlichen Strafzumessung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Regeln der bedingten Entlassung versus Sicherung effektiver Sanktionsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weiches Meistbegünstigungsprinzip nach Art. 17 Abs. 4 RB 2008/ 909/JI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwingende Meistbegünstigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prinzip des Vertrauensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Recht auf persönliche Freiheit, Art. 6 EU-GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
206
207 207 208 208 209 209 210 211 211 212 213 214 214 215 215 217 217 220 224 225 227 228 232 236
Inhaltsverzeichnis J. Beurteilung der Resozialisierungschancen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Behörden des Urteilsstaates als Adressaten der Prüfungspflicht . . . . . . . . . II. Beurteilungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fakultative und zwingende Konsultation des Vollstreckungsstaates . . . . . . IV. Einbeziehung weiterer Entscheidungskriterien, insbesondere weiterer Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21 237 237 238 239 240
K. Zusammenfassende Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Teil 2 Maßstab und Grenzen der Vollstreckungshilfe
243
Kapitel 1 Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen der Europäischen Vollstreckungsanordnung A. Rechtsgrundlage des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung und Konsequenzen der Lissabonner Vertragsreform . . . . . . . . . . I. Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Art. 31 Abs. 1 lit. a, Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EUV a. F. als Rechtsgrundlage des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . 1. Materielle Unionskompetenz gemäß Art. 31 Abs. 1 lit. a EU a. F. . . . . 2. Rechtsform des Rahmenbeschlusses zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ersetzung der Rechtsgrundlagen durch die Lissabonner Vertragsreform und ihre Folgen für die Beurteilung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überleitung des Rahmenbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anordnung der potentiell zeitlich unbeschränkten Weitergeltung des Rahmenbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befristete Fortgeltung der beschränkten Kompetenzen von Kommission und EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 31 EU a. F. und dessen Ersetzung durch Art. 82 AEUV infolge der Lissabonner Vertragsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konsequenzen für die anwendbaren Maßstäbe zur Beurteilung der Rechtsetzung und der Primärrechtskonformität sowie zur Auslegung .
243
244 245 246 247 248
248 248 248 249 250 251
B. Wahrung der Kompetenzausübungsschranken bei Erlass des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 I. Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 1. Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips als Kompetenzausübungsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
22
Inhaltsverzeichnis
II.
2. Beurteilung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung anhand des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
C. Primärrechtliche Auslegungsmaßstäbe und Grenzen für die Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Unionsziel eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts . . . . . 1. Historische Genese: Aufwertung der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einfügung durch den Amsterdamer Reformvertrag . . . . . . . . . . . . . . b) Neuverortung durch den Lissabonner Reformvertrag . . . . . . . . . . . . . 2. Wortlaut der Zielbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verknüpfung des Raumzieles mit den unionsrechtlichen Freizügigkeitsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erfordernis der Kohärenz des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung mit den Freizügigkeitsrechten . . . . . . . . . . 3. Ausgleichsfunktion für die Freizügigkeit: Sicherheitsgewährleistung als herausgehobenes Teilziel, Art. 67 Abs. 3 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sprachliche Aufwertung des Raumziels als Ausdruck der Wertegemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Achtung der Menschenwürde und Wahrung der Menschenrechte als Grundwerte der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtsgewährleistungen gemäß Art. 6 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV: „[. . .] und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden“ . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV als lex specialis zu Art. 4 Abs. 2 EUV . . 2. Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV als Kompetenzausübungsmaßstab . . . . . . 3. Sachgebietliche Konkretisierung des Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV insbesondere durch Notbremsenmechanismen bei der Angleichung des materiellen Straf- und des Strafverfahrensrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schlussfolgerung: Vertraglich abgesichertes Gebot des Schutzes grundlegender Aspekte der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen . D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze . . . . . . I. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärvertragliche Verankerung und Stellung im Gefüge der strafjustiziellen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von der programmatischen Leitlinie zum primärrechtlichen Rechtsprinzip in der strafjustiziellen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Programmatische Leitentscheidung des Europäischen Rates für die sekundärrechtliche Ausgestaltung der strafjustiziellen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
258 258 260 260 261 262 262 264 264 265 266 266 267 267 268 269
269 271 271 274 274 276
276
Inhaltsverzeichnis
23
II.
b) Rechtsverbindlichkeit und Ausgestaltung des Grundsatzes durch Sekundärrechtssetzung und durch Rechtsprechung des EuGH . . . . 278 c) Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung als primärvertragliches Ziel und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 3. Übertragung binnenmarktrechtlicher Methodik: Förderung der grenzüberschreitenden Privatinitiative versus transnationale Anerkennung und Durchsetzung von Hoheitsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Notwendige Begrenzung des Anerkennungskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
III.
1. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung als Methode negativer Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. Vertrauen in die Gleichwertigkeit der Entscheidungsstandards und deren Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3. Versagung der Anerkennung aufgrund „zwingender Erfordernisse des Allgemeininteresses“ bzw. durch ordre public-Erwägungen . . . . . . . . . 287 Standard der Begrenzung: Europäischer oder nationaler ordre public? . . . 289 1. Systematik der ordre public-Grenze im Lichte des Urteils des EuGH, Rs. C-36/02 Omega/Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Slg. 2004, I-9641 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2. Systematik der ordre public-Grenze im Lichte des Urteils des EuGH, Rs. C-7/98 Krombach/Bamberski, Slg. 2000, I-1956 ff. . . . . . . . . . . . . . 292 3. Übertragung der Systematik auf den ordre public-Einwand beim Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 4. Inhaltliche Konkretisierung der unionsrechtlich kontrollierten Grenze des nationalen ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 a) Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 b) Materielles Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 c) Strafvollstreckungs- und Strafvollzugsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
IV.
V.
d) Schlussfolgerung: Anerkennungsgrenze des nationalen ordre public als Schutz grundrechtlicher Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . 301 Verfahrensrechtliche Vorbeugung gegen Fehlanwendung oder Missbrauch des ordre public-Vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 1. Unterscheidung zwischen rechtsdogmatischer und rechtstatsächlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2. Letztverbindliche Auslegungszuständigkeit des EuGH für die äußeren Grenzen des unionsrechtlichen Rahmenbegriff des nationalen ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes durch die unionsrechtlich kontrollierte Grenze des nationalen ordre public als Lösung de lege lata oder de lege ferenda? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 1. Erfordernis der Primärrechtskonformität der sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung . . . . . . . . . 303
24
Inhaltsverzeichnis 2. Rechtsprechung des EuGH zum abschließenden Charakter der sekundärrechtlich verankerten Versagungsgründe, insbesondere die Urteile in den Rs. C-396/11, Radu, sowie Rs. C-399/11, Melloni . . . . . . . . . . . 304 3. Erweiterte Möglichkeit der Versagung der Anerkennung aufgrund der Verletzung des europäischen ordre public? – Der Schlussantrag GA Sharpston vom 18. Oktober 2012 in der Rs. C-396/11, Radu . . . . . . . . . 306 4. Explizite Ablehnung erweiterter Versagungsgründe aufgrund nationaler Grundrechte in Anknüpfung an Art. 53 EU-GRCh, EuGH, Rs. C-399/11, Melloni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 5. Schlussfolgerung: Anerkennung des unionsrechtlichen kontrollierten nationalen ordre public als Anerkennungsgrenze in der Rechtspraxis noch offen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
E. Vollstreckungsüberstellung und unionsrechtliche Freizügigkeitsrechte . . . . . 310 I.
Beschränkung der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
II.
Besonderer Schutz bei verfestigtem Aufenthalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
III.
„Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ als unionsrechtlicher Rahmenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
F. Rechtsform des Rahmenbeschlusses und mitgliedstaatliches Recht – Vorrang des Unionsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 I.
Rahmenbeschluss als Rechtsakt der früheren Dritten Säule . . . . . . . . . . . . . 313
II.
Einheitsthese versus Säulenstruktur der früheren Europäischen Union . . . 314 1. Säulenstruktur als Ausdruck unterschiedlicher Integrationstiefe . . . . . . 314 2. Passerelle-Klausel, Art. 42 EU a. F., als Ausdruck unterschiedlicher Integrationstiefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 3. Lediglich Teilvergemeinschaftung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts durch die Amsterdamer Vertragsreform . . . . . . . . . 316
III.
Rahmenbeschluss zwischen völkerrechtlichem Vertrag und supranationaler Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 1. Rahmenbeschluss als Nachbildung der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 2. Einstimmigkeitserfordernis bei der Beschlussfassung im Rat als Indiz völkerrechtlicher Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
IV.
Nur eingeschränkte Befugnisse des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 1. Besonderheiten des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 35 EU a. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 2. Gewährleistung der Einheitlichkeit des Unionsrechts? . . . . . . . . . . . . . . 320 3. Eingeschränkter Individualrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
V.
Eingeschränkte demokratische Legitimation von Rahmenbeschlüssen . . . . 322
VI. Dogmatisch: kein Vorrang von Rahmenbeschlüssen vor Ablauf der Übergangsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
Inhaltsverzeichnis
25
VII. Supranationale Aufladung mit Ablauf der Übergangsfrist und ihre Auswirkung auf das Konzept einer Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes durch eine unionsrechtlich kontrollierte Grenze des nationalen ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 VIII. Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung des gesamten mitgliedstaatlichen Rechts ab Ablauf der jeweiligen Umsetzungsfrist . . . . 327 G. Zusammenfassende Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
Kapitel 2 Grenzen der Vollstreckungshilfe aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung
331
A. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit – notwendig oder verzichtbar? . . . . 331 I. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit und völkerrechtliches Gegenseitigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 1. Absicherung der Gegenseitigkeitserwartung als historische Quelle des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 2. Untauglichkeit des Gegenseitigkeitsprinzips zur umfassenden Limitierung der Rechtshilfeleistung auf Fälle beiderseitiger Strafbarkeit . . . . 333 II. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit und der Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 1. Argumentation der Unbeachtlichkeit des nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatzes für das Auslieferungsrecht als Verfahrensrecht . 335 2. Strafvollstreckung im Rahmen der Vollstreckungshilfe als Strafe i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 3. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Ausdruck der für die Vollstreckungshilfe notwendigen Wertegemeinschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 4. Qualitativer Unterschied der Mitwirkung am international-arbeitsteiligen Strafverfahren zwischen Auslieferung und Vollstreckungsübernahme? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 5. Schlussfolgerung: Nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatz im Konzept des international-arbeitsteiligen Strafverfahrens . . . . . . . . . 341 III. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit aufgrund Anforderungen des Art. 104 GG an die Freiheitsentziehung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 IV. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Garantie demokratischer Teilhabe an der Strafbarkeitsentscheidung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 B. Ordre public als Grenze der Vollstreckungshilfeleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 I. Garantie der Straffreiheit grundrechtlich geschützten Verhaltens . . . . . . . . 346 II.
Beschränkte Anerkennung ausländischer Strafgewalt im internationalarbeitsteiligen Strafverfahren durch sinngemäße Anwendung des deutschen Strafanwendungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
26
Inhaltsverzeichnis
C. Konsequenzen für die Umsetzung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung in deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 I. Rechtsdogmatisch: Kein Vorbehalt für eine Beibehaltung beiderseitiger Strafbarkeit erforderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 II. Rechtspolitisch: Vorbehalt als Konfliktvermeidungsstrategie . . . . . . . . . . . . 350
Kapitel 3 Grenzen der Vollstreckungshilfe nach der Konzeption des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung sowie im Lichte der Ergebnisse der Untersuchung A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe . . . . . . . . . . . . . . I. Fehlen materieller Voraussetzungen der Vollstreckungsübertragung; Verfahrensmängel; Praktikabilitätserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bescheinigung unvollständig oder im Widerspruch zum Urteil; materielle Überstellungsvoraussetzungen fehlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbleibende Verbüßungsdauer unzureichend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schutz von Justizgrundrechten; Staatssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ne bis in idem-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Primärrechtskonforme Auslegung: Zwingender Versagungsgrund trotz „Kann“-Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inbezugnahme des unionsrechtlichen ne bis in idem-Grundsatzes . . c) Voraussetzungen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Konsultationspflicht vor Versagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsatz beiderseitiger Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abwesenheitsurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anwesenheitsrecht als elementarer Teil des fair trial-Grundsatzes . b) Einschränkend konkretisierende Neufassung des Versagungsgrundes durch den Rahmenbeschluss Abwesenheitsurteile . . . . . . . . . . . . c) Ausgestaltung der Einschränkung des Versagungsgrundes im Vergleich von Alt- und Neufassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bewertung der Ausgestaltung des Versagungsgrundes im Lichte der ordre public-Grenze der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusätzliche, zeitlich beschränkte Gefährdung der einheitlichen Anwendung des Rahmenbeschlusses durch Übergangsregelungen . . . . f) Terminologische Inkonsistenzen in der deutschen Sprachfassung . . g) Konsultationspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zuständigkeit des Vollstreckungsstaates für die Verfolgung der dem Urteil zugrundeliegenden Tat nach dem Territorialitätsprinzip . . . . . . . III. Vollstreckungshindernisse, die sich aus dem Recht des Vollstreckungsstaates ergeben oder dessen Interessen dienen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
352 352 352 352 353 354 354 355 356 357 359 359 360 360 361 362 364 365 366 367 367 368
Inhaltsverzeichnis 1. Vollstreckungsverjährung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates eingetreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Immunität nach dem Recht des Vollstreckungsstaates als Strafvollstreckungshindernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Strafunmündigkeit nach dem Recht des Vollstreckungsstaates . . . . . . . 4. Ablehnung des Verzichts auf den Grundsatz der Spezialität seitens des Urteilsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vom Urteilsstaat verhängte Maßregel der Besserung und Sicherung kann nach dem Recht des Vollstreckungsstaates nicht adoptiert oder angepasst werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
368 370 370 371
372
B. Verbleibender Schutzbedarf des ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
Teil 3 Zusammenfassende Schlussfolgerungen
374
A. Ziele der und Bedürfnis für Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 B. Vergleich der Vollstreckungshilfe vor dem Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung mit dessen Neukonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 C. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verzichtbarkeit der beiderseitigen Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Notwendigkeit eines ordre public-Schutzes aus materiell-verfassungsrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Notwendigkeit einer ordre public-Grenze bei der Umsetzung und Anwendung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aufgrund der primärvertraglichen Vorgaben, an denen sich der Grundsatz der Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen orientieren muss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufgrund der Grundkonzeption des Anerkennungsgrundsatzes . . . . . . 3. Aufgrund fehlender Teilhabe von Rahmenbeschlüssen am Vorrang des supranationalen Unionsrechts vor Ablauf der Übergangsfrist des Lissabonner Reformvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Europäischer oder nationaler ordre public? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unionsrechtlich kontrollierter nationaler ordre public . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahrensrechtliche Vorbeugung gegen Fehlanwendung oder Missbrauch eines ordre public-Vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Differenzierung in Abhängigkeit von der Form der Rechtshilfeleistung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
D. Schlussfolgerungen zur Legitimation der Europäischen Vollstreckungsanordnung und Anforderungen an ihre Handhabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 I. Effizienzorientierung des Rahmenbeschlusses – weitestgehende Verkehrsfähigkeit freiheitsentziehender Sanktionsentscheidungen zur Rechtsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 II. Primat der Resozialisierung zwingende Folge des Raumzieles der Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 E. Weitergehender Integrationsbedarf im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 I. Kritik an der Beliebigkeit der tatsächlichen Strafverbüßung . . . . . . . . . . . . 384 II. Kompetenzgrundlage für den entstehenden Harmonisierungsbedarf? . . . . 385 F. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 G. Kernthesen zu Anerkennung und ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
Teil 4 Die Neuregelung der deutschen Vollstreckungshilfe im Rechtshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten derEU mit Wirkung zum 18. Juli 2015 – Überprüfung und Bewertung anhand zentraler Studienergebnisse 388 A. Neuregelung und zentrale Studienergebnisse – Zielsetzung des Vergleichs . 388 B. Gesetzliche Grundkonzeption der Neuregelung der Vollstreckungshilfe . . . . 389 I. Vollstreckung freiheitsentziehender Erkenntnisse anderer Mitgliedstaaten in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 II. Vollstreckung deutscher freiheitsentziehender Erkenntnisse in einem anderen Mitgliedstaat der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 C. Beiderseitige Strafbarkeit und nationale ordre public-Grenze der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundsätzliches Festhalten am traditionellen Rechtshilfeerfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Abkehr von einem bisherigen Kernelement des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustitieller Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausnahmsweiser Verzicht auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit . 1. Einschränkung des Erfordernisses bei Fiskaldelikten . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entfall des Erfordernisses bei Strafvollstreckung bei Nichtauslieferung bzw. -durchlieferung eines Deutschen zur Strafvollstreckung oder eines Ausländers mit überwiegendem schutzwürdigem Interesse an der Strafvollstreckung im Inland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entfall des Erfordernisses auf Antrag des Verurteilten . . . . . . . . . . . . . . III. Schlussfolgerung: Immanente Anerkennung des nationalen ordre public als Rechtshilfegrenze bei der Vollstreckungshilfe auch für Mitgliedstaaten der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis D. Gefahr systemwidriger Beeinflussung des Maßes der tatsächlichen Strafverbüßung und zeitliche Meistbegünstigung bei Aussetzung zur Bewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gefahr systemwidriger Beeinflussung des Maßes der tatsächlichen Strafverbüßung durch Vollstreckungsübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kein grundsätzlicher Anspruch auf zwingende Meistbegünstigung, aber rechtliche Grenzen für eine Verlängerung der de facto-Strafverbüßung . . III. Analyse der Neuregelung und Schlussfolgerungen: Anordnung der zeitlichen, nicht inhaltlichen Meistbegünstigung durch § 84k Abs. 1 Satz 3 IRG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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393 393 394
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E. Absicherung des Resozialisierungsziels der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . I. Resozialisierungsziel der Vollstreckungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beachtung des Resozialisierungsziels bei Vollstreckungshilfeleistung durch die Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beachtung des Resozialisierungsziels bei Übertragung der Vollstreckung deutscher Erkenntnisse auf einen anderen Mitgliedstaat der EU . . . . . . . .
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Anhang: Rahmenbeschluss 2008/909/JI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451
Abkürzungsverzeichnis 2003/577/JI-UG
a. A. ABl. EU Abs. Abt. AEMR AEUV a. F. AIDP All E.R. AO AöR Art. AufenthG Aufl. AVR Az. BayGVBl. BayJMBl. BayVBl. Bd. BeckOK GG BeckRS Beschl. BGBl. BGH BGHSt BR-Drucks. BT-Drucks. BtMG BVerfG BVerfGE BVerfGK
Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates v. 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Union Absatz Abteilung Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung L’Association Internationale de Droit Pénal All England Reports Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet Auflage Archiv des Völkerrechts Aktenzeichen Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Bayerisches Justiz-Ministerialblatt Bayerische Verwaltungsblätter Band Beck’scher Online-Kommentar zum Grundgesetz Beck-Rechtsprechung Beschluss Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bundesratsdrucksache Bundestagsdrucksache Betäubungsmittelgesetz Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
Abkürzungsverzeichnis bzw. ca. CDPC CMLRev CoE DAR dBMJ ders. dies. ebd. ECLI ed. eds. EG EGMR EGV EG-VollstrÜbk Einl. EKMR EMRK endg. Entsch. ETS EU
31
beziehungsweise circa Comité européen pour les problèmes criminels Common Market Law Review Council of Europe Deutsches Autorecht deutsches Bundesministerium der Justiz derselbe dieselbe/n ebenda European Case Law Identifier editor editors Europäische Gemeinschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EG-Vollstreckungsübereinkommen Einleitung Europäische Kommission für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention endgültig Entscheidung European Treaty Series Europäische Union/Vertrag über die Europäische Union in der Zählweise des Amsterdamer Vertrages EuGH Europäischer Gerichtshof/Gerichtshof der Europäischen Union EU-GRCh Charta der Grundrechte der Europäischen Union EuGRZ Europäische Grundrechte-Zeitschrift EuGVÜ Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen EUHbG Europäisches Haftbefehlsgesetz EU-JZG-ÄndG 2011 (österreichisches) Bundesgesetz, mit dem das Bundesgesetz über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-JZG), das Auslieferungsund Rechtshilfegesetz (ARHG) und das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den internationalen Gerichten geändert werden (EU-JZG-ÄndG 2011) EuR Europarecht (Zeitschrift) EUV Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Lissabonner Vertrages EuZW Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWS Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht f. folgende
32 ff. FIDE Fn. G. GA GAOR GD gem. GG GO GVG h. A. h. M. HRRS Hrsg. Hs. ICJ I.C.J. Reports ICLQ i. d. F. i. e. S. IGH ILM IPBPR IRG i. S. d. i.V. m. JBl JEPP Jg. JGG JI JR JSt JurionRS JVA JZ Kap. KG KOM
Abkürzungsverzeichnis fortfolgende Fédération Internationale pour le Droit Européen Fußnote Gesetz Generalanwalt/Generalanwältin/Goltdammer’s Archiv für Strafrecht General Assembly Official Records (United Nations) Generaldirektion gemäß Grundgesetz Geschäftsordnung Gerichtsverfassungsgesetz herrschende Ansicht herrschende Meinung Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht Herausgeber Halbsatz International Court of Justice International Court of Justice, Reports of Judgments, Advisory Opinions and Orders International & Comparative Law Quarterly in der Fassung im engeren Sinne Internationaler Gerichtshof International Legal Materials Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen im Sinne der/s in Verbindung mit Juristische Blätter Journal of European Public Policy Jahrgang Jugendgerichtsgesetz Justiz und Inneres Juristische Rundschau Journal für Strafrecht Jurion-Rechtsprechung Justizvollzugsanstalt Juristenzeitung Kapitel Kammergericht Europäische Kommission
Abkürzungsverzeichnis korr. LG lit. LK-StGB MDR ME StVollzG MüKO-StGB m.w. N. NJOZ NJW NK-StGB No. Nr. NStZ NStZ-RR NVwZ NZV öAnwBl öBGBl. öBMJ ÖJZ OLG öStGB p. para. PC-CP P.C.I.J. PJZS Pkt. QB Ratsdok. RB Rec. RiVASt RL Rn. Rs. RV d. JM S. SDÜ
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korrigiert Landgericht litera Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch Monatsschrift für Deutsches Recht Musterentwurf zum Landesstrafvollzugsgesetz vom 23. August 2011 Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch Numero Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht, Rechtsprechungs-Report Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht österreichisches Anwaltsblatt österreichisches Bundesgesetzblatt österreichisches Bundesministerium für Justiz Österreichische Juristenzeitschrift Oberlandesgericht österreichisches Strafgesetzbuch page paragraph Council for Penological Co-operation Permanent Court of International Justice Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Punkt Law Report Queen’s Bench Ratsdokument Rahmenbeschluss Recommendation Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten Richtlinie Randnummer Rechtssache Rechtsverordnung des Justizministeriums Seite Schengener Durchführungsübereinkommen
34 SEV SexualDelBekG SK-StPO Slg. sog. SPACE StGB StPO StraFo StV StVollStrO StVollzG Tz. u. a. UAbs. ÜAG ÜberstÜbk UN UN-Doc. UNTS Urt. v. verb. Rs. VerfO EuGH vgl. VN VO Vol. VV VVDStRL VVStVollzG VwVfG WÜD WVK ZaöRV ZAR z. B. ZBJI ZfStrVo
Abkürzungsverzeichnis Sammlung der Europäischen Verträge Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung Sammlung sogenannte Statistiques pénales annuelles du Conseil de L’Europe Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung Strafverteidiger Forum Strafverteidiger Strafvollstreckungsordnung Strafvollzugsgesetz Teilziffer unter anderem/und andere Unterabsatz Überstellungsausführungsgesetz Europaratsübereinkommen zur Überstellung verurteilter Personen United Nations United Nations Document United Nations Treaty Series Urteil versus/vom verbundene Rechtssache Verfahrensordnung des Europäischen Gerichthofes vergleiche Vereinte Nationen (Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen) Verordnung Volume Verwaltungsvorschriften Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz Verwaltungsverfahrensgesetz Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen Wiener Vertragsrechtskonvention Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe
Abkürzungsverzeichnis ZIP ZIS ZJJ ZP ZRP ZStW ZVglRWiss
Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe Zusatzprotokoll Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft
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Einführung: Gegenstand, Zielsetzung und Methodik A. Einführung in das Thema der Untersuchung I. Die Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen beinhaltet den Entzug der persönlichen Freiheit eines Individuums durch einen Staat nach den Regeln dieses Staates, aber infolge der Verurteilung, die ein anderer Staat nach dessen eigenen Regeln vorgenommen hat. Vollstreckungshilfe bedeutet also im Grundsatz eine Trennung des Strafverfahrens im engeren Sinne von der Strafvollstreckung: Der Prozess des Strafens wird in die beiden Vorgänge der Verurteilung und der Strafvollstreckung aufgespalten und der letztere einem anderen Staat übertragen.1 War die Vollstreckung ausländischer Sanktionen noch bis zum Beginn der 70er Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts für viele Staaten undenkbar,2 so werden seitdem immer weiter reichende Regelungen für die Anerkennung und die Vollstreckung ausländischer strafjustizieller Sanktionsentscheidungen geschaffen. Zur Intensivierung der Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union hat der Rat am 27. November 2008 den Rahmenbeschluss 2008/909/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union beschlossen.3 Als dessen Zweck wird 1 F.-C. Schroeder, Die Übertragung der Strafvollstreckung, ZStW 98 (1986), 457 (458). 2 Das staatliche Souveränitätsdenken stand im Wege, und jeder Staat hegte grundsätzliche Vorbehalte gegenüber der Qualität ausländischer Strafurteile, so Geppert, Die Ahndung von Verkehrsverstößen durchreisender ausländischer Kraftfahrer, GA 1979, 281 (308); Schwaighofer, Auslieferung und Internationales Strafrecht (1988), S. 213 f.; vgl. ferner zur historischen Entwicklung Oehler, Die positiven Wirkungen ausländischer Strafurteile im Inland im Rahmen der Vollstreckung, in: Lüttger/Blei/Hanau (Hrsg.), Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag (1972), S. 777 ff. In der Bundesrepublik Deutschland wurde erstmals mit Inkrafttreten des IRG am 1. Januar 1983 die Möglichkeit des Ersuchens um und der Leistung von Vollstreckungshilfe geschaffen. Für Österreich normierte der frühere § 36 Abs. 3 Staatsgrundgesetz bis zu seiner Aufhebung im Jahre 1975 ein ausdrückliches Verbot der Vollstreckung bzw. Anerkennung ausländischer Strafurteile. Die Aufhebung dieser Norm erfolgte mit Inkraftsetzung des neuen öStGB 1975, öBGBl. 1974/60. 3 ABl. EU 2008 L 327/27; geändert durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/
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Einführung: Gegenstand, Zielsetzung und Methodik
benannt, „im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil [eines anderen Mitgliedstaates] anerkennt und die Sanktion vollstreckt“.4 II. Dieser Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung5 als die neueste und bislang umfassendste zwischenstaatliche Regelung der innereuropäischen Vollstreckungshilfe dient der angestrebten möglichst umfassenden Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller6 Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU.7 Nach der ausdrücklichen primärrechtlichen Anordnung des Art. 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV beruht die strafjustizielle Zusammenarbeit in der Europäischen Union auf diesem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen, mit dessen Umsetzung die internationale Rechtshilfe in Strafsachen in ihrer bisherigen Form modifiziert wird. Geschaffen werden soll ein System zwingender Anerkennung und, wenn wie im Falle der Vollstreckungshilfe notwendig, Übernahme der durch einen anderen Mitgliedstaat getroffenen Entscheidungen weitestgehend ohne Anpassung der Einzelfallentscheidung („Exequatur“) an das System des anerkennenden und vollstreckenden Staates. Die aus der traditionellen Rechtshilfe bekannte Möglichkeit der Umwandlung der Sanktion durch Exequaturentscheidung sei zwischen den als gleichwertig erachteten Rechtssystemen der Mitgliedstaaten nicht erforderlich; an Stelle der Anpassung der Einzelfallentscheidung soll vielmehr, soweit erforderlich, die Gleichwertigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen durch eine Mindestharmonisierung der abstrakten rechtlichen Regelungen sichergestellt werden.8 214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist, ABl. EU 2009 L 81/24. 4 Art. 3 Abs. 1 RB 2008/909/JI; Einfügung durch den Verfasser. 5 Der Begriff der „Europäischen Vollstreckungsanordnung“ geht auf die Urfassung des Rahmenbeschlussvorschlages zurück, vgl. Ratsdok. 5579/05, und wird hier als Kurzbegriff verwendet, der zudem die Einordnung in den Kreis der anderen Anerkennungsinstrumente der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl, Europäische Sicherstellungsanordnung, Europäische Einziehungsanordnung, Europäische Beweisanordnung und Europäische Überwachungsanordnung – deutlich macht. 6 Während die deutschen Sprachfassungen der Primärverträge bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages die Schreibweise ,justitielle Zusammenarbeit‘ verwendet haben, vgl. exemplarisch die Überschrift des Titels VI des EUV i. d. F. des Amsterdamer Vertrages „BESTIMMUNGEN ÜBER DIE POLIZEILICHE UND JUSTITIELLE ZUSAMMENARBEIT IN STRAFSACHEN“, ABl. EU 1997 C 340/145 (162), wurde mit dem Lissabonner Reformvertrag auf die Schreibweise ,justizielle Zusammenarbeit‘ umgestellt, vgl. exemplarisch die Überschrift des Kapitels 4 „JUSTIZIELLE ZUSAMMENARBEIT IN STRAFSACHEN“ in Titel V des AEUV, ABl. EU 2010 C 83/47 (73). 7 Siehe dazu Teil 2 Kapitel 1, dort insbesondere D. 8 Siehe dazu Teil 2 Kapitel 1 C.
A. Einführung in das Thema der Untersuchung
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Der Anerkennungsgrundsatz impliziert die Annahme der transnationalen ,Verkehrsfähigkeit‘ strafjustizieller Entscheidungen in der Europäischen Union als einem alle Mitgliedstaaten verknüpfenden Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.9 Dieser Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist ein in Art. 3 Abs. 2 EUV benanntes Hauptziel der Europäischen Union; er soll unter anderem durch die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen errichtet und gewährleistet werden.10 III. Gerade die Anerkennung und Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Entscheidung eines EU-Mitgliedstaates durch einen anderen Mitgliedstaat beinhaltet die denkbar weiteste Annahme der Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten: Von der Anerkennung umfasst ist nicht nur die rechtliche Entscheidung über die Strafbarkeit und die Strafdrohung für ein bestimmtes Verhalten sowie der verfahrensrechtliche Weg zur Feststellung der Verwirklichung des Straftatbestandes, sondern auch die im konkreten Einzelfall verhängte Sanktion. Dabei stellt die Rechtshilfeleistung durch Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Sanktion für den Verurteilten die eingriffsintensivste Form der Mitwirkung eines Mitgliedstaates an der Strafverfolgung eines anderen Mitgliedstaates dar. Der Entzug der durch Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union geschützten persönlichen Freiheit11 ist der schärfste Eingriff, den die Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten der EU als Reaktion auf die Verwirklichung einer strafbaren Handlung kennen. Gerade dieser Eingriff ist es, der bei der Vollstreckungshilfe nicht mehr vom Urteilsstaat, sondern von dem Rechtshilfe leistenden Vollstreckungsstaat vollzogen wird.12 Das tatsächlich vom Verurteilten erlittene Übel der Strafe ist nicht nur von der verhängten Strafe oder Maßregel abhängig, sondern wird auch vom Strafvoll-
9 Vgl. etwa Böse, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der transnationalen Strafrechtspflege in der EU – Die „Verkehrsfähigkeit“ strafgerichtlicher Entscheidungen –, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht. Beiträge zum Strafrecht, Strafprozeßrecht und zur Strafrechtsvergleichung. Für Manfred Maiwald aus Anlaß seiner Emeritierung, verfaßt von seinen Schülern, Mitarbeitern und Freunden, 2003, S. 233 ff. 10 Vgl. Art. 67 Abs. 3, 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV. 11 Siehe auch Art. 5 EMRK. Zum Verhältnis beider Vorschriften siehe unten Teil 1 Kapitel 1 A.III.3. 12 Davon zu unterscheiden ist die Auslieferungshaft, die etwa im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vollzogen wird. Zwar kann ein Europäischer Haftbefehl auch auf Auslieferung zur Strafvollstreckung abzielen. Eine Auslieferungshaft ist, dogmatisch betrachtet, keine Strafhaft; Grotz, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 54 Rn. 18; OLG Stuttgart, Beschl. v. 11. Juli 2005, Az. 3 Ws 1/05, Tz. II.1., NStZ-RR 2005, 383 f. Gleichwohl ist es mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar, die Anrechnung einer im Ausland erlittenen Auslieferungshaft im Rahmen der Strafvollstreckung schlechterdings auszuschließen, BVerfGE 29, 312 (316 f.) = NJW 1970, 2287 f.
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streckungsrecht, insbesondere von den Regelungen zur Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung, und dem Strafvollzugsrecht, etwa der Frage der Möglichkeit einer Verbüßung der Freiheitsstrafe im offenen Vollzug, bestimmt. Auch die faktischen Gegebenheiten im Strafvollzug bestimmen über das zeitliche Maß des Freiheitsentzugs hinaus den Umfang des erlittenen Übels.13 IV. Die Gleichwertigkeit der Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten kann daher nicht allein auf der Behauptung gegenseitigen Vertrauens beruhen, sondern muss nachvollziehbar sein. Soweit die Gleichwertigkeit nicht besteht, sondern erst hergestellt werden muss, bedarf es de lege ferenda einer Mindestharmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten, vorausgesetzt, der EU sind entsprechende Kompetenzen eingeräumt. Jedenfalls solange die Gleichwertigkeit nicht vollständig besteht, ist auch eine Begrenzung des Anerkennungskonzepts erforderlich, dessen Ausgestaltung in dieser Arbeit näher untersucht werden soll. Die Implementierung des Anerkennungsgrundsatzes durch Sekundärrechtsakte wie den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung und das dadurch bedingte, noch näher zu bestimmende Maß an Harmonisierung mitgliedstaatlichen Rechts durch Unionsrecht14 sind maßgebliche Faktoren der Europäisierung des mitgliedstaatlichen Strafrechts.15 Diese Europäisierung des mitgliedstaatlichen Strafrechts erfährt immer wieder Kritik. Die Kritik an Stil und Intensität bzw. – in rechtliche Dimension übersetzt – an Notwendigkeit, Legitimation und Grenzen europäischer Rechtsetzung auf dem Gebiet des Strafrechts erfolgt regelmäßig unter Verweis auf die Verwurzelung des Strafrechts in der Staatensouveränität,16 häufiger noch im Hinblick auf das nach Meinung vieler Kritiker nur unvollkommen erfüllte Erfordernis seiner demokratischen Legitimation.17 Das Konzept eines ordre public-
13 Dies bringt § 51 Abs. 4 S. 2 StGB zum Ausdruck, der anordnet: „Wird eine ausländische Strafe oder Freiheitsentziehung angerechnet, so bestimmt das Gericht den Maßstab nach seinem Ermessen.“ 14 Siehe dazu unten Teil 1 Kapitel 3 B. sowie Teil 2 Kapitel 2. 15 Unter Europäisierung wird dabei in der vorliegenden Arbeit der Einfluss unionsrechtlicher Rechtsetzung und Rechtsprechung auf die mitgliedstaatliche Strafrechtsordnung verstanden. Der Einfluss der Aktivitäten im Europarat, sei es durch völkerrechtliche Verträge, durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) oder durch sogenanntes soft law wie die Empfehlungen des Ministerkomitees soll vorliegend davon unterschieden und nicht in den Begriff der Europäisierung einbezogen werden, da diese Aktivitäten – sieht man einmal von der wichtigen Ausnahme der Durchbrechung der Mediatisierung des Individuums im Völkerrecht durch Möglichkeit der Individualbeschwerde zum EGMR ab – sich in den traditionellen Grenzen des Völkerrechts bewegen. 16 Vgl. etwa Fuchs, Europäischer Haftbefehl und Staatensouveränität, JBl 2003, 405 ff. 17 So u. a. Lüderssen, Europäisierung des Strafrechts und gubernative Rechtssetzung, GA 2003, 71 (84); Schünemann, Fortschritte und Fehltritte in der Strafrechtspflege der EU, GA 2004, 193 (200 ff.); ders., Spät kommt ihr, doch ihr kommt: Glosse eines Strafrechtlers zur Lissabon-Entscheidung des BVerfG, ZIS 8/2009, 393 ff. Ausführlich zu
B. Vier grundlegende Fragestellungen der Untersuchung
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Schutzes ist, wie zu zeigen sein wird, auch im Rahmen des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen keineswegs überholt, sondern vielmehr sogar aus den primärvertraglichen Regelungen zur Ausgestaltung der strafjustiziellen Zusammenarbeit abzuleiten. Allerdings darf der Begriff des ordre public nicht als eine Abschottung gegenüber einer europäischen Integration missbraucht, sondern muss vielmehr als Ausdruck der vom Primärvertragsrecht selbst geforderten Achtung der unterschiedlichen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses verstanden18 und entsprechend konturiert werden.
B. Vier grundlegende Fragestellungen der Untersuchung Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Arbeit den europäischen und den deutschen Rechtsrahmen für die Leistung von Vollstreckungshilfe seitens der Bundesrepublik Deutschland für einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union de lege lata, vor allem aber de lege ferenda. In die Untersuchung einbezogen werden aber auch von Deutschland an einen anderen Mitgliedstaat gerichtete Ersuchen um Vollstreckungshilfe. Dabei wird vier grundlegenden Fragen nachgegangen: I. Vollstreckungshilfe zwischen nationalem Strafrecht und transnationaler Wertegemeinschaft Erstens wird die Vollstreckungshilfe rechtlich eingeordnet und auf die mit ihr verfolgten Ziele hin untersucht. Dabei wird die Vollstreckungshilfe in das dogmatische Konzept der Rechtshilfe als Teil eines „international-arbeitsteiligen Strafverfahrens zur Durchsetzung einer transnationalen Werteordnung“ eingeordnet. Zugleich ist Bedeutung der Strafzwecke und des Strafvollzugszieles für die Ziele der Vollstreckungshilfe zu analysieren. Ebenso wird untersucht, ob tatsächlich ein Bedürfnis für die durch den Rahmenbeschluss vorgenommene Neuregelung der innereuropäischen Vollstreckungshilfe durch Unionsrecht besteht.
dieser Frage Meyer, Demokratieprinzip und Europäisches Strafrecht. Zu den Anforderungen des Demokratieprinzips an Strafrechtsetzung im Mehrebenensystem der Europäischen Union (2009); ferner Sommermann, Der entgrenzte Verfassungsstaat, in: Merten (Hrsg.), Der Staat am Ende des 20. Jahrhunderts. Forschungssymposium anläßlich der Emeritierung von Universitätsprofessor Dr. Helmut Quaritsch am 25. Juli 1998 (1998), S. 19 (41). 18 Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV.
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II. Ausmaß der Neuerungen der Rechtshilfe durch Implementierung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen in der EU Zweitens werden das Ausmaß und der Inhalt der Neuerungen bei der Vollstreckungshilfe auf Basis der Europäischen Vollstreckungsanordnung19 gegenüber dem bisherigen innereuropäischen Vollstreckungshilferecht herausgearbeitet. III. Grenzen der Anerkennung aus Sicht des Primärvertragsrechts und des deutschen Verfassungsrechts Die Einordnung der Vollstreckungshilfe als Element des Strafverfahrens im weiteren Sinne und zugleich die Herstellung des Bezugs zur Funktion des Rechtshilfe als Durchsetzung einer transnationalen Werteordnung führt zu einem Kernthema der vorliegenden Arbeit, nämlich der Frage nach der Rolle und Gewährleistung des ordre public-Schutzes und seines Verhältnisses zur beiderseitigen Strafbarkeit im Konzept der innereuropäischen Vollstreckungshilfe. Daher wird, drittens, am Beispiel des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung untersucht, wo die Grenzen eines dem System des Europarechts wie auch dem der deutschen Rechtsordnung gerecht werdenden Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen in der EU liegen. IV. Weitergehender Harmonisierungsbedarf In den zusammenfassenden Schlussfolgerungen wird auch die Frage diskutiert, ob und bejahendenfalls welcher weitergehende rechtliche Harmonisierungsbedarf durch die Implementierung der Europäischen Vollstreckungsanordnung ausgelöst wird.20
C. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Angesichts der Vielzahl an Formen und Konstellationen einer Vollstreckungshilfe sowie einer ebenso großen Vielfalt an potentiellen Rechtsgrundlagen soll das Thema im Folgenden noch näher eingegrenzt werden. Zugleich werden erste Begriffsklärungen vorgenommen und konkrete Probleme aufgezeigt, die in der Arbeit untersucht werden. 19 Der Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung wurde erst nach Abschluss der Arbeit an der ursprünglich vorgelegten Studie in deutsches Recht umgesetzt. Zu dieser Umsetzung, auch im Lichte der Ergebnisse dieser Studie bewertet, siehe unten den ergänzenden Teil 4. 20 Integrationstheoretisch würde letzteres als spill over-Effekt bezeichnet werden; näher dazu Schuppert, Staatswissenschaft (2003), S. 848.
C. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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I. Formen der Vollstreckungshilfe 1. Unterscheidung nach der Sanktion Vollstreckungshilfe kann sowohl bei freiheitsentziehenden als auch bei sonstigen Sanktionen, insbesondere bei Geldsanktionen, geleistet werden.21 In der vorliegenden Arbeit wird allein die Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen untersucht; diejenige für Geldsanktionen bleibt außer Betracht.22 Differenzierungen bei der Erörterung der Vollstreckungshilfe können auch aufgrund der Art der verhängten freiheitsentziehenden Sanktion notwendig werden. Im deutschen Strafgesetzbuch ist ein zweispuriges Sanktionssystem festgelegt. Neben den an der Schuld des Täters anknüpfenden Strafen,23 zu denen die Freiheitsstrafe zählt,24 sind auch an einer vom Täter ausgehenden Gefährlichkeit anknüpfende und damit präventiv ausgerichtete Sanktionen möglich.25 Als freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung kommen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus,26 die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt27 sowie die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in Betracht.28 Maßregeln der Besserung und Sicherung sind schuldindifferent. Das heißt, zumindest der Unrechtstatbestand der Anlasstat muss verwirklicht sein, die Vorwerfbarkeit der Tatbestandsverwirklichung ist jedoch grundsätzlich nicht Anordnungsvoraussetzung; das Vorliegen der Schuld steht der Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung aber je nach Ausgestaltung der Anordnungsvoraussetzungen nicht zwingend entgegen.29 Eine Sonderstellung nimmt die Sicherungsverwahrung ein, die nur neben einer Freiheitsstrafe verhängt werden
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Darüber hinaus auch bei Einziehungs- und Verfallsentscheidungen. Vgl. dazu §§ 86 ff. IRG sowie Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. EU 2005 L 76/16. Vgl. dazu auch die Kontroverse von Schünemann/Roger, Die Karawane zur Europäisierung des Strafrechts zieht weiter. Zur demokratischen und rechtsstaatlichen Bresthaftigkeit des EU-Geldsanktionengesetzes, ZIS 9/2010, 515 ff., und Böse, Der Rechtsstaat am Abgrund? – Zur Skandalisierung des EU-Geldsanktionengesetzes. Replik auf Schünemann/Roger, ZIS 2010, 515, ZIS 10/2010, 607 ff.; mit Duplik Schünemann, Noch einmal: Zur Kritik der rechtsstaatlichen Bresthaftigkeit des EU-Geldsanktionengesetzes, des europatümelnden strafrechtlichen Neopositivismus und seiner Apologie von Böse, ZIS 12/2010, 735 ff. 23 §§ 38 ff. StGB. 24 §§ 38 f. StGB. 25 §§ 61 ff. StGB. 26 § 63 StGB. 27 § 64 StGB. 28 §§ 66 ff. StGB. Zur teilweisen Verfassungswidrigkeit des § 67 Abs. 4 StGB vgl. BVerfG, NJW 2012, 1784 ff. 29 Eingehend dazu Streng, Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen3 (2012), Rn. 280 ff. 22
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kann, also die schuldhafte Verwirklichung der Anlasstat voraussetzt.30 Während der EGMR in seinem Urteil in der Rechtssache M. v. Deutschland die Sicherungsverwahrung im konkreten Fall als Strafe im Sinne des Art. 7 Abs. 1 EMRK eingeordnet hat,31 blieb das BVerfG bislang bei der Einordnung der Sicherungsverwahrung als Maßregel.32 Für die vorliegende Arbeit ist festzuhalten, dass bei Überlegungen zur Bedeutung der Schuld für die Strafe, die Strafvollstreckung und die Vollstreckungshilfe zwischen schuldabhängigen und schuldindifferenten Sanktionen unterschieden werden muss. Soweit die Schuld als eingriffsbegrenzende Voraussetzung der Strafe zu verstehen ist, tritt bei schuldunabhängigen Maßregeln an ihre Stelle das Verhältnismäßigkeitsprinzip. 2. Ein- und ausgehende Ersuchen Aus der Perspektive des handelnden Staates ist zudem zwischen einem eigenen Ersuchen an einen anderen Staat um Gewährung von Vollstreckungshilfe, also einem ausgehenden Ersuchen, und der Frage des Umgang mit einem von einem anderen Staat gestellten eingehenden Ersuchen zu unterscheiden. Die vorliegende Studie bezieht beide Formen ein. Soweit die Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses untersucht werden, steht dabei die Fallgestaltung eingehender Ersuchen im Vordergrund, da es in diesen Fällen die deutsche Hoheitsgewalt ist, die zur Vollstreckung eines Urteils eines anderen Mitgliedstaates den Entzug der persönlichen Freiheit eines Individuums vornimmt. Die Grenzen einer solchen Leistung von Vollstreckungshilfe werden herausgearbeitet. Bei der Analyse des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung stehen sowohl aus- als auch eingehende Ersuchen im Mittelpunkt der Untersuchung. 3. Vollstreckungsübertragung mit oder ohne Überstellung des Verurteilten Die mögliche Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen umfasst sowohl Fälle, die mit einer Überstellung des Verurteilten verbunden sind, als auch solche Fälle, in denen die Übertragung der Strafvollstreckung ohne eine 30 Das BVerfG hat mit Urt. v. 4. Mai 2011, BVerfGE 128, 326 ff., die weitgehende Verfassungswidrigkeit der Regelungen zur Sicherungsverwahrung in der noch fortgeltenden Fassung der §§ 66 ff. StGB festgestellt. Dem Gesetzgeber wurde eine Frist zur Neuregelung bis zum 31.05.2013 gesetzt. Zur Fortgeltung der Regelungen bis zu diesem Zeitpunkt sowie zur Anwendbarkeit der Vorläuferregelungen Ullenbruch/Drenkhahn/Morgenstern, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MüKo-StGB2 (2012), Bd. 2, § 66 Rn. 1. Zur Umsetzung der Anforderungen des BVerfG vgl. Gesetz v. 05.12.2012, BGBl. I S. 2425. 31 EGMR, Urteil v. 17.12.2009, M v. Deutschland, Nr. 19359/04, NJW 2010, 2495 ff. 32 BVerfGE 128, 326 ff., unter Betonung des schon in BVerfGE 109, 133 (166 f.), aufgezeigten „Abstandsgebots“ zum Strafvollzug.
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solche Überstellung der Person erfolgt, regelmäßig deshalb, weil sich der Verurteilte bereits im Hoheitsgebiet des ersuchten Staates aufhält. Historisch hat sich für letztere Fallkonstellation der Begriff der „Fluchtfälle“ eingeprägt; dieser erfasst aber nicht alle denkbaren Sachverhaltskonstellationen zutreffend. Rechtlich besonders zu hinterfragen sind Fallgestaltungen, bei denen der nun Verurteilte den Vollstreckungsstaat zur Begehung der vorgeworfenen Handlung gar nicht verlassen, sondern der Urteilsstaat die Anwendbarkeit seines Strafrechts auch auf Auslandstaten erstreckt hat. Beide Fallkonstellationen, also Vollstreckungshilfe mit und Vollstreckungshilfe ohne Überstellung des Verurteilten, werden vorliegend betrachtet, und es wird deutlich werden, dass damit ganz unterschiedliche Ziele der Vollstreckungshilfe, nämlich Verbesserung der Resozialisierungschancen auf der einen und Sanktionsdurchsetzung auf der anderen Seite, angestrebt sein können. II. Überblick über die Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe Die Vollstreckungshilfe ist Teil der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Das Vollstreckungshilferecht ist, wie das Recht der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen allgemein,33 durch eine Vielzahl in Betracht kommender Rechtsquellen gekennzeichnet. Eine wesentliche Herausforderung für die vorliegende Arbeit liegt daher darin, die einschlägigen Rechtsakte und -normen herauszuarbeiten sowie deren Anwendungsverhältnis zueinander zu klären. An dieser Stelle soll bereits ein kurzer Überblick über die wichtigsten Rechtsquellen der Vollstreckungshilfe gegeben werden, um damit eine Grundlage für den anschließend vorgestellten Gang der Untersuchung zu schaffen.
33 Schomburg, Die Rolle des Individuums in der Internationalen Kooperation in Strafsachen, StV 1998, 153 (154), stellt dazu fest, die Fahndung nach dem anwendbaren Recht erweise sich daher in concreto oft schwerer als die Fahndung nach Täter und Beweismittel: „Nicht nur der Rechtsanwender, auch das Publikum, der in die Mühlen internationaler Rechtspflege geratene „Rechtsunterworfene“ hat einen Anspruch auf die wenigstens generelle Möglichkeit, das anzuwendende Recht zu finden; und zwar zu finden einschließlich des aktuellen räumlichen Anwendungsbereiches.“ Davon, so konstatiert Schomburg 1998, könne derzeit nicht die Rede sein. Die Rechtsakte zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Zusammenarbeit zielen zwar auf eine Harmonisierung der Rechtsgrundlagen internationaler Rechtshilfe unter den Mitgliedstaaten der EU ab und bringen ein erhebliches Maß an Harmonisierung, hinsichtlich des Anwendungsbereichs einzelner Regelungen sind aber auch sie durch ein erhebliches Maß an Differenzierung gekennzeichnet. Vgl. dazu für den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung unten Teil 1 Kapitel 3 C.II., H.III.5. und Teil 2 Kapitel 3 A.II.3.e) sowie allgemein Schumann, Die Union, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts? Chancen und Risiken abgestufter Integration als Methode europäischer Zielerreichung, in: Leidenmühler/Eder/Leingartner/ Winkler (Hrsg.), Grundfreiheiten – Grundrechte – Europäisches Haftungsrecht (2012), S. 257 ff.
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1. Überstellungsübereinkommen des Europarates (1983) und ergänzende völkerrechtliche Vereinbarungen Für die Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen zwischen den Mitgliedstaaten der EU bestehen bereits mehrere multilaterale, sich ergänzende völkerrechtliche Verträge mit unterschiedlichem Ratifikationsstand. Die größte praktische Bedeutung hat das Übereinkommen des Europarates über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983. Alle Mitgliedstaaten der EU haben das Übereinkommen ratifiziert. Dieses Überstellungsübereinkommen (ÜberstÜbk) regelt die mit der Überstellung des Verurteilten verbundene Vollstreckungsübertragung. Es wird durch weitere völkerrechtliche Übereinkommen in seinem sachlichen Anwendungsbereich erweitert bzw. ergänzt; auch die im Überstellungsübereinkommen festgelegten Voraussetzungen der Vollstreckungshilfe werden durch diese späteren Rechtsakte modifiziert. Diese ergänzenden Übereinkommen weisen jedoch einen deutlich geringeren Ratifikationsstand auf, so dass es zu einer Rechtszersplitterung innerhalb der Gruppe der Mitgliedstaaten der EU kommt. Daher muss im konkreten Vollstreckungshilfefall genau geprüft werden, welche der Regelungen anzuwenden sind. Um die Effizienz der geltenden völkerrechtlichen Regelungen überprüfen zu können, werden in der vorliegenden Arbeit daher nicht nur die Regelungsinhalte der Übereinkommen auf einen gemeinsamen Kerngehalt hin untersucht, sondern auch der Stand der Ratifikation durch die Mitgliedstaaten der EU einbezogen. 2. Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung Der bereits angesprochene Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung entstammt dem Rechtsbestand der früheren Dritten Säule, also der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Der Rahmenbeschluss regelt Fälle der Vollstreckungsübertragung sowohl mit als auch ohne Überstellung des Verurteilten, er betrifft ein- und ausgehende Ersuchen und ist in seinem Anwendungsbereich nicht auf eigene Staatsangehörige beschränkt, sondern orientiert sich grundsätzlich am Wohnsitzstaat des Verurteilten. Der Rahmenbeschluss greift das bereits von dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl34 und anderen Rahmenbeschlüssen zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen bekannte Modell der Abschaffung der beiderseitigen Strafbarkeit als Rechtshilfevoraussetzung auf; modifiziert es aber in der Sache erheblich, indem den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt wird, durch entsprechende Erklärung die 34 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. EU 2002 L 190/1.
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Möglichkeit zu schaffen, sich auf das Nichtvorliegen beiderseitiger Strafbarkeit als Versagungsgrund für die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion zu berufen. Das mit dem Rahmenbeschluss konzipierte Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren ist durch eine starke Stellung des Urteilsstaates geprägt, der allein für die Einleitung des Vollstreckungsübertragungsverfahrens zuständig ist. Unabdingbare Voraussetzung einer solchen Verfahrenseinleitung ist die Beurteilung der Resozialisierungschancen im avisierten Vollstreckungsstaat. Diese Beurteilung setzt zwingend eine gegenüberstellende Abwägung der Resozialisierungschancen im Urteils- und im Vollstreckungsstaat voraus. Denn der Rahmenbeschluss zielt auf eine Verbesserung der Resozialisierungschancen ab. Die grundsätzlich zwingende Anerkennung des Urteils und Übernahme der Sanktionsvollstreckung durch den ersuchten Staat kann nach der Konzeption des Rahmenbeschlusses nur unter bestimmten Voraussetzungen, die in der Arbeit näher zu untersuchen sein werden, versagt werden. Dabei wird das geltende Unionsprimärrecht herangezogen und vor allem analysiert, ob aus diesem eine weitergehende Begrenzung des Anerkennungskonzepts im Sinne einer ordre public-Grenze abzuleiten ist. Der Rahmenbeschluss ist auf Basis der früheren Art. 31 Abs. 1 lit. a, Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EUV a. F. beschlossen worden. Bei diesen primärrechtlichen Bestimmungen handelt es sich um solche, die mit dem Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrages zum 1. Dezember 2009 außer Geltung getreten sind, während der Rahmenbeschluss durch Art. 9 S. 1 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen der Schlussakte von Lissabon in das nunmehr geltende Unionsrecht übergeleitet wurde. Betrachtet man das geltende Unionsprimärrecht als das „Verfassungsrecht der Europäischen Union“, so handelt es sich bei dem Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung daher in gewisser Weise35 um „vorkonstitutionelles Recht“, das am Maßstab des geltenden Unionsrechts zu beurteilen und auszulegen ist. Allerdings birgt die Überleitungsbestimmung konkretisierende Einschränkungen dieser Beurteilung am Maßstab des geltenden Unionsprimärrechts. Denn aus Art. 9 S. 1 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen ergibt sich, dass die Sekundärrechtsakte der bisherigen Dritten Säule Rechtswirkungen beibehalten. Ergänzend ordnet Art. 10 Abs. 1, Art. 3 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen an, dass längstens bis zum Ablauf der fünfjährigen Übergangsfrist nach Inkrafttreten des 35 Als vorkonstitutionell ist der Rahmenbeschluss insofern einzuordnen, als er auf Grundlage von Primärnormen erlassen worden ist, die durch den Lissabonner Reformvertrag entweder ersatzlos aufgehoben (so Art. 34 EUV a. F.) oder durch andere Normen ersetzt (Art. 31 EUV a. F., ersetzt durch Art. 82 AEUV) worden sind. Näher dazu unten Teil 2 Kapitel 1 A. Formal sind jedoch die geltenden Primärverträge lediglich reformierte Fassungen der Gründungsverträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sowie über die Europäische Union, so dass der Rahmenbeschluss nicht formal vorkonstitutionell ist.
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Lissabonner Reformvertrages, also bis zum 30. November 2014, die bisherigen, im Vergleich zum supranationalen Recht beschränkten Kompetenzen der Organe im Hinblick auf die Rechtsdurchsetzung von Rahmenbeschlüssen bestehen blieben. Anderes gilt, wenn der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung zuvor abgeändert36 oder durch einen neuen Sekundärrechtsakt auf Basis des geltenden Primärrechts ersetzt worden wäre. Rahmenbeschlüsse sind gemäß Art. 34 Abs. 1 S. 2 lit. b EUV a. F. für die Mitgliedstaaten zielverbindlich, aber umsetzungsbedürftig. Der Richtlinie des sogenannten supranationalen Unionsrechts nachgebildet, sind sie kraft ausdrücklicher primärvertraglicher Anordnung in Art. 34 Abs. 1 S. 2 lit. b S. 2 EUV a. F. nicht unmittelbar anwendbar. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung erst 2015 in innerstaatliches Recht umgesetzt. Daher richtete sich für die Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der EU trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist des Rahmenbeschlusses am 4. Dezember 2011 die Vollstreckungshilfe bis zu einer tatsächlichen Umsetzung bis dahin nach den zuvor geltenden völkervertraglichen Regelungen, insbesondere dem Überstellungsübereinkommen des Europarates von 1983, der sogenannten Mutterkonvention. Die Säumnis des deutschen Gesetzgebers bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses gab der vorliegenden Studie die Möglichkeit, anhand der Ergebnisse der Untersuchung Umsetzungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die es ermöglichen, bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses und bei Anwendung der Umsetzungsrechts sowohl die Erreichung des verbindlichen Zieles des Rahmenbeschlusses sicherzustellen als auch die Einhaltung der unabdingbaren wesentlichen Rechtsgrundsätze des deutschen Rechts zu gewährleisten. 3. Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) Die innerstaatliche Regelung der Vollstreckungshilfe wurde bzw. wird in der Bundesrepublik Deutschland wesentlich durch das in innerstaatliches Recht transformierte bzw. inkorporierte Völkervertragsrecht geprägt. Neben den dazu ergangenen Vertragsgesetzen hat der Gesetzgeber weitere Ausführungsbestimmungen zum ÜberstÜbk, zu dem Zusatzprotokoll zum ÜberstÜbk und zu dem Schengener Durchführungsübereinkommen in einem Überstellungsausführungsgesetz (ÜAG)37 erlassen. Die gesetzlichen Vollstreckungshilferegelungen sind in 36
Art. 10 Abs. 2 Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen. Gesetz zur Ausführung des Übereinkommens vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen, des Zusatzprotokolls vom 18. Dezember 1997 und des Schengener Durchführungsübereinkommens – Überstellungsausführungsgesetz v. 26.09. 1991, BGBl. I S. 1954; 1992 I S. 1232; 1994 I S. 1425; zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz v. 17.12.2006, BGBl. I S. 3175. 37
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den §§ 84 f., 48 ff. IRG des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG)38 geregelt. Diese sind jedoch aufgrund des in Art. 1 Abs. 3 IRG angeordneten Vorrangs der vertraglichen vor der gesetzlichen Rechtshilfe nur dann heranzuziehen, wenn die vertraglichen Bestimmungen keine vorrangige Regelung enthalten und auch das ÜAG als lex specialis keine Klärung bietet. Allerdings stand zu erwarten, dass der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung diese Regelungen in das IRG implementieren wird. Der Rahmenbeschluss würde nicht per Vertragsgesetz innerstaatliche Geltung erlangen, wie dies bislang beim Überstellungsübereinkommen der Fall ist. Vielmehr würden die Regelungen zum Bestandteil des gesetzlichen Rechtshilferechts. Der bisherige Verweis des § 84 IRG auf §§ 48 ff. IRG würde durch eigene Regelungen im Neunten Teil des IRG ersetzt, so wie dies jüngst in Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Anerkennung und Vollstreckung von Geldsanktionen erfolgt ist.39 Mit Gesetz vom 17. Juli 2015 hat der Gesetzgeber diese Änderungen vorgenommen.40 Von Bedeutung ist vor allem die ordre public-Klausel des § 73 S. 2 IRG, die nach der Systematik des IRG als allgemeine Grenze der Zulässigkeit einer Rechtshilfeleistung für andere Mitgliedstaaten der EU auf Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen des IRG konzipiert ist. Die Frage nach dem zutreffenden ordre public-Maßstab bei der Leistung von Vollstreckungshilfe aufgrund der (konzipierten)41 Europäischen Vollstreckungsanordnung bildet einen Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung. III. Rechtsfragen der Vollstreckungshilfe im dogmatischen Konzept eines „international-arbeitsteiligen Strafverfahrens“ Eingangs des Kapitels wurde festgehalten, dass die Vollstreckungshilfe das Strafverfahren im engeren Sinne, also das Verfahren bis zur Verurteilung und Strafzumessung, von der Strafvollstreckung einschließlich des Strafvollzugs trennt und diese beiden Bereiche des Strafverfahrens im weiteren Sinne in zwei verschiedenen Staaten lokalisiert. Die Vollstreckungshilfe ist als Maßnahme der internationalen Rechtshilfe „Teil der gegen den Verfolgten durchgeführten Straf-
38 Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen v. 23.12.1982, BGBl. I S. 2071, neugefasst durch Bekanntmachung v. 27.06.1994, BGBl. I S. 1537, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes v. 21. Juli 2012 (BGBl. I S. 1566) geändert worden ist. Näher dazu unten Teil 1 Kapitel 2 C. 39 §§ 86 ff. IRG. 40 Siehe dazu unten Teil 4. 41 Zum Vergleich der Ergebnisse der Studie mit der 2015 erfolgten gesetzlichen Neuregelung siehe unten Teil 4.
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Einführung: Gegenstand, Zielsetzung und Methodik
verfolgung insgesamt“ 42 und verknüpft damit die Strafgewalten der an dieser Strafverfolgung beteiligten Staaten in einem bewussten und gewollten Zusammenwirken. In der Literatur wird dies als dogmatisches Konzept eines „international-arbeitsteiligen Strafverfahrens“ begriffen, in dem konsequenterweise auch die wechselseitige Zurechnung von grundrechtlichen Verantwortlichkeiten erforderlich ist.43 Auch diese Überlegungen werden vorliegend in die Untersuchung möglicher Grenzen der Vollstreckungshilfeleistung, namentlich die Diskussion über die Erforderlichkeit beiderseitiger Strafbarkeit und um die Wahrung der ordre public-Grenze, einfließen müssen. Die Verknüpfung zweier Strafgewalten beinhaltet das Zusammentreffen zweier unterschiedlicher staatlicher Rechtsordnungen, die unterschiedliche materiellstrafrechtliche Wertungen sowie unterschiedliche strafverfahrensrechtliche und strafvollstreckungsrechtliche Regelungen einschließlich solcher zum Strafvollzug beinhalten können, in einen Prozess des Strafens. Das Spektrum der aus solchen Unterschieden resultierenden Fragen lässt sich an drei Beispielen aus der europäischen und deutschen Strafgesetzgebung und Vollstreckungshilfepraxis verdeutlichen: 1. Unterschiede im materiellen Strafrecht einschließlich des Sanktionsrechts Bereits die Frage, ob eine bestimmte Rechtsgutsbeeinträchtigung strafbar ist, wird selbst in Teilbereichen des Lebensschutzes von den Mitgliedstaaten der EU uneinheitlich beantwortet. So ist in den Niederlanden,44 Belgien45 und Luxemburg46 die aktive Sterbehilfe, bei der ein anderer als der Sterbewillige vorsätzlich die zum Tode führende Handlung setzt, unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Nach deutschem Recht steht eine solche Tat hingegen als Tötung auf Verlangen gemäß § 216 StGB unter Strafandrohung; seit 10. Dezember 2015 ist nunmehr auch die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung strafbar gemäß § 217
42 So wiederholt das Bundesverfassungsgericht zur Auslieferungshaft, vgl. BVerfGE 61, 28 (34) = StV 1982, 426; BVerfG, Urt. v. 03.02.3000 – 2 BvR 66/00, Beck RS 2000, 30094018. 43 Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), Einleitung Rn. 97 ff.; zur arbeitsteiligen Zurechnung und Verantwortlichkeit des Grundrechtsschutzes im Rechtshilfeverfahren jüngst Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte. Risiken der Verletzung von Grundrechten durch den EU-Rahmenbeschluss im Licht der EMRK (2012). 44 Wet toetsing levensbeëindiging op verzoek en hulp bij zelfdoding, Gesetz v. 12. April 2001, deutsche Übersetzung abrufbar unter http://www.dgpalliativmedizin.de/ images/stories/pdf/euthanasie.pdf (18.12.12). 45 Loi du 28 mai 2002 relative a l’euthanasie complétée par la loi du 10 novembre 2005. 46 Loi du 16 mars 2009 sur l’euthanasie et l’assistance au suicide.
C. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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StGB.47 In Österreich ist die aktive Sterbehilfe als Tötung auf Verlangen gemäß § 77 öStGB mit Strafe bedroht, zudem ist noch weitergehend als die Regelung des § 217 dStGB die Suizidbeihilfe, bei der dem freiverantwortlich aus dem Leben scheidenden Suizidenten Unterstützung bei der Selbsttötung geleistet wird, als Mitwirkung am Selbstmord gemäß § 78 öStGB unter Strafe gestellt.48 Andere Beispiele von Wertungsunterschieden zeigen sich u. a. bei der Abwägung zwischen einer Strafbarkeit der Leugnung des Holocausts und der Meinungsfreiheit. Während sich nach deutschem Recht gemäß § 130 Abs. 3 StGB strafbar macht, „wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art [zu denen der Völkermord zählt] in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost“, ist eine solche Handlung aus Gründen des Rechtes auf freie Meinungsäußerung in keiner der drei Jurisdiktionen des Vereinigten Königreiches kriminalstrafrechtlich ahndbar, solange damit nicht zum Rassenhass aufgerufen wird.49 Die Bedeutung erheblicher Wertungsunterschiede im Sanktionenrecht zeigte sich in der Entscheidung Regina v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Read.50 Denkmöglich sind zwei grundsätzliche Strategien zum Umgang mit der vom Urteilsstaat vorgenommenen Strafzumessung: Die Übernahme bzw. Fortsetzung der Vollstreckung der vom Urteilsstaat verhängten Sanktion durch den Vollstreckungsstaat soweit als irgend möglich (Fortsetzung der Vollstreckung) oder die Umwandlung der verhängten Sanktion in eine nach dem Recht des Vollstreckungsstaates zu verhängende Sanktion (Exequatur). Die Wahl zwischen diesen beiden Optionen kann erhebliche Auswirkungen auf die vom Verurteilten tatsächlich zu verbüßende Strafe haben. Vorliegend war der Täter, Read, wegen Geldfälschung in Spanien zu zwölf Jahren Haft, der Mindeststrafe nach spanischem Recht für diese Tat, verurteilt worden. Bei Urteilsausspruch war Read informiert worden, das Gericht werde der spanischen Regierung empfehlen, die Strafe auf sechs Jahre zu reduzieren. Zum Zeitpunkt, als Read die Überstellung zum Strafvollzug nach England beantragte, war dies jedoch noch nicht geschehen. Nach englischem Recht betrug die Höchststrafe für ein solches Delikt 47 Eingeführt durch das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 03.12.2015, BGBl. I S. 2177. 48 Die Suizidbeihilfe ist allerdings unter bestimmten Voraussetzungen auch in den Niederlanden strafbar, Art. 294 niederländisches Strafgesetzbuch. Ausführlich zur Strafbarkeit der Mitwirkung am Selbstmord gem. § 78 öStGB einschließlich eines Rechtsvergleichs mit Deutschland (vor Einführung des § 217 StGB) und der Schweiz Bruckmüller/Schumann, „In die Schweiz fahren“: Sterbetourismus und Strafbarkeit der Mitwirkung an der Selbsttötung, in: Kierein/Lanske/Wenda (Hrsg.), Jahrbuch Gesundheitsrecht (2008), S. 97 ff. 49 Naysmith, Roundtable, United Kingdom, in: öBMJ (Hrsg.), Seminar on Rassism and Xenophobia, Palace of Justice, Vienna, 20–22 June 2006, Vienna (2006), S. 59 (61). 50 (1987) QB 759 and [1989] 1 All E.R. 759.
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Einführung: Gegenstand, Zielsetzung und Methodik
zehn Jahre; Read hätte bei einer Verurteilung in England mutmaßlich vier Jahre Haft zu erwarten gehabt. Das Vereinigte Königreich hatte jedoch bei Ratifikation des Überstellungsübereinkommens des Europarates51 lediglich die Fortsetzung der Vollstreckung der Urteilsstaat vom verhängten Strafe als solcher anerkannt und die Möglichkeit einer Umwandlung der Strafe nicht akzeptiert. Daher war in Reads Fall nach der Entscheidung des House of Lords lediglich eine Herabsetzung der Strafe auf das nach englischem Recht zulässige Höchstmaß von zehn Jahren möglich, unabhängig davon, dass das spanische Gericht die niedrigste nach spanischem Recht mögliche Strafe verhängt und die Empfehlung für eine außerordentliche Strafnachsicht von sechs Jahren in Aussicht gestellt hatte.52 2. Unterschiede im Strafvollstreckungsrecht einschließlich der Regelung der Strafrestaussetzung zur Bewährung und im Strafvollzug Neben der Frage nach Fortsetzung der Vollstreckung oder Exequatur haben insbesondere die Regelungen zur Aussetzung des Strafrests zur Bewährung (früher sogenannte bedingte Entlassung) einen erheblichen Einfluss auf die tatsächlich zu verbüßende Strafe. Hinzu treten Fragen betreffend die Haftbedingungen und das Angebot an resozialisierenden Maßnahmen. In Müller v. Tschechische Republik53 war der EGMR mit Fragen nach der Fortsetzung der Strafvollstreckung, den Haftbedingungen und dem Angebot resozialisierender Maßnahmen befasst. Müller, ein tschechischer Staatsbürger, war 1998 vom Landgericht München I wegen Beihilfe zum Mord zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Am 4. Dezember 1998 erließen die zuständigen Behörden eine Ausweisungsanordnung. Müller verbüßte seine Haftstrafe zunächst in der JVA Straubing. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers zufolge hatte er dort Arbeitsmöglichkeit, konnte sich die meiste Zeit des Tages frei im Gebäude bewegen und mit jedem der 400 anderen Inhaftierten interagieren. Er habe zudem die Möglichkeit gehabt, jederzeit einen Termin mit einem Psychologen, Psychotherapeuten oder Sozialarbeiter zu vereinbaren. Auch zu beruflicher Ausbildung und Weiterbildung habe Zugang bestanden. Drei Stunden und mehr je Tag hätte es die Möglichkeit zur Betätigung im Freien gegeben, es habe ein breites Sportangebot bestanden. Zudem sei seine Zelle belüftet und nachts dunkel gewesen. Bei Fortdauer des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland hätte Müller die Aussetzung des Strafrests zur Bewährung nach Verbüßung von fünfzehn Jahren zum 3. Mai 2012 beantragen können. Im Mai 2007 ersuchte jedoch das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz die Tschechische Repu51
Ausführlich dazu unten Teil 1 Kapitel 2 B.I. Sachverhaltsschilderung nach van Zyl Smit/Spencer, The European dimension to the release of sentenced prisoners, in: Padfield/van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Release from Prison. European policy and practice (2010), S. 9 (25 f.). 53 EGMR, Urt. v. 06.09.2011, Müller v. Tschechische Republik, Nr. 48058/09. 52
C. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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blik um Übernahme der Strafvollstreckung. Müller stimmte einer Übertragung der Strafvollstreckung nicht zu. In der Folge erkannte zunächst das Landgericht Prag die Strafe an und bemaß sie auf fünfzehn Jahre. Dabei berief es sich darauf, dass eine höhere Strafe zum Zeitpunkt der Tat nach tschechischem Recht nur möglich gewesen wäre, wenn neben anderem die Resozialisierungschancen als besonders gering anzusehen gewesen wären. Auf Berufung der Staatsanwaltschaft urteilte das Obergericht Prag, Müller müsse in Tschechien eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen. Zur Begründung führte es an, dass für die Frage nach der Fortsetzung der Strafe in vom Urteilsstaat verhängten Maß nicht zu prüfen sei, ob alle nach tschechischem Recht bestehenden Voraussetzungen einer lebenslangen Freiheitsstrafe im konkreten Fall vorgelegen hätten. Vielmehr sei nur zu prüfen, ob für eine Straftat wie die zur Last gelegte, im konkreten Fall also für einen Mord, abstrakt eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt werden könne. Dies war der Fall. Am 15. April 2009 wurde Müller in die Tschechische Republik überstellt. Die dortigen Haftbedingungen schildert er wie folgt: Er habe keine Arbeitsmöglichkeit, müsse 23 Stunden am Tag in der Haftzelle oder einem anderen Raum am selben Gang verbringen, habe nur eine, ausnahmsweise zwei Stunden Hofgang auf einer sehr kleinen Fläche, könne nur mit zwei weiteren zu lebenslanger Haft Inhaftierten interagieren, habe keinen Zugang zu beruflichen und Weiterbildungskursen. Zudem sei seine Zelle rund um die Uhr beleuchtet, es sei auch nicht möglich, das Fenster zu öffnen. Mit Ausnahme von Tischtennis im Sommer gebe es keine Sportmöglichkeiten. In einer abgewiesenen Verfassungsbeschwerde machte Müller geltend, dass er bereits an die deutsche Umgebung gewöhnt gewesen sei, er habe fließend Deutsch gesprochen, zudem Besuch und Pakete erhalten. In tschechischer Haft hingegen habe er nur Kontakt zu seiner mehr als 500 km entfernt lebenden Mutter. Nach tschechischem Recht kommt bei lebenslanger Freiheitsstrafe eine Aussetzung des Strafrests zur Bewährung frühestens nach Verbüßung von zwanzig Jahren in Betracht.54 Müller wird daher infolge der Überstellung in die Tschechische Republik zur Strafvollstreckung mindestens bis zum 3. Mai 2017 inhaftiert bleiben. Die Beispiele belegen, dass ganz erhebliche Wertungs- und Regelungsunterschiede in Bezug auf das Maß an Strafbedürftigkeit eines bestimmten Verhaltens, aber auch in Bezug auf das Strafvollstreckungsrecht, namentlich die Regelungen zur Strafrestaussetzung zur Bewährung, bestehen. Deutlich wird schon hier, dass die tatsächlich zu verbüßende Strafe in erheblichem Maße durch die Vollstreckungsübertragung beeinflusst werden kann. Indem beispielhaft auf aktuelle rechtsvergleichende Forschungen zur Frage der unterschiedlichen Regelungen einer Strafrestaussetzung zur Bewährung zurückgegriffen wird,55 werden daher 54 Vgl. die Übersicht zu den Regelungen zur bedingten Entlassung bei vgl. Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 57 Rn. 90 f. 55 Padfield/van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Release from Prison. European Policy and Practice (2010).
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Einführung: Gegenstand, Zielsetzung und Methodik
in der vorliegenden Arbeit auch erhebliche rechtliche, rechtsdogmatische und rechtstatsächliche Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der EU aufgezeigt werden. In der Folge wird zu prüfen sein, ob und wie unter diesem Voraussetzungen die mit dem Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung konzipierte Vollstreckungshilfe auf Basis des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen mit den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten des Verurteilten in Einklang zu bringen ist.
D. Stand der Forschung Eine umfassende rechtsdogmatische Untersuchung der Vollstreckungshilfe auf Basis des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU liegt bislang nicht vor. I. Hingegen finden sich rechtsvergleichende, empirische und systematisierende Arbeiten zur Vollstreckungshilfe, die der Funktion der Rechtshilfe als verknüpfende Normen in einem international-arbeitsteiligen Strafverfahren Rechnung tragen. Sie knüpfen damit an die stark von praktischen Bedürfnissen und politischen Motiven geprägte Rechtssetzung und Auslegung des Vollstreckungshilferechts an, das Wertungen unterschiedlicher Strafrechtssysteme koordinieren muss.56 Eine erste umfassende Studie zur Vollstreckungshilfe mit Überstellung des Verurteilten legte Płachta 1993 vor.57 Ebenso wie in der vorliegenden Arbeit bildet die Untersuchung der sozialen und rechtlichen Probleme eines Freiheitsentzugs an nicht integrierten Ausländern den Ausgangspunkt der Studie von Płachta. Dieser Ansatz findet seine Berechtigung darin, dass das bislang bedeutendste und mit 64 Ratifikationsstaaten weltweit anerkannte ÜberstÜbk gerade zur Lösung dieser die Resozialisierungschancen im Strafvollzug massiv beeinträchtigenden Probleme beschlossen wurde. In der Tat ist gerade die Strafhaft im Ausland mit besonderen sozialen und rechtlichen Problemen behaftet: Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in einem Land, dessen Sprache der Verurteilte möglicherweise nicht spricht, einem Land, in dem nicht sein soziales Umfeld liegt, einem Land, in dem er nach der Haftentlassung nicht leben will oder darf, vermag wenig zur Resozialisierung beizutragen.58 Für nicht integrierte ausländische Häftlinge droht der Strafvollzug auf einen reinen „Verwahrvollzug“ redu56 Vgl. etwa zu den politisch motivierten Einflüssen auf die Entstehung des IRG N. Wilkitzki, Entstehung des Gesetzes über Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) (2010), S. 235 ff. 57 Płachta, Transfer of Prisoners under International Instruments and Domestic Legislation (1993). 58 Schumann/Soyer, Zur Konzeption europäischer Integration zwischen Binnenmarkt und Strafjustiz, in: Geist (Hrsg.), Das Menschenbild im Strafrecht (2010), S. 99 (128). Ausführlich dazu Teil 1 Kapitel 2 C.I.
D. Stand der Forschung
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ziert zu sein.59 Mit dieser Situation von Ausländern in Haft befasst sich in einem umfassenden rechts- und rechtstatsachenvergleichenden Sinne eine 2007 erschienene Studie von van Kalmthout/Hofstee-van-der-Meulen/Dünkel,60 die die Situation in 26 europäischen Staaten einbezieht.61 Darüber hinaus liegt eine Analyse der Situation in bayerischen Justizanstalten von Rieder-Kaiser aus dem Jahr 2004 vor.62 Beide Studien bestätigen die grundsätzliche Gefährdung der Erreichung des Strafvollzugszieles der Resozialisierung, die sowohl aus rechtlichen Voraussetzungen für aktiv resozialisierende Maßnahmen im Strafvollzug, wie der Unterbringung im offenen Vollzug, als auch aus faktischen Problemen, insbesondere mangelnder Sprachkenntnis, resultiert. Die durch das Europaratsübereinkommen von 1983 und dessen Umsetzung in Deutschland geschaffene Rechtslage zur Vollstreckungshilfe analysiert eingehend Weber in seiner 1997 erschienenen Dissertation. Trotz einer grundsätzlich positiven Würdigung des Übereinkommens kritisiert er dessen eng gefasste Voraussetzungen; insbesondere das Zustimmungserfordernis des Verurteilten zur Vollstreckungsüberstellung wird kritisch hinterfragt.63 Ebenfalls kritisch setzt sich Satzger im Rahmen des von Schünemann initiierten Forschungsprojekts und 2006 veröffentlichten alternativen „Gesamtkonzept[s] für die europäische Strafrechtspflege“ mit dem zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Entwurf des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung auseinander.64 Er kommt u. a. zu dem Ergebnis, unter Berufung auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung vernachlässige der Entwurf ohne Not die Wahrung des ordre
59 So Reindl-Krauskopf/Grafl, Kriminalität nicht integrierter Ausländer – eine vielfältige Herausforderung für das Strafrecht, 17. ÖJT III/1 (2009), S. 41; siehe auch die auf Berichten aus 25 europäischen Staaten beruhende zusammenfassende Schlussfolgerung bei van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel, Chapter 1: Comparative overview, Conclusions and Recommendations, in: dies. (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007), Kap. 1, S. 5, 16. Kritisch zur Beschreibung als „Verwahrvollzug“ Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung (2004), S. 85. Siehe zum Vollzugsziel Teil 1 Kapitel 2 A.II.2.d). 60 van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007). 61 Vgl. aber auch Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Fremde im Gefängnis – Herausforderungen und Entwicklungen. I. Universitäre Strafvollzugstage in Linz (2007). 62 Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung (2004). 63 Weber, Überstellung in den Heimatstaat. Ein Konzept wider den Strafvollzug in der Fremde. Zugleich ein Beitrag zum Recht der internationalen Vollstreckungshilfe in Strafsachen (1997). Siehe daneben auch den knappen, aber informativen Rechtsvergleich völkerrechtlicher Regelungen zur Vollstreckungshilfe bei Mix, Die Vollstreckungsübernahme im Internationalen Strafrecht (2003). Zur österreichischen Rechtslage vgl. Werkusch, Die Vollstreckung ausländischer Straferkenntnisse (2001). 64 Satzger, Die Europäische Vollstreckungsübernahme, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für eine europäische Strafrechtspflege (2006), S. 146 ff.
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Einführung: Gegenstand, Zielsetzung und Methodik
public des Vollstreckungsstaates.65 Im Rahmen des von der Arbeitsgruppe entwickelten Gesamtkonzepts wird dem Regelungsentwurf der Europäischen Vollstreckungsanordnung ein eigenes Regelungsmodell einer Europäischen Vollstreckungsübernahme gegenübergestellt, das gegenüber dem Entwurf der Vollstreckungsanordnung erweiterte Prüfungsmöglichkeiten des Vollstreckungsstaates bietet und auch die Einflussmöglichkeiten des Verurteilten und des Vollstreckungsstaates auf das Verfahren durch erweiterte Initiativ- und Zustimmungsrechte stärkt.66 Während offener Umsetzungsfrist des im Mittelpunkt der vorliegenden Studie stehenden Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung haben Vermeulen/van Kalmthout u. a. eine zweibändige Studie vorgelegt, die vor allem die Rechtslage zur Vollstreckungshilfe in den Mitgliedstaaten der EU, aber auch die unterschiedlichen Haftbedingungen untersucht.67 Obwohl die Studie einen weitreichenden vergleichenden Überblick über das Vorliegen unterschiedlicher Vollzugsformen und -bedingungen in den Mitgliedstaaten der EU bietet, kann sie für die vorliegende Arbeit nur bedingt nutzbar gemacht werden. Denn die Studie enthält keine eigenständige rechtsvergleichende Analyse, sondern basiert vielmehr auf Fragebogenerhebungen und lässt damit nur bedingt einen Rückschluss auf die normativen Grundlagen der Befunde zu. II. Der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU ist seit seiner ausdrücklichen Benennung als „Eckstein“ der strafjustiziellen Zusammenarbeit durch das Tampere-Programm zur Errichtung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Jahre 1999 Gegenstand einer umfangreichen wissenschaftlichen Diskussion. Ganz grundlegend wird hinterfragt, ob der im Binnenmarktrecht entwickelte Grundsatz, der dem freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital zwischen den Mitgliedstaaten dienen soll, auf den Bereich hoheitlicher Strafverfolgung übertragbar ist.68 Während die Freizügigkeitsrechte im Binnen65 Satzger, Die Europäische Vollstreckungsübernahme, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für eine europäische Strafrechtspflege (2006), S. 146 (154). 66 Satzger, Die Europäische Vollstreckungsübernahme, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für eine europäische Strafrechtspflege (2006), S. 146 (156). 67 Vermeulen/van Kalmthout/Paterson/Knapen/Verbeke/De Bondt, Cross-border execution of judgements involving the deprivation of liberty in the EU (2011); dies., Material detention conditions, execution of custodial sentences and prisoner transfer in the EU Member States (2011). 68 Braum, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Historische Grundlagen und Perspektiven europäischer Strafrechtsentwicklung, GA 2005, 681 ff.; Gleß, Zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, ZStW 116 (2004), 353 ff.; Lavenex, Mutual recognition and the monopoly of force: limits of the single market analogy, JEPP 14 (2007), 762 ff., eine rechtsgebietsübergreifende Querschnittsanalyse des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung im Unionsrecht nimmt vor Müller-Graff, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Unionsrecht, ZVglRWiss 111 (2012), 72 ff., für eine aktuelle
D. Stand der Forschung
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markt der grenzüberschreitenden Entfaltung der wirtschaftlichen Betätigung, und damit der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten des Individuums, dienen, ziele die gegenseitige Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen im Binnenmarkt darauf ab, punitiven hoheitlichen Akten zur grenzüberschreitenden Durchsetzung zu verhelfen, und wirke für den Einzelnen damit potentiell freiheitsbeschränkend.69 Die grundsätzlich zwingende Anerkennung verhelfe mangels verbindlicher Einschränkungen des Strafanwendungsrechts potentiell der punitivsten Strafrechtsordnung der Mitgliedstaaten zur Durchsetzung.70 Dem wird entgegnet, dass der repressive Charakter des Anerkennungsgrundsatzes im Bereich der Strafverfolgung erst durch die sekundärrechtliche Ausgestaltung geprägt werde.71 III. Einen zentralen Punkt der Auseinandersetzung mit dem sekundärrechtlich konkretisierten Konzept der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen bildet die Abschaffung der beiderseitigen Strafbarkeit als Voraussetzung der Rechtshilfeleistung. Dabei wird diskutiert, ob dem – nicht in allen völkerrechtlichen Rechtshilfekonzeptionen vorausgesetzten – Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit ein unverzichtbarer individualschützender Charakter zukommt oder ob dieses Erfordernis lediglich der Absicherung der Reziprozität in der völkerrechtlichen Staatenkooperation dient.72 Neben dem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit steht die Frage nach der anwendbaren ordre public-Grenze der Rechtshilfeleistung für Mitgliedstaaten der EU in Diskussion. Teils wird dabei die in § 73 S. 2 IRG vorgenommene Beschränkung auf den europäischen ordre public unterstützt und zur Begründung auf die parallelen Vorgaben des europäischen Gesetzgebers verwiesen.73 Vorliegend wird dem eine engere Lösung entgegengesetzt, die an die Konzeption der Grenzen des Anerkennungsgrundsatzes im Binnenmarkt anknüpft, den verfassungsrechtlichen Vorgaben der deutschen Rechtsordnung Rechnung zu tragen sucht und zugleich so weit wie möglich in Einklang mit den Vorgaben des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung zu bringen Bestandsaufnahme Dannecker, Le Principe de reconnaissance mutuelle en matière pénale dans L’Union européene, ZVglRWiss 111 (2012), 64 ff. 69 So z. B. Unger, Schutzlos ausgeliefert? Der Europäische Haftbefehl. Ein Beispiel für die Missachtung europäischer Bürgerrechte (2005), S. 112 ff. 70 Fuchs, Europäischer Haftbefehl und Staatensouveränität, JBl 2003, 405 ff.; ders., Bemerkungen zur gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen, ZStW 116 (2004), 368 ff. 71 Pohl, Vorbehalt und Anerkennung. Der Europäische Haftbefehl zwischen Grundgesetz und europäischem Primärrecht (2009), S. 76. 72 Ausführlich dazu Teil 2 Kapitel 2 A.IV. 73 Vogel, Abschaffung der Auslieferung? Kritische Anmerkungen zur Reform des Auslieferungsrechts in der Europäischen Union, JZ 2001, 937 (942); Böse, Country-Report Germany, in: Moore, Anthony (Ed.)/Chiavario, Mario (General Rapporteur), Police and Judicial Co-operation in the European Union, FIDE 2004 National Reports (2004), S. 93 (112).
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Einführung: Gegenstand, Zielsetzung und Methodik
ist.74 Entscheidend dafür ist, dass, wie zu zeigen sein wird, die Begrenzung der Rechtshilfe durch den nationalen ordre public und der Verzicht auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit zwei unmittelbar voneinander abhängige Variablen im System der Ausgestaltung einer Rechtshilfe sind.75
E. Gang der Untersuchung Der Gang der Untersuchung ergibt sich aus den benannten grundlegenden Fragestellungen. Die Arbeit ist in die vorliegende Einführung, zwei Hauptteile sowie die zusammenfassenden Schlussfolgerungen untergliedert. Im ersten Hauptteil wird die Vollstreckungshilfe rechtlich eingeordnet und es werden die geltenden Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe sowie die Neukonzeption durch den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung untersucht. Im zweiten Hauptteil werden Maßstäbe und Grenzen der Europäischen Vollstreckungsanordnung als eines Rechtsinstruments zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung sowohl aus Sicht des Unionsrechts als auch aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts analysiert. Schließlich wird untersucht, welche Grenzen des Anerkennungsgrundsatzes bereits im Rahmenbeschluss selbst gezogen werden und ob ein darüber hinausgehender Schutzbedarf verbleibt. Einführend werden das Ziel der Arbeit und die damit einhergehenden Forschungsfragen klargestellt, die anhand der herauszuarbeitenden Erkenntnisse im Abschlussteil beantwortet werden sollen. Die Beantwortung dieser Fragen erfordert eine umfassende Analyse der rechtlichen Voraussetzungen und Grenzen der Vollstreckungshilfe aus der Sicht des Europarechts und des deutschen Rechts. Art. 67 Abs. 1 AEUV bestimmt: „Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden.“ Die Vorschrift macht deutlich, dass eine Diskussion des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung allein aus der Sicht des Europarechts nicht sinnvoll geführt werden kann. Dies gilt umso mehr, als ein Rahmenbeschluss nicht unmittelbar anwendbar ist, sondern der Umsetzung in mitgliedstaatliches Recht bedarf. Ein genereller Rückgriff auf mehrere mitgliedstaatliche Rechtsordnungen als Vergleichsmaßstab erfolgt bewusst nicht; er würde den Umfang der vorliegenden Arbeit sprengen. Vielmehr wird auf die vergleichende Berücksichtigung der völker- bzw. unionsrechtlichen Regelungen der Vollstreckungshilfe fokussiert. Dabei
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Näher dazu unten Teil 2 Kapitel 2 B. und C. Vgl. dazu schon Jescheck, Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, ZStW 66 (1954), 518 (531 ff.), allerdings bezogen auf die Auslieferung. 75
E. Gang der Untersuchung
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gilt es zu berücksichtigen, dass der primärrechtliche Hintergrund des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung durch den Vertrag von Lissabon erheblich umgestaltet worden ist und die rechtliche Einordnung des Rahmenbeschlusses einschließlich seines Verhältnisses zum mitgliedstaatlichen Recht durch Übergangsregelungen bestimmt wird. Auch wenn ein genereller Rückgriff auf mehrere mitgliedstaatliche Strafrechtsordnungen als Vergleichsmaßstab für die vorliegenden Forschungsfragen nicht erforderlich ist, so bedarf es doch eines punktuellen Vergleichs bei einzelnen Rechtsfragen, wie beispielsweise bei der Regelung der Strafrestaussetzung zur Bewährung (sog. vorzeitige oder bedingte Entlassung). I. Rechtliche Einordnung und Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe Der erste Hauptteil ist in drei Kapitel gegliedert. 1. Rechtliche Einordnung und Ziele der sowie Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe Im ersten Kapitel wird die Vollstreckungshilfe zunächst rechtlich eingeordnet und es werden ihre Ziele, nämlich die Verbesserung der Resozialisierungschancen und die Sanktionsdurchsetzung, sowie die Anforderungen an ihre Ausgestaltung und Grenzen näher untersucht. Dazu wird erörtert, in welchem Umfang diese Ziele durch die Strafzwecke des Schuldausgleichs, der Spezial- und der Generalprävention sowie durch das Strafvollzugsziel der Resozialisierung bestimmt werden. Es wird das Ziel verfolgt herauszuarbeiten, in welchem Maße die über das Resozialisierungsziel des Strafvollzugs hinausgehenden Strafzwecke bei der Entscheidung über die Vollstreckungsübertragung berücksichtigt werden dürfen. Namentlich ist dabei an Fallgestaltungen wie im oben vorgestellten Fall Read v. Vereinigtes Königreich zu denken, bei denen bereits im Strafrahmen, spätestens aber in der konkreten Strafe erhebliche Wertungsunterschiede zwischen den Strafrechtsordnungen der beteiligten Staaten zum Ausdruck kommen bzw. die verhängte Strafe durch die Vollstreckungsübertragung eine erhebliche Anpassung erfahren würde. Die Belastungen für das Resozialisierungsziel des Strafvollzugs, die sich aus der besonderen Situation nicht integrierter Ausländer im Strafvollzug ergeben, sind für die Beurteilung der Frage von Bedeutung, ob und inwieweit mit dem Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung ein legitimes Ziel verfolgt wird. Die Kenntnis der Belastungsfaktoren ist aber insbesondere für die Umsetzung des Rahmenbeschlusses und die Anwendung der Europäischen Vollstreckungsanordnung wichtig. Denn das Rechtsinstrument der Europäischen Vollstreckungsanordnung soll der Verbesserung der Resozialisierungschancen
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Einführung: Gegenstand, Zielsetzung und Methodik
dienen. Die Einleitung eines Vollstreckungsübertragungsverfahrens wird daher für den konkreten Einzelfall eine Prognoseentscheidung darüber voraussetzen, ob einer Vollstreckung der freiheitsentziehenden Sanktion im Vollstreckungsstaat bessere Resozialisierungschancen beizumessen sind als einer solchen im Urteilsstaat. Die Auswertung der verfügbaren statistischen Daten zu Unionsbürgern, die sich in Strafhaft in anderen EU-Mitgliedstaaten befinden, dient dazu, das Anwendungspotential der Europäischen Vollstreckungsanordnung besser eingrenzen zu können. Zugleich dienen diese Feststellungen der Subsidiaritätskontrolle im Sinne des Art. 5 Abs. 3 EUV. Die erhobenen Daten legen nahe, dass die bisherigen den Mitgliedstaaten verfügbaren Rechtsinstrumente keine hinreichende Lösung bieten. 2. Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe de lege lata Im zweiten Kapitel des ersten Hauptteils werden die Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe de lege lata näher untersucht. Aufgrund des Vorrangs der vertraglichen vor der gesetzlichen Rechtshilfe stehen hier völkerrechtliche Übereinkommen, allen voran das Überstellungsübereinkommen des Europarates, im Mittelpunkt der Untersuchung. Die Analyse zielt auf zwei Fragestellungen ab: Erstens soll ein ganzheitliches Bild der erfassten Formen von Vollstreckungshilfe entwickelt werden, um bei der Untersuchung der vom Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung erfassten Fallgestaltungen vergleichen zu können, ob die Neuregelungen durch den Rahmenbeschluss über den vorherigen status quo hinausgeht. Zweitens sind der Ratifikationsstand bzw. die Anwendbarkeit der verschiedenen Rechtsakte zu berücksichtigen, um ein tatsächliches Bild der verfügbaren Rechtsgrundlagen vor Umsetzung zu zeichnen und dieses dem Anwendungsbereich der Europäischen Vollstreckungsanordnung gegenüber stellen zu können. Ergänzend werden auch die Regelungen der gesetzlichen Vollstreckungshilfe nach dem Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen untersucht. Diese sind zwar nur dann heranzuziehen, wenn keine vorrangigen vertraglichen Regelungen einschlägig sind. Die Untersuchung dieser gesetzlichen Voraussetzungen war aber vor allem insoweit von zentraler Bedeutung für vorliegende Arbeit, als zu erwarten stand, dass der deutsche Gesetzgeber die Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung im IRG vornehmen werde. Während § 73 S. 1 IRG eine Rechtshilfeleistung für unzulässig erklärt, wenn sie gegen die „wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung“ verstößt, ist nach § 73 S. 2 IRG bei Ersuchen im Rechtshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn „die Erledigung zu den in Artikel 6 des Vertrages über die Europäi-
E. Gang der Untersuchung
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sche Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde“. Nach dem einfachgesetzlich normierten Willen des Gesetzgebers stehen, wie zu zeigen sein wird, Satz 1 und Satz 2 der Vorschrift in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander. Die vorliegende Arbeit untersucht jedoch in ihrem zweiten Hauptteil zentral die Frage, ob, erstens, diese gesetzgeberische Wertung mit den primärvertraglichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen übereinstimmt und, zweitens, aufgrund grundgesetzlicher Anforderungen an die Ausgestaltung der Rechtshilfeleistung durch deutsche Behörden Bestand haben kann. 3. Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung Im dritten Kapitel des ersten Hauptteils wird der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung einer eingehenden Analyse unterzogen. Diese Untersuchung nimmt die in den vorherigen Kapiteln der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse in Bezug. Es werden die Neuerungen der durch den Rahmenbeschluss konzipierten Vollstreckungshilfe gegenüber der Vollstreckungshilfe vor Umsetzung vergleichend herausgearbeitet. Zu den wesentlichen Fragen der Untersuchung gehört dabei, welchen Einfluss die Vollstreckungsübertragung auf die zu vollziehende Sanktion hat und welchen Grenzen einer Veränderung dieser Sanktion zu ziehen sind. Erörtert werden neben den Anforderungen, die sich aus den Strafzwecken ableiten, Vertrauensschutzgesichtspunkte sowie Gleichheitserwägungen, Art. 20 EU-GRCh, und das Recht des Verurteilten auf persönliche Freiheit, Art. 6 EU-GRCh. Korrespondierend mit den ordre public-Überlegungen, die ein Kernthema der vorliegenden Arbeit sind, wird die durch den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung getroffene Regelung zur Abschaffung der beiderseitigen Strafbarkeit als zwingender Rechtshilfevoraussetzung untersucht. Bemerkenswert ist dabei, dass erstmals seit der sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Anerkennungskonzepts durch den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet wird, von der zwingenden Abschaffung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit im Anwendungsbereich der Listendelikte wieder zurückzutreten. Die Bedeutung dieses Wandels der sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten wird diskutiert werden müssen. II. Maßstab und Grenzen der Vollstreckungshilfe Im Fokus des zweiten Hauptteils der Arbeit stehen die Maßstäbe und Grenzen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen, die am Beispiel der Europäischen Vollstreckungsanordnung herausgearbeitet werden.
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Einführung: Gegenstand, Zielsetzung und Methodik
1. Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen der Europäischen Vollstreckungsanordnung Im ersten Kapitel dieses Teils der Arbeit wird der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung in den Kontext der primärvertraglichen Regelungen zur strafjustiziellen Zusammenarbeit eingebettet. Schwerpunkte bilden dabei die Analyse des Raumzieles der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, die systematische Einordnung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen sowie die bereits angesprochene Untersuchung, ob bzw. ab wann der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung als Rechtsakt der früheren Dritten Säule am Vorrang des Unionsrechts teilnimmt. Zudem werden vor dem Hintergrund der aufgeworfenen Forschungsfrage nach der Notwendigkeit der Neuregelung der innereuropäischen Vollstreckungshilfe durch den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung die Kompetenzausübungsschranken der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit kurz angesprochen. Bei der systematischen Einordnung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen wird gezeigt, dass das Unionsrecht selbst eine Begrenzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen durch einen ordre public-Vorbehalt verlangt. Es wird deutlich werden, dass ein solcher ordre public-Vorbehalt, der den Anforderungen sowohl des europäischen Primärrechts als auch den grundgesetzlichen Anforderungen entsprechen muss, als unionsrechtlich kontrollierter nationaler ordre public, und damit als unionsrechtlicher Rahmenbegriff auszugestalten ist, wenn der Verzicht auf die beiderseitige Strafbarkeit als zwingende Vollstreckungshilfevoraussetzung beibehalten werden soll. 2. Grenzen der Vollstreckungshilfe aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung Im Mittelpunkt der Überlegungen des zweiten Kapitels in diesem Teil der Arbeit steht zunächst die Frage nach dem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit oder der Möglichkeit, auf dieses zu verzichten. Es wird untersucht, wo die Wurzeln des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit liegen und ob ihm eine individualschützende Aufgabe zukommt, derentwegen dieses Erfordernis unverzichtbar wäre. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Voraussetzung für die Leistung von Vollstreckungshilfe nicht unverzichtbar ist. Vielmehr wird zu prüfen sein, ob der notwendige Individualschutz, wie ihn der Grundsatz des nullum crimen, nulla poena sine lege verlangt, nicht auf anderem Wege hinreichend gewährleistet werden kann. Dazu wird auf das dogmatische Konstrukt eines „international-arbeitsteiligen Strafverfahrens“ zurückgegriffen
E. Gang der Untersuchung
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und die anhand des Unionsrechts erarbeitete Lösung eines unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public als Anerkennungsgrenze auch aus verfassungsrechtlicher Sicht bestätigt. 3. Grenzen der Vollstreckungshilfe nach der Konzeption des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung sowie im Lichte der Ergebnisse der Untersuchung Im dritten Kapitel dieses Hauptteils der Arbeit werden die im Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung explizit verankerten Gründe einer Versagung der Urteilsanerkennung und Sanktionsvollstreckung kritisch analysiert und untersucht, welcher Bedarf für eine darüber hinausgehende Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes durch den in der vorliegenden Arbeit konzipierten unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public verbleibt. III. Zusammenführung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen Im abschließenden dritten Teil der Arbeit werden die Ergebnisse der rechtsdogmatischen Untersuchungen unter Einbeziehung der empirischen und statistischen Befunde zusammengefasst, um so die in dieser Einleitung aufgeworfenen grundlegenden Fragen der Arbeit zu beantworten. Diese reichen von den Neuerungen der Vollstreckungshilfe der Europäischen Vollstreckungsanordnung über die Begrenzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU durch den unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public und eine alternative Lösung dazu bis hin zur Frage eines sich aus der Implementierung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung ergebenden weiteren Harmonisierungsbedarfs. Zugleich werden Schlussfolgerungen für die Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung in deutsches Recht gezogen und Anforderungen an deren künftige Handhabung zusammengefasst.
Teil 1
Rechtliche Einordnung, Ziele und Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe Kapitel 1
Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit einer Vollstreckungshilfe 1. Im vorliegenden Kapitel wird zunächst die Vollstreckungshilfe rechtlich eingeordnet und näher untersucht. Ausgehend von einer allgemeinen Verortung der Vollstreckungshilfe als Form der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen im Rahmen eines international-arbeitsteiligen Strafverfahrens zur Durchsetzung einer transnationalen Werteordnung sollen die Ziele und Grenzen der Vollstreckungshilfe dogmatisch genauer abgeleitet werden. Bereits im Eingangskapitel wurde gezeigt, dass die Dauer der tatsächlich verbüßten Strafe ebenso wie die Haftbedingungen durch eine Vollstreckungsübertragung erheblich beeinflusst werden können. Zu fragen ist, ob und wie weitgehend diese möglichen Konsequenzen einer Vollstreckungsübertragung hinzunehmen sind. Deshalb soll vorliegend untersucht werden, ob aus den Zielen der Vollstreckungshilfe, die (zumindest auch) auf den Strafzwecken beruhen, dogmatische Maßstäbe zur Beantwortung dieser Fragen entwickelt werden können. Die Überlegungen zielen insbesondere auf Maßstäbe für den Umgang mit der im Urteilsstaat zugemessenen Strafe während deren Vollstreckung im Vollstreckungsstaat ab. 2. Die mit einer Vollstreckungsübertragung verbundenen Probleme müssen im konkreten Einzelfall bei der Entscheidung über das Ob einer Vollstreckungsübertragung berücksichtigt werden. Diese Entscheidung ist an den Zielen der Vollstreckungshilfe auszurichten. Dabei müssen insbesondere die Resozialisierungschancen bei einer Strafvollstreckung im Urteilsstaat als Alternative zur Vollstreckungsübertragung beurteilt werden. In der zweiten Hälfte des vorliegenden Kapitels werden daher zunächst den Problemen der Vollstreckungshilfe typische Probleme des Strafvollzugs an nicht integrierten Ausländern gegenübergestellt. Erst die Kenntnis dieser Probleme ermöglicht einen sachgerechten Vergleich der prognostischen Resozialisierungschancen im Urteils- und im Vollstreckungsstaat, wie ihn die Entscheidung über die Vollstreckungshilfe auf Basis der Europäischen Vollstreckungsanordnung voraussetzt.1 1
Siehe dazu unten Teil 1 Kapitel 3 J.
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe
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3. Neben den qualitativen Problemen eines Strafvollzugs an nicht integrierten Ausländern gab die Behauptung quantitativer Vollzugsbelastungen durch Ausländer im Strafvollzug den Anstoß zur Einleitung des Rechtssetzungsverfahrens für den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung.2 Daher wird zum Abschluss der zweiten Hälfte dieses Kapitels eine quantitative Eingrenzung dieser Vollzugsbelastungen vorgenommen, indem die verfügbaren Zahlen zu EU-Ausländern im Strafvollzug in EU-Mitgliedstaaten, deren Staatsangehöriger sie nicht sind, untersucht werden. Zusätzlich werden für Deutschland die aktuell verfügbaren Zahlen zur bisherigen Vollstreckungshilfepraxis einbezogen, um so punktuell einen Vergleich zwischen Vollstreckungshilfepraxis und Anwendungspotential der Vollstreckungshilfe ziehen zu können.
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe Die Zielkonkretisierung setzt zunächst eine genauere rechtliche Verortung der Vollstreckungshilfe voraus: Die Vollstreckungshilfe ist Teil der internationalen3 Rechtshilfe in Strafsachen. I. Rechtshilfe als Element eines international-arbeitsteiligen Strafverfahrens zur Durchsetzung einer transnationalen Werteordnung 1. Begriff der Rechtshilfe Unter dem Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen werden verschiedene Formen transnationaler Unterstützungsleistung in Bezug auf Strafverfahren zusammengefasst.4 Zur internationalen Rechtshilfe in Strafsachen gehören neben der Vollstreckungshilfe noch die Auslieferung als die „große“ und die sonstige als die „kleine“ 5 Rechtshilfe.6 Der Begriff der Strafsachen umfasst all 2
Siehe unten C.II., in diesem Kapitel. Der Begriff der Rechtshilfe ist kontextabhängig und findet sowohl für innerstaatliche Kooperationsformen als auch für eine internationale Zusammenarbeit Anwendung. Die vorliegende Analyse beschränkt sich auf die internationale Rechtshilfe; der Begriff der rein innerstaatlichen Rechtshilfe, wie er in der Rahmenvorschrift des Art. 35 Abs. 1 GG angesprochen ist (zur einfachgesetzlichen Ausfüllung siehe etwa §§ 156 ff. GVG und §§ 4 ff. VwVfG), bleibt außer Betracht. Für einen Vergleich innerstaatlicher und internationaler Rechtshilfe sowie eine Abgrenzung zur zwischenstaatlichen Amtshilfe vgl. etwa Schädel, Die Bewilligung internationaler Rechtshilfe in Strafsachen in der Europäischen Union (2005), S. 46 ff., 50 ff. 4 Vgl. Riedo/Fiolka/Niggli, Strafprozessrecht sowie Rechtshilfe in Strafsachen (2011), Rn. 3135 m.w. N.; ähnlich Hackner/Lagodny/Schomburg/Wolf, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen. Ein Leitfaden für die Praxis (2003), Rn. 1. 5 Damit sind alle anderen Formen der Rechtshilfe gemeint, z. B. die Vornahme von Untersuchungshandlungen, wie etwa Beschuldigten- und Zeugenvernehmung, Gegenüberstellung, Beschlagnahme, die Erteilung von Auskünften über Daten und Zustellun3
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
jene Verfahren, die wegen einer tatsächlich oder mutmaßlich bereits begangenen Straftat oder mit einer Geldbuße bedrohten Ordnungswidrigkeit7 von einem Staat betrieben werden, sofern die Verfahren die Verhängung oder Vollstreckung einer strafrechtlichen Sanktion zum Ziel haben, über deren Feststellung ein auch für Strafsachen zuständiges Gericht entscheiden kann.8 Rechtshilfe ist also das verschiedene Rechtsordnungen verknüpfende Instrumentarium eines internationalarbeitsteiligen Strafverfahrens.9 2. International-arbeitsteiliges Strafverfahren als Kompensation territorial beschränkter Hoheitsgewalt Die internationale Rechtshilfe dient ganz allgemein der Lösung von Problemen im Strafverfahren, die in der grundsätzlichen Beschränkung der Ausübung von Hoheitsgewalt auf das eigene Staatsgebiet wurzeln, während die tatsächliche Fallgestaltung des Strafverfahrens an den Staatsgrenzen nicht Halt macht. Der Wegfall der Binnengrenzen, genauer gesagt der Wegfall der Binnengrenzkontrollen, innerhalb des Schengen-Raumes erleichterte zwangsläufig die in verbaler Zuspitzung als „fünfte Grundfreiheit“ 10 bezeichnete faktische Freizügigkeit auch von Straftätern. Es kann daher nicht verwundern, wenn der Wegfall der Binnengrenzkontrollen an der Staatsgrenze und damit vor Verlassen des Territoriums, auf dem jeder Staat im Normalfall selbst die Durchsetzung seiner Strafrechts-
gen, aber auch die Mitwirkung an gemeinsamen Ermittlungsgruppen oder bei verdeckten Ermittlungen bzw. kontrollierten Lieferungen; vgl. Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), Einl. Rn. 16. 6 Hackner/Lagodny/Schomburg/Wolf, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen. Ein Leitfaden für die Praxis (2003), Rn. 2. 7 Einer nach deutschem Recht mit Geldbuße bedrohten Ordnungswidrigkeit stehen bei bestehender strafgerichtlicher Zuständigkeit vergleichbare Verwaltungssanktionen nach ausländischem Recht gleich, vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 IRG; im Rechtsvergleich der Mitgliedstaaten der EU ist letzterer Begriff gebräuchlich. 8 Die zur Aufklärung von Straftaten vorgenommene internationale polizeiliche Zusammenarbeit in Strafsachen ist nicht als Amtshilfe einzuordnen, sondern gehört zur internationalen Rechtshilfe; vgl. näher dazu Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), Vor § 1 IRG Rn. 156. 9 Vgl. zum dogmatischen Konzept des „international-arbeitsteiligen Strafverfahrens“ bereits oben Einführung C.III. 10 So provokativ bezeichnet von van Zyl Smit/Spencer, The European dimension to the release of sentenced prisoners, in: Padfield/van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Release from Prison. European policy and practice (2010), S. 9 (28). Dannecker, Die Entwicklung des Wirtschaftsstrafrechts unter dem Einfluss des Europarechts, in: Wabnitz/ Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts3 (2007), Kap. 2 Rn. 17, verweist unter Bezugnahme auf Innenministerium Baden-Württemberg, Europa – der neue kriminalgeographische Raum (1992), auf den so entstandenen „kriminalgeographischen Raum“.
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe
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ordnung souverän, also ohne fremde Hilfe, erzwingen kann,11 in der EU primär durch einen Ausbau und eine Weiterentwicklung der zwischenstaatlichen Rechtshilfe innerhalb der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zu kompensieren gesucht wurde.12 Bereits das Schengener Durchführungsübereinkommen enthielt für den Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit zur Kompensation der Risiken, die der Strafverfolgung aus erleichterter Individualfreizügigkeit erwachsen, Bestimmungen zu einer Modifikation des Auslieferungsrechts und solche, die die Übernahme oder Übertragung der Strafvollstreckung, also die Vollstreckungshilfe, zwischen den Schengen-Staaten erleichtern sollten.13 3. Transnationale Werteordnung als Voraussetzung und Grenze einer Rechtshilfeleistung Das grundlegende Ziel der internationalen Rechtshilfe ist es, einen Beitrag zur Durchsetzung einer transnationalen Werteordnung zu leisten,14 indem sie die Durchsetzung der diese Werteordnung absichernden Strafnormen unterstützt. a) Strafrecht als Schutz unterschiedlicher gesellschaftlicher Wertvorstellungen nur eingeschränkt transnational vergleichbar Allerdings ist das Strafrecht ein von den Wertvorstellungen der jeweiligen Gesellschaft in besonderem Maße geprägtes Recht. Zwar gibt es unbestreitbar einen gewissen Kernbestand von Grundregeln menschlichen Zusammenlebens, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass ihre Verletzung in allen Rechtsordnungen mit Sanktion bedroht ist; etwa das Verbot, einen anderen Menschen zu töten, oder das Diebstahlsverbot. Selbst für diesen Bereich kann aber, wie gezeigt, weder davon ausgegangen werden, dass die Strafbarkeit auch in Grenzbereichen wie der Sterbehilfe oder der Tötung auf Verlangen in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen gleichermaßen weit gezogen ist,15 noch kann angenommen werden, dass die Sanktionsdrohungen vergleichbar ausgestaltet sind. Daher ist dem Bundesverfassungsgericht zuzustimmen, das in der Lissabon-Ent11 v. Weber, Internationale Rechtshilfe zur Beweisaufnahme im Strafverfahren, in: Geerds/Naucke (Hrsg.), Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft. Festschrift für Hellmuth Mayer zum 70. Geburtstag am 1. Mai 1965 (1966), S. 517 (518), bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die Gerichtsgewalt endet nach Völkerrecht an den Staatsgrenzen.“ 12 Näher zur Verknüpfung von Binnenmarkt, Schengen-Raum und Polizeilicher und Justizieller Zusammenarbeit in Strafsachen Schumann/Soyer, Zur Konzeption europäischer Integration zwischen Binnenmarkt und Strafjustiz, in: Geist (Hrsg.), Das Menschenbild im Strafrecht, 2010, S. 99 (106 ff.). 13 Siehe dazu unten Teil 1 Kapitel 2 B.II. 14 Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), Einl. Rn. 97 ff., 109. 15 Siehe oben Einleitung C.III.1.
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
scheidung selbst für den im weltweiten Vergleich recht homogenen Bereich der Europäischen Union zu dem Schluss kommt: „Die Pönalisierung sozialen Verhaltens ist aber nur eingeschränkt aus europaweit geteilten Werten und sittlichen Prämissen normativ ableitbar.“ 16 b) Wertegemeinschaft als Determinante von Reichweite und Grenzen der Rechtshilfe Angesichts der vielfältigen Wertungsunterschiede zwischen den verschiedenen Strafrechtsordnungen selbst in einem so vergleichsweise homogenen Kreis wie dem der Mitgliedstaaten der EU könnten Zweifel an der vorgenommenen Zielbestimmung der Rechtshilfe geäußert werden, die die Durchsetzung einer „transnationalen Werteordnung“ in den Mittelpunkt stellt. Gegen solche Bedenken ließe sich einwenden, dass sich bereits die „Solidarität der Staaten untereinander im Kampf gegen das Verbrechen“ 17 als transnationaler Wert verstehen lässt, der völker- und rechtshilferechtlich schlicht als Erwartung der Gegenseitigkeit der Unterstützung zu erfassen ist.18 Überzeugender ist es aber, den Begriff der transnationalen Werteordnung als definitorisches Element zu verstehen, das nicht nur die Voraussetzung, sondern 16 BVerfGE 123, 267 (360) (Lissabon-Entscheidung). Unter Bezug auf die strafrechtliche Zusammenarbeit vgl. insb. Schünemann, Spät kommt ihr, doch ihr kommt: Glosse eines Strafrechtlers zur Lissabon-Entscheidung des BVerfG, ZIS 8/2009, 393 ff.; Ambos/Rackow, Erste Überlegungen zu den Konsequenzen des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts für das Europäische Strafrecht, ZIS 8/2009, 397 ff.; Heger, Perspektiven des Europäischen Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon, ZIS 8/2009, 406 ff.; Braum, Europäisches Strafrecht im Fokus konfligierender Verfassungsmodelle, ZIS 8/2009, 418 ff.; Folz, Karlsruhe, Lissabon und das Strafrecht – ein Blick über den Zaun, ZIS 8/2009, 427 ff.; Meyer, Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG und das Strafrecht, NStZ 2009, 657 ff.; zum Urteil insgesamt Müller-Graff, Das Karlsruher Lissabon-Urteil: Bedingungen, Grenzen, Orakel und integrative Optionen, integration 2009, 331 ff. 17 Kielwein, Zum gegenwärtigen Stand einer internationalen Kriminalpolitik, in: Hohenleitner/Lindner/Nowakowski (Hrsg.), Festschrift für Theodor Rittler. Zu seinem achtzigsten Geburtstag (1957), S. 95 (100), sieht die Anerkennung eines ausländischen Strafurteils als Zeugnis einer solchen Solidarität, in der er, wenn und solange zwischen der Anerkennung und Vollstreckung unterschieden werde, kein Souveränitätsverzicht sieht; zustimmend Vogler, Generalbericht zum Thema IV des XIII. Internationalen Strafrechtskongresses, ZStW 96 (1984), 531 (547). 18 Nur wenig darüber hinaus geht Böse, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der transnationalen Strafrechtspflege in der EU – Die „Verkehrsfähigkeit“ strafgerichtlicher Entscheidungen –, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht. Beiträge zum Strafrecht, Strafprozeßrecht und zur Strafrechtsvergleichung. Für Manfred Maiwald aus Anlaß seiner Emeritierung, verfaßt von seinen Schülern, Mitarbeitern und Freunden, 2003, S. 233 (238), der auch für die gegenseitige Anerkennung in der EU das jeweilige mitgliedstaatliche Interesse an der Durchsetzung seiner Strafrechtsordnung zugrundelegt und es um den Ausgleich der Risiken ergänzt, die sich aus dem Wegfall der Binnengrenzen ergeben.
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe
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zugleich die Grenzen einer Rechtshilfeleistung zutreffend beschreibt. So verstanden werden im konkreten Rechtshilfefall die Rechtmäßigkeit einer Rechtshilfeleistung bzw. deren Begrenzung durch das Maß der Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede der Werteordnungen der beteiligten Staaten bestimmt. Entsprechend wird die Neuregelung der Rechtshilfe in der EU gerade auch unter Verweis auf die Wertegemeinschaft der in und mit der EU verbundenden Mitgliedstaaten und das daraus abzuleitende gegenseitige Vertrauen in der Gleichwertigkeit der mitgliedstaatlichen strafjustiziellen Entscheidungen vorgenommen.19 Einer Rechtshilfe zugrundeliegende gemeinsame Werte lassen sich offensichtlich dort feststellen, wo sie durch eine entsprechende Mindestharmonisierung des materiellen Strafrechts belegt sind. Innerhalb der Europäischen Union können systematisierend einerseits spezifische Herausforderungen der europäischen Integration im Binnenmarkt- und Schengenraum und andererseits vergleichbare, häufig grenzüberschreitende Kriminalitätsbedrohungen als Katalysatoren solcher Mindestharmonisierung festgestellt werden.20 Eine Angleichung des materiellen Strafrechts ist insbesondere dort erfolgt, wo es um den Schutz originär der Union zuzurechender Rechtsgüter geht, nämlich den Schutz deren finanzieller Interessen,21 oder um die Absicherung von Rechtsgütern, die für das Funktionieren des 19 Grundlegend Mitteilung der Kommission an den Rat und das Parlament: Gegenseitige Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen vom 26. Juni 2000, KOM(2000) 495 endg., S. 4 f. Siehe dazu unten Teil 1 Kapitel 3 A.II.1. 20 Schumann/Soyer, Zur Konzeption europäischer Integration zwischen Binnenmarkt und Strafjustiz, in: Geist (Hrsg.), Das Menschenbild im Strafrecht, 2010, S. 99 (105 f., 106 ff.); vgl. bereits Dannecker, Strafrecht in der Europäischen Gemeinschaft. Eine Herausforderung für Strafrechtsdogmatik, Kriminologie und Verfassungsrecht, JZ 1996, 869 (874 ff.); ders., Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft, in: Eser/Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa 4 – Teil 3 (1995), S. 1965 ff. Ausführlich zu den strafrechtsharmonisierenden Anforderungen im Binnenmarktrecht Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts. Eine Untersuchung zum Einfluß des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Strafrecht (2001), S. 291 ff. 21 Vgl. das Übereinkommen aufgrund von Art. K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl. EU 1995 C 316/49; das Protokoll aufgrund von Art. K.3 des Vertrags über die Europäische Union zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften sowie Erklärungen der Mitgliedstaaten bei der Annahme des Rechtsaktes über die Fertigstellung des Protokolls, ABl. EU 1996 C313/2; an die Stelle des mangels hinreichender Ratifizierung nicht in Kraft getretenen Geldwäscheprotokolls von 1997 ist später der Rahmenbeschluss des Rates 2001/500/JI vom 26. Juni 2001 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten, ABl. EU 2001 L 182/1, getreten. Vgl. zu den Initiativen Mitte der 90er Jahre Dannecker, Strafrechtlicher Schutz der Finanzinteressen der Europäischen Gemeinschaft gegen Täuschung, ZStW 108 (1996), 577 ff. Zu den späteren Überlegungen, auf die u. a. die derzeit forcierte Idee einer Europäischen Staatsanwaltschaft zurückgeht, vgl. Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union (1998); dies./Vervaele (Hrsg.), The implementation of the Corpus Juris in the
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
Binnenmarktes von konstitutiver Bedeutung sind, also den Schutz des Wettbewerbs vor Verzerrung durch Korruption oder andere unlautere Beeinträchtigungen.22 Hinzu kommt der Schutz von Rechtsgütern, die bereits ihrem Wesen nach transnational sind, etwa die Umwelt.23 Eine Mindestharmonisierung ist auch dort erfolgt, wo es um die Abwehr vergleichbarer, oft transnationaler Rechtsgutsbedrohungen, durch Terrorismus und organisierte Kriminalität geht,24 die häufig zugleich als potentielle Bedrohung für die Grundwerte der Union anzusehen sind. Für die Wertegemeinschaft innerhalb der Europäischen Union lässt sich auch auf grundlegende Bestimmungen des Unionsvertrages verweisen, vor allem die Grundwerteklausel des Art. 2 EUV und die Bestimmung des Art. 3 EUV, die der Union neben den Binnenmarkt insbesondere die Gewährleistung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für die Bürgerinnen und Bürger der Union zum Ziel setzt. Auch die Absätze 2, 4, 9 und 12 der Präambel nehmen die damit angesprochenen gemeinsamen Werte in Bezug. Bei der Entscheidung über die konkrete Rechtshilfeleistung macht es allerdings einen erheblichen Unterschied, ob es sich um ein Strafverfahren handelt, in dem der Tatvorwurf ein Delikt mindestharmonisierten Rechts betrifft oder nicht. Unterfällt der Tatvorwurf einem mindestharmonisierten Delikt, ist klar, dass die Entscheidung für die Strafbarkeit eines solchen Verhaltens vom ersuchten Staat grundsätzlich geteilt wird und er daher regelmäßig Rechtshilfe leisten wird. Hingegen berechtigt die Feststellung, dass es sich bei der Union und ihren Mitgliedstaaten um eine Wertegemeinschaft handelt, zwar zu einem grundsätzlichen Vertrauen in die Gleichwertigkeit der strafrechtlichen Wertentscheidungen der verschiedenen Mitgliedstaaten, dies schließt aber gerade nicht aus, dass in beMember States, Centrum voor Rechtshandhaving en Europese Integratie (2000); ferner Huber (Hrsg.), Das Corpus Juris als Grundlage eines Europäischen Strafrechts. Europäisches Kolloquium, Trier, 4.–6. März 1999 (2000); Scheuermann, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im geltenden und künftigen Europäischen Strafrecht. Zugleich eine Abhandlung über die Notwendigkeit einer Europäischen Staatsanwaltschaft (2009). Vgl. zudem den Vorschlag für Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug, COM(2012) 363 endg. 22 Vgl. z. B. den Rahmenbeschluss 2005/568/JI des Rates vom 22.7.2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor, ABl. EU 2003 L 192/54. 23 Z. B. Richtlinie 2008/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt, ABl. EU 2008 L 328/ 28. Vgl. ferner Dannecker/Streinz, Umweltpolitik und Umweltrecht: Strafrecht, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht: Eine systematische Darstellung des europäischen Umweltrechts mit seinen Auswirkungen auf das deutsche Recht und mit rechtspolitischen Perspektiven, Bd. I (1998), § 8, S. 114–178. 24 Vgl. z. B. Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung, ABl. EU 2002 L 164/3; Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates, ABl. EU 2011 L 101/01.
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe
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stimmten Bereichen kulturell bedingte unterschiedliche, gar gegenläufige Wertentscheidungen getroffen wurden, die einer Rechtshilfeleistung entgegenstehen. c) Dogmatische Konsequenzen Dort, wo die Wertvorstellungen zwischen ersuchendem und ersuchtem Staat einander unvereinbar widersprechen, sind der Rechtshilfeleistung Grenzen gesetzt.25 Eine solche Grenzziehung lässt sich als Wahrung des nationalen ordre public verstehen. Wenn der Einwand des nationalen ordre public kritisch als Durchsetzung eigener Vorstellungen des um Rechtshilfe ersuchten Staates gegenüber dem ersuchenden Staat verstanden wird,26 so trifft diese Kritik nicht die hier bereits andeutungsweise umschriebene Funktion einer ordre public-Grenze. Denn bei ihr geht es nicht darum, ob der Rechtshilfe leistende Staat eigene Rechtsvorstellungen durchsetzt oder nicht, sondern darum, ob bei der Rechtshilfeleistung den Wertvorstellungen eines anderen Staates auch dann zur Durchsetzung verholfen werden soll, wenn sie eigenen grundlegenden Wertvorstellungen des ersuchten Staates widersprechen. Das Konzept der Rechtshilfe als Teil eines international-arbeitsteiligen Strafverfahrens zur Durchsetzung einer transnationalen Werteordnung ist ein dogmatisches Konzept, das die normativen Grundlagen der Rechtshilfeleistung einzuordnen und zu erfassen sucht. Es muss sich daher an den normativen Grundlagen messen lassen.27 Wenn es dabei bestätigt wird, kann es im Sinne einer teleogischen Interpretation zur Auslegung der rechtshilferechtlichen Normen herangezogen werden, es hat aber selbst keine normative Wirkung. II. Außen- und Innenverhältnis des Vollstreckungshilferechts – Innerstaatliche Grundrechte als „Vollstreckungshilfegegenrechte“? 1. Rechtsquellenvielfalt und -hierarchie Die Vollstreckungshilfe ist, wie die Rechtshilfe ganz allgemein, durch die Vielfalt der bestehenden Rechtsgrundlagen gekennzeichnet. Vor Implementierung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungshilfeanordnung ist bzw. war zwischen den Mitgliedstaaten der EU für die Vollstreckungsüberstellung im Falle freiheitsentziehender Sanktionen vor allem 25
Näher dazu unten Teil 2 Kapitel 1 C. und D. sowie Kapitel 2 B. Vogler, Generalbericht zum Thema IV des XIII. Internationalen Strafrechtskongresses, ZStW 96 (1984), 531 (550). 27 Siehe dazu insbesondere die nachfolgenden Ausführungen unter A.II. in diesem Kapitel, ferner Teil 2 Kapitel 1 C. und D. sowie Teil 2 Kapitel 2 A. und B. 26
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
das Übereinkommen des Europarates über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 (ÜberstÜbk), die sogenannte Mutterkonvention anwendbar. Ergänzend zum ÜberstÜbk sind die Art. 67 ff. des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ),28 das Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 1997 zu dem Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen (ZP-ÜberstÜbk)29 sowie das kaum ratifizierte Übereinkommen vom 13. November 1991 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen (EG-VollstrÜbk)30 heranzuziehen. Die innerstaatliche Regelung der Vollstreckungshilfe wird in der Bundesrepublik Deutschland wesentlich durch das in innerstaatliches Recht transformierte bzw. inkorporierte Völkervertragsrecht geprägt. Neben den dazu ergangenen Vertragsgesetzen hat der Gesetzgeber weitere Ausführungsbestimmungen zum ÜberstÜbk, dem ZP-ÜberstÜbk und dem SDÜ in einem Überstellungsausführungsgesetz (ÜAG)31 erlassen. Die Vollstreckungshilferegelungen des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG)32 sind aufgrund des in Art. 1 Abs. 3 IRG angeordneten Vorrangs der vertraglichen vor der gesetzlichen Rechtshilfe nur dann heranzuziehen, wenn die vertraglichen Bestimmungen keine vorrangige Regelung enthalten und auch das ÜAG als lex specialis keine Klärung bietet. Dass sich der Gesetzgeber dazu entschlossen hat, ergänzende Regelungen weder in den zustimmenden Vertragsgesetzen zu regeln, noch diese als Spezialregeln in das IRG einzufügen, sondern mit dem ÜAG diesen eine weitere gesetzliche Regelung zur Seite zu stellen, trägt nicht zu der im Rechtshilferecht ohnehin raren Übersichtlichkeit bei.33 Dem einfachgesetzlichen Recht geht innerstaatlich das Grundgesetz als Verfassungsrecht vor, dem die grundrechtlichen Maßstäbe des innerstaatlichen Dürfens der Vollstreckungshilfe zu entnehmen sind.
28 Übereinkommen vom 19. Juni 1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, BGBl. 1993 II S. 1010, 1013; unkonsolidiert in ABl. EU 2000 L 239/19. 29 SEV Nr. 167; BGBl. 2002 II S. 2866; 2008 II S. 45. 30 BGBl. 1997 II S. 1351. 31 Gesetz zur Ausführung des Übereinkommens vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen, des Zusatzprotokolls vom 18. Dezember 1997 und des Schengener Durchführungsübereinkommens – Überstellungsausführungsgesetz v. 26.09. 1991, BGBl. I S. 1954; 1992 I S. 1232; 1994 I 1425; zuletzt geändert durch Art. 5 Gesetz v. 29.07.2009, BGBl. I S. 2274. 32 Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen v. 23.12.1982, BGBl. I S. 2071, neugefasst durch Bekanntmachung v. 27.06.1994, BGBl. I 1537; zuletzt geändert durch Art. 163 V v. 31.08.2015, BGBl. I S. 1474. Näher dazu unten Kapitel 2 C.III. 33 So auch Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), Vor § 1 ÜAG Rn. 3.
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe
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Kein Gesetzesrecht bilden die Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (RiVASt). Diese Richtlinien, neugefasst mit Bekanntmachung vom 5. Dezember 2012 zum 1. Januar 2013,34 sind Verwaltungsvorschriften der Bundesregierung und der Regierungen der Länder mit aktuellen Hinweisen. Bei den RiVASt handelt es sich um zwischen dem Bund und den Ländern abgestimmtes sowie wort- und zeitgleich von der Bundesregierung für die Bundesbehörden und von den Länderregierungen für die jeweiligen Landesbehörden35 in Kraft gesetztes Verwaltungsinnenrecht. Sie werden vom Bundesministerium der Justiz im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt auf dem aktuellen Stand gehalten.36 Als Verwaltungsinnenrecht dienen sie der Normkonkretisierung und Ermessenslenkung und sollen so eine kohärente Rechtsanwendung durch die adressierten Behörden sicherstellen. Mangelt es für eine konkrete Frage an einer gesetzlichen Regelung, so können sie unterhalb und in den Grenzen des allgemeinen gesetzlichen Rahmens ausnahmsweise auch gesetzesvertretende Wirkung entfalten.37 2. Außen- und Innenverhältnis des Rechtshilferechts Zur Systematisierung des Verhältnisses der verschiedenen Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe muss unterschieden werden zwischen der völkerrechtli34 Siehe Bekanntmachung über die Änderung der Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten, Bundesanzeiger AT vom 19.12.2012 Beilage 2. 35 Vgl. etwa die Bekanntmachung der Bayerischen Staatsregierung vom 25.11.2008, Az.: B II 2 155155-7-15, BayJMBl. Nr. 1/2009. 36 Meyer-Goßner, StPO55 (2012), Einl. Rn. 214. 37 Die RiVASt sind für die Gerichte, Staatsanwaltschaften und andere Behörden bestimmt und enthalten hinsichtlich der Entscheidungen, die der richterlichen Unabhängigkeit unterliegen, nur Hinweise (RiVASt Nr. 1 Abs. 1). Sie sind anzuwenden, soweit ihnen nicht völkerrechtliche Verträge entgegenstehen. Einleitend ist in den Richtlinien klargestellt, dass diese auf den Regelfall abgestellt sind und in besonderen Fällen von ihnen abgewichen werden kann (RiVASt Nr. 1 Abs. 2). Obwohl diese Verwaltungsvorschriften für die Exekutive, die Staatsanwaltschaften und auch für die Gerichte von großer praktischer Bedeutung sind, muss stets bedacht werden, dass sie zum einen im Einklang mit dem IRG, von dem sie abgeleitet sind und das alleinig verbindlich ist, anzuwenden sind, und zum anderen die richterliche Unabhängigkeit nicht tangieren, vgl. Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), Anhang 9 Rn. 2. Für die Suche nach dem im konkreten Fall anwendbaren Recht enthalten die RiVASt in Anhang II einen Länderteil, der die Suche nach dem im Verhältnis zu einem bestimmten Land anzuwendenden Rechtshilferecht ermöglicht und laufend aktualisiert wird. Dieser ist, wie die RiVASt einschließlich sonstiger Anhänge, über http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/Teilliste_Bundesministerium_ der_Justiz.html#bsvwvbund_05122012_III19350B13002010 (29.02.2016) abrufbar. Im Übrigen sind die RiVASt für die Vollstreckungshilfe von Bedeutung, insoweit sie Verwaltungsvorschriften zu den Grundsätzen der Rechtshilfeleistung (Nummer 1 bis Nummer 15), allgemeine Regelungen für eingehende Ersuchen (Nummer 16 bis Nummer 24) sowie besondere Richtlinien für eingehende Ersuchen um Rechtshilfe durch Vollstreckung (Nummer 64 bis Nummer 74 A.) enthalten.
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
chen („internationalen“) Ebene, die in erster Linie das Verhältnis zwischen ersuchendem und ersuchtem Staaten regelt und damit das Außenverhältnis bildet, und der innerstaatlichen Ebene, dem Innenverhältnis, welches über das Verhältnis des Einzelnen zu dem beteiligten Staat bestimmt. Während das Völkervertragsrecht primär über das „völkerrechtliche Müssen“ bestimmt, also den Umfang der untereinander bestehenden Verpflichtung der Staaten zur Vollstreckungshilfeleistung, regelt das nationale Recht das „innerstaatliche Dürfen“ und damit die Frage, ob für die Leistung von Vollstreckungshilfe eine Ermächtigungsgrundlage erforderlich und ob eine solche gegeben ist.38 Der Durchsetzungsanspruch der völkervertraglichen Verpflichtung wird in Art. 26 Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK)39 deutlich, der bestimmt: Pacta sunt servanda. Über die innerstaatliche Wirkung der völkervertraglichen Außenverpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entscheidet jedoch das Grundgesetz als Scharnier zwischen der Außenrechtsordnung des Völkerrechts und der innerstaatlichen Rechtsordnung. Der innerstaatliche Vollzug der völkerrechtlichen Verträge zur Vollstreckungshilfe richtet sich nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG. Der in das innerstaatliche Recht inkorporierte völkerrechtliche Vertrag nimmt im Stufenbau der innerstaatlichen Rechtsordnung am Rang des Zustimmungsgesetzes teil und gilt daher innerstaatlich als einfachgesetzliches Recht. 3. Innerstaatliche Grundrechtsanforderungen im Außenverhältnis der Rechtshilfe – Grundrechte als „Auslieferungsgegenrechte“? Die Unterscheidung von Außen- und Innenverhältnis der Rechtshilfe führt zu der Frage, welche Grenzen der Zulässigkeit einer Leistung von Rechtshilfe zu ziehen sind. Kern der Diskussion ist die Frage, ob im Rechtshilfeverkehr Grundrechte als „Rechtshilfegegenrechte“ der Leistung von Rechtshilfe entgegenstehen können bzw. aus welcher Rechtsquelle diese entnommen werden dürfen. Die hierzu vertretenen Ansichten sind anhand der Auslieferung entwickelt worden; ihre Übertragbarkeit auf die Vollstreckungshilfe muss in Abhängigkeit von der gefundenen Lösung anschließend hinterfragt werden. Verständlich wird die Diskussion um die Begrenzung einer Rechtshilfe durch Grundrechte erst dann, wenn man sich bewusst macht, welches Handeln bei der Entscheidung über die Leistung von Rechtshilfe auf seine Vereinbarkeit mit einem noch näher zu bestimmenden Grundrechtsstandard zu prüfen ist. Auch hierzu kann wieder auf den Gedanken des international-arbeitsteiligen Strafverfahrens zurückgegriffen werden. Die Leistung von Rechtshilfe bildet einen Bei38 Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), Einl. Rn. 37 ff. 39 BGBl. 1985 II S. 926.
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trag zu diesem Strafverfahren. Sie verknüpft also das gesamte Strafverfahren mit dem Handeln der für die Entscheidung über die Rechtshilfe zuständigen deutschen Behörden. Damit aber wird klar, dass es nicht nur die inländische Leistung von Rechtshilfe, sondern implizit vor allem das im ersuchenden Staat geführte Strafverfahren ist, das an diesem noch näher zu bestimmenden Grundrechtsstandard zu messen ist. Im Grundsatz besteht darüber zwischen allen vertretenen und im Folgenden näher vorgestellten Ansichten Einigkeit, streitig ist hingegen, welcher Grundrechtsstandard zu beachten ist. a) Zweidimensionale völkerrechtliche Betrachtungsweise – Begrenzung nur durch ius cogens Die traditionelle Ansicht knüpft daran an, dass es sich bei der horizontalen Rechtshilfe durch Auslieferung um ein Zusammenwirken zweier Staaten auf der Ebene des Völkerrechts handelt, das durch völkerrechtliche Verträge geregelt ist (sogenannte „Vertragstheorie“ der Auslieferung).40 Selbst wenn der Auslieferung kein allgemeiner Auslieferungsvertrag zugrundeliegt, so müsse sie als völkerrechtlicher Vertrag für den Einzelfall verstanden werden.41 In der Bewilligung der Auslieferung liegt die Annahme des mit dem Auslieferungsersuchen angebotenen völkerrechtlichen Vertrages.42 Die völkerrechtliche Vertragsfreiheit des Staates ist aber nur durch völkerrechtliches ius cogens begrenzt.43 Ius cogens sind gemäß Art. 53 S. 2 WVK all solche zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechts, die von der internationalen Staatengemeinschaft angenommen und anerkannt werden als jene, von denen nicht abgewichen werden darf und die nur durch spätere Normen des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden können. Solches ius cogens ist etwa der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR)44 zu entnehmen, deren wesentlichen Aussagen Verbindlichkeit als Völkergewohnheitsrecht zukommt,45 insbesondere aber den globalen und regionalen Menschenrechtsverträgen wie dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR).46 Ius cogens kann auch regiona40
Vgl. Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 33 ff., 215 f. Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 215 f. Kritisch dazu Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland (1987), S. 12, 19 ff. 42 Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 32 ff. 43 Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 215 ff. 44 Resolution der UN-Generalversammlung v. 10.12.1948, GAOR III Resolutions (UN-Doc. A/810), p. 71, deutsche Übersetzung Sartorius II, Nr. 19. Zur Universalität der in der Universal Declaration of Human Rights enthaltenen Rechte vgl. Huhle, Wie universell ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte?, VN 5/2011, 195 ff. 45 Vgl. Nowak, Einführung in das internationale Menschenrechtssystem (2002), S. 89 ff. 46 International Covenant on Civil and Political Rights v. 19.12.1966, UNTS Vol. 1999, p. 171; BGBl. 1973 II S. 1534 41
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ler Natur sein.47 Für die Rechtshilfe in Europa kommt damit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)48 eine herausgehobene Rolle zu. Im Einzelnen ist ungeklärt, in welchem Ausmaß diese menschenrechtlichen Gewährleistungen ius cogens bilden, ob etwa nur ihr Kerngehalt dazu zu rechnen ist. Klar ist aber, dass nach der zweidimensionalen Sichtweise innerstaatliche Grundrechte einer Auslieferung jedenfalls nicht entgegenstehen können. Auch beim Verbleib auf der rein völkerrechtlichen Argumentationsebene ergibt sich dies allerdings nicht bereits aus Art. 27 WVK, der bestimmt, dass ein Staat, der eine völkerrechtliche Verpflichtung eingegangen ist, dieser Verpflichtung sein innerstaatliches Recht nicht entgegenhalten kann. Denn der Vertragsschluss liegt nach Vertragstheorie ungeachtet eines etwaigen Vorliegens eines generellen Auslieferungsvertrages gerade erst in der Entscheidung über die Auslieferung im konkreten Einzelfall.49 Argumentiert wird vielmehr, eine Überprüfung des ausländischen Strafverfahrens anhand eines von der innerstaatlichen deutschen Rechtsordnung definierten Grundrechtsstandards im Rahmen der Entscheidung über die Auslieferung sei ein unzulässiger Export deutscher Grundrechte in die ausländische Rechtsordnung.50 b) Dreidimensionale Vollzugsaktstheorie – innerstaatliche Grundrechte als „Auslieferungsgegenrechte“ Der Fokussierung auf die völkerrechtliche Ebene wird eine Betrachtungsweise entgegengesetzt, die auch den innerstaatlichen Vollzugsakt der Auslieferung einbezieht (Vollzugsaktstheorie).51 Damit kommen zwangsläufig die innerstaatlichen Grundrechte als „Auslieferungsgegenrechte“ in Betracht.52 Dieser Auffassung ist grundsätzlich zuzustimmen, denn nur durch die Beachtung innerstaatlicher Grundrechte wird dem Eingriffscharakter der Auslieferung in die Rechte des Auszuliefernden in einer Art. 1 Abs. 3 GG entsprechenden Weise Rechnung getragen.53 Dogmatisch stellt sich allerdings das Problem, dass – anders als beim völkerrechtlichen ius cogens, das für alle Staaten verbindlich ist – die deutschen 47 Zur Diskussion über die Möglichkeit von regionalem ius cogens anhand der EMRK vgl. Nußberger, Europäische Menschenrechtskonvention, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts3 (2012), Bd. X, § 209 Rn. 8 m.w. N. 48 European Convention on Fundamental Rights and Basic Freedoms v. 04.11.1950, BGBl. 1952 II S. 686 i. d. F. der Bekanntmachung v. 17.05.2002, BGBl. II S. 1055. 49 Vgl. Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 43 ff. (47). 50 Vgl. Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 200 ff. 51 Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland (1987), S. 91, 93 ff. 52 Ausführlich Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland (1987), S. 129 ff. 53 Vgl. Häde, Die Auslieferung – Rechtsinstitut zwischen Völkerrecht und Grundrechten, Der Staat 36 (1997), 1 (19 ff.).
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe
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Grundrechte kein unmittelbarer Prüfungsmaßstab für ein ausländisches Strafverfahren sind. Allerdings lässt sich argumentieren, dass die deutschen Behörden sich evidente Grundrechtsverletzungen, die in einem ausländischen Strafverfahren erfolgt sind oder drohen, zurechnen lassen müssen, weil sie sie vertiefen, wenn sie für ein solches Strafverfahren Hilfe leisten und damit dem Ergebnis eines solchen Verfahrens zur Durchsetzung verhelfen.54 Anderes kann auch dann nicht gelten, wenn der Auslieferung ein genereller völkerrechtlicher Vertrag zugrundeliegt, der keine entsprechende ordre publicKlausel enthält. Denn die Organe des Staates sind in einer Doppelfunktion nicht nur als Organe des Völkerrechtssubjekts „Staat“ für die Einhaltung dessen völkerrechtlicher Verpflichtungen verantwortlich, sondern zugleich der innerstaatlichen Verfassungsordnung unterworfen.55 So ist es zwar denkbar, dass völkerrechtliche Verpflichtung und innerstaatliche Berechtigung auseinanderfallen, das innerstaatliche Dürfen also hinter dem völkerrechtlichen Müssen zurückbleibt. Aus Sicht der Vollzugsaktstheorie muss sich die Begrenzung des innerstaatlichen Dürfens aufgrund der Grundrechtsbindung der deutschen Organe nach Art. 1 Abs. 3 GG in diesem Falle gegenüber der völkerrechtlichen Verpflichtung durchsetzen.56 Dieses Ergebnis der Vollzugsaktstheorie kann sich auf die herrschende Meinung zum Verhältnis zwischen Völker- und Verfassungsrecht stützen. Zur Beurteilung der innerstaatlichen Wirkung einer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Auslieferung ist nämlich deren Betrachtung aus der Sicht des innerstaatlichen Rechts erforderlich. Auch wenn das Völkerrecht kein rein staatengerichtetes Recht mehr ist,57 so bedarf es zur innerstaatlichen Wirkung des Völkerrechts entsprechender Öffnungsklauseln im nationalen Verfassungsrecht.58 Diese bestim54 Siehe ausführlicher und mit entsprechenden Nachweisen sogleich unter A.II.4.b), in diesem Kapitel. 55 Vgl. Neuhold/Hummer/Schreuer, Österreichisches Handbuch des Völkerrechts4 (2004), Bd. 1 – Textteil, Rn. 552. 56 Gerade diesem Konflikt will die Vertragstheorie durch ihre Beschränkung auf den völkerrechtlichen ius cogens-Standard vorbeugen, vgl. Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 200. 57 Zu denken ist etwa an die individualbezogenen Komponenten des internationalen Menschenrechtsschutzes, der internationalen Strafgerichtsbarkeit und auch von Teilen des sonstigen zwischenstaatlichen Völkervertragsrechts. Vgl. Grzeszick, Rechte des Einzelnen im Völkerrecht, AVR 43 (2005), 312 ff.; Dörr, „Privatisierung“ des Völkerrechts, JZ 2005, 905 ff.; zur individualrechtlichen Komponente des Art. 36 WVK die Urteile IGH La Grand Case (Germany v. United States of America), Judgment of 27 June 2001, ICJ-Reports 2001, 464 ff., sowie IGH Case concerning Avena and other Mexican Nationales (Mexico v. United States of America), Judgment of 31 March 2004, ILM 43 (2004), 581 ff., sowie BVerfG, EuGRZ 2006, 684 ff. 58 Vgl. Stein/von Buttlar, Völkerrecht13 (2012), Rn. 173 ff. (184); näher zur Inkorporation Neuhold/Hummer/Schreuer, Österreichisches Handbuch des Völkerrechts4 (2004), Bd. 1, Rn. 568 ff. Dies gilt unabhängig davon, ob man mit der herrschenden Meinung in Deutschland einen gemäßigten Dualismus oder wie die herrschende Meinung in Österreich einen gemäßigten Monismus mit einem Primat des Völkerrechts ver-
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men insbesondere, welchen Rang Völkerrecht im Stufenbau der innerstaatlich geltenden Rechtsordnung einnimmt59 und welche Möglichkeiten die innerstaatliche Rechtsordnung zur Prävention bzw. zur Lösung eines Konflikts zwischen innerstaatlichen und völkerrechtlichen Verpflichtungen bereithält. Das Verfassungsrecht bildet damit das Scharnier zwischen Völker- und innerstaatlichen Recht. Die Vollzugsaktstheorie schlussfolgert hieraus auf die Verpflichtung zur vollständigen Gewährleistung verfassungsrechtlich geschützter Grundrechte bei der Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen. Aufgrund des dualen Verständnisses von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht wird damit nicht die Existenz der völkerrechtlichen Verpflichtung als solcher bestritten, sondern nur über die Reichweite ihrer innerstaatlichen Wirkung geurteilt. Ein solches Autonomieverständnis von innerkonstitutioneller Rechtsordnung eines Völkerrechtssubjekts und Völkerrecht ist im Übrigen keine ausschließliche Sichtweise des deutschen Verfassungsrechts zum Völkerrecht: Auch der EuGH hat in den verbundenen Rechtssachen C-402/05 P und C-415/05 P Kadi und Al Barakaat/Rat der Europäischen Union und Kommission eine vergleichbare Argumentation des Verhältnisses von Unionsrecht und Völkerrecht zugrundegelegt,60 als er, anders als noch das EuG in der seiner erstinstanzlichen Entscheidung,61 die in Umsetzung des UN-Sanktionsregimes ergangene Verordnung Nr. 881/2002 am vollen Maßstab der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte prüfte.62 c) Vermittelnder Lösungsansatz Aus der Scharnierfunktion des Verfassungsrechts sucht ein dritter, wohl als herrschende Meinung anzusehender Ansatz eine vermittelnde Lösung zum an-
tritt. Nach der in Deutschland herrschenden Auffassung sind Völkerrecht und innerstaatliches Recht zwei getrennte Rechtsordnungen, die sich allerdings überschneiden und ineinander greifen, vgl. etwa Stein/von Buttlar, Völkerrecht13 (2012), Rn. 173 ff. (181). Der gemäßigte Monismus hingegen geht von einer einheitlichen, Völkerrecht und nationales Recht umfassenden Rechtsordnung aus, bei der das Völkerrecht grundsätzlich Anwendungsvorrang genießt, vgl. Neuhold/Hummer/Schreuer, Österreichisches Handbuch des Völkerrechts4 (2004), Bd. 1, Rn. 562 ff. 59 Vgl. Art. 25 GG, Art. 59 Abs. 2 GG. 60 Näher zu diesem Autonomieverständnis Weiss/Schumann, Die europäische Integration, der EuGH und die Fragmentierung des internationalen Rechts, in: Fischer/Karollus/Stadlmeier (Hrsg.), Die Welt im Spannungsfeld zwischen Regionalisierung und Globalisierung (2009), S. 357 (zur Rs. Kadi explizit 366 f.). 61 Vorinstanzlich hatte das EuG, Rs. T-315/01, Kadi, Slg. 2005, II-3649, eine Beschränkung der Grundrechtsprüfung auf den Standard des ius cogens vorgenommen. Kritisch dazu Schumann/Soyer, Terrorismus und Menschenrechte. Rechtsschutz im Mehrebenenverbund zwischen Gefahrenabwehr und Strafrecht, in: Landesgruppe Österreich der AIDP (Hrsg.), Terrorismus und Menschenrechte. Neue Entwicklungen und Herausforderungen (2007), S. 81 (95, 101 ff.). 62 EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05, Kadi und Al Barakaat/Rat der EU, Slg. 2008, I-6351 ff. (Leitsatz 4 Abs. 2, 3; Leitsatz 5; Rn. 300 ff.).
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wendbaren Grundrechtsstandard abzuleiten. Dabei wird nicht unmittelbar an Art. 59 Abs. 2 GG angeknüpft, nach dem eine in innerstaatliches Recht transformierte völkerrechtliche Verpflichtung am Rang des Vertragsgesetzes teilnimmt, somit einfaches Bundesrecht ist und daher der verfassungsrechtlichen Begrenzung des Art. 1 Abs. 3 GG unterliegt. Vielmehr wird an der auch vom Bundesverfassungsgericht betonten Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes angeknüpft, die aus Art. 24–26, 32 und 59 GG abzuleiten63 und damit selbst Verfassungsprinzip ist.64 Die Vertreter des vermittelnden Lösungsansatzes schlussfolgern daraus, dass der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit als gleichrangiges Verfassungsgebot geeignet ist, die Geltung des Art. 1 Abs. 3 GG zu beschränken.65 Aufgrund der grundsätzlichen, wenn auch beschränkten Anwendung der innerstaatlichen Grundrechte geht diese vermittelnde Ansicht von den gleichen Prämissen wie die Vollzugsaktstheorie aus und kann daher nicht mit der Vertragstheorie in Einklang gebracht werden. Die vermittelnde Ansicht kommt jedoch in Abweichung von der reinen Vollzugsaktstheorie zu einem durch Abwägung mit weiteren Verfassungsprinzipien modifizierten Ergebnis. Gefordert wird, die Grundrechtsbindung der deutschen Organe bei der Erfüllung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung soweit zurückzunehmen, als das Handeln nicht zu einer Verletzung des unabdingbaren verfassungsrechtlichen Schutzstandards führt.66 Konsequent im Hinblick auf die Argumentation mit der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes wird diesem Kerngehalt der verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte als Auslieferungsgrenze das völkerrechtliche ius cogens, das über Art. 25 GG innerstaatliche Geltung beansprucht, zur Seite gestellt.67
63 Vgl. etwa BVerfGE 18, 112 (121); BVerfGE 31, 58 (78 f.); BVerfGE 111, 307 (317 ff.) (Görgülü). 64 K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit (1964); Häde, Die Auslieferung – Rechtsinstitut zwischen Völkerrecht und Grundrechten, Der Staat 36 (1997), 1(21 ff.). Zustimmend Vogel, in: Grützner/ Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), Vor § 1 IRG Rn. 39. Zur Reichweite der Verpflichtung zur völkerrechtskonformen Auslegung vgl. BVerfGE 111, 307 ff. (Görgülü). 65 Häde, Die Auslieferung – Rechtsinstitut zwischen Völkerrecht und Grundrechten, Der Staat 36 (1997), 1 (21 ff.). 66 Häde, Die Auslieferung – Rechtsinstitut zwischen Völkerrecht und Grundrechten, Der Staat 36 (1997), 1 (23). 67 Häde, Die Auslieferung – Rechtsinstitut zwischen Völkerrecht und Grundrechten, Der Staat 36 (1997), 1 (23). Umstritten ist, ob zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG nur solche mit ius cogens-Qualität gehören oder ob Art. 25 GG weiter zu verstehen ist. Ausführlich dazu Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte (1994), S. 10 ff.; zusammenfassend Vogel, in: Grützner/ Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 73 IRG Rn. 36 ff.
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4. Schlussfolgerungen für die Rolle der innerstaatlichen Grundrechte als verfassungsrechtlicher Grenze einer Vollstreckungshilfe Es hat sich gezeigt, dass Einigkeit darüber besteht, dass eine Auslieferung von der Einhaltung eines bestimmten Grundrechtsstandards abhängig ist, dass aber stark umstritten ist, ob und wenn ja, in welchem Umfang innerstaatliche Grundrechte als „Auslieferungsgegenrechte“ die Zulässigkeit einer Auslieferung begrenzen können. Es fragt sich, ob diese Diskussion auf die Vollstreckungshilfe übertragbar ist. Dazu müssten die Auslieferung und die Vollstreckungshilfe in ihren Grundzügen vergleichbar sein. a) Zwingende Einbeziehung der Vollzugsebene bei der Vollstreckungshilfe Vogler als exponierter Vertreter der Vertragstheorie68, die wie gezeigt bei der Entscheidung über eine Auslieferung die Berücksichtigung nationaler Grundrechte im Hinblick auf das ausländische Verfahren strikt ablehnt, kommt zu dem Schluss, dass bei der Anerkennung eines ausländischen Strafurteils, die jeder Vollstreckungshilfe immanent ist, nicht auf das Erfordernis eines inländischen nationalen ordre public verzichtet werden kann.69 Seine abweichende Beurteilung von Auslieferung und Vollstreckungshilfe begründet er damit, dass mit der Auslieferung anders als mit der Vollstreckungshilfe keineswegs die Anerkennung der ausländischen Strafrechtsordnung bzw. einer konkreten strafrechtlichen Entscheidung verbunden sei.70 Zwar ist Vogler im Ergebnis zuzustimmen: Es ist notwendig, den nationalen ordre public bei der Entscheidung über die Leistung von Vollstreckungshilfe zu beachten. Die Begründung mit einer grundsätzlichen Verschiedenartigkeit von Auslieferung und Vollstreckungshilfe überzeugt indes nicht. Denn die Auslieferung leistet ebenso wie die Vollstreckungshilfe einen Beitrag zur Verwirklichung des ausländischen Strafanspruchs. Im dogmatischen Konzept des international-arbeitsteiligen Strafverfahrens lässt sich dies als bewusstes und gewolltes Zusammenwirken gleich einer mittäterschaftlichen Zurechnung der jeweiligen Tatbeiträge verstehen.71 Mag auch das Gewicht des „Tatbeitrags“ durch Auslieferung ein anderes sein als dasjenige einer Vollstreckungshilfe, so bleibt doch die Zurechnung des „Taterfolgs“ auch zum ausliefernden Staat. Selbst wenn man die Auslieferung nur als Unterstützung einer fremden 68 Für einen Überblick über frühere Vertreter der Vertragstheorie vgl. Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 33 ff. 69 Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 207. 70 Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 206 f. 71 Vgl. zu diesem Verständnis des dogmatischen Konzepts Schomburg/Lagodny, Verteidigung im international-arbeitsteiligen Strafverfahren, NJW 2012, 348 (349); Lagodny/Schallmoser, Die Geltung der Garantien des Art. 6 EMRK im Auslieferungsverfahren des ersuchten Staates, in: Hafner/Matscher/Schmalenbach, Völkerrecht und die Dynamik der Menschenrechte. Liber Amicorum Wolfram Karl (2012), S. 125 (129).
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Tat ansehen mag, so trifft den Gehilfen doch eine Verantwortung für den „Taterfolg“. Sowohl in der Auslieferung als auch in der Leistung von Vollstreckungshilfe liegt also eine Anerkennung der dem ausländischen Verfahren zugrundeliegenden Wertungen. Eine solcher „Tatbeitrag“ darf jedoch dann nicht gesetzt werden, wenn damit der eigenen Werteordnung des Rechtshilfe leistenden Staates widersprochen würde. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um eine Auslieferung oder um eine Vollstreckungshilfe handelt. Ist die Vertragstheorie schon bei der Auslieferung abzulehnen, so zeigt sich beim Versuch der Übertragung der ihr zugrundeliegenden Prämissen auf die Vollstreckungshilfe, dass dies misslingen muss. Bei der Auslieferung wird nämlich die rein völkerrechtliche Betrachtungsweise ohne Berücksichtigung des innerstaaatlichen Vollzugsaktes unter anderem damit begründet, dass es zwar neben der Bewilligungsentscheidung noch des tatsächlichen Vollzugs der Auslieferung bedürfe, diese aber nicht zwangsläufig mit einem Freiheitsentzug in Form von Auslieferungshaft verbunden sei.72 Damit aber sei mit der Bewilligungsentscheidung nicht die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Auslieferungshaft verbunden.73 Implizit besagt diese Feststellung, dass die Auslieferungsbewilligung nicht zwangsläufig die freiheitsbeschränkende und durch Grundrechte begrenzte Ausübung von Hoheitsgewalt gegenüber dem Betroffenen zur Folge hat. Diese argumentative Loslösung der Bewilligung von Rechtshilfe von deren Vollzug lässt sich aber im Falle der Vollstreckungshilfe nicht durchhalten. Denn die Erfüllung einer völkervertraglich eingegangenen Verpflichtung zur Vollstreckungsübernahme liegt stets in einer freiheitsentziehenden Ausübung von Hoheitsgewalt durch die Strafvollstreckung. Die rein völkerrechtliche Perspektive der Vertragstheorie greift bei der Vollstreckungshilfe zu kurz. Es bedarf – im grundsätzlichen Einklang mit der Vollzugsaktstheorie und der sie modifizierenden vermittelnden Lösung – der Beachtung innerstaatlicher Grundrechte bei der Entscheidung über die Leistung von Vollstreckungshilfe. Damit aber ist indiziert, dass zwischen der Auslieferung und der Vollstreckungshilfe zwar Unterschiede in der Intensität der gegenüber dem Betroffenen vom Rechtshilfe leistenden Staat ausgeübten Hoheitsgewalt bestehen können, diese aber eine fundamental unterschiedliche rechtliche Bewertung von Auslieferung und Vollstreckungshilfe nicht begründen können. Diese Frage wird auch bei der Beurteilung einer Verzichtbarkeit des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit als zwingender Rechtshilfevoraussetzung aufzugreifen sein, wenn die Anforderungen der grundrechtsgleichen Rechte des Art. 103 Abs. 2 und 104 Abs. 2 GG an die Zulässigkeit einer Vollstreckungshilfe untersucht werden.74 Zum jetzigen Zeitpunkt ist zunächst festzuhalten, dass die innerstaatlichen Grundrechte 72 73 74
Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 243. Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 243. Siehe dazu unten Teil 2 Kapitel 2 A.IV.4.
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
nach allgemeiner Auffassung die Zulässigkeit einer Vollstreckungshilfe begrenzen können. Der Gesetzgeber hat dem bei Erlass des IRG dadurch Rechnung getragen, dass er in § 73 IRG (heute § 73 S. 1 IRG) ausdrücklich eine allgemeine ordre public-Grenze für jegliche gesetzliche75 Rechtshilfe aufgenommen hat. b) Sachliche Reichweite der Grundrechtsprüfung Bereits eingangs des vorliegenden Abschnittes wurde klargestellt, dass nicht allein die innerstaatliche Vornahme der zur Rechtshilfeleistung erforderlichen Handlungen, also bei der Auslieferung die Ergreifung und Überstellung der gesuchten Person, in der Regel unter Anordnung von Auslieferungshaft, sondern implizit auch das ausländische Strafverfahren an dem noch näher zu bestimmenden innerstaatlichen Grundrechtsstandard zu messen ist. Dies hat der deutsche Gesetzgeber mit seiner Begründung zu § 73 IRG bestätigt.76 Die Zurechnung der Verletzung eines vergleichbaren Grundrechtsstandards im ausländischen Verfahren zu dem Rechtshilfe leistenden Staat entspricht grundsätzlich dem in der Soering-Entscheidung des EGMR77 entwickelten Ansatz, mit dem der EGMR die Reichweite der Verantwortlichkeit eines Staates für Grundrechtsverstöße bestimmt, die zwar außerhalb seiner Hoheitsgewalt verwirklicht werden, aber erst infolge der Ausübung seiner Hoheitsgewalt ermöglicht würden. Der EGMR entschied, dass eine infolge der Auslieferung potentiell drohende Verletzung der Gewährleistungen der EMRK durch den um Auslieferung ersuchenden Staat dem ausliefernden Staat zurechenbar sei, weil sie erst durch die Auslieferung möglich und damit durch diese bewirkt wird.78 Ein im ersuchenden Staat drohender Verstoß gegen das Verbot von Folter und sonstiger unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, Art. 3 EMRK, bildet daher ein Auslieferungshindernis.79 In vergleichbarer Weise ist die Anwendbarkeit deutscher Grundrechte auf grenzüberschreitende Sachverhalte grundsätzlich anerkannt und wird von der h. M. auf Art. 1 Abs. 3 GG gestützt.80
75 Zur Frage der ordre public-Grenze für die vertragliche Rechtshilfe siehe unten Teil 1 Kapitel 2 C.II.1. 76 BT-Drucks. 9/1338, S. 93. Näher dazu unten Teil 1 Kapitel 2 C. 77 EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Soering v. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88 = EuGRZ 1989, 314 ff. 78 EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Soering v. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, §§ 87, 91. 79 Eser/Lagodny/Blakesley, Introduction, in: dies. (eds.), The Individual as Subject of International Cooperation in Criminal Matters. A Comparative Study (2002), S. V. 80 Ausführlich dazu Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte (1994), S. 10 ff. (13 ff.); zustimmend Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), Vor § 1 IRG Rn. 38.
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe
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Bei der Vollstreckungshilfe erfordert diese Zurechnung der Verantwortlichkeit für Grundrechtsverstöße an den Vollstreckungshilfe leistenden Staat eine retrospektive Betrachtung des ausländischen Strafverfahrens sowohl im Hinblick auf das bisherige Verfahren als auch in Prognose für das zukünftige Verfahren. Denn auch ein Grundrechtsverstoß in der Vergangenheit droht durch Rechtshilfeleistung vertieft zu werden, wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Verstoß im weiteren Verfahrensverlauf geheilt würde. c) Formale Prüfungsintensität: Evidenz Allerdings ist damit keine vollinhaltliche Nachkontrolle des ausländischen Verfahrens gefordert, vielmehr geht es um die Berücksichtigung solcher Grundrechtsverletzungen, die für den ersuchten Staat evident sind. Für die durch Deutschland zu leistende Vollstreckungshilfe bedeutet dies zweierlei: Die Tat müsste entweder auch nach innerstaatlichem Recht Deutschlands als ersuchtem Staat strafbar sein oder dürfte, soweit das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit verzichtbar erscheint,81 zumindest nicht dem nationalen ordre public widersprechen.82 Ferner müsste, noch immer in retrospektiver Betrachtung, das Strafverfahren, in dem das verurteilende Erkenntnis gefällt wurde, zumindest einen den Mindestanforderungen des deutschen Rechts gleichwertigen Schutzstandard geboten haben. Will Deutschland einen anderen Staat um Vollstreckungshilfe ersuchen, darf jedenfalls nicht offensichtlich sein, dass der Strafvollzug in diesem Staat den Anforderungen eines menschenrechtlichen Mindeststandards nicht genügt. d) Maßstab der Prüfung: Dem innerstaatlichen Verfahren gleichwertiger Grundrechtsschutz Es besteht also grundsätzliche83 Einigkeit über das Ob der Notwendigkeit eines ordre public-Schutzes, der jedenfalls nicht allein auf das völkerrechtliche ius cogens zu beschränken ist. Umstritten bleibt jedoch, erstens, ob die innerstaatlichen Grundsätze, insbesondere die innerstaatlichen Grundrechte zur Gänze zu beachten oder auf einen Kernbereich zu beschränken sind. Von den Vertretern der Vertragstheorie wird bei der Vollstreckungshilfe gefordert, der nationale ordre public solle „einschränkend im Sinne der wesentlichen Grundlagen der innerstaatlichen Rechts- und Gemeinschaftsordnung [verstanden werden]. Das auslän81
Dazu unten Teil 2 Kapitel 2 A.IV. Siehe unten Teil 2 Kapitel 2 B.I. 83 Selbst diejenigen, die für die Rechtshilfe innerhalb der EU eine allgemeine ordre public-Klausel ablehnen (sich aber regelmäßig nicht explizit mit der Vollstreckungshilfe beschäftigen), anerkennen mit den in den Rahmenbeschlüssen zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung vorgesehenen Versagungsgründen zumindest einen punktuellen ordre public-Schutz. Näher dazu unten Teil 2 Kapitel 1 D.III. 82
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
dische Strafverfahren, auf dem das anzuerkennende Urteil beruht, muß den Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Strafprozesses entsprechen, wie sie in verschiedenen, allgemein anerkannten internationalen Erklärungen und Abkommen niedergelegt sind“.84 Ähnlich wie nach der vermittelnden Ansicht kann danach nur auf die Wahrung des Kerngehalts der Grundrechte abgestellt werden. Dies überzeugt nicht. Einsichtig ist, dass ein transnationales Strafverfahren, das im Wesentlichen in einer ausländischen Rechtsordnung geführt wurde bzw. wird, nicht an den detaillierten Anforderungen eines Grundrechtsstandards gemessen werden kann, die durch die grundgesetzlichen Gewährleistungen der Art. 1–19 GG sowie Art. 102–104 GG und deren Interpretation durch das Bundesverfassungsgereicht geprägt sind. Eine generelle Absenkung der Anforderungen in einem transnationalen Strafverfahren mit dem Ziel, die zwischenstaatliche Kooperation durch Rechtshilfe zu verbessern, ginge jedoch einseitig zu Lasten des vom Verfahren betroffenen Individuums. Erforderlich ist daher die Einhaltung eines im Wesentlichen dem in rein innerstaatlichen deutschen Strafverfahren gewährleisteten Grundrechtsschutz gleichwertigen Grundrechtsstandards.85 Für die Vollstreckungshilfe, bei der das Erkenntnisverfahren bereits abgeschlossen ist und ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, bedeutet dies, dass in dem im ersuchenden Staat geführten Erkenntnisverfahren ein den grundrechtschützenden Anforderungen der deutschen Rechtsordnungen im Wesentlichen gleichwertiges Schutzniveau eingehalten wurde und dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit, wie sie sich aus dem Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege ergeben, beachtet sind.86 Die Beachtung dieser Kriterien muss durch das Vollstreckungshilferecht sichergestellt werden, entweder durch entsprechend umfassend ausgestaltete spezielle Versagungsgründe oder – aus hiesiger Sicht vorzugswürdig– durch eine ordre public- Klausel, auf deren Ausgestaltung noch näher einzugehen sein wird.87 III. Rechtliche Einordnung und Grundrechtsbindung des Freiheitsentzugs bei der Vollstreckungshilfe Bei der Vollstreckungshilfe für freiheitsentziehende Sanktionen ist die Untrennbarkeit der Rechtshilfeleistung gegenüber dem ersuchenden Staat vom innerstaatlichen Vollzug evident: Die geleistete Rechtshilfe liegt im innerstaatlichen Entzug der Freiheit des Verurteilten. 84 Jescheck, Die internationalen Wirkungen der Strafurteile, ZStW 76 (1964), 172 (172); auf diesen Bezug nehmend Vogler, Auslieferung und Grundgesetz (1970), S. 207. 85 In diesem Sinne auch Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), Vor § 1 IRG Rn. 41. 86 Zur Konkretisierung dieser Anforderung anhand des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung siehe unten Teil 2 Kapitel 2 A.II. 87 Teil 2 Kapitel 1 D., Kapitel 2 B.
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe
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1. Vollstreckungshilfe zwischen Rechtshilfe und Strafvollzug Daher gilt zwar das Ziel der Durchsetzung einer transnationalen Werteordnung auch für die Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen. Gleichwohl bildet sie einen Sonderfall der Rechtshilfe. Denn die Vollstreckungshilfe greift in einem Stadium des Strafverfahrens ein, in dem ein Urteil bereits gefällt und rechtskräftig worden ist, und zielt auf Vollstreckung oder Fortsetzung der Vollstreckung des verhängten Freiheitsentzugs durch Vollzug in einem anderem als dem Urteilsstaat ab. Letzteres unterscheidet sie von einer Auslieferung zur Strafvollstreckung. Schwierigkeiten bereitet der besondere Charakter der Vollstreckungshilfe bei der rechtlichen Qualifizierung des damit verbundenen Freiheitsentzugs. Traditionell wird dieser als nur der Form nach Strafvollzug, dem Wesen nach aber Rechtshilfe eingeordnet.88 Denn Vollstreckungshilfe sei gerade nicht die Ausübung eigener, sondern die Hilfe zur Durchsetzung fremder Strafgewalt.89 Der sehr formal erscheinenden Differenzierung wird entgegnet, dass der Freiheitsentzug bei der Vollstreckungshilfe zugleich innerstaatlich Strafhaft und im Verhältnis zum ersuchenden Staat Rechtshilfe ist.90 Das Bemühen um Differenzierung zwischen Rechtshilfe und Strafhaft erklärt sich vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Freiheitsentzug. Es fragt sich nämlich, ob an die Freiheitsentziehung als Hilfe zur Vollstreckung einer ausländischen Strafgewalt die gleichen rechtlichen Maßstäbe anzulegen sind wie an die Freiheitsentziehung durch Vollzug eigener Strafgewalt.91 Es bedarf also einer näheren dogmatischen Einordnung des Freiheitsentzugs bei der Vollstreckungshilfe, die im Folgenden geleistet werden soll. 2. Gesetzes- und Richtervorbehalt, Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG i.V. m. Art. 104 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 GG Der Freiheitsentzug durch Sanktionsvollstreckung im Rahmen der Vollstreckungshilfe ist ein Akt der Ausübung deutscher Hoheitsgewalt. Bei diesem Handeln sind die deutschen Organe durch die Grundrechte gebunden, Art. 1 Abs. 3 88 Vogler, Zur Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Jescheck zum 70. Geburtstag (1985), S. 1379 (1391); Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte (1993), S. 182; Grotz, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), Vor § 48 Rn. 13. 89 Vogler, Zur Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Jescheck zum 70. Geburtstag (1985), S. 1379 (1391); Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte (1994), S. 182. 90 Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), Vor § 48 IRG Rn. 8. 91 Vgl. Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 80 Rn. 59.
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
GG. Den Ausgangspunkt der rechtlichen Einordnung des Freiheitsentzugs bildet daher der Schutz der persönlichen Freiheit, der über Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG grundrechtlich geschützt ist: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Satz 3 der Vorschrift stellt klar, dass eine Einschränkung der Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Parlamentsgesetz erfolgen darf. Der materielle Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG wird durch das grundrechtsgleiche Recht92 des Art. 104 GG um verfahrensrechtliche Absicherungen ergänzt.93 Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG erhebt die Pflicht zur Einhaltung der sich aus dem förmlichen Gesetz ergebenden Verfahrensvoraussetzungen zur Anordnung von Freiheitsbeschränkungen zum Verfassungsgebot.94 Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG setzt für Freiheitsentziehungen, zu denen die Strafhaft zu rechnen ist, eine richterliche Entscheidung über deren Zulässigkeit und Fortdauer voraus. Daraus ergibt sich, dass die Leistung von Vollstreckungshilfe für freiheitsentziehende Sanktionen einem Gesetzes-95 und Richtervorbehalt unterliegt. Die entsprechenden Regelungen werden durch das Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen bzw. gemäß dessen § 1 Abs. 3 IRG durch vorrangige völkervertragliche Regelungen, soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind,96 getroffen. Auf die inhaltlichen Anforderungen, die sich aus dem Gesetzesvorbehalt ergeben, insbesondere auf die Frage, ob diese das Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit als Vollstreckungshilfevoraussetzung bedingen, wird im Rahmen der Diskussion der Verzichtbarkeit beiderseitiger Strafbarkeit zurückzukommen sein.97 3. Im Wesentlichen gleichwertige Anforderungen nach Art. 6 EU-GRCh Für die Vollstreckungshilfe auf Basis des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung bzw. des in seiner Umsetzung zu erlassenden Rechts könnte jedoch zu fragen sein, ob bzw. inwieweit die grundrechtlichen Normen des Grundgesetzes überhaupt Anwendung finden können. Schließlich sind im Anwendungsbereich von mit Vorrang98 ausgestattetem, sogenannten suDegenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz6 (2011), Art. 104 Rn. 3; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz12 (2012), Art. 104 Rn. 1; Radtke, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG16 (Stand: 01.10.2012), Art. 104 GG Rn. 1. 93 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz12 (2012), Art. 104 Rn. 1; Radtke, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG16 (Stand: 01.10.2012), Art. 104 GG Rn. 1. 94 BVerfG, NStZ-RR 2007, 379 m.w. N. 95 Vgl. Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), Einl. Rn. 44. 96 Ausführlich dazu unten Teil 1 Kapitel 2 B. 97 Siehe dazu unten Teil 2 Kapitel 2 A.IV.4. 98 Zur Vorrangdiskussion in Bezug auf die Rechtsform des Rahmenbeschlusses siehe unten Teil 2 Kapitel 1 F. 92
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe
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pranationalen Unionsrecht die grundrechtlichen Normen des Grundgesetzes nicht anwendbar, soweit das Unionsrecht zwingende Vorgaben setzt.99 Dies gilt jedenfalls solange, als durch das Unionsrecht hinreichender Grundrechtsschutz gewährt wird. Das Maß des durch das Unionsrecht gebotenen Grundrechtschutzes ist „nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im wesentlichen gleichzuachten“. 100 Diese grundlegenden Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts im Solange II-Urteil wird für den grundrechtlichen Schutz der Freiheit der Person durch Art. 6 EU-GRCh bestätigt, der einen gleichwertigen Schutz im Anwendungsbereich des Unionsrechts101 gewährleistet. Zwar fehlt es hier an der ausdrücklichen Verankerung eines Gesetzes- und Richtervorbehalts für Freiheitsbeschränkungen, wie sie in Art. 2 Abs. 2 i.V. m. Art. 104 GG ausgestaltet sind. Jedoch enthält Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a EMRK entsprechende Gewährleistungen. Danach darf einer Person die Freiheit nur auf gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden, wenn er rechtmäßig nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht in Haft gehalten wird. Über Art. 52 Abs. 3 EU-GRCh gilt dieser durch die EMRK gewährte Mindestschutzstandard entsprechend für die Auslegung des Art. 6 EU-GRCh.102 Ganz spannungsfrei bleibt die Annahme der Gleichwertigkeit jedoch nicht. Legt man nämlich die bisherige Rechtsprechung des EGMR zugrunde, durch die die Regelungen der EMRK konkretisiert werden, so erfordert die Beschränkung der Freiheit der Person nicht zwingend eine Rechtsgrundlage in Form eines förmlichen Parlamentsgesetzes, ausreichend ist vielmehr ein Gesetz im materiellen Sinne.103 Entscheidend ist aber, dass es einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage bedarf, die das zu beachtende Verfahren und die materiellen Voraussetzungen der Freiheitsentziehung regelt. Die Voraussetzungen der Freiheitsentziehung müssen für den Einzelnen erkennbar und verständlich sein, so dass er sein Verhalten danach ausrichten kann.104 Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a EMRK setzt zudem voraus, dass
99 Grundlegend EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 (1269 ff.); EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 ff. (Rn. 3). 100 BVerfGE 73, 339 (378) (Solange II). 101 Zum Anwendungsbereich der EU-GRCh vgl. Art. 51 EU-GRCh. 102 Vgl. die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. EU 2007 C 303/17 (19). In diesem Sinne, allerdings zur gleichgelagerten Frage der Freiheitsentziehung im Rahmen der Vollziehung eines Europäischen Haftbefehls, jüngst auch GA Sharpston im Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-396/11, Radu, ECLI: EU: C: 2012: 648 (Rn. 53 ff., 58). 103 EGMR, Urt. v. 05.10.2004, H. L. v. Vereinigtes Königreich, Nr. 45508/99, §§ 116 ff. (zur Frage einer Unterbringung zur Gefahrenabwehr); Grabenwarter/Pabel, EMRK5 (2012), § 21 Rn. 8. Kritisch Herzog, Das Grundrecht auf Freiheit in der Europäischen Menschenrechtskonvention, AöR 86 (1961), 194 (211 f.), der ein formelles Gesetz oder eine unmittelbare verfassungsrechtliche Ermächtigung als Voraussetzung ansieht. 104 EGMR, Urt. v. 23.09.1998, Steel u. a. v. Vereinigtes Königreich, Nr. 24838/94, § 54.
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
die Verurteilung zu der freiheitsentziehenden Strafe105 durch ein zuständiges Gericht erfolgte. Inhaltlich sind damit die grundrechtlichen Voraussetzungen einer Freiheitsentziehung, wie sie sich aus dem Grundgesetz und dem Unionsrecht ergeben, im Wesentlichen gleich.106 4. Prüfungsmaßstab in der vorliegenden Studie Formal knüpfen die Überlegungen in der vorliegenden Arbeit an den Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes an. Diese Wahl der Anknüpfung beruht auf mehreren Gründen: So gelten die Überlegungen für die grundgesetzlichen Anforderungen an die Leistung von Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen ganz allgemein und beziehen sich nicht ausschließlich auf die Vollstreckungshilfe auf Basis des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung. Zudem nahmen nach hier vertretener Auffassung unionsrechtliche Rahmenbeschlüsse (vor Ablauf der Übergangsfrist der Lissabonner Vertragsreform) nicht am Vorrang des Unionsrechts teil, so dass sich im faktisch unwahrscheinlichen Fall eines rechtlich unauflöslichen Konflikts zwischen unionsrechtlichen Anforderungen des Rahmenbeschlusses und grundgesetzlichen Schutzgewährleistungen letztere durchsetzen hätten müssen.107 Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, dass die Überlegungen auf die unionsrechtlichen Anforderungen gemäß Art. 6 EU-GRCh im Wesentlichen zu übertragen sind. IV. Durchsetzung der Sanktion und Übernahme des Vollzugs der Sanktion als Elemente der Vollstreckungshilfe Die nachfolgenden Überlegungen untersuchen die Bedeutung der Strafzwecke und des Strafvollzugsziels für die Ausgestaltung der Vollstreckungshilfe. Dabei steht der Regelfall der Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen – nämlich die Übernahme der Vollstreckung einschließlich des Vollzugs einer Freiheitsstrafe – im Mittelpunkt der Überlegungen. Die gefundenen Ergebnisse gelten grundsätzlich auch für den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung, soweit sie nicht an dem strafrechtlichen Schuldvorwurf anknüpfen. Dessen Funktion als eingriffsbegrenzenden Maßstab übernimmt
105 Noch nicht endgültig geklärt ist, ob für vorbeugende Maßnahmen zusätzlich oder alternativ Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK einschlägig ist. Im Sinne einer Alternativität jüngst EGMR, Urt. v. 17.12.2009, M. v. Deutschland, Nr. 19359/04, §§ 87, 95, 103 = EuGRZ 2010, 25. Vgl. zur Diskussion Paeffgen, in: Wolter (Hrsg.), SK-StPO4 (2012) Bd. X, Art. 5 EMRK Rn. 17. 106 Vgl. ausführlich zu den Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a EMRK Paeffgen, in: Wolter (Hrsg.), SK-StPO4 (2012) Bd. X, Art. 5 EMRK Rn. 14 ff., 17 ff. 107 Ausführlich dazu, auch unter Berücksichtigung der rahmenbeschlusskonformen Auslegung als Konfliktvermeidungsstrategie, unten Teil 2 Kapitel 1 F.
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe
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bei nicht schuldgebundenen Maßregeln der Besserung und Sicherung der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.108 1. Unterscheidung von Strafvollstreckung und Strafvollzug Bei der Vollstreckungshilfe kommen die Elemente der Strafvollstreckung und des Strafvollzugs zusammen. Diese Begriffe sind, wie bereits angedeutet, nicht synonym.109 Zwar dienen sie gemeinsam der Verwirklichung der im Urteil verhängten Strafe, die sich an den Strafausspruch anschließt und die Rechtskraft der Entscheidung voraussetzt. In diesem Zusammenwirken werden sie zusammenfassend auch als Strafvollstreckung im weiteren Sinne bezeichnet.110 Gerade im Hinblick auf die unterschiedlichen mit der Strafvollstreckung und dem Strafvollzug verbundenen Zwecke bzw. Ziele müssen beide jedoch differenziert betrachtet werden. a) Strafvollstreckung als Regelung des Ob der Verwirklichung der Strafe Die Strafvollstreckung im engeren Sinne umfasst im Wesentlichen das Verfahren von der Rechtskraft des Urteils bis zum Strafantritt, darüber hinaus aber auch die generelle Überwachung des Vollzugs einer freiheitsentziehenden Strafe einschließlich des Verfahrens über die mögliche Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung. Im deutschen Recht sind insbesondere die §§ 449–463d StPO einschlägig, welche grundlegend über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen, Geldstrafen und Ersatzfreiheitsstrafen bestimmen.111 Die hier getroffenen Regelungen sind aber auch auf die Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung sinngemäß anzuwenden.112 Von besonderer Bedeutung für die vorliegende Untersuchung sind die nicht nur im Detail, sondern bereits konzeptionell international stark divergierenden Regelungen der Aussetzung des Vollzugs des Strafrests zur Bewährung (im Folgenden in Kurzform als „bedingte Entlassung“ bezeichnet). Im deutschen Recht sind diese in den §§ 57 ff. StGB geregelt.113 Die Regelungen zur bedingten Entlas-
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Siehe oben Einleitung C.I.1. In diesem Sinne auch Kaiser/Schöch, Strafvollzug5 (2003), § 3 Rn. 16. 110 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht27 (2012), Kap. 11 Rn. 1; Laubenthal, Strafvollzug6 (2011), Rn. 10 ff. 111 Die Strafvollstreckungsregelungen der StPO werden ergänzt durch die Strafvollstreckungsordnung v. 1. August 2011 und die Justizbeitreibungsordnung v. 11.3.1937 in der in BGBl. III, FNA 365-1 veröffentlichten bereinigten Fassung, die zuletzt durch Art. 177 V. v. 31. August 2015, BGBl. I S. 1474, geändert worden ist. 112 Vgl. § 463d StPO. 113 Näher dazu sogleich B.III.3., in diesem Kapitel. 109
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
sung sind dogmatisch dem Strafvollstreckungsrecht zuzuordnen,114 denn sie entscheiden über das Ob der weiteren Verbüßung der Strafe. b) Strafvollzug als Regelung des Wie der Verwirklichung der Strafe Während die Strafvollstreckung vor allem die notwendigen Entscheidungen zum generellen Ob der Verwirklichung der Strafe betrifft, umfasst der Strafvollzug den Bereich von dem Moment des Strafantritts in der Vollzugsanstalt bis zur Entlassung aus der Strafhaft, und damit das Wie der Durchführung.115 Strafvollzug bedeutet somit die praktische Durchführung der freiheitsentziehenden Sanktion im Rahmen der geltenden Vollzugsgesetze und unter den tatsächlichen Bedingungen der jeweiligen Vollzugsinstitution.116 2. Strafzwecke und Strafvollzugsziel als Determinanten der Vollstreckungshilfe Festzuhalten bleibt als Zwischenergebnis: Die Vollstreckungshilfe dient der Verwirklichung einer durch einen Hoheitsträger verhängten Unrechtssanktion durch einen anderen Hoheitsträger. Folgerichtig bezieht sie ihre Legitimation zumindest auch aus der Legitimation der zu vollstreckenden Strafe und muss sich (auch) an dieser messen lassen.117 Sie ist im Falle einer freiheitsentziehenden Strafe aber nicht auf die Unterstützung bei der Durchsetzung einer transnationalen Werteordnung durch Absicherung der Strafvollstreckung beschränkt. Vielmehr bedeutet sie die Übernahme des Strafvollzugs. Der Vollzug der Strafe im Vollstreckungsstaat ist Kernelement der Vollstreckungshilfe, so dass sich Ziel und Ausgestaltung dieses Rechtsinstruments neben den Strafzwecken gerade auch am Strafvollzugsziel orientieren muss. Einigkeit besteht, dass die Strafe als Eingriff in die Freiheit oder das Eigentum des Einzelnen einer rational überprüfbaren Zwecksetzung bedarf.118 Die StrafGroß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MüKo-StGB2 (2012), Bd. 2, § 57 Rn. 1; Hubrach, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2006) Bd. 2, § 57 Rn. 1; Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB28(2012), § 57 Rn. 2; Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 57 Rn. 4. 115 Zu den Rechtsgrundlagen des Strafvollzugs siehe unten C.II.1., in diesem Kapitel. 116 Vgl. Laubenthal, Strafvollzug6 (2011), Rn. 12; Röttle/Wagner, Strafvollstreckung8 (2009), Rn. 2. 117 Daher hat etwa die Bundesrepublik bei Ratifizierung des Überstellungsübereinkommens des Europarates eine Erklärung abgegeben, nach der sie bei der Entscheidung über ein Ersuchen um Vollstreckungshilfe alle Strafzwecke berücksichtigen werde. Siehe dazu unten Teil 1 Kapitel 2 B.I.4. 118 Vgl. Gärditz, Weltrechtspflege. Eine Untersuchung über die Entgrenzung staatlicher Strafgewalt (2006), S. 317 ff. m.w. N. 114
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe
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zwecke müssen dem normativen Hintergrund eines verfassungsrechtlich gebotenen Menschenbildes des Grundgesetzes entsprechen, das von einem zu freier Selbstbestimmung befähigten Menschen ausgeht. Im Einzelnen sind die Strafzwecke streitig. Drei grundlegende Strafzwecke lassen sich in der Diskussion identifizieren: a) Schuldausgleich Die Anknüpfung an die Schuld bildet ein grundlegendes Element der Strafe.119 Mit dem Schuldprinzip wird dem mit der Selbstbestimmung verbundenen Verantwortungsprinzip Rechnung getragen.120 Der Schuld kommt eine doppelte Schutzfunktion für das Individuum zu: Die Schuld im Sinne der Vorwerfbarkeit des Verhaltens, an dem der Strafvorwurf anknüpft, ist Voraussetzung der Bestrafung; sie hat straflegitimierende Funktion (nulla poena sine culpa).121 Zugleich begrenzt die Schuld im Sinne des Maßes des vorwerfbar verwirklichten Tatunrechts das Maß der Strafe. 119 Vgl. BVerfGE 7, 305 (319); 9, 167 (169); 20, 323 (331); 25, 269 (285 f.); 91, 1 (26); 105, 135 (153 f.). 120 Vgl. etwa BVerfGE 123, 267 (413) (Lissabon-Entscheidung); 128, 326 (376 f.). 121 Vgl. statt vieler Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil4 (2006) Bd. I, § 3 Rn. 51 ff. (57). Zum Verfassungsrang des Schuldprinzips H. A. Wolff, Der Grundsatz „nulla poena sine culpa“ als Verfassungsrechtssatz, AÖR 124 (1999), 55 ff. In seinen Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung hat das Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 109, 133 (173); 128, 326 (376 f.), jüngst das Wesen der Strafe als eine repressive Übelzufügung in Reaktion auf schuldhaftes Verhalten gegenüber weiteren möglichen Strafzwecken herausgehoben und unterstrichen, dass die Strafe dem Schuldausgleich dient. Frühere Judikate des Bundesverfassungsgerichts bestätigen zugleich, dass der säkulare Rechtsstaat keine Berechtigung hat, das abstrakte Ideal einer ausgleichenden Gerechtigkeit um ihrer selbst willen zu verfolgen und zu diesem Zweck in die Grundrechte des Individuums einzugreifen, gegen dieses eine Strafe zu verhängen und zu vollziehen, ohne dass damit ein legitimer Zweck gegenüber der Gemeinschaft verfolgt wird, nämlich die Gewährleistung des Schutzes eines zu sichernden Rechtsguts, vgl. BVerfGE 39, 1 (46 f.). Vgl. Weigend, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2007) Bd. 1, Einl. 59; Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil4 (2006) Bd. I, § 3 Rn. 8; Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil5 (2011), Kap. 2 Rn. 7. Entgegen den so genannten ,absoluten‘ Straftheorien darf die Strafe daher nicht allein den Zweck verfolgen, ein begangenes Unrechts auszugleichen und die Schuld des Täters zu vergelten, damit Gerechtigkeit wiederhergestellt werde. Die absoluten Straftheorien werden zumeist auf Kant und Hegel zurückgeführt. Nach Kant, Metaphysik der Sitten (1797), S. 453; abgedruckt in: Vormbaum (Hrsg.), Texte zur Strafrechtstheorie der Neuzeit. Band I: 17. und 18. Jahrhundert (1993), S. 234 (241), müsse die Strafe gegen den Täter „jederzeit nur darum gegen ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat“. Für Hegel, Rechtsphilosophie (1821), §§ 97 ff.; abgedruckt in: Vormbaum (Hrsg.), Texte zur Strafrechtstheorie der Neuzeit. Band II: 19. und 20. Jahrhundert (1993), S. 58 (63 ff.), wird durch die vergeltende Strafe der Widerspruch aufgelöst, den der Täter dadurch aufgestellt habe, dass er einerseits mit seiner Handlung die Geltung des verletzten Rechts bestreitet, andererseits aber zugleich als vernünftiger Mensch immer die Geltung des Rechts wolle. Zur Kritik an der Bezeichnung als „absolute Straftheorien“ Hörnle, Straftheorien (2011), S. 15 ff., die zugleich die häufig vorgenommene Reduzierung der Auseinandersetzung mit diesen Theorien auf die Positionen Kants und Hegels kritisiert.
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
Für die Vollstreckungshilfe bei Freiheitsstrafen lassen sich an dieser Stelle zwei erste Feststellungen treffen: Die straflegitimierende Funktion der Schuld ist für den Umgang mit eingehenden Ersuchen um Vollstreckungshilfe von Relevanz, denn das Schuldprinzip könnte einer Vollstreckungshilfe für Strafen, die aufgrund einer sogenannten strict liability-Haftung verhängt werden, entgegenstehen.122 Die strafbegrenzende Funktion der Schuld hingegen setzt Vorgaben für die Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe insofern, als die Strafe auch bei einer Vollstreckungsübertragung durch das Maß der Schuld begrenzt bleiben muss. b) Spezialprävention Ein Element eines zukunftsgerichteten Rechtsgüterschutzes durch Strafe ist es, den Täter davon abzuhalten, in Zukunft erneut strafrechtlich geschützte Rechtsgüter zu verletzen. Der Strafzweck der Spezialprävention kann auf drei Wegen verfolgt werden, nämlich indem der Täter eingesperrt und so die Allgemeinheit für die Dauer des Freiheitsentzugs vor ihm geschützt wird (Sicherungszweck der Strafe), indem der Täter durch die Strafe von der Begehung zukünftiger Straftaten abgeschreckt wird (negative Spezialprävention) und indem der Täter durch Besserung vor Rückfälligkeit bewahrt wird (Resozialisierungszweck).123 Die Anerkennung124 spezialpräventiver Strafzwecke der Abschreckung und Resozialisierung des Täters führt dazu, dass das Übel der Strafe nicht zur Wiederherstellung eines abstrakten Wertes zugefügt wird, sondern dem Täter selbst zu Gute kommen soll.125 Für die Vollstreckungshilfe gibt auch der Strafzweck der Spezialprävention Hinweise für die Vollstreckung und den Vollzug der im Urteilsstaat ausgesprochenen Strafe durch den Vollstreckungsstaat. So ist zu überlegen, inwieweit ein im Urteilsstaat mit der Strafe verfolgter Zweck der Sicherung des Verurteilten durch Inhaftierung vom Vollstreckungsstaat bei seinen vollstreckungsrechtlichen 122 Zum Konzept der strict liability vgl. etwa Hooper/Murphy, Blackstone’s Criminal Practice 2013 (2012), Section A2.20 ff. (S. 28 ff.). Siehe auch unten Teil 2 Kapitel 3 B. 123 v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3 (1883), 1 (36). 124 Zu Zweifeln an der resozialisierenden Wirkung der Strafe siehe unten B.III.2., in diesem Kapitel. 125 Beim Sicherungszweck knüpft v. Liszts Argumentation an die „Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher“ an; v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3 (1883), 1 (36). Spezialpräventive Erwägungen können denknotwendig erst dann zum Tragen kommen, wenn bereits ein erstes Tatunrecht schuldhaft verwirklicht wurde. Erst in diesem Stadium können die Sicherung dieses Täters durch Freiheitsstrafvollzug sowie die Abschreckung des Täters von weiterer Tatbegehung in der Zukunft bzw. seine soziale (Re-)Integration in die rechtstreue Gemeinschaft mittels Strafe angestrebt werden. Spezialpräventive Argumentationen taugen zur Strafbegründung zudem nicht, wenn es sich um Täter handelt, die aus einer Ausnahmesituation heraus gehandelt haben, sozial integriert sind, und bei denen keine Gefahr erneuter Straffälligkeit ersichtlich ist.
A. Rechtliche Einordnung und Ziele der Vollstreckungshilfe
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Entscheidungen zu berücksichtigen ist. Eine Reststrafenaussetzung kommt bei einem Verurteilten nicht in Betracht, wenn dieser zwar in Deutschland voraussichtlich straffrei bleiben würde, jedoch bei seiner Entlassung die Sicherheitsinteressen des Landes, in dem er verurteilt wurde, erheblich berührt würden.126 c) Generalprävention Ein weiterer präventiver Zweck der Strafe wird darin gesehen, dass gegenüber der Gesellschaft mit der Strafe die Rechtsgeltung bestätigt werden soll (Generalprävention). Dabei ist zwischen einer negativen und einer positiven Generalprävention zu unterscheiden. Unter negativer Generalprävention wird dabei die Abschreckung potentieller anderer Rechtsbrecher verstanden.127 Positiv gewandet und sozial breiter ausgeGroß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MüKo-StGB2 (2012), Bd. 2, § 57 Rn. 54. Die Idee der negativen Generalprävention liegt darin, den Bürgern durch die Strafdrohung die Gewissheit zu geben, dass „jeder weiss, dass auf seine That ein Uebel folgen werde, welches grösser ist, als die Unlust, die aus dem nichtbefriedigten Antrieb zur That entspringt“, Feuerbach, Lehrbuch des peinlichen Rechts (1801), § 17 (Nachdruck 1996). Die Tauglichkeit dieser Begründung der Strafe ist allerdings kritisch zu hinterfragen. Dabei beruht die Kritik nicht auf der Untauglichkeit der Strafe, all diejenigen von der Begehung einer Straftat abzuschrecken, die gerade nicht vorab rational deren mögliche Konsequenzen abwägen. Denn diese Untauglichkeit schließt nicht aus, dass zumindest die rational abwägenden potentiellen Straftäter sich durch eine KostenNutzen-Analyse abschrecken ließen, vgl. dazu Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil5 (2011), Kap. 2 Rn. 10 f. Vielmehr ist der zitierten Feuerbachschen Argumentation entgegen zu halten, dass es nicht die Kosten-Nutzen, sondern eine Risiko-Nutzen-Abwägung, also vorrangig die Frage der Entdeckungswahrscheinlichkeit, ist, die einen rational abwägenden und damit der abschreckenden Wirkung einer drohenden Strafe zugänglichen potentiellen Straftäter beeinflusst, vgl. Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil4 (2006) Bd. I, § 3 Rn. 25, der zum Beleg auf eine Untersuchung von Curti, Abschreckung durch Strafe: Eine ökonomische Analyse der Kriminalität (1998); ders., Strafe und Generalprävention, ZRP 1999, 234 (236), verweist, nach der zwar die Höhe der Strafe nicht ganz ohne Abschreckungswirkung ist, die Erhöhung der Verurteilungswahrscheinlichkeit aber eine deutlich stärkere Wirkung entfaltet als eine entsprechende prozentuale Steigerung der verhängten Strafe (für den Bereich der Straftaten gegen Personen kommt Curti zu dem Ergebnis, der Effekt einer einprozentigen Steigerung der Verurteilungswahrscheinlichkeit sei viermal so hoch wie derjenige einer einprozentigen Steigerung der Strafhöhe). Freilich bleibt mit einer solchen Abwägung ein abschreckender Charakter des Ob (und weniger der Höhe) der drohenden Strafe verbunden, so dass die Tauglichkeit der negativen Generalprävention, klarer ausgedrückt der Abschreckung, als Strafzweck zwar umstritten, aber denkbar ist. Zur Frage einer (ebenfalls nicht unbestrittenen) empirischen Nachweisbarkeit negativ-generalpräventiver Wirkung der Strafe vgl. Entorf/Spengler, Die generalpräventive Wirkung erwarteter Strafe. Eine umfassende Auswertung kombinierter Kriminal- und Strafverfolgungsstatistiken im langfristigen Bundesländervergleich, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 88 (5/2005), 313 (334) mit umfangreichen Literaturnachweisen zum Thema; Dölling, Generalprävention durch Jugendstrafrecht, ZJJ 2/2012, 125 ff. Zu ähnlichem Ergebnis kommt bereits Schöch, Empirische Grundlagen der Generalprävention, in: Vogler u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, Zweiter Halbband (1985), S. 1081 (1102). 126 127
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
richtet ist es Aufgabe der Strafe, „die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung zu beweisen und so die Rechtstreue der Bevölkerung zu stärken“.128 Diese Bestätigung wird als positive Generalprävention verstanden. Während die Abschreckung auf den Tatgeneigten abzielt, richtet sich diese Normbestätigung an die grundsätzlich normentreue Allgemeinheit und soll das vorhandene Vertrauen in die Rechtsgeltung stärken, ein Vertrauen, welches durch die Straftat gefährdet zu sein drohte.129 Den fehlenden empirischen Nachweis einer positiv-generalpräventiven Wirkung der Strafe im Blick habend, wird in letzter Zeit verstärkt vertreten, dass Strafe zwar die Botschaft der Normbestätigung aussenden soll, dies aber als berechtigtes Interesse etwa des Tatopfers und nicht mit dem Ziel einer Beeinflussung der Straftatenhäufigkeit in der Zukunft. Damit würde der retributive Aspekt der Strafe wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt.130 Auch die präventive Ausrichtung der Strafe kann nicht auf die Anknüpfung an die Schuld des Täters, nämlich die Vorwerfbarkeit seines unrechten Verhaltens, verzichten;131 gleichhin, ob der Schuld ein Handeln im tatsächlich freien Willen zugrunde gelegt wird132 oder sie lediglich auf einem sozialen Konstrukt beruht, nämlich der gesellschaftlichen Entscheidung dafür, den einzelnen Menschen als prinzipiell frei und verantwortungsfähig zu behandeln.133 128
BVerfGE 45, 187 (256). Zwar ist ein solcher geradliniger Wirkungszusammenhang empirisch kaum nachweisbar, allerdings ist dieses dogmatische Konstrukt auch nicht zu widerlegen und behält damit als ein wichtiger Bestandteil des Konzepts zur Begründung und des Zwecks von Strafe seine Berechtigung. Vgl. Hörnle, Straftheorien (2011), S. 25 ff. 130 Ausführlich zu diesen Argumentationen Hörnle, Straftheorien (2011), S. 29 ff. Siehe auch Sautner, Opferinteressen und Strafrechtstheorien: Zugleich ein Beitrag zum restorativen Umgang mit Straftaten (2010). 131 Im Einklang mit der wohl herrschenden Auffassung kommt für das BVerfG, E 33, 10 ff., der Vergeltungsgedanke insoweit zum Tragen, als Repression nur um der Prävention willen geübt werden dürfe. Zustimmend Dannecker, Das intertemporale Strafrecht (1993), S. 265. Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil4 (2006) Bd. I, § 3 Rn. 44 ff. (45), widerstreitet der Vergeltungsargumentation mit der Begründung, dass es neben dem (Präventions)zweck der Strafe nicht noch ein vergeltendes ,Wesen‘ der Strafe geben könne. 132 Zur Determinismusdiskussion vgl. Burkhardt, Wie ist es, ein Mensch zu sein? – Zu Bedeutung und Gehalt des menschlichen Freiheitserlebens, in: Arnold/Burkhardt/ Gropp/Heine/Koch/Lagodny/Perron/Walther (Hrsg.): Menschengerechtes Strafrecht, Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag (2005), S. 77 ff.; Hillenkamp, Strafrecht ohne Willensfreiheit? Eine Antwort auf die Hirnforschung, JZ 2005, 313 ff.; Jakobs, Individuum und Person. Strafrechtliche Zurechnung und die Ergebnisse moderner Hirnforschung, ZStW 117 (2005), 247 ff. 133 Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil4 (2006) Bd. I, § 3 Rn. 55; Schreiber, Was heißt heute strafrechtliche Schuld und wie kann der Psychiater bei ihrer Feststellung mitwirken?, Der Nervenarzt 48 (1977), 242 (245): Schuld als „Fehlgebrauch eines Könnens [. . .], das wir uns wechselseitig zuschreiben“. Hörnle, Straftheorien (2011), S. 51 ff., wendet ein, dass das Schuldprinzip die Inanspruchnahme des Täters nicht zu 129
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d) Resozialisierungsziel des Strafvollzugs Die Leistung von Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktion durch Deutschland erfolgt in Form der Strafvollstreckung im deutschen Strafvollzug. Daher ist das Ziel des Strafvollzugs ein prägendes Element der Vollstreckungshilfe. Grundlegend hat das BVerfG im Lebach-Urteil festgestellt: „Als Träger der aus der Menschenwürde folgenden und ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte muss der verurteilte Straftäter die Chance erhalten, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen. Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 GG. Von der Gemeinschaft aus betrachtet verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die auf Grund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; dazu gehören auch die Gefangenen und Entlassenen“.134 Das Sozialstaatsprinzip tritt daher als weiterer verfassungsrechtlicher Baustein neben die Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde. Während jedoch die Menschenwürde ein subjektives Recht des einzelnen Gefangenen auf resozialisierende Ausrichtung des Vollzugs seiner Strafe begründet, hat das Sozialstaatsprinzip programmatischen Charakter im Sinne einer Art „Staatszielbestimmung“ und bildet keine Grundlage subjektiver Rechte.135 Es verlangt aber wenigstens die Einbeziehung resozialisierender Zielsetzungen in die Bestimmung der Vollzugsaufgaben.136 Dem Gesetzgeber verbleibt hierbei ein weiter Gestaltungsspielraum.137 Ist die Institution der Strafe und deren Vollstreckung aufgrund eines Konglomerats von schuldausgleichenden und generalpräventiven, teils auch spezialprärechtfertigen vermöge. Denn eine autonome Entscheidung des Täters für die Tat, ein Handeln trotz Vermeidemöglichkeit, sei zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Strafe. Sie stellt daher zusätzlich auf ein „Fairnessargument“ ab. Dem Täter sei entgegenzuhalten, dass er mit der Verhängung der Strafe nicht unfair behandelt werde, da er selbst in der Vergangenheit von der Normkonformität seiner Mitbürger profitiert habe und es daher nur fair sei, dass er nun selbst zur Bestätigung der Normgeltung in Anspruch genommen werde. Auf den Ausgleich des Normgeltungsschadens verweist auch Neumann, Normative Kritik der Theorie der positiven Generalprävention – 10 Thesen –, in: Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention (1998), S. 147 (151); ders., Institutionen, Zweck und Funktion staatlicher Strafe, in: Pawlik/Zaczyk (Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag am 26. Juli 2007 (2007), S. 435 (449 f.), erwägt ähnlich die Gerechtigkeit als Strafzweck im Sinne einer Kompensation von irregulärer Chancenanmaßung durch den Täter. 134 BVerfGE 35, 202 (235 f.). 135 Vgl. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz6 (2011), Art. 20 Rn. 50; Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel. Ein Beitrag zum Verhältnis von Strafrecht und Strafvollzugsrecht (1973), S. 16 f. m.w. N. 136 Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel. Ein Beitrag zum Verhältnis von Strafrecht und Strafvollzugsrecht (1973), S. 17. 137 BVerfGE 98, 169 (201) (Arbeitsentgelt im Strafvollzug).
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
ventiven Gründen notwendig, so ist es in der Konsequenz verfassungsrechtlich geboten, den Strafvollzug am Ziel der Resozialisierung auszurichten.138 § 2 Bundes-StVollzG legt fest: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.“ Zwar spricht Satz 2 des § 2 Bundes-StVollzG auch vom Sicherungszweck des Strafvollzugs. Ein lediglich an der sichernden Verwahrung des Straftäters ausgerichteter Vollzug würde jedoch den Straftäter zum bloßen Objekt staatlichen Handelns machen und ihn bereits der bloßen Möglichkeit freier Persönlichkeitsentfaltung und -entwicklung berauben.139 Das Resozialisierungsziel des Strafvollzugs leitet sich insbesondere aus der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde, die einem bloßen Verwahrvollzug widerstreitet, ab. Dem im Einklang mit internationalen Forderungen140 stehenden verfassungsrechtlichen Gebot der Ausrichtung des Strafvollzugs auf eine Resozialisierung können faktische Zweifel an der Resozialisierungsfähigkeit eines Inhaftierten nicht entgegen gehalten werden. Denn das widerspräche dem unumstößlichen normativen Konzept der Menschenwürde, das von einem zu freier Selbstbestimmung befähigten Menschen ausgeht. So hat das BVerfG in seinen Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung141 betont, dass Menschenwürde auch dem zu eigen ist, der auf Grund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann, und die Ausrichtung der Sicherungsverwahrung auf die Resozialisierung einfordert.142 Gleiches gilt für den Strafvollzug.
138 Ausführlich und grundlegend Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel. Ein Beitrag zum Verhältnis von Strafrecht und Strafvollzugsrecht (1973). 139 Manches jüngst erlassene Landesstrafvollzugsgesetz hat die Diskussion um die Strafvollzugsziele erneut angefacht, so etwa § 2 Bayerische Strafvollzugsgesetz, der in umgekehrter Reihenfolge beider (modifizierter) Sätze nunmehr davon spricht: „Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Er soll die Gefangenen befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Behandlungsauftrag).“ Vgl. dazu etwa Ullmann, Länderstrafvollzugsgesetze im Vergleich. Eine Analyse auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2012). 140 Council of Europe, Recommendation Rec(2006)2 of the Committee of Ministers to Member States on the European Prison Rules v. 11.01.2006, in deutscher Übersetzung dBMJ/öBMJ/Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartment (Hrsg.), Europäische Strafvollzugsgrundsätze (2007), dort insbesondere Nr. 6: „Jede Freiheitsentziehung ist so durchzuführen, dass sie den betroffenen Personen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtert.“ 141 Als Maßregel der Besserung und Sicherung knüpft die Sicherungsverwahrung gerade nicht an einer Schuld des Täters, sondern an der von ihm ausgehenden Gefahr an. Begrenzt wird dieser Eingriff nicht durch das Schuld-, sondern durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip. 142 BVerfGE 109, 133 (150).
B. Ableitungen für die Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe
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B. Ableitungen für die Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe Angesichts der Unterschiede im Straf-, Strafzumessungs- und Strafvollstreckungsrecht zwischen den Mitgliedstaaten der EU stellt sich die Frage, ob sich aus dem Zusammenhang dieser drei Elemente des Strafverfahrens innerhalb ein und derselben Rechtsordnung dogmatische Anforderungen an die Ausgestaltung der Vollstreckungshilfe ableiten lassen. Vorliegend wird diese Untersuchung nach rechts- und rechtstatsachenvergleichenden Beispielen entsprechend der im Einleitungskapitel vorgestellten Methode anhand der Regelungen der deutschen Rechtsordnung vorgenommen. I. Problem: Zusammenhang von Strafübel, Strafvollstreckung und Vollstreckungshilfe § 46 Abs. 1 StGB bestimmt, dass die Schuld des Täters Grundlage für die Strafzumessung ist. Die Vorschrift greift damit das Gebot des schuldangemessenen Strafens als Ausprägung des Grundsatzes nulla poena sine culpa auf, der den Rang eines Verfassungssatzes hat.143 Das dem Verurteilten auferlegte Strafübel ist durch seine Schuld determiniert und wird im Rahmen der Strafzumessung durch das Gericht in Ausübung rechtlich gebundenen Ermessens konkretisiert.144 Die Strafzumessungsentscheidung als Teil des Urteils ist die Einzelfallausprägung der durch den gesetzlichen Strafrahmen zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Wertentscheidung. Nach der Strafzumessung kommt es zur Entscheidung über die Strafvollstreckung. Für die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe steht im deutschen Recht ein abgestuftes System an Möglichkeiten zur Verfügung, das von der vollständigen Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung,145 über den teilweisen Vollzug der Strafe – verbunden mit der Auswahl zwischen verschiedenen Formen des Vollzugs – bis zu einer möglichen bedingten Entlassung146 bis hin zur vollständigen Vollstreckung der Strafe reicht. Dabei soll es nach herkömmlicher Auffassung147 die schuldangemessene Strafe nicht verändern, ob sie tatsächlich vollstreckt oder aber zur Gänze zur Be-
143
BVerfGE 20, 323 (332 f.); 45, 187 (228); 86, 288 (313); 95, 96 (140). Vgl. BGH NJW 1977, 1459 (1460); Theune, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2006) Bd. II, Vor §§ 46–50 Rn. 5. 145 §§ 56 ff. StGB. 146 Näher dazu sogleich unter B.III.3., in diesem Kapitel. 147 Vgl. Häger, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2006) Bd. II, § 56 Rn. 38. Siehe aber die ausführliche Kritik von Geiger, Die Rechtsnatur der Sanktion (2006), S. 89 ff. 144
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
währung ausgesetzt wird.148 Die strikte dogmatische Trennung von Strafzumessung bzw. Strafausspruch auf der einen und Strafvollstreckung auf der anderen Seite gilt nach herrschender Meinung, weil bereits im Ausspruch der Freiheitsstrafe die Missbilligung der Tat ausgesprochen wird149 und damit die Strafzwecke verwirklicht sein sollen. Strafvollstreckungsentscheidungen könnten danach keinen Einfluss auf die Schuldangemessenheit der Strafe mehr haben.150 Allerdings ist diese klare Trennung von Ausspruch der schuldangemessenen Strafe und vollstreckungsrechtlichen Entscheidungen nicht unumstritten. Während es für die bedingte Entlassung weitestgehend Konsens ist, dass sich in dogmatischer Betrachtung durch diese vollstreckungsrechtliche Entscheidung die zugemessene und im Urteil ausgesprochene Strafe nicht verändert, wird diskutiert, ob die durch Beschluss bei der Urteilsverkündung zu treffende Entscheidung einer vollständigen Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung zu einer Sanktion eigener Art führt.151 Faktisch wird aus der Freiheitsstrafe eine ambulante Sanktion.152 Dogmatisch spricht gegen eine Einordnung als eine andere Sanktion, dass die Sanktion, nämlich die Freiheitsstrafe, im Urteil zu verkünden ist. Erst dann kann der Aussetzungsbeschluss ergehen. Bleibt auch nach herrschender Meinung die zugemessene Strafe unberührt, so beeinflussen die Vollstreckungsentscheidungen aber das Maß des vom Verurteilten tatsächlich verbüßten Strafübels erheblich. Für den Verurteilten unterscheidet sich etwa das erlebte Strafübel einer Vollverbüßung einer zeitigen Freiheitsstrafe von einem Jahr spürbar von dem erlebten Strafübel im Falle einer vollständigen Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung. Schon in rein innerstaatlichen Sachverhalten wird also das Maß des tatsächlich verbüßten Strafübels nicht allein durch die zugemessene Strafe bestimmt, sondern durch strafvollstreckungsrechtliche Entscheidungen beeinflusst. Dieser dem innerstaatlichen Strafsystem immanente Einfluss der Strafvollstreckung auf das Maß des tatsächlich verbüßten Strafübels droht durch eine transnationale Vollstreckungshilfe systemwidrig potenziert zu werden. Auch innerhalb der Wertegemeinschaft der Europäischen Union hat jedes Land nicht nur sein lediglich in Ansätzen unionsweit mindestharmonisiertes materielles Strafrecht,153 sondern zudem eigenständige Regelungen für die Strafvollstreckung und den Strafvollzug. In transnationalen Vollstreckungshilfefällen können so 148 Ausdrücklich Arndt, Rechtsprechende Gewalt und Strafkompetenz, in: Eschenburg/Heuss/Zinn (Hrsg.), Festgabe für Carlo Schmid zum 65. Geburtstag. Dargebracht von Freunden, Schülern und Kollegen (1962), S. 5 (16). 149 Noll, Die ethische Begründung der Strafe (1962), S. 23. 150 Vgl. BGHSt 29, 319 (321); BGH NStZ 1988, 309; BGH NStZ 1992, 489 f.; BGH StV 1996, 263. 151 Vgl. dazu Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil5 (1996), S. 834 m.w. N. 152 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht. Allgemeiner Teil11 (2003), S. 787 f.
B. Ableitungen für die Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe
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Veränderungen im tatsächlich zu verbüßenden Strafübel aus den unterschiedlichen Regelungen der Strafvollstreckung und den unterschiedlichen Formen des Vollzugs der Freiheitsstrafe resultieren. Die Verknüpfung des ohnehin häufig mit vielfältigen Wertungsunterschieden verbundenen materiellen Straf- und Strafzumessungsrecht des Urteilsstaates mit dem Vollstreckungsrecht und den Vollzugsformen des Vollstreckungsstaates droht, das Maß des vom Verurteilten zu tatsächlich zu verbüßenden Strafübels in potentiell beliebiger Weise zu verändern. 1. Beeinflussung des tatsächlich verbüßten Strafübels durch Vollstreckungshilfe a) Vielfalt der Vollzugsformen trotz Regelfalls der einheitlichen Freiheitsstrafe; Unterschiede bei den Haftbedingungen Das tatsächlich erlittene Strafübel hängt auch von den Rahmenbedingungen des Vollzugs ab. Zwar gilt in vielen Mitgliedstaaten der EU das Modell der einheitlichen Freiheitsstrafe, das nicht zwischen verschiedenen Strafformen des Freiheitsentzugs – wie etwa Zuchthaus und Gefängnis – differenziert,154 wohl aber besteht gleichzeitig eine unterschiedlich große Bandbreite an Vollzugsformen dieser Einheitsstrafen. Diese unterschiedlichen Formen des Strafvollzugs reichen, je nach Mitgliedstaat,155 vom Hausarrest ohne156 bzw. mit elektronischer Überwachung,157 über Wochenendarrest,158 Tageshaft159 bis hin zur Unterbringung 153 Siehe zum Ausmaß der Harmonisierung ausführlich Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 81 IRG Rn. 23 ff. 154 Zwar ist im internationalen Vergleich ein Trend zur Freiheitsstrafe als Einheitsstrafe zu verzeichnen. In Deutschland gilt diese seit der Abschaffung der Zuchthausstrafe durch das Erste Strafrechtsreformgesetz v. 25. Juni 1969, BGBl. I S. 645. Einige Mitgliedstaaten der EU kennen jedoch noch unterschiedliche Formen freiheitsentziehender Strafen. So wird im belgischen Strafgesetzbuch etwa zwischen Zuchthausstrafe, Haftstrafe und Gefängnisstrafe unterschieden, vgl. Art. 7 Code Pénal Belge. Damit sind jedoch nur geringfügige Unterschiede im Bereich des Strafvollzugs verbunden, so Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 38 Rn. 44; mit der Unterscheidung verbundene Differenzierungen finden sich jedoch bei den Nebenfolgen der Verurteilung. Solche eher terminologischen Unterscheidungen sind vorliegend kaum von Bedeutung. Es muss aber bewusst sein, dass sie bei einer Adoption der Strafe zu Missverständnissen führen können. Siehe auch aus der älteren Literatur Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht (1983). 155 Vgl. z. B. den tabellarischen Überblick bei Vermeulen/van Kalmthout/Paterson/ Knapen/Verbeke/De Bondt, Cross-border execution of judgements involving the deprivation of liberty in the EU (2011), S. 236. 156 Litauen, Slovakei, Griechenland, Italien, Slowenien und Spanien. 157 Belgien, Dänemark, Finnland, Niederland, Vereinigtes Königreich, Österreich, Tschechische Republik, Estland, Ungarn, Polen, Frankreich, Italien, Spanien. 158 Belgien, Niederlande, Estland, Litauen, Bulgarien, Zypern, Griechenland, Slowenien, Spanien. 159 Niederlande, Lettland, Malta.
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im offenen oder geschlossenen Vollzug,160 mit oder ohne Gewährung eines Status als Freigänger. Selbst innerhalb derselben Vollzugsform können die Unterschiede gerade im grenzüberschreitenden Vergleich, aber auch innerhalb eines Landes groß sein. So erfolgt etwa in Schweden durchgängig eine Einzelunterbringung der Inhaftierten, während nach einer in den Jahren 2003 bis 2006 durchgeführten Studie Inhaftierte in Lettland oder Litauen regelmäßig mit einer Unterbringung in Schlafsälen mit mehr als 15 oder gar 30 Mitinhaftierten rechnen müssen.161 Überfüllte Gefängnisse verschärfen das Problem. Mehrere der heutigen Mitgliedstaaten der Union, damit potentielle Vollstreckungsstaaten einer Europäischen Vollstreckungsanordnung, namentlich Litauen, Polen, Ungarn, Slovenien und Italien, wurden wegen der Haftbedingungen in überbelegten Gefängnissen in den letzten Jahren sogar vom EGMR wegen eines Verstoßes gegen das Verbot unmenschlicher und herabwürdigender Behandlung, Art. 3 EMRK, verurteilt.162 So war der Häftling im ungarischen Anlassfall über einen Zeitraum von insgesamt vier Jahren und einem Monat in verschiedenen Mehrpersonenzellen untergebracht. Pro Person standen in diesen Zellen nicht mehr als zwischen 2,76 m bis zu 3,15 m Haftraum zur Verfügung; die in der Zelle vorhandene Toilette bot zudem nur unzureichenden Schutz der Privatsphäre.163 Der Verurteilung Litauens lag ein Fall zugrunde, bei dem der Beschwerdeführer u. a. während eines Zeitraums von mehr als anderthalb Jahren mit zehn weiteren Gefangenen in einem Haftraum von 16,65 m untergebracht war.164 Im Falle der Verurteilung Italiens hat der EGMR das Verfahren aufgrund mehrerer hundert anhängiger Verfahren zu den Haftbedingungen in italienischen Gefängnissen als Pilotverfahren durchgeführt, um Italien die Möglichkeit zur Lösung eines strukturellen Problems zu 160
Siehe auch C.I.2.c), in diesem Kapitel. Dünkel, Strafvollzug und die Beachtung der Menschenrechte. Eine empirische Analyse anhand des Greifswalder „Mare-Balticum-Prison-Survey“, in: Müller-Dietz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Heike Jung zum 65. Geburtstag am 23. April 2007 (2007), S. 99 (109). Vgl. auch EGMR, Urt. v. 07.04.2005, Karalevicius v. Litauen, Nr. 53254/ 99, §§ 23, 36, 39 f. 162 EGMR, Urt. v. 07.06.2011, Szél v. Ungarn, Nr. 30221/06; EGMR, Urt. v. 20.10. 2011, Mandic and Jovic v. Slowenien, Nr. 5774/10 und 5985/10; EGMR, Urt. v. 20.10. 2011, Sˇtrucl u. a. v. Slowenien, Nr. 5903/10, 6003/10 und 6544/10; EGMR, Urt. v. 08.01.2013, Torreggiani u. a. v. Italien, Nr. 43517/09; EGMR, Urt. v. 22.01.2010, Orchowski v. Polen, Nr. 17885/04, §§ 119 ff., 134 f. Zur Frage etwaiger Grenzen einer Überstellung auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls aufgrund gegen den europäischen ordre public verstoßender Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat vgl. hingegen die auf Vorlage des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen ergangene Entscheidung in den verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU Aranyosi und Ca˘lda˘raru, ECLI: EU: C: 2016: 198. Siehe dazu für die Vollstreckungsüberstellung unten Teil II Kapitel 1 D.V.2. 163 EGMR, Urt. v. 07.06.2011, Szél v. Ungarn, Nr. 30221/06, § 18. 164 EGMR, Urt. v. 07.04.2005, Karalevicius v. Litauen, Nr. 53254/99, §§ 23, 36, 39 f. 161
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geben.165 In den der Entscheidung zugrundeliegenden Fällen waren die Kläger in als Einzelzellen ausgelegten, 9 m2 großen Hafträumen zu dritt untergebracht. Überfüllte Gefängnisse sind in erster Linie ein grundrechtliches Problem. Es ist aber davon auszugehen, dass sie auch ein wesentlicher Grund dafür gewesen sind, dass Schweden, Finnland und Österreich die Initiative zum Erlass des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung vorgelegt haben.166 Anlass für Verurteilungen von Mitgliedstaaten der Union wegen Verletzung des Art. 3 EMRK bieten immer wieder auch die Haftbedingungen für solche Gefangenen, die als besonders gefährlich eingeordnet worden sind. Mehrfach hat der EGMR wesentliche Einschränkungen der Grundrechte solcher Gefangenen als nicht erforderlich sondern vielmehr unmenschlich und erniedrigend eingestuft.167 Aber auch die allgemeinen Haftbedingungen, wie fehlendes Tageslicht sowie unzureichende hygienischen Zustände,168 gerade bei bestehender schwerer Vorerkrankung,169 und eine unzureichende medizinische Versorgung,170 waren Gründe für Verurteilungen wegen Verletzung des Art. 3 EMRK.171 Entsprechendes Problembewusstsein zeigte das OLG Hamm, das in einer Teilverbüßung der Strafe unter schweren Haftbedingungen im Ausland einen Faktor sah, der für eine Strafrestaussetzung zur Bewährung ausnahmsweise schon nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe sprechen kann.172 b) Unterschiede im Strafvollstreckungsrecht, insbesondere bei der bedingten Entlassung Das tatsächlich verbüßte Strafübel wird insbesondere durch Unterschiede im Strafvollstreckungsrecht beeinflusst. Solche Unterschiede im Strafvollstreckungs165 EGMR, Urt. v. 08.01.2013, Torreggiani u. a. v. Italien, Nr. 43517/09. Zum Piloturteilsverfahren vgl. Eschment, Musterprozesse vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Probleme und Perspektiven des Piloturteilsverfahrens (2011). Vgl. auch EGMR, Urt. v. 16.07.2009, Sulejmanovic v. Italien, Nr. 22635/03. 166 Siehe unten Teil 1 Kapitel 1 C.II. 167 EGMR, Urt. v. 20.05.2010, Engel v. Ungarn, Nr. 46857/06, §§ 27–38; EGMR, Urt. v. 07.06.2011, Csülög v. Ungarn, Nr. 30042/08, §§ 27–38; EGMR, Urt. v. 17.04. 2012, Piechowicz v. Polen, Nr. 20071/07; EGMR, Urt. v. 17.04.2012, Horych v. Polen, Nr. 13621/08; siehe auch EGMR, Urt. v. 12.06.2007, Frérot v. Frankreich, Nr. 70204/ 01; EGMR, Urt. v. 09.07.2009, Khider v. Frankreich, Nr. 39364/05; vgl. aber auch zur Zulässigkeit bestimmter Einschränkungen EGMR, Urt. v. 20.01.2011, Payet v. Frankreich, Nr. 19606/08 sowie EGMR, Urt. v. 04.07.2006, Ramirez Sanchez v. Frankreich, Nr. 59450/00. 168 EGMR, Urt. v. 20.01.2011, Payet v. Frankreich, Nr. 19606/08. 169 EGMR, Urt. v. 14.09.2010, Florea v. Rumänien, Nr. 37186/03. 170 EGMR, Urt. v. 18.10.2011, Pavalache v. Rumänien, Nr. 38746/03. 171 Vgl. auch EGMR, Urt. v. 19.04.2001, Peers v. Griechenland, Nr. 28524/95, § 75. 172 OLG Hamm, Beschl. v. 04.08.200 – 2 Ws 222/08, BeckRS 2009, 01676; dafür auch Groß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MüKo-StGB2 (2012), Bd. 2, § 57 Rn. 49.
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
recht werden seitens der beteiligten Staaten teils als Bedrohung effektiver Sanktionierung, teils aber auch als Möglichkeit zur Korrektur von im Urteil zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen gesehen, wenn im Vollstreckungsstaat abweichende Wertungen und Regelungen bestehen. In Fällen vergleichbar Regina v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Read 173 könnte die Frage aufgeworfen werden, ob eine nach dem Strafniveau des Vollstreckungsstaates vergleichsweise harte Strafe, die im Urteilsstaat verhängt wurde, über eine möglichst frühzeitige bedingte Entlassung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates abgemildert werden könnte. In diesem Sinne entschied das OLG Hamburg, eine bedingte Entlassung auf Grundlage von § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB könne ausnahmsweise schon nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Strafe indiziert sein, wenn das ausländische Urteil im Vergleich zum deutschen Strafniveau zu hart war.174 2. Mögliche Konsequenzen Aus diesen erheblichen Unterschieden können sich sowohl für den Urteilsstaat als auch für den Verurteilten wesentliche Konsequenzen ergeben. a) Aus Sicht des Urteilsstaates: Ablehnung der Vollstreckungsüberstellung aufgrund Bedrohung effektiver Sanktionierung Häufig wird die Überstellung von in Deutschland Verurteilten in ihre Heimatstaaten unter Verweis auf die mit der Strafvollstreckung verfolgten Zwecke abgelehnt, weil die Überstellung in den Heimatstaat zu einer „den inländischen [deutschen] Strafzwecken zuwiderlaufende[n] und den Verurteilten zudem gegenüber anderen Gefangenen bevorzugende[n . . .] vorzeitige[n] Entlassung in die Freiheit“ führen würde.175 Das besondere öffentliche Interesse einer aus generalpräventiven Gründen als notwendig angesehenen weiteren Strafverfolgung in Deutschland sowie eine durch die Unterschiede in den Strafvollstreckungssystemen hervorgerufene Besorgnis, die Strafe könne nicht nachdrücklich vollstreckt werden, führen zur Versagung der Vollstreckungsüberstellung.176 173
Näher dazu Einführung C.III.1. OLG Hamburg, NStZ-RR 2010, 13. 175 OLG Frankfurt a. M., NStZ-RR 1999, 91 (92), im Hinblick auf die in der Türkei regelmäßig zu erwartende Haftentlassung auf Bewährung nach Verbüßung von 42% der verhängten Freiheitsstrafe. 176 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zu Erleichterungen bei der Internationalen Vollstreckungshilfe, BT-Drucks. 14/3957 v. 28.07.2000, S. 4 (Frage 4). Vgl. jüngst etwa KG Berlin, StraFo 2013, 38 f. = openJur 2012, 124067. Diese Auffassung ist nicht allein auf deutsche Behörden und Gerichte beschränkt, vgl. z. B. die Einlassung des italienischen Außenminsteristeriums gegenüber der Türkei, wiedergegeben in EKMR, Entsch. v. 20.10.1994, Hacisuleymanog˘lu v. Italien, Nr. 23241/94: „Furthermore, in a note sent to the Turkish Embassy in Rome on 11 November 1993, the Italian 174
B. Ableitungen für die Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe
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Auch die Ausgestaltung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung macht deutlich, dass die Dauer der tatsächlichen Strafverbüßung aus Sicht des Urteilsstaates von wesentlicher Bedeutung bei der Entscheidung über eine Vollstreckungsübertragung sein kann: Dem Urteilsstaat wird nämlich das Recht eingeräumt, ein bereits eingeleitetes Verfahren zur Vollstreckungsübertragung wieder abzubrechen, nachdem er Kenntnis von den Regelungen des Vollstreckungsstaates zur bedingten Entlassung erlangt hat. Damit wird das Interesse des Urteilsstaates an der tatsächlichen Vollstreckung der von ihm verhängten Strafe geschützt; er soll die Möglichkeit haben, eine aus seiner Sicht zu geringe Dauer der Strafverbüßung in Folge frühzeitiger bedingter Entlassung aus dem Strafvollzug zu verhindern.177 b) Aus Sicht des Verurteilten: Veränderung des (wahrscheinlich) zu verbüßenden Strafübels Der in der Einführung vorgestellte Fall Müller v. Tschechische Republik führt deutlich vor Augen, dass durch eine Vollstreckungsübertragung aufgrund unterschiedlicher Regelungen der bedingten Entlassung die zu erwartende Dauer der tatsächlichen Strafvollstreckung, also das tatsächlich erlittene Strafübel, deutlich verlängert sein kann.178 Die Feststellung einer solchen Veränderung setzt allerdings immer einen prognostischen Vergleich voraus, nämlich die Prognose des tatsächlich zu verbüßenden Strafmaßes bei Vollstreckung im Urteilsstaat im Vergleich zur Vollstreckung im Hilfe leistenden Vollstreckungsstaat. II. Lösungsansatz und Hypothesenbildung: Ausgestaltung der Vollstreckungshilfe im Prozess des Strafens Die Verknüpfung von Strafzumessungs-, Strafvollstreckungs- und Strafvollzugsrecht verschiedener nationaler Strafrechtssysteme in einem internationalarbeitsteiligen Strafverfahren ist, wie die Beispiele belegen, mit erheblichen Problemen behaftet. Daher stellt sich die Frage, ob sich aus den Strafzwecken und dem Strafvollzugsziel, die gemeinsam die Vollstreckungshilfe determinieren, zwingende Regeln für eine solche Verknüpfung ableiten lassen.
Ministry of Foreign Affairs specified the reason for the rejection of a number of applications for transfer submitted by Turkish prisoners was the necessity of cracking down on drug traffickers, which prevented the Italien authorities from granting applications introduced by persons who had not yet served a ,sufficient‘ portion of their sentence.“ 177 Näher dazu unten Teil 1 Kapitel 3 H.IV.2. 178 Vgl. dazu Einführung C.III.2.
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
1. Hypothese: Lokalisierung retributiver und präventiver Strafzwecke im transnationalen Strafverfahren Ein Ansatzpunkt zur Ableitung von Regeln für die Vollstreckungshilfe könnte darin liegen, dass die Strafe sowohl eine retrospektiv-retributive Komponente als auch eine präventive Grundausrichtung enthält.179 Denn die Strafe knüpft an das durch einen Rechtsbruch schuldhaft verwirklichte Unrecht, das ausgeglichen werden müsse.180 Die Strafe hat zugleich präventiven Charakter, der auf die Verhinderung zukünftiger Rechtsbrüche gerichtet ist. Für die Vollstreckungshilfe ist dieses Zusammenwirken retrospektiver und prospektiver Komponenten der Strafe von Interesse, weil die damit verknüpften Strafzwecke – Schuldausgleich und Prävention – für den Urteils- und den Vollstreckungsstaat unterschiedliches Gewicht erlangen könnten. So könnten die Gedanken des Schuldausgleichs und der Normbestätigung für den Urteilsstaat von vorrangiger Bedeutung sein, weil die Straftat dort begangen, die Schuld dort verwirklicht und die Normen dieses Staates verletzt wurden. Hingegen könnte für den Vollstreckungsstaat, von dem zu vermuten ist, der Verurteilte werde dort nach der Strafverbüßung leben,181 die Frage der Spezialprävention und Resozialisierung von vorrangiger Bedeutung sein. Bestätigte sich diese Hypothese, könnte eine solche Zuordnung rechtsdogmatisch zur Begründung dafür herangezogen werden, dass die rechtliche Bewertung der Tat und die Strafzumessung nach den Regeln des Urteilsstaates erfolgen, während die von prospektiven Erwartungen geprägte bedingte Entlassung nach den Regeln des Vollstreckungsstaates erfolgen solle. Dieses Regelungsmodell ist dem Grunde nach bereits im Überstellungsübereinkommen des Europarates angelegt; der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung folgt diesem Modell weitestgehend. Die im Überstellungsübereinkommen vorgesehene und nach dem Rahmenbeschluss nicht mehr 179 Vgl. Weigend, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2007) Bd. I, Einl. Rn. 62 ff., 66, der im Sinne des auch von den meisten Vereinigungstheorien anerkannten Vergeltungsmoments von retributiv und nicht von retrospektiv spricht. 180 Zur Rechtfertigung staatlichen Strafens wird darauf verwiesen, dass die Institution der Strafe „zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung als einer Grundbedingung für das Zusammenleben der Menschen in der Gemeinschaft notwendig ist. Die Staatsgewalt würde sich selbst preisgeben, wenn sie nicht verhinderte, dass unerträgliche Rechtsbrüche sich offen behaupten können. Ohne die Strafe würde das Recht aufhören, eine erzwingbare Ordnung zu sein und zu einer nur ethisch bindenden Norm herabsinken“, so Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil5 (1996), S. 64 m.w. N. Kohärent mit dieser staatspolitischen Rechtfertigung der Institution des Strafens ist der Verweis auf eine sozialpsychologische Rechtfertigung des staatlichen und damit vergesellschafteten Strafanspruchs, der dazu dient, dem Bedürfnis der Gemeinschaft nach Gerechtigkeit Genüge zu tun und so die Rückkehr zu Privat- oder gar Lynchjustiz ausschließt, vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil5 (1996), S. 64. 181 Siehe dazu unten Teil 1 Kapitel 3 F.
B. Ableitungen für die Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe
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zulässige Möglichkeit einer Exequaturentscheidung, das heißt einer Umwandlung der Strafe durch eigene Entscheidung des Vollstreckungsstaates bildet aber einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden transnationalen Regelungen der Vollstreckungshilfe. Denn mit der nach dem Überstellungsübereinkommen noch zulässigen Exequatur kommt es im Prinzip zu einer Verknüpfung des Vollstreckungsrechts des Vollstreckungsstaates mit dem materiellen Recht dieses Vollstreckungsstaates.182 Bei der im Rahmenbeschluss allein vorgesehenen bloßen Adoption des ausländischen Urteils wird hingegen das materielle Strafrecht des Urteilsstaates mit dem Vollstreckungsrecht des Vollstreckungsstaates verknüpft.183 2. Antithese: Determinierung der Strafvollstreckung durch alle Strafzwecke Gegen die scheinbar logische Aufteilung retributiver und präventiver Strafzwecke auf Urteils- und Vollstreckungsstaat könnte angeführt werden, dass der Vorgang des Strafens ein Prozess von Strafgesetzgebung als Strafandrohung, von Tatbegehung als schuldhafter Unrechtsverwirklichung und Sanktionierung dieses Unrechts durch Strafausspruch und nachfolgender Strafvollstreckung im Strafvollzug bildet,184 in dessen Verlauf das staatliche Handeln eine Kombination unterschiedlicher Zielsetzungen verfolgt, die in Abhängigkeit vom Stadium des Prozesses teils in den Vorder- bzw. Hintergrund treten, teils aber auch gleichzeitig verfolgt werden.185 III. Hypothesenprüfung Anhand der Analyse der einschlägigen Normen des deutschen186 Rechts soll geklärt werden, ob sich die klare Trennung und Zuordnung der Strafzwecke im 182
Näher dazu unten Teil 1 Kapitel 2 A.I.6. Siehe dazu unten Teil 1 Kapitel 3 I.I. 184 Der Prozessbegriff ist hier kein Verweis auf das Strafverfahrensrecht, sondern eine faktische Beschreibung. Für das Strafverfahren gilt, dass zwar die Strafvollstreckung i. e. S. herkömmlich als Teil des Strafverfahrens angesehen wird, der eigentliche Vollzug aber außerhalb des Strafprozesses steht. Das Strafvollzugsrecht wird neben dem materiellen Strafrecht und dem formellen Strafverfahrensrecht als weitere eigenständige Rechtsmaterie des Kriminalrechts begriffen. Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht27 (2012), Kap. 11 Rn. 1. 185 Zur pauschalisierenden Einordnung der Aufgabenverteilung anhand einer DreiSäulen-Theorie der Justiz in eine generalpräventive Gesetzgebung, eine ausgleichendvergeltende Rechtsprechung und einen resozialisierenden Strafvollzug vgl. mit kritischen Anmerkungen Kaiser/Schöch, Strafvollzug5 (2003), § 3 Rn. 19 f.; Laubenthal, Strafvollzug6 (2011), Rn. 13; Roxin, Strafe und Strafzwecke in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Hassemer/Kempf/Moccia (Hrsg.), IN DUBIO PRO LIBERTATE. Festschrift für Klaus Volk zum 65. Geburtstag (2009), S. 601 (610 ff.). Für eine Verlaufsbetrachtung auch Leyendecker, (Re-)Sozialisierung und Verfassungsrecht (2002), S. 78 (81 ff.). 186 Eine vergleichende Analyse der Regelungen mehrerer Mitgliedstaaten würde den Umfang der vorliegenden Arbeit sprengen. Zudem wird in dieser Studie die Vollstre183
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
Prozess des transnationalen Strafens bestätigen lässt, so dass daraus zwingende Vorgaben für eine Ausgestaltung der Vollstreckungshilfe ableitbar sind. Wenn sich nämlich zeigt, dass die Schuld des Täters nicht nur bei der Strafzumessung sondern auch bei der Strafvollstreckung eine Rolle spielt, so ist das einfache Modell der Anordnung der Geltung des Strafvollstreckungsrechts des Vollstreckungsstaates jedenfalls nicht dogmatisch begründet. Es bleiben Praktikabilitätserwägungen; die Behörden des Vollstreckungsstaates sollen das ihnen vertraute Recht des Vollstreckungsstaates anwenden können. 1. Schuldausgleich und Präventionszwecke bei der Strafzumessung, § 46 Abs. 1 StGB a) Grundsatz der schuldangemessenen Strafe Die Spannweite des möglichen Handlungs- und Erfolgsunrechts spiegelt sich im gesetzlichen Strafrahmen unter Berücksichtigung von den Strafrahmen verschiebenden Gründen wider. Für das Maß der Strafe innerhalb des so bestimmten Rahmens ordnet § 46 Abs. 1 S. 1 StGB an: „Die Schuld ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“. Diese Anordnung des Gesetzgebers ist einigermaßen unbestimmt187 und bietet Raum für unterschiedliche Interpretationen. Weitestgehend herrscht Konsens, dass es sich nicht um einen bloßen Verweis auf die zuvor angesprochene Strafbegründungsschuld im Sinne der schuldhaften Verwirklichung des Unrechtstatbestandes handelt, die für das Ob der Strafe Voraussetzung ist. Die Strafzumessungsschuld ist nicht identisch mit der Strafbegründungsschuld.188 Nach der von der Rechtsprechung verwendeten Formel hat sich die Zumessung der schuldangemessenen Strafe an der Schwere der Tat und dem Grad der persönlichen Schuld des Täters zu orientieren.189 Wie die Strafzumessungsschuld zu bestimmen ist, bleibt jedoch umstritten. § 46 Abs. 2 StGB wird so interpretiert, dass die Strafzumessungsschuld auf einer weiter ausgreifenden ckungshilfe auf Basis des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung aus der Perspektive sowohl des Unionsrechts als auch des deutschen Rechts untersucht. Dies rechtfertigt den Rückgriff auf die Regelungen des deutschen StGB. Für einen systematisierenden Überblick über die Regelungsmodelle der bedingten bzw. vorzeitigen Entlassung in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der EU siehe unten Teil 1 Kapitel 3 I.IV.1. 187 Streng, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 46 Rn. 19. 188 Vgl. Hörnle, Das antiquierte Schuldverständnis der traditionellen Strafzumessungsrechtsprechung, JZ 1999, 1080 (1082); Streng, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 46 Rn. 22. Theune, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/ Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2006) Bd. II, § 46 Rn. 5, wendet sich gegen den Begriff der Strafzumessungsschuld mit der Begründung, dass die hier diskutierten weiteren Umstände nicht als spezielle Schuldmerkmale anzusehen seien, sondern dem personalen Unrecht zugerechnet werden sollten. 189 BVerfGE 25, 269 (286); 45, 187 (259 f.); 50, 5 (12); 50, 125 (133); BGHSt 20, 264 (266 f.); BGH NJW 1987, 2685 (2686).
B. Ableitungen für die Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe
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Wertungsbasis als die Strafbegründungsschuld abzustützen ist.190 Nach dieser gesetzlichen Anordnung kommen für die Abwägung der für und gegen den Täter sprechenden Umstände beispielhaft die Beweggründe und die Ziele des Täters, die aus der Tat sprechende Gesinnung und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Nachtatverhalten, insbesondere ein Bemühen um Schadenswiedergutmachung und Ausgleich mit dem Verletzten, in Betracht. Einigkeit besteht insoweit, als nicht tatbezogene Umstände nicht zur Bestimmung der Strafzumessungsschuld herangezogen werden dürfen. Die herrschende Spielraumtheorie der Strafzumessung geht davon aus, dass dem Maß der möglichen Strafe im konkreten Fall durch die so bestimmte Schuld ein Rahmen gesetzt wird, welcher nicht unter- oder überschritten werden dürfe.191 b) Berücksichtigung präventiver Erwägungen Für die Strafzumessung sind jedoch auch präventive Erwägungen zu berücksichtigen. So betont § 46 Abs. 1 S. 2 StGB, dass bei der Strafzumessung spezialpräventive Erwägungen zu berücksichtigen sind, indem er festlegt: „Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.“ Diese Anordnung limitiert jedoch die Strafzumessung nicht auf resozialisierende Erwägungen. Auch Individualabschreckung, Sicherung und generalpräventive Strafzwecke bleiben, obwohl in § 46 StGB nicht ausdrücklich angesprochen, zu berücksichtigen.192 c) Limitierung präventiver Erwägungen durch die Schuld Problematisch ist das Verhältnis von Schuld und Prävention bei der Strafzumessung. Der Strafzumessungsschuld kommt jedenfalls eine limitierende Funktion zu; eine Überschreitung des schuldangemessenen Strafrahmens aus spezialoder generalpräventiven Gründen ist nicht zulässig. Strittig ist, ob eine Unterschreitung des schuldangemessenen Rahmens möglich sein soll. Dagegen muss sich wenden, wer den Schuldausgleich als eigenständigen Strafzweck versteht. Aber auch wer dies nicht tut, jedoch unter positiver Generalprävention den Ausgleich entstandenen Rechtsgeltungsschadens mit dem Ziel der Normbestätigung 190 Streng, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 46 Rn. 22. 191 Zu den Strafzumessungstheorien vgl. die Überblicke bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen3 (2012), Rn. 625 ff., und Meier, Strafrechtliche Sanktionen3 (2009), S. 145 ff.; im Besonderen zur Lehre von der Tatproportionalität Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999). 192 Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen3 (2012), Rn. 538 ff.
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
versteht, muss sich gegen die Zulässigkeit einer Unterschreitung der Strafzumessungsschuld wenden.193 Es sei denn, er lässt diese positiv generalpräventiven Erwägungen gegenüber den anderen präventiven Strafzwecken in den Hintergrund treten.194 Fallen also schuldangemessenes Strafmaß und zur Resozialisierung oder (Individual- oder General-)Abschreckung erforderliches Strafmaß auseinander,195 kommt es insbesondere zu einem Zielkonflikt zwischen Schuldausgleich und Resozialisierung,196 so kann dem Resozialisierungsziel nur vollumfänglich folgen, wer nicht im Schuldausgleich einen eigenständigen Strafzweck sieht.197 Festzuhalten bleibt, dass zwar innerhalb des Schuldrahmens präventive Erwägungen zu berücksichtigen sind, die Strafzumessung aber an der Schuld anknüpft und durch diese begrenzt wird. 2. Effektuierung der Strafzwecke durch das Ob der Strafvollstreckung Eine wichtige Funktion der Vollstreckungshilfe ist die Rechtsdurchsetzung. Indem die Strafvollstreckung für die Realisierung des Straferkenntnisses Sorge trägt, dient sie der Effektuierung aller Strafzwecke, des Schuldausgleichs ebenso wie der Prävention. Die Vollstreckung bestätigt die Strafdrohung, sie sichert sie ab. Das BVerfG hat dies unterstrichen, als es feststellte: „Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und die Gleichbehandlung aller in Strafverfahren rechtskräftig Verurteilten gebietet grundsätzlich zwingend, rechtskräftig erkannte Freiheitsstrafen auch zu vollstrecken“.198 Entscheidungen gegen eine Vollstreckungsüberstellung in Deutschland 193 Insofern klingt das Talionsprinzip vergeltender Straftheorien an. Es wird jedoch modifiziert, indem das verschuldete Unrecht der Tat zwar Ausgangspunkt der Strafzumessungsschuld ist, jedoch weitere Umstände wie das Vor- und Nachtatverhalten, etwa Wiedergutmachungsbemühungen des Täters, den Rechtsgeltungsschaden als Spiegelbild der Strafzumessungsschuld mitbestimmen und daher zu berücksichtigen sind. Die wesentliche Abwendung vom Vergeltungsprinzip liegt aber im Schuldausgleich nicht um seiner selbst willen, sondern zu dem Zweck, das Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit zu stärken und die notwendige Einwirkung auf den Täter zu erzielen. 194 Vgl. dazu Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil4 (2006) Bd. I, § 3 Rn. 51 ff.; Meier, Strafrechtliche Sanktionen3 (2009), S. 145 ff. 195 Dies wird unter dem Stichwort Antinomie der Strafzwecke diskutiert; diese Bezeichnung setzt voraus, dass man über die Schuldangemessenheit der Strafe die Vergeltung zumindest als einen, aber nicht als den einzigen Strafzwecke anerkennt. 196 So Streng, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 46 Rn. 47. 197 Zum Verhältnis von Schuld und Prävention vgl. aus der neueren Literatur z. B. Frisch, Zur Bedeutung von Schuld, Gefährlichkeit und Prävention im Rahmen der Strafzumessung, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 3 ff. 198 BVerfG, NStZ-RR 2003, 345 (Tz. 1), unter Verweis auf BVerfGE 51, 324 (343 f.).
B. Ableitungen für die Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe
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verurteilter Ausländer, die auf Zweifeln an der effektiven Strafvollstreckung im Heimatstaat beruhen,199 knüpfen an diese Effektuierungsfunktion der Strafvollstreckung für die Strafzwecke an. Sicherlich kann die Vollstreckung der Freiheitsstrafe für die Dauer der Inhaftierung, soweit sie in einem geschlossenen Vollzug erfolgt, auch zu Sicherung der Allgemeinheit vor dem Inhaftierten beitragen, der zumindest außerhalb der Haftanstalt kaum noch als unmittelbarer Täter einer Straftat in Betracht kommt.200 Die Abschreckungswirkung der Strafvollstreckung für den Täter bleibt mit Blick auf die Rückfallsstudien hingegen fraglich.201 Damit ist zwar nicht ausschließlich, aber insbesondere die generalpräventive Wirkung der Strafdrohung von Bedeutung, wenn es um die Strafvollstreckung geht. 3. Aussetzung des Strafrests zur Bewährung, §§ 57 ff. StGB Während die Frage einer vollständigen Strafaussetzung zur Bewährung, §§ 56 ff. StGB, unter Setzung einer Probezeit, § 56a StGB, hier außer Betracht bleiben kann, weil im Falle einer Entscheidung für die Aussetzung die Frage einer freiheitsentziehenden Vollstreckungshilfe gerade nicht im Raum steht, muss die Rolle der Strafzwecke bei einer als „Aussetzung des Strafrests zur Bewährung“, §§ 57 ff. StGB, bezeichneten bedingten Entlassung angesprochen werden. Denn auch im Falle einer Vollstreckungshilfe wird sich im Verlaufe des Vollzugs die Frage einer Strafrestaussetzung stellen. Diese verändert die tatsächlich erlebte Strafe sowohl aus Sicht des Täters als auch aus Sicht der Gesellschaft.
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Siehe oben Teil 1 Kapitel 1 B.I.2.a). § 2 S. 2 Bundes-StVollzG. 201 Vgl. etwa Jehle/Albrecht/Hohmann-Fricke/Tetal, Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2004 bis 2007 (2010), S. 6, die u. a. zu dem Ergebnis kommen, dass die zu einer freiheitsentziehenden Sanktion Verurteilten ein höheres Rückfallrisiko aufweisen als die mit milderen Sanktionen Belegten, sowie dass bei zu Bewährungsstrafen Verurteilten die Rückfallraten im Vergleich mit vollzogenen Freiheits- und Jugendstrafen deutlich niedriger liegen. Kritisch auch Streng, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 46 Rn. 35. Hingegen macht Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NKStGB3 (2010) Bd. I, § 57 Rn. 59, unter Verweis auf BT-Drucks. 10/2720, 11, geltend, bei Erstverbüßern werde der Eindruck der Strafhaft allgemein als individuell abschreckend, das Ziel negativer Spezialprävention also als erreichbar angesehen. Zwischen hohen Rückfallsquoten gerade nach Strafvollzug einerseits und der Annahme einer abschreckenden Wirkung bei Erstverbüßern andererseits muss nicht denknotwendig ein Widerspruch liegen, wenn man die Ursache der hohen Rückfallsquote darin sucht, dass die Legalbewährung aufgrund abschreckender Wirkung des Strafvollzugs nicht durch hinreichende sozial (re-)integrierende Maßnahmen nach Haftentlassung unterstützt wird, in diesem Sinne Bruckmüller, Die strafrechtliche Behandlung der Rückfälligkeit im österreichischen StGB unter Einbeziehung kriminologischer Aspekte (2011), S. 219 ff. 200
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
Für Dünkel ist die Aussetzung des Strafrests „ein Kernstück rationaler Kriminalpolitik, die auf Wiedereingliederung und Resozialisierung setzt.“ 202 Dem ist zuzustimmen, denn mit dem Vollzug einer Freiheitsstrafe sind häufig desintegrierende Wirkungen aus der Gesellschaft im Ganzen, aber auch aus dem sozialen Umfeld wie Familie oder Arbeit verbunden, die es nach Möglichkeit zu vermeiden oder – schon durch Vollstreckungsüberstellung in den Heimatstaat, aber eben auch durch möglichst frühzeitige bedingte Entlassung – zu minimieren gilt. Zudem erfolgt die bedingte Entlassung „zur Bewährung“, ihr wohnt also ein die Normentreue des Entlassenen stabilisierendes Element inne, weil der bedingt Entlassene in der Regel den Widerruf der bedingten Entlassung zu vermeiden suchen wird. a) Rein spezialpräventiv ausgerichtete Verantwortungsprognose bei 2/3-Entlassung, § 57 Abs. 1 StGB Die Voraussetzungen einer bedingten Entlassung nach Verbüßung von 2/3 der verhängten zeitigen Freiheitsstrafe (mindestens aber zwei Monate) sind in § 57 Abs. 1 StGB geregelt. Neben der Mindestverbüßung, § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB, muss die Strafaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden können (so genannte Verantwortungsprognose), § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB, und die verurteilte Person muss in die bedingte Entlassung einwilligen, § 57 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Die Entscheidung, ob eine bedingte Entlassung verantwortet werden kann, ist eine Prognoseentscheidung, bei der gemäß § 57 Abs. 1 S. 2 StGB „insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen sind, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind“. Erforderlich ist danach eine günstige Sozialprognose.203 Somit sind allein spezialpräventive Überlegungen zur Entscheidungsgrundlage zu machen, die sowohl das Sicherungsinteresse der Allgemeinheit als auch das Resozialisierungsbedürfnis des Verurteilten einbeziehen. Kommt das Gericht im Rahmen seines Beurteilungsspielraums zur Feststellung einer günstigen Sozialprognose, so hat es ohne weitere Ermessensentscheidung die weitere Vollstreckung der Strafe zur Bewährung auszusetzen. Überlegungen zur Schuldangemessenheit der tatsächlich verbüßten
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Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 57
Rn. 1. 203 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.10.2000, 2 BvR 1621/00. Die textliche Neufassung der Vorschrift durch Art. 1 Nr. 2 SexualDelBekG v. 26.01.1998, BGBl. I S. 160, zielte nicht auf eine substanzielle Änderung der Prognoseerstellung ab, vgl. BT-Drucks. 13/ 7163; Fischer, StGB60 (2013), § 57 Rn. 13 mit weiteren, teils kritischen Nachweisen.
B. Ableitungen für die Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe
111
Strafe haben außen vor zu bleiben,204 gleiches gilt für generalpräventive Erwägungen.205 b) Ermessensentscheidung über Halbstrafenentlassung, § 57 Abs. 2 StGB Umstritten ist, ob dies in gleicher Weise auch für eine Aussetzung des Strafrests nach Halbzeitverbüßung, § 57 Abs. 2 StGB, gilt. Im Gegensatz zur gebundenen Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB spricht der Gesetzeswortlaut hier von „kann“. Es handelt sich also um eine Entscheidung, die das Gericht bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen hat. § 57 Abs. 2 StGB benennt zwei Fallgruppen einer möglichen bedingten Entlassung nach einer Mindestverbüßung von der Hälfte der ausgesprochenen Strafe, zumindest jedoch sechs Monaten. Nach Nr. 1 der Vorschrift kommt eine Entlassung zu diesem Zeitpunkt in Betracht, wenn der Verurteilte erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt und diese zwei Jahre nicht übersteigt. Nr. 2 der Vorschrift erstreckt die Halbstrafenentlassung auch auf Täter, die nicht Erstverbüßer sind und/oder die zu einer Strafe von mehr als zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurden, macht eine solche Entlassung aber von weiteren Voraussetzungen abhängig: Die Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit der verurteilten Person und ihrer Entwicklung während des Strafvollzugs muss ergeben, dass besondere Umstände vorliegen, die für eine frühzeitige Strafrestaussetzung sprechen. Die Verantwortungsprognose muss in beiden Fällen für eine frühzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug sprechen, und der Betroffene muss einwilligen. Zwar ist die Prognoseentscheidung identisch mit derjenigen bei Strafrestaussetzung nach 2/3-Verbüßung. Allerdings ist umstritten, ob in die nachfolgende Ermessensentscheidung weitere Strafzwecke, insbesondere generalpräventive, aber auch Schulderwägungen, einfließen dürfen.206 Lehnt man dies ab,207 so wäre bei Bestehen einer günstigen Sozialprognose und dem Vorliegen der weiteren Voraussetzungen eine Strafrestaussetzung zwingend, aus der Kann-Bestimmung würde 204 Hubrach, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2006) Bd. 2, § 57 Rn. 12 m.w. N. 205 Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 57 Rn. 1, 45. 206 Dafür OLG Karlsruhe, JR 1975, 295; OLG Düsseldorf, NStZ 1999, 478 f.; OLG Düsseldorf, StV 2003, 679 ff., mit kritischer Anmerkung Schüler-Springorum; ablehnend OLG Hamburg, MDR 1976, 66. 207 Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 57 Rn. 61; Bruns, „Stellenwerttheorie“ oder „Doppelspurige Strafhöhenbemessung“?, in: Jescheck/Lüttger, Festschrift für Dreher (1977), S. 251 (260); Meier, Strafrechtliche Sanktionen3 (2009), S. 133; differenzierend zwischen der Möglichkeit und der Sinnhaftigkeit der Berücksichtigung der Schuld Zipf, Anmerkung zu OLG Karlsruhe, Beschl. v. 8.8.1974 – 1 Ws 249/74, JR 1975, 295 (296 f.).
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
eine Muss-Vorschrift. Obwohl dieses Ergebnis kriminalpolitisch wünschenswert erscheinen mag, spricht doch der Gesetzeswortlaut dagegen.208 Schulderwägungen können daher im Rahmen des § 57 Abs. 1 StGB nicht generell aus der Ermessensentscheidung ausgeklammert werden. Allerdings muss allerdings klargestellt werden, dass die Regelungen zur bedingten Entlassung grundsätzlich keine Überprüfung der tatrichterlichen Strafzumessung beinhalten und daher Schulderwägungen nur in Ausnahmefällen, dann aber sowohl zugunsten als auch zulasten der Verurteilten in die Ermessensentscheidung einfließen dürfen. c) Bedingte Entlassung aus lebenslanger Freiheitsstrafe und Schuldschwere, § 57a StGB Die Regelung der Strafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe, § 57a StGB, bildet einen Sonderfall im Konzept der Regelungen zur bedingten Entlassung. Dies ergibt sich nicht allein daraus, dass hier explizit eine bedingte Entlassung ausgeschlossen wird, wenn die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet.209 Vielmehr bietet bei der Anordnung einer absoluten lebenslangen Freiheitsstrafe in Ermangelung eines Strafrahmens allein die bedingte Entlassung die Möglichkeit, eine Differenzierung nach der Schuldschwere vorzunehmen.210 Die Schuld im Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB ist daher Strafzumessungsschuld und nach den Regeln des § 46 StGB zu bestimmen.211 4. Systematik der Regelungen zur bedingten Entlassung und Grundsatz der schuldangemessenen Strafe In der gezeigten Ausgestaltung der Regelungen zur bedingten Entlassung kommt ein abgestuftes System zum Ausdruck, in dessen Zentrum zwar die Sozialprognose und die Resozialisierungserfordernisse des Verurteilten stehen, das aber zugleich einer Behauptung der völligen Trennung von Strafvollstreckungsregelungen und Schulderwägungen widerstreitet. Dies zeigt sich gerade bei den unterschiedlichen Voraussetzungen der bedingten Entlassung nach 2/3-Verbüßung und Halbstrafenverbüßung. Während die Entlassung nach Verbüßung von 208 In diesem Sinne auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen3 (2012), Rn. 283. Diesem ist allerdings auch beizupflichten, dass Strafrestaussetzungen in der Regel wenig öffentlichkeitsrelevant sind, so dass generalpräventiv begründete Einschränkungen nur ausnahmsweise angebracht sein dürften, so auch Lackner/Kühl, StGB27 (2011), § 57 Rn. 20. 209 § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB. 210 Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 57a Rn. 8. 211 BVerfG NJW 1995, 3244; BGH NJW 1996, 3425; Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 57a Rn. 8 m.w. N.
B. Ableitungen für die Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe
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2/3 der Strafe bei Vorliegen der Voraussetzungen zwingend ist, ist die Halbstrafenentlassung als Ermessensvorschrift ausgestaltet. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass das Bedürfnis nach Schuldausgleich, dem nicht durch entsprechende Auflagen bei der bedingten Entlassung nach hälftiger Verbüßung der Strafe Rechnung getragen werden kann, eine Verbüßung von mehr als der Hälfte erfordern kann.212 Auch die Differenzierung innerhalb der Regelung zur Halbstrafenentlassung, die u. a. am Maß der verwirkten Strafe – und damit primär an der Schuld des Verurteilten, § 46 Abs. 1 StGB – anknüpft, zeigt, dass Schulderwägungen bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Konzepts der Regelungen der bedingten Entlassung eine wichtige Rolle gespielt haben. Schließlich macht auch die Regelung zur bedingten Entlassung aus lebenslanger Freiheitsstrafe deutlich, dass Schulderwägungen und bedingte Entlassung nicht völlig zu trennen sind.213 Eine Durchbrechung des ausgewogenen Systems aus Strafzumessungs- und Strafvollstreckungsrecht eines Staates bei der Vollstreckungshilfe durch Anwendung des Vollstreckungsrechts eines anderen Vollstreckungsstaates wird daher teils scharf als „völlig sachwidrig“ kritisiert.214 Sie ist nicht dogmatisch herleitbar, sondern vielmehr Praktikabilitätserwägungen geschuldet.215 IV. Schlussfolgerungen 1. Damit hat sich gezeigt, dass die mit der Vollstreckungshilfe regelmäßig vorgenommene Verknüpfung einer im Urteilsstaat ausgesprochenen Strafe mit dem Strafvollstreckungsrecht des Vollstreckungsstaates einschließlich der Regelungen zur bedingten Entlassung kritisch zu hinterfragen ist und nicht auf eine klare Zuordnung der Strafzwecke zu Strafzumessung und Strafvollstreckung gestützt werden kann. Vielmehr besitzen auch die strafvollstreckungsrechtlichen Regelungen der bedingten Entlassung jedenfalls nach ihrer Ausgestaltung im deutschen Recht einen Schuldbezug und können deshalb nicht losgelöst von der zugrundeliegenden Strafzumessung betrachtet werden. Daher ist die durch eine transnationale Vollstreckungshilfe entstehende scheinbar beliebige Kombination von Strafzumessungsrecht und Strafvollstreckungsrecht verschiedener Staaten rechtlich nicht unbedenklich. Die tatsächlichen Auswirkungen einer solchen 212 Vgl. OLG Köln, NStZ 2008, 641; OLG Düsseldorf, NStZ 1999, 478; Groß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MüKo-StGB2 (2012), Bd. 2, § 57 Rn. 30; kritisch dazu Barton, Zur Frage der Halbstrafenaussetzung nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB. Beschluss des HansOLG Hamburg v. 30.10.1990 – 2 Ws 370/90. Anmerkung, JR 1991, 344 (346 f.). 213 H. A. Wolff, Der Grundsatz „nulla poena sine culpa“ als Verfassungsrechtssatz, AöR 124 (1999), 55 (64); BVerfGE 64, 261 (271 f.). 214 F.-C. Schroeder, Die Übertragung der Strafvollstreckung, ZStW 98 (1986), 457 (469). 215 Vgl. auch KOM(2000) 495 endg., S. 14; ausführlich dazu unten Teil 1 Kapitel 3 A.II.1.c).
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
Kombination müssen daher bei der Beantwortung der Frage, ob durch eine Vollstreckungshilfe die Resozialisierungschancen eines Verurteilten verbessert werden, in die Beurteilungsentscheidung einbezogen werden. Folgende weitere grundlegende Feststellungen zur Ausgestaltung einer Vollstreckungshilfe lassen sich bereits jetzt treffen: 2. Angesichts des Resozialisierungszieles des Strafvollzugs kann kein Zweifel daran bestehen, dass eine Vollstreckungsübertragung nur dann erfolgen darf, wenn sie unter mehreren Alternativen der Rechtsdurchsetzung, namentlich bei der Möglichkeit, zwischen einer Vollstreckung im Urteils- oder im ersuchten Staat zu wählen, die aus Resozialisierungsgesichtspunkten beste Möglichkeit der Strafvollstreckung darstellt. Hier kommt insbesondere dem zukünftigen Aufenthaltsort des Täters eine gewichtige Indizwirkung zu, weitere Kriterien sind aber zu berücksichtigen. Dies impliziert für das Verhältnis von Ersuchen um Vollstreckungshilfe und dem alternativen Auslieferungsbegehren zur Strafvollstreckung, dass in jenen Fällen, in denen, in denen der Täter sich nicht im Urteilsstaat aufhält, das Resozialisierungsziel jedoch besser im Urteilsstaat zu erreichen scheint, aufgrund des verfassungsrechtlich abgeleiteten Resozialisierungsziels des Strafvollzugs dem Auslieferungsbegehren regelmäßig Vorrang vor einem möglichen Ersuchen um Vollstreckungshilfe einzuräumen ist. 3. In jenen Fällen, in denen weder der Täter sich im Urteilsstaat aufhält noch der Urteilsstaat des Täters im Wege eines Vollstreckungsauslieferungsersuchens habhaft werden kann, gebieten jedoch die generalpräventiven Zielsetzungen der Strafvollstreckung, die das Rechtsdurchsetzungsziel der Vollstreckungshilfe maßgeblich prägen, die Rechtsdurchsetzung im Wege des Ersuchens um Vollstreckungshilfe anzustreben. Dem steht nicht entgegen, wenn die Resozialisierungschancen im ersuchten Vollstreckungsstaat schlechter als die schließlich nur hypothetischen Resozialisierungschancen im Urteilsstaat sind, soweit das Ersuchen um Vollstreckungshilfe das einzig verbleibende Mittel zur Rechtsdurchsetzung ist. Zwingende Grenzen der Vollstreckungshilfe machen jedoch die nachfolgenden Überlegungen deutlich. 4. Die der Strafzumessungsschuld angemessene Strafe bildet die Obergrenze der zulässigen Strafe, die nicht aus general- oder spezialpräventiven Gründen überschritten werden darf. Der Bindung an die Strafzumessungsschuld kommt damit eine freiheitsbewahrende eingriffslimitierende Funktion zu. Die inhaltliche Nähe zwischen Strafzumessungsschuld und Rechtsgeltungsschaden einerseits und die Verortung des generalpräventiven Zieles der Normbestätigung durch Ausgleich des Rechtsgeltungsschadens im Urteilsstaat andererseits führen zu dem Schluss, dass eine Erschwerung von Strafart oder -maß in Anpassung an den nur hypothetischen Rechtsgeltungsschaden im Vollstreckungsstaat unzulässig ist. Die ausgesprochene Sanktion bildet qualitativ und quantitativ die Obergrenze der im ersuchten Staat zulässigerweise vollstreckbaren Sanktion.
C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential
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C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential Eingangs des Kapitels wurde bereits angesprochen, dass das Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe durch zwei tatsächliche Problemstellungen ausgelöst wird: 1. Zum einen birgt der freiheitsentziehende Strafvollzug an einem nicht integrierten Ausländer sowohl für den betroffenen Inhaftierten als auch für die Strafvollzugsverwaltung des vollziehenden Staates besondere, über die mit jedem freiheitsentziehenden Strafvollzug notwendig verbundenen Belastungen hinausgehende Probleme (Resozialisierungshindernisse und Vollzugsbelastungen). Löst die Vollstreckungsüberstellung diese Probleme, so ist zu vermuten, dass sie geeignet ist, zur Resozialisierung des Inhaftierten beizutragen und zugleich den Strafvollzug zu entlasten. Jenseits dieser Resozialisierungsprobleme, individuellen und systemischen Vollzugsbelastungen gibt gerade die Entstehungsgeschichte der Europäischen Vollstreckungsanordnung Anlass zu fragen, ob bzw. inwieweit eine mögliche Überrepräsentation ausländischer Gefangener an der Gesamtpopulation der Strafhäftlinge eine quantitative Vollzugsbelastung darstellt und ein Bedürfnis nach Vollstreckungsüberstellung und Vollstreckungshilfe begründet (Vollzugskapazität).216 Hier können neben den bereits zuvor angesprochenen organisatorischen Problemen der Strafvollzugsverwaltung auch finanzielle Erwägungen eine Rolle spielen. 2. Zum anderen kann die Vollstreckungshilfe aus Sicht des ersuchenden Staates auch der Durchsetzung der Strafvollstreckung gegenüber einem Verurteilten dienen, der sich nicht mehr im Urteilsstaat aufhält (Rechts- bzw. Sanktionsdurchsetzung). Hier kann das Ersuchen um Vollstreckungshilfe eine Alternative zu einem Auslieferungsbegehren, etwa in Form eines Europäischen Haftbefehls zur Strafvollstreckung, sein. Anhand der Ziele der Vollstreckungshilfe ist der Anwendungsbereich beider Rechtshilfeinstrumente sachgerecht voneinander abzugrenzen. Der Rechtsdurchsetzungsgedanke tritt gegenüber dem Resozialisierungsgedanken in jenen Fällen deutlich in den Vordergrund, in denen der ersuchte Aufenthaltsstaat zwar nicht zur Rechtshilfe durch Auslieferung in der Lage ist, etwa weil es sich um einen eigenen Staatsangehörigen handelt, eine Vollstreckungshilfe aber zulässig wäre. Denn in diesen Fällen ermöglicht erst und allein die Vollstreckungshilfe die Durchsetzung der Sanktion. Entsprechend kommen diese humanitären Erwägungen dann wieder zum Tragen, wenn der ersuchende Staat einen (durchsetzbaren) Anspruch auf Auslieferung beziehungsweise Überstellung des Verurteilten hätte und so seinen Strafvollstreckungsanspruch durchzusetzen 216
Siehe unten C.II.1. und 2., in diesem Kapitel.
116
Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
vermöchte, sich aber aus Gründen der besseren Resozialisierungschancen für das Ersuchen um Vollstreckungshilfe entscheidet. Zwischen den Mitgliedstaaten der EU ist mittels des Europäischen Haftbefehls ein Anspruch auf Überstellung weitgehend gewährleistet. I. Resozialisierungserschwernisse, individuelle und systemische Vollzugsbelastungen beim Strafvollzug an nicht integrierten Ausländern Empirische Forschungen zum Strafvollzug und die (auch rechtsvergleichende) Analyse des Strafvollzugsrechts belegen, dass gerade der Strafvollzug an nicht im Vollzugsstaat integrierten Ausländern mit besonderen Resozialisierungsproblemen behaftet ist, die zugleich typische Belastungselemente für die Strafvollzugsverwaltung mit sich bringen. 1. Rechtsgrundlagen des Strafvollzugs Die Rechtsgrundlagen des Strafvollzugs haben infolge der Föderalismusreform in den letzten Jahren einen bedeutsamen Wandel erfahren. Bis zum Inkrafttreten der Reform am 1. September 2006 oblag dem Bund die Gesetzgebungskompetenz. Dieser hatte das Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 erlassen, nachdem das BVerfG entschieden hatte, dass es für mit dem Strafvollzug über den Freiheitsentzug hinaus verbundene Eingriffe in die Grundrechte der Inhaftierten einer entsprechenden Rechtsgrundlage in Form eines Strafvollzugsgesetzes bedürfe.217 Mit der Neuregelung der den Strafvollzug betreffenden Gesetzgebungskompetenz durch Art. 1 Nr. 7 a) aa) des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Föderalismusreformgesetz) vom 28. August 2006218 ist jene für den Strafvollzug einschließlich des Untersuchungshaftvollzugs auf die Länder übergegangen.219 Das Strafvollzugsgesetz des Bundes kann seitdem durch Landesrecht ersetzt werden. Es gilt jedoch gemäß Art. 125a Abs. 1 GG seit dem 1. September 2006 als partikulares Bundesrecht fort, solange und soweit der jeweilige Landesgesetzgeber keine landesrechtlichen Regelungen erlassen hat.220 In der
217
Vgl. BVerfGE 33, 1 (9 ff.). BGBl. 2006 I S. 2034. 219 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht 27 (2012), Kap. 11 Rn. 3, bezeichnen dies als „eine angesichts der Bundeszuständigkeit für Strafrecht und Strafverfahren unsinnige Zersplitterung“. 220 Einige wenige Regelungsbereiche des Bundes-StVollzG (§§ 109–122 StVollzG) verbleiben in der Regelungskompetenz des Bundesgesetzgebers und gelten daher auch in jenen Ländern fort, die von ihrer neu gewonnenen Gesetzgebungskompetenz bereits umfassend Gebrauch gemacht haben. Näher dazu Laubenthal, Strafvollzug6 (2011), Rn. 133. 218
C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential
117
vorliegenden Arbeit wird daher exemplarisch auf das Bundes-StVollzG Bezug genommen.221 Konkretisierend ist auf die von den Landesjustizverwaltungen bereits zum Strafvollzugsgesetz des Bundes vereinbarten gemeinsamen Verwaltungsvorschriften (VV StVollzG) zurückzugreifen. Diese prägen auch die Anwendung der neu erlassenen Landesstrafvollzugsgesetze noch wesentlich.222 Als Verwaltungsinnenrecht bieten diese Verwaltungsvorschriften den Vollzugsbehörden interne Entscheidungshilfe für die Auslegung und Anwendung der Strafvollzugsgesetze und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, soweit diese in einem sachlichen Zusammenhang mit dem Strafvollzug stehen; sie haben keine unmittelbare Außenwirkung.223 Auch entbinden diese Verwaltungsvorschriften die Vollzugsbehörden nicht von der Pflicht zur konkret einzelfallbezogenen Prüfung im Lichte der Ziele des Strafvollzugs.224 Diese Prüfung kann im konkreten Einzelfall zu einem von den Einschätzungen der Verwaltungsvorschriften abweichenden Ergebnis kommen.225
221 Die durch die Ausgestaltung des Art. 2 Bayerisches Strafvollzugsgesetz, BayGVBl. 2007, S. 866, ausgelöste Diskussion einer Neuordnung von Resozialisierungsziel und Sicherungsauftrag des Strafvollzugs wird vorliegend nicht vertieft. Art. 2 BayStVollzG lautet: „1 Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. 2 Er soll die Gefangenen befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Behandlungsauftrag).“ Denn die verpflichtende Ausrichtung des Strafvollzugs auf die Resozialisierung des Verurteilten ist aus dem Grundgesetz abzuleiten; näher dazu oben A.II.2.d). 222 So verweisen etwa die Bayerischen Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz (BayVVStVollzG) v. 1. Juli 2008, BayJMBl. 2008, S. 89, einleitend darauf, dass diese bayerischen Verwaltungsvorschriften ergänzend zu den bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz vom 1. Juli 1976, bekanntgemacht mit BayJMBl. 1976, S. 325, in der jeweils geltenden Fassung erlassen werden, diese also nicht ersetzen. 223 Die VV StVG unterstützen die Vollzugsbehörden bei der Auslegung von unbestimmten Tatbestandsmerkmalen, indem sie Kriterien aufstellen, die, wenn sie gegeben sind, das Vorliegen des Tatbestandsmerkmales indizieren (norminterpretierende Funktion), vgl. Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz11 (2008), § 13 Rn. 8; Laubenthal, Strafvollzug6 (2011), Rn. 42 f.; allgemein zur norminterpretierenden Funktion von Verwaltungsvorschriften Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht18 (2011), § 24 Rn. 9. Daneben haben sie eine ermessenslenkende Funktion bei der Ausfüllung von Handlungsspielräumen, die den Behörden durch die Strafvollzugsgesetze eingeräumt sind, und bewirken so innerhalb des gesetzlichen Handlungsrahmens eine Vereinheitlichung der vollzuglichen Entscheidungen und Maßnahmen zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen. Allgemein zur ermessenlenkenden Funktion von Verwaltungsvorschriften Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht18 (2011), § 24 Rn. 9. 224 Vgl. OLG Frankfurt, ZfStrVo 1981, 122 f.; OLG Hamm, NStZ 1984, 143. 225 Vgl. OLG Hamm, NStZ 1981, 237; Laubenthal, Strafvollzug6 (2011), Rn. 43.
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
2. Vollstreckungsrechtliche Sonderregelung des § 456a Abs. 1 StGB Zwar gelten die allgemeinen Regeln zur Dauer der Strafvollstreckung einschließlich der Aussetzung des Strafrests zur Bewährung unterschiedslos für inund ausländische Gefangene. Daneben besteht jedoch mit § 456a StPO eine Sonderregelung für ausländische Gefangene mit hoher praktischer Relevanz:226 Die Vollstreckungsbehörde kann von der Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Sanktion absehen, wenn der Verurteilte wegen einer anderen Tat einer ausländischen Regierung ausgeliefert, an einen internationalen Strafgerichtshof überstellt oder wenn er aus dem Geltungsbereich des Grundgesetzes ausgewiesen wird. Kehrt der Ausgelieferte, Überstellte oder Ausgewiesene freiwillig227 in die Bundesrepublik Deutschland zurück, so kann die Vollstreckung bis zum Eintritt der Vollstreckungsverjährung nachgeholt werden.228 Die Vollstreckungsbehörde hat die Entscheidung, von der durch § 456a StPO eröffneten Möglichkeit Gebrauch zu machen, nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen und muss dabei die Interessen des Verurteilten gegen die Gründe abwägen, die gegen ein Absehen von der Vollstreckung sprechen.229 Die Länder haben inhaltlich nicht idente Richtlinien zur Anwendung des § 456a Abs. 1 StPO erlassen.230 Verallgemeinernd kann festgehalten werden, dass in die Abwägung vor allem die Art und Umstände der Tat, die Schwere der Schuld, der Umfang bisher verbüßter Strafen, die familiäre und soziale Situation des Inhaftierten sowie generalpräventive Erwägungen einzustellen sind.231 Ein wichtiger Orientierungspunkt ist die Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe. Nach diesem Zeitpunkt wird die Verbüßung in der Regel nicht mehr als erforder226 Ausführlich Giehring, Das Absehen von der Strafvollstreckung bei Ausweisung und Auslieferung ausländischer Strafgefangener nach § 456a StPO – Ein Beispiel für Strafrechtspolitik bei der Anwendung des Strafvollstreckungsrechts –, in: Ostendorf (Hrsg.), Strafverfolgung und Strafverzicht. Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein (1992), S. 469 ff. Kritisch zur Frage der Anwendbarkeit von § 456a StPO auf Unionsbürger und freizügigkeitsberechtigte Drittstaatsangehörige Pfaff, Von der zweckwidrigen Anwendung des § 456a StPO, ZAR 2006, 121 (122 f.) 227 Näher dazu Woynar, in: Julius u. a. (Hrsg.), Heidelberger Kommentar StPO5 (2012), § 456a StPO Rn. 3 m.w. N. 228 Vgl. § 456a Abs. 2 StPO. Bei der Nachholung der Vollstreckung einer Maßregel der Besserung und Sicherung bedarf es allerdings entsprechend § 67c Abs. 2 StPO nach Ablauf einer dort näher definierten Frist einer gerichtlichen Anordnung des Vollzugs, die in Abhängigkeit davon zu treffen ist, ob der Zweck der Maßregel deren Vollzug noch erfordert. 229 Vgl. § 17 Abs. 2 StVollStrO. 230 Vgl. den tabellarischen Überblick bei Schmidt, Verteidigung von Ausländern3 (2012), Rn. 582 ff. 231 Vgl. Woynar, in: Julius u. a. (Hrsg.), Heidelberger Kommentar StPO5 (2012), § 456a StPO Rn. 2, unter Verweis auf OLG Hamburg, StV 1996, 328; OLG Karlsruhe, StV 2002, 322.
C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential
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lich angesehen. Bei den Fragen eines zeitigeren oder späteren Absehens von der Strafvollstreckung setzen die Richtlinien je nach Bundesland unterschiedliche Wertungen.232 § 456a StGB dient, so das BVerfG, der Entlastung des Strafvollzugs von wenig sinnvollen Resozialisierungs- und Sicherungsbemühungen gegenüber Verurteilten, die für die Allgemeinheit (in Deutschland233) keine ernste Gefahr darstellen können, weil sie demnächst ausgeliefert oder ausgewiesen werden.234 Zugleich beeinträchtigt aber ein mögliches, jedoch ungewisses Absehen von der weiteren Strafvollstreckung nach § 456a StGB mangels Planbarkeit den Zugang zu resozialisierenden Maßnahmen im Vollzug und kann einem planvoll angelegten Übergangsmanagement von der Haft in die Freiheit entgegenstehen. 3. Gefährdung des Resozialisierungszieles In zusammenfassender Auswertung der vorhandenen und zumindest auch qualitative Befunde einschließenden regionalen und europaweiten Studien lassen sich einige typische Probleme erkennen, die mit dem Strafvollzug an im Inhaftierungsstaat nicht integrierten Ausländern häufig verbunden sind.235 232 Siehe etwa die Ergänzenden Bestimmungen zur Strafvollstreckungsordnung (ErgStVollstrO), Bekanntnmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz v. 22. Juni 2006, Az.: 4300 – II – 787/05, geändert durch Bekanntmachung vom 29. Juni 2015, JMBl. S. 82, im Vergleich zur Richtlinienverlautbarung des Justizministeriums Nordrhein-Westfalen v. 20. August 1985, 9174 – III A.2, geändert durch RV d. JM v. 29. Oktober 1987, zum Absehen von der Vollstreckung bei Auslieferung und Ausweisung (§ 456a StPO). 233 Konkretisierung durch den Autor. 234 BVerfG, NJW 2004, 356. In der Unanwendbarkeit dieser Vorschrift auf die Entlassung von Verurteilten, die nicht verpflichtet werden können, Deutschland zu verlassen, liege kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG, weil gegenüber diesen Verurteilten darauf zu achten sei, dass die Vollzugszwecke mit ausreichender Wahrscheinlichkeit erreicht sind, wenn die Vollstreckung eines Teils der verhängten Freiheitsstrafe ausgesetzt werden soll. 235 Detailliert dazu Płachta, Transfer of Prisoners under International Instruments and Domestic Legislation (1993), S. 68, 70 ff.; insbesondere zur bayerischen Situation Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung (2004), S. 38 ff., unter Einbeziehung eigener Erfahrungen, der Auswertung der Situation in bayerischen Justizvollzugsanstalten und weiteren Schrifttums zur Situation im bundesdeutschen Strafvollzug. Zur österreichischen Situation vgl. die Beiträge von Hofinger/Pilgram, Droht eine Rückkehr in den Verwahrvollzug?, in Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Fremde im Gefängnis – Herausforderungen und Entwicklungen (2007), S. 29 ff.; Bevc, Situationsbericht aus der gerichtlichen Justizanstalt Klagenfurt, in: ebd., S. 55 ff.; Minkendorfer, Zur Situation in den Strafvollzugsanstalten, in: ebd., S. 59 ff.; Stummer-Kolonovits/Platzer, Afrikanische Häftlinge in der Justizanstalt WienJosefstadt – Wer sind sie? Was brauchen sie?, in: ebd., S. 63 ff. Für eine europaweite Untersuchung und einen europäischen Vergleich siehe van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007), dort insbesondere dies., Chapter 1: Comparative overview, Conclusions and Recommendations, S. 5 (16 ff.).
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
a) Sprachbarriere und/oder abweichender kultureller und religiöser Hintergrund Bei nicht oder nicht hinreichend der Landessprache mächtigen Inhaftierten bildet vor allem die Sprachbarriere im Regelfall eine massive Resozialisierungsbelastung. Die spezifisch resozialisierende Ausgestaltung des Vollzugs durch Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten sowie durch therapeutische Maßnahmen wird durch diese grundlegende Beeinträchtigung der Verständigungsmöglichkeiten deutlich erschwert. Bereits die rein organisatorisch-administrative Durchführung des Strafvollzugs in der jeweiligen Anstalt, der tägliche Kontakt mit den Strafvollzugsbediensteten, der Kontakt mit den Mitgefangenen sowie die Nutzung von Freizeitangeboten ist durch die Sprachbarriere beeinträchtigt.236 Zugleich bilden mangelnde Sprachkenntnisse eine Barriere für die Kenntnis und Ausübung der dem Gefangenen zustehenden Rechte.237 Selbst wenn generelle fremdsprachige Informationsblätter verfügbar sind, enthalten diese unter Umständen keine anstaltsspezifischen Informationen wie Besuchszeiten und Freizeitregelungen,238 so dass der fremdsprachige Inhaftierte vom Kontakt mit der Außenwelt in noch stärkerer Weise abgeschnitten wird als dies ohnehin zwingend mit der Inhaftierung verbunden ist. Ähnlich wie die Sprachbarriere kann auch ein abweichender kultureller bzw. religiöser Hintergrund die Haftsituation erschweren und ohne entsprechende Maßnahmen die Resozialisierungschancen verringern. b) Ausweisung und Abschiebung versus Wiedereingliederung Insoweit die Resozialisierungsmaßnahmen im Strafvollzug auf eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland gerichtet sind, gehen sie fehl, wenn sicher ist oder zumindest zu erwarten steht, dass der Inhaftierte nach oder auch bereits während der Verbüßung seiner Strafe aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, abgeschoben bzw. ausgeliefert wird oder sonst (durchsetzbar) ausreisepflichtig ist. 236 van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel, Chapter 1: Comparative overview, Conclusions and Recommendations, in: dies. (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007), S. 5 (17); siehe dazu auch den Befund einer ausgrenzenden Wirkung mangelnder Sprachkenntnisse im Strafvollzug in der Studie von Sagel-Grande, Die Sprache im Strafverfahren und im Strafvollzug, Forum Strafvollzug 2010, 101 (105). Zur Verfügbarkeit fremdsprachiger Informations- und Merkblätter sowie einer nicht anstaltsspezifischen Musterhausordnung in bayerischen Justizvollzugsanstalten vgl. Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung (2004), S. 45 f. Verständigungsschwierigkeiten können auch den Zugang zu etwaig notwendiger medizinischer Behandlung behindern, KOM(2004) 334 endg., S. 64. 237 KOM(2004) 334 endg., S. 64. 238 Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung (2004), S. 45.
C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential
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Die Ausreisepflicht eines Ausländers und deren Durchsetzung sind in den §§ 50–62 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG)239 geregelt. Ein Ausländer ist zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt und auch ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziierungsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht.240 Erforderlich ist ein Aufenthaltstitel stets dann, wenn nicht durch das Recht der EU oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder aufgrund des Assoziierungsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht besteht. Wird ein Ausländer ausgewiesen, so erlischt gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG auch ein bestehender Aufenthaltstitel. Daher gehen auf eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland gerichteten Resozialisierungsbemühungen auch bei denjenigen Ausländern fehl, die zwar in der Bundesrepublik ihren tatsächlichen Lebensmittelpunkt und ihr soziales Umfeld haben, aber wegen der Schwere oder – in ausgewählten Deliktsbereichen – auch wegen der Art der strafrechtlichen Verurteilung auszuweisen sind. Die VV StVollzG sehen in der drohenden Auslieferung oder Abschiebung eines Gefangenen ein erhebliches Indiz für das Vorliegen von Fluchtgefahr; entbinden jedoch nicht von der konkreten Prüfung im Einzelfall.241 Eine die Unterbringung im offenen Vollzug ablehnende Entscheidung darf sich nicht allein auf eine bestehende Auslieferungsentscheidung stützen, sondern muss sich mit den konkreten Lebensumständen des Gefangenen und seiner Angehörigen auseinandersetzen.242 In der Literatur wird dazu betont, es gäbe keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass bei Ausländern generell Fluchtgefahr bestünde, wenn gegen sie eine Ausweisungsverfügung vorliegt oder in Zukunft droht.243 239 Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), das zuletzt durch Art. 1 Gesetz v. 11. März 2016 (BGBl. I S. 394) geändert worden ist. 240 § 50 Abs. 1 AufenthG. 241 Nach VV Nr. 6 Abs. 1 lit. c zu § 11 StVollzG sind Außenbeschäftigung, Freigang und Ausgang ausgeschlossen bei Gefangenen, gegen die eine vollziehbare Ausweisungsverfügung besteht und die aus der Haft abgeschoben werden sollen; nach Abs. 2 S. 1, 3 derselben VV sind Ausnahmen mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde und im Benehmen mit der zuständigen Ausländerbehörde zulässig. Nach VV Nr. 7 Abs. 1 und Abs. 2 lit. d zu § 11 StVollzG sind Gefangene als in der Regel ungeeignet für Vollzugslockerungen anzusehen, wenn gegen sie ein Ausweisungsverfahren anhängig ist; systemgerecht (a mojore ad minus) sind auch hier aber bei Vorliegen besonderer Umstände Ausnahmen zulässig, VV Nr. 7 Abs. 3 zu § 11 StVollzG. 242 OLG Frankfurt, Beschl. v. 05.11.1990 – 3 Ws 888/90, und Beschl. v. 21.12.1990 – 3 Ws 814/90, zitiert bei Bungert, Aus der Rechtsprechung zum Strafvollzugsgesetz – 1991 – 1. Teil, NStZ 1992, 373 (374); OLG Celle, NStZ 2000, 615; Calliess/MüllerDietz, Strafvollzugsgesetz11 (2008), § 11 Rn. 19. 243 Laubenthal, Strafvollzug6 (2011), Rn. 334; Ullenbruch, in: Schwind/Böhm/Jehle (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz5 (2009), § 13 Rn. 17; siehe auch LG Hamburg, StV 2001, 33 f.
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c) Weitgehender Ausschluss vom offenen Vollzug In der Praxis droht bei fehlendem Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland oder gar zu erwartender Abschiebung oder Ausweisung des Gefangenen der inländische Strafvollzug zu einem Verwahrvollzug zu werden, denn wesentliche Maßnahmen der Resozialisierung bleiben für solche Gefangenen unangewendet. So gehört zur die Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft, dass der Vollzug dem Gefangenen ein Übungsfeld sozialen Verhaltens bietet, in dem der Gefangene die Bewährung in Freiheit trainieren kann.244 Die Unterbringung im sogenannten „offenen Vollzug“ wird dafür als besonders geeignet angesehen;245 sie ist gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 7 StVollzG eine der wichtigsten Maßnahmen des auf die Resozialisierung ausgerichteten Behandlungsvollzugs in Abkehr von einem bloßen Verwahrvollzug. Der offene Vollzug sieht nach § 142 Abs. 2, 2. Hs. StVollzG „keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen“ vor, wobei diese Legaldefinition Raum für die in der Praxis vorgenommene Abstufung des Öffnungsgrades lässt.246 Ein Gefangener soll mit seiner Zustimmung in einer offenen Vollzugseinrichtung untergebracht werden, wenn er den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs genügt und namentlich nicht zu befürchten ist, dass er sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeiten des offenen Vollzugs zu Straftaten missbrauchen werde.247 Nr. 1 Abs. 1 lit. b, c, Abs. 3 der Verwaltungsvorschriften zu § 10 StVollzG schließen aber einen Gefangenen von der Unterbringung im offenen Vollzug ausdrücklich aus, wenn gegen ihn die Auslieferungs- oder Abschiebehaft angeordnet ist beziehungsweise gegen ihn eine vollziehbare Ausweisungsverfügung besteht und er aus der Haft abgeschoben werden soll. Ist ein Auslieferungs- oder Ausweisungsverfahren anhängig, so wird der Gefangene nach VV Nr. 2 Abs. 1 lit. d, Abs. 2 zu § 10 StVollzG als in der Regel ungeeignet für den offenen Vollzug angesehen. Die Daten zur Haftpopulation in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich der Daten zur Unterbringung im offenen Vollzug legen nahe, dass nicht im Inland ansässige nichtdeutsche Strafgefangene tatsächlich häufig von der Unterbringung im offenen Vollzug ausgeschlossen sind.248 Während nämlich zum
Freise/Lindner, in: Schwind/Böhm/Jehle (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz5 (2009), § 10 Rn. 1. 245 Freise/Lindner, in: Schwind/Böhm/Jehle (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz5 (2009), § 10 Rn. 1. 246 Dazu Wirth, in: Schwind/Böhm/Jehle (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz5 (2009), § 141 Rn. 18. 247 § 10 Abs. 1 StVollzG; § 12 Abs. 2 BayStVollzG; § 15 Abs. 2 ME StVollzG. 248 Vgl. auch van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel, Chapter 1: Comparative overview, Conclusions and Recommendations, in: dies. (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007), S. 5 (18 f.), die in ihrer rechts- und rechtstatsachenvergleichenden Untersuchung zu dem Ergebnis kommen, dass die Situation europaweit ähnlich ist. 244
C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential
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Stichtag 31. März 2012 16,5% aller Inhaftierten deutschen Staatsangehörigen im offenen Vollzug untergebracht waren,249 traf dies nur auf 13,9 % aller Ausländer oder Staatenlosen zu.250 Die Vollzugsdaten machen aber zugleich deutlich, dass das Unterscheidungskriterium nicht primär die Staatsangehörigkeit, sondern präziser die Frage ist, ob der Inhaftierte einen festen Wohnsitz im Inland hat oder nicht. Während 18,1% aller Inhaftierten mit festem Wohnsitz im Inland im offenen Vollzug untergebracht waren,251 galt dies nur für 4,6% aller Inhaftierten mit festem Wohnsitz im Ausland.252 Ein Vollstreckungshilfekonzept, das am Resozialisierungsziel des Strafvollzugs anknüpft, muss daher neben der Staatsangehörigkeit auch den Wohnsitz des Verurteilten berücksichtigen. d) Ausschluss von resozialisierenden Vollzugslockerungen sowie Hafturlaub Ein der Situation beim offenen Vollzug vergleichbares Bild zeigt sich bei der Gewährung von Vollzugslockerungen. Gemäß § 11 Abs. 2 StVollzG dürfen Vollzugslockerungen mit Zustimmung des Gefangenen angeordnet werden, wenn nicht zu befürchten ist, dass sich der Gefangene dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzugs zu Straftaten missbrauchen werde.253 Zu diesen Vollzugslockerungen zählt gemäß § 11 Abs. 1 StVollzG insbesondere die regelmäßige Beschäftigung außerhalb der Anstalt unter Aufsicht eines Vollzugsbediensteten (Außenbeschäftigung) oder ohne Aufsicht (Freigang); ebenso die Genehmigung, für eine bestimmte Tageszeit die Anstalt unter Aufsicht eines Vollzugsbediensteten (Ausführung) oder ohne Aufsicht (Ausgang) verlassen zu dürfen.254 Vollzugslockerungen werden nach den VV StVollzG nur für den Aufenthalt innerhalb des Geltungsbereichs des Strafvollzugsgesetzes gewährt, VV Nr. 1 zu § 11 StVollzG.255
249 7.418/44.841, Quelle dieser und der folgenden Daten: Statistisches Bundesamt, Rechtspflege. Strafvollzug – Demographische Daten und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.3. –, Fachserie 10 Reihe 4.1 (2012), S. 14 f. 250 1.673/12.024. 251 9.007/49.796. 252 63/1.375. 3,3% (21/640) waren es bei jenen ohne festen Wohnsitz oder ohne Angabe zu einem solchen. 253 Vgl. auch § 13 Abs. 2 BayStVollzG. 254 Vgl. auch § 13 Abs. 1 BayStVollzG; der ME StVollzG, abrufbar unter: http:// www.kriminologie.uni-goettingen.de/Synopsen/Synopse%20ME-StVollzG/ (17.03.2013); fächert diese nicht abschließende Aufzählung der Formen einer Vollzugslockerung in den §§ 38–41 detaillierter auf. 255 Auch nach dem Übergang der Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug auf die Länder kann dies nur so zu interpretieren sein, dass damit das gesamte Bundesgebiet gemeint ist.
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
Während die VV StVollzG für die Ausführung keine ausländerspezifischen Beschränkungen enthalten, gehen sie für die Außenbeschäftigung, den Freigang und den Ausgang davon aus, dass das Bestehen einer Auslieferungs- oder Abschiebehaftanordnung einer Vollzugslockerung ebenso entgegensteht wie die Tatsache, dass gegen den Gefangenen eine vollziehbare Ausweisungsverfügung besteht und er aus der Haft abgeschoben werden soll, VV Nr. 6 Abs. 1 lit. b, c, Abs. 3 zu § 11 StVollzG. Ist ein Auslieferungs- oder Ausweisungsverfahren anhängig, so gehen die VV davon aus, dass der Gefangene in der Regel ungeeignet für Vollzugslockerungen ist, VV Nr. 7 Abs. 2 lit. d, Abs. 32 zu § 11 StVollzG.256 Unter den gleichen tatsächlichen Voraussetzungen sehen die VV StVollzG ausländische Gefangene als ungeeignet oder in der Regel ungeeignet für die Gewährung von Urlaub an, VV Nr. 3 Abs. 1 lit. b, c, Abs. 2, Nr. 4 Abs. 2 lit. e, Abs. 3 zu § 13 StVollzG. Die praktische Relevanz all dieser Einschränkungen belegt die Studie von Rieder-Kaiser, die bei der Untersuchung der Genehmigung von Ausgang oder Urlaub in zehn bayerischen Strafvollzugsanstalten zu dem Ergebnis kommt, dass ausländische Strafgefangene deutlich seltener Vollzugslockerungen erhalten, als dies bei den deutschen Strafgefangenen der Fall ist. Während nämlich der Anteil der nichtdeutschen Strafgefangenen an der Gesamtzahl der Strafgefangenen stichtagsbezogen257 bei 26,6% lag, entfielen nur 8,8% der im Beobachtungszeitraum258 erteilten Ausgangsgenehmigungen sowie 7,4% der Urlaubsgenehmigungen auf diese Gruppe.259 e) Ausschluss von Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten sowie therapeutischen Maßnahmen Bei anstaltsinternen Bildungsmaßnahmen prüft die Vollzugsbehörde aufgrund des mit der Maßnahme verbundenen Kostenaufwands vor Zulassung eines nichtdeutschen Gefangenen, ob vor Ablauf der Maßnahme bzw. Ablegung der Abschlussprüfung mit der Abschiebung des Gefangenen zu rechnen ist.260 Solche Überlegungen werden allerdings als unzulässig kritisiert.261 Häufig schließen je-
256 Die unklare ausländerrechtliche Situtation führt zum Ausschluss von Vollzugslockerungen; zu diesem Ergebnis kommt auch Fachkommission, Optimierung der ambulanten und stationären Resozialisierung in Hamburg Abschlussbericht v. 8. Februar 2010 (2010), S. 34, abrufbar unter: www.dvjj.de/download.php?id=1240 (15.02.2013). 257 31.03.2002. 258 01.01.2001 – 31.12.2001. 259 Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung (2004), S. 73. 260 Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung (2004), S. 74; Laubenthal, Strafvollzug6 (2011), Rn. 334.
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doch bereits mangelnde Sprachkenntnisse den Inhaftierten faktisch vom Zugang zu resozialisierenden Maßnahmen, wie psychologischer oder sozialtherapeutischer Betreuung, aus.262 Zudem entscheidet die ausländerrechtliche Situation bei nichtdeutschen Gefangenen häufig auch über den Zugang zu therapeutischen Maßnahmen, denn eine Therapieaufnahme erfolgt grundsätzlich nur dann, wenn der Gefangene voraussichtlich bis zum Abschluss der Therapie in Haft ist. Bei dieser Einschätzung ist auch das mögliche Absehen von der weiteren Strafvollstreckung gemäß § 456a Abs. 1 StPO zu berücksichtigen.263 Dieser Ausschluss von resozialisierenden Maßnahmen spielt gerade im Bereich der Betäubungsmittelabhängigkeit eine Rolle, da die Begehung von BtMG-Delikten jenseits des bloßen Besitzes und der Beschaffung zum Eigenverbrauch im Regelfall die Ausweisung zur Folge hat.264 Aus dem Grundsatz „Therapie statt Strafe“ 265 wird der Grundsatz „Ausweisung statt Therapie“.266 Mit dem häufig zu konstatierenden Ausschluss ausländischer Strafgefangener von den Vollzugslockerungen ist auch der Ausschluss des Zugangs zu Arbeitsoder Bildungsmöglichkeiten außerhalb der Justizvollzugsanstalt verbunden. Denn diese würden in solchen Fällen eine Ausführung unter Aufsicht eines Vollzugsbediensteten erfordern; die hierzu erforderlichen personellen Ressourcen sind regelmäßig nicht gegeben.267 261 OLG Frankfurt, NStZ 1981, 116 f.; Schmülling/Walter, Rechtliche Programme im Konflikt: Resozialisierung junger Ausländer unter den Bedingungen des Ausländerrechts, StV 1998, 313 (319). 262 Auch im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die Teilnahme an einer Erwerbsarbeit für Strafgefangene zumeist ein Mindestmaß an Kenntnis der Landessprache erfordert. Dadurch sind ausländische Strafgefangene häufig von der (ohnehin raren) Möglichkeit zu arbeiten ausgeschlossen, van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel, Chapter 1: Comparative overview, Conclusions and Recommendations, in: dies. (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007), S. 5 (23 f.). 263 Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung (2004), S. 75 f. 264 Wenn ein Ausländer den Vorschriften des BtMG zuwider ohne Erlaubnis Betäubungsmittel anbaut, herstellt, durchführt oder ausführt, veräußert, an einen anderen abgibt oder in sonstiger Weise in Verkehr bringt oder mit ihnen handelt oder wenn er zu einer solchen Handlung anstiftet oder Beihilfe leistet, so liegt nach § 54 Nr. 3 AufenthG ein Anlassfall für eine Regelausweisung nach dem Ausländergesetz vor. 265 Siehe § 35 BtMG, der die Zurückstellung der Strafvollstreckung zugunsten einer der Rehabilitation dienenden Behandlung ermöglicht. Zur Frage von Therapie statt Strafe aus rechtlicher und medizinischer Sicht einschließlich empirischer Untersuchungen und unter Berücksichtigung auch von Kostenaspekten vgl. Soyer/Schumann (Hrsg.), Therapie statt Strafe. Gesundheitsbezogene Maßnahmen und Suchtmittel(straf)recht (2012), anhand der Situation in Österreich. 266 Schlebusch, Drogenabhängige Ausländer im Jugendstrafvollzug – Psychosoziale Hintergründe, Therapiechancen und Folgerungen für die Suchtberatung, ZfStrVo 1999, 15 (19). 267 Vgl. Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung (2004), S. 73 f.
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Der Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten hat einen wesentlichen resozialisierenden Einfluss auf die Gestaltung des Gefängnisaufenthaltes. So kann durch die Arbeit im Gefängnis Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung nach der Haftentlassung erworben und so die Reintegrationschancen verbessert werden.268 Häufig haben die an der Arbeit teilnehmenden Gefangenen auch im Übrigen erweiterte Möglichkeiten.269 f) Entlassungsvorbereitung Der gemäß § 456a StGB mögliche Vollstreckungsverzicht bei Ausweisung schließt nichtdeutsche Gefangene häufig vom Zugang zu Bildungsangeboten oder therapeutischen Maßnahmen aus, da nicht festgestellt werden kann, ob der Gefangene bis zum Abschluss der Maßnahme noch in Haft sein wird.270 § 456a Abs. 1 StPO ist ein Hindernis für den Zugang auch zu solchen resozialisierenden Maßnahmen, die unabhängig vom Aufenthaltsort nach Haftentlassung eine soziale Integration erleichtern könnten. Denn therapeutische Effekte sowie berufsqualifizierende Maßnahmen und sonstige Weiterbildung können auch dann von Nutzen sein, wenn der Haftentlassene sich in eine andere Gesellschaft als die Deutschlands integrieren muss. Die Beschränkung des Fokus des Resozialisierungszieles auf eine Integration in Deutschland überzeugt nicht, sieht man das Resozialisierungsziel als Ausfluss der durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde, die gerade kein bloßes Deutschenrecht, sondern Menschenrecht ist und als solches alle Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes berechtigt. Auch die Unsicherheit, ob und wann eine Maßnahme nach § 456a StPO erfolgen wird, vermag den Ausschluss von resozialisierenden Maßnahmen nicht logisch zwingend zu begründen. Denn zum einen ist jedenfalls der Zeitpunkt einer solchen Maßnahme durch die entsprechenden Richtlinien für den Regelfall näher konkretisiert. Zum anderen wird auch die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung bei im Inland Ansässigen unter Aussetzung des Strafrests zur Bewährung in der Regel nicht als Argument gegen resozialisierende Maßnahmen ins Feld geführt. Von der Möglichkeit des Vollstreckungsverzichts gemäß § 456a StGB wird nach der Studie von Rieder-Kaiser bei 30% der nichtdeutschen Gefangenen Ge-
268 § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB III; näher dazu sowie zu den sonstigen sozialversicherungsrechtlichen Aspekten der Haft Laubenthal, Strafvollzug6 (2011), Rn. 479 ff. 269 Gerade ausländische Gefangene können auf das Einkommen angewiesen sein, um den Kontakt mit der Heimat finanzieren zu können, sich aber etwa auch ein Fernsehgerät mieten oder zusätzliche Nahrung und Hygienebedarf kaufen zu können, vgl. van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel, Chapter 1: Comparative overview, Conclusions and Recommendations, in: dies. (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007), S. 5 (24). 270 Laubenthal, Strafvollzug6 (2011), Rn. 334.
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brauch gemacht.271 Sie bildete damit nach der Entlassung nach Vollverbüßung (54,3%) die zweithäufigste Entlassungsform bei dieser Gefangenengruppe.272 g) Systemische Resozialisierungshindernisse Auf der Ebene der praktischen Strafvollzugsverwaltung zeigt sich, dass sowohl ein geringer als auch ein hoher Anteil von Ausländern an der Haftpopulation, prozentual sowie in absoluten Zahlen ausgedrückt, spezifische Gefahren mit sich bringt: Staaten mit einem geringen Prozentsatz oder einer geringen absoluten Zahl an ausländischen Inhaftierten verfügen oftmals nicht über hinreichende Politiken und Programme, welche die besonderen Bedürfnisse der ausländischen Inhaftierten berücksichtigen. Staaten mit einer relativ oder absolut betrachtet großen Population an ausländischen Inhaftierten laufen hingegen Gefahr, Maßnahmen, welche spezifisch auf die ausländischen Inhaftierten zugeschnitten sind, nicht mehr ordnungsgemäß anzuwenden.273 4. Formalgesetzliche Gleichbehandlung und faktische Differenzierung Zwar ist festzustellen, dass die deutschen Strafvollzugsgesetze nicht ausdrücklich, also unmittelbar, zwischen deutschen und nichtdeutschen Strafgefangenen oder aber danach unterscheiden, ob sich der gewöhnliche Aufenthaltsort eines Strafgefangenen im In- oder Ausland befindet.274 Vielmehr sind die Strafvollzugsgesetze auf alle in ihrem jeweiligen sachlichen, personalen und territorialen Geltungsbereich Inhaftierten anzuwenden. Trotz formaler Gleichbehandlung findet allerdings eine mittelbare Differenzierung dergestalt statt, das bestimmte Tatbestände des Strafvollzugsrechts, insbesondere in ihrer Auslegung durch die Vollzugsrichtlinien, gerade für resozialisierende Vollzugsmaßnahmen und -erleichterungen an tatsächliche Voraussetzungen anknüpfen, die regelmäßig nur bei einem solchen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland vorliegen, von dem davon ausgegangen werden kann, er werde auch nach Haftentlassung fortbestehen. Obwohl die gesetzliche Vorgabe, den Strafgefangenen zu einem straffreien Leben in sozialer Verantwortung zu befähigen, für ausländische Inhaftierte ebenso wie für einheimische Strafgefangene gilt und die 271 Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung (2004), S. 79, Tabelle 20 (277/922). 272 Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung (2004), S. 79, Tabelle 20 (501/922). 273 Casale, Foreword, in: van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007), S. 1. 274 Laubenthal, Strafvollzug6 (2011), Rn. 334; dies gilt, soweit ersichtlich, für alle bereits erlassenen Landesstrafvollzugsgesetze und den von neun Bundesländern gemeinsam erarbeiteten Musterentwurf eines Landesstrafvollzugsgesetzes v. 23.08.2011.
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Strafvollzugsgesetze keine Differenzierung zwischen deutschen und nichtdeutschen Strafgefangenen vornehmen, kommen daher in der Praxis bedeutende Teile der Strafvollzugsgesetze für viele ausländische Inhaftierte nicht zur Anwendung. Dies bedeutet eine faktische Benachteiligung im Hinblick auf das Erreichen des Resozialisierungsziels.275 In Umsetzung der Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz erfahren diese Gefangenen im Vergleich zu Häftlingen deutscher Staatsangehörigkeit häufig eine stärkere Einschränkung der persönlichen Freiheit. Zu einem ähnlichen Befund kommt die Studie von van Kalmthout, Hofstee-van der Meulen und Dünkel, welche die Haftregimes in 25 Mitgliedstaaten der EU einschließlich der Bundesrepublik Deutschland untersucht haben.276 Danach werden grundsätzlich keine Sonderregelungen für ausländische Gefangene im Hinblick auf die Lebensbedingungen, den Empfang und die Aufnahme, Arbeit, Unterricht, Training, Essen, Religion oder einen anderen in der Studie untersuchten Aspekt getroffen. Jedoch ist es manchmal gerade das Fehlen solcher speziellen Regelungen, welches zu einer Chancenungleichheit ausländischer Gefangener führt.277 II. Quantitative Vollzugsbelastungen, Potential der Europäischen Vollstreckungsanordnung und deutsche Vollstreckungshilfepraxis In vielen europäischen Staaten waren stetig steigende Gefangenenzahlen und die Überfüllung der Gefängnisse seit der Jahrtausendwende ein drängendes und auch in der Öffentlichkeit viel diskutiertes Thema.278 Vgl. Laubenthal, Strafvollzug6 (2011), Rn. 334. van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel, Chapter 1: Comparative overview, Conclusions and Recommendations, in: dies. (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007), S. 5 (18). Von den heutigen Mitgliedstaaten sind lediglich die erst zum 01.01.2007 beigetretenen Staaten Bulgarien und Rumänien nicht einbezogen. Zu beachten ist, dass für die Studie nicht nur der Umgang mit Strafhätftlingen, sondern auch mit solchen Häftlingen untersucht wurde, die als Asylwerber oder illegal Aufhältige inhaftiert waren. Soweit möglich wurde jedoch unterschieden zwischen a) aufgrund strafprozessualer bzw. strafrechtlicher Regelungen Inhaftierten mit ausländischer Staatbürgerschaft, die nach Haftentlassung im Haftstaat verbleiben oder b) in ihren Heimatstaat oder einen Drittstaat abgeschoben oder ausgeliefert werden, und c) Ausländern, die aufgrund verwaltungsrechtlicher Bestimmungen (Aufenthaltsrecht) inhaftiert waren; ebd. S. 7. 277 van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel, Chapter 1: Comparative overview, Conclusions and Recommendations, in: dies. (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007), S. 5 (18). 278 Dünkel/Morgenstern, Einleitung, in: Dünkel/Lappi-Seppälä/Morgenstern/van Zyl Smit (Hrsg.), Kriminalität, Kriminalpolitik, strafrechtliche Sanktionenpraxis und Gefangenenraten im europäischen Vergleich, Bd. 1 (2010), S. 3 mit entsprechenden Pressezitaten. Vgl. das Interview des österreichischen Justizministers Böhmdorfer mit dem Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“, Heft 3/2004, S. 86. Dieser setzte sich im Ja275 276
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Im Januar 2005 haben Österreich, Finnland und Schweden den in der vorliegenden Arbeit in seiner schließlich verabschiedeten Form zu untersuchenden Entwurf eines Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung und die Überstellung verurteilter Personen zwischen den Mitgliedstaaten der EU vorgelegt.279 Dieser zielte auf die Überstellung bereits zu einer freiheitsentziehenden Sanktion Verurteilter in den Staat der Staatsangehörigkeit bzw. des ständigen Wohnsitzes ab, verbunden mit einer erweiterten Verpflichtung des ersuchten Staates zur Anerkennung der Verurteilung und Übernahme des Strafvollzugs. Sowohl der (zumindest zeitliche) Entstehungszusammenhang des Rahmenbeschlusses als auch die Frage nach seiner Zielsetzung und der Verhältnismäßigkeit, eine solche Maßnahme auf Unionsebene zu ergreifen, machen es notwendig, die Frage des Ausländeranteils an der Haftbevölkerung näher zu untersuchen.280 Dabei wird in einem ersten Schritt auf Daten zur Situation in der Bundesrepublik Deutschland zurückgegriffen. Im Weiteren werden, soweit verfügbar, diesen vergleichend Ergebnisse europaweiter Studien gegenübergestellt. Im Mittelpunkt stehen Zahlen zu Unionsbürgern in Haft in einem anderen Mitgliedstaat, denn der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung erfasst nur den Vollstreckungshilfeverkehr zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Dabei bleiben die Zahlen mangels umfassender Erfassung bruchstückhaft. Dennoch können sie einen ersten Eindruck davon vermitteln, in welcher Größenordnung das Problem besteht, dass Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat infolge einer strafrechtlichen Verurteilung inhaftiert sind. Damit wird auch das Anwendungspotential der Europäischen Vollstreckungsanordnung hinterfragt. Die anschließend vorgestellten Zahlen zur Vollstreckungshilfepraxis im Rechtshilfeverkehr der Bundesrepublik Deutschland zeigen hingegen, inwieweit die geltenden Regelungen zur Vollstreckungshilfe genützt werden. Sie geben damit indinuar 2004 dafür ein, dass Österreich auf staatsvertraglicher Grundlage die Errichtung eines Gefängnisses in Rumänien finanziere. Zur Begründung führte er an, Österreichs Gefängnisse seien bis zu 100% überbelegt, Ausländer machten aber landesweit 40% der Straftäter aus, in Wiener Anstalten sogar 60%. Viele Untersuchungshäftlinge seien Rumänen. Daher, so Bohmdörfer, sei beabsichtigt, rumänische Tatverdächtige nach der Beweisaufnahme durch die österreichische Polizei nach Rumänien abzuschieben, die Tat von der dortigen Justiz aburteilen zu lassen. Im Falle des Schuldnachweises solle der Verurteilte eine Haft gemäß österreichischem Strafmaß verbüßen. Auf die Frage, warum Rumänien diesen Plänen zustimmen sollte, verwies Böhmdorfer seinerzeit auf den für 2007 geplanten EU-Beitritt. Der Beitritt bedinge die Geltung derselben rechtsstaatlichen Grundsätze wie in Österreich auch in Rumänien. 279 Ratsdok. 5597/05 v. 24.01.2005; Ratsdok. 5598/05 v. 24.01.2005; ABl. EU 2005 C 105/1. 280 Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich bewusst auf die zusammenfassende Auswertung verfügbarer statistischer Daten. Zu den weitergehenden Anforderungen der Europäisierung des Strafrechts an die kriminologische Forschung vgl. Dannecker, Strafrecht in der Europäischen Gemeinschaft. Eine Herausforderung für Strafrechtsdogmatik, Kriminologie und Verfassungsrecht, JZ 1996, 869 (870 f.).
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ziell Auskunft über deren tatsächliche Leistungsfähigkeit – eine Frage, auf die bei der Prüfung der Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes bei Beschlussfassung über den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung zurückzukommen sein wird.281 1. EU-Ausländeranteil an der Haft- und Gesamtpopulation in der Bundesrepublik Deutschland Mit Stand 31. März 2012 waren in Deutschland 58.073 Personen als Strafgefangene oder Sicherungsverwahrte inhaftiert.282 Davon waren zwar 13.232 der Inhaftierten, damit knapp 23%, entweder Ausländer oder Staatenlose. Im Vergleich dazu betrug der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung in Deutschland zum Stichtag 31. Dezember 2011 etwas mehr als 8%.283 Der Ausländeranteil an der Haftbevölkerung war also fast dreimal so hoch wie an der Wohnbevölkerung. Allerdings hatten lediglich knapp 4% aller Inhaftierten keinen festen Wohnsitz im Inland.284 Die aufgedeckte, aufgeklärte und mit Freiheitsentzug sanktionierte Kriminalität, soweit von Ausländern verübt, wurde also weitestgehend von in 281 So könnte zu fragen sein, ob es dieser Rechtsetzung bedurfte, falls die derzeit geltenden Regelungen bereits hinreichend effektiv sind. Näher zur Frage der Subsidiarität unten Teil 2 Kapitel 1 B. 282 Davon waren lediglich 3.308 Personen (5,7%) weiblichen Geschlechts. Die Gesamtzahl der Inhaftierten setzt sich zusammen aus 51.811 Personen, die eine Freiheitsstrafe verbüßten (einschließlich Jugendstrafe bei Verurteilten, die gem. § 89b JGG aus dem Jugendstrafvollzug ausgenommen sind), 5.796 Personen, die eine Jugendstrafe verbüßten (einschließlich Freiheitsstrafe bei Verurteilten, die gem. § 114 JGG in der Jugendstrafvollzugsanstalt vollzogen wird), und 466 Personen, die sich in Sicherungsverwahrung befanden. Quelle dieser und der folgenden Daten zur Haftpopulation in Deutschland, soweit nicht anders ausgewiesen: Statistisches Bundesamt, Rechtspflege. Strafvollzug – Demographische Daten und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.3. –, Fachserie 10 Reihe 4.1 (2012), S. 13 ff. 283 Wohnbevölkerung: 81.830.839; im Ausländerzentralregister verzeichnete in Deutschland ansässige Ausländer: 6.930.896. Von den ca. 6,9 Millionen in Deutschland ansässigen Personen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit besitzen etwas mehr als ein Drittel die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der EU (2.599.190 Personen/37,5%; davon entfallen 520.159 auf Italien, 468.481 auf Polen, 283.684 auf Griechenland sowie 175.926 auf Österreich) und etwas weniger als ein Drittel die Staatsangehörigkeit eines Kandidatenlandes (1.912.534 Personen/27,6%. Davon besitzen 1.607.161 Personen die türkische Staatsangehörigkeit; diese Gruppe stellt damit weit vor Italien als der größten Gruppe eines EU-Mitgliedstaates den größten einem einzelnen Staat zurechenbaren Ausländeranteil in der Bundesrepublik Deutschland). Eine weitere Million Personen entstammt dem sonstigen europäischen Ausland (997.558 Personen) und die verbleibenden 1,42 Millionen Personen aus Drittstaaten. Quelle der Daten zur Bevölkerungszusammensetzung in Deutschland: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Ausländische Bevölkerung – Ergebnisse des Ausländerzentralregisters 2011, Fachserie 1 Reihe 2 (2012), S. 23 ff. 284 Für 1.413 Personen, also 2,4% der Inhaftierten, war das Bestehen des festen Wohnsitzes im Ausland verzeichnet, weitere 688 Personen bzw. 1,2% hatten entweder keinen festen Wohnsitz oder es lagen keine Angaben zum Wohnsitz vor.
C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential
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Deutschland ansässigen Ausländern begangen. Eine Vollstreckungsüberstellung in den Heimatstaat gegen den Willen des Verurteilten würde in diesen Fällen eine entsprechende ausländerrechtliche Vorentscheidung, sei es die Nichtverlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung oder eine Ausweisungsentscheidung voraussetzen.285 Die Ausgestaltung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung muss daher im Einklang mit den unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechten und deren Begrenzung stehen.286 Da die konzipierte Neuregelung der Vollstreckungshilfe durch den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung allein die Vollstreckungshilfe innerhalb der Europäischen Union betrifft, konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen auf eine Aufschlüsselung der deutschen Haftpopulation nach EU- und Drittstaatsangehörigen bzw. entsprechendem Wohnsitz, um so das Anwendungspotential der Neuregelung im Hinblick auf von Deutschland ausgehende Ersuchen um Vollstreckungsübernahme besser aufzeigen zu können. Zum Stichtag 31. März 2011287 waren 3.964 Personen, damit etwa 7% aller Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten in Deutschland Staatsangehörige eines anderen EU-Mitgliedstaates. Sie stellten knapp 30% aller ausländischen Gefangenen.288 Die Zahl der in Deutschland inhaftierten EU-Ausländer kann jedoch nicht mit dem Anwendungspotential der Europäischen Vollstreckungsanordnung gleichgesetzt werden, sondern wird deutlich dahinter zurückbleiben. Wollte man das reale Anwendungspotential näher eingrenzen, so bedürfte es in einem ersten Schritt einer Unterteilung dieser inhaftierten EU-Ausländer anhand des Wohnsitzkriteriums, um zwischen dem sogenannten Kriminaltourismus und der Kriminalität in Deutschland integrierter EU-Ausländer unterscheiden zu können. Allerdings ist innerhalb der Daten zur Haftpopulation ausländischer Inhaftierter eine solche nähere Unterscheidung nach dem Wohnsitz der inhaftierten ausländischen EUStaatsbürger nicht verfügbar.
285 Zu den Voraussetzungen einer Beendigung des Aufenthaltsrechts für Unionsbürger siehe unten Teil 2 Kapitel 1 E. 286 Siehe dazu unten Teil 1 Kapitel 3 G. und H. sowie Teil 2 Kapitel 1 E. 287 Quelle: Eigene Berechnung auf Grundlage einer Auskunft des Statistischen Bundesamtes v. 10.09.2012. 288 Im Hinblick auf zum Stichtag 31. März 2011 zukünftige oder potentielle Erweiterungen der EU und damit anstehende Erweiterungen des territorialen und personellen Anwendungsbereichs der Europäischen Vollstreckungsanordnung ist zu ergänzen, dass mindestens weitere fast 7% aller Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten Staatsbürger eines EU-Beitrittskandidaten sind, mit dem entweder die Beitrittsverhandlungen bereits abgeschlossen sind oder jedenfalls solche geführt werden. 254 Personen waren kroatische Staatsbürger (Beitritt Kroatiens erfolgte 2013), 3.329 Personen türkische Staatsbürger (Beitrittsverhandlungen werden geführt, Ob und Wann des Beitritts offen) und 466 Personen solche Serbiens (Beitrittsverhandlungen andauernd, Stand Juni 2016).
132
Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit Tabelle 1
Haftpopulation (Strafgefangene/Sicherungsverwahrte) in Deutschland nach Staatsangehörigkeit (Deutschland, EU, Beitrittswerber, sonstige Staaten) zum Stichtag 31. März 2011
Strafgefangene/ Sicherungsverwahrte
Gesamt1
Deutsche2
100% 60.067
77,3% 46.441
Nichtdeutsche StaatsangeUnionsbürger2 hörige eines Beitrittswerbers2 6,6% 3.964
6,7% 4.049
Sonstige2
9,3% 5.613
Quellen: 1 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege. Strafvollzug – Demographische Daten und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.3. –, Fachserie 10 Reihe 4.1 (2011), S. 13; 2 Eigene Berechnung auf Grundlage einer Auskunft des Statistischen Bundesamtes v. 10.09.2012.
Nur eingeschränkt aussagefähig sind die Zahlen der Strafvollzugsstatistik auch für die Frage einer höheren Kriminalitätsbelastung von Ausländern. Auch dies ist für die vorliegende Untersuchung von Interesse, denn die Entstehungsgeschichte der Europäischen Vollstreckungsanordnung ist, wie dargelegt, auch durch die Diskussion um die ,Abschiebung‘ krimineller Ausländer geprägt. Schlussfolgerungen aus dem Vergleich zwischen der erfassten Ausländerkriminalität und dem ausländischen Bevölkerungsanteil auf der einen und der Kriminalität eigener Staatsangehöriger im Verhältnis zu deren Anteil an der Wohnbevölkerung auf der anderen Seite können nur eingeschränkt gezogen werden. Ein wesentlicher Verzerrungsfaktor ist die fehlende Unterscheidung zwischen legal ansässigen, illegal ansässigen und nicht dauerhaft in Deutschland aufhältigen Ausländern. Ein weiterer Verzerrungsfaktor sind die erfassten Kriminalitätsformen, zu denen auch solche gehören, die ausschließlich oder wesentlich nur von Ausländern verwirklicht werden können. Zu denken ist hier an strafbare Verstöße gegen das Aufenthalts- und Fremdenrecht. Der Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu ethnischen Minderheiten und Kriminalität ist noch immer unklar und umstritten. In der Literatur wird zu bedenken gegeben, es sei durchaus anzunehmen, dass die Strafverfolgungsbehörden tendenziell selektiv vorgingen.289 Dienten die bislang vorgestellten Daten einer Annäherung an das Potential möglicher von Deutschland an andere Unionsstaaten gerichteter Ersuchen um 289 Dünkel/Morgenstern, Einleitung, in: Dünkel/Lappi-Seppälä/Morgenstern/van Zyl Smit (Hrsg.), Kriminalität, Kriminalpolitik, strafrechtliche Sanktionenpraxis und Gefangenenraten im europäischen Vergleich, Bd. 1 (2010), S. 3 (14); Waquant, „Bequeme Feinde“, Neue Kriminalpolitik 3/12 (2000), 4 ff.; vgl. aber auch die bei Ashworth, Strafzumessung in Europa, Neue Kriminalpolitik 4/12 (2000), 21 (23 f.) gegebenen objektiven Erklärungsansätze auf Basis zweier Studien betreffend Belgien in dem einen und England/Wales in dem anderen Falle.
C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential
133
Vollstreckungsübernahme, bleibt die Frage nach einer Abschätzung der zu erwartenden an Deutschland gerichteten Ersuchen. Auch dieses Potential möglicherweise an die Bundesrepublik Deutschland zu überstellender Personen ist nur schwer eingrenzbar. Denn die Gesamtzahl der deutschen Staatsangehörigen oder hier ansässigen Unionsbürger, die in einem der anderen EU-Mitgliedstaaten inhaftiert sind, ist den Angaben des Statistischen Bundesamtes nicht zu entnehmen. In der Literatur und Presse finden sich Angaben, nach denen etwa im Jahre 2005 3.100 Deutsche im Ausland kurz- oder längerfristig in Haft saßen.290 Es ist aber von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen, da beispielsweise anzunehmen ist, dass nicht jeder der Inhaftierten die Verständigung der Konsularbehörden wünscht. Mehr als die Hälfte der bekannten im Ausland inhaftierten Deutschen befand sich den zitierten Quellen zufolge in einem anderen EU-Mitgliedstaat in Haft.291 Im Vergleich zu den vorstehend vorgestellten Zahlen zu Ausländern in deutscher Haft muss allerdings klargestellt werden, dass jene Zahlen auf Strafgefangene und Sicherungsverwahrte bezogen waren und insoweit dem Anwendungsbereich der konzipierten Europäischen Vollstreckungsanordnung folgen, während für die zuletzt angegebenen Zahlen davon auszugehen ist, dass jegliche Haftformen, also auch Untersuchungshaft oder etwa Abschiebehaft, umfasst sind. 2. EU-Ausländeranteil an der Haftpopulation in ausgewählten anderen Mitgliedstaaten der EU a) Eigene Berechnungen auf Basis des European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics (2010) Sucht man sich dem gesamteuropäischen Potential der Europäischen Vollstreckungsanordnung zu nähern, so fällt auch hier zunächst die mangelnde Verfügbarkeit umfassender geeigneter Daten auf. Nicht alle Mitgliedstaaten der EU erfassen die Staatsangehörigkeit oder gar den Wohnsitz der Inhaftierten, sei es haftformübergreifend oder gar speziell bezogen auf die nach Verurteilung Inhaftierten. So enthält das European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics in der 2010 aktualisierten Fassung292 lediglich für sechs der damals noch 27 EU-Mitgliedstaaten Angaben zum Anteil der EU-Ausländer an der Gesamtzahl nach strafrechtlicher Verurteilung inhaftierten (EU- und Drittstaats-)Aus-
290 Dünkel/Gensing/Morgenstern, Chapter 10: Germany, in: van Kalmthout/Hofsteevan der Meulen/Dünkel (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007), S. 341 (387), die diese Anzahl für 2004 mit 2.435 Personen beziffern. 291 Explizit wird die Zahl von 657 Deutsche in spanischer Haft, 364 im Vereinigten Königreich, 246 in Frankreich und 150 in Polen benannt. 292 Aebi u. a., European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics4 (2010), S. 291 ff.
134
Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
länder. Die Bandbreite schwankt hier zwischen 2,3% in Griechenland und 48,8% in Finnland.293 Aussagekräftig werden diese Zahlen, wenn man sie mit dem Gesamtausländeranteil an der verurteilten Haftbevölkerung verknüpft. Dieser liegt für Griechenland 43,8% und für Finnland bei 6,7%. Erst jetzt zeigt sich, dass der EU-Ausländeranteil an der verurteilten Haftbevölkerung in Griechenland 1% und in Finnland 3,3% beträgt. In gleicher Weise ermittelt beträgt der EU-Ausländeranteil an den nach strafrechtlicher Verurteilung Inhaftierten für Belgien 9,1%, für Polen 0,05% sowie für Schweden 9,3%. Tatsächlich quantitativ fassbar sind auch diese Zahlen erst, wenn sie mit der Rate der verurteilten inhaftierten Gefangenen je 100.000 Einwohner und sodann mit der Bevölkerungszahl in diesen Staaten verknüpft werden (Tabelle 2). Tabelle 2 EU-Ausländer nach strafrechtlicher Verurteilung in Haft in einem EU-Mitgliedstaat Wohnbevölkerung1
Gefangenen- Anteil der Anteil der EU-Ausländer rate (ausAusländer EU-Ausländer in Haft nach schließlich an Gefange- an der Rate strafrechtlicher Inhaftierung nenrate2 ausländischer Verurteilung nach strafGefangener (absolute Zahl; rechtlicher (ohne Differen- ohne DifferenVerurteilung) zierung nach zierung nach je 100.000 Wohnsitz)2 Wohnsitz)3 2 Einwohner
Belgien
10.511.382
55
38,6%
23,5%
524
Finnland
5.255.580
60
6,7%
48,8%
103
Griechen- 11.125.179 land
65
43,8%
2,3%
73
38.157.055
194
0,4%
12,9%
38
9.047.752
61
27,7%
33,4%
511
Polen Schweden 1
Quellen: Eurostat mit Daten zur Wohnbevölkerung zum Stichtag1. Januar 2006; 2 European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics (2010) mit Daten zur Haftbevölkerung zum Stichtag 1. September 2006; 3 eigene Berechnungen: Hochrechnung der Haftbevölkerung (nach Verurteilung) anhand Gefangenenrate und Wohnbevölkerung; Berechnung des Anteils der EU-Ausländer daran anhand der angegebenen Prozentraten.
Auf Basis dieser Verknüpfungen ergibt sich eine absolute Zahl von 72 statistisch erfassten nach Verurteilung inhaftierten EU-Ausländern in Griechenland zum Stichtag 1. September 2006, in Finnland waren dies 104 Personen, in Bel293 Quelle bzw. Berechnungsgrundlage der folgenden Zahlen Aebi u. a., European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics4 (2010), S. 309 (Tabelle 4.2.3.1.).
C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential
135
gien 526, in Polen 37 und in Schweden 513 Personen. Ein bruchstückhaftes Bild zeichnet sich ab. b) Eigene Berechnungen auf Basis der SPACE-Statistik (2010) Das so gezeichnete Bild wird durch die aktuelle 2010 vorgelegte SPACE-Statistik des Europarates294 weitgehend bestätigt. Diese Statistik erfasst alle Inhaftierten in den EU-Mitgliedstaaten und weiteren Staaten und gibt neben anderem für diese den Gesamt-Ausländeranteil an. Den Ausländeranteil näher aufklärend wird ausgewiesen, welcher Prozentsatz dieser Ausländer sich in Untersuchungshaft befindet. Dies allein ermöglicht jedoch nicht den Umkehrschluss, die weiteren ausländischen Gefangenen befänden sich alle in Strafhaft, denn es käme etwa auch Abschiebehaft in Betracht. Zudem wird keine Differenzierung nach Staatsangehörigkeit der Ausländer in Haft ausgewiesen, so dass die Gruppe der EUAusländer nicht von derjenigen der Drittstaatsangehörigen unterschieden werden kann. Bezieht man jedoch den im European Sourcebook ausgewiesenen Prozentanteil auf die vorliegenden Zahlen, so lässt sich die eingangs vorgenommene Berechnung überprüfen. Wenn etwa für Griechenland für den 1. September 2008 eine Zahl von 5.821 ausländischen Inhaftierten ausgewiesen wird, die nahezu die Hälfte der griechischen Haftbevölkerung von 11.798 Personen stellen (49,3%), so muss zunächst berücksichtigt werden, dass sich etwas mehr als ein Drittel dieser ausländischen Gefangenen (2009; 34,5%) in Untersuchungshaft befanden. Es verbleiben 3.812 ausländische Gefangene. Legt man den anhand der Daten des European Sourcebook zu ermittelnden Anteil von 2,3% EU-Ausländern an der Gesamtzahl von nach strafrechtlicher Verurteilung in Haft befindlichen Ausländern zugrunde, so ergibt sich eine absolute Zahl von 88 EU-Ausländern in Strafhaft in Griechenland zum Stichtag 1. September 2008. Für Belgien ergibt sich auf entsprechendem Berechnungsweg eine Zahl von 100 nach Verurteilung inhaftierten EU-Ausländern und für Polen sind es 37 Personen.295 Ungeachtet einer anhand der vorliegenden Zahlen nicht möglichen weiteren Korrektur nach der Haftform unterstützen die mit der SPACE-Studie vorgelegten Zahlen die am Anfang des Abschnitts ermittelten Ergebnisse durch jedenfalls in vergleichbarer Größenordnung liegende und teils idente Zahlen.
294 Aebi/Delgrande, Council of Europe Annual Penal Statistics. SPACE I Survey 2008 (2010), S. 57 f. (Tabelle 3), PC-CP (2010) 07. 295 Für Schweden fehlt es an einem gesonderten Ausweis der EU-ausländischen Untersuchungshäftlinge, so dass eine vergleichende Berechnung nicht möglich ist.
136
Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit Tabelle 3 EU-Ausländer nach strafrechtlicher Verurteilung in Haft in einem EU-Mitgliedstaat; näherungsweise Vergleichsberechnung Haftbevölkerung insgesamt (absolute Zahl)1
Ausländer Ausländer in Ausländer in EU-Ausländer in Haft UntersuchungsStrafhaft in Strafhaft (absolute haft (absolute (absolute Zahl; Zahl)1 (absolute Zahl)2 näherungsweise Zahl)1 Berechnung)3
Belgien
10.234
4.203
1.670
2.533
595
Finnland
3.531
334
128
206
99
Griechenland
11.798
5.821
2.009
3.812
88
Polen
83.125
539
255
284
37
1
Quellen: Council of Europe Annual Penal Statistics – SPACE I 2008.3, Stichtag 1. September 2008; 2 Eigene Berechnung auf Basis der vorstehenden Daten; 3 eigene Berechnungen unter hilfsweiser Zugrundelegung des im European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics 4 (2010) zum Stichtag 1. September 2006 ausgewiesenen EU-Ausländeranteils in Haft nach strafrechtlicher Verurteilung.
c) Studie „Foreigners in European Prisons“ von van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel (2007) Die bereits angesprochene Studie von van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/ Dünkel zeichnet zwar ein anschauliches Bild von der Situation von Ausländern in Haft. Für die Abschätzung des Anwendungspotentials der Europäischen Vollstreckungsanordnung kann sie jedoch nicht herangezogen werden, obwohl ihr zu entnehmen ist, dass der Anteil inhaftierter Ausländer an der Haftpopulation in den Mitgliedstaaten der EU deutlich unterschiedlich ausfällt und von 0,7% in Polen bis zu 73,4% in Luxemburg reicht. Denn die Studie differenziert bewusst weder zwischen EU-Ausländern und Drittstaatsangehörigen noch zwischen den Haftformen.296 Dies gilt in ähnlicher Weise, wenn der Studie zu entnehmen ist, dass unter Berücksichtigung von Zahlenmaterial für 18 der 27 Mitgliedstaaten in Summe nahezu 23.00 Unionsbürger im Ausland, sei es in einem anderem Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat, inhaftiert sind. Zwar kommt die Studie für die Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten zu dem Ergebnis, dass der größere Teil ihrer im Ausland inhaftierten Staatsbürger in einem anderen EU-Mitgliedstaat inhaf296 Siehe zum Gesamten van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007) S. 70; van Kalmthout/Bahtiyar, Foreigners in European Prisons, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Fremde im Gefängnis – Herausforderungen und Entwicklungen. I. Universitäre Strafvollzugstage in Linz (2007), S. 39 (50).
C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential
137
tiert sind. Lediglich für Portugal, die Slowakei, Spanien, Schweden und das Vereinigte Königreich treffe dies nicht zu. Allerdings differenziert die Studie bei dieser Feststellung weiterhin nicht zwischen den verschiedenen Haftformen und ermöglicht damit keine Aussage zur Größenordnung der potentiell in den Anwendungsbereich der Europäischen Vollstreckungsanordnung fallenden Haftpopulation. d) Erhebungen auf Basis der Integrierten Vollzugsverwaltung für Österreich (2011) Österreich war einer der Mitgliedstaaten, die den Vorschlag für den Rahmenbeschluss über eine Europäische Vollstreckungsanordnung vorgelegt haben. Das starke Interesse Österreichs an der Vollstreckungshilfe erklärt sich anhand des – im Vergleich zu den meisten bislang vorgestellten Zahlen – hohen Anteils an EUAusländern in Haft. Bei 8.816 im Jahresdurchschnitt 2011 in Österreich inhaftierten Personen297 haben mehrere Auswertungen, die im selben Jahr vor der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung auf Basis der Daten der Integrierten Vollzugsverwaltung vorgenommen wurden, stets eine Anzahl von zwischen inhaftierten 1.450 bis 1.500 Personen EU-Ausländern ergeben. Etwa ein Drittel dieser Personen befand sich dabei in Untersuchungshaft, muss also vorliegend außer Betracht bleiben. Umgekehrt hat die Nachfrage bei den österreichischen Konsularbehörden ergeben, dass – soweit bekannt – etwa 150 Österreicher im EU-Ausland inhaftiert sind.298 3. Gegenwärtige Praxis der Vollstreckungshilfe in der Bundesrepublik Deutschland Die bisherigen Überlegungen und Zahlen zielten darauf ab, die mit der Inhaftierung von EU-Ausländern verbundenen quantitativen Vollzugsbelastungen näher zu bestimmen und zugleich das Anwendungspotential der Europäischen Vollstreckungsanordnung zu hinterfragen. Den für Deutschland ermittelten Ergebnissen sollen in diesem Abschnitt die Fallzahlen der bisherigen Vollstreckungshilfepraxis auf Basis der bislang geltenden Rechtsgrundlagen gegenübergestellt werden. Dabei sind die ausgehenden Ersuchen im Lichte der Haftzahlen von Ausländern in Deutschland zu sehen, während die eingehenden Ersuchen zu den Zahlen der nach Deutschland zu überstellenden Personen in Bezug zu setzen sind. Einschränkungen sind jedoch zu machen, wenn die Vollstreckungshilfe allein der Sanktionsdurchsetzung dienen 297 öBMJ, Sicherheitsbericht 2011 Teil II: Bericht über die Tätigkeit der Strafjustiz (2012), S. 86. 298 Der Verfasser dankt Herrn Hon.-Prof. Dr. Fritz Zeder, Leiter der Abt. IV.2 im österreichischen Bundesministerium für Justiz, für die freundliche Auskunft.
138
Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit
soll, also bei ausgehenden Ersuchen dann, wenn die Person schon im ersuchten Staat aufhältig ist; gleiches gilt für eingehende Ersuchen, bei denen sich die verurteilte Person bereits in Deutschland aufhält. a) Von Deutschland ausgehende Ersuchen um Vollstreckungshilfe Die Auslieferungsstatistiken der Jahre 2009299 und 2010300 zeigen, dass durchschnittlich ca. 400 von Deutschland an andere Staaten gerichtete Ersuchen um Vollstreckungshilfe unerledigt sind. Jedes Jahr werden ca. 300 ausgehende Ersuchen erledigt.301 Etwas mehr als die Hälfte aller Ersuchen wird bewilligt, ca. je ein Viertel wird abgelehnt oder auf andere Weise erledigt. Tabelle 4 Aus Deutschland ausgehende Ersuchen um Vollstreckungshilfe, die im Jahre 2010 zum Abschluss gekommen sind Ersuchen gerichtet an
Ersuchen, bei denen das Vollstreckungshilfeersuchen zum Abschluss gekommen ist insgesamt1
davon auf andere Weise2
durch
EU-Mitgliedstaaten Drittstaaten Gesamt
Bewilligung2
Ablehnung2
260 (493) 93%
324 66%
86 17%
83 17%
21 (58) 7%
24 41%
15 26%
19 33%
281 (551) 100%
348 63%
101 18%
102 19%
Quelle: Auslieferungsstatistik 2010, Bundesanzeiger Nr. 30 vom 22.02.2012, Amtlicher Teil, S. 690 (729 f.), eigene Berechnungen. 1 Die erste Zahl benennt die Anzahl der erledigten Ersuchen, die in Klammern gesetzte Zahl die Summe der Bewilligungen, Ablehnungen und Erledigungen auf andere Weise. Die Differenz entsteht durch Mehrfachzählungen eines Ersuchens bei den Erledigungsformen infolge teilweiser Bewilligung, teilweiser Ablehnung bzw. teilweiser Erledigung auf andere Weise. Dies kann vorkommen, wenn sich ein Ersuchen auf mehrere Straftaten bezieht. Die Prozentangaben in dieser Spalte beziehen sich auf die Gesamtzahl der ausgehenden erledigten Ersuchen. 2 Die Prozentangaben in dieser Spalte beziehen sich auf die Gesamtsumme der (Teil-)Erledigungen. Verfälschungen können sich durch ungleichmäßige Verteilungen der Mehrfachzählungen auf die verschiedenen Erledigungsformen ergeben. 299 Die Daten für 2009 basieren auf der Auslieferungsstatistik 2009, Bundesanzeiger Nr. 18, Amtlicher Teil, S. 418 (456 f.). 300 Die Daten für 2010 basieren auf der Auslieferungsstatistik 2010, Bundesanzeiger Nr. 30 v. 22.02.2012, Amtlicher Teil, S. 690 (729 ff.). 301 2010: 281; 2009: 328.
C. Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe und Anwendungspotential
139
Bemerkenswert ist, dass deutlich über 90% dieser erledigten Verfahren solche waren, in denen ein Mitgliedstaat der EU die Vollstreckung übernommen hat. Im Durchschnitt dieser Erledigungen durch andere EU-Mitgliedstaaten wurden etwa ein Drittel der Ersuchen bewilligt, je ein Sechstel abgelehnt oder auf andere Weise erledigt. Anzumerken bleibt, dass in beiden Beobachtungsjahren ca. 40% der erledigten Ersuchen die Niederlande betrafen, gefolgt – mit weitem Abstand – von Italien, Griechenland (nur 2009), Polen und Rumänien. Aufgrund des aliud-Verhältnisses des ausgehenden Ersuchens um Vollstreckungshilfe zum Ersuchen um Auslieferung an die Bundesrepublik Deutschland zum Zwecke der Strafvollstreckung ist von Interesse, dass den erledigten ausgehenden Ersuchen um Vollstreckungshilfe ca. ein Drittel weniger erledigte Ersuchen um Auslieferung an die Bundesrepublik Deutschland zum Zwecke der Strafvollstreckung gegenüberstehen.302 b) An Deutschland gerichtete Ersuchen um Vollstreckungshilfe Den erledigten ausgehenden Ersuchen um Vollstreckungshilfe stehen weniger als halb so viele Einlieferungen zur Vollstreckungshilfe gegenüber. In den Jahren 2009 und 2010 wurden je ca. 120 eingehende Ersuchen um Vollstreckungsübernahme erledigt.303 Knapp drei Viertel von diesen betrafen Ersuchen aus anderen EU-Mitgliedstaaten. Von diesen wurden wiederum ca. 74% bewilligt, Ablehnungen und Erledigungen auf andere Weise halten sich über die Jahre die Waage und kommen auf etwa je ein Achtel. Anders als bei den ausgehenden Ersuchen überwiegen bei den eingehenden Ersuchen diejenigen um Auslieferung zur Strafvollstreckung die Ersuchen um Übernahme der Strafvollstreckung. Es werden mehr als fünfmal soviele Auslieferungsersuchen zur Strafvollstreckung erledigt als Ersuchen um Vollstreckungsübernahme.304 Die Schere klafft noch weiter auseinander, wenn man nur die Ersuchen anderer EU-Mitgliedstaaten betrachtet: Hier werden sieben Mal mehr Ersuchen um Auslieferung zur Strafvollstreckung als Ersuchen um Übernahme der Strafvollstreckung erledigt.305
302 2010: 281 erledigte Ersuchen um Vollstreckungshilfe, 222 Einlieferungsersuchen zur Strafvollstreckung. 2009: 328 erledigte Ersuchen um Vollstreckungshilfe, 237 Einlieferungsersuchen zur Strafvollstreckung. 303 2010: 120; 2009: 125. 304 2010: 120 erledigte Ersuchen um Vollstreckungsübernahme, 642 erledigte Ersuchen um Auslieferung zur Strafvollstreckung. 2009: 125 erledigte Ersuchen um Vollstreckungsübernahme, 676 erledigte Ersuchen um Auslieferung zur Strafvollstreckung. 305 2010: 87 erledigte Ersuchen um Vollstreckungsübernahme, 582 erledigte Ersuchen um Auslieferung zur Strafvollstreckung. 2009: 87 erledigte Ersuchen um Vollstreckungsübernahme, 623 erledigte Ersuchen um Auslieferung zur Strafvollstreckung.
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Teil 1, Kap. 1: Rechtliche Einordnung, Ziele und Notwendigkeit Tabelle 5 In Deutschland eingehende Ersuchen um Vollstreckungshilfe, die im Jahre 2010 zum Abschluss gekommen sind
Ersuchen eingehend aus
Ersuchen, bei denen das Vollstreckungshilfeersuchen zum Abschluss gekommen ist insgesamt1
davon auf andere Weise2
durch Bewilligung2
Ablehnung2
EU-Mitgliedstaaten
87 (152) 72,5%
112 74%
26 17%
14 9%
Drittstaaten
33 (64) 27,5%
43 67%
5 8%
16 25%
120 (216) 100%
155 72%
31 14%
30 14%
Gesamt
Quelle: Auslieferungsstatistik 2010, Bundesanzeiger Nr. 30 vom 22.02.2012, Amtlicher Teil, S. 690 (735), eigene Berechnungen. 1 Die erste Zahl benennt die Anzahl der erledigten Ersuchen, die in Klammern gesetzte Zahl die Summe der Bewilligungen, Ablehnungen und Erledigungen auf andere Weise. Die Differenz entsteht durch Mehrfachzählungen eines Ersuchens bei den Erledigungsformen infolge teilweiser Bewilligung, teilweiser Ablehnung bzw. teilweise Erledigung auf andere Weise. Dies kann vorkommen, wenn sich ein Ersuchen auf mehrere Straftaten bezieht. Die Prozentangaben in dieser Spalte beziehen sich auf die Gesamtzahl der eingehenden erledigten Ersuchen. 2 Die Prozentangaben in dieser Spalte beziehen sich auf die Gesamtsumme der (Teil-)Erledigungen. Verfälschungen können sich durch ungleichmäßige Verteilungen der Mehrfachzählungen auf die verschiedenen Erledigungsformen ergeben.
III. Zusammenfassende Schlussfolgerungen 1. Es hat sich gezeigt, dass der Strafvollzug an nicht integrierten Ausländern trotz formalgesetzlicher Gleichbehandlung wesentlich erschwert ist; der Strafvollzug droht zum reinen Verwahrvollzug zu werden. Es besteht daher ein tatsächliches Bedürfnis nach transnationaler Vollstreckungshilfe. 2. Darüber hinaus hat sich allerdings auch gezeigt, dass einerseits kaum statistische Daten zum Strafvollzug an EU-Bürgern und aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen in einem anderen EU-Mitgliedstaat verfügbar sind. Soweit Daten vorliegen, konnte deutlich gemacht werden, dass das Anwendungspotential der Europäischen Vollstreckungsanordnung zwischen den Mitgliedstaaten erheblich unterschiedlich ist.
A. Völkervertraglich geregelte Vollstreckungshilfe
141
Kapitel 2
Rechtsgrundlagen der Vollstreckungshilfe vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung 1. Im vorliegenden zweiten Kapitel werden die für die Bundesrepublik in Geltung befindlichen Rechtsgrundlagen einer innereuropäischen Vollstreckungshilfe näher untersucht. Dabei steht zunächst die vertragliche Vollstreckungshilfe im Mittelpunkt der Untersuchung, bevor anschließend die Regelungen des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen näher untersucht werden. 2. Neben den Voraussetzungen einer Vollstreckungshilfe einschließlich der Fragen nach dem Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit und der nach einem Zustimmungserfordernis des Verurteilten liegt der Fokus der Untersuchung insbesondere auf der Begrenzung der Vollstreckungshilfeleistung seitens der Bundesrepublik Deutschland durch den ordre public. Der anwendbare ordre public-Standard wird zu diskutieren sein.
A. Völkervertraglich geregelte Vollstreckungshilfe Die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckungsübernahme freiheitsentziehender Sanktionen ist bislang durch multilaterale internationale und regionale sowie bilaterale Übereinkommen und durch Einzelfallentscheidungen geprägt. Die in Europa wichtigsten multilateralen Übereinkommen werden im Folgenden vorgestellt und im Hinblick auf ihren Anwendungsbereich, die Frage nach dem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit, den Umgang mit der verhängten Strafe und das anwendbare Strafvollstreckungsrecht, das Initiativrecht für eine Vollstreckungsübertragung, den Verpflichtungsgrad der beteiligten Staaten sowie das Zustimmungserfordernis oder sonstige Rechte des Betroffenen untersucht. Zudem wird zu erörtern sein, ob die vertraglichen Regelungen eine ordre public-Grenze enthalten. Ist dies nicht der Fall, bleibt zu fragen, wie diese dennoch berücksichtigt werden kann. I. Europaratsübereinkommen zur Überstellung verurteilter Personen (1983) Das bislang bedeutsamste Vollstreckungshilfeübereinkommen ist das bereits angesprochene Übereinkommen des Europarates über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983, SEV-Nr. 112,306 das im Rahmen des Europa306 Ausführlich dazu Weber, Überstellung in den Heimatstaat. Ein Konzept wider den Strafvollzug in der Fremde. Zugleich ein Beitrag zum Recht der internationalen Voll-
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Teil 1, Kap. 2: Rechtsgrundlagen vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses
rates aufgelegt worden ist und als sogenannte Mutterkonvention sowohl durch das Zusatzprotokoll des Europarates und Kapitel 5 SDÜ als auch durch das EGVollstrÜbk ergänzt und modifiziert wird. Der Abschluss des Europaratsübereinkommens zu Überstellung verurteilter Personen war Teil einer weiterreichenden Bewegung zu dieser Zeit, die einen Gefangenentransfer aus humanitären bzw. Resozialisierungserwägungen unterstützte.307 1. Anwendungsbereich a) Geltung für alle Mitgliedstaaten der EU und weitere Staaten Das Überstellungsübereinkommen des Europarates ist ein regional durch den Europarat erarbeitetes Übereinkommen,308 das jedoch auch Nichtmitgliedern des Europarates offensteht.309 In seinem räumlichen Anwendungsbereich geht das Übereinkommen daher weit über Europa hinaus. Mittlerweile haben 65 Staaten weltweit das Übereinkommen ratifiziert, und es ist für diese, unter ihnen alle Mitgliedstaaten des Europarates außer Monaco, somit alle 28 Mitgliedstaaten der EU, aber auch die USA und Kanada, in Kraft getreten.310 b) Nur Überstellungsfälle Das Übereinkommen regelt die Überstellung einer Person, die sich wegen einer freiheitsentziehenden Strafe oder Maßnahme, die von einem Gericht mit rechtskräftiger Entscheidung wegen einer Straftat für eine bestimmte Zeit oder auf unbestimmte Zeit verhängt worden ist, in Haft befindet. Die sogenannte Mutterkonvention umfasst nicht die Vollstreckungsübernahme einer Strafe gegenüber einem Verurteilten, der aus dem Urteilsstaat geflohen ist, durch den Aufenthaltsstaat. streckungshilfe in Strafsachen (1997); siehe auch Mix, Die Vollstreckungsübernahme im Internationalen Strafrecht (2003), S. 60 ff. 307 Płachta, Transfer of Prisoners under International Instruments and Domestic Legislation (1993), S. 206; Kress/Sluiter, Imprisonment, in: Cassese/Gaeta/Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court, Vol. 2 (2002), S. 1766; van Zyl Smit, International imprisonment, International and Comparative Law Quarterly 54 (2005), 357 (365); van Zyl Smit/Spencer, The European dimension to the release of sentenced prisoners, in: Padfield/van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Release from Prison. European policy and practice (2010), S. 9 (22). 308 Das Übereinkommen wurde durch einen auf Anregung des Europäischen Ausschusses für Strafrechtsfragen (CDPC) im Jahre 1979 eingesetzten Sachverständigenausschuss für ausländische Staatsangehörige im Strafvollzug erarbeitet. Näher zur Entstehungsgeschichte Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), II C ÜberstÜbk. Rn. 3 ff. 309 Vgl. Art. 19 ÜberstÜbk, der einen entsprechenden Beschluss des Ministerkomitees des Europarates voraussetzt. 310 Stand: 19.05.2016. Zuletzt ratifiziert durch die Mongolei (07.04.2016; Inkrafttreten 01.08.2016).
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c) Übernahme eigener Staatsangehöriger und Möglichkeit zur Erweiterung auf gleichzustellende Personen Inhaltlich zielt das Übereinkommen grundsätzlich auf die Überstellung in den Staat der Staatsangehörigkeit als Heimatstaat ab, da Voraussetzung der Überstellung ist, dass der Verurteilte Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaates ist.311 Allerdings eröffnet das Übereinkommen jedem Staat die Möglichkeit, durch eine an den Generalsekretär des Europarates gerichtete Erklärung für seinen Bereich den Begriff „Staatsangehöriger“ im Sinne des Übereinkommens selbst zu bestimmen.312 Damit sollte es ermöglicht werden, den Begriff des Staatsangehörigen in einem weiten Sinne zu verstehen und neben eigenen Staatsangehörigen im eigentlichen rechtlichen Sinne auch andere Personen einzubeziehen, beispielsweise solche, die staatenlos sind oder zwar die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates besitzen, dem potentiellen Vollstreckungsstaat jedoch durch dauernden Aufenthalt verbunden sind.313 2. Überstellungsvoraussetzungen a) Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit Im oben dargestellten Anwendungsbereich regelt das Überstellungsübereinkommen die Möglichkeit der Überstellung zur Strafvollstreckung in einen anderen Staat als den Urteilsstaat unter der Voraussetzung, dass die Handlungen oder Unterlassungen, derentwegen die Sanktion verhängt worden ist, nach dem Recht des Vollstreckungsstaates eine Straftat darstellen oder bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts, also wenn sie in seinem Hoheitsgebiet begangen worden wären, darstellen würden.314 Es besteht also das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit. b) Erfordernis der Zustimmung des Verurteilten Zudem ist die Vollstreckungsüberstellung auf Grundlage dieses Übereinkommens nur zulässig, wenn die verurteilte Person oder, sofern einer der beiden Staaten es in Anbetracht des Alters oder des körperlichen oder geistigen Zustands der
311
Art. 3 Abs. 1 lit. a ÜberstÜbk. Art. 3 Abs. 4 ÜberstÜbk. Die Vorschrift lehnt sich an Art. 6 Abs. 1 lit. b des Auslieferungsübereinkommens des Europarates an. 313 ETS No. 112 Explanatory Report, para. 20, http://conventions.coe.int/Treaty/EN/ reports/html/112.htm (06.10.2012); Ministerratsempfehlung Rec. (88) 13 v. 22.09.1988; vgl. auch die Erläuterung der Denkschrift der Bundesregierung, wiedergegeben bei Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), C II Art. 3 Rn. 8. 314 Art. 3 Abs. 1 lit. e ÜberstÜbk. 312
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verurteilten Person für erforderlich erachtet, ihr gesetzlicher Vertreter ausdrücklich zustimmt.315 Der Explanatory Report zum Übereinkommen stellt hierzu klar, dass dieses Zustimmungserfordernis „eines der grundlegenden Elemente des durch das Übereinkommen geschaffenen Überstellungsmechanismus darstellt. Es beruht auf dem Hauptzweck des Übereinkommens, das die Resozialisierung von Straftätern fördern soll: Die Überstellung eines Gefangenen ohne dessen Zustimmung wäre für die Resozialisierung kontraproduktiv.“ 316 Der Explanatory Report stellt zwar keine verbindliche Auslegung des Konventionstextes dar. Er ist jedoch auf Basis der Beratungen des Expertenausschusses, der den Übereinkommensentwurf erarbeitet hat, erstellt und dem Ministerkomitee des Europarates, aufgrund dessen Beschlusses das Übereinkommen zur Unterzeichnung aufgelegt worden ist, zum besseren Verständnis des Entwurfs übermittelt worden.317 Er ist daher im Rahmen der historischen, aber auch der teleologischen Auslegung der Bestimmungen des Übereinkommens heranzuziehen und prägt das Ergebnis dieser Auslegung, soweit keine abweichenden Materialien vorliegen. Für die Achtung des Zustimmungserfordernisses plädiert auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates in ihrer Empfehlung 1527 (2001), in der sie dem Ministerkomitee rät, gegenüber den Vertragsstaaten des Übereinkommens darauf zu drängen, dass diese das Zustimmungsrecht des Gefangenen respektieren. Damit solle einer zwangsweisen Überstellung, die dem humanitären Geist des Übereinkommens zuwiderlaufe, vorgebeugt werden.318 c) Verbleibende Mindestverbüßungsdauer Eine Überstellung nach dem Europaratsübereinkommen setzt grundsätzlich voraus, dass zum Zeitpunkt des Eingangs des Ersuchens um Überstellung noch mindestens sechs Monate der verhängten Sanktion zu vollziehen sind oder dass die Sanktion von unbestimmter Dauer ist.319 In Ausnahmefällen können aber die Vertragsparteien auch eine kürzere verbleibende Zeit als hinreichend erachten.320
315
Art. 3 Abs. 1 lit. d ÜberstÜbk. „[. . .] constitutes one of the basic elements of the transfer mechanism set up by the convention. It is rooted in the convention’s primary purpose to facilitate the rehabilitation of offenders: transferring a prisoner without his consent would be counter-productive in terms of rehabilitation.“, ETS No. 112 Explanatory Report, para. 23. 317 ETS No. 112 Explanatory Report, para. 1. 318 Parliamentary Assembly Rec. 1527 (2001), para. 9 lit. i. 319 Art. 3 Abs. 1 lit. c ÜberstÜbk. 320 Art. 3 Abs. 2 ÜberstÜbk. 316
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3. Initiativrecht von Urteils- und potentiellem Vollstreckungsstaat; Anregungsrecht des Verurteilten a) Regelung im Überstellungsübereinkommen Im Anwendungsbereich des Überstellungsübereinkommens können sowohl der Urteils- als auch der Vollstreckungsstaat an den jeweils anderen das Ersuchen um Überstellung richten.321 Die verurteilte Person kann sowohl gegenüber dem Urteils- als auch gegenüber dem Vollstreckungsstaat den Wunsch äußern, nach diesem Übereinkommen überstellt zu werden; wird der Wunsch gegenüber dem Urteilsstaat geäußert, so teilt der Urteilsstaat dies dem Vollstreckungsstaat mit,322 so dass dieser wiederum ein entsprechendes Ersuchen stellen kann. Der Verurteilte hat damit eine Anregungsmöglichkeit, eine Art hinkendes Initiativrecht. b) Resozialisierungsgebot begründet Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung durch deutsche Vollstreckungsbehörde Für die Anwendung des Übereinkommens durch die deutschen Behörden hat das BVerfG klargestellt, dass zwar kein Anspruch des Verurteilten auf Stellung eines Ersuchens besteht, wohl aber aus dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf Resozialisierung ein Anspruch des Verurteilten abzuleiten sei, der darauf gerichtet ist, dass die Vollstreckungsbehörde pflichtgemäß ihr Entscheidungsermessen darüber ausübt, ob sie beim Bundesministerium der Justiz als Bewilligungsbehörde die Stellung eines Überstellungsersuchens anregt. Die Vollstreckungsbehörde muss daher die Grundrechtsposition des Verurteilten bei ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigen.323 Die Bewilligungsbehörde hingegen würdigt in ihrer Entscheidung im Rahmen des zweistufigen Verfahrens allein die außen- und allgemeinpolitischen Aspekte, die dem Vollstreckungshilfeverkehr als einer Form der Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten zukommen.324 4. Entscheidung des ersuchten Staates a) Offene Entscheidungsmöglichkeit des ersuchten Staates nach Überstellungsübereinkommen Das Überstellungsübereinkommen determiniert nicht die Entscheidung des ersuchten Staates – der sowohl der Urteils- als auch der Vollstreckungsstaat sein 321
Art. 2 Abs. 3 ÜberstÜbk. Art. 4 Abs. 2 ÜberstÜbk. 323 BVerfGE 96, 100 (115 ff.). Zuvor noch ein subjektives Recht des Verurteilten auf ermessensfehlerfreie Prüfung ablehnend OLG Bamberg, NStZ 1985, 224; OLG Stuttgart, StV 1990, 123 ff. 324 BVerfGE 96, 100 (117). 322
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kann, da beiden auch das Initiativrecht zukommt. Das Übereinkommen schafft keine Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Vollstreckungsüberstellung, sondern soll lediglich eine vertragliche Grundlage für eine Überstellung bieten.325 b) Resozialisierungsgebot begründet Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung durch deutsche Vollstreckungsbehörde Ist das Vollstreckungsersuchen an Deutschland gerichtet, so muss die zuständige Behörde spiegelbildlich zur zuvor angesprochenen Entscheidung über die Stellung eines Überstellungsersuchens den verfassungsrechtlichen Anspruch des Verurteilten auf Resozialisierung in ihrer Ermessensentscheidung berücksichtigen. Die Resozialisierungschancen bilden jedoch nicht das alleinige Abwägungskriterium. Vielmehr hat die Bundesrepublik Deutschland bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde am 31. Oktober 1991 eine Erklärung abgegeben, dass sie in Übereinstimmung mit der Präambel des Übereinkommens326 davon ausgehe, die Anwendung des Übereinkommens solle nicht nur die soziale Wiedereingliederung verurteilter Personen fördern, sondern auch den Interessen der Rechtspflege dienen.327 Daher werde die Bundesrepublik die Entscheidung über die Überstellung von Verurteilten in jedem Einzelfall auf der Grundlage aller ihrem Strafrecht zugrundeliegenden Strafzwecke treffen.328 5. Keine Regelung von Versagungsgründen oder ordre public-Klausel; Erklärung der Bundesrepublik Deutschland über Grenzen der Vollstreckungsübernahme Wo es zwar eine Verpflichtung zur weitestgehenden Zusammenarbeit der Vertragsparteien auf der Grundlage des Übereinkommens,329 jedoch keine vertragliche Verpflichtung zur Übernahme durch den ersuchten Staat gibt, bedarf es auch keiner vertraglichen Regelung zur Begrenzung einer solchen Verpflichtung. Anders als bei einer grundsätzlich zwingenden Vollstreckungsübernahme, wie sie der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung vorsieht,330 enthält das Überstellungsübereinkommen folgerichtig keine enumerativen Gründe für eine Versagung der Vollstreckungsübernahme bzw. keine ordre public-
325
Mix, Die Vollstreckungsübernahme im Internationalen Strafrecht (2003), S. 64. Der dritte Erwägungsgrund lautet: „[. . .] in der Erwägung, daß diese Zusammenarbeit den Interessen der Rechtspflege dienen und die soziale Wiedereingliederung verurteilter Personen fördern sollte [. . .]“. 327 BGBl. 1992 II S. 98. 328 BGBl. 1992 II S. 98. 329 Art. 2 Abs. 1 ÜberstÜbk. 330 Näher dazu unten Teil 1 Kapitel 3 E.IV. 326
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Klausel. Stehen innerstaatlich ordre public-Erwägungen einer Vollstreckungsübernahme durch den ersuchten Staat entgegen, so muss er jedoch das Ersuchen ablehnen.331 Die Bundesrepublik hat auch zu dieser Frage eine Erklärung abgegeben, in der klargestellt ist, dass die Vollstreckung einer Sanktion nur übernommen wird, wenn die Sanktion in einem Verfahren verhängt wurde, welches im Einklang mit der EMRK – soweit für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft – steht.332 Ferner darf wegen derselben Tat gegen den Verfolgten in der Bundesrepublik Deutschland noch kein Urteil oder eine entsprechende Entscheidung mit Rechtswirkung ergangen sein (ne bis in idem-Vorbehalt).333 Voraussetzung ist zudem, dass nach deutschem Recht – gegebenenfalls unter sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts – noch keine Vollstreckungsverjährung eingetreten ist bzw. wäre.334 In der Literatur wird geschlussfolgert, bei der Anwendung des Überstellungsübereinkommens sei der anwendbare deutsche ordre public die EMRK.335 6. Umgang mit der Strafe Übernimmt der ersuchte Staat die Vollstreckung, so überlässt ihm das Überstellungsübereinkommen die Wahl zwischen der unveränderten Vollstreckung der im Urteilsstaat verhängten Sanktion (Adoption)336 und der Umwandlung der Sanktion (Exequatur).337 Dies gilt auch dann, wenn der Urteilsstaat mit der Vollstreckung der Sanktion bereits begonnen hat. Den Vertragsparteien ist es erlaubt, eine dieser Strategien auszuschließen.338 Macht ein Vertragsstaat von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, so muss der Vollstreckungsstaat den Urteilsstaat darüber informieren, ob er eine Exequaturentscheidung oder die bloße Adoption der verhängten Strafe in Betracht zieht. a) Übernahme der im Urteilsstaat verhängten Sanktion durch Adoption Im Falle der bloßen Übernahme der weiteren Vollstreckung der verhängten Sanktion durch Adoption ist der Spielraum einer Anpassung an das Recht des Vollstreckungsstaates weitaus geringer als in einem Exequaturverfahren. Der
331 332 333 334 335 336 337 338
Siehe dazu unten C.II.2., in diesem Kapitel. BGBl. 1992 II S. 98, Erklärung lit. a zu Art. 3 Abs. 1 ÜberstÜbk. BGBl. 1992 II S. 98 f., Erklärung lit. b zu Art. 3 Abs. 1 ÜberstÜbk. BGBl. 1992 II S. 98 f., Erklärung lit. c zu Art. 3 Abs. 1 ÜberstÜbk. Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte (1994), S. 192. Art. 9 Abs. 1 lit. a, Art. 10 ÜberstÜbk. Art. 9 Abs. 1 lit. b, Art. 11 ÜberstÜbk. Art. 3 Abs. 3 ÜberstÜbk.
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Vollstreckungsstaat ist an die rechtliche Art und die Dauer der Sanktion, wie sie vom Urteilsstaat festgelegt worden sind, gebunden.339 Ist jedoch die Sanktion nach Art oder Dauer mit dem Recht des Vollstreckungsstaates nicht vereinbar oder schreibt dessen Recht dies vor, so kann der Vollstreckungsstaat die Sanktion durch eine Gerichts- oder Verwaltungsentscheidung an die nach seinem eigenen Recht für eine Straftat derselben Art vorgesehene Strafe oder Maßnahme anpassen. Diese Strafe oder Maßnahme muss ihrer Art nach so weit wie möglich derjenigen Sanktion entsprechen, die durch die zu vollstreckende Entscheidung verhängt worden ist. Sie darf nach Art oder Dauer die im Urteilsstaat verhängte Sanktion nicht verschärfen oder das nach dem Recht des Vollstreckungsstaates vorgesehene Höchstmaß nicht überschreiten.340 b) Umwandlung der Sanktion durch Exequatur Wird von der Möglichkeit zur Umwandlung der Sanktion Gebrauch gemacht, so ist das nach dem Recht des Vollstreckungsstaates vorgesehene Exequaturverfahren anzuwenden.341 Das Überstellungsübereinkommen legt aber die Rahmenbedingungen der Umwandlung fest. So ist die zuständige Behörde an die tatsächlichen Feststellungen gebunden, soweit sie sich ausdrücklich oder stillschweigend aus dem im Urteilsstaat ergangenen Urteil ergeben.342 Die zuständige Behörde darf eine freiheitsentziehende Sanktion nicht in eine Geldstrafe oder Geldbuße umwandeln.343 Die Gesamtzeit des an der verurteilten Person bereits vollzogenen Freiheitsentzugs ist anzurechnen.344 Zudem gilt ein Strafschärfungsverbot: Die strafrechtliche Lage der verurteilten Person darf nicht erschwert werden. Die zuständige Behörde ist daher auch nicht an ein Mindestmaß, das nach dem Recht des Vollstreckungsstaates für die begangenen Straftat oder begangenen Straftaten gegebenenfalls vorgesehen ist, gebunden.345 7. Vollstreckung nach dem Strafvollstreckungsrecht des Vollstreckungsstaates; Gnaden- und Amnestierecht von Urteils- und Vollstreckungsstaat Die Vollstreckung der Strafe richtet sich allein nach dem Recht des Vollstreckungsstaates; dieser ist auch allein dafür zuständig, alle erforderlichen Entschei339
Art. 10 Abs. 1 ÜberstÜbk. Art. 10 Abs. 2 ÜberstÜbk. 341 Art. 11 Abs. 1 S. 1 ÜberstÜbk. Näher zum Exequaturverfahren im deutschen Recht unten C.II., in diesem Kapitel. 342 Art. 11 Abs. 1 S. 2 lit. a ÜberstÜbk. 343 Art. 11 Abs. 1 S. 2 lit. b ÜberstÜbk. 344 Art. 11 Abs. 1 S. 2 lit. c ÜberstÜbk. 345 Art. 11 Abs. 1 S. 2 lit. d ÜberstÜbk. 340
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dungen zu treffen.346 Der Begriff der Vollstreckung ist hier in einem umfassenden Sinne zu verstehen; er schließt insbesondere auch die Entscheidung über eine bedingte Entlassung ein.347 Eine Begnadigung, eine Amnestie oder eine gnadenweise Abänderung der Sanktion können hingegen sowohl der Urteils-, als auch der Vollstreckungsstaat nach seinem jeweiligen Recht gewähren.348 Allein dem Urteilsstaat ist es vorbehalten, über einen gegen das Urteil gerichteten Wiederaufnahmeantrag zu entscheiden.349 In weiterer Folge beendet der Vollstreckungsstaat die Vollstreckung der Sanktion, sobald ihn der Urteilsstaat von einer Entscheidung oder Maßnahme in Kenntnis gesetzt hat, aufgrund deren ihre Vollstreckbarkeit erlischt.350 Umgekehrt unterrichtet der Vollstreckungsstaat den Urteilsstaat über die Vollstreckung der Sanktion, wenn er diese für abgeschlossen erachtet, wenn die verurteilte Person vor Abschluss der Vollstreckung der Sanktion der Haft flieht, oder wenn der Urteilsstaat darum ersucht.351 8. Bewertung Die Bestimmungen des Überstellungsübereinkommens beinhalten ein ausdifferenziertes und abgestuftes System gegenseitiger Anerkennung der Entscheidungen von Urteils- und Vollstreckungsstaat in Bezug auf Art und Maß der verhängten Strafe sowie deren Vollstreckung, einschließlich der Bedingungen und Art der Strafvollstreckung sowie des Straferlasses. Eine effektive Anwendung der durch die Konvention eröffneten Möglichkeiten zur Vollstreckungsüberstellung setzt daher ebenso gegenseitiges Vertrauen in den betroffenen Staaten voraus,352 wie dies – fast beschwörend – als Grundlage des Prinzips gegenseitiger Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU propagiert wird. Von entscheidender Bedeutung ist hier, inwieweit in einem System gegenseitiger Anerkennung die Anerkennungsentscheidung im Einzelfall zu treffen oder generell verbindlich determiniert ist.
346
Art. 9 Abs. 3 ÜberstÜbk. Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), II C ÜberstÜbk. Art. 10 Rn. 7. 348 Art. 12 ÜberstÜbk. 349 Art. 13 ÜberstÜbk. 350 Art. 14 ÜberstÜbk. 351 Art. 15 ÜberstÜbk. 352 Auch van Zyl Smit/Spencer, The European dimension to the release of sentenced prisoners, in: Padfield/van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Release from Prison. European policy and practice (2010), S. 9 (24), betonen das Bestehen gegenseitigen Vertrauens als Voraussetzung für eine effektive Anwendung des Übereinkommens. 347
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II. Ergänzende und modifizierende völkerrechtliche Verträge 1. Abkommen über die Anwendung des Übereinkommens des Europarates über die Überstellung verurteilter Personen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Mai 1987 Am 25. Mai 1987 unterzeichneten alle Mitgliedstaaten der damaligen EWG ein Abkommen über die Anwendung des Übereinkommens des Europarates über die Überstellung verurteilter Personen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften.353 Im Zuge dieses Vertragsschlusses wurden alle Mitgliedstaaten der damaligen EWG Vertragsparteien der Europaratskonvention. Dies war zuvor nicht der Fall gewesen. a) Erstreckung des Anwendungsbereichs des Europaratsübereinkommens auf rechtmäßig permanent Aufhältige Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften hatten sich darauf verständigt, dass in ihrem Binnenverhältnis der Staat des rechtmäßigen permanenten Aufenthalts dem Heimatstaat gleichsteht. Nach Art. 2 dieses Zusatzübereinkommens vereinbarten die Mitgliedstaaten im Binnenverhältnis eine weite Interpretation des Begriffs der eigenen Staatsangehörigen: Jeder Mitgliedstaat verpflichtete sich, auch die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten als eigene „Staatsangehörige“ i. S. d. Überstellungsübereinkommens anzusehen, wenn deren Überstellung angemessen erscheint und im Interesse der verurteilten Person liegt. Für diese Beurteilung ist der tatsächliche und rechtmäßige Aufenthalt der verurteilten Person im ersuchten Mitgliedstaat Voraussetzung. Dieses Abkommen liegt in der Logik der Freizügigkeitsrechte des Einzelnen der damaligen Gemeinschaft und wurde kurz nach dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte, die den Weg zur Gründung der Europäischen Union ebnen sollte, und der Veröffentlichung des Weißbuchs der Kommission zur Errichtung eines Europäischen Binnenmarktes354 geschlossen. Der Ermessenscharakter der Entscheidung des ersuchten Staates, ob er die Vollstreckung übernehmen werde, wurde durch diese ergänzende völkerrechtliche Regelung nicht berührt. b) Eingeschränkte Anwendbarkeit mangels hinreichender Ratifikation Nur wenige der Unterzeichnerstaaten des Abkommens haben dieses auch ratifiziert.355 Die Bundesrepublik Deutschland hat dies nicht getan. Daher konnte 353 Abrufbar unter: http://www.eclan.eu, dort unter dem Punkt EU legislation zu finden (17.03.2013). 354 KOM(85) 310. 355 Ratifiziert hatten Belgien, Dänemark, Spanien und Italien (Stand: 1992); Quelle: http://www.eclan.eu, dort unter dem Punkt EU legislation zu finden (17.03.2013).
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die vorgenommene Erstreckung des Anwendungsbereichs des ÜberstÜbk auf Personen, die zwar nicht Staatsangehörige des ersuchten Staates sind, dort aber ihren permanenten Wohnsitz haben, keine große praktische Bedeutung entfalten. Jedoch blieb die im ÜberstÜbk eröffnete Möglichkeit jeder einzelnen Vertragspartei, den Begriff des Staatsangehörigen weit auszulegen, bestehen. 2. Kapitel 5 SDÜ (1990) Das Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juli 1990356 bezieht sich in seinem Kapitel 5 (Art. 67–69) zur Übertragung der Vollstreckung von Strafurteilen ausdrücklich auf das Überstellungsübereinkommen des Europarates als Mutterkonvention.357 a) Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Europaratsübereinkommens zwischen den Schengen-Staaten auf Fluchtfälle Es ergänzt den sachlichen Anwendungsbereich des Übereinkommens, indem es ein Vollstreckungshilfeersuchen gemäß dem Überstellungsübereinkommen auch dann erlaubt, wenn ein Staatsangehöriger (im Begriffsverständnis des Überstellungsübereinkommens358) einer Vertragspartei, gegen den im Hoheitsgebiet des Urteilsstaates eine Sanktion i. S. d. Überstellungsübereinkommens verhängt wurde, sich der Vollstreckung oder der weiteren Vollstreckung durch Flucht in das Hoheitsgebiet des Staates, dessen Bürger er ist, zu entziehen sucht.359 Das Ersuchen richtet sich an den Staat der Staatsangehörigkeit; dieser ist jedoch wie bei der Mutterkonvention nicht zur Leistung von Vollstreckungshilfe verpflichtet. b) Entfall des Zustimmungserfordernisses des Beschuldigten in Fluchtfällen Einer Zustimmung des Verurteilten zur Übernahme der Strafvollstreckung durch den Heimatstaat bedarf es in diesen Fällen nicht.360 Damit sind nicht mehr Resozialisierungsüberlegungen primäres Ziel des Ersuchens um Vollstreckungshilfe. Die das Europaratsabkommen ergänzenden Regelungen des SDÜ zielen vielmehr auf Kompensation der durch den Entfall der Binnengrenzkontrollen erleichterten Möglichkeiten des Verurteilten, sich dem Zugriff der Hoheitsgewalt des Urteilsstaates durch Flucht zu entziehen. Insoweit rückt die Sanktionsdurchsetzung an die Stelle der Resozialisierungserwägungen. Dies gilt insbesondere 356 357 358 359 360
ABl. EU 2000 L 239/19. Art. 67 SDÜ. Siehe oben A.I.1.c), in diesem Kapitel. Art. 68 SDÜ. Art. 69 SDÜ.
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dann, wenn das Ersuchen um Vollstreckungshilfe die Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger kompensiert und so der Durchsetzung der Strafvollstreckung trotz eines Auslieferungshindernisses dient. 3. Zusatzprotokoll des Europarates zum Europaratsübereinkommen (1997) a) Parallelregelung zu Kapitel 5 SDÜ auf Europaratsebene Das Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 1997 zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen (ZP-ÜberstÜbk)361 ergänzt den sachlichen Anwendungsbereich des Überstellungsübereinkommens für die Vertragsparteien des Zusatzprotokolls. Danach kann der Urteilsstaat auch dann um Vollstreckungshilfe ersuchen, wenn ein Staatsangehöriger (im Begriffsverständnis des Überstellungsübereinkommens) einer Vertragspartei, gegen den im Hoheitsgebiet des Urteilsstaates eine Sanktion i. S. d. Überstellungsübereinkommens verhängt wurde, sich der Vollstreckung oder der weiteren Vollstreckung durch Flucht in das Hoheitsgebiet des Staatsangehörigkeitsstaates zu entziehen sucht. Das Ersuchen richtet sich an den Staat der Staatsangehörigkeit; dieser ist jedoch wie bei der Mutterkonvention nicht zur Leistung von Vollstreckungshilfe verpflichtet. Eine Zustimmung der verurteilten Person zur Vollstreckungsübernahme ist nicht erforderlich.362 Mit diesem Zusatzprotokoll werden die durch Art. 67 ff. SDÜ vorgenommenen Ergänzungen der Mutterkonvention auch auf Europaratsebene nachvollzogen. b) Weitergehende Einschränkung des Zustimmungserfordernisses des Verurteilten bei aufenthaltsbeendigender Entscheidung des Urteilsstaates Unabhängig von dieser Erweiterung des Anwendungsbereiches, die bereits mit einer Einschränkung des Zustimmungserfordernisses der verurteilten Person verbunden ist, schränkt das Zusatzprotokoll zum Überstellungsübereinkommen das Erfordernis der Zustimmung der verurteilten Person zusätzlich insoweit ein, als der ersuchte Staat in die Vollstreckung auch ohne eine solche Zustimmung einwilligen kann, wenn die gegen die Person verhängte Sanktion oder eine infolge der Sanktion ergangene verwaltungsrechtliche Entscheidung einen Ausweisungsoder Abschiebungsbefehl oder eine andere Maßnahme enthält, aufgrund deren es dieser Person nicht gestattet sein wird, nach der Entlassung aus der Haft im Hoheitsgebiet des Urteilsstaates zu verbleiben.363 Will der ersuchte Staat in die Vollstreckungsüberstellung einwilligen, so muss er bei seiner Entscheidung die 361 362 363
SEV-Nr. 167, BGBl. 2002 II S. 2866; 2008 II S. 45. Art. 2 Abs. 3 ZP-ÜberstÜbk. Art. 3 Abs. 1 ZP-ÜberstÜbk.
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Meinung der verurteilten Person berücksichtigen, ohne jedoch an diese gebunden zu sein.364 Angesichts der drohenden Abschiebung werden hinter einem Veto des Beschuldigten sachwidrige Motive vermutet, welche die Überstellung im Staatenkonsens nicht hindern sollen. c) Ratifikationsstand 24 der 28 Mitgliedstaaten der EU sind auch Vertragsparteien des EuroparatsZusatzprotokolls zum Überstellungsübereinkommen;365 insgesamt ist es mit 1. September 2016 für 37 Staaten in Kraft. d) Bewertung Die Erweiterung des Anwendungsbereiches des Überstellungseinkommens ermöglicht ein Ersuchen um Vollstreckungshilfe, das nicht mit einer Überstellung zur Gewährleistung besserer Resozialisierungschancen verbunden ist, sondern primär den Interessen der Rechtspflege, nämlich der Rechtsdurchsetzung gerade für den Fall dienen soll, dass eine Auslieferung eigener Staatsangehöriger nicht zulässig ist.366 Dies ist eine Abkehr vom primären Resozialisierungsziel der Mutterkonvention zugunsten des Zieles der Rechtsdurchsetzung367 und vollzieht den zwischen den damaligen Vertragsparteien des Schengener Durchführungsübereinkommens gesetzten Schritt auf der Ebene des Europarates nach. Hingegen knüpft die Einschränkung des Zustimmungserfordernisses daran an, dass dem Vollzug im Urteilsstaat a priori geringere Resozialisierungschancen eingeräumt werden als einem Vollzug im Staat der Staatsangehörigkeit (wiederum im weiten Sinne des Überstellungsübereinkommens). Tendenziell stünde damit eine etwaige Ablehnung des Verurteilten gegenüber der Überstellung unter dem Verdacht, von sachwidrigen Motiven geleitet zu sein. Zwar ist die verurteilte Person vor einer Einwilligung des ersuchten Staates in die Überstellung zur Strafvollstreckung anzuhören und ihre Stellungnahme bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Ihre ablehnende Äußerung bildet aber nicht mehr ein zwingendes Hindernis für die Überstellung. Die Regelung ist ein erster Schritt weg von der Mitentscheidung durch die verurteilte Person hin zu einer Beurteilung der besseren Resozialisierungschancen durch die Vollstreckungsbehörden. An die Stelle eines dreiseitigen Konsenserfordernisses tritt der Staatenkonsens.
364
Art. 3 Abs. 2 ZP-ÜberstÜbk. Nicht Vertragspartei ist die Slowakische Republik, ebenso Italien, Portugal und Spanien, die jedoch das Zusatzprotokoll im Jahre 2000 (It, Pt) bzw. 2014 (Es) unterzeichnet haben. Quelle: Vertragsbüro auf http://conventions.coe.int (19.05.2016). 366 Vgl. Präambel Abs. 2 und 3 ZP-ÜberstÜbk. 367 Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), II C 1. ZP-ÜberstÜbk Rn. 3. 365
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4. EG-Vollstreckungsübereinkommen (1991) Das Übereinkommen vom 13. November 1991 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen (EG-VollstrÜbk368) knüpft zeitlich und sachlich an das ÜberstÜbk, das von der Bundesrepublik Deutschland nicht ratifizierte Europäische Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen vom 28. Mai 1970, SEV-Nr. 70 sowie die Art. 67–69 SDÜ an.369 In seinem Regelungsgehalt ist es weitgehend identisch mit dem ZP-ÜberstÜbk. Anders als dieses ist es jedoch nicht im Rahmen der Zusammenarbeit im Europarat entstanden, sondern ein Ergebnis der Europäischen Politischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften. a) Vollstreckungsübernahme bei Aufenthaltsstaat im Konsens mit dem Urteilsstaat; kein Erfordernis der Zustimmung des Verurteilten In Bezug auf die Vollstreckung der Verurteilung zu einer freiheitsentziehenden Strafe kann nach dem EG-VollstrÜbk um Übertragung der Vollstreckung ersucht werden, wenn, erstens, die verurteilte Person sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaates befindet und Staatsangehöriger dieses Staates ist oder dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder, zweitens, die verurteilte Person sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaates befindet und ihre Auslieferung abgelehnt worden ist, im Falle eines Ersuchens abgelehnt würde oder nicht möglich ist, oder, drittens, wenn die verurteilte Person sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaates befindet, wo sie bereits eine freiheitsentziehende Strafe verbüßt oder verbüßen soll.370 Sowohl der Urteils- als auch der Vollstreckungsstaat können um Übertragung der Vollstreckung ersuchen.371 Die Vollstreckungsübertragung nach dem EG-VollstrÜbk steht unter der Voraussetzung beiderseitiger Strafbarkeit.372 Zwar besteht eine ausdrückliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Art. 2 Abs. 1 EG-VollstrÜbk, nach diesem Übereinkommen im Hinblick auf die Übertragung der Strafvollstreckung weitestgehend zusammenzuarbeiten. Dennoch ist damit noch keine Pflicht zur Befolgung eines Ersuchens um Vollstreckungsübertragung verankert. Vielmehr bedarf sie der Zustimmung des Urteils- und des Vollstreckungsstaates.373 Da sie nur solche Fälle erfasst, in denen sich der Verurteilte bereits im avisierten Vollstreckungsstaat aufhält, besteht fol368
BGBl. 1997 II S. 1351. Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), I II C 1. EG-VollstrÜbk Rn. 2. 370 Art. 3 EG-VollstrÜbk. 371 Art. 2 Abs. 2 EG-VollstrÜbk. 372 Art. 5 S. 2 lit. b EG-VollstrÜbk. 373 Art. 5 S. 1 EG-VollstrÜbk. 369
Internationale
A. Völkervertraglich geregelte Vollstreckungshilfe
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gerichtig kein Erfordernis der Zustimmung des Verurteilten. Der Vollstreckungsstaat hat die Wahl zwischen einer Adoption der vom Urteilsstaat verhängten Strafe oder einer Exequaturentscheidung.374 In keinem Fall darf es jedoch zu einer Strafverschärfung kommen. b) Geringer Ratifikationsstand Allerdings ist bzw. war das EG-Vollstreckungsübereinkommen mangels hinreichender Zahl an Ratifizierungen nur im Verhältnis zwischen den drei der Ratifikationsstaaten vorläufig anwendbar, die eine entsprechende Erklärung nach Art. 21 Abs. 3 EG-VollstrÜbk abgegeben haben: Deutschland,375 Lettland376 und die Niederlande.377 III. Zusammenfassende Schlussfolgerungen 1. Es hat sich gezeigt, dass die Voraussetzungen einer innereuropäischen Vollstreckungshilfe im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung zu einer freiheitsentziehenden Sanktion durch eine Vielzahl völkervertraglicher Rechtsinstrumente geprägt sind. Problematisch ist daran, dass sowohl für den Rechtsanwender als auch für den Verurteilten bereits das Auffinden der im konkreten Fall anwendbaren Norm mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein kann.378 2. Zu dieser Komplexität trägt bei, dass bereits der territoriale Anwendungsbereich der verschiedenen Verträge deutlich unterschiedlich ausfällt. So sind beim ÜberstÜbk alle EU-Mitgliedstaaten Vertragspartei, während die Vollstreckungshilfebestimmungen des SDÜ zwar auch im Verhältnis Deutschlands zu den eine Sonderrolle im Schengen-Recht einnehmenden Dänemark und Großbritannien, nicht aber im Verhältnis zu dem ebenfalls eine Sonderrolle inne habenden Irland Anwendung finden. Das ZP-ÜberstÜbk ist für 24 von 28 EU-Mitgliedstaaten in Kraft, es findet keine Anwendung im Verhältnis zu Italien, Portugal, der Slowakischen Republik, Slowenien und Spanien. Und das EG-VollstrÜbk schließlich ist gar nur im Binnenverhältnis von Lettland, den Niederlanden und Deutschland anwendbar. 3. Während die Vollstreckungsübertragung bei der Mutterkonvention des Europarates klar am Ziel der Verbesserung der Resozialisierungschancen ausgerichtet ist, zeigt sich bei den späteren Verträgen ein Trend hin zum Einsatz der Vollstreckungshilfe zusätzlich als Instrument der Sanktionsdurchsetzung. 374
Art. 8 Abs. 1 EG-VollstrÜbk. BGBl. 1997 II S. 1350; 1998 II S. 896. 376 BGBl. 2005 II S. 172. 377 BGBl. 1998 II S. 896; 2007 II S. 1427. 378 Kritisch zu diesem Problem Schomburg, Die Rolle des Individuums in der Internationalen Kooperation in Strafsachen, StV 1998, 153 (154). 375
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Teil 1, Kap. 2: Rechtsgrundlagen vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses
Das Resozialisierungsziel der Mutterkonvention zeigt sich an mehreren Elementen der Ausgestaltung der Konvention: So sind nur Fälle der tatsächlichen Überstellung eines Verurteilten in den Staat seiner Staatsangehörigkeit erfasst, die zudem dem Zustimmungserfordernis nicht nur der beteiligten Staaten, sondern auch des Verurteilten unterliegen und damit dem Dreiecksverhältnis der Rechtshilfe Rechnung tragen. Ein weites Verständnis der Staatsangehörigkeit ermöglicht es, auch solche Fälle zu erfassen, in denen der Verurteilte zwar nicht die Staatsangehörigkeit des avisierten Vollstreckungsstaates, aber dennoch ein Naheverhältnis zu diesem Staat hat. Die konzipierte ausdrückliche Ausdehnung des Staatsangehörigkeitsbegriffs auf den rechtmäßig im Vollstreckungsstaat Ansässigen im Binnenverhältnis der Mitgliedstaaten durch das niemals in Kraft getretene Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften aus dem Jahre 1987 suchte mit dieser Ausrichtung am Resozialisierungsgedanken der Freizügigkeit im Gemeinsamen Markt fördernd Rechnung zu tragen. Auch an dem Wegfall der Binnengrenzkontrollen anknüpfend, aber mit anderer Zielrichtung, verlagert die erstmals durch das SDÜ vorgenommene Erstreckung des Instruments der Vollstreckungshilfe auf Fluchtfälle hingegen für diese Fälle die Ausrichtung der Vollstreckungshilfe hin zum Ziel der Sanktionsdurchsetzung, um einen Ausgleich für die infolge der offenen Binnengrenzen erleichterte Flucht zu schaffen. Diese Regelung wurde durch das ZP-ÜberstÜbk auf Europaratsebene übertragen, ohne dass für die Gesamtheit der Europaratsstaaten eine vergleichbare Personenfreizügigkeit besteht. Damit tritt aber auch auf Europaratsebene neben das Resozialisierungsziel der Vollstreckungshilfe das Ziel einer Sanktionsdurchsetzung. Zwar erreicht der Ratifikationsstand zum ZP-ÜberstÜbk mit 37 Staaten insgesamt nicht das Beteiligungsniveau der Mutterkonvention mit 65 Vertragsparteien. Dennoch belegen das SDÜ und das ZP-ÜberstÜbk ein breites Maß an Zustimmung der Staaten zu dieser zweispurigen Ausrichtung der Vollstreckungshilfe. 4. Damit einhergehend ist eine Zurückdrängung des Zustimmungserfordernisses des Beschuldigten zu verzeichnen. Dies erscheint auf den ersten Blick bedenklich, stellt sich doch die Frage, ob tatsächlich bessere Resozialisierungschancen bestehen, wenn eine Übertragung auch gegen den Willen des Verurteilten erfolgt. Um dies tatsächlich beurteilen zu können, müssen jedoch die Fallgestaltungen im Einzelnen bedacht werden. So ist in den Fluchtfällen, in denen sich der Verurteilte bereits im ersuchten Vollstreckungsstaat befindet, es also zu keiner tatsächlichen Überstellung mehr kommt, der Verzicht auf das Zustimmungserfordernis dann verständlich, wenn das Fluchtland tatsächlich das soziale Umfeld des Verurteilten ist. Gleiches gilt für die Fälle einer Überstellung, wenn diese im Vorgriff auf eine zu erwartende Abschiebung bzw. sonstige Form der Aufenthaltsbeendigung geschieht und der Verurteilte sein soziales Umfeld bereits im ersuchten Vollstreckungsstaat hat oder zumindest die begründete Erwartung
B. Gesetzliche Vollstreckungshilfe
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gehegt werden kann, er werde dieses zukünftig dort haben. Innerhalb der so gesteckten Grenzen ist ein Verzicht auf das Erfordernis der Zustimmung des Verurteilten begründbar. 5. Gemeinsamer status quo der Voraussetzungen einer Vollstreckungshilfe auf Basis der untersuchten Rechtsgrundlagen sind das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit und das Verbot einer Strafschärfung. In diesen Grenzen ist den Vertragparteien die Wahl gelassen zwischen einer Übernahme der Sanktion (Adoption) mit einer Anpassung auf das zulässige Höchstmaß in Fällen, in denen die Sanktion das nach dem Recht des Vollstreckungsstaates zulässige Maß überschreitet, oder einer Umwandlung der Strafe (Exequatur). Konsens ist auch, dass die Strafvollstreckung nach dem Recht des Urteilsstaates erfolgt. 6. Keines der untersuchten Rechtsinstrumente sieht eine Verpflichtung zur Befolgung des Ersuchens um Vollstreckungsübernahme vor. 7. Mangels einer solchen grundsätzlichen Verpflichtung zur Vollstreckungsübernahme enthält keines der untersuchten Rechtsinstrumente die Vollstreckungsübernahme begrenzende Regelungen, sei es in Form enumerativer Versagungsgründe oder in Form einer allgemeinen ordre public-Grenze. Das bedeutet jedoch nicht, dass in der Anwendung der Rechtsinstrumente, soweit sie in Kraft getreten und damit anwendbar sind, eine solche ordre public-Schranke nicht zu beachten wäre. Die Verbindlichkeit einer ordre public-Grenze ergibt sich aus den innerstaatlichen Rechtsordnungen.379
B. Gesetzliche Vollstreckungshilfe vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung Zwar ordnete § 84 IRG a. F. an, dass auf das Ersuchen eines Mitgliedstaates der EU um Rechtshilfe durch Vollstreckung einer im Ausland rechtskräftig verhängten freiheitsentziehenden Sanktion die Vorschriften des Vierten Teils des IRG (§§ 48 ff. a. F.) sowie die allgemeinen Bestimmungen des Ersten und Siebten Teils anzuwenden sind. Für ausgehende Ersuchen um Vollstreckungshilfe an einen anderen Mitgliedstaat ordnete § 85 IRG a. F. die Anwendung der §§ 71 f. IRG a. F. sowie der genannten allgemeinen Bestimmungen an. Die gesetzliche Formulierung war jedoch insoweit irreführend, als damit nicht die Regel des § 1 Abs. 3 IRG derogiert werden sollte, der den Vorrang vertraglicher Rechtshilfe festlegt.380 Auch die Neufassung des § 1 Abs. 4 IRG konnte bei teleologischer und systematischer Auslegung nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Zwar ordnet § 1 Abs. 4 IRG nach Streichung der früheren Sätze 2 und 3 i. d. F. des 379
Siehe unten C.IV., in diesem Kapitel. Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 84 IRG Rn. 1, § 85 Rn. 1. 380
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Teil 1, Kap. 2: Rechtsgrundlagen vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses
zweiten Umsetzungsgesetzes zum Europäischen Haftbefehl381 nunmehr nur noch an: „Die Unterstützung für ein Verfahren in einer strafrechtlichen Angelegenheit mit einem Mitgliedstaat der Europäischen Union richtet sich nach diesem Gesetz.“ Sätze 2 und 3, die bislang den Nachrang der völkerrechtlichen Verträge gegenüber dem Umsetzungsrecht zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl anordneten und zugleich deren Vorrang gegenüber den sonstigen Regelungen des IRG im Einklang mit § 1 Abs. 3 IRG bestätigten, sind entfallen.382 Es überzeugt jedoch weder nach der Systematik des Rechtshilferechts noch im Hinblick auf das Ziel des § 1 Abs. 4 IRG, wenn angenommen würde, dass die Streichung der Sätze 2 und 3 des § 1 Abs. 4 IRG zur Folge haben soll, dass die Bundesrepublik Deutschland im Rechtshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten der Union bestehende vertragliche Vereinbarungen nicht mehr anwenden würde, obwohl es noch kein Umsetzungsrecht für etwaig vorrangige unionsrechtliche Verpflichtungen gibt. § 1 Abs. 4 IRG soll lediglich den Vorrang des Umsetzungsrechts unionsrechtlicher Vorgaben klarstellen und insoweit eine begrenzte Ausnahme von der Regel des § 1 Abs. 3 IRG, dem allgemeinen Vorrang der vertraglichen vor der gesetzlichen Rechtshilfe, schaffen.383 Damit kamen die eben genannten gesetzlichen Verweise nur subsidiär zur Anwendung, wenn und soweit völkervertragliche Regelungen zur Vollstreckungshilfe, die unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind, keine Regelung trafen. Bislang verblieb im Verhältnis zu den EU-Mitgliedstaaten in Fragen der Vollstreckungshilfe kaum Raum für eine solche subsidiäre Anwendung. Allerdings stand zu erwarten, dass die Regelungen zur Europäischen Vollstreckungsanordnung in das IRG implementiert werden. Der Rahmenbeschluss würde nicht per Vertragsgesetz innerstaatliche Geltung erlangen, wie dies bislang beim Überstellunsgübereinkommen der Fall ist. Vielmehr würden die Regelungen zum Bestandteil des gesetzlichen Rechtshilferechts. Der bisherige Verweis des § 84 IRG auf §§ 48 ff. IRG würde durch eigene Regelungen im Neunten Teil des IRG ersetzt, so wie dies jüngst in Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Anerkennung und Vollstreckung von Geldsanktionen erfolgt ist (§§ 86 ff. IRG). Mit Gesetz vom 17. Juli 2015 hat der Gesetzgeber diese Umsetzung erwartungsgemäß vorgenommen.384
381
Einfügung durch Art. 1 Nr. 2 EUHbG, BGBl. 2006 II S. 1721. Streichung durch Art. 1 Nr. 2 2003/577/JI-UG, BGBl. 2008 II S. 995. 383 Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 1 IRG Rn. 31, stellt dazu fest, Abs. 4 legalisiere eine „gesetzestechnische Unzumutbarkeit“, und fragt zu Recht, welcher Normadressat „das unsinnige Konstrukt von Ausnahmen, Gegenausnahmen, Verweisungen, Rückverweisungen und mehrfachen Rückrückverweisungen denn noch verstehen“ solle. 384 Siehe dazu unten Teil 4. 382
B. Gesetzliche Vollstreckungshilfe
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§ 48 IRG bestimmt, dass für ein Verfahren in einer strafrechtlichen Angelegenheit Rechtshilfe durch Vollstreckung einer im Ausland rechtskräftig verhängten Strafe oder sonstigen Sanktion geleistet werden kann. I. Zulässigkeitsvoraussetzungen § 49 IRG legt die Zulässigkeitsvoraussetzungen fest. Danach ist eine Vollstreckung nur auf Ersuchen eines anderen Staates unter Vorlage des vollständigen rechtskräftigen und vollstreckbaren Erkenntnisses zulässig (Ersuchenserfordernis). Gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 2 IRG a. F.385 musste in dem Verfahren, das dem ausländischen Erkenntnis zu Grunde liegt, dem Verurteilten rechtliches Gehör gewährt und eine angemessene Verteidigung ermöglicht worden sein. Diese Regelung ist lex specialis zur allgemeinen ordre public-Grenze des § 73 IRG.386 Die zu vollstreckende freiheitsentziehende Sanktion muss von einem unabhängigen Gericht verhängt worden und die zugrundeliegende Tat auch nach deutschem Recht, ungeachtet etwaiger Verfahrenshindernisse und gegebenenfalls nach sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts, strafbar sein (beiderseitige Strafbarkeit). Der ne bis in idem-Grundsatz ist im Hinblick auf eine etwaige deutsche Entscheidung zu beachten.387 Die Vollstreckung darf nicht nach deutschem Recht tatsächlich oder bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts verjährt sein. Zudem setzte § 49 Abs. 2 IRG a. F.388 strikt die Zustimmung des Verurteilten zur Vollstreckungsübernahme voraus, wenn der Verurteilte sich in dem Staat, der die Sanktion verhängt hat, aufhielt. Die Überstellung nach Deutschland zur Vollstreckungsübernahme durfte also nicht gegen den Willen des Verurteilten erfolgen. Unzulässig ist die Vollstreckung einer Sanktion, die das deutsche Recht ihrer Art nach nicht kennt (§ 49 Abs. 3 IRG a. F.389). II. Exequatur Liegen die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Vollstreckungsübernahme vor, so wird das ausländische Erkenntnis für vollstreckbar erklärt390 und § 54 IRG a. F.391 regelt das Wie der Vollstreckung, also die Umwandlung der Sanktion. Die verhängte Sanktion ist gegen die ihr im deutschen Recht am meisten entsprechende Sanktion umzuwandeln. Für die Höhe der festzusetzenden Sanktion ist das ausländische Erkenntnis maßgebend; eine Anpassung an das in Deutschland 385 386 387 388 389 390 391
Neugefasst durch G. v. 15.07.2015, BGBl. I S. 1349. Siehe dazu sogleich C.III., in diesem Kapitel. Siehe dazu § 49 Abs. 1 Nr. 4 i.V. m. § 9 Nr. 1 IRG. Sprachlich neugefasst durch G. v. 15.07.2015, BGBl. I S. 1349. Mit G. v. 15.07.2015, BGBl. I S. 1349 wurde dieser bisherige Abs. 3 zu Abs. 4. § 54 Abs. 1 S. 1 IRG. Neugefasst durch G. v. 15.07.2015, BGBl. I S. 1349.
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Teil 1, Kap. 2: Rechtsgrundlagen vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses
üblicherweise zu erwartende Strafmaß hat zu unterbleiben.392 Die Strafe darf jedoch das Höchstmaß der im Geltungsbereich dieses Gesetzes für die Tat angedrohten Sanktionen nicht überschreiten. Hier ist auf die abstrakte Strafdrohung für die konkrete Tat abzustellen. Qualifizierungs- und Milderungsgründe sind ebenso zu berücksichtigen wie unbenannte Strafänderungsgründe und Regelbeispiele.393 Ist für die Tat nach deutschem Recht eine Höchststrafe von weniger als zwei Jahren vorgesehen oder wäre die Tat nur als Ordnungswidrigkeit mit Geldbuße bedroht, so gilt für die Festsetzung der Strafe im Exequaturverfahren ein Höchstmaß von zwei Jahren Freiheitsentzug (§ 54 Abs. 1 S. 2 IRG). Ein Exequaturverfahren ist kein vollständiges Strafverfahren des Vollstreckungsstaates mit Beweisaufnahme und Beweiswürdigung, es erfolgt keine Überprüfung der im Ausland festgestellten Tatsachen, vielmehr werden diese nach deutschem Recht gewürdigt.394 §§ 84, 85 IRG a. F.395 verwiesen für die gesetzliche Vollstreckungshilfe auch auf die allgemeinen Regelungen des Siebten Teils, zu denen § 73 IRG zählt. § 73 IRG bestimmt die Grenzen der Rechtshilfe.
C. Ordre public-Grenze der Vollstreckungshilfe gegenüber Mitgliedstaaten der EU in der Konzeption des § 73 IRG Nach § 73 S. 1 IRG ist die Leistung von Rechtshilfe396 unzulässig, wenn sie „wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde“. Bei Ersuchen im Rechtshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten der Union ist nach Satz 2 der Vorschrift die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn „die Erledigung zu den in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde“. Terminologisch im Einklang mit Art. 6 EGBGB397 wird der Verweis auf die „wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung“ in § 73 S. 1 IRG als ein 392 Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 54 IRG Rn. 4. 393 Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 54 IRG Rn. 5. 394 P. Wilkitzki, Der Regierungsentwurf eines Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG), GA 1961, 361 (374); ausführlich Mix, Die Vollstreckungsübernahme im Internationalen Strafrecht (2003), S. 26 ff. 395 Im Rahmen der Umsetzung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung mit G. v. 15.07.2015, BGBl. I S. 1349 ersetzt. 396 Ebenso die Datenübermittlung ohne Ersuchen, die für die vorliegende Arbeit jedoch nicht von Bedeutung ist. 397 Art. 6 EGBGB trägt die amtliche Überschrift „Öffentliche Ordnung (ordre public)“ und lautet: „Eine Rechtsnorm eines anderen Staates ist nicht anzuwenden, wenn
C. Ordre public-Grenze gegenüber Mitgliedstaaten der EU
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solcher auf den deutschen ordre public verstanden. Spiegelbildlich dazu wird der Verweis in Satz 2 der Vorschrift auf die in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätze als ein solcher auf den europäischen ordre public beschrieben.398 Inhaltlich bleibt die genaue Bestimmung all dessen, was als deutscher ordre public oder als europäischer ordre public anzusehen ist und die Grenze der Rechtshilfe bildet, äußerst streitig. Der Mehrwert der Umschreibung als sogenannte ordre public-Klauseln erschöpft sich weitestgehend in ihrem plakativen und damit einprägsamen Charakter. Einigkeit besteht aber, dass § 73 IRG eine zentrale Norm – einen „Eckstein“ 399 – des deutschen Rechtshilferechts bildet und insbesondere auf einen staatenübergreifenden Menschenrechtsschutz im Rechtshilfeverfahren abzielt.400 In der Gesetzessystematik ist sie als Eingangsnorm des Siebten Abschnitts des IRG eingeordnet, der gemeinsame Vorschriften für alle ein- und ausgehenden Rechtshilfeersuchen, gleich welcher Art, enthält. Obzwar Eingangsvorschrift dieses gemeinsamen Abschnitts, wird ihre Platzierung an so später Stelle des Gesetzes als „unangemessen versteckt“ kritisiert.401 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den ordre public-Klauseln des § 73 IRG bezieht sich weitgehend auf Auslieferungsfälle;402 diese prägen schon aufgrund der Zahl der Anwendungsfälle403 auch das Gros der Judikatur. I. Exklusivitätsverhältnis von § 73 S. 1 zu S. 2 IRG Nach dem Willen des Gesetzgebers stehen § 73 S. 1 und S. 2 IRG in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander. Dies ergibt sich aus der Normgenese. In seiner ursprünglichen Fassung bei Inkrafttreten des IRG am 1. Juli 1983404 bestand § 73 IRG nur aus seinem heutigen Satz 1. Nach dem Willen des Gesetzgebers dient dieser dazu, „solche Verstöße zu berücksichtigen, die sich nicht in ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Sie ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist.“ 398 BT-Drucks. 15/1718, S. 11. 399 Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 73 IRG Rn. 4. 400 Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 73 IRG Rn. 4. 401 Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 73 IRG Rn. 1. 402 So weitestgehend auch die Überlegungen von Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/ Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 73 IRG Rn. 6a ff. 403 Siehe dazu auch oben Teil 1, Kapitel 1 C.II.3.b): An Deutschland werden fünfmal mehr Ersuchen um Auslieferung zur Strafvollstreckung als um Vollstreckungsübernahme gerichtet; betracht man allein die Ersuchen anderer Mitgliedstaaten der EU an Deutschland, so sind es gar siebenmal mehr Ersuchen. 404 BGBl. 1982 I S. 2071.
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Teil 1, Kap. 2: Rechtsgrundlagen vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses
dem jeweils aktuellen Verfahrensabschnitt, sondern in dem zu fördernden ausländischen Verfahren insgesamt manifestieren und auf die rechtliche Bewertung der einzelnen Rechtshilfehandlung zurückwirken“.405 Die europäische ordre public-Klausel des § 73 S. 2 IRG wurde erstmals im Rahmen der ersten Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl406 eingefügt.407 Nach Nichtigerklärung dieses ersten Europäischen Haftbefehlsgesetzes mit Urteil des BVerfG vom 18. Juli 2005408 hat das zweite Europäische Haftbefehlsgesetz vom 20. Juli 2006 den ordre public-Vorbehalt des § 73 S. 2 IRG in textlich leicht veränderter Form wieder eingefügt,409 ohne dass damit eine inhaltliche Änderung gegenüber der Textfassung nach dem ersten Europäischen Haftbefehlsgesetz vorgenommen werden sollte.410 Die Eingangsformulierung „Liegt dem Ersuchen ein Europäischer Haftbefehl zugrunde, so [. . .]“ wurde ersetzt durch Inbezugnahme des den Europäischen Haftbefehl regelnden Abschnitts des IRG: „Bei Ersuchen nach dem Achten Teil ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn [. . .]“. Für die inhaltliche Diskussion des durch § 73 S. 2 IRG in Bezug genommenen materiellen Rechtsstandards ist diese Änderung daher ohne Belang.411 Die entsprechende Passage der Gesetzesbegründung zum ersten Haftbefehlsgesetz kann weiterhin zur Auslegung der Norm herangezogen werden. Im Regierungsentwurf zum ersten Europäischen Haftbefehlsgesetz vom 15. August 2003 begründete die damalige deutsche Bundesregierung die Notwendigkeit des neuen Satz 2 damit, dass die Unzulässigkeit eines Überstellungsersuchens nach dem Rahmenbeschluss nicht mit dem Argument eines Verstoßes gegen den nationalen ordre public begründet werden könne. Denn der nationale ordre public ist im Rahmenbeschluss nicht als Ablehnungsgrund für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vorgesehen. Allerdings, heißt es in der Begründung des Regierungsentwurfs weiter, erkenne auch der Rahmenbeschluss an, dass in Fällen rechtsstaatlicher Defizite eines Europäischen Haftbefehls die Auslieferung412 abgelehnt werden könne. Zum Beleg wird auf Art. 1 Abs. 3 RB 2002/ 405
BT-Drucks. 9/1338, S. 93. Siehe auch oben Teil 1 Kapitel 1 A.II.4.b). RB 2002/584/JI. 407 Art. Nr. 3 G. v. 21. Juli 2004, BGBl. II S. 1748. 408 BVerfGE 113, 273 (274) (Europäischer Haftbefehl); s. dazu insbesondere Schorkopf (Hrsg.), Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht (2006). 409 Vgl. Art. 1 Nr. 5 G. v. 20.07.2006, BGBl. I S. 1721. 410 Vgl. Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 73 IRG Rn. 131. 411 Zur Ausdehnung des sachlichen Anwendungsbereichs des § 73 S. 2 IRG durch diese Gesetzesänderung vgl. sogleich unter C.II., in diesem Kapitel. 412 In der Terminologie des Rahmenbeschlusses hätte von „Überstellung“ gesprochen werden müssen; der deutsche Gesetzgeber hat bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl an der traditionellen Terminologie festgehalten. 406
C. Ordre public-Grenze gegenüber Mitgliedstaaten der EU
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584/JI über den Europäischen Haftbefehl verwiesen, der festhält, dass der Rahmenbeschluss nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.413 Vergleichbare Bestimmungen finden sich auch in den weiteren Rahmenbeschlüssen zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, so etwa in Art. 3 Abs. 4 RB über die Europäische Vollstreckungsanordnung.414 Anzumerken bleibt, dass diese Festlegungen nur deklaratorischen Charakter haben, denn aufgrund des Vorrangs der primärrechtlichen Bestimmungen des Unionsrechts gegenüber einem dem Unionssekundärrecht zuzuordnenden Rahmenbeschluss muss sich der Rahmenbeschluss bzw. müssen sich seine Umsetzung und Anwendung schon normhierarchisch zwingend an dem so in Bezug genommenen Maßstab des europäischen ordre public messen lassen.415 Damit sind nicht nur die Unionsorgane, sondern auch die mitgliedstaatlichen Organe, vorliegend also diejenigen Organe bzw. Behörden, die über die Zulässigkeit und Bewilligung einer Vollstreckungshilfe entscheiden, zur Beachtung dieses europäischen ordre public verpflichtet. Für die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgeschriebenen Rechte stellt das Art. 51 Abs. 1 EU-GRCh ausdrücklich klar. II. Bedeutung des § 73 S. 2 IRG für die Vollstreckungshilfe mit den Mitgliedstaaten der EU bei freiheitsentziehenden Sanktionen de lege lata und de lege ferenda Im Zuge der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Vollstreckung von Sicherstellungsentscheidungen hat der deutsche Gesetzgeber den ursprünglich nur auf den Europäischen Haftbefehl bezogenen europäischen ordre public-Vorbehalt des § 73 S. 2 IRG auf die weiteren Neuregelungen des Rechtshilfeverkehrs mit den Mitgliedstaaten der EU ausgedehnt.416 413 BR-Drucks. 547/03, S. 27. Der genaue Wortlaut des § 73 S. 2 IRG wurde aufgrund der Stellungnahme des Bundesrates noch abgeändert, vgl. BT-Drucks. 15/1718, S. 11, 27. 414 Auch Erwägungsgrund 13 RB 2008/909/JI nimmt auf die Grundrechte, wie sie in Art. 6 EUV anerkannt und in der EU-GRCh verankert sind, Bezug. 415 Die Europäische Kommission stand in ihrem ersten Umsetzungsbericht auf Basis des Art. 34 RB EuHB der expliziten Verankerung eines entsprechenden Ablehnungsgrundes im mitgliedstaatlichen Umsetzungsrecht zunächst kritisch gegenüber, vgl. KOM(2006) 8 endg., S. 6. In ihrem neuesten Umsetzungsbericht erkennt sie hingegen ausdrücklich an, dass eine Überstellung auf Basis eines Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde nicht vorgesehen ist, wenn diese unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls davon überzeugt ist, dass die Übergabe zu einem Verstoß gegen die Grundrechte des Betroffenen aufgrund inakzeptabler Haftbedingungen führen würde, vgl. KOM(2011) 175 endg., S. 7. Dem lässt sich die grundsätzliche Anerkennung einer entsprechenden Prüfungsbefugnis des Vollstreckungsstaates entnehmen. 416 Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates v. 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen
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Teil 1, Kap. 2: Rechtsgrundlagen vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses
1. Gesetzliche Vollstreckungshilfe de lege lata Zu diesen Neuregelungen zählten auch die im gleichen Zuge geschaffenen §§ 84, 85 IRG a. F. über den Vollstreckungshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten der EU. Damit ist seit der Neuregelung anstelle des § 73 S. 1 IRG bereits § 73 S. 2 IRG auf den gesetzlichen Vollstreckungshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten der EU anzuwenden. 2. Anwendbarkeit des § 73 S. 2 IRG auf die vertragliche Vollstreckungshilfe de lege lata? Zwar ist wegen des Vorrangs der vertraglichen vor der gesetzlichen Rechtshilfe, § 1 Abs. 3 IRG, streitig, ob eine der gesetzlichen ordre public-Klauseln des § 73 IRG im Bereich der vertraglichen Rechtshilfe Anwendung finden kann, wenn der Vertrag selbst keine ordre public-Klausel enthält.417 Allerdings wurde in der vorliegenden Untersuchung bereits dargelegt, dass das Überstellungsübereinkommen des Europarates als das maßgebliche völkervertragliche Übereinkommen zwar keine ordre public-Klausel beinhaltet, dies jedoch gerade der Ausgestaltung der Entscheidung des ersuchten Staates als Ermessensentscheidung geschuldet ist. Bei dieser Ermessensentscheidung müssen deutsche Behörden in jedem Fall zumindest prüfen, ob die Anforderungen des § 73 Abs. 2 IRG inhaltlich gewahrt sind.418 3. Anwendbarkeit des § 73 S. 2 IRG auf das Umsetzungsrecht über die Europäische Vollstreckungsanordnung § 73 S. 2 IRG bleibt auch im Vollstreckungshilfeverkehr bei freiheitsentziehenden Sanktionen nach Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung in deutsches Recht anwendbar. Der Gesetzgeber hat
oder Beweismitteln in der Europäischen Union (2003/577/JI-UG), G. v. 06.06.2008 BGBl. I S. 995. 417 Vgl. Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 73 IRG Rn. 8, der sich selbst dagegen ausspricht. 418 Vgl. zu einem solchen Zusammenhang von Ermessensentscheidung und ordre public-Prüfung auch Linke, Das neue Recht der Internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Österreichischer Landesbericht, ZStW 96 (1984), 580 (583): „In einem Gesetz, das nur von der Zulässigkeit der Auslieferung und nicht von der Verpflichtung dazu handelt, hat eine solche Bestimmung ihre Berechtigung, wenngleich die im Besonderen Teil formulierten gesetzlichen Auslieferungsverbote in der Regel ausreichen werden, alle denkbaren Fälle einer Unzulässigkeit der Auslieferung abzudecken.“ Anders als nach hier vertretener Ansicht macht Linke damit aber zugleich deutlich, dass er im Falle der Kollision von ordre public-Anforderungen und Verpflichtung zur Rechtshilfe jedenfalls bei der Auslieferung eine ordre public-Begrenzung nicht anerkennt.
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mit Gesetz vom 15.07.2015419 die Vorschriften zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung in den Neunten Teil des IRG in Ersetzung der bisherigen §§ 84, 85 IRG eingegliedert. Dafür sprach bereits die neu angelegte Systematik des Achten und Neunten Teils des IRG, in denen die Regelungen zum Rechtshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten der EU ersichtlich möglichst zusammengefasst werden sollen. Zudem war dieses Vorgehen kohärent zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Vollstreckung von Geldsanktionen, die mit den §§ 86 ff. IRG erfolgt und zum 28. Oktober 2010 in Kraft getreten ist.420 III. Inhalt des Verweises auf den europäischen ordre public Den wesentlichen Gehalt jedes ordre public im Rechtshilferecht bildet nach heutigem Verständnis die Achtung der Grund- und Menschenrechte des von der Rechtshilfe Betroffenen.421 Im Folgenden wird der Inhalt des europäischen ordre public-Vorbehalts näher untersucht. Klarzustellen ist aber, dass damit nicht die Auffassung vertreten wird, dass neben der in § 73 S. 2 IRG deklaratorisch festgelegten Grenze der Rechtshilfeleistung für andere Mitgliedstaaten der EU nicht weitere, sich aus deutschen verfassungsrechtlichen Bestimmungen ergebende Grenzen zu beachten sein können. Insbesondere bei Verzicht auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit als Vollstreckungshilfevoraussetzung bedarf es, wie an späterer Stelle zu zeigen sein wird, über den Schutz des europäischen ordre public hinaus des Schutzes des nationalen ordre public.422 1. Statische Verweisung auf Art. 6 EU a. F. Rechtsmethodisch wirft § 73 S. 2 IRG die weitere Frage auf, ob der Verweis auf die „in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätze“ nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon nunmehr ohne entsprechende Änderung des IRG als Verweis auf die Neufassung des Art. 6 EUV anzusehen ist.423 Die Gesetzesmaterialien deuten auf eine statische Verweisung auf Art. 6 EU in der bei Inkraftsetzung von § 73 S. 2 IRG geltenden Fassung hin, also einen Verweis auf Art. 6 EU in der durch den Vertrag von Amsterdam424 erlangten Gestalt.425 Für eine formal statische Verweisung spricht auch die damit 419
BGBl. I S. 1349; siehe dazu unten Teil 4. Vgl. Art. 5 G v. 18.10.2010, BGBl. I S. 1408. 421 Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 73 IRG Rn. 42. 422 Ausführlich Teil 2 Kapitel 1 D. sowie Kapitel 2 A. und B. 423 Offengelassen von OLG Stuttgart, StV 2010, 262. 424 BGBl. 1999 II S. 387. 425 Vgl. BT-Drucks. 15/1718, S. 27. 420
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Teil 1, Kap. 2: Rechtsgrundlagen vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses
verbundene methodische Absicherung, dass das angestrebte Schutzniveau nicht durch eine (nicht zu erwartende) vertragliche Absenkung des Schutzstandards auf Unionsebene unterlaufen werden kann. Nach dem Willen des Gesetzgebers fordert der Vorbehalt des europäischen ordre public damit die Versagung der Rechtshilfeleistung bei einem Verstoß der zugrundeliegenden ausländischen Entscheidung gegen die gemeinsamen europäischen Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, in die auch wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung eingeflossen sind, und gegen die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention.426 2. Einbeziehung der Grundrechtecharta und Rechtsprechung des EuGH zur Interpretation Trotz statischer Verweisung muss es aber möglich bleiben, auch die EUGrundrechtecharta sowie neue Rechtsprechung des EuGH zur Interpretation der in Art. 6 EU a. F. angesprochenen Grundsätze heranzuziehen. Eine dynamische Interpretation der statisch in Bezug genommenen Vorschrift ist geboten.427 Erst ein solches Normverständnis des § 73 S. 2 IRG verhindert nicht nur die Absenkung des Schutzniveaus, sondern verpflichtet zugleich dazu, dessen weiteren Ausbau zu berücksichtigen. Inhaltlich gewährleistet dieses Ergebnis trotz eines methodisch abweichenden Weges ein gleiches Schutzniveau, wie dies durch den heutigen Art. 6 EUV in seiner durch den Lissabonner Vertrag erlangten Gestalt gegeben ist.428 3. Anknüpfung an Art. 6 EUV Inhaltlich bildet die europäische ordre public-Klausel des § 73 S. 2 IRG den Anknüpfungspunkt insbesondere für die Prüfung der Vereinbarkeit einer Vollstreckungshilfeleistung mit den Unionsgrundrechten.429 Deren konkrete Ausformung ist anhand der verschiedenen Grundrechtsquellen des Unionsrechts zu bestimmen. Zu diesen zählt die Charta der Grundrechte der EU, die mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon nunmehr förmlicher Bestandteil des Unionsprimär426
BT-Drucks. 15/1718, S. 11. In diesem Sinne auch Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 73 IRG Rn. 151. 428 Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 73 IRG Rn. 107 f., bezieht zur Frage einer dynamischen oder statischen Verweisung nicht ausdrücklich Stellung. Inhaltlich bezieht er sich aber zu Recht auf das Schutzniveau, welches durch Art. 6 EUV i. d. F. des Lissabonner Vertrages gewährleistet wird, indem der Wortlaut dieser aktuellen Vorschrift wiedergegeben wird. 429 Eingehend zum Ganzen Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 73 IRG Rn. 43 ff. 427
C. Ordre public-Grenze gegenüber Mitgliedstaaten der EU
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rechts ist, Art. 6 Abs. 1 EUV. Daneben bleiben aber die als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts vom EuGH herausgearbeiteten Unionsgrundrechte von Bedeutung, die dieser unter Rückgriff auf die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Rechtserkenntnisquellen konturiert hat.430 Eigenständige Bedeutung behalten diese ungeschriebenen Unionsgrundrechte, soweit sie über den Gewährleistungsgehalt der Grundrechtecharta hinausgehen. Soweit die in der Grundrechtecharta gewährleisteten Grundrechte wiederum solche Rechte beinhalten, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, haben die Rechte nach der Grundrechtecharta zumindest die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie diese durch die Europäische Menschenrechtskonvention in der durch den EGMR herausgearbeiteten Gestalt haben.431 Eine orientierende Übersicht zu diesen parallelen Gewährleistungen findet sich in den nicht rechtsverbindlichen, ursprünglich unter der Verantwortung des Präsidiums des Konvents zur Ausarbeitung der EU-GRCh erstellten Erläuterungen zur Charta der Grundrechte.432 Die Absicherung des durch die EMRK gewährten Mindeststandards im Rahmen der EU-GRCh schließt jedoch die Gewährung eines höheren Schutzstandards durch die Grundrechtecharta nicht aus.433 Damit kommen insbesondere, aber nicht ausschließlich, die in Kapitel VI EUGRCh verankerten justiziellen Grundrechte sowie die materiellen Gewährleistungen der Artikel 3, 5, 6, 7, 8 und 13 EMRK als Grenze einer Vollstreckungshilfe in Betracht. Eine Vollstreckungshilfe ist daher unzulässig, wenn etwa das verurteilende Erkenntnis unter Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren, Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh, zustande gekommen ist. Nach der – vorliegend als zu eng kritisierten – gesetzlichen Anordnung in § 73 S. 2 IRG darf dabei nicht der Maßstab des deutschen Rechts angelegt werden, vielmehr ist Orientierungspunkt der Mindeststandard, wie er durch Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 EMRK gewährleistet wird,434 so430 Grundlegend EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, 419 ff. (Rn. 7); Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 ff. (Rn. 3); EuGH, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, 491 ff. (Rn. 12 ff.). 431 Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-GRCh. 432 ABl. EU 2007 C 303/17 (33 f.). 433 Art. 52 Abs. 3 S. 2 EU-GRCh. 434 Siehe dazu insbesondere Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002); Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings (2005); Gaede, Fairness als Teilhabe – Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK (2007); zum Recht auf Information und zum Recht auf Zugang zu anwaltlichem Beistand siehe Schumann, Von Beschuldigtenrechten im Vorverfahren und Erstkontakt mit der Polizei im Lichte aktueller EGMR-Rechtsprechung, in: Lienbacher/Wielinger (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliches Recht (2011), S. 27 ff. Für eine ausführliche Analyse des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, RB 2002/ 584/JI, anhand der Gewährleistungen der EMRK jüngst Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte. Risiken der Verletzung von Grundrechten durch den EURahmenbeschluss im Licht der EMRK (2012), S. 95 ff.
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Teil 1, Kap. 2: Rechtsgrundlagen vor Umsetzung des Rahmenbeschlusses
weit nicht der Mindeststandard durch eine allfällige Rechtsprechung des EuGH auf Basis des Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh angehoben wird. Ein mögliches Verfahren, in dem eine solche Rechtsprechung des EuGH ergehen könnte, würde etwa eine Vorabentscheidung über die Auslegung der bereits beschlossenen oder geplanten Richtlinien zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren435 sein. IV. Kritische Stellungnahme zur dogmatischen Tragfähigkeit des Ausschlusses des nationalen ordre public als Grenze der Rechtshilfe für Mitgliedstaaten der EU Der deutsche Gesetzgeber hat mit seiner historischen Begründung für die Notwendigkeit des § 73 S. 2 IRG deutlich gemacht, dass er es für unzulässig erachtet, die Rechtshilfeleistung auf Basis des Umsetzungsrechts unionsrechtlicher Rahmenbeschlüsse über die gegenseitige Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen am Maßstab des deutschen ordre public zu messen. Einschlägig ist nach dem Willen des Gesetzgebers vielmehr allein der europäische ordre public. Diese Einschätzung des Gesetzgebers ist jedoch zu hinterfragen: Wenn und soweit nämlich, erstens, den wesentlichen Rechtsgrundsätzen der deutschen Rechtsordnung Verfassungsrang zukommt und, zweitens, unionsrechtliche Rahmenbeschlüsse nicht am Vorrang des Unionsrechts teilnahmen,436 kann der deutsche Gesetzgeber nicht durch einfachgesetzliche Anordnung die Geltung dieser verfassungsrechtlichen Maßstäbe abbedingen.437 Dies gilt auch dann, wenn das einfachge435 Siehe die zugrundeliegende Entschließung des Rates vom 30. November 2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren, ABl. EU 2009 C 295/1. 436 Ausführlich dazu unten Teil 2 Kapitel 1 F. Dort wird dargelegt, warum aus der Ausgestaltung der früheren Dritten Säule heraus unionsrechtlichen Rahmenbeschlüssen vor Ablauf der Übergangsfrist des Lissabonner Reformvertrages kein Vorrang vor deutschem Verfassungsrecht zukam. 437 In diese Richtung Hackner/Schomburg/Lagodny/Gleß, Das 2. Europäische Haftbefehlsgesetz, NStZ 2006, 663 (665, 668): „Ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, diese Notbremse des nationalen Ordre Public für sicherlich nur seltene Fälle völlig auszuschließen, bleibt abzuwarten. [. . .] Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass gerade an dieser Stelle das vage Instrument des nationalen Ordre Public wieder herhalten muss, [. . .].“ Vgl. auch jüngst in einem Verfahren im Hinblick auf die Auslegung des Versagungsgrundes des § 83 Nr. 4 IRG (Art. 5 Abs. 2 RB-EuHb) über die Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zur Strafvollstreckung BGH, Beschl. v. 19.06. 2012, 4 Rs 5/12, HRRS 2012 Nr. 644 (S. 10): „Die Subsumtion des polnischen Gnadenverfahrens unter das Tatbestandsmerkmal der ,Überprüfung‘ in § 83 Nr. 4 IRG verstößt schließlich nicht gegen allgemeine (vgl. BGH, Urt. v. 3. Dezember 2009 – 3 StR 277/ 09, BGHSt 54, 216 [Tz. 28]), insbesondere nicht gegen verfassungs- oder völkerrechtliche Rechtsgrundsätze. Die deutschen Gerichte sind von Verfassungs wegen gehalten, im Auslieferungsverfahren zu prüfen, ob die Auslieferung mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar ist, zu de-
C. Ordre public-Grenze gegenüber Mitgliedstaaten der EU
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setzliche Umsetzungsrecht unionsrechtlicher Rahmenbeschlüsse auf dessen zwingenden Vorgaben beruht und die Rechtshilfegrenze des nationalen ordre public im Umsetzungsrecht nur deswegen ersetzt wurde, weil der Rahmenbeschluss keinen Raum für die Anwendung des nationalen ordre public belässt. In einem solchen Fall ist es denkbar, dass es zu einem Widerspruch kommt zwischen den innerstaatlich-verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Umsetzung des Rahmenbeschlusses und den ursprünglich im Rahmen intergouvernementaler Zusammenarbeit in der EU begründeten Anforderungen an die mitgliedstaatlichen Organe. Sowohl das Verfassungsrecht als auch das Unionsrecht halten jedoch Methoden zur Vermeidung einer solchen Konfliktsituation bereit, so etwa die Völkerbzw. Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, die Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung so weit als irgend methodisch möglich, und, ganz allgemein, den Grundsatz der Loyalität zwischen den Mitgliedstaaten sowohl untereinander als auch gegenüber der Union. Die Beschränkung der ordre public-Prüfung auf den europäischen ordre public gemäß § 73 S. 2 IRG könnte mit allerdings auch mit der von der vermittelnden Lösung geforderten Absenkung des Prüfungsmaßstabs des nationalen ordre public zu rechtfertigen versucht werden. Wie gezeigt, fordert diese Ansicht die beschränkende Abwägung der Grundrechtsverpflichtung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG mit dem Verfassungsgebot der Völkerrechtsfreundlichkeit. Jedoch wurde bereits klargelegt, dass diese generelle Absenkung des Prüfungsmaßstabs nicht überzeugend ist, sondern auch im transnationalen Strafverfahren ein gleichwertiger Grundrechtsstandard gewahrt werden muss. Hinzu kommt, dass, wie zu zeigen sein wird, die Beschränkung der Rechtshilfegrenze auf den europäischen ordre public bei der Vollstreckungshilfe keinen hinreichenden Ausgleich für die durch die Abschaffung des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit als Vollstreckungshilfevoraussetzung gesetzten Grundrechtsrisiken gewährleisten kann.438
nen das Gebot der Verhältnismäßigkeit, das insbesondere unerträglich harte und unter jedem Gesichtspunkt unangemessene Strafen verbietet, und das aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG folgende Verbot grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Strafens zählen (BVerfG, Beschl. v. 6. Juli 2005 – 2 BvR 2259/04 [Tz. 22 f.], BVerfGE 113, 154, 162; v. 16. Januar 2010 – 2 BvR 2299/09 [Tz. 18 f.], BVerfGK 16, 491, 495 f. m.w. N.).“ 438 Siehe unten Teil 2 Kapitel 1 D. Vgl. auch unten Teil 4 C.III.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
Kapitel 3
Konzeption der Vollstreckungshilfe durch den Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung Im vorliegenden Kapitel wird die Neukonzeption der Vollstreckungshilfe durch den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung untersucht. 1. Dabei sollen die Neuerungen gegenüber der bisherigen weitgehend auf völkervertraglichen Vereinbarungen basierenden Vollstreckungshilfe, wie sie im zweiten Kapitel der Arbeit aufgezeigt wurden, herausgearbeitet und bewertet werden. 2. Der Untersuchung des Rahmenbeschlusses vorangestellt werden die Strategieprogramme, Aktions- und Leitpläne, also sogenanntes soft law der europäischen Organe, soweit es sich mit der Regelung der Vollstreckungshilfe unter Rückgriff auf die Methode gegenseitiger Anerkennung befasst. Diese Materialien bieten Anhaltspunkte für die historisch-teleologische Auslegung des Rahmenbeschlusses selbst. Sie zeigen zudem, wo die Organe der Union besondere Probleme bei der Neugestaltung der Vollstreckungshilfe verortet haben und bieten damit wertvolle Hinweise für die nachfolgende Untersuchung des Rahmenbeschlusses. 3. Methodisch konzentrieren sich die vorliegenden Überlegungen zunächst auf die Wortlautauslegung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung. Obwohl zumeist die Bedeutung der teleologischen Auslegung für das Unionsrecht betont wird, darf die Bedeutung der Wortlautauslegung nicht unterschätzt werden. Bei allen bereits sich aus der Mehrsprachenauthentizität des Unionsrechts439 ergebenden Problemen440 bleibt der Wortlaut der Norm maßgebend für die Bestimmung ihres Inhalts;441 der Wortlaut des Textes ist zunächst 439 Es gilt die Gleichrangigkeit der Textfassungen des gesamten Unionsrechts in allen 24 offiziellen Landessprachen der Mitgliedstaaten, die für die Primärverträge in Art. 55 Abs. 1 EUV zum Ausdruck kommt und für das Sekundärrecht in Art. 4 der VO (EWG) 1/58, ABl. EU 1958 L 17/385 idF VO (EU) 517/2013, ABl. EU 2013 L 158/1 festgelegt ist. 440 Der Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen kann daher helfen, Unklarheiten bei der Interpretation des Unionsrechts zu lösen; andererseits kann auch eine übersetzungsbedingte Begriffsdivergenz deutlich machen, dass eine vermeintlich eindeutige Auslegung einer Sprachfassung bei Einbeziehung anderer authentischer Sprachfassungen in Frage gestellt wird. Zu Lösungsstrategien für die sich aus Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen ergebenden Probleme Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht. Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof (2004), S. 104 ff., 227 ff. 441 Vgl. etwa EuGH, Rs. 237/84, Kommission/Belgien, Slg. 1986, 1247 ff. (Rn. 17): „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes kann sich die objektive Bedeutung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts nur aus diesen Bestimmungen selbst, unter
Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
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aus sich selbst heraus auszulegen.442 Angesichts der häufig funktionalen, zielorientierten und gestaltungsoffenen Normen des Unionsrechts und der mit der Mehrsprachenauthentizität verbundenen Probleme ist es aber konsequent, wenn auch der teleologischen Auslegung bei der Interpretation des Rahmenbeschlusses eine besondere Bedeutung zukommt. Eng verbunden ist dies mit dem vom EuGH gerade in den rechtsfortbildenden Entscheidungen so häufig genutzten effet utileArgument,443 das sich an dem für das bestmögliche Erreichen der Ziele der Union Erforderlichen orientiert. 4. Mit der teleologischen Auslegung eng verknüpft ist auch die systematische Auslegung der Norm im Kontext des Rechtsaktes. Dabei sind sowohl der engere Zusammenhang als auch entfernter liegende Bestimmungen zu berücksichtigen.444 Für die vorliegende Untersuchung beinhaltet dies die Notwendigkeit, die einzelnen Normen des Rahmenbeschlusses zur Europäischen Vollstreckungsanordnung im Kontext des gesamten Rechtsaktes zu analysieren, aber auch, wo erforderlich, den horizontalen Kontext zu berücksichtigen. Dies betrifft für das Konzept der gegenseitigen Anerkennung, insbesondere bei den Versagungsgründen, die sonstigen Rechtsakte gegenseitiger Anerkennung strafjustitieller Entscheidungen. Ebenso sind etwa die sekundärrechtlichen Konkretisierungen der Personenfreizügigkeit heranzuziehen.445 Im vertikalen Kontext erfordert dies wiederum die kohärente systematische Einordnung der Regelungen zur Vollstreckungsanordnung in die Vorgaben des Primärrechtssystems.446 Diese Einordnungen und Kontextualisierungen bleiben dem anschließenden ersten Kapitel des zweiten Hauptteils der vorliegenden Arbeit vorbehalten. Berücksichtigung ihres Zusammenhangs ergeben.“; EuGH, Rs. C-25/94, Kommission/ Rat, Slg. 1996, I-1469 ff. (Rn. 38): „Eine solche Erklärung kann nämlich nicht zur Bestimmung der Tragweite des Ratsbeschlusses herangezogen werden, wenn der Inhalt dieser Erklärung im Wortlaut des Beschlusses keinen Niederschlag findet und somit keine rechtliche Bedeutung hat [. . .].“ 442 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997), S. 145; Bleckmann, Europarecht6 (1997), Rn. 539; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht. Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof (2004), S. 128. 443 Siehe dazu Streinz, Der effet utile in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling (1995), Bd II, S. 1491 ff.; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (2008). 444 Zuleeg, Die Auslegung des europäischen Gemeinschaftsrechts, EuR 1969, 97 (102 f.); Bredimas, Methods of Interpretation and Community Law (1978), S. 43; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht. Eine vergleichende Untersuchung der Auslegungspraxis des Europäischen Gerichtshofs und der österreichischen Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (1994), S. 73; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht. Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof (2004), S. 129. 445 Siehe dazu ausführlich Teil 2 Kapitel 1 E. 446 Siehe dazu ausführlich Teil 2 Kapitel 1 C.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
A. Konzeptionelle Vorüberlegungen der Neuregelung: Vollstreckungshilfe aus Sicht der Strategieprogramme, Aktions- und Leitpläne I. Programmatische Vorgaben des Europäischen Rates Die politischen Leitlinien zur Erreichung des Zieles der Gewährleistung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts unter Rückgriff auf die Methode gegenseitiger Anerkennung sind vom Europäischen Rat vorgegeben. Zu nennen sind hier insbesondere die Schlussfolgerungen des Vorsitzes zur Tagung des Europäischen Rates in Cardiff am 15. und 16. Juni 1998.447 Hinzu kommt der von der Kommission im politischen Auftrag des Europäischen Rates448 vorgelegte Aktionsplan des Rates und der Kommission zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags über den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (sogenannter Wiener Aktionsplan),449 den der Rat am 3. Dezember 1998 angenommen hat und der vom Europäischen Rat auf seiner Tagung am 10./11. Dezember 1998 ausdrücklich gebilligt wurde. Schließlich ist auf die 5-Jahres-Programme des Europäischen Rates zur Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu verweisen.450 II. Konzeption der Umsetzung durch Rat und Kommission In Umsetzung dieser strategischen Leitlinien haben der Rat und die Kommission konzeptionelle Vorüberlegungen zur Neuregelung der Vollstreckungshilfe auf Basis des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung vorgelegt. Diese werden im Folgenden daraufhin untersucht, welche Überlegungen zur Vollstreckungshilfe durch gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen angestellt wurden. Mit deren Analyse werden vorliegend zwei Ziele verfolgt: Erstens sollen so strukturbildende Überlegungen der Rechtssetzungsorgane herausgearbeitet werden, die zum besseren Verständnis der in diesem Kapitel vorgestellten Regelungen des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung beitragen können. Zweitens werden in diesen konzeptionellen Vorüberlegungen rechtliche Problempunkte der Vollstreckungsüberstel447 Dort Tz. 39: „Der Europäische Rat hebt die Bedeutung einer wirkungsvollen justitiellen Zusammenarbeit zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität hervor. Er erkennt an, daß die Befähigung der einzelstaatlichen Rechtssysteme zu enger Zusammenarbeit gestärkt werden muß, und ersucht den Rat, die Möglichkeiten für eine weitergehende gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen von Gerichten der jeweils anderen Mitgliedstaaten zu ermitteln.“ 448 Siehe die Schlussfolgerungen des Vorsitzes zum Europäischen Rat von Cardiff am 15. und 16. Juni 1998, abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/summits/car1_de. htm (06.10.2012). 449 ABl. EU 1999 C 19/1, Tz. 49 lit. c. 450 Siehe dazu unten Teil 2 Kapitel 1 D.I.2.
A. Konzeptionelle Vorüberlegungen der Neuregelung
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lung identifiziert, für die in der vorliegenden Studie zu untersuchen sein wird, ob und wie diese durch den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung gelöst werden. 1. Rechtspraktische Überlegungen und Zielkonkretisierung – Mitteilung der Kommission an den Rat und das Parlament zur gegenseitigen Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen (2000) Erste rechtspraktische Überlegungen und Konkretisierungen des Anerkennungsziels finden sich in der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Parlament: Gegenseitige Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen vom 26. Juni 2000.451 a) Verfolgung von Rechtsdurchsetzungsziel und Resozialisierungsziel sowie Anerkennung des Primats des Wohnsitzkriteriums Unter Pkt. 9.1. wird die gegenseitige Anerkennung von Freiheitsstrafen erörtert. Dabei werden die zwei auch in der vorliegenden Studie deutlich gewordenen Ziele der transnationalen Vollstreckungshilfe betont, die miteinander in Einklang gebracht werden müssten, nämlich das Interesse des Urteilsstaates an der Sanktionsdurchsetzung und das Interesse des Verurteilten auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft.452 Aus dem Resozialisierungsinteresse wird geschlussfolgert, „dass Freiheitsstrafen grundsätzlich so nah wie möglich am sozialen Umfeld vollstreckt werden sollten, in das der Täter wieder eingegliedert werden soll. In den meisten Fällen wird es sich dabei um den Mitgliedstaat handeln, indem der Täter seinen Wohnsitz hat“.453 Damit wird das Wohnsitzkriterium als gegenüber der Staatsbürgerschaft zumindest gleichrangiges Kriterium für die Vollstreckungsüberstellung anerkannt. b) Anerkennung des Urteils und Verfahrensvereinfachung durch Adoption der getroffenen Entscheidung Für die Frage des Umgangs mit der ausgesprochenen Strafe werden in der Mitteilung Modelle von Adoptions- und Exequaturentscheidungen abgewogen und eine Adoption befürwortet.454 Es wird argumentiert, „die Anerkennung einer Entscheidung bedeutet vor allem, die darin vorgesehene Rechtsfolge zu verwirkli451
KOM(2000) 495 endg. KOM(2000) 495 endg., S. 13 f. 453 KOM(2000) 495 endg., S. 14. Vgl. auch EKMR, Entsch. v. 20.10.1994, Hacisuleymanog˘lu v. Italien, Nr. 23241/94, die ein solches Interesse auch zu Art. 8 EMRK, dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, in Bezug setzt. 454 KOM(2000) 495 endg., S. 19. 452
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
chen, das heißt die Entscheidung zu vollstrecken“.455 Das Modell einer Exequaturentscheidung wird unter Hinweis auf die Schlussfolgerung des Europäischen Rates von Tampere verworfen. Dort werde in Teilziffer 34 das Zivilrecht betreffend ein Abbau von Zwischenmaßnahmen gefordert, ferner in Teilziffer 35 zur Frage der Auslieferung ausgeführt, das förmliche Auslieferungsverfahren sollte durch eine einfache Überstellung von Personen, die sich nach rechtskräftige Verurteilung der Justiz durch Flucht entziehen, ersetzt werden. Daher, so die Mitteilung, könne „man davon ausgehen dass die gegenseitige Anerkennung generell darauf abzielen sollte, Endentscheidungen so weit wie möglich vollständige und unmittelbare Wirkung in der gesamten Union zukommen zu lassen.“ 456 c) Vice versa Anerkennung der Vollstreckung und Verfahrenserleichterung durch ausschließliche Anwendung des Vollstreckungsrechts des Vollstreckungsstaates Zur Frage des anwendbaren Vollstreckungs- und Vollzugsrechts wird mit gegenseitigem Vertrauen zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten argumentiert. So wie der Vollstreckungsstaat auf die Richtigkeit der Entscheidung des Urteilsstaates vertrauen solle, müsse umgekehrt der Urteilsstaat darauf vertrauen, der Vollstreckungsstaat werde die Entscheidung korrekt vollziehen.457 Vollstreckungsund Vollzugsentscheidungen, die am Verhalten des Verurteilten anknüpfen, solle daher der Vollstreckungsstaat treffen. Argumentiert wird nicht nur unter Betonung des gegenseitigen Vertrauens, sondern auch mit Praktikabilitätserwägungen.458 Dies bezieht vor allem die Entscheidung über eine bedingte Entlassung ein. Der Vollstreckungsstaat stehe im direkten Kontakt mit dem Inhaftierten und könne daher dessen Verhalten am besten beurteilen.459 Nicht am Verhalten des Verurteilten anknüpfende Entscheidungen, insbesondere Straferlässe und Begnadigungen sollten in der Zuständigkeit des Urteilsstaates verbleiben.460 Für die Frage der Kostentragung der Haft wird in der Mitteilung argumentiert, dass die Strafvollstreckung als Strafrechtsdurchsetzung im Interesse des Urteilsstaates liege und dieser die Kosten der Haft tragen sollte.461 Mit letzterer Argumentation wird deutlich, dass das Interesse an der Sanktionsdurchsetzung ein wichtiger Punkt bei der Diskussion um die Neuregelung ist, der
455
KOM(2000) 495 endg., S. 8 f. KOM(2000) 495 endg., S. 9. 457 KOM(2000) 495 endg., S. 14. 458 KOM(2000) 495 endg., S. 14; siehe zur dogmatischen Beurteilung einer solchen Entscheidung oben Teil 1 Kapitel 1 B.II. und III. sowie unten I.IV., in diesem Kapitel. 459 KOM(2000) 495 endg., S. 14. 460 KOM(2000) 495 endg., S. 14. 461 KOM(2000) 495 endg., S. 14 f. 456
A. Konzeptionelle Vorüberlegungen der Neuregelung
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neben die Verbesserung der Resozialisierungschancen tritt. Auffallend sind auch die weiteren in der Mitteilung verwendeten Argumente: Jenseits der Frage nach dem Ob der Vollstreckungshilfe, die sich an den Zielen der Vollstreckungshilfe orientiert, werden für das Wie der Vollstreckungshilfe das gegenseitige Vertrauen und Praktikabilitätserwägungen in den Vordergrund gestellt. Dies ist aus zwei Gründen verständlich. Erstens soll die angestrebte Neuregelung die strafjustizielle Kooperation verbessern. Zweitens ist die Orientierung an Praktikabilitätsüberlegungen gerade im Bereich der Rechtshilfe häufig zu finden. Dennoch ist zu kritisieren, dass die Mitteilung grundrechtliche Überlegungen weitestgehend unberücksichtigt lässt. d) Durchsetzung des Anerkennungsgrundsatzes und Verfahrenserleichterung durch Verzicht auf Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit Detailliert wird die Frage des Erfordernisses einer beiderseitigen Strafbarkeit diskutiert. Zwar wird dieses als typisches Element bisheriger Rechtshilfemodelle identifiziert, es werden aber insbesondere Praktikabilitätserwägungen gegen dessen umfassende Beibehaltung eingewandt. So würde die dann in jedem Einzelfall erforderliche Prüfung nicht nur einen zusätzlichen Schritt und damit eine Verlängerung der Dauer eines jeden einzelnen Verfahrens bedeuten. In bestimmten Fällen müsste das Verfahren nahezu von neuem aufgerollt werden, wenn ein Tatbestandsmerkmal nach dem Recht des Vollstreckungsstaates relevant sei, das im Urteilsstaat bedeutungslos war und über das daher kein Beweis erhoben worden sei.462 Zwei Lösungsmodelle werden erwogen. Es könnten bestimmte Verhaltensweisen, die in einigen Mitgliedstaaten unter Strafe stehen, in anderen aber nicht, vom Anwendungsbereich der gegenseitigen Anerkennung ausgenommen werden. Aber auch dies könne zu erheblichen Schwierigkeiten führen, nämlich dann, wenn es notwendig werde, zu entscheiden ob ein bestimmter Fall unter einen Ausnahmetatbestand fällt oder nicht.463 Alternativ wird erwogen, das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit aufzugeben.464 Um aber Wertungskonflikte zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug auf dieselbe Handlung zu vermeiden, bedürfe es zugleich einer Koordination der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten.465 Damit stellt die Mitteilung eine Lösung in den Raum, die auf eine ausschließliche Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die konkrete Straftat abzielt.466 Al462
Zum Vorstehenden KOM(2000) 495 endg., S. 12. KOM(2000) 495 endg., S. 12. Siehe dazu unten F.II.3., in diesem Kapitel. 464 KOM(2000) 495 endg., S. 12 f. Siehe dazu unten F., in diesem Kapitel. 465 KOM(2000) 495 endg., S. 12 f., 19 ff. 466 Vgl. zu solchen Lösungsbestrebungen Hecker, Statement: Jurisdiktionskonflikte in der EU, ZIS 2/2011, 526 ff. Vgl. auch Lagodny, Empfiehlt es sich, eine europäische Gerichtskompetenz für Strafgewaltskonflikte vorzusehen?, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz, Berlin, März 2001 (2002), abrufbar unter http://www. uni-salzburg.at/strafrecht/lagodny (17.03.2013). 463
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
ternativ wurde erwogen, die gegenseitige Anerkennung auf bestimmte schwere Straftaten zu beschränken.467 Als hinderlich hierfür wurde gesehen, dass die Definition einer schweren Straftat jedoch in verschiedenen Rechtstexten uneinheitlich sei. In Anbetracht der zweifachen Zielsetzungen der gegenseitigen Anerkennung bestand zudem nach Ansicht von Rat und Kommission kein Grund, die Anwendung dieses Grundsatzes auf schwere Straftaten zu beschränken. Vielmehr sollten auch solche Personen, die für Vergehen verurteilt wurden, die nicht als eine schwere Straftat gelten, genauso für eine Vollstreckung in ihrem Herkunftsmitgliedstaat infrage kommen wie „schwere“ Straftäter. Dadurch würden ihre Chancen auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft deutlich erhöht werden können.468 Die gegenseitige Anerkennung sollte, so wird gefordert, direkt und automatisch, ohne einen zusätzlichen Verfahrensschritt erfolgen.469 In der Praxis scheine dies meist nicht möglich zu sein. Zumindest bedürfe es regelmäßig einer Übersetzung der Entscheidung. Zudem sei es regelmäßig erforderlich zu überprüfen, ob die Entscheidung eine Endentscheidung im vorgeschlagenen Sinne sei und ob diese von einer für eine solche Entscheidung zuständigen Behörde getroffen worden sei.470 Im Hinblick auf eine Einschränkung des Anwendungsbereichs der gegenseitigen Anerkennung oder auf bestimmte verfahrensrechtliche Schutzbestimmungen als Voraussetzung einer gegenseitigen Anerkennung wird erneut zu bedenken gegeben, dass eine solche Prüfung dann in jedem Einzelfall vorzunehmen sei. Mit jedem zusätzlichen Punkt, der zu prüfen sei, würde jedoch das Vollstreckbarkeitsverfahren länger und komplizierter, wobei die Hauptvorteile der gegenseitigen Anerkennung, die beschleunigte Geschwindigkeit und die Einfachheit des Verfahrens, unterminiert würden. Resümierend wird geschlussfolgert, „[e]in zu komplexes Vollstreckbarkeitsverfahren würde bewirken, daß die Regelung der gegenseitigen Anerkennung in der Praxis dem traditionellen Ersuchensmechanismus nahekommen würde“.471 e) Kritisches Fazit: Fokussierung allein auf möglichst umfassende Anerkennung sowie Praktikabilität und Verfahrensvereinfachung In einer Gesamtwürdigung der Mitteilung ist festzustellen, dass die Vorschläge wesentlich auf Überlegungen zur Verfahrenserleichterung und -beschleunigung sowie auf damit verbundenen Praktikabilitätsgesichtspunkten beruhen. Rechtliche Fragestellungen, die sich aus den Unterschieden der mitgliedstaatlichen
467 468 469 470 471
KOM(2000) 495 endg., S. 13. Zum Vorstehenden KOM(2000) 495 endg., S. 13. KOM(2000) 495 endg., S. 19. Zum Vorstehenden KOM(2000) 495 endg., S. 19. Zum Vorstehenden KOM(2000) 495 endg., S. 19.
A. Konzeptionelle Vorüberlegungen der Neuregelung
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Rechtsordnungen ergeben und für die Wahrung der Grundrechtspositionen des Betroffenen von Bedeutung sein können, werden kaum aus diesem Blickwinkel analysiert. Vielmehr lässt sich die vorgeschlagene Konzeption als eine „Simulation von Inlandsverhältnissen“ 472 umschreiben, ohne dass die Unterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als potentielle Hindernisse einer solchen Simulation hinreichend untersucht werden. 2. Grundkonstruktion und Bausteine des Anerkennungsmodells – Maßnahmenprogramm von Rat und Kommission zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen (2001) Weitere Überlegungen enthält das im Auftrag des Europäischen Rates473 von Rat und Kommission vorgelegte Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen vom 15. Januar 2001.474 a) Modulare Parameter zur sekundärrechtlichen Umsetzung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung Das Maßnahmenprogramm schlägt zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen allgemein eine Art ,Baukastenprinzip‘ vor. Es benennt sieben Parameter, deren Bestehen und Inhalt über das Ausmaß der gegenseitigen Anerkennung im einzelnen Rechtsakt entscheiden sollen.475 Im Einzelnen sei bei jedem Rechtsakt zur Umsetzung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung zu klären, ob es sich um eine allgemeine oder auf bestimmte Delikte begrenzte Maßnahme handeln solle, denn einige Maßnahmen zur Verwirklichung der gegenseitigen Anerkennung könnten auf schwere Straftaten begrenzt werden. Zudem müsse über die Beibehaltung oder Abschaffung des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit als Bedingung für eine Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen einer anderen Hoheitsgewalt entschieden werden. Es bedürfe entsprechender Mechanismen für den Schutz der Rechte von Dritten, Opfern und verdächtigen Personen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht müsste über die Festlegung gemeinsamer Mindestnor472 Der Begriff wurde vom ehemaligen Direktor des Juristischen Dienstes des EuGH Kohler, Herkunftslandprinzip und Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen im europäischen Justizraum, in: Reichelt (Hrsg.), Das Herkunftslandprinzip im europäischen Gemeinschaftsrecht (2006), S. 71 (91), für die parallele Entwicklung in der ziviljustiziellen Zusammenarbeit geprägt. 473 Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Europäischer Rat (Tampere), 15. und 16.10. 1999, Tz. 37. 474 ABl. EU 2001 C 12/10. 475 ABl. EU 2001 C 12/10 (11 f.).
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
men, deren es zur Erleichterung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung bedarf, entschieden werden, beispielsweise hinsichtlich der Zuständigkeit der Gerichte. Zugleich müsse die Frage nach unmittelbarer oder aber mittelbarer Vollstreckung der betreffenden Entscheidung sowie Festlegung und Umfang des etwaigen Verfahrens der Gültigkeitsprüfung geklärt werden. Zu vereinbaren seien auch die Bestimmung und Tragweite der Anerkennungsverweigerungsgründe, die auf der Souveränität oder anderen wesentlichen Interessen des ersuchten Staates beruhen oder mit der Rechtmäßigkeit zusammenhängen.476 Schließlich bedürfe es einer Regelung für die Haftung der Staaten im Fall einer auf Einstellung des Verfahrens oder Freispruch lautenden Entscheidung.477 In Abhängigkeit davon, wie weitgehend im Einzelfall die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen angestrebt wird, müssten je nach Art der betreffenden Entscheidungen die einzelnen Parameter unterschiedlich stark berücksichtigt werden, so Kommission und Rat im Maßnahmenprogramm.478 Denkbar seien jedoch auch Querschnittsmaßnahmen, die eine Anwendung des eines bestimmten Parameters auf sämtliche Maßnahmen gestatte.479 Dieses baukastenartige System verdeutlicht, dass die Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung durch sekundärrechtliche Rechtsakte vorgenommen wird und der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung ein hohes Maß an Flexibilität aufweist.480 So versteht sich das Programm als einen Beitrag zu einer schrittweisen Anerkennung der Entscheidungen in Strafsachen innerhalb der Europäischen Union. Jedenfalls zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Maßnahmenprogramms im Jahre 2001 sollte dieses ausdrücklich nicht als ein endgültiges Programm angesehen werden, mit dem unwiderruflich die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidung eingeführt wird, sondern vielmehr als ein ehrgeiziges Vorhaben. Ziel des Programms sei es, den Weg zu ebnen und das Konzept für die betreffenden Bereiche aufzuzeigen, ohne dabei die Modalitäten der künftigen Arbeiten verbindlich und endgültig festzulegen.481 b) Zielgewichtungen und Regelungseffizienz Das Maßnahmenprogramm setzt sich auch eingehend mit den Zielen der Vollstreckungshilfe auseinander. Es betont dabei den rechtsdurchsetzenden Cha476 Für den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung siehe unten Teil 2 Kapitel 3 A. 477 Vgl. zum gesamten Absatz ABl. EU 2001 C 12/10 (11 f.). 478 Vgl. zum gesamten Absatz ABl. EU 2001 C 12/10 (12). 479 Vgl. etwa den Rahmenbeschluss 2009/299/JI (Abwesenheitsurteile). Näher dazu unten Teil 2 Kapitel 3 A.II.3. 480 Siehe unten Teil 2 Kapitel 1 D.I.2. 481 Zum Vorstehenden ABl. EU 2001 C 12/10 (12).
A. Konzeptionelle Vorüberlegungen der Neuregelung
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rakter der Vollstreckungshilfe, für den der Bedarf in zwei Fallgestaltungen gesehen wird, nämlich erstens für Fälle der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger und zweitens für Fluchtfälle. In beiden Fällen wird das aliud-Verhältnis der Vollstreckungshilfe zu Auslieferungsinstrumenten betont und gefordert, es müsse ein Grundsatz „Auslieferung oder Vollstreckung“ bzw. „Weiterführung der Vollstreckung oder Überstellung“ eingeführt werden.482 Auffällig ist, dass die Diskussion um ein Bedürfnis nach Vollstreckungsübertragung noch nicht auf das Problem überfüllter Gefängnisse Bezug nimmt, das die politische Diskussion um die Vollstreckungsüberstellung zum Zeitpunkt der Initiative für den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung geprägt hat.483 Für das Resozialisierungsziel der Vollstreckungshilfe wird gefordert, es müsse die Verbüßung im Wohnsitzstaat ermöglicht werden.484 Das war bereits mit dem das Europarats-Überstellungsübereinkommen ergänzenden EG-Abkommen von 1987 intendiert; dieses wurde jedoch kaum ratifiziert und konnte daher keine volle Wirkung entfalten.485 Bemerkenswerterweise wurden die Maßnahmen zur Verbüßung im Wohnsitzstaat gegenüber Maßnahmen zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in der Prioritätenliste des Maßnahmenprogramms nachrangig eingestuft.486 Allerdings orientierte sich diese Prioritätensetzung auch am Stand der jeweiligen Verwirklichungsbestrebungen,487 hier muss die Nähe zu dem in diesem Zeitpunkt bereits in der Erarbeitungsphase befindlichen Rahmenbeschluss Europäischer Haftbefehl berücksichtigt werden, so dass aus der nachrangigen Einordnung der Resozialisierungsinstrumente keine abschließende Wertung abgeleitet werden kann. Das Maßnahmenprogramm forderte zugleich, die Effizienz bisheriger Übereinkommen zu evaluieren. Damit sollte die Frage beantwortet werden, ob anhand dieser Übereinkünfte eine umfassende Regelung für die gegenseitige Anerkennung gewährleistet werden kann.488 Die Frage nach dem Bedürfnis einer Neuregelung war aufgeworfen; zugleich wird deutlich,489 dass die Umsetzung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung zum eigenständigen, bei der Vollstreckungshilfe neben die Sanktionsdurchsetzung und die Verbesserung der Resozialisierungschancen tretenden Ziel der EU-Rechtsetzung erstarkt. 482 Zum gesamten Absatz Maßnahmenprogramm, Pkt. 3.1.1. und 3.1.2, ABl. EU 2001 C 12/10. Vgl. dazu auch Art. 4 Nr. 6, Art. 5 Nr. 3 RB 2002/584/JI (Europäischer Haftbefehl). 483 Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 1 C.II. 484 Maßnahmenprogramm, Pkt. 3.1.3., ABl. EU 2001 C 12/10. 485 Siehe oben Teil 1 Kapitel 2 B.II. 486 Rechtsdurchsetzung mit Prioritätsgrad 3 (Pkt. 31.2.); Verbesserung der Resozialisierung mit Prioritätsgrad 4 (Pkt. 3.1.3.); ABl. EU 2001 C12/10. 487 ABl. EU 2001 C 12/10 (am Ende). 488 Pkt. 3.1.1., ABl. EU 2001 C 12/10. 489 Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 1 C. sowie unten Teil 2 Kapitel 1 B.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
3. Rechtsprobleme der Vollstreckungshilfe – Grünbuch der Kommission über die Angleichung, die gegenseitige Anerkennung und die Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen in der Europäischen Union (2004) Umfassend hat sich das von der Kommission vorgelegte Grünbuch über die Angleichung, die gegenseitige Anerkennung und die Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen in der Europäischen Union vom 30. April 2004 mit Fragen der Sanktionierung und Strafvollstreckung auseinandergesetzt.490 a) Einfluss der Vollstreckungshilfe auf das erlittene Strafübel – Problembewusstsein und Lösungsansätze Eingehend setzt sich das Grünbuch mit Sanktionsformen, Strafdrohungen und deren Mindestharmonisierung auseinander. Es wird festgestellt, dass „[a]bgesehen von Freiheitsstrafen [. . .] im Strafrecht der Mitgliedstaaten zahlreiche andere Sanktionen vorgesehen [sind]. Aber auch wenn für eine Straftat überall dieselbe Strafe festgelegt würde, würde die verhängte Strafe aufgrund der beträchtlichen Divergenzen im allgemeinen Strafrecht der Mitgliedstaaten nicht ohne Weiteres der vollstreckten Strafe entsprechen. [. . .] Die letztendlich zu verbüßende Strafe ist das Ergebnis einer komplexen Gleichung mit sehr vielen Variablen: Theoretisch müsste man bei jedem einzelnen Faktor ansetzen, um eine in allen Rechtsordnungen gleiche Strafe zu gewährleisten. [. . .] Dies wäre weder wünschenswert noch möglich.“ 491 Als Lösungsansätze werden – unter Betonung der richterlichen Unabhängigkeit – rechtlich nicht verbindliche Empfehlungen für Strafmaßnahmen oder Normalstrafrahmen, regelmäßige Vergleiche über Einzelfallstudien oder Rechtsprechungsdatenbanken als praktische Orientierungshilfe für Richter erwogen.492 Für die Frage einer lebenslangen Freiheitsstrafe wurde erwogen, ob diese Strafe auf EU-Ebene nicht aufgehoben oder abgeändert werden sollte. Eine Aufhebung lasse sich im Hinblick auf die Wiedereingliederung und Resozialisierung des Straffälligen rechtfertigen. Es sei allgemein bekannt, dass eine Person im Gefängnis ihr Verhalten mit der Zeit ändern kann und dass ohne Hoffnung auf Entlassung wenig Anreiz besteht, sich auf Wiedereingliederungsmaßnahmen einzulassen.493 b) Probleme des Strafvollzugs an nicht integrierten Ausländern Auch die Frage der Strafvollzugsmodalitäten wird diskutiert: Auf den ersten Blick, so das Grünbuch, könne man zwar vermuten, dass diese keine besonderen 490 491 492 493
KOM(2004) 334 endg. KOM(2004) 334 endg., S. 8. KOM(2004) 334 endg., S. 53 f. KOM(2004) 334 endg., S. 57.
A. Konzeptionelle Vorüberlegungen der Neuregelung
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Probleme aufwerfen würden, die über das bei anderen Sanktionsformen als Freiheitsentzug bekannte Maß hinausgingen. Tatsächlich ortet das Grünbuch jedoch große Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten, die zur Folge haben, dass Hafterleichterungen nur Häftlingen gewährt werden, die ihren Wohnsitz im selben Mitgliedstaat haben.494 Damit werden gewichtige Argumente für eine Vollstreckungshilfe im Heimatstaat (als Wohnsitzstaat) angeführt. c) Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts – Nichtdiskriminierung von Unionsbürgern Für eine solche Vollstreckungsüberstellung wird festgestellt, dass eine Beschränkung der Möglichkeit einer Überstellung auf eigene Staatsangehörige zu einer Diskriminierung jener Personen führen würde, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Staates haben. Daher sei jene Lösung zu wählen, die mit dem Abkommen über die Anwendung des Übereinkommens des Europarates über die Überstellung verurteilter Personen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Mai 1987 getroffen wurde495 und mit der jeder Mitgliedstaat die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung des ständigen Wohnsitzes und gewöhnlichen Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates seinen eigenen Staatsangehörigen gleichstellt.496 d) Initiativrecht Unter Verweis auf das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften aus dem Jahre 1991 wird vorgeschlagen, dass sowohl der Urteils- als auch der Vollstreckungsstaat die Vollstreckungsübertragung beantragen können. Diese Lösung erscheine nicht nur aus Gründen der Flexibilität geeigneter, sondern auch, weil der Vollstreckungsstaat ein gewisses Interesse daran hat oder haben sollte, dass die Vollstreckung eines Urteils, das einen seiner Staatsangehörigen oder eine Person betrifft, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat hat, auf seinem Hoheitsgebiet erfolgt.497
494 Zum ganzen Absatz KOM(2004) 334 endg., S. 57. Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 1 C.I.3., dort insbesondere c) und d), sowie van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/ Dünkel, Chapter 1: Comparative overview, Conclusions and Recommendations, in: dies. (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007), S. 5 (18 f.), die diese Vermutung bestätigen. 495 Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 2 A.II.1. 496 KOM(2004) 334 endg., S. 65. 497 KOM(2004) 334 endg., S. 65.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
e) Beschränkung der Versagungsgründe und Mindestanforderungen an die Strafvollstreckung Zur Akzeptanz möglicher Ablehnungsgründe leitete die Kommission ein, dass „[a]ngesichts des angestrebten freien Verkehrs von Entscheidungen in Strafsachen [. . .] die Ablehnungsgründe in jedem Fall stark eingeschränkt sein“ sollten.498 Im Einzelnen werden dann die zwingenden Ablehnungsgründe und die fakultativen Versagungsgründe, die im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorgesehen sind, zur Diskussion gestellt. Diskussionsbedarf ortete das Grünbuch bei den Regelungen zur Strafrestaussetzung zur Bewährung. Es wird auf Erfahrungen aus der Anwendung des Überstellungsübereinkommens von 1983 verwiesen, bei dem die Unterschiede in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten Anwendungsprobleme hervorgerufen oder sogar zu einer Ablehnung der Überstellung geführt hätten, da diese zu einer milderen Strafe oder sogar einer unverzüglichen Freilassung hätten führen können. Eine Angleichung der Rechtsvorschriften in Bezug auf die Mindestdauer der Strafvollstreckung sei daher sinnvoll, um eine Überstellung zu erleichtern.499 Das Grünbuch stellt folgende Aspekte zur Diskussion: Mindestdauer der tatsächlich verbüßten Haft, Kriterien pro und contra vorzeitige Entlassung, Verfahren der vorzeitigen Entlassung, Aufsichtsmodalitäten und Dauer der Bewährungszeit, Sanktionen bei der Verletzung der mit der vorzeitigen Entlassung verbundenen Auflagen und Weisungen, Verfahrensgarantien der Verurteilten, Interessen der Opfer.500 f) Fazit: Rechtliches Problembewusstsein; Priorität der Sanktionsdurchsetzung als Voraussetzung eines effektiven Vollstreckungshilfeinstruments Das Grünbuch steht deutlich im Zeichen einer detaillierten Diskussion zentraler Rechtsfragen einer Vollstreckungshilfe zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Es greift damit die Grundidee des Maßnahmenprogramms auf und sucht die notwendige Kommunikation mit allen Beteiligten, die es ermöglichen sollte, einen praktikablen und zugleich rechtlich ausgewogenen Regelungsvorschlag zu erarbeiten. Zugleich wird eine grundlegende Erkenntnis für das Verständnis der späteren Ausgestaltung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung deutlich: Eine tatsächliche Nutzung des Rechtsinstruments Vollstreckungsübertragung in der Staatenpraxis setzt eine Ausgestaltung voraus, die die Durchsetzung, also tatsächliche Vollstreckung der verhängten Sanktion garantiert. Diese Schlussfolgerung aus den Erfahrungen mit dem Überstellungs-
498 499 500
KOM(2004) 334 endg., S. 67. Zum Vorstehenden KOM(2004) 334 endg., S. 61. KOM(2004) 334 endg., S. 62.
B. Regelungsziele
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übereinkommen501 des Europarates prägt die unionsrechtliche Ausgestaltung der Vollstreckungshilfe. Den aufgeworfenen Fragen wird im nachfolgenden Hauptteil des Kapitels das Regelungsmodell des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung gegenübergestellt. Dabei werden die gefundenen Lösungen auf ihre Tragfähigkeit aus rechtlicher und praktischer Sicht untersucht und wesentliche Problempunkte der Neuregelung diskutiert.
B. Regelungsziele des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung I. Resozialisierungsziel Artikel 3 Abs. 1 RB 2008/909/JI besagt: „Zweck dieses Rahmenbeschlusses ist es, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt.“ Damit ergeben sich zwei vorläufige Anhaltspunkte für die Bestimmung der Ziele des Rahmenbeschlusses. Er dient der Umsetzung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung. II. Sanktionsdurchsetzung In der Ausgestaltung der Regelungen des Rahmenbeschlusses wird deutlich werden, dass er zugleich auf eine effektive Sanktionsdurchsetzung abzielt. Dies zeigt sich insbesondere bei der Frage des Umgangs mit der im Urteilsstaat verhängten Strafe im Vollstreckungsstaat.502 III. Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen Schon die Bezeichnung des Rahmenbeschlusses als ein Rechtsakt zur „Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen“ legt nahe, dass es sich bei dieser sekundärrechtlichen Umsetzung des Anerkennungsgrundsatzes um ein eigenständiges Regelungsziel handelt, das neben den Zielen der Resozialisierung und der Sanktionsdurchsetzung besteht.503 501
Siehe oben Teil 1 Kapitel 1 A.I. Ausführlich dazu unten I., in diesem Kapitel. 503 Ausführlich zum Rechtscharakter des Anerkennungsgrundsatzes unten Teil 2 Kapitel 1 D.I. 502
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
C. Geltungs- und Anwendungsbereich I. Sachlicher Anwendungsbereich 1. Vollstreckungsübertragung mit und ohne Überstellung Artikel 3 Abs. 2 RB 2008/909/JI legt fest, dass der Rahmenbeschluss sowohl dann gilt, wenn sich die verurteilte Person im Ausstellungsstaat aufhält, als auch dann, wenn sich die Person bereits im Vollstreckungsstaat aufhält. Erfasst sind damit sowohl die Vollstreckungsüberstellungsfälle, wie bereits im ÜberstÜbk des Europarates geregelt, als auch die Flucht- und Nichtauslieferungsfälle, die also allein auf Durchführung der Vollstreckung und nicht auf eine Überstellung des Verurteilten abzielen. Damit werden beide möglichen Ziele einer Vollstreckungshilfe, nämlich sowohl die Verbesserung der Resozialisierungschancen als auch die Rechtsdurchsetzung in Bezug genommen. 2. Jegliche freiheitsentziehende Sanktionen Der Rahmenbeschluss gilt nur für die Anerkennung von Urteilen und die Vollstreckung von Sanktionen im Sinne des Rahmenbeschlusses.504 Ein Urteil in diesem Sinne ist eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts des Ausstellungsstaats, durch die eine Sanktion gegen eine natürliche Person verhängt wird.505 Eine Sanktion im Sinne des Rahmenbeschlusses ist in Art. 1 lit. b RB 2008/909/JI legaldefiniert als „jede Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme, die aufgrund eines Strafverfahrens wegen einer Straftat für eine bestimmte oder unbestimmte Zeit verhängt wird“.506 3. Räumlicher Anwendungsbereich Der Rahmenbeschluss richtet sich an alle Mitgliedstaaten, Art. 52 Abs. 1 EUV, und hat daher seinen räumlichen Geltungsbereich entsprechend Art. 52 Abs. 2 EUV i.V. m. Art. 355 AEUV im Territorium der Mitgliedstaaten (einschließlich 504
Art. 3 Abs. 3 S. 1 RB 2008/909/JI. Art. 1 lit. a RB 2008/909/JI. 506 Art. 3 Abs. 3 S. 3 RB 2008/909/JI legt weiter fest, dass der Umstand, dass zusätzlich zu der Sanktion eine Geldbuße oder Geldstrafe und/oder eine Einziehungsentscheidung verhängt worden ist, die noch nicht gezahlt, eingezogen oder vollstreckt wurde, einer Übermittlung des Urteils nicht entgegensteht. Die Anerkennung und Vollstreckung dieser Geldbußen oder Geldstrafe und Einziehungsentscheidungen in einem anderen Mitgliedstaat richten sich nach den Rechtsakten, die zwischen den Mitgliedstaaten anwendbar sind, insbesondere dem Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. EU 2005 L 76/16, und dem Rahmenbeschluss 2006/783/JI des Rates vom 6. Oktober 2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen, ABl. EU 2006 L 328/59. 505
C. Geltungs- und Anwendungsbereich
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Gibraltars, Art. 27 RB 2008/909/JI). In Bezug auf die ursprüngliche Verknüpfung der Intensivierung strafjustizieller Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten unter Verweis auf die aus dem Entfall der Binnengrenzen erwachsenden Gefahren ist auffällig, dass sich der Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses gerade nicht auf den Schengen-Raum in seiner derzeitigen territorialen Ausdehnung bezieht. Allerdings ist dies auch erklärlich, da die Freizügigkeitsregeln des Binnenmarktes und der Unionsbürgerschaft ebenfalls nicht durch den SchengenRaum begrenzt werden. Die Freizügigkeitsregeln bringen eine steigende Mobilität innerhalb der Grenzen der gesamten Union, nicht nur innerhalb des SchengenRaumes, mit sich. II. Inkrafttreten, Umsetzungsfrist und befristete Übergangsregelung 1. Inkrafttreten, Umsetzungsfrist und vertragsverletzende Nichtumsetzung Der Rahmenbeschluss ist mit 5. Dezember 2008 in Kraft getreten und war vor dem 5. Dezember 2011 in mitgliedstaatliches Recht umzusetzen. Mit Stand 18. September 2012 hatten den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung, soweit ersichtlich, neun Mitgliedstaaten umgesetzt. Dies sind Belgien mit Wirkung zum 18. Juni 2012, Dänemark (5. Dezember 2011), Italien (5. Dezember 2011), Malta, Österreich (1. Januar 2012),507 Polen, Slowakei (1. Februar 2012), Finnland und das Vereinigte Königreich. Für Bulgarien und die Tschechische Republik wurde ein Inkrafttreten in 2012 erwartet. 16 Mitgliedstaaten, unter ihnen die Bundesrepublik Deutschland, waren zum oben genannten Stichtag noch säumig.508 Mit Stand 5. Februar 2014 hatten 18 Mitgliedstaaten umgesetzt;509 die Bundesrepublik Deutschland hat dies später mit Gesetz vom 15.07.2015 getan.510 Eine wesentliche Ursache für die bei Rahmenbeschlüssen schon fast üblichen Verzögerungen in der Umsetzung war die mangelnde Anwendbarkeit des Vertragsverletzungsverfahrens für das Recht der früheren Dritten Säule vor Ablauf der Übergangsfrist zum Lissabonner Reformvertrag. Damit fehlte es an einem Mittel zur Ahndung solcher Vertragsverletzungen. Aber auch die Bedeutung der Regelung und die damit aufgeworfenen schwierigen Rechtsfragen führen zu Verzögerungen bei der Implementierung. 2. Übergangsregelung für Polen als rechtlich differenzierte Integration Neben dieser vertragsverletzenden faktischen Differenzierung der Integration durch Verzögerungen bei der Implementierung und Rechtsanwendung enthält der 507 508 509 510
EU-JZG-ÄndG 2011, öBGBl. I Nr. 134/2011. Ratsdok. 6345/2/12. COM(2014)57 final sowie SWD(2014) 34 final. Dazu unten Teil 4.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
Rahmenbeschluss auch einen ausdrücklich verankerten Fall zeitlich begrenzter differenzierter Integration, indem für Polen eine Bestimmung über den Entfall des Zustimmungserfordernisses des Verurteilten innerhalb eines auf maximal fünf Jahre begrenzten Zeitraums suspendiert war.511
D. Terminologie des Rahmenbeschlusses Der Rahmenbeschluss verwendet die bereits in den bisherigen Rechtsakten eingeführte neue Terminologie des Rechtshilferechts zur Umsetzung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung, die verdeutlichen soll, dass es sich um ein rein justitielles Verfahren handelt, das auf Seiten des Anerkennenden eine weitestgehend gebundene Entscheidung einführt, in der für politische Bewilligungsüberlegungen kein Raum verbleibt. So wird aus dem Ersuchens- bzw. Urteilsstaat der Ausstellungsstaat, denn dieser leitet das Verfahren zur Vollstreckungsüberstellung mittels Ausstellung einer entsprechenden Bescheinigung ein, die dem Vollstreckungsstaat zusammen mit dem Urteil zur Anerkennung und Vollstreckung übermittelt wird.512
E. Kennzeichen der Grundkonzeption: Grundsätzlich zwingende Anerkennung sowie Verfahrensbeschleunigung Der Rahmenbeschluss konzipiert die Vollstreckungshilfe weitestgehend nach dem Muster früherer Rahmenbeschlüsse zur Implementierung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung. Dazu gehört neben der grundsätzlich zwingenden Anerkennung der Entscheidung insbesondere die Ausgestaltung als rein justizielles Verfahren, vereinfacht und beschleunigt durch Formalisierungen bzw. Standardisierungen sowie durch Fristsetzungen. I. Ausgestaltung als rein justizielles Verfahren 1. Entfall des politischen Ermessens Die Entscheidung über die Rechtshilfeleistung ist als ein rein justizielles Verfahren ausgestaltet, so dass die aus dem klassischen Rechtshilfemodell bekannte zweite Ebene der politischen Bewilligungsentscheidung entfällt. Aus dem Ersuchens- und Bewilligungsmodell wird ein Modell einer sehr eingeschränkten Ermessensentscheidung, die einer gebundenen Entscheidung nahekommt; die Anerkennung des Urteils und die Übernahme der Strafvollstreckung haben nach der Ausgestaltung des Rahmenbeschlusses grundsätzlich zu erfolgen, wenn die im Rahmenbeschluss aufgestellten Voraussetzungen vorliegen und keiner der in 511 512
Art. 6 Abs. 5 RB 2008/909/JI. Näher dazu unten G.III.4., in diesem Kapitel. Vgl. Art. 1 lit. c, d RB 2008/909/JI.
E. Kennzeichen der Grundkonzeption
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Art. 9 Abs. 1 RB 2008/909/JI enumerativ aufgeführten fakultativen (und damit eine Ermessensentscheidung erfordernden) Versagungsgründe geltend gemacht wird.513 Auf die Ableitung weitergehender Versagungsgründe aus der Bindung des Rahmenbeschlusses an höherrangiges Primärrecht, also auf die Anerkennung eines europäischen oder nationalen ordre public-Vorbehalts wird einzugehen sein, wenn der vorliegend beabsichtigte Überblick über die Ausgestaltung der Vollstreckungshilfe auf Basis des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung abgeschlossen ist.514 2. Beibehaltung der Trennung in Zulässigkeits- und Bewilligungsentscheidung im deutschen Recht Der deutsche Gesetzgeber hat bei der Umsetzung der Rahmenbeschlüsse zur gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen bislang die formale Differenzierung zwischen Zulässigkeits- und Bewilligungsentscheidung beibehalten.515 Dies ist aufgrund des äußeren Anscheins fragwürdig,516 ändert aber nichts an der Tatsache, dass damit nicht das Regelungsmodell einer weitgehend gebundenen Entscheidung des Vollstreckungsstaates abbedungen wird. Die Bewilligungsbehörde trifft bei Vorliegen einer grundsätzlichen Rechtshilfepflicht 517 keine politische Bewilligungsentscheidung mehr, vielmehr wird ihr die Entscheidung über die Geltendmachung bestimmter Versagungsgründe übertragen.518 II. Beschleunigung durch Formalisierung und Fristsetzung 1. Standardisierte Bescheinigung statt Urteilsübersetzung Nach Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 RB 2008/909/JI wird das Verfahren der Vollstreckungsübertragung eingeleitet, indem der Ausstellungsstaat eine Bescheinigung i. S. d. Anlage I zum RB 2008/909/JI zusammen mit dem Urteil dem Vollstreckungsstaat übermittelt. Diese standardisierte Bescheinigung ist wesentlicher Teil des Rechtshilfekonzepts auf Basis gegenseitiger Anerkennung. Sie ist in der 513
Ausführlich zu diesen unten Teil 2 Kapitel 3 A. Ausführlich unten Teil 2 Kapitel 1. 515 Siehe für den RB 2002/584/JI (Europäischer Haftbefehl) § 80 ff. IRG (Zulässigkeit), § 83b IRG (Bewilligung); für den RB 2005/214/JI (Geldsanktionen) § 87b IRG (Zulässigkeit) und §§ 87c ff. IRG (Bewilligung). 516 Kritisch etwa von Bubnoff, Der Europäische Haftbefehl. Ein Leitfaden für die Praxis (2005/2007), S. 63; Schomburg, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 83b IRG Rn. 4 f. 517 Vgl. § 79 Abs. 1 IRG zur Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls; § 87d IRG zur Vollstreckung von Geldsanktionen. 518 Vgl. § 83b IRG zur Bewilligung der Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls; § 87f IRG zur Bewilligung der Vollstreckung von Geldsanktionen. 514
188
Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
bzw. einer Amtssprache des Vollstreckungsstaates zu übermitteln.519 Die Bescheinigung tritt an die Stelle des Ersuchens um Vollstreckungsübernahme im bisherigen Rechtshilfeverfahren und ersetzt für den Regelfall auch die Übermittlung einer Übersetzung des Urteils. Sie ist als umfangreiches Formblatt ausgestaltet, dass vergleichbar innerstaatlichen Formblättern der Justiz durch Ankreuzen und nur knappe textliche Ergänzungen auszufüllen ist. In der Bescheinigung sind im Wesentlichen standardisierte Angaben zum Verurteilten, zur Tat, zum Urteil, zur verhängten Sanktion, zu Gründen für die Einleitung des Vollstreckungsüberstellungsverfahrens, zu dem im Urteilsstaat anwendbaren bedingten Entlassungsregelungen, zur Stellungnahme des Verurteilten zur Vollstreckungsübertragung sowie Kontaktdaten für Rückfragen anzugeben. Durch den hohen Standardisierungsgrad des Formulars wird die generelle Verständlichkeit für die Behörden des Vollstreckungsstaates erhöht und das Vollstreckungsüberstellungsverfahren regelmäßig beschleunigt. Letzteres gilt auch für den grundsätzlichen Verzicht auf die Übersetzung des Urteils in die bzw. eine der Amtssprachen des Vollstreckungsstaates. Allerdings geht dies zu Lasten der Möglichkeit einer – mit der Konzeption des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen grundsätzlich nicht gewollten – Überprüfbarkeit des Urteils durch den Vollstreckungsstaat. Benötigt dieser weitere Informationen, etwa zur Entscheidung über die Geltendmachung eines Versagungsgrundes, so kann er jedoch gemäß Art. 23 Abs. 3 RB 2008/909/JI eine Übersetzung des Urteils oder seiner wesentlichen Teile verlangen. Jedoch muss sich der Vollstreckungsstaat diese Möglichkeit erst durch Hinterlegung einer entsprechenden generellen Erklärung beim Generalsekretariat des Rates eröffnet haben. Hat der Vollstreckungsstaat eine solche generelle Erklärung abgegeben, so setzt „diese Forderung“ – so wörtlich die deutsche Textfassung des Art. 23 Abs. 2 S. 2 IRG – nach Urteilsübersetzung zudem voraus, dass der Vollstreckungsstaat zuvor den Urteilsstaat konsultiert hat. Ersichtlich ist die Ausgestaltung der Vorschrift von dem Bestreben getragen, eine aufwendige Übersetzung des Urteils nach Möglichkeit zu vermeiden und statt dessen auf die Richtigkeit der Entscheidung zu vertrauen, so wie auch innerstaatlich das rechtskräftige Urteil im Vollstreckungsverfahren grundsätzlich keiner Überprüfung mehr zugänglich ist. Fraglich ist, ob diese weitgehende Gleichsetzung von innerstaatlichem und ausländischem Strafurteil tragfähig ist oder ob damit der Charakter der Vollstreckungsübernahme als Rechtshilfeentscheidung in unzulässigerweise vernachlässigt wird. Dies wird gerade bei der Frage des Rechtsschutzes gegen eine Vollstreckungsüberstellung bedeutsam. Zwar wird es für die Entscheidung über die Geltendmachung der expliziten Versagungsgründe im Regelfall nicht auf eine 519 Art. 23 Abs. 1 RB 2008/909/JI; ein Mitgliedstaat kann erklären, auch andere Amtssprachen der Organe der Union zu akzeptieren.
E. Kennzeichen der Grundkonzeption
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detaillierte Übersetzung des Urteils ankommen, denn diese Versagungsgründe knüpfen entweder an solchen Fakten an, die sich im Regelfall aus der Bescheinigung entnehmen lassen oder die außerhalb des Urteils und seiner Begründung liegen.520 Sollen aber, wie in dieser Arbeit vorgeschlagen wird, auch evidente Grundrechtsverstöße im Verfahren zur Versagung der Anerkennung führen können,521 so kann es auf die Übersetzung des Urteils ankommen. Allerdings könnte argumentiert werden, dass der Verurteilte eine solche Verletzung einwenden muss. Dem Verurteilten wird damit eine Bringschuld zur Wahrung seiner Grundrechtspositionen auferlegt. Problematisch wird dies jedenfalls dann, wenn der Verurteilte der Verfahrensund Urteilssprache selbst nicht mächtig ist. Damit stellt sich die Frage, ob der grundsätzliche Verzicht auf die Übersetzung des Urteils durch ein Recht des Verurteilten auf Übersetzung kompensiert ist. Nach der Rechtsprechung des EGMR in der Rs. Kamasinski v. Österreich hat ein der Verfahrenssprache nicht mächtiger Beschuldigter gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK Anspruch auf Übersetzung des Urteils, soweit dies zum genügenden Verständnis der Entscheidung und ihrer Begründung erforderlich ist. Nicht zwingend erforderlich ist eine schriftliche Übersetzung des gesamten Urteils. Maßstab für die mündliche Übersetzung und den Umfang der schriftlichen Übersetzung ist nach der Rechtsprechung des EGMR, dass der Verurteilte in die Lage versetzt wird, sich gegen die Entscheidung zu verteidigen.522 Problematisch könnte hier jedoch werden, dass bereits eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt. Der Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK ist jedoch nur solange eröffnet, wie eine strafrechtliche Anklage vorliegt. Wann dies noch der Fall ist, wird in der Rechtsprechung des EGMR nur fallweise deutlich.523 Der EGMR knüpft entweder am Erlass des letzten Urteils an524 oder 520
Ausführlich unten Teil 2 Kapitel 3 A. Zum Erfordernis, evidente Grundrechtsverstöße aufzugreifen, siehe oben Teil 1 Kapitel 1 A.II.4. 522 EGMR, Urt. v. 19.12.1989, Kamasinski v. Österreich, Nr. 9783/82, § 74: „Paragraph 3 (e) (art. 6-3-e) signifies that a person ,charged with a criminal offence‘ who cannot understand or speak the language used in court has the right to the free assistance of an interpreter for the translation or interpretation of all those documents or statements in the proceedings instituted against him which it is necessary for him to understand or to have rendered into the court’s language in order to have the benefit of a fair trial (see the Luedicke, Belkacem and Koç judgment of 28 November 1978, Series A no. 29, p. 20, § 48). However, paragraph 3 (e) (art. 6-3-e) does not go so far as to require a written translation of all items of written evidence or official documents in the procedure. The interpretation assistance provided should be such as to enable the defendant to have knowledge of the case against him and to defend himself, notably by being able to put before the court his version of the events.“ Zur Vereinbarkeit der bisherigen deutschen Verfahrenspraxis mit diesen Vorgaben vgl. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002), S. 515 f. 523 Ausführlich dazu Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002), S. 89 ff. mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen. 521
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
er stellt (nach hiesiger Auffassung grundsätzlich überzeugend) auf das Vorliegen einer rechtskräftigen Endentscheidung als Endzeitpunkt ab.525 Ausnahmen macht er, wenn dies für eine wirksame Verteidigung nötig ist, etwa bei Abwesenheitsurteilen. Hier bleibt Art. 6 EMRK anwendbar, bis der Beschuldigte bzw. sein Verteidiger Kenntnis von der Entscheidung erlangt.526 Mittelfristig wird diese Rechtsprechung durch die Umsetzung der unionsrechtlichen Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren teilweise überlagert werden, die bis zum 27. Oktober 2013 in innerstaatliches Recht umzusetzen ist,527 sich aber weitgehend am aufgezeigten Maßstab des EGMR orientiert. Gemäß Art. 3 Abs. 1 RL 2010/64/EU haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die der Sprache des Strafverfahrens nicht mächtig sind, innerhalb angemessener Frist eine Übersetzung aller wesentlichen Unterlagen erhalten. Dadurch sollen ein faires Verfahren und die Möglichkeit zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte ermöglicht werden. Zu den wesentlichen Unterlagen zählt u. a. jegliches Urteil, Art. 3 Abs. 2 RL 2010/64/JI; nicht erforderlich ist eine schriftliche Übersetzung derjenigen Passagen, die nicht maßgeblich dafür sind, dass der Beschuldigte weiss, was ihm zur Last gelegt wird, Art. 3 Abs. 3 RL 2010/64/JI. Auch der Anwendungsbereich der Richtlinie ist ähnlich der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK auf das Strafverfahren bis zur „endgültige[n] Klärung der Frage [. . .], ob [die Beschuldigten] die Straftat begangen haben, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren“ sowie auf Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls beschränkt, Art. 1 Abs. 1, 2 RL 2010/64/JI. Es ist aber davon auszugehen, dass der Urteilsstaat im Regelfall seiner Verpflichtung nachgekommen sein wird, so dass dem Verurteilten eine Übersetzung des Urteils vorliegt. Ist dies nicht der Fall, so besteht eine solche Verpflichtung des Mitgliedstaates zur Ausfertigung der schriftlichen Urteilsübersetzung fort.528
524 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 19.02.1991, Motta v. Italien, Nr. 11557/85, § 15; EGMR, Urt. v. 25.06.1987, Milasi v. Italien, Nr. 10527/83, §§ 9, 14. 525 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 19.02.1991, Frau v. Italien, Nr. 12147/86, Serie A Nr. 195-E, §§ 9, 10, 14. 526 Vgl. EGMR, Urt. v. 19.02.1991, Alimena v. Italien, Nr. 11910/85, § 15. 527 Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. EU 2010 L 280/1. 528 Die Verpflichtung der mitgliedstaatlichen Behörden ergibt sich zunächst aus dem Umsetzungsrecht zur Richtlinie. Ist dieses unzureichend, kommt auch eine unmittelbare Wirkung der entsprechenden Richtlinienvorschriften in Betracht. In zeitlicher Hinsicht sind auch nach Vorliegen eines rechtskräftigen Urteils drei Argumentationswege denkbar: Ein unmittelbares Fortbestehen der Verpflichtung bis zu ihrer Erfüllung, ein Schadensersatzanspruch wegen Verletzung der Pflicht im Wege der Naturalrestitution oder eine analoge Anwendung unter Verweis auf die Parallelität zwischen europäischem Haftbefehl zur Strafvollstreckung und Europäischer Vollstreckungsanordnung.
E. Kennzeichen der Grundkonzeption
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Im Hinblick auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen lässt sich die Verfahrenserleichterung und -beschleunigung durch Übermittlung einer standardisierten Bescheinigung vom Urteilsstaat an den Vollstreckungsstaat unter grundsätzlichem Verzicht auf eine Urteilsübersetzung rechtfertigen. Voraussetzung ist aber, dass der Verurteilte in Kenntnis des Urteils die Möglichkeit hat, evidente und gravierende Verstöße des Urteils jedenfalls gegen den europäischen ordre public und damit gegen vorrangiges europäisches Recht, auf das der Rahmenbeschluss in Art. 1 Abs. 4 RB 2008/909/JI deklaratorisch verweist, vor rechtskräftiger Entscheidung des Vollstreckungsstaates dessen zuständigen Behörden zu Kenntnis zu bringen. 2. Fristsetzungen für Anerkennungsentscheidung und, wenn nötig, Überstellung Nach Art. 12 RB 2008/909/JI entscheidet die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates so rasch wie möglich über die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion und unterrichtet den Urteilsstaat über diese Entscheidung. Dies schließt die Entscheidung über eine allenfalls notwendige Anpassung der Sanktion in den engen, durch Art. 8 Abs. 2–4 RB 2008/909/JI gesetzten Grenzen ein.529 Die Entscheidung ist grundsätzlich binnen 90 Tagen ab Eingang der Bescheinigung und des Urteils zu treffen, Art. 12 Abs. 2 RB 2008/909/JI.530 Nach Art. 15 RB 2008/909/JI ist die verurteilte Person, soweit sie sich noch im Ausstellungsstaat befindet, dem Vollstreckungsstaat zu einem zwischen den zuständigen Behörden des Ausstellungs- und des Vollstreckungsstaates vereinbarten Zeitpunkt, spätestens jedoch 30 Tage nach der endgültigen Entscheidung des Vollstreckungsstaates über die Anerkennung des Urteils an den Vollstreckungsstaat zu überstellen. III. Grundsätzlich zwingende Anerkennung und Einschränkung der Überprüfung Das alleinige Initiativrecht zur Einleitung der Vollstreckungsübertragung ist dem Urteilsstaat respektive Ausstellungsstaat zugewiesen.531 Einem potentiellen Vollstreckungsstaat kommt ebenso wie dem Verurteilten selbst nur die Möglichkeit eines Ersuchens um Einleitung des Verfahrens zur Vollstreckungsübertragung zu. Solche Ersuchen begründen jedoch keine Verpflichtung des Ausstellungsstaates zur Einleitung eines Verfahrens durch Übermittlung von Urteil und Bescheinigung. Die Einleitung eines Vollstreckungsübernahmeverfahrens steht 529
Siehe dazu unten I.I., in diesem Kapitel. Zu Ausnahmen von dieser Frist vgl. Art. 11 RB 2008/909/JI sowie unten Teil 2 Kapitel 3, A.I.1. 531 Vgl. Art. 4 Abs. 1 RB 2008/909/JI. 530
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
also im alleinigen Ermessen des Ausstellungsstaates.532 Sie ist zugleich zwingende Voraussetzung einer Vollstreckungsübertragung. Einer Zustimmung des avisierten Vollstreckungsstaates zur Einleitung des Verfahrens zur Vollstreckungsübertragung bedarf es nur in solchen Fällen, in denen es nach der Ausgestaltung des Rahmenbeschlusses keine sachliche Anknüpfung an den Vollstreckungsstaat gibt, die per se die Vermutung besserer Resozialisierungschancen in sich trägt.533 1. Anerkennung als weitgehend eingeschränkte Ermessensentscheidung Ein unter Einhaltung der materiellen und Verfahrensvoraussetzungen der Art. 4 f. RB 2008/909/JI übermitteltes Urteil samt Bescheinigung hat die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates gemäß Art. 8 Abs. 1 RB 2008/909/JI zwingend anzuerkennen, soweit keiner der fakultativen Versagungsgründe geltend gemacht wird. Wird kein solcher eingewandt, ist die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates verpflichtet, die zur Vollstreckung der Sanktion erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.534 Die Entscheidung über Anerkennung und Vollstreckung ist also eine weitgehend eingeschränkte Ermessensentscheidung, bei der sich das Ermessen (jedenfalls nach dem Wortlaut des Rahmenbeschlusses) auf die Ausübung eines der enumerativ in Art. 9 Abs. 1 RB 2008/909/JI aufgezählten fakultativen Versagungsgründe beschränkt. Dies setzt eine Prüfung voraus, ob überhaupt die tatbestandlichen Voraussetzungen eines oder mehrerer der Versagungsgründe gegeben sind. Mit Blick auf die primärrechtlichen Anforderungen an die sekundärrechtliche Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU ist es jedoch fraglich, ob die grundsätzliche Verpflichtung zur Anerkennung lediglich durch eine Berufung auf die bislang in Art. 9 Abs. 1 RB 2008/909/JI verankerten Versagungsgründe beschränkt werden kann. Dies wird im zweiten Teil der vorliegenden Studie untersucht.535 532 Zu den Anforderungen an eine solche Ermessensausübung vgl. BVerfGE 96, 100 (115 ff.). 533 Dazu sogleich unter F. und G., in diesem Kapitel. 534 Den grundsätzlich zwingenden Charakter der Pflicht zur Anerkennung der strafjustiziellen Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates betont der EuGH in ständiger Rechtsprechung zum gleichgelagerten Art. 1 Abs. 2 RB 2002/584/JI (Europäischer Haftbefehl), vgl. EuGH, Rs. C-66/08, Kozłowski, Slg. I-2008, 6041 ff. (Rn. 32); EuGH, Rs. C-388/08 PPU, Leymann und Pustarov, Slg. 2008, I-8983 ff. (Rn. 51); EuGH, Rs. C-123/08, Wolzenburg, Slg. 2008, I-9621 ff. (Rn. 57); EuGH, Rs. C-261/09, Mantello, Slg. 2010, I-11477 ff. (Rn. 36); EuGH, Rs. C-192/12 PPU, West, ECLI: EU: C: 2012: 404 (Rn. 55); EuGH, Rs. C-396/11, Radu, ECLI: EU: C: 2013: 39 (Rn. 35). 535 Siehe zu den primärrechtlichen Anforderungen an die sekundärrechtliche Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen sowie dessen Begrenzung insbesondere Teil 2 Kapitel 1. C. und D.
F. Grundsätzlicher Verzicht auf Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit
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2. Zumindest teilweise Anerkennung nach fakultativem Konsultationsverfahren Für den Fall, dass sich der Vollstreckungsstaat zwar aufgrund eines oder mehrerer dieser Versagungsgründe nicht zur vollständigen Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion in der Lage sehen würde, allerdings in Erwägung ziehen könnte, das Urteil teilweise anzuerkennen und die Sanktion teilweise zu vollstrecken, sieht Art. 10 RB 2008/909/JI vor, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates vor einer vollständigen Versagung der Anerkennung und Vollstreckung die zuständigen Behörden des Ausstellungsstaates konsultieren kann, um eine Einigung über die teilweise Anerkennung und Vollstreckung zu erzielen. Die Entscheidung, ein solches Einigungsverfahren einzuleiten, ist damit eine Ermessensentscheidung der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaates. Für deutsche Behörden gilt bei der Abwägung, ob ein vorliegender Versagungsgrund tatsächlich eingewandt werden soll, wiederum die Pflicht, das verfassungsrechtlich geschützte Resozialisierungsinteresse des Verurteilten in die Abwägung mit entsprechendem Gewicht einzubeziehen.536 Wird ein Einigungsverfahren durchgeführt, so setzt Art. 10 RB 2008/909/JI der Einigung zwischen Ausstellungs- und Vollstreckungsstaat nur eine einzige materiell-rechtliche Grenze: Die Anerkennung und Vollstreckung darf nicht zu einer Verlängerung der Dauer der Sanktion führen. Im Übrigen wird es den beteiligten Staaten überlassen, die Bedingungen der teilweisen Anerkennung und Vollstreckung festzulegen. Maßgabe der Einigung muss aber das Ziel einer Verbesserung der Resozialisierungschancen bleiben. Kommt es zu keiner Einigung, so ist die Bescheinigung, mit deren Übermittlung der Ausstellungsstaat das Verfahren zur Vollstreckungsübertragung eingeleitet hat, zurückzuziehen.537 Damit wird nicht nur das Einigungs-, sondern das gesamte Vollstreckungsübertragungsverfahren beendet.
F. Grundsätzlicher Verzicht auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit Die möglichst weitgehende Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU538 wird unter anderem dadurch zu erreichen gesucht, dass in der sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Grundsatzes auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als zwingende Rechtshilfevoraussetzung verzichtet wird. Dies bedeutet eine Abkehr vom traditionellen Rechtshilferecht, das wie das Überstellungsübereinkommen des Europarates zumeist das Erforder-
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BVerfGE 96, 100 (115 ff.); näher dazu oben Teil 1 Kapitel 2 B.I.3. Art. 10 Abs. 2 S. 2 RB 2008/909/JI. 538 Ausführlich zu diesem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen unten Teil 2 Kapitel 1 D. 537
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
nis für unverzichtbar hält.539 Gerade für die Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen wird das Erfordernis auch in der Literatur nahezu einhellig als unverzichtbar angesehen.540 Begründet wird die Unverzichtbarkeit aber nur spärlich. Wenn eine Begründung gegeben wird, so ist dies zumeist der Hinweis auf das Resozialisierungsziel der Vollstreckungshilfe. Resozialisierung könne nur bedeuten, dem Verurteilten diejenigen Wertvorstellungen und Verhaltensregelungen näher zu bringen, die in der Gesellschaft des Vollstreckungsstaates, in die er integriert werden soll, auch tatsächlich gelten.541 Auf den ersten Blick erscheint dieses Argument zwingend. Allerdings lässt sich dem auch entgegenhalten, dass ein Fehlen beiderseitiger Strafbarkeit nicht zwangsläufig bedeutet, dass die Wertvorstellungen des Urteilsstaates vom Vollstreckungsstaat nicht geteilt werden. Das Nichtvorliegen einer Stafbarkeit im Vollstreckungsstaat könnte schlicht auch unterschiedlichen tatsächlichen Verhältnissen geschuldet sein.542 An dieser Stelle soll die Diskussion noch offengelassen werden, da es das Ziel dieses Kapitels ist, zunächst die Konzeption der Vollstreckungshilfe nach dem Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsordnung vorzustellen. Das Für und Wider des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit wird im zweiten Teil der Arbeit einer an den grundgesetzlichen Wertungen orientierten Analyse unterzogen und in den Kontext der Untersuchung der Grenzen der Vollstreckungshilfe auf Basis der Europäischen Vollstreckungsanordnung gestellt. Denn der Verzicht auf das zwingende Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit steht, wie zu zeigen sein wird, in einem inhaltlichen Zusammenhang mit der Diskussion um die Begrenzung des Anerkennungskonzepts durch einen ordre public-Vorbehalt.543 539
Vgl. oben Teil 1 Kapitel 1 A.I.2.a). Vgl. Jescheck, Die internationalen Wirkungen der Strafurteile, ZStW 76 (1964), 172 (173); Oehler, Die positiven Wirkungen ausländischer Strafurteile im Inland im Rahmen der Vollstreckung, in: Lüttger/Blei/Hanau (Hrsg.), Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag am 1. Januar 1972 (1972), S. 777 (781); Schwaighofer, Auslieferung und Internationales Strafrecht (1988), S. 93; Vogler, Zur Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, Zweiter Halbband (1985), S. 1379 (1384); Lagodny, Überlegungen zu einem menschengerechten transnationalen Straf- und Strafverfahrensrecht, in: Arnold u. a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht. Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag (2005), S. 777 (784, Fn. 20 aE), Asp u. a., Entwurf einer Regelung transnationaler Strafverfahren in der Europäischen Union, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für eine europäische Strafrechtspflege (2006), S. 1 (38); Satzger, Die Europäische Vollstreckungsübernahme, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für eine europäische Strafrechtspflege (2006), S. 146 (150 f.). A. A. F.-C. Schroeder, Die Übertragung der Strafvollstreckung, ZStW 98 (1986), 457 (476). Vgl. auch den Diskussionsüberblick bei Werkusch, Die Vollstreckung ausländischer Straferkenntnisse (2001), S. 66 ff. 541 Asp u. a., Entwurf einer Regelung transnationaler Strafverfahren in der Europäischen Union, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für eine europäische Strafrechtspflege (2006), S. 1 (39). 542 F.-C. Schroeder, Die Übertragung der Strafvollstreckung, ZStW 98 (1986), 457 (476). 540
F. Grundsätzlicher Verzicht auf Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit
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Im Folgenden soll also das unionsrechtliche Konzept des Verzichts auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit im Mittelpunkt stehen. Dabei wird die im Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung getroffene Regelung vorgestellt und in Bezug zu den bisher gewählten Modellen in anderen Rahmenbeschlüssen zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen gesetzt. Dies soll es ermöglichen zu erkennen, welchen Stellenwert der Unionsgesetzgeber der Abschaffung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit als zwingender Rechtshilfevoraussetzung beimisst und inwieweit der Unionsgesetzgeber den oben angesprochenen Bedenken gegen diese Abschaffung Rechnung trägt. I. Rechtshilfe limitierende und einer Verfahrensbeschleunigung entgegenstehende Wirkung eines Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit Das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit besagt, dass die Mitwirkung des um Rechtshilfeleistung ersuchten Staates, hier des Vollstreckungsstaates, am international-arbeitsteiligen Strafverfahren544 daran geknüpft ist, dass die Tat im Ausgangsverfahren des ersuchenden Staates, hier also des Ausstellungsstaates, bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts auch im ersuchten (Vollstreckungs-)Staat strafbar wäre.545 Dieses Erfordernis ist im Auslieferungsrecht entwickelt worden546 und hat dort sowie bei der Vollstreckungshilfe seine größte praktische Bedeutung. Allerdings hat das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit einen die Zulässigkeit der Rechtshilfeleistung begrenzenden Charakter. Es wirkt damit der möglichst umfassenden gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen innerhalb der EU strukturell entgegen. Zudem erfordert die Feststellung beiderseitiger Strafbarkeit eine entsprechende Prüfung durch den Vollstreckungsstaat. Seitens der Kritiker des Erfordernisses, insbesondere auch seitens der Europäischen Kommission, wurde es daher auch als das Rechtshilfeverfahren verzögernd und verkomplizierend eingeordnet.547 543 Ausführlich dazu unten Teil 2 Kapitel 2 A. und B. Den inhaltlichen Zusammenhang eines Verzichts auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Voraussetzung einer Rechtshilfeleistung auf der einen und das Erfordernis einer kompensatorischen ordre public-Begrenzung der Rechtshilfe auf der anderen Seite beschreibt schon Jescheck, Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, ZStW 66 (1954), 518 (531 ff.), allerdings bezogen auf die Auslieferung. 544 Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 1 A.I. 545 Ausführlich Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 3 IRG Rn. 6 ff. 546 Popp, Grundzüge der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (2001), Rn. 199. 547 KOM(2000) 495 endg., S. 13; näher dazu oben Teil 1 Kapitel 3 A.II.1.; Frieberger, The Search for Criteria. Determining the Competent Jurisdiction to Carry out Investigations and Prosecutions in the European Union (in the Context of Mutual Recognition of Decisions in Criminal Matters), in: de Kerchove/Weyembergh (Hrsg.), L’espaces pénal européen: enjeux et perspectives (2002), S. 119 (120).
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
II. Ersetzung des Erfordernisses durch den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung 1. Unionsrechtliches Konzept der Abschaffung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit als Anerkennungsvoraussetzung In der sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen hat der europäische Gesetzgeber ein Modell eingeführt, das das Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit als Rechtshilfevoraussetzung zurückdrängt. Nach den unionsrechtlichen Anforderungen der Rahmenbeschlüsse zur Umsetzung der gegenseitigen Anerkennung ist das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit keine Voraussetzung zur Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates. Dies wird durch zwei Regelungen erreicht, nämlich einen grundsätzlich zwingenden Verzicht auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit bei Delikten mittleren und höheren Schweregrades sowie im sonstigen Deliktsbereich durch die Einordnung des Erfordernisses als nur fakultativen Versagungsgrund. a) Zwingende Abschaffung des Erfordernisses bei Delikten mittleren und höheren Schweregrades Das Vorliegen eines sogenannten Listendelikts, auch Katalogtat genannt, soll „ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit“ zur Anerkennung des Urteils und zur Vollstreckung der verhängten Sanktion führen, wenn die Straftat nach dem Recht des Ausstellungsstaates mit einer freiheitsentziehenden Sanktion oder Maßnahme im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist.548 Diese Formulierung des Art. 7 Abs. 1 RB 2008/909/JI über die Europäische Vollstreckungsanordnung lässt Interpretationsspielraum dafür, ob auf die materielle Rechtshilfevoraussetzung als solche verzichtet werden soll oder aber lediglich die Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit entfällt – basierend auf dem Vertrauen, die in der Liste aufgeführten Deliktskategorien seien so schwerwiegend und vielfach auch so durch Unionsrechtsakte oder multilaterale europäische und UN-Übereinkommen mindestharmonisiert, dass sie ohnehin in allen Mitgliedstaaten strafbar seien.549 Eine Klarstellung ist jedenfalls nicht dem Urteil 548 Art. 7 Abs. 1 RB 2008/909/JI (Europäische Vollstreckungsanordnung). Vgl. auch Art. 2 Abs. 2 RB 2002/584/JI (Europäischer Haftbefehl). 549 Stellvertretend für viele sei auf Buruma, Radikale Toleranz. Auf dem Weg zu einem zweidimensionalen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, ZStW 116 (2004), 424 (428), verwiesen. Ausführlich zur weitgehenden Harmonisierung der Listendelikte durch internationale und europäische Vorgaben Böse, in: Grützner/Pötz/ Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 81 IRG Rn. 23 ff.
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des EuGH in der Rechtssache Advocaten voor de Wereld zu entnehmen, das in Übernahme der Formulierung des Wortlauts von Art. 2 Abs. 2 RB 584/2002/JI über den Europäischen Haftbefehl von der Abschaffung der Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit spricht.550 Ein Blick in jene die Implementierung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen vorbereitenden Strategiedokumente legt nahe, dass es sich trotz der interpretationsoffenen zurückhaltenden Formulierung in den Rahmenbeschlüssen zur gegenseitigen Anerkennung um eine Abschaffung des materiellen Erfordernisses und nicht nur seiner Überprüfung im Verfahren handelt. So ist in der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Parlament: Gegenseitige Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen (2000) davon die Rede, das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit aufzugeben.551 b) Nichtvorliegen beiderseitiger Strafbarkeit bei sonstigen Delikten nur fakultativer Versagungsgrund für die Anerkennung Auch jenseits der Katalogtaten mit einer angedrohten Mindesthöchststrafe von drei Jahren Freiheitsentzug ist das Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit unionsrechtlich nicht als zwingende Voraussetzung einer Vollstreckungshilfe verankert. Gemäß Art. 7 Abs. 3 RB 2008/909/JI kann nämlich der Vollstreckungsstaat die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion davon abhängig machen, dass die zugrundeliegenden Handlungen auch nach seinem Recht eine Straftat darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat. Es handelt sich um eine Ermessensbestimmung, über deren Wahrnehmung der jeweilige Mitgliedstaat nach Maßgabe seiner Rechtsordnung zu entscheiden hat. Damit wird deutlich, dass das Umsetzungskonzept zur gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU das Erfordernis einer beiderseitigen Strafbarkeit in keinem Fall als notwendige Voraussetzung der Rechtshilfe ansieht. Auch dies spricht – für die unionsrechtliche Konzeption der Ausgestaltung des Anerkennungsgrundsatzes – gegen die Annahme eines bloßen Verzichts auf die Prüfung unter immanenter Beibehaltung des Prinzips als solchem. Wörtlich lautete die Begründung des ursprünglichen, im Rechtsetzungsprozess noch deutlich modifizierten Kommissionsentwurfs zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl: „Der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit wird aufgehoben.“ 552 Auch ältere Rechtsakte der Dritten Säule, in denen von einem Verzicht auf das Erfordernis der beiderseitigen Straf-
550 551 552
EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633 ff. (Rn. 53 f.). KOM(2000) 495 endg., S. 12 f. KOM(2001) 522 endg., S. 18.
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barkeit ausgegangen wird, sind ein Indiz dafür, dass tatsächlich ein materieller Verzicht gemeint ist.553 2. Bloßer teilweiser Prüfungsverzicht nach der Konzeption des deutschen Umsetzungsrechts zum Rahmenbeschluss Europäischer Haftbefehl? Eine andere Frage ist, ob der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben die ihm überlassenen Umsetzungsspielräume so genutzt hat bzw. nutzen wird, dass aus er damit zum Ausdruck gebracht hat bzw. bringen wird, grundsätzlich am Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit festzuhalten. Da die Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung durch den deutschen Gesetzgeber trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist zum Zeitpunkt der Erarbeitung der Studie noch ausstand,554 konnte vorliegend nur indiziell das Vorgehen des deutschen Gesetzgebers bei der Implementierung der Regelungen zum Europäischen Haftbefehl in Bezug genommen werden. a) Anordnung des Entfalls der Überprüfung des Vorliegens beiderseitiger Strafbarkeit bei Listendelikten gem. Art. 2 Abs. 2 RB 2002/584/JI Die Regelung des § 81 Nr. 4 IRG besagt, dass „die beiderseitige Strafbarkeit nicht zu prüfen ist, wenn die dem Ersuchen zugrunde liegende Tat nach dem Recht des ersuchenden Staates mit einer freiheitsentziehenden Sanktion im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist“ und die Tat nach dem Recht des Ausstellungsstaates ein Listendelikt gemäß Art. 2 Abs. 2 RB 2002/584/JI ist. Im Übrigen hält der deutsche Gesetzgeber am Erfordernis des Vorliegens beiderseitiger Strafbarkeit, § 3 Abs. 1 IRG, das im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung der Auslieferung zu prüfen ist, fest. Diese Regel-Ausnahme-Systematik und vor allem der Wortlaut des § 81 Nr. 4 IRG („nicht zu prüfen ist“) sprechen dafür, dass der deutsche Gesetzgeber zwar die Prüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit in einer „Art prozessuale[n] unwiderlegliche[n] Vermutung, dass die Tat beiderseits strafbar sei,“ untersagt, am Prinzip der beiderseitigen Strafbarkeit jedoch festhalten wollte.555 Da der Prüfungsverzicht des § 81 Nr. 4 IRG bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 2 RB 2002/584/JI als zwingend ausgestaltet ist und das Fest-
553
Vgl. unten Teil 2 Kapitel 1 D.II.1. Zur nunmehr erfolgten Umsetzung unten Teil 4. 555 Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 3 IRG Rn. 3. 554
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halten am Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit im Übrigen gemäß Art. 4 Nr. 1 RB 2002/584/JI möglich bleibt, kann eine solche unterschiedliche Konzeption des europäischen und des deutschen Gesetzgebers nicht zu einem Konflikt zwischen Unionsrecht und deutschem Umsetzungsrecht führen. b) Ausnahmsweise materieller Verzicht auf das Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit nach (funktional durch § 84a Abs. 3 IRG ersetzten) § 80 Abs. 4 IRG bei Leistung von Vollstreckungshilfe Allerdings schien die Regelung des § 80 Abs. 4 IRG – im Zuge der Umsetzung des RB 2008/909/JI aufgehoben und funktional durch § 84a Abs. 3 IRG ersetzt556 – der These eines Festhaltens des deutschen Gesetzgebers am Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit bei lediglich teilweisem Entfall der Prüfung zu widersprechen. § 80 IRG trifft Regelungen für die Auslieferung deutscher Staatsbürger. Abs. 4 der Vorschrift betraf an Deutschland gerichtete Ersuchen um Vollstreckung einer im Ausland gegen einen deutschen Staatsbürger verhängten Freiheitsstrafe oder sonstigen freiheitsentziehenden Sanktion in zwei Sachverhaltskonstellationen. In der ersten Variante ging dem nunmehrigen Ersuchen um Vollstreckungsübernahme ein Europäischer Haftbefehl zur Strafverfolgung (§ 80 Abs. 1, 2 IRG) voraus und der daraufhin Überstellte soll nun rücküberstellt werden. Die Vorschrift knüpft an Art. 5 Nr. 3 RB 2002/584/JI an, nach der die Überstellung eines eigenen Staatsangehörigen oder einer im Inland des Vollstreckungsstaates wohnhaften Person zur Strafverfolgung an die Bedingung geknüpft werden kann, der Ausgelieferte werde zur allfälligen Strafverbüßung rücküberstellt. In der zweiten Sachverhaltskonstellation, an die § 80 Abs. 4 IRG anknüpfte, wurde einem gegenüber einem deutschen Staatsangehörigen erlassenen Europäischen Haftbefehl zur Strafvollstreckung nur deshalb nicht Folge geleistet, weil der Verurteilte seine gemäß § 80 Abs. 3 IRG erforderliche Zustimmung zur Auslieferung verweigert. Mit § 80 Abs. 3 IRG hat der deutsche Gesetzgeber in Teilen die Möglichkeit des fakultativen Versagungsgrundes des Art. 4 Nr. 6 RB 2002/584/ JI Europäischer Haftbefehl aufgegriffen, der es erlaubt, die Auslieferung zur Strafvollstreckung zu versagen, wenn sich die auszuliefernde Person in Deutschland aufhält, deutscher Staatsangehöriger oder hier wohnhaft ist und Deutschland die Vollstreckung der Sanktion übernimmt. Für beide Sachverhaltskonstellationen ordnete § 80 Abs. 4 IRG an, dass das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit nicht zur Voraussetzung der Vollstreckungshilfe gemacht werden kann, vielmehr die Strafvollstreckung auch dann übernommen wird, wenn offensichtlich keine Strafbarkeit nach deutschem Recht gegeben
556
Vgl. unten Teil 4.
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wäre.557 Für solche Fälle begrenzte § 80 Abs. 4 S. 2 IRG die zu vollstreckende Freiheitsstrafe im Höchstmaß auf zwei Jahre Freiheitsentzug. Über § 83b Abs. 2 S. 2 IRG fand § 80 Abs. 4 IRG im gleichen Umfang Anwendung auf einen Ausländer, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat.558 Es bleibt fraglich, ob der deutsche Gesetzgeber damit generell die Bereitschaft gezeigt hat, vom Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Vollstreckungshilfevoraussetzung abzugehen. Denn die Regelung ist ersichtlich ein gesetzgeberischer Kompromiss, um den Anforderungen des Rahmenbeschlusses auf der einen und den Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht im Urteil zum ersten Umsetzungsgesetz zum Europäischen Haftbefehl gemacht hat,559 auf der anderen Seite gerecht zu werden. Die Frage, ob das Festhalten am Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit verfassungsrechtlich zwingend oder aber diese Rechtshilfevoraussetzung verzichtbar ist, wird anhand der Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen im Anschluss an die vorliegenden Überlegungen ausführlich diskutiert.560 3. Listenkonzept und Achtung der unterschiedlichen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten Dass die Einführung des Listenkonzepts, verbunden mit der insoweit zwingenden Abschaffung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit als zwingender Rechtshilfevoraussetzung eine gravierende Änderung des traditionellen Rechtshilfekonzepts darstellt, wurde bereits gesagt. Dennoch kommt in der konkreten Ausgestaltung des Listenkonzepts aus der Binnenperspektive des Unionsgesetzgebers ein Zugeständnis an die in Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV geforderte Achtung der unterschiedlichen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten zum Ausdruck.561 Diese Einschätzung mag zwar erstaunen, erklärt sich aber vor dem Hintergrund ursprünglicher Bestrebungen, nicht eine Positivliste derjenigen Deliktsgruppen zu erstellen, bei denen die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit zwingend unterbleiben muss, sondern vielmehr den Entfall dieser Prüfung für grundsätzlich alle Delikte zwingend vorzusehen und lediglich eine Negativliste 557 Die Vorschrift ordnete fälschlich die Unanwendbarkeit des § 49 Abs. 1 Nr. 3 IRG an; richtigerweise hätte Art. 3 Abs. 1 lit. e ÜberstÜbk in Bezug genommen werden müssen; vgl. Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 80 IRG Rn. 54; Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 80 IRG Rn. 12. 558 Vgl. dazu Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 83b IRG Rn. 15. Siehe auch OLG Celle, NStZ-RR 2013, 24 f. 559 BVerfGE 113, 273 (304 ff.) (Europäischer Haftbefehl). 560 Siehe unten Teil 2 Kapitel 2 A. 561 Ausführlich dazu unten Teil 2 Kapitel 1 C.III.
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von Delikten zu erstellen, bei deren Vorliegen ausnahmsweise die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit möglich sein sollte.562 Diese Überlegungen scheiterten allerdings daran, dass keine Einigkeit darüber erzielt werden konnte, welche Delikte in eine solche Negativliste aufgenommen werden sollten.563 Das Scheitern dieser Einigung wiederum zeigt, wie groß die Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen in der Wertegemeinschaft der Europäischen Union noch immer sind. III. Konzeptionelle Modifikationen des Verzichts auf die beiderseitige Strafbarkeit Vergleicht man die verschiedenen Rahmenbeschlüsse zur Umsetzung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung, so fällt auf, dass die Liste der Katalogtaten nicht stets identisch ausgestaltet ist. 1. Adaption des Listenkonzepts in Abhängigkeit von der Schwere des mit der Vollstreckung der Entscheidung verbundenen Rechtseingriffs Der in Art. 7 Abs. 1 RB 2008/909/JI über die Europäische Vollstreckungsanordnung verankerte Katalog der Listendelikte umfasst 32 Deliktsgruppen.564 Die 562 Art. 27 KOM(2001) 522 endg., ABl. EU 2001 C 332 E/305; vgl. auch KOM (2000) 495 endg., S. 13. Siehe dazu oben A.II.1., in diesem Kapitel. 563 Zur Genese des Katalogs der Listendelikte im Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung vgl. Peers, Mutual Recognition and Criminal Law in the European Union: Has the Council got it wrong?, CMLRev 41 (2004), 5 (26 ff.). 564 Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung; Terrorismus; Menschenhandel; sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornographie; illegaler Handel mit Drogen und psychotropen Stoffen; illegaler Handel mit Waffen, Munition und Sprengstoffen; Korruption; Betrugsdelikte, einschließlich Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften im Sinne des Übereinkommens v. 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften; Wäsche von Erträgen aus Straftaten; Geldfälschung, einschließlich der Euro-Fälschung; Cyberkriminalität; Umweltkriminalität, einschließlich des illegalen Handels mit bedrohten Tierarten und mit bedrohten Pflanzen- und Baumarten; Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt; vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung; illegaler Handel mit menschlichen Organen und menschlichem Gewebe; Entführung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme; Rassismus und Fremdenfeindlichkeit; Diebstahl in organisierter Form oder mit Waffen; illegaler Handel mit Kulturgütern, einschließlich Antiquitäten und Kunstgegenständen; Betrug; Erpressung und Schutzgelderpressung; Nachahmung und Produktpiraterie; Fälschung von amtlichen Dokumenten und Handel damit; Fälschung von Zahlungsmitteln; illegaler Handel mit Hormonen und anderen Wachstumsförderern; illegaler Handel mit nuklearen und radioaktiven Substanzen; Handel mit gestohlenen Kraftfahrzeugen; Vergewaltigung; Brandstiftung; Verbrechen, die in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallen; Flugzeug- und Schiffsentführung; Sabotage. Die Liste ist durch einstimmigen Ratsbeschluss nach Anhörung des Parlaments erweiterbar, Art. 7 Abs. 2 RB 2008/909/JI.
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Liste stimmt inhaltlich und nahezu wörtlich565 mit derjenigen in Art. 2 Abs. 2 RB 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl überein.566 Das ist konsequent, steht doch der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, der auch ein Begehren der Auslieferung zur Strafvollstreckung einschließt,567 dem Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung in seiner Eingriffsrichtung und -intensität am nächsten. Hingegen ist die Liste der Deliktsgruppen im Rahmenbeschluss über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen weiter gefasst.568 Der zwingende Verzicht auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit wurde mit dem letztgenannten Rahmenbeschluss sektoriell für die Vollstreckungshilfe bei Geldsanktionen in den Bereich der leichten Kriminalität ausgedehnt und so am Charakter der vom Rahmenbeschluss umfassten strafjustiziellen Entscheidungen orientiert. Denn Geldstrafen und Geldsanktionen dienen regelmäßig der Ahndung leichter bis mittlerer Kriminalität.569 2. Zwingende Abschaffung bei Europäischer Vollstreckungsanordnung nicht mehr vorbehaltlos Die insoweit parallelen und einander ohnehin konzeptionell ergänzenden Rahmenbeschlüsse über die Europäische Vollstreckungsanordnung und über die Europäische Überwachungsanordnung570 erlauben den Mitgliedstaaten erstmals seit dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, durch Erklärung eines Vorbehalts das Vorliegen der beiderseitigen Strafbarkeit auch im Falle der Listendelikte zur Voraussetzung der Anerkennung und Vollstreckungsübernahme machen.571 Dies bedeutet die Abkehr von einem zentralen Element der bisherigen 565 Es wurde nur eine Präzisierung vorgenommen: Statt „illegaler Handel mit Organen und menschlichem Gewebe“ in Art. 2 Abs. 2 RB 2002/584/JI (Europäischer Haftbefehl) findet sich nun „illegaler Handel mit menschlichen Organen und menschlichem Gewebe“ in Art. 7 Abs. 1 RB 2008/909/JI (Europäische Vollstreckungsanordnung). 566 Eine identische Liste findet sich auch in Art. 3 Abs. 2 RB 2003/577/JI (Sicherstellungsentscheidungen) und in Art. 6 Abs. 1 RB 2006/783/JI (Einziehungsentscheidungen). 567 Art. 1 Abs. 1 2. Alt. RB 2002/584/JI. 568 Art. 5 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. EU 2005 L 76/16. 569 Vgl. Weitzmann, Kriminalsanktionen in Europa. Ein Vergleich der Sanktionensysteme von Deutschland, Österreich, Dänemark, Frankreich und England/Wales (2012), S. 191, 206, 209, 213. 570 Rahmenbeschluss 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen, ABl. EU 2008 L 337/102. 571 Art. 7 Abs. 4 RB 2008/909/JI. Siehe aber auch Art. 23 Abs. 4 Rahmenbeschluss 2008/978/JI des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen, ABl. EU 2008 L 350/72.
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sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen. Macht ein Mitgliedstaat von dieser Möglichkeit Gebrauch, so bedeutet dies den Verlust einer wesentlichen Absicherung der möglichst weitgehenden zwingenden gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Der Vorbehalt kann zum Zeitpunkt der Annahme des Rahmenbeschlusses oder auch zu einem späteren Zeitpunkt erklärt werden.572 Die Erklärung kann jederzeit zurückgenommen werden. Mit Stand 18. September 2012 hatten drei Mitgliedstaaten eine solche Erklärung abgegeben,573 nämlich Polen,574 Österreich575 und Irland.576 Im Zuge der 2015 erfolgten Umsetzung hat schließlich auch Deutschland diese Möglichkeit genutzt. Es zeigt sich damit deutlich, dass die Konzeption der sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen noch nicht abgeschlossen ist und auch der Unionsgesetzgeber erkannt hat, dass trotz grundsätzlichen Konsenses in der Ausgestaltung im Detail noch Korrekturbedarf besteht. 3. Systematisierung der Entwicklungsstufen und Zukunftsprognose Für das durch die Rahmenbeschlüsse zur Umsetzung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung geschaffene Konzept der teilweisen Abschaffung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit sind somit bislang drei teils gegenläufige Entwicklungsstufen zu verzeichnen. War es auf der ersten Stufe beim Europäischen Haftbefehl noch die Deliktsschwere, die als Begründung zur Anschaffung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit diente, so wurde dann in einem zweiten Schritt für die Anerkennung von Geldsanktionen dieses Konzept auf Bereiche mittlerer Kriminalität nach unten ausgedehnt. Bis zu diesem Zeitpunkt ging es allein um die Ausweitung der Abschaffung des Erfordernisses; beide Maßnahmen waren auf eine möglichst weitgehende Absicherung des Anerkennungskonzepts gerichtet. Im Falle der Vollstreckungshilfe und Überwachungsanordnung kommt es aber nun bei einem dem Haftbefehl vergleichbaren Deliktskatalog zu einer ambivalenten, weil teils gegenläufigen Entwicklung. Es ist wohl die Intensität des mit der Vollstreckungshilfe für den Einzelnen verbundenen Eingriffs, nämlich der sanktionierenden Freiheitsentziehung, derentwegen den Mitgliedstaaten eine vollständige Abkehr vom bisher erarbeiteten Verzicht auf beiderseitige Strafbarkeit ermöglicht wird.577 572 Art. 7 Abs. 4 RB 2008/909/JI; Art. 10 Abs. 4 RB 2008/947/JI. Erforderlich ist eine dem Generalsekretariat des Rates notifizierte Erklärung des Staates, dass er Art. 7 Abs. 1 RB 2002/909/JI oder Art. 10 Abs. 1 RB 2008/947/JI nicht anwenden werde. Die Erklärung ist im Amtsblatt der EU zu veröffentlichen. 573 Siehe Ratsdok. 634572/12 COPEN 34. 574 Ratsdok. 5650/12 COPEN 14. 575 Ratsdok. 5698/12 COPEN 17. 576 Ratsdok. 5421/12 COPEN 9.
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G. Fallgruppendifferenzierung nach Resozialisierungschancen Der Rahmenbeschluss unterscheidet zwischen drei grundsätzlichen Sachverhaltsgestaltungen, in denen eine Vollstreckungsübertragung auf Basis der konzipierten Europäischen Vollstreckungsanordnung möglich ist. Bei der Analyse dieser Sachverhaltskonstellationen zeigt sich eine unterschiedlich stark ausgeprägte Vermutung für bessere Resozialisierungschancen im avisierten Vollstreckungsstaat. I. Vollstreckungsstaat als Heimatstaat und Lebensmittelpunkt oder Abschiebungsziel zur Übernahme verpflichtet Ein starkes Indiz für bessere Resozialisierungschancen im avisierten Vollstreckungsstaat kennzeichnet die unter Art. 4 Abs. 1 lit. a und lit. b RB 2008/909/JI beschriebenen ersten zwei Sachverhaltsgestaltungen. Erfasst ist die Vollstreckungsübertragung an den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit der verurteilten Person, in dem diese auch lebt (Art. 4 Abs. 1 lit. a RB 2008/909/JI).578 Des Weiteren ist die Vollstreckungsübertragung an den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit der verurteilten Person erfasst, in den diese, auch wenn sie dort nicht lebt, aufgrund einer Ausweisungs- oder Abschiebeanordnung, die im Urteil oder in einer infolge des Urteils getroffenen gerichtlichen oder Verwaltungsentscheidung oder anderen Maßnahme enthalten war, nach der Entlassung aus dem Strafvollzug abgeschoben werden wird (Art. 4 Abs. 1 lit. b RB 2008/909/JI). Im ersteren Falle wird also die Vermutung der besseren Resozialisierungschancen im Vollstreckungsstaat an den bisher schon bestehenden ständigen Aufenthalt geknüpft, während im letzteren Fall die Verlagerung des ständigen Aufenthalts in den Vollstreckungsstaat vermutete Folge der sicheren Abschiebung oder Ausweisung dorthin ist. Zwar kann nicht zwingend davon ausgegangen werden, der Verurteilte werde sich nach Abschiebung oder Auslieferung dort auch dauerhaft niederlassen. Jedenfalls aber darf davon ausgegangen werden, dass Resozialisierungsbemühungen im Urteilsstaat deswegen nicht bessere Chancen haben können, weil infolge der angeordneten Ausweisung bzw. Abschiebung eine Reintegration in die Gesellschaft des Urteilsstaates nicht erfolgen kann. In der Abwägung zwischen Urteils- und Vollstreckungsstaat spricht dann für die Übertragung der Strafvollstreckung an letzteren jedenfalls dem ersten Anschein nach, dass der Verurteilte dessen Staatsangehörigkeit besitzt. Daher sieht der Rahmenbeschluss in beiden Fallkonstellationen kein Erfordernis der Zustimmung des Vollstreckungsstaates zur Einleitung eines Vollstreckungsübertragungsverfahrens vor.579 577
Zur Frage, ob dies verfassungsrechtlich geboten ist, siehe unten Teil 2 Kapitel 2. Zur Interpretation der Bestimmung gibt Erwägungsgrund 17 den Hinweis, dass mit Bezug auf den Staat, in dem der Verurteilte „lebt“, der Ort gemeint ist, mit dem die Person aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts und aufgrund von Aspekten wie familiären, sozialen oder beruflichen Bindungen verbunden ist. 579 Vgl. Art. 4 Abs. 1 lit. a und b RB 2008/909/JI gegenüber lit. c der Vorschrift. 578
G. Fallgruppendifferenzierung nach Resozialisierungschancen
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II. Vollstreckungsstaat stimmt Übernahme im Einzelfall oder generell zu 1. Einzelfallbezogene Zustimmung des Vollstreckungsstaates Die Europäische Vollstreckungsanordnung erlaubt es aber auch, die Vollstreckungsübertragung an jeden beliebigen Mitgliedstaat einzuleiten, wenn die Behörden dieses avisierten Vollstreckungsstaates der Verfahrenseinleitung zustimmen (Art. 4 Abs. 1 lit. c RB 2008/909/JI). Es handelt sich also um die Frage einer Vollstreckungsüberstellung an einen Staat, in dem jedenfalls aufgrund der abstrakten gesetzlichen Sachverhaltsbeschreibung nicht per se bessere Resozialisierungschancen zu vermuten sind, so dass es zur Verfahrenseinleitung bereits einer Zustimmung des avisierten Vollstreckungsstaates bedarf. Dennoch muss diese Generalklausel des lit. c nicht im Widerspruch zum Ziel der Verbesserung der Resozialisierungschancen stehen. Denn sie entbindet nicht von der ausdrücklich im Rahmenbeschluss verankerten Pflicht des Urteilsstaates, im konkreten Einzelfall die besseren Resozialisierungschancen zu prüfen, bevor ein Vollstreckungsübertragungsverfahren eingeleitet wird. Anzumerken bleibt, dass diese weite Fallgruppe auch die Möglichkeit einschließt, die Vollstreckung dem Mitgliedstaat zu übertragen, dessen Staatsangehöriger der Verurteilte zwar ist, in dem er jedoch weder lebt noch in den er abgeschoben bzw. ausgewiesen werden wird. Inhaltlich ergänzt diese Fallgruppe also jene bereits vorgestellten Fallkonstellationen, in denen der Staat der Staatsangehörigkeit ohnehin zur Übernahme verpflichtet ist. 2. Möglichkeit zu genereller Zustimmung des Vollstreckungsstaates Art. 4 Abs. 1 lit. c RB 2008/909/JI erfasst so vielfältige Fallgestaltungen, dass der Rahmenbeschluss eine weitere Differenzierung innerhalb dieser Gruppe vornimmt (Art. 4 Abs. 1 lit. d RB 2008/909/JI). Ein Mitgliedstaat kann nämlich für zwei Fallkonstellationen erklären, auf das Erfordernis seiner vorherigen Zustimmung zur Verfahrenseinleitung zu verzichten. a) Bei rechtlich verfestigtem Aufenthalt des Verurteilten Dies gilt zum einen für die Übertragung der Vollstreckung gegenüber Personen, die im Vollstreckungsstaat leben, dort seit mindestens fünf Jahren ihren rechtmäßigen Aufenthalt haben und dieses Recht behalten werden (Art. 4 Abs. 7 UAbs. 1 lit. a RB 2008/909/JI). Kurz gefasst ist hier der Staat des rechtlich verfestigten Aufenthalts im Sinne des einschlägigen Unionsrechts angesprochen. Dies ergibt sich aus Art. 4 Abs. 7 UAbs. 2 RB 2008/909/JI, der Bezug nimmt
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auf die Personenfreizügigkeit im Binnenmarkt und als Unionsbürger,580 konkretisiert durch das dazu ergangene Sekundärrecht,581 und auf gültige unbefristete oder langfristige Aufenthaltsrechte von Drittstaatsangehörigen im Einklang mit den Bestimmungen zu Aufenthalt, Asyl und Einwanderung.582 Mit Verzicht auf das Erfordernis der vorherigen Zustimmung des avisierten Vollstreckungsstaates zur Verfahrenseinleitung werden diese Personen, die einen verfestigten langfristigen Aufenthalt im Vollstreckungsstaat haben und daher unionsrechtlich besonderen Schutz vor Ausweisung genießen, den im Heimatstaat lebenden eigenen Staatsangehörigen gleichgestellt. Damit wird eine Parallele zur Fallgruppe des Art. 4 Abs. 1 lit. a RB 2008/909/JI gezogen. In beiden Fällen besteht die Vermutung besserer Resozialisierungschancen im Vollstreckungsstaat. Daher trägt das (verzichtbare) Erfordernis der Zustimmung zur Verfahrenseinleitung weniger dem Zweifel an der Vermutung besserer Resozialisierungschancen als mehr einer im Vergleich zu eigenen Staatsbürgern geringeren rechtlichen Bindung zwischen Verurteiltem und Vollstreckungsstaat Rechnung. Dies allerdings wirft die Frage auf, ob es sich nicht um eine unzulässige Diskriminierung der in einem Staat rechtmäßig ansässigen, einen verfestigten Aufenthalt im obigen Sinne habenden Staatsbürger anderer Mitgliedstaaten handelt.583 Denn sie würden unter Umständen schlechter gestellt als eigene Staatsangehörige dieses Staates, die ebenfalls vor Ort leben und daher überstellt werden sollen. Bei eigenen Staatsangehörigen bedürfte es nämlich keiner Zustimmung des Heimatstaates, dieser kann sie also auch nicht verweigern und so das Verfahren blockieren. Bei aufenthaltsverfestigten Unionsbürgern mit anderer Staatsangehörigkeit hingegen bestünde ohne die generelle Verzichtserklärung des Staates die Gefahr einer Blockade im Einzelfall. b) Bei eigenen Staatsangehörigen in nicht vom gesetzlichen Entfall erfassten Fällen Auf das Erfordernis der Zustimmung zur Verfahrenseinleitung kann der Vollstreckungsstaat auch dann verzichten, wenn es sich um die Übertragung der Vollstreckung gegenüber eigenen Staatsangehörigen handelt, diese jedoch weder 580 Der keine normative Wirkung entfaltende Erwägungsgrund 15 des RB 2008/909/ JI konkretisiert diese Inbezugnahme inhaltlich und verweist insbesondere auf RL 2003/ 86/EG, ABl. EU 2003 L 251/12; RL 2003/109/EG, ABl. EU 2004 L 16/44 sowie RL 2004/38/EG, ABl. EU 2004 L 158/77. 581 Die Verweisung erfolgt auf die Normen der Primärverträge in der vor dem Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrags geltenden Fassung. 582 Vgl. dazu etwa Lohse, Die Rechtsprechung des EuGH zum Aufenthaltsrecht Drittstaatsangehöriger – auf dem Weg zur Achtung der Kompetenzverteilung bei der Gewährleistung von Grundrechten?, EuGRZ 2012, 693 ff. 583 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-123/08, Wolzenburg, Slg. 2009, I-9621 ff. (Rn. 42 ff.); Tinkl, Die Ungleichbehandlung eigener und fremder Staatsbürger im deutschen Auslieferungsrecht. Verstoß gegen das europäische Diskriminierungsverbot und gegen das grundgesetzliche Bestimmtheitsgebot, ZIS 4/2010, 320 ff.
H. Initiativ- und Beteiligungsrechte
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in diesem Staat leben noch infolge der Verurteilung dorthin ausgewiesen werden können, mithin keine Fallgestaltung vorliegt, die bereits durch Art. 4 Abs. 1 lit. a RB 2008/909/JI oder Art. 4 Abs. 1 lit. b RB 2008/909/JI erfasst ist. Die bloße Staatsangehörigkeit ohne Bezug zum bisherigen oder zukünftig zu erwartenden Lebensmittelpunkt trägt je nach konkreter Fallgestaltung unter Umständen nur eine abgeschwächte Indizwirkung für bessere Resozialisierungschancen im avisierten Vollstreckungsstaat in sich, so dass die Einordnung dieser Fallgestaltung scheinbar in der Mitte zwischen generellem Entfall und generellem Bestehen des Zustimmungserfordernisses jedenfalls nicht willkürlich erscheint. Bedenken könnten dennoch entstehen, macht man sich klar, dass die abzugebende Verzichtserklärung eine generelle ist, also gerade nicht die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen vermag. Allerdings entbindet der Verzicht des Vollstreckungsstaates auf vorherige Zustimmung zur Verfahrenseinleitung den Ausstellungsstaat nicht von der bereits betonten inhaltlichen Prüfungspflicht des Ausstellungsstaates, also dem Vergleich der Resozialisierungschancen.
H. Initiativ- und Beteiligungsrechte Das Ziel besserer Resozialisierungschancen muss sich an der Ausgestaltung des Verfahrens zur Vollstreckungsübertragung messen lassen. Dazu zählen die zentralen verfahrenssteuernden Elemente wie das Initiativrecht, die Zustimmungserfordernisse, die teils bereits im vorherigen Abschnitt anzusprechen waren, und deren Entfall sowie die Versagungsgründe. I. Alleiniges Initiativrecht des Ausstellungsstaates; Ermessenskonkretisierung Dem Ausstellungsstaat ist mit der Zuweisung des alleinigen Initiativrechts eine starke Position eingeräumt; dem Vollstreckungsstaat und dem Verurteilten selbst bleibt nur das keine Bindungswirkung entfaltende Ersuchensrecht.584 Nur der Ausstellungsstaat hat das Recht, das rein justizförmige Verfahren einzuleiten, welches in eine weitestgehend gebundene Entscheidung des Vollstreckungsstaates mündet. Auch dann, wenn eine Übertragung der Vollstreckung im Resozialisierungsinteresse läge, kann eine solche auf Basis der Europäischen Vollstreckungsanordnung nur erfolgen, wenn der Urteils- bzw. Ausstellungsstaat eine Ermessensentscheidung in diesem Sinne trifft. 1. Subjektives Recht des Verurteilten auf ermessensfehlerfreie Entscheidung Für die Bundesrepublik Deutschland hat das BVerfG zur Frage einer Ermessensentscheidung über die Einleitung eines Verfahrens der Überstellung zur Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Sanktion klargestellt: „Die Rechtsstellung 584
Art. 4 Abs. 1 RB 2008/909/JI.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
eines zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten ist wesentlich durch seinen gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Anspruch auf Resozialisierung bestimmt; das Resozialisierungsziel entspricht dem Selbstverständnis einer der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip verpflichteten Gemeinschaft (vgl. BVerfGE 35, 202 [235 f.]; 36, 174 [188]; 45, 187 [239]). Daraus erwächst bei Ermessensentscheidungen im Bereich des Strafvollzugs dem Verurteilten ein Anspruch darauf, daß die Behörden ihr Ermessen pflichtgemäß ausüben (vgl. schon BVerfGE 89, 315 [322 ff.]; des weiteren BVerfG – Kammer – Beschlüsse vom 16. Februar 1993, NJW 1993, S. 3188 [3189], vom 29. Oktober 1993, NStZ 1994, S. 100, vom 10. Februar 1994, StV 1994, S. 432 [433]). Dieser Anspruch umfaßt auch die gegenüber dem Strafvollzug eigenständige strafvollstreckungsrechtliche Frage, ob der Verurteilte zur Verbüßung seiner Strafe in seine Heimat überstellt wird.“ 585 Diese Vorgabe wird nach Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung seitens der zuständigen Behörden zu beachten sein, wenn die Bundesrepublik Deutschland Urteilsstaat ist. Sie wird aber gleichermaßen gelten, wenn die Bundesrepublik als Vollstreckungsstaat in Betracht kommt. Auch die Entscheidung darüber, ob der Urteilsstaat um Einleitung eines Vollstreckungsüberstellungsverfahrens ersucht wird, ist schließlich eine Ermessensentscheidung der zuständigen Behörde. 2. Abwägungsfaktoren Erforderlich ist in beiden Fallgestaltungen eine umfassende Abwägung vollstreckungsrechtlicher Belange gegenüber dem Resozialisierungsinteresse und den auf Sprachbarrieren, Entfremdung von der heimischen Kultur und fehlenden Sozialkontakten beruhenden Benachteiligungen ausländischer Gefangener,586 wie sie in der vorliegenden Studie umfassend vorgestellt worden sind. Das Interesse an der Effektuierung der Strafdrohung durch Strafvollstreckung587 und das Resozialisierungsinteresse, das den Strafvollzug bestimmen muss,588 müssen in Einklang gebracht werden. II. Teilweise Kompensation durch Zustimmungserfordernis des Vollstreckungsstaates Teilweise kompensiert wird das alleinige Initiativrecht des Ausstellungsstaates, soweit es für eine Vollstreckungsüberstellung einer Zustimmung des avisierten Vollstreckungsstaates bereits zur Verfahrenseinleitung bedarf. 585
BVerfGE 96, 100 (115); bestätigt durch BVerfG, NStZ-RR 2005, 182. Hackner/Schomburg, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 71 IRG Rn. 14d m.w. N. insbesondere aus der Judikatur der Oberlandesgerichte. 587 Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 1 B.III.2. 588 Zum Resozialisierungsziel des Strafvollzugs siehe oben Teil 1 Kapitel 1 A.II.2.d). 586
H. Initiativ- und Beteiligungsrechte
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Dies trifft, wie gezeigt, in denjenigen bereits vorgestellten Fallgestaltungen zu, in welchen der Rahmenbeschluss nicht ohnehin die Vermutung zu Grunde gelegt hat, die Resozialisierungschancen im Vollstreckungsstaat seien höher.589 Kurz zusammengefasst besteht diese Teilkompensation durch Zustimmungserfordernis nicht, wenn es um die Übertragung der Vollstreckung gegenüber einem Staatsangehörigen des Vollstreckungsstaates geht, der in diesem lebt oder der infolge bereits getroffener Entscheidung dorthin ausgewiesen oder abgeschoben werden wird. Das Zustimmungserfordernis entfällt auch dann, wenn die Vollstreckungsübertragung eine Person betrifft, die entweder im Vollstreckungsstaat einen unionsrechtlich determinierten verfestigten Aufenthaltsstatus hat oder Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaates ist, vorausgesetzt, der Vollstreckungsstaat hat für diese Fälle eine Verzichtserklärung abgegeben. Das Zustimmungserfordernis des Vollstreckungsstaates kann nur als teilweise Kompensation des alleinigen, grundsätzlich einen Automatismus der Vollstreckungsübertragung auslösenden Initiativrechts des Ausstellungsstaates angesehen werden. Denn es ermöglicht dem Vollstreckungsstaat nicht, seinerseits die Übertragung aus eigener Kraft herbeizuführen. Es hat also nur blockierende, nicht aber aktiv gestaltende Wirkung. III. Zustimmungserfordernis des Verurteilten; Entfall Bislang wurden nur Initiativ- und Zustimmungsrechte der beteiligten Staaten untersucht. Gerade dem Zustimmungserfordernis des Verurteilten wurde jedoch unter dem Überstellungsübereinkommen eine erhebliche Bedeutung zugemessen.590 Der Rahmenbeschluss zur Europäischen Vollstreckungsanordnung nimmt in dieser Frage eine andere Weichenstellung vor. So wird in Erwägungsgrund 5 a. E. ausgeführt: „Ungeachtet des Erfordernisses, dass für die verurteilte Person angemessene Rechtsgarantien vorgesehen sein müssen, sollte ihre Beteiligung in dem Verfahren nicht länger davon geprägt sein, dass die Übermittlung eines Urteils an einen anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Anerkennung des Urteils und der Vollstreckung der verhängten Sanktion in allen Fällen an die Zustimmung der Person gebunden ist.“ Diese programmatische Erwägung wird in Art. 6 RB 2008/909/JI rechtlich verbindlich umgesetzt. 1. Grundsätzlich Zustimmung erforderlich Grundsätzlich wird festgehalten am Erfordernis der Zustimmung der verurteilten Person im Einklang mit dem Recht des Ausstellungsstaates als Voraussetzung 589
Siehe oben unter F., in diesem Kapitel. Vgl. etwa Ahlbrecht/Rosenthal, Teil 5: Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht u. a. (Hrsg.), Internationales Strafrecht in der Praxis (2008), Rn. 978; Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zu Erleichterungen bei der Internationalen Vollstreckungshilfe, BT-Drucks. 14/3957 v. 28.07.2000, S. 9 (Frage 16). 590
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
dafür, dass eine Vollstreckungsübertragung eingeleitet wird, also Urteil und Bescheinigung dem Vollstreckungsstaat übermittelt werden (Art. 6 Abs. 1 RB 2008/ 909/JI). 2. Ausnahmsweiser Entfall des Zustimmungserfordernisses Das Erfordernis der Zustimmung des Verurteilten entfällt jedoch, wenn die Vollstreckung an den Staat übertragen werden soll, dessen Staatsangehöriger der Verurteilte ist und in dem er lebt (Art. 6 Abs. 2 lit. a RB 2008/909/JI) sowie dann, wenn die Vollstreckung dem Staat übertragen werden soll, in den der Verurteilte aufgrund einer im Urteil oder infolge des Urteils getroffenen Entscheidung nach Entlassung aus dem Strafvollzug abgeschoben werden wird (Art. 6 Abs. 2 lit. b RB 2008/909/JI). Auffällig ist, dass vom erstgenannten Fall nicht jene Personen erfasst werden, die in einem anderen Mitgliedstaat ihren Wohnsitz591 haben, aber nicht dessen Staatsangehörige sind. Eine weitgehende, jedoch nicht vollständige Parallelität zum Fehlen eines Zustimmungserfordernisses des Vollstreckungsstaates wird deutlich. Ein Unterschied findet sich im Falle der Abschiebungs- bzw. Ausweisungsverfügung. Während in einem solchen Fall die Zustimmung des Zielstaates nur dann nicht erforderlich war, wenn es eigene Staatsangehörige betraf, ist die Zustimmung des Verurteilten in jedem Falle entbehrlich, unabhängig davon, ob der Zielstaat der Staat seiner Staatsangehörigkeit ist oder nicht. Diese Abweichung erklärt sich daraus, dass der Verurteilte in jedem Falle davon ausgehen muss, spätestens nach Entlassung aus dem Strafvollzug notfalls auch gegen seinen Willen in den nun bereits zum Vollzug der Strafe avisierten Mitgliedstaat ausgewiesen zu werden. Das Erfordernis der Zustimmung der verurteilten Person entfällt im Übrigen auch bei einer Übertragung der Vollstreckung an den Mitgliedstaat, in den die verurteilte Person angesichts des gegen sie im Ausstellungsstaat geführten Strafverfahrens oder angesichts der erfolgten Verurteilung geflohen oder auf andere Weise zurückgekehrt ist (Art. 6 Abs. 3 lit. c RB 2008/909/JI). Dies steht in der Tradition der das Überstellungsübereinkommen modifizierenden völkervertraglichen Regelungen, die erstmals die Fluchtfälle in die Vollstreckungshilfe einbezogen und damit neben das Resozialisierungsziel der Vollstreckungshilfe das Rechtsdurchsetzungsziel gesetzt haben.592 Es entspricht auch der Gesamtkonzeption des Rahmenbeschlusses, die sichtlich nicht allein auf die Förderung des Resozialisierungsziels gerichtet ist, sondern auch das Rechtsdurchsetzungsziel im Blick hat. 591 Der Begriff des Wohnsitzes ist unabhängig vom nationalen Recht unionsautonom zu bestimmen, vgl. EuGH, Rs. C-66/08, Kozłowski, Slg. 2008, I-6041 ff. Zu dieser Entscheidung Böhm, Die Kosłowski-Entscheidung des EuGH und ihre Auswirkungen auf das Auslieferungsrecht. Kein „Strafvollstreckungstourismus“ innerhalb Europas, NJW 2008, 3183 ff. 592 Näher dazu oben Teil 1 Kapitel 2.
H. Initiativ- und Beteiligungsrechte
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3. Rechtliche Ausnahme als faktischer Regelfall? Für die Praxis der Europäischen Vollstreckungsanordnung ist zu erwarten, dass die Fallgestaltungen, in denen das Zustimmungserfordernis des Verurteilten ausnahmsweise entfällt, den Regelfall bilden werden.593 Denn es steht zu erwarten, dass vor allem Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die auch in ihrem Heimatstaat ansässig sind, sowie jene Personen überstellt werden, die ohnehin infolge der Verurteilung ausgewiesen würden. Eine weitere große Gruppe wird die Vollstreckungsübertragung in jenen Fällen bilden, in denen sich der Verurteilte bereits im Vollstreckungsstaat aufhält. In allen drei Fällen ist keine Zustimmung des Verurteilten erforderlich. 4. Bewertung des Zustimmungserfordernisses und seines Entfalls Eine pauschale Bewertung des Zustimmungserfordernisses und seines Entfalls wird der Vielzahl der Fallgestaltungen nicht gerecht. Für das Überstellungsübereinkommen des Europarates wurde festgestellt, das Zustimmungserfordernis habe – neben der nahezu exklusiven Zuständigkeit des Heimatstaates für die vorzeitige Beendigung der Vollstreckung und der fehlenden zwischenstaatlichen Verpflichtung zur Überstellung – die größte Hürde für dessen Anwendung in der Rechtspraxis dargestellt.594 Schlussfolgernd fügt Weber in seiner Studie zum Überstellungsübereinkommen hinzu, das Zustimmungserfordernis müsse insgesamt als dogmatische Fehlkonstruktion angesehen werden, denn es führt dazu, dass „die Erreichung eines bestimmten staatlichen Zwecks mit repressivem Charakter von der freien Zustimmung des Betroffenen abhängig gemacht wird, der jedoch seinerseits vorwiegend abweichende und andersartige Interessen verfolgt“.595 Im Explanatory Report zum Europaratsübereinkommen wird hingegen das Zustimmungserfordernis damit begründet, dass die Überstellung des Gefangenen ohne dessen Zustimmung kontraproduktiv sei.596 Diese Einschätzung knüpft an die Überlegung an, dass eine Resozialisierung der Mitwirkung des Verurteilten bedarf. Der im Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung getroffene Umfang des Entfalls des Zustimmungserfordernis593 Morgenstern, Strafvollstreckung im Heimatstaat – der geplante EU-Rahmenbeschluss zur transnationalen Vollstreckung von Freiheitsstrafen, ZIS 2/2008, 76 (80), erwartet eine „in der Praxis weit reichende Bedeutung“. 594 Weber, Überstellung in den Heimatstaat. Ein Konzept wider den Strafvollzug in der Fremde. Zugleich ein Beitrag zum Recht der internationalen Vollstreckungshilfe in Strafsachen (1997), S. 244. 595 Weber, Überstellung in den Heimatstaat. Ein Konzept wider den Strafvollzug in der Fremde. Zugleich ein Beitrag zum Recht der internationalen Vollstreckungshilfe in Strafsachen (1997), S. 244. 596 ETS No. 112, Explanatory Report, para. 1.; siehe näher dazu oben Teil 1 Kapitel 2 A.I.2.b).
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ses muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass der Rahmenbeschluss in seinem Anwendungsbereich deutlich über die reinen Überstellungsfälle, die bislang unmittelbar vom Überstellungsübereinkommen erfasst sind, hinausgeht. Daher erscheint die vorgenommene Begrenzung des Zustimmungserfordernisses als sachgerecht. Dennoch mögen aus der Sicht des Verurteilten im Einzelfall gute Gründe gegen eine Überstellung sprechen. Daher ist zu fordern, dass das verbleibende Stellungnahmerecht des Verurteilten entsprechende Berücksichtigung findet.597 5. Zeitlich begrenztes unbedingtes Zustimmungserfordernis des Verurteilten im Vollstreckungshilfeverkehr mit Polen Bemerkenswert ist die bereits kurz angesprochene, zeitlich befristete Regelung einer Ausnahme für Polen, das den grundsätzlichen Automatismus zwischen Verfahrenseinleitung und Vollstreckungsübertragung bei eigenen Staatsangehörigen des Vollstreckungsstaates, in dem diese auch leben, modifiziert. Denn die Entscheidungsmacht über die Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung ist im konkreten Fall nicht den Behörden Polens als Heimat- und Vollstreckungsstaat überantwortet, sondern dem Verurteilten selbst übertragen. Letzterer muss der Überstellung zustimmen: Der grundsätzliche Automatismus der Vollstreckungsüberstellung ergibt sich daraus, dass bei Einleitung des Verfahrens durch den Ausstellungsstaat in vergleichbaren Fällen weder der Vollstreckungsstaat noch der Verurteilte selbst zustimmen müssen (Art. 4 Abs. 1 lit. a i.V. m. Art. 6 Abs. 2 lit. a RB 2008/909/JI). Als Ausnahmeregelung ist nicht ein zeitlich befristetes Zustimmungserfordernis für Polen als Vollstreckungsstaat eingeräumt, sondern die in Art. 6 Abs. 2 lit. a RB 2008/909/JI verankerte Ausnahmeregelung vom Zustimmungserfordernis des Verurteilten bei Vollstreckungsübertragung an den Staat der Staatsangehörigkeit, in dem er lebt, temporär derogiert worden, so dass das grundsätzliche Erfordernis der Zustimmung des Verurteilten598 wieder auflebt. Diese Ausnahmeregelung wird in Erwägungsgrund 11 des Rahmenbeschlusses damit begründet, dass „Polen [. . .] mehr Zeit als die anderen Mitgliedstaaten [benötige], um sich in praktischer und materieller Hinsicht auf die Überstellung von in einem anderen Mitgliedstaat verurteilten polnischen Bürgern vorzubereiten, insbesondere angesichts der zunehmenden Mobilität polnischer Staatsangehöriger innerhalb der Europäischen Union. Daher sollte für Polen ein auf maximal fünf Jahre beschränkte einstweilige Ausnahmeregelung vorgesehen werden.“ Längstens greift diese Ausnahmeregelung für Fälle, in denen das Urteil vor Ab597 de Wree/Vander Beken/Vermeulen, The transfer of sentenced persons in Europe: Much ado about reintegration, Punishment & Society 11 (2009), 111 (118 f.). 598 Art. 6 Abs. 1 RB 2008/909/JI.
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lauf von fünf Jahren ab dem 5. Dezember 2011, also binnen fünf Jahren nach Ablauf der Umsetzungsfrist, ergangen ist.599 Polen kann dem Generalsekretariat des Rates der EU jederzeit durch Notifikation mitteilen, dass es die Ausnahmeregelung nicht länger in Anspruch nehmen wolle.600 Der Verlagerung der Entscheidung im konkreten Fall in die Hände des Verurteilten selbst lässt sich damit erklären, dass auf diesem Wege lediglich eine Ausnahmevorschrift, obgleich von großer praktischer Relevanz, zu dem nach der Gesetzessystematik grundsätzlich bestehenden Zustimmungserfordernis des Verurteilten temporär derogiert wird. Hätte man hingegen ein Zustimmungserfordernis Polens neu geschaffen, so widerspräche das der Grundkonstruktion des Rahmenbeschlusses, nach der gerade kein grundsätzliches Zustimmungserfordernis des Vollstreckungsstaates besteht, sondern der Rahmenbeschluss nur in solchen Fällen eine Zustimmung des Vollstreckungsstaates voraussetzt, in denen es an sich bereits aus der Fallkonstellation ergebenden Indizien für bessere Resozialisierungschancen im Vollstreckungsstaat mangelt. Dass darüber hinaus die getroffene Ausnahmeregelung nicht nur dann gilt, wenn Polen Vollstreckungsstaat würde, sondern auch dann, wenn Polen Ausstellungsstaat ist, kann wohl nur als Ausdruck traditioneller Gegenseitigkeitserwartungen, allenfalls noch im Hinblick auf die erstrebte Entlastung der Vollzugskapazitäten in den anderen Staaten, verstanden werden. Aus Sicht verurteilter Staatsbürger aus anderen EU-Staaten, die in Polen inhaftiert sind, ist dies keine Verschlechterung ihrer Situation, da ihre Möglichkeit, zur Vollstreckung in den Heimatstaat überstellt zu werden, nicht verringert wird; sie können einer Vollstreckungsübertragung ohne weiteres zustimmen. Vielmehr erhalten sie durch die temporäre Ausnahmeregelung Mitentscheidungsmöglichkeit vergleichbar ihrer Position im Rahmen des ÜberstÜbk des Europarates zurück.601 6. Unbedingtes Stellungnahmerecht Besteht kein Erfordernis der Zustimmung des Verurteilten, so ist diesem, wenn er sich noch im Ausstellungsstaat befindet, dennoch jedenfalls Gelegenheit zur mündlichen oder schriftlichen Stellungnahme zu geben (Art. 6 Abs. 3 RB 2008/ 909/JI). Die Stellungnahme ist bei der Entscheidung, ob das Urteil zusammen mit der Bescheinigung übermittelt werden soll, zu berücksichtigen;602 anders als ein Zustimmungserfordernis ist sie jedoch nicht bindend. Hat der Verurteilte eine Stellungnahme abgegeben, so ist diese dem Vollstreckungsstaat zu übermitteln. Im Falle einer mündlichen Stellungnahme ist sie zu diesem Zwecke schriftlich 599 600 601 602
Art. 6 Abs. 5 S. 1 RB 2008/909/JI. Art. 6 Abs. 5 S. 2 RB 2008/909/JI. Siehe oben Teil 1 Kapitel 2 B.I. Art. 6 Abs. 3 UAbs. 2 RB 2008/909/JI.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
aufzuzeichnen.603 Hält der Ausstellungsstaat es in Anbetracht des Alters der Person oder ihres körperlichen oder geistigen Zustandes für erforderlich, so wird diese Gelegenheit zur Stellungnahme ihrem gesetzlichen Vertreter gegeben.604
I. Anerkennung der Sanktion und ihre Vollstreckung im Lichte der Strafzwecke und des Strafvollzugsziels I. Anerkennung der Sanktion, nur ausnahmsweise Anpassung bei Unvereinbarkeit Der Rahmenbeschluss geht von einer Anerkennung des Urteils und der darin verhängten Strafe aus, die der Adoption im klassischen Rechtshilferecht entspricht. Die Strafe ist im Grundsatz wie verhängt zu übernehmen und zu vollstrecken (Art. 8 Abs. 1 RB 2008/909/JI). Ist allerdings die verhängte Sanktion nach ihrer Dauer oder Art nicht mit dem Recht des Vollstreckungsstaates vereinbar, so kommt unter bestimmten Umständen eine Anpassung in Betracht. Betrifft die Unvereinbarkeit die Dauer der Sanktion, so kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates eine Anpassung dieser Sanktion nur in solchen Fällen beschließen, in denen die Sanktion die für vergleichbare Straftaten nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehene Höchststrafe überschreitet.605 Die angepasste Sanktion darf nicht niedriger als die nach dem Recht des Vollstreckungsstaates für vergleichbare Straftaten vorgesehene Höchststrafe sein.606 Beruht die Unvereinbarkeit mit dem Recht des Vollstreckungsstaates auf der Art der Sanktion, so kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates diese an die nach eigenem Recht für vergleichbare Straftaten vorgesehene Strafe oder Maßnahme anpassen. Dabei muss die angepasste Strafe oder Maßnahme so weit wie möglich der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion entsprechen. Eine Umwandlung der freiheitsentziehenden Sanktion in eine Geldstrafe ist ausdrücklich ausgeschlossen.607 Jede Anpassung der Sanktion steht unter der Bedingung, dass sie die im Ausstellungsstaat verhängte Sanktion nach Art oder Dauer nicht verschärft.608 Daher ist im Hinblick auf die Dauer der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion ein Unterschreiten einer etwaigen Mindestsanktion für vergleichbare Taten nach dem Recht des Vollstreckungsstaates 603
Art. 6 Abs. 3 UAbs. 2 RB 2008/909/JI. Art. 6 Abs. 3 UAbs. 1 RB 2008/909/JI. 605 Von besonderer Bedeutung kann dies auch bei Jugendlichen oder Heranwachsenden sein, siehe § 18 Abs. 1 und § 105 Abs. 3 JGG. Zur ähnlich gelagerten Problematik bei der Anerkennung und Vollstreckung von Geldsanktionen siehe OLG Hamburg, ZIS 2/2015, 119 ff. mit Anmerkung Johnson. 606 Art. 8 Abs. 2 RB 2008/909/JI. 607 Art. 8 Abs. 3 RB 2008/909/JI. 608 Art. 8 Abs. 4 RB 2008/909/JI. 604
I. Anerkennung der Sanktion und ihre Vollstreckung
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irrelevant. Eine strafschärfende Anpassung ist nicht erlaubt. Fehler bei der Übernahme bzw., soweit notwendig, Anpassung der Sanktion können zur Unrechtmäßigkeit des Freiheitsentzugs führen und damit das Recht des Verurteilten auf persönliche Freiheit, Art. 6 EU-GRCh, verletzen.609 II. Grundsatz: Recht des Vollstreckungsstaates Auf die Vollstreckung der Sanktion ist das Recht des Vollstreckungsstaates anwendbar. Nur die Behörden des Vollstreckungsstaates können über das Vollstreckungsverfahren entscheiden und die damit zusammenhängenden Maßnahmen bestimmen; dies gilt auch für die Gründe einer vorzeitigen oder bedingten Entlassung (Art. 17 Abs. 1 RB 2008/909/JI). Ihr so insbesondere durch das Vollstreckungsrecht des Vollstreckungsstaates vorgegebener Entscheidungsspielraum wird nur durch wenige Regelungen des Rahmenbeschlusses beschränkt bzw. modifiziert. Dass diese Regelung dogmatisch nicht zwingend sondern vielmehr fragwürdig ist, wurde bereits gezeigt. Sie ist Praktikabilitätserwägungen geschuldet.610 III. Anrechnung bereits verbüßter Haft Art. 17 Abs. 2 RB 2008/909/JI legt fest, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates „die volle Dauer des Freiheitsentzugs, der im Zusammenhang mit der Sanktion, die mit dem Urteil verhängt wurde, bereits verbüßt wurde, auf die Gesamtdauer des zu verbüßenden Freiheitsentzugs“ anrechnet. Die Vorschrift bleibt auslegungsbedürftig. Es fragt sich nämlich, ob sich die Anrechnung nur auf eine bereits erfolgte Sanktionsverbüßung oder auch auf die Dauer des Vollzugs einer etwaigen Untersuchungshaft bezieht. § 51 Abs. 1 StGB ordnet für Deutschland grundsätzlich die Anrechnung der Untersuchungshaft an, soweit das Tatgericht dies nicht ausdrücklich ganz oder zum Teil ausgeschlossen hat.611 Zwar könnte der Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 RB 2008/909/JI, der auf einen „Zusammenhang mit der Sanktion, die mit dem Urteil verhängt wurde“, abstellt, auf eine Verbüßung nur nach Rechtskraft des Urteils hindeuten. Allerdings gehört die Anrechnungsnorm des § 51 Abs. 1 StGB nach der Gesetzessystematik zur Strafbemessung (§§ 46 ff. StGB). Diese aber obliegt dem Ausstellungsstaat. Dem Wortlaut des Rahmenbeschlusses lässt sich keine klare gegenteilige Anweisung entnehmen. Zudem gibt auch die vom Ausstellungsstaat dem Vollstreckungsstaat zu übermittelnde Bescheinigung612 im Abschnitt i unter 609 Vgl. EGMR, Urt. v. 11.01.2011, Somogyi v. Ungarn, Nr. 5770/05; § 23. Siehe ausführlich dazu unten I.IV.4.c), in diesem Kapitel. 610 Ausführlich dazu oben Teil 1 Kapitel 1 B.II. und III. 611 Vgl. auch OLG Celle, StraFo 2011, 246. 612 Siehe Anlage II zu RB 2008/909/JI i. d. F. RB 2009/299/JI, abgedruckt im Anhang der vorliegenden Studie.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
Punkt 2.2. und 2.3. zu erkennen, dass nach dem Recht des Ausstellungsstaates vorzunehmende Anrechnungen auf den Freiheitsentzug auch durch den Vollstreckungsstaat zu beachten sind. Im Falle einer in Deutschland verhängten freiheitsentziehenden Sanktion hat daher eine Anrechnung auch der Untersuchungshaft zu erfolgen, wenn dies nicht ausdrücklich im Urteil ausgeschlossen wurde. Ist „die volle Dauer“ des bisherigen Freiheitentzugs anzurechnen, so ist damit noch keine klare Aussage darüber getroffen, ob die erlittene Haft in Abhängigkeit von den Haftbedingungen im Urteilsstaat möglicherweise in einem Übermaß, also etwa im Verhältnis 1:2 oder 1:3 anzurechnen sein kann. Zwar ist nach Ansicht des BGH, wenn Anhaltspunkte für eine andere Anrechnung nicht vorhanden sind, im Verhältnis zu anderen Unionsstaaten von einer Anrechnung im Verhältnis 1:1 auszugehen.613 Einzelne auch aktuelle Entscheidungen haben jedoch auch andere Umrechnungsfaktoren angenommen, so etwa im Verhältnis zu Griechenland bis614 zu 1:1,5,615 zu Portugal bis616 zu 1:2,617 zu Spanien je nach Haftort und Haftbedingungen bis618 zu 1:2619 bzw. 1:3620 sowie zu Ungarn bis621 zu 1:2.622 Allerdings widerspricht es dem Konzept gegenseitiger Anerkennung, dass von einer Gleichwertigkeit der ,verkehrsfähigen‘ strafjustiziellen Entscheidungen ausgeht und dabei ein gegenseitiges Vertrauen in die Justizsysteme unterstellt, wenn eine solche Anrechnung anders als im Verhältnis 1:1 erfolgen würde. Auch Art. 8 RB 2008/909/JI, dem der Gedanke einer Anerkennung der Sanktion so wie sie ist zugrunde liegt, steht dem entgegen. Aufgrund dieser klaren Regelung im Rahmenbeschluss ist eine Anrechnung in einem anderen Verhältnis als 1:1 nicht zulässig. Aus humanitärer Sicht kann dieses Ergebnis im Einzelfall unbe-
613 BGH, NStZ-RR 2003, 364 = BeckRS 2003, 06431; BGH, Beschl. v. 04.06.2003 – 5 StR 124/03, BeckRS 2003, 05068; BGH, Beschl. v. 04.07.2007 – 1 StR 298/07, BeckRS 2007, 11733. 614 Für 1:1 BGH, Beschl. v. 18.10.2007 – 4 StR 493/07, BeckRS 2007, 16824. 615 BGH, Beschl. v. 07.03.2002 – 3 StR 488/01, BeckRS 2002, 30245033. 616 Für 1:1 BGH, Beschl. v. 20.07.2010 – 5 StR 251/10, BeckRS 2010, 18805. 617 BGH, Beschl. v. 18.10.1994 – 1 StR 564/94, BeckRS 1994, 06792; BGH, Beschl. v. 20.05.2003 – 5 StR 170/03, BeckRS 2003, 04922. 618 Für 1:1 etwa BGH, Beschl. v. 09.07.2009 – 3 StR 245/09, BeckRS 2009, 20291; BGH, Beschl. v. 24.01.2008 – 5 StR 626/07, BeckRS 2008, 02201, und zahlreiche weitere Entscheidungen. 619 BGH, NStZ 1985, 497; LG Zweibrücken, NStZ 1988, 71; BGH, Beschl. v. 20.05. 2009 – 2 StR 115/09, BeckRS 2009, 13395. 620 BGH, Beschl. v. 12.09.2000 – 4 StR 299/00, BeckRS 2000, 30130830; BGH, Beschl. v. 27.02.2003 – 4 StR 510/02, BeckRS 2003, 02384; OLG Düsseldorf, StV 1995, 426 f.; LG Bremen, StV 1992, 326; LG Kleve, NStZ 1995, 192. 621 Für 1:1 BGH, Urt. v. 17.01.1995 – 1 StR 504/93, JurionRS 1995, 12637; BGH, Beschl. v. 07.04.1994 – 1 StR 166/94, JurionRS 1994, 12185; BGH, Beschl. v. 25.09. 2001 – 4 StR 355/01, BeckRS 2001, 30207556. 622 BGH, Beschl. v. 27.02.2002 – 2 StR 27/02, BeckRS 2002, 03709.
I. Anerkennung der Sanktion und ihre Vollstreckung
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friedigend sein; konzeptionell ist es nur über eine entsprechende Annäherung der tatsächlichen Haftbedingungen lösbar.623 IV. Zugemessene Strafe und tatsächliche Verbüßungsdauer Die grundsätzliche Anwendung des Rechts des Vollstreckungsstaates auf die Vollstreckung der Sanktion schließt auch dessen Regeln zur bedingten Entlassung ein.624 Dogmatisch zwingend ist diese Regelung nicht.625 Vielmehr lässt sie außer Betracht, dass die durch die bedingte Entlassung bestimmte Vollzugsdauer untrennbar mit dem originären Strafausspruch und dem diesen zugrundeliegenden gesetzlichen Strafwertungen verknüpft ist.626 Auch bleibt dabei – zwar nicht dogmatisch, aber tatsächlich kritikwürdig – die Vermutung unberücksichtigt, dass in der Praxis nicht selten die Verortung der Strafe innerhalb des Schuldrahmens auch mit Blick auf die Regelungen der Strafrestaussetzung zur Bewährung erfolgen wird. 1. Bedingte Entlassung als „Quasi“-Korrektur der richterlichen Strafzumessung? Die Regelungen des Rahmenbeschlusses zur Frage des anwendbaren Rechts bei der bedingten Entlassung sind von besonderer Bedeutung. Denn die bedingte Entlassung bildet faktisch eine „Quasi“-Korrektur der richterlichen Strafzumessung.627 Sie bestimmt darüber, ob und welcher Teil der ausgesprochenen freiheitsentziehenden Strafe gegen den Täter tatsächlich nicht mehr vollstreckt wird. In proportionalem Bezug zur verhängten Sanktion können die Regelungen zur bedingten Entlassung damit entscheidend für die Länge der tatsächlich erlebten bzw. verbüßten Strafe sein. Allerdings werden rechtsdogmatisch die Regelungen zur bedingten Entlassung aus zeitiger Freiheitsstrafe nicht in den Zusammenhang mit dem Prinzip schuldangemessener Strafe gesetzt, da es allein auf die spezialpräventive Prognose ankommt. So wird betont, keineswegs handele es sich um eine nachträgliche Strafkorrektur.628 Rechtsdogmatisch sieht auch der EGMR die faktische Veränderung der erlebten Strafe infolge einer bedingten Entlassung nicht als eine Änderung der Strafe.629 Aus empirischer Sicht stößt dies auf Unbe623
Näher dazu Teil 3 E. Art. 17 Abs. 1, letzter Hs. RB 2008/909/JI. 625 Siehe oben Teil 1 Kapitel 1 B.II. und III. 626 Vgl. schon F.-C. Schroeder, Die Übertragung der Strafvollstreckung, ZStW 98 (1986), 457 (469). 627 Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität. Eine vergleichende theoretische und empirische Studie zur Herstellung und Darstellung des Strafmaßes (1994), S. 148. 628 Hubach, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2007) Bd. I, § 57 Rn. 1. 629 EGMR, Urt. v. 12.02.2008, Kafkaris v. Zypern, Nr. 21906/04, § 142. 624
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
hagen, wie schon die Begrifflichkeit einer „Quasi“-Korrektur der originären Strafzumessung zeigt.630 Die Modelle bedingter Entlassung unterscheiden sich zwischen den Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten sowohl konzeptionell als auch in ihrer praktischen Ausgestaltung, insbesondere in der Frage, nach welcher Verbüßungsdauer eine bedingte Entlassung in Betracht kommt. Konzeptionell kann grob zwischen zwei Regelungsmodellen unterschieden werden.631 Nach dem einen, auch in Deutschland632 geltenden Modell erfordert die bedingte Entlassung eine positive Individualprognose für die Legalbewährung des Inhaftierten. Dieses Modell gilt u. a. in Österreich, Estland, Ungarn, Polen, Slowenien und der Tschechischen Republik. Das andere Modell ist ein solches der obligatorischen bedingten Entlassung, die gerade keine Prognoseentscheidung voraussetzt. Es wird z. B. in England und Wales, Finnland, Griechenland und Schweden praktiziert.633 Daten, die einen transnationalen Vergleich der Entlassungspraxis, insbesondere zwischen jenen Staaten, die eine positive Prognoseentscheidung voraussetzen, ermöglichen würden, sind kaum verfügbar.634 Klar scheint jedenfalls zu sein, dass längst nicht alle Inhaftierten in den Genuss einer vorzeitigen bedingten Entlassung kommen. Für Deutschland wird geschätzt, dass (bei zwischen den Bundesländern unterschiedlicher Entlassungspraxis) etwa 2/3 aller jedes Jahr entlassenen Strafgefangenen bedingt entlassen werden.635 In der gesetzlichen Ausgestaltung des Zeitpunkts einer bedingten Entlassung reicht die Varianzbreite im Extrem von einer bedingten Entlassung nach Strafverbüßung von 1/6–1/4 in Belgien bei kurzen Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr bis hin zu einer 4/5-Verbüßungsdauer vor möglicher bedingter Entlassung in Ungarn im Falle der Haftverbüßung unter striktem Vollzugsregime (Zuchthaus/fegyház).636 Im europäischen Vergleich zählt zu den häufigsten Formen bedingter 630 Ähnlich EGMR, Urt. v. 12.02.2008, Kafkaris v. Zypern, Nr. 21906/04, § 142, der die Trennung zwischen Strafe und Strafvollstreckung als in der Praxis manchmal unscharf bezeichnet. 631 Für eine detaillierte Übersicht vgl. Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 57 Rn. 90 f. Siehe auch die Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates zur bedingten Entlassung, CoE Rec (2003) 22. 632 Ausführlich dazu oben Teil 1 Kapitel 1 B.III.3. 633 Zum Vorstehenden insgesamt Dünkel/van Zyl Smit/Padfield, Concluding thoughts, in: Padfield/van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Release from Prison. European Policy and Practice (2010), S. 395 (420). 634 Vgl. Dünkel/van Zyl Smit/Padfield, Concluding thoughts, in: Padfield/van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Release from Prison. European Policy and Practice (2010), S. 395 (401 ff.). 635 Dünkel/Pruin, Germany, in: Padfield/van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Release from Prison. European Policy and Practice (2010), S. 185 (198 f.). 636 Vgl. Dünkel/van Zyl Smit/Padfield, Concluding thoughts, in: Padfield/van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Release from Prison. European Policy and Practice (2010), S. 395 (409 ff.; Table 16.1).
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Entlassung die Halbstrafenverbüßung.637 Neben eine solche relative Mindestverbüßungsdauer können absolute Mindestverbüßungszeiten treten.638 Große konzeptionelle Unterschiede bestehen gerade bei der Entlassung aus einer lebenslangen Freiheitsstrafe.639 So hätte der Beschwerdeführer in dem der EGMR-Entscheidung Müller v. Tschechische Republik zugrundeliegenden Sachverhalt bei fortdauernder Strafvollstreckung in Deutschland eine Mindestverbüßung von 15 Jahren zu gegenwärtigen gehabt.640 Aufgrund der Vollstreckungsüberstellung an die Tschechische Republik ist er nun mit einer Mindestverbüßungsdauer von 20 Jahren641 konfrontiert. Eine Mindestverbüßungsdauer von 20 Jahren wird für sich genommen aber als rechtlich unbedenklich angesehen. So ist etwa auch in Art. 5 Abs. 2 RB EuHB lediglich vorgesehen, „die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls [kann] an die Bedingung geknüpft werden, dass die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaates eine Überprüfung der verhängten Strafe – auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren – oder Gnadenakte zulässt, die zur Aussetzung der Vollstreckung der Strafe oder der Maßregel führen können und auf die die betreffende Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaats Anspruch hat.“ 642 Auch nach der Rechtsprechung von BVerfG und BGH ist in einer lebenslangen Freiheitsstrafe selbst ohne die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung als solcher „keine unerträglich harte oder unmenschliche Strafe“ zu sehen, die einer Auslieferung von vorneherein entgegenstünde.643 Der verfassungsrechtlichen Anforderung einer Aussicht auf ein Leben in Freiheit644 ist danach Genüge getan, „wenn für den Verfolgten jedenfalls eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht.“ 645 Diese kann auch in einem grundsätzlich Erfolg versprechenden Gnadenverfahren bestehen.646 Auch der EGMR leitet aus Art. 3 EMRK ab, das innerstaatliche Recht müsse dem zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe 637 Vgl. Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 57 Rn. 90 ff. 638 Vgl. etwa § 57 Abs. 1 StGB (absolute Mindestverbüßungsdauer bei 2/3-Entlassung: zwei Monate); § 57 Abs. 2 StGB (absolute Mindestverbüßungsdauer bei 1/2-Entlassung: sechs Monate). 639 Für Deutschland vgl. § 57a f. StGB. 640 § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB. 641 Vgl. Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 57a Rn. 48 und Fn. 60. 642 Umgesetzt in § 83 Nr. 4 IRG. 643 BGH, Beschl. v. 19.06.2012, 4 ARs 5/12, NJW 2012, 2980 ff. = HRRS 2012 Nr. 644, unter Verweis auf BVerfGE 113, 154 (163) und BVerfGK 16, 491, 496. 644 BVerfGE 45, 187 (228 f., 239); BVerfGE 117, 71 (94 ff.). 645 BGH, Beschl. v. 19.06.2012, 4 Ars 5/12, NJW 2012, 2980 ff. = HRRS 2012 Nr. 644, unter Verweis auf BVerfGE 113, 154 (164 f.); BVerfG, NStZ-RR 2006, 149 (150 f.). 646 BGH, Beschl. v. 19.06.2012, 4 Ars 5/12, NJW 2012, 2980 ff. = HRRS 2012 Nr. 644, unter Verweis auf BVerfGK 16, 491, 496.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
Verurteilten zumindest irgendeine Aussicht bieten, seine Freiheit wiederzuerlangen.647 Fraglich ist, ob die Verlängerung einer tatsächlichen Verbüßungsdauer infolge einer Vollstreckungsübertragung in unzulässigerweise in Rechtsgüter des Verurteilten eingreift. Es hat sich gezeigt, dass eine Vollstreckungsüberstellung aufgrund der Vielgestaltigkeit der Regelungen zur bedingten Entlassung in den Mitgliedstaaten der EU mit einer erheblichen Veränderung der tatsächlich zu verbüßenden Strafe einhergehen kann. Rechtlich problematisch erscheinen insbesondere jene Fälle, in denen das Urteil in einem Staat gefällt worden ist, in dem eine Aussetzung des Strafrests zur Bewährung zu einem bestimmten Zeitpunkt obligatorisch ist. Wird nämlich die Sanktion infolge der Übertragung der Vollstreckung auf einen anderen Mitgliedstaat über diesen Zeitpunkt hinaus vollstreckt, ohne dass die Voraussetzungen eines Widerrufs der bedingten Entlassung vorliegen648, so stellt sich die Frage, ob mit diesem länger andauernden Strafvollzug nicht das Recht des Verurteilten auf persönliche Freiheit des Verurteilten verletzt wird. Bevor darauf zurückzukommen sein wird,649 soll jedoch untersucht werden, ob und wie mit den Regelungen des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung den Unterschieden im Recht der bedingten Entlassung in den Mitgliedstaaten Rechnung getragen wird. 2. Regeln der bedingten Entlassung versus Sicherung effektiver Sanktionsdurchsetzung Der Rahmenbeschluss behandelt die Frage der bedingten Entlassung – scheinbar vorrangig – aus der Perspektive des Urteilsstaates. Bereits an früherer Stelle der Arbeit ist belegt worden, dass die potentielle Verkürzung der tatsächlichen Vollstreckungsdauer infolge günstigerer Regelungen der bedingten Entlassung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates vom Urteilsstaat nicht selten als Bedrohung für die Verwirklichung der Strafzwecke angesehen wird und damit ein Hindernis für die Anwendung der Vollstreckungshilferegelungen in der Praxis bildet.650 Der Rahmenbeschluss enthält daher Regelungen, die deutlich von dem Bemühen gekennzeichnet sind, solchen Bedenken des Urteilsstaates entgegenzuwirken. Art. 17 Abs. 3 RB 2008/909/JI enthält eine ambivalente Regelung im Zusammenhang mit der Frage einer bedingten Entlassung. Die zuständige Behörde des 647
EGMR, Urt. v. 12.02.2008, Kafkaris v. Zypern, Nr. 21906/04, §§ 97 f. m.w. N. Padfield spricht in diesem Zusammenhang von „back-door sentencing“, zitiert in: House of Commons – Justice, Fifth report, Session 2007–2008 (2008), Tz. 160, abrufbar unter http://www.publications.parliament.uk/pa/cm200708/cmselect/cmjust/184/ 18402.htm (05.10.2012). 649 Siehe dazu sogleich unter 3., in diesem Abschnitt. 650 Siehe oben Teil 1 Kapitel 1 B.I.2.a). 648
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Vollstreckungsstaates hat danach die zuständige Behörde des Ausstellungsstaates auf deren Ersuchen hin über die für eine etwaige vorzeitige oder bedingte Entlassung geltenden Bestimmungen zu unterrichten. Der Ausstellungsstaat kann der Anwendung dieser Bestimmungen zustimmen oder die Bescheinigung zurückziehen. Damit stellt die Vorschrift einerseits sicher, dass sich aus unterschiedlichen Regelungen zur vorzeitigen oder bedingten Entlassung gegen den Willen des Ausstellungsstaates keine Verkürzung der tatsächlich verbüßten Strafe im Vergleich zur hypothetisch im Urteilsstaat zu erwartenden Strafverbüßung ergeben kann. Diese Vorschrift dient unmittelbar der tatsächlichen Sanktionsdurchsetzung. Mittelbar soll damit die Anwendung der Europäischen Vollstreckungsanordnung gefördert werden, die eine entsprechende Initiative des Urteilsstaates voraussetzt. Zugleich wird die Verbesserung der Resozialisierungschancen durch Überstellung unterstützt. Im Hinblick auf das Ziel der Verbesserung der Resozialisierungschancen steht der Wortlaut der Norm auch einer Auslegung nicht entgegen, nach der ein Zurückziehen der Bescheinigung ebenso dann ermöglicht werden soll, wenn es aufgrund des unterschiedlichen Rechts der bedingten Entlassung in Ausstellungs- und Vollstreckungsstaat faktisch zu einer spürbar längeren Strafverbüßung zu kommen droht, und in der Abwägung aller Kriterien eine Verschlechterung der Resozialisierungschancen zu befürchten ist. In beiden Fällen ist daher die Anwendung des Art. 17 Abs. 3 RB 2008/909/JI möglich. Die Vorschrift erfasst sowohl Fälle einer Vollstreckungsübertragung verbunden mit einer Überstellung des Verurteilten als auch solche ohne einen Gefangenentransfer, bei denen sich der Verurteilte bei Übermittlung von Bescheinigung und Urteil bereits im Vollstreckungsstaat befand. Fraglich ist der zeitliche Anwendungsbereich des Art. 17 Abs. 3 RB 2008/909/ JI. van Zyl Smit und Spencer interpretieren die Vorschrift dahingehend, dass der Ausstellungsstaat die Bescheinigung auch noch nach Überstellung des Verurteilten geltend machen und eine Rücküberstellung verlangen könne.651 Diese Ansicht bedarf einer Präzisierung im Lichte der Ziele, der sonstigen Bestimmungen des Rahmenbeschlusses sowie der Normgenese. Dazu muss die durch Art. 17 Abs. 3 RB 2008/909/JI eröffnete Möglichkeit, das Verfahren zur Vollstreckungsübertragung zu beenden, im Kontext zu Art. 13 RB 2008/909/JI gelesen werden. Als lex generalis zu Art. 17 Abs. 3 RB 2008/909/JI erlaubt es Art. 13 RB 2008/ 909/JI dem Ausstellungsstaat, die Bescheinigung unter Angabe von Gründen zurückzuziehen und so das Vollstreckungsübertragungsverfahren zu beenden, solange im Vollstreckungsstaat noch nicht mit der Vollstreckung der Sanktion begonnen wurde. Im ursprünglichen Rechtsaktsvorschlag652 war die Regelung des 651 van Zyl Smit/Spencer, The European dimension to the release of sentenced prisoners, in: Padfield/van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Release from Prison. European policy and practice (2010), S. 9, 35 f. 652 ABl. EU 2005 C 150/1. Siehe auch Ratsdok. 7307/05 v. 12.04.2005 sowie den Erläuternden Vermerk, Ratsdok. 5597/05 ADD 1 COPEN 13 v. 22.04.2005.
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nunmehrigen Art. 13 RB 2008/909/JI nicht enthalten, die Regelung des Art. 17 RB 2008/909/JI inhaltlich etwas anders ausgestaltet und als Art. 13 in den Rahmenbeschlussentwurf eingegliedert. Er legte im Entwurf neben der Anwendung des Rechts des Vollstreckungsstaates eine Mindestverbüßung der Hälfte der Strafe fest, bevor es zu einer bedingten Entlassung kommen können sollte.653 Erst mit der Streichung dieser Bestimmung über eine zwingende Mindestverbüßung im Laufe des Rechtssetzungsverfahrens wurde – nunmehr in Art. 17 RBEntwurf – die Möglichkeit vorgesehen, dass der Ausstellungsstaat die Bescheinigung zurückzieht und damit die Vollstreckungsübertragung abbricht. Ebenfalls neu eingefügt wurde der nunmehrige Art. 13 RB 2008/909/JI, der ganz generell den Abbruch des Verfahrens vor Vollstreckungsbeginn ermöglicht.654 Dieser legistische Zusammenhang macht deutlich, dass mit der Vorschrift primär die effektive Sanktionsdurchsetzung gewährleistet werden sollte. Zugleich wurde eine weitere Vorschrift modifiziert: Ursprünglich enthielt der Entwurf des heutigen Art. 17 RB 2008/909/JI in Abs. 4 eine Verpflichtung für den Vollstreckungsstaat. Dieser musste bei seiner Entscheidung über eine bedingte Entlassung die vom Ausstellungsstaat mitgeteilten Vorschriften des Ausstellungsstaates „berücksichtigen“, nach denen der Verurteilte zu einem bestimmten Zeitpunkt Anspruch auf eine bedingte Entlassung hat. Diese normative Pflicht zur Berücksichtigung wurde aufgeweicht und durch die bloße Möglichkeit ersetzt, dass Ausstellungsund Vollstreckungsstaat eine solche Berücksichtigungspflicht vereinbaren.655 Auch dies spricht dafür, dass dem Ausstellungsstaat – im Gegenzug zur Stärkung der Entscheidungsautonomie des Vollstreckungsstaates durch Entfall der Mindestverbüßung sowie durch weiter abgeschwächte Verweisung auf die Regeln der bedingten Entlassung im Recht des Ausstellungsstaates – ein größtmögliches Maß an Flexibilität gewährt werden sollte, die es auch einem ,spätentschlossenen‘ Mitgliedstaat ermöglicht, die Vollstreckungsübertragung noch rückgängig zu machen. Trotz des inhaltlichen Konnex von Art. 13 und Art. 17 Abs. 3 RB 2008/909/JI kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Abbruch der Vollstreckungsüberstellung nach Art. 17 Abs. 3 RB 2008/909/JI auf den Zeitraum vor tatsächlichen Vollstreckungsbeginn im Vollstreckungsstaat beschränkt ist. Der Abbruch der Vollstreckungsübertragung hat zur Folge, dass der Vollstreckungsstaat die Sanktion nicht länger vollzieht (Art. 13 S. 2 RB 2008/909/JI). Da Art. 17 Abs. 3 RB 2008/909/JI hierzu keine ausdrückliche Regelung trifft, muss auf die generelle Regelung des Art. 13 S. 2 RB 2008/909/JI zurückgegriffen werden. Erst dieser Rückgriff erklärt im Übrigen einen scheinbaren Wider-
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Art. 13 Abs. 1, 3 RB-Entwurf, ABl. EU 2005 C 150/1. Vgl. Ratsdok. 15389/06 COPEN 118 v. 17.11.2006, dort Art. 13 Abs. 3 sowie Art. 10a RB-Entwurf. 655 Ratsdok. 15389/06 COPEN 118 v. 17.11.2006, dort Art. 13 Abs. 4 RB-Entwurf. 654
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spruch im Vergleich des Wortlauts von Art. 13 S. 1 und S. 2 RB 2008/909/JI und belegt zudem die oben getroffene Auslegung, nach der Art. 17 Abs. 3 RB 2008/ 909/JI den Abbruch der Vollstreckungsübertragung auch noch nach Beginn der Vollstreckung erlauben will. Während nämlich Art. 13 S. 1 RB 2008/909/JI den Abbruch der Übertragung nur vor Beginn der Vollstreckung im Vollstreckungsstaat erlaubt, spricht Satz 2 der Vorschrift davon, dass der Vollstreckungsstaat die Sanktion „nicht länger vollstrecken“ 656 wird und bezieht damit offensichtlich auch einen Abbruch der Vollstreckungsübertragung nach Beginn der Vollstreckung im Vollstreckungsstaat ein. Dies kann sich nur auf Art. 17 Abs. 3 RB 2008/909/JI beziehen, der dementsprechend zu verstehen ist. Die Frage einer möglichen (Rück-)Überstellung des Verurteilten ist im Rahmenbeschluss gar nicht angesprochen; denkbar ist, sie im Wege eines Europäischen Haftbefehls zur Strafvollstreckung abzuwickeln. Bei der Umsetzung und Anwendung des Art. 17 Abs. 3 RB 2008/909/JI müssen allerdings die Ziele des Rahmenbeschlusses entsprechende Beachtung finden und gewichtet werden. Ausdrücklich zielt der Rahmenbeschluss auf eine Verbesserung der Resozialisierungschancen für den Verurteilten ab. In der Regel wird der Abbruch der Vollstreckungsübertragung, hat der Vollstreckungsstaat einmal mit der Vollstreckung begonnen, resozialisierungshindernd statt resozialisierungsfördernd sein. Dies gilt vor allem deswegen, weil davon auszugehen ist, dass der Ausstellungsstaat den Vollstreckungsstaat als besser zur Resozialisierung geeigneten Ort angesehen hat. Widrigenfalls hätte er gar nicht erst des Vollstreckungsübertragungsverfahrens einleiten dürfen. Würde nun die Vollstreckungsübertragung nach Vollstreckungsbeginn abgebrochen werden, so erfolgte dies in der Regel allein aus Gründen der Sanktionsdurchsetzung, die wesentlich der positiven wie negativen Generalprävention sowie der Sicherung der Allgemeinheit vor dem Verurteilten dient.657 Angesichts dessen, dass der Rahmenbeschluss zur Europäischen Vollstreckungsanordnung zwar beiden Zielen der Vollstreckungshilfe – Resozialisierungsförderung und Sanktionsdurchsetzung – dienen soll, das Resozialisierungsziel aber herausgehoben benannt ist,658 sollte dieses auch in der Abwägungsentscheidung des Ausstellungsstaates über die Frage eines Abbruchs der Vollstreckungsübertragung entsprechend hoch gewichtet werden. Im Regelfall wird daher davon abzusehen sein, die Bescheinigung nach Beginn der Vollstreckung im Vollstreckungsstaat zurückzuziehen.
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Kursivsetzung durch den Verfasser. Ausführlich zu den Strafzwecken, auch im transnationalen Verfahren, sowie zu den Zielen der Vollstreckungshilfe oben Teil 1 Kapitel 1 A. und B. 658 Siehe Art. 2 RB 2008/909/JI sowie Erwägungsgrund 9 RB 2008/909/JI. 657
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
3. Weiches Meistbegünstigungsprinzip nach Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI Während deutlich geworden ist, dass die Regelungen des Rahmenbeschlusses dem Interesse des Urteilsstaates an einer effektiven Sanktionsdurchsetzung hinreichend Rechnung trägt, bleibt zu untersuchen, ob diese Regelungen auch mit den Rechten des Verurteilten im Einklang stehen. Der bereits kurz angesprochene Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI gestattet es den Mitgliedstaaten vorzusehen, dass bei der Entscheidung über die vorzeitige oder bedingte Entlassung die vom Ausstellungsstaat angegebenen Bestimmungen seines nationalen Rechts „berücksichtigt“ werden, nach denen die betreffende Person zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Anspruch auf vorzeitige oder bedingte Entlassung hat. Diese Vorschrift beinhaltet ein weiches Meistbegünstigungsprinzip, indem günstigere Bestimmungen über die vorzeitige oder bedingte Entlassung des Ausstellungsstaates zu berücksichtigen sind, wenn die Mitgliedstaaten dies vorsehen. Fraglich ist, ob Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI auch die Möglichkeit eröffnet, strengere Bestimmungen des Ausstellungsstaates zur Anwendung zu bringen und damit das günstigere Recht des Vollstreckungsstaates zu verdrängen. Dagegen spricht, dass Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI auf Bestimmungen des Ausstellungsstaates verweist, nach denen die betreffende Person zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Anspruch auf vorzeitige oder bedingte Entlassung hat. Die Verwendung des Begriffs Anspruch deutet darauf hin, dass es sich um eine für den Betroffenen begünstigende Regelung handeln muss. Entsprechend bezieht sich auch der Erläuternde Vermerk zur Rahmenbeschlussinitiative ausdrücklich auf eine im Vergleich zum Recht des Vollstreckungsstaates frühere bedingte Entlassung, wie sie erfolgt wäre, würde die Strafvollstreckung nicht übertragen worden sein.659 Allerdings ist davon auszugehen, dass der Wortlaut der Norm, der lediglich von „berücksichtigt“ spricht, selbst bei einer Vereinbarung zwischen Ausstellungsund Vollstreckungsstaat über die Berücksichtigung nicht auf eine zwingende Anwendung der entsprechenden Rechtsnorm des Ausstellungsstaates durch den Vollstreckungsstaat abzielt.660 Der Vergleich sowohl mit der englischen Sprachfassung („may take into account“) als auch mit der französischen („peut tenir compte“) bestätigt diese Analyse.661 Zugleich ist nicht ersichtlich, dass den betei659
Ratsdok. 5597/05 ADD 1 COPEN 13 v. 22.04.2005, S. 11. Vgl. auch Ratsdok. 5597/05 ADD 1 COPEN 13 v. 22.04.2005, S. 11. 661 Die englische, französische und deutsche Sprache sind die drei internen Arbeitssprachen im Gesetzgebungsverfahren in den vorbereitenden Ratsarbeitsgruppen und im COREPER. Regelmäßig erfolgt die Beratung im Gesetzgebungsprozess im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit in Englisch. Sogar für die Beschlussfassung im Rat selbst kann vom Grundsatz der Beschlussfassung auf Grundlage von Schriftstücken und Entwürfen, die entsprechend der geltenden Sprachregelung in allen Amtssprachen vorliegen, aus Dringlichkeitsgründen einstimmig abgewichen werden, vgl. Art. 14 Abs. 1 GO Rat, ABl. EU 2009 L 325/35; berichtigt durch ABl. EU 2010 L 55/83. Die praktische Dominanz des Englischen wird beispielhaft deutlich, wenn man etwa berücksichtigt, dass die Initiative für den Rahmenbeschluss über die Europäische Voll660
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ligten Staaten die Vereinbarung einer zwingenden Berücksichtigung verwehrt wäre. Denn erstens handelt es sich bei der grundsätzlichen Anwendung des Strafvollstreckungsrechts des Vollstreckungsstaates nicht um eine dogmatisch zwingende Regelung.662 Zweitens schließt der Wortlaut des Rahmenbeschlusses eine solche Vereinbarung zwingender Berücksichtigung nicht explizit aus. Drittens schließlich steht die Berücksichtigung eines günstigeren Rechts der bedingten Entlassung aufgrund der mit einer bedingten Entlassung zumeist verbundenen Wirkung der Stabilisierung der Legalbewährung des Verurteilten im Einklang mit dem Resozialisierungsziel des Rahmenbeschlusses. 4. Zwingende Meistbegünstigung? Es stellt sich weitergehend die Frage, ob nicht jenseits einer solchen Vereinbarung andere Erwägungen eine zwingende Anwendung der Regeln der bedingten Entlassung des Ausstellungsstaates in jenen Fällen erfordern, in denen diese Regeln für den Verurteilten günstiger sind, er also früher aus der Haft entlassen würde. Die Kann-Vorschrift des Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI würde dann zur zwingenden Norm erstarken; aus der Berücksichtigungspflicht des Vollstreckungsstaates würde eine Anwendungspflicht. Die Forderung nach einer zwingenden Meistbegünstigung findet sich in der Literatur als rechtspolitische Forderung, um die Bereitschaft zur Nutzung des neuen Rechtsinstruments der Europäistreckungsanordnung, die von der Republik Österreich, der Republik Finnland und dem Königreich Schweden ausging, am 24.01.2005 zunächst in englischer, aber erst vier Tage später auch in deutscher Sprache der einschlägigen Ratsarbeitsgruppe COPEN zugeleitet und schließlich im Mai 2005 in allen Amtssprachen im Amtsblatt veröffentlicht wurde. Zahlreiche der im Laufe der Beratungen in der Ratsarbeitsgruppe erstellten Arbeitspapiere sind zudem nur in englischer Sprache verfügbar. Diese Konzentration auf die Verkehrssprachen kann für die historische Auslegung des Rahmenbeschlusses im Lichte der den Einigungsprozess im Rat widerspiegelnden Gesetzgebungsdokumente von Bedeutung sein. Sie entspricht insoweit auch einer vom Gerichtshof nicht selten geübten Praxis, vgl. Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht. Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof (2004), S. 289, 295 ff. mit entsprechenden Rechtsprechungsnachweisen. Eine Beschränkung der Verkehrssprachen auf das Englische, Französische oder unter Umständen auch das Deutsche begründet jedoch keine Vorrangstellung der englischen oder einer der beiden anderen Sprachfassung des schließlich vom Rat beschlossenen Rechtsaktes bei der Wortlautauslegung. Eine solche verstieße gegen den Grundsatz der sprachlichen Gleichberechtigung aller Amtssprachen, vgl. Art. VO (EWG) 1/58, ABl. EU 1958 L 17/385 i. d. F. VO (EU) 517/2013, ABl. EU 2013 L 158/1. Zu den begrifflichen Unterscheidungen zwischen Vertrags-, Amts-, Arbeits- und Verkehrssprache Berteloot, Rapports Nationaux: Union Européene – Le droit à la langue de l’Union européenne, in: Jayme (Hrsg.), Langue et droit (1998), S. 354 (358); Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht. Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof, 2004, S. 59 ff.; weiter zur Sprachenfrage etwa Reichelt (Hrsg.), Sprache und Recht unter besonderer Berücksichtigung des Europäischen Gemeinschaftsrechts (2006). 662 Siehe oben Teil 1 Kapitel 1 B.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
schen Vollstreckungsanordnung zu erhöhen.663 Eine rechtsdogmatische Begründung664 wird nicht gegeben, jedoch auf die Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Szabó v. Schweden verwiesen, in der der EGMR für den Fall einer gravierenden Verlängerung der tatsächlichen Vollzugsdauer infolge einer Vollstreckungsüberstellung eine Verletzung des Rechts auf persönliche Freiheit gem. Art. 5 EMRK erwägt, dies im konkreten Fall allerdings bei der infolge einer Vollstreckungsüberstellung zu erwartenden de facto 20% längeren Strafverbüßung verneint hat.665 Anzumerken ist dazu zunächst, dass sich die Entscheidung mit der Frage einer Verlängerung der Strafverbüßung de facto infolge einer Vollstreckungsüberstellung auseinandersetzt. Diese Überlegungen können also unmittelbar nur zur Frage eines Anspruchs auf (zumindest sinngemäße) Anwendung der günstigeren Regelungen der bedingten Entlassung des Urteilsstaates im Vollstreckungsstaat eine Antwort geben. Ein Anspruch auf Meistbegünstigung, also gegebenenfalls auch auf die Anwendung des Rechts des Vollstreckungsstaates, wenn dieses zu einer Verkürzung der de facto Strafverbüßung führt, ist damit nicht angesprochen. Die Anwendung des Vollstreckungsrechts des Vollstreckungsstaates einschließlich der Regelungen zur bedingten Entlassung ist zwar der tatsächliche Normalfall der gesetzlichen bzw. vertraglichen Regelungen der Vollstreckungshilfe, so dass sich in der Rechtspraxis aus der Kombination dieses gesetzlichen Normalfalls mit den Überlegungen zu Art. 5 EMRK möglicherweise ein Anspruch auf Meistbegünstigung herleiten ließe. Soll jedoch das gesetzliche Regelungsmodell als solches dogmatisch hinterfragt werden, so würde die Feststellung eines Anspruchs auf Meistbegünstigung über die Begründung eines Verschlechterungsverbots hinaus weitergehende Erwägungen erfordern. Es wurde bereits gezeigt, dass sich der Lokalisierung der Strafzwecke im transnationalen Verfahren kein allgemeingültiger Maßstab dafür entnehmen lässt, ob das Strafvollstreckungs- und bedingte Entlassungsrecht des Urteils- oder des Vollstreckungsstaates maßgeblich sein muss. Vielmehr ist die im Rahmenbe663 Auf Grundlage einer empirischen Befragung von Praktikern Vermeulen/van Kalmthout/Paterson/Knapen/Verbeke/De Bondt, Cross-border execution of judgements involving the deprivation of liberty in the EU (2011), S. 18. 664 Für das gesetzliche Vollstreckungshilferecht nach dem IRG wird ein Meistbegünstigungsprinzip teilweise aus § 57 Abs. 2, 3 und 6 IRG herausgelesen; in diesem Sinne Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 57 IRG Rn. 8 ff.; in diesem Sinne auch KG JR 1993, 257; zweifelnd Grotz, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 57 IRG Rn. 5; dagegen OLG Düsseldorf, NStZ-RR 2006, 217 f.; OLG Köln, NStZ 2008, 641 (642). Für die bisherige vertragliche Vollstreckungshilfe nach dem ÜberStÜbk legt dessen Art. 9 Abs. 3 jedoch fest, dass allein das Recht des Vollstreckungsstaates maßgeblich ist, das Recht des Urteilsstaates müsse außer Betracht bleiben. 665 EGMR, Entsch. v. 27.06.2006, Szabó v. Schweden, Nr. 28578/03 (Abschnitt Law 1.).
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schluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung getroffene Regelung Praktikabilitätserwägungen geschuldet.666 Zu überlegen ist jedoch, welche Anforderungen in Bezug auf die Regelungen zur bedingten Entlassung aus dem Prinzip des Vertrauensschutzes, aus dem Gleichheitssatz oder aus dem Recht auf persönliche Freiheit, wie es unionsrechtlich in Art. 6 EU-GRCh verankert ist, ableiten lässt. a) Prinzip des Vertrauensschutzes Eine de facto-Verlängerung der Strafverbüßung infolge der Vollstreckungsüberstellung könnte gegen das Prinzip des Vertrauensschutzes verstoßen. Dann müsste der Verurteilte ein rechtlich anzuerkennendes schutzwürdiges Vertrauen auf die Anwendung des Rechts der bedingten Entlassung des Urteilsstaates haben, wenn dieses im Vergleich zum Recht des Vollstreckungsstaates eine kürzere de facto-Strafverbüßung bedeuten würde. Nach der Rechtsprechung des BVerfG leitet sich der auch in der Rechtsprechung des EuGH anerkannte Vertrauensschutzgedanke als allgemeines Rechtsprinzip aus dem Rechtsstaatsprinzip ab.667 Eine Konkretisierung von Vertrauensschutz- und Rechtsstaatsprinzip findet sich im Rückwirkungsverbot, das Teilelement des strafrechtlichen Legalitätsprinzips ist. Ein schutzwürdiges Vertrauen des Verurteilten könnte also anzunehmen sein, wenn die Anwendung des ungünstigeren Rechts des Vollstreckungsstaates für den Verurteilten einer unzulässigen rückwirkenden Rechtsänderung gleichkäme. Nach der Rechtsprechung des EGMR unterfallen Regelungen wie jene zur bedingten Entlassung nicht dem Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK, denn sie sind nicht dem Begriff der Strafe zuzuordnen.668 Ein schutzwürdiges Vertrauen lässt sich danach nicht aus dem Rückwirkungsverbot ableiten. Ein generelles schutzwürdiges Vertrauen in die Anwendung günstigerer Regelungen der bedingten Entlassung aus dem Recht des Urteilsstaates kann auch nicht angenommen werden, denn dies würde voraussetzen, dass ausländische Verurteilte stets davon ausgehen dürften und tatsächlich davon ausgehen würden, die gegen sie verhängte Strafe würde im Urteilsstaat bzw. nach den Regelungen des Urteilsstaates vollzogen werden. Obwohl die Vollstreckungshilfe in der Rechtshilfepraxis noch immer eine untergeordnete Rolle spielt,669 überzeugt eine solche generelle Annahme nicht. Das schließt jedoch nicht aus, dass die Umstände im Einzelfall eine solche Annahme begründen können. So spräche in der bereits wiederholt angesprochenen Entscheidung Müller v. Tschechische Republik etwa die lange Voll666
Siehe oben Teil 1 Kapitel 1 B.II. und III. Vgl. etwa BVerfGE 15, 167 (207); 30, 392 (403); 59, 128 (152); 80, 137 (153); EuGH, Rs. 120/86, Mulder, Slg. 1988, 2321 ff. (Rn. 24, 27); EuGH, Rs. C-90/95 P, De Compte/Parlament, Slg. 1997, I-1999 ff. (Rn. 35 ff.). 668 EGMR, Urt. v. 12.02.2008, Kafkaris v. Zypern, Nr. 21906/04, § 142 m.w. N. 669 Siehe beispielhaft die Zahlen zur Vollstreckungshilfepraxis im internationalen Rechtshilfeverkehr der Bundesrepublik Deutschlands oben Teil1 Kapitel 1 C.II.3. 667
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
zugsdauer von achteinhalb Jahren zwischen der Urteilsfindung im Dezember 1998 und der Einleitung des Vollstreckungsüberstellungsverfahrens im Mai 2007 für ein solches schutzwürdiges Vertrauen; dem entgegenzuhalten wäre allerdings die bereits 1998 erlassene Ausweisungsverfügung.670 Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass aus dem Prinzip des Vertrauensschutzes kein genereller Anspruch auf die Anwendung einer günstigeren Regelung der bedingten Entlassung im Recht des Urteilsstaates durch den Vollstreckungsstaat abzuleiten ist. Es bedarf vielmehr einer Beurteilung im Einzelfall, ob ein solches schutzwürdiges Vertrauen vorliegt. Ist dies ausnahmsweise der Fall, so ließe sich allerdings vertretbar ein Anspruch des Verurteilten darauf ableiten, dass Ausstellungs- und Urteilsstaat von der Regelung des Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI Gebrauch machen und eine entsprechende Vereinbarung treffen. Zudem würde aus der in dieser Vorschrift enthaltenen Möglichkeit des Vollstreckungsstaat, das günstigere Recht des Urteils- bzw. Ausstellungsstaates zu berücksichtigen, eine Beachtungspflicht. b) Gleichheitssatz In Erwägungsgrund 6 des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung wird betont, der Rahmenbeschluss solle so umgesetzt und angewendet werden, dass die allgemeinen Grundsätze der Gleichheit, Billigkeit und Angemessenheit gewahrt werden können. Fraglich ist, ob dieser Hinweis u. a. auf den Gleichheitssatz zur Klärung eines Anspruchs auf zumindest sinngemäßen Anwendung einer begünstigenden Regelung bedingter Entlassung des Ausstellungsstaates durch den Vollstreckungsstaat beitragen kann. Der Gleichheitssatz ist auf Unionsebene als Gleichheit aller Personen vor dem Gesetz in Art. 20 EUGRCh verankert und durch die Rechtsprechung des EuGH als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anerkannt.671 Im deutschen Recht ist er in Art. 3 Abs. 1 GG mit nahezu identem Wortlaut verankert. Obwohl materielles Grundrecht, das den Freiheitsrechten immer stärker angenähert ist, benötigt der Gleichheitssatz als formales Konzept, das nicht selbst den Gerechtigkeitsmaßstab benennt, einen materiellen Bezugspunkt, anhand dessen sich die Gerechtigkeit der getroffenen Regelung bemessen lässt.672 Im transnationalen, international-arbeitsteiligen Strafverfahren könnte daher zu fragen sein, welche Strafe ein dem Verurteilten vergleichbarer Täter tatsächlich zu verbüßen hätte, wenn es nicht zu einer Vollstreckungsübertragung an einen anderen Staat 670
Siehe oben Einleitungskapitel C.III.2. Siehe etwa EuGH, verb. Rs. 124/76 und 20/77, Moulins Pont-à-Mousson, Slg. 1977, 1795 ff. (Rn. 14/17); EuGH, Rs. 283/83, Racke/Hauptzollamt Mainz, Slg. 1984, 3791 ff. (Rn. 6 f.); EuGH, Rs. C-306/93, Winzersekt/Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1994, I-5555 ff. (Rn. 30); EuGH, Rs. C-15/95, EARL, Slg. 1997, I-1961 ff. (Rn. 35); EuGH, Rs. C-292/97, Karlsson, Slg. 2000, 2737 ff. (Rn. 53). 672 Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz6 (2011), Art. 3 Rn. 3 ff. 671
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käme, sondern die Strafe im Inland verbüßt würde. Problematisch bei dieser Frage ist, dass hier zahlreiche Ungewissheiten auftreten. So hängt die Frage der bedingten Entlassung nicht nur von rechtlichen, sondern von vielen tatsächlichen Faktoren ab. Es stellt sich daher eine ähnliche Problematik wie bei der Prüfung der Strafzumessung anhand des Gleichheitssatzes. Die deutsche Rechtsprechung ist sehr zurückhaltend, die originäre Strafzumessung am Gleichheitssatz zu messen.673 Der Gleichheitssatz gibt aber im Rahmen der Strafzumessung zumindest einen Anspruch auf die Anwendung des gesetzlichen Strafrahmens, ohne nach dem Ansehen der Person zu urteilen und bei der Strafzumessung willkürliche Unterscheidungen zu machen.674 Auch für die Gleichheitsprüfung im Rahmen der Strafvollstreckung muss die Fragestellung stärker von der Einzelfallentscheidung abstrahiert werden. Zu prüfen ist, ob es gleichheitswidrig ist, die Gruppe der Verurteilten, bei denen die Strafvollstreckung einem anderen Mitgliedstaat übertragen wurde, für die Entscheidung über eine bedingten Entlassung grundsätzlich dem Vollstreckungsrecht des Urteilsstaates zu unterstellen, während diese Entscheidung für diejenigen Verurteilten, deren Strafe im Urteilsstaat vollzogen wird, nach dem Recht des Urteilsstaates zu treffen ist. Untersucht man diese Frage, so muss zunächst klargestellt werden, welcher Rechtsordnung der Gleichheitssatz entnommen werden soll, anhand dessen die Frage beantwortet werden soll. Über den Rahmenbeschluss zur Europäischen Vollstreckungsanordnung und die dort getroffene Regelung zum anwendbaren Recht der bedingten Entlassung ist der Anwendungsbereich der unionsrechtlichen Grundrechte eröffnet. Dennoch könnte gegen eine Anwendbarkeit des unionsrechtlichen Gleichheitssatzes sprechen, dass die unionsrechtlichen Regelungen gerade nicht den zur Strafvollstreckung im Urteilsstaat verbleibenden Verurteilten erfassen. Fraglich ist daher, ob es zur Anwendbarkeit des unionsrechtlichen Gleichheitssatzes genügt, wenn zwar die von der Norm unmittelbar erfasste Gruppe, nicht aber die Vergleichsgruppe dem Anwendungsbereich des Unionsrechts unterfällt. Dafür spricht, dass es für die Herstellung eines Vergleichs lediglich eines Bezugsmaßstabs bedarf. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass dem Unionsgesetzgeber anders als dem nationalen Gesetzgeber nur eine auf die ihm im Vertrag zugewiesenen Kompetenzen beschränkte Rechtssetzungskompetenz hat. Dadurch darf aber dem Einzelnen nicht ein durch den Gleichheitssatz gewährleisteter Gerechtigkeitsschutz entzogen werden. Zudem wäre es dem Unionsgesetzgeber tatsächlich möglich gewesen, eine Regelung zu 673 Maurer, Komparative Strafzumessung. Ein Beitrag zur Fortentwicklung des Sanktionenrechts (2005), S. 199 ff. Der ehemalige Verfassungsrichter Mellinghoff, Gleichheit im Strafrecht, in: ders./Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat. Symposium aus Anlass des 65. Geburtstages von Paul Kirchhof (2008), S. 147 (168) wird noch deutlicher: „Die damit zusammenhängende Problematik wird in der Rechtsprechung bisher weitgehend negiert.“ 674 BVerfGE 1, 332 (345 f.).
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treffen, mit der trotz der unterschiedlichen Regelungen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zur bedingten Entlassung die vom Unionsrecht erfasste Gruppe der von der Vollstreckungsübertragung betroffenen Verurteilten mit der Gruppe derer gleichbehandelt würde, deren Strafe im Urteilsstaat nach den dortigen Regelungen vollstreckt wird. Die Anwendung des unionsrechtlichen Gleichheitssatzes überschreitet also nicht die Kompetenzen der Union und verstößt so nicht gegen Art. 51 Abs. 1, 2 EU-GRCh bzw. Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV.675 Mit der Anordnung, die bedingte Entlassung habe sich am Recht des Urteilsstaates zu orientieren, hätte der Unionsgesetzgeber auch ohne Eingriff in das für rein innerstaatliche Fälle geltende mitgliedstaatliche Recht der bedingten Entlassung eine Regelung treffen können, die zu einer rechtlichen Gleichbehandlung beider Gruppen geführt hätte. Nicht in jeder Ungleichbehandlung gleichartiger Sachverhalte liegt allerdings ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz. In der Vollstreckungsübertragung könnte ein Grund von solcher Art und solchem Gewicht liegen, dass die vorgenommene Ungleichbehandlung beider Gruppen von zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten sachlich begründet ist. Der EuGH hat bislang keine übergreifenden dogmatischen Leitlinien für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung herausgearbeitet.676 Sucht man die Rechtsprechung zusammenzufassen, so darf die Ungleichbehandlung jedenfalls nicht willkürlich sein, sie muss auf objektiven Gründen beruhen und darf nicht unverhältnismäßig sein.677 Die Anknüpfung der Ungleichbehandlung an die Vollstreckungsübertragung ist nicht willkürlich, sondern stellt ein objektives Differenzierungskriterium dar. Das mit der Regelung verfolgte Ziel, die Durchführung der Vollstreckungshilfe praktisch zu vereinfachen, indem die Behörden des Vollstreckungsstaates auch beim Vollzug der im Ausland verhängten Sanktion das ihnen vertraute innerstaatliche Recht anwenden, ist anzuerkennen. Das mit der Vollstreckungsübertragung zumindest auch verfolgte Ziel der Verbesserung der Resozialisierungschancen der Verurteilten liegt in deren Interesse. Auch wenn die Rechtsprechung des EuGH zur Frage der Weite des gesetzgeberischen Ermessens uneinheitlich ist,678 sprechen die gefundenen Argumente dafür, einen Verstoß der getroffenen Regelung gegen den unionsrechtli675 Zur Frage einer Kompetenz der EU zur Regelung der bedingten Entlassung siehe unten Teil 3 E.II. 676 Frenz, Europarecht (2011), Rn. 1203; Kingreen, Gleichheitsgrundrechte, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten3 (2009), § 17 Rn. 4. 677 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-370/88, Marshall, Slg. 1990, I-4071 ff. (Rn. 24, 27); EuGH, C-462/99, Connect Austria, Slg. 2003, I-5197 ff. (Rn. 115 m.w. N.); siehe auch Frenz, Europarecht (2011), Rn. 1203. 678 Für einen weiten gesetzgeberischen Spielraum EuGH, Rs. verb. C-267/88 bis 285/88, Wuidart u. a., Slg. 1990, I-435 ff. (Rn. 14); eine detaillierte Diskussion der Differenzierungsgründe findet sich bei EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel u. a., Slg. 1977, 1753 ff. (Rn. 8 ff.); EuGH, Rs. 124/76, Moulin Pont-à-Mousson, Slg. 1977, 1795 ff. (Rn. 14/17 ff.); siehe auch Frenz, Europarecht (2011), Rn. 1203.
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chen Gleichheitssatz zu verneinen. Allerdings ist im Hinblick auf den nicht in allen Entscheidungen des EuGH zum Gleichheitssatz angesprochenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine Interpretation des Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI zu fordern, nach der eine Beachtungspflicht des Regelungsgehalts des Rechts des Ausstellungsstaates durch den Vollstreckungsstaat zu fordern ist, wenn anderenfalls im konkreten Fall das Ausmaß der Verlängerung der de facto-Strafverbüßung evident unverhältnismäßig zu werden droht. Der EGMR kommt bei vergleichbarer Fragestellung in seiner Entscheidung vom 15.03.2005 in der Rechtssache Veermäe v. Finnland mit vergleichbarer Argumentation zu demselben Ergebnis.679 In der innerstaatlichen deutschen Rechtspraxis wird der Gleichheitssatz häufig bei der Einzelfallentscheidung über eine Vollstreckungsübertragung in das Ausland berücksichtigt.680 Dem Resozialisierungsinteresse des Verurteilten, das neben anderem für die Übertragung in den Heimatstaat spricht, wird die Frage der Gleichbehandlung mit Verurteilten, deren Strafe im Inland vollzogen wird, im Hinblick auf eine mögliche Verkürzung der de facto-Strafverbüßung gegenübergestellt.681 Spiegelbildlich muss bei dieser Entscheidung aber auch berücksichtigt werden, ob dem Verurteilten durch die Vollstreckungsüberstellung eine erhebliche Verlängerung der de facto-Strafverbüßung droht. Wie bereits zum unionsrechtlichen Gleichheitssatz argumentiert, ist nicht jegliche drohende Verlängerung der tatsächlichen Strafverbüßung als eine sachlich nicht begründete Ungleichbehandlung und damit als Verstoß gegen den Gleichheitssatz anzusehen. Ihre Grenze findet die sachliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung bereits dort, wo die Ungleichbehandlung zwar noch nicht willkürlich ist, jedoch ein Ausmaß erreicht, das nicht mehr geeignet ist, das Ziel der Resozialisierung zu fördern oder das außer Verhältnis zum erstrebten Ziel der Verbesserung der innereuropäischen Vollstreckungshilfe steht. Denn nach der sogenannten neuen Formel des BVerfG ist das Gleichheitsgrundrecht „vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“.682 Der deutsche Gesetzgeber hätte daher bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung ge679 EGMR, Entsch. v. 15.03.2005, Veermäe v. Finnland, Nr. 38704/03 (Abschnitt Law B.3.). 680 Siehe dazu bereits oben Teil 1, Kapitel 1, B.I.2.a). 681 Vgl. z. B. OLG Frankfurt a. M., NStZ-RR 1999, 91 (92); jüngst etwa KG, StraFo 2013, 38 f. = openJur 2012, 124067. 682 St. Rspr. seit BVerfGE 55, 72 (88) (Kursivsetzung durch den Verfasser); vgl. etwa BVerfGE 82, 126 (146); 84, 133 (157); 85, 191 (210); 87, 1 (35 f.); 95, 39 (45). Näher dazu Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar12 (2011), Art. 3 Rn. 17; Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz6 (2011), Art. 3 Rn. 8 ff.; 13 ff.
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halten sein können, eine klarstellende Regelung zu erlassen und für die Fälle drohender Unverhältnismäßigkeit festzulegen, dass Deutschland als Urteilsstaat nur dann von der Möglichkeit zur Vollstreckungsübertragung Gebrauch machen darf, wenn mit dem Vollstreckungsstaat zugleich eine zwingende Beachtung des günstigeren deutschen Rechts vereinbart wird. Da der Rahmenbeschluss keine Verpflichtung des Urteilsstaates zur Einleitung eines Vollstreckungsübertragungsverfahrens vorsieht, verstieße eine solche Regelung auch nicht gegen zwingende Vorgaben des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung. Auf die Frage des Vorrangs des Unionsrechts als Kollisionsregel bzw. dessen Fehlen bei Rahmenbeschlüssen muss daher an dieser Stelle nicht eingegangen werden.683 Eine solche explizite Festlegung ist jedoch nicht erfolgt.684 c) Recht auf persönliche Freiheit, Art. 6 EU-GRCh Das Recht auf persönliche Freiheit ist in Art. 6 EU-GRCh ausdrücklich grundrechtlich verbürgt. Die Reichweite dieser Gewährleistung entspricht im Mindestmaß dem durch Art. 5 EMRK gewährten Schutz.685 Daher kann zur Beurteilung, ob eine Verlängerung der de facto-Strafverbüßung infolge einer Vollstreckungsübertragung eine Verletzung des Rechts des Verurteilten auf persönliche Freiheit ist, auch die einschlägige Rechtsprechung des EGMR herangezogen werden. Die strafvollstreckende Freiheitsentziehung ist von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK umfasst. Dieser setzt eine Verurteilung durch ein zuständiges Gericht voraus, zu der der Freiheitsentzug in einem hinreichend kausalen Beziehung stehen muss,686 sowie die Konformität mit den entsprechenden innerstaatlichen Bestimmungen als Einhaltung der von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK geforderten Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung.687 Auch bei bestehender Verknüpfung mit einem zugrundeliegenden Urteil darf der Freiheitsentzug nicht willkürlich sein.688 Die Wahrung der erstgenannten Voraussetzungen ist bei einer Vollstreckungshilfe für freiheitsentziehende Sanktionen regelmäßig unproblematisch. Die Frage der Willkürlichkeit und die Konformität mit den innerstaatlichen Bestimmungen 683
Siehe dazu unten Teil 2 Kapitel 1 F. Vgl. zur notwendigen Ermessensentscheidung nach Umsetzung des Rahmenbeschlusses unten Teil 4 E.III. 685 Vgl. Art. 52 Abs. 3 EU-GRCh; Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. EU 2007 C 303/17 (19). Siehe bereits oben Teil 1 Kapitel 1 A.III.3. 686 EGMR, Urt. v. 24.06.1982, van Droogenbroeck v. Belgien, Nr. 7906/77, §§ 35, 39; EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Weeks v. Vereinigtes Königreich, Nr. 9787/82, § 42; EGMR, Urt. v. 12.02.2008, Kafkaris v. Zypern, Nr. 21906/04, § 117; EGMR, Entsch. v. 27.06.2006, Szabó v. Schweden, Nr. 28578/03 (Abschnitt Law 1.). 687 EGMR, Urt. v. 11.01.2011, Somogyi v. Ungarn, Nr. 5770/05, § 22; EGMR, Urt. v. 12.02.2008, Kafkaris v. Zypern, Nr. 21906/04, §§ 116 f. m.w. N. 688 EGMR, Urt. v. 24.06.1982, van Droogenbroeck v. Belgien, Nr. 7906/77, § 40; EGMR, Entsch. v. 27.06.2006, Szabó v. Schweden, Nr. 28578/03 (Abschnitt Law 1.). 684
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könnten jedoch Ansatzpunkte für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer de facto längeren Strafverbüßung infolge Übertragung der Sanktionsvollstreckung an einen anderen Mitgliedstaat sein. Mit der Frage einer Willkür der de facto längeren Strafverbüßung hat sich der EGMR in der bereits angesprochenen Entscheidungen des EGMR in den Rechtssachen Veermäe v. Finnland,689 Szabó v. Schweden690 sowie Csoszanszki v. Schweden691 nahezu wörtlich ident auseinandergesetzt. In dem der beispielhaft herausgegriffenen Entscheidung Szabó v. Schweden zugrunde liegenden Sachverhalt war der ungarische Staatsbürger Szabó in Schweden wegen Drogendelikten einschließlich versuchten Drogenschmuggels unter erschwerenden Umständen zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt worden. Außerdem wurde seine dauerhafte Ausweisung aus Schweden verfügt. Nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung am 6. März 2001 teilte ihm die schwedische Vollzugsbehörde mit, dass die vollständige Verbüßung der Freiheitsstrafe mit 22. September 2010 erfolgt sein würde und er unter Aussetzung des Strafrests zur Bewährung frühestens am 25. Mai 2007 entlassen werden könne.692 Gegen seinen ausdrücklichen Widerspruch wurde Szabó nach Verwerfung des von ihm gegen die Überstellungsentscheidung eingebrachten Rechtsmittels am 28. Oktober 2003 zum weiteren Strafvollzug nach Ungarn überstellt. Zuvor war den schwedischen Behörden mitgeteilt worden, dass die Strafe in Ungarn in eine zehnjährige Freiheitsstrafe umgewandelt würde und eine bedingte Entlassung frühestens zum 22. September 2008 erfolgen könne. Denn Szabó wurde einem strikten Vollzugsregime (Zuchthaus/feryház) unterstellt. In Abhängigkeit von dieser Einordnung in die verschiedenen Vollzugsformen einer Freiheitsstrafe, die im ungarischen Strafvollzugsrecht vorgesehen sind, ergab sich auch der Termin einer möglichen bedingten Entlassung.693 Szabó konnte erst nach Verbüßung von 4/5 der verhängten Strafe bedingt entlassen werden; er hatte also einen tatsächlichen Vollzug der Strafe für insgesamt mindestens acht Jahre zu erwarten, während eine bedingte Entlassung bei Fortdauer der Haft in Schweden bereits nach sechs Jahren und acht Monaten hätte in Betracht gezogen werden können. Der EGMR führt in seiner Entschei689 EGMR, Entsch. v. 15.03.2005, Veermäe v. Finnland, Nr. 38704/03 (Abschnitt Law B.3.). 690 Zum nachfolgenden Sachverhalt vgl. EGMR, Entsch. v. 27.06.2006, Szabó v. Schweden, Nr. 28578/03 (Abschnitt Facts A.), zur rechtlichen Argumentation ebd. (Abschnitt Law 1.). 691 EGMR, Entsch. v. 27.06.2006, Csoszanszki v. Schweden, Nr. 22318/02 (Abschnitt Law 1.). 692 Die Entlassung nach Verbüßung von 2/3 der verhängten Freiheitsstrafe ist nach schwedischem Recht grundsätzlich zwingend, wenn der Inhaftierte nicht gröbere Verstöße gegen die Haftregeln begeht, Kapitel 26, §§ 6 f. des schwedischen Strafgesetzbuches, sinngemäß wiedergegeben in EGMR, Entsch. v. 27.06.2006, Szabó v. Schweden, Nr. 28578/03 (Abschnitt Facts B.2.). 693 Vgl. oben I.IV.1., in diesem Kapitel.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
dung zunächst aus, dass der Freiheitsentzug in Ungarn in Vollstreckung des schwedischen Urteils erfolge und daher grundsätzlich hinreichend mit dem zugrunde liegenden Urteil verknüpft ist. In einem zweiten Schritt prüft er, ob trotz Einhaltung dieser Bedingung der Freiheitsentzug über den nach dem Recht des Urteilsstaates zu erwartenden Zeitpunkt der bedingten Entlassung hinaus willkürlich ist. Er betont, dass diese Beurteilung einerseits den menschenrechtlichen Schutzzweck der EMRK berücksichtigen müsse, diese aber soweit als möglich im Einklang mit den weiteren Regelungen des internationalen Rechts interpretiert werden müsse.694 Im vorliegenden Fall zieht er daher das Überstellungsübereinkommen695 einschließlich des Zusatzprotokolls696 heran und hält fest, dass deren Regelungen den (hier verklagten) Urteilsstaat nicht dazu verpflichten, seine vollstreckungsrechtlichen Standards dem Vollstreckungsstaat aufzuerlegen. Eine striktes Verbot der Verlängerung der de facto Strafverbüßung infolge der Vollstreckungsüberstellung würde den Vollstreckungshilfeverkehr gefährden, der seinerseits grundsätzlich auch im Interesse des Verurteilten liegt.697 Allerdings schließt der EGMR ausdrücklich nicht die Möglichkeit aus, dass eine flagrant längere tatsächliche Strafverbüßung als eine Verletzung des Art. 5 EGMR anzusehen sein könnte. Diese wäre dem Urteilsstaat dann zuzurechnen, wenn diese Folge der Vollstreckungsüberstellung bei Vornahme der Überstellung vorhersehbar gewesen ist.698 Zu prüfen bleibt, ob die Nichtanwendung der Regelungen des Urteilsstaates zur bedingten Entlassung als fehlende Konformität des Freiheitsentzugs mit den innerstaatlichen Bestimmungen anzusehen ist. Mit der Frage unterschiedlicher Regelungen einer bedingten Entlassung hat sich der EGMR in seinem Urteil in 694 Vgl. EGMR, Entsch. v. 15.03.2005, Veermäe v. Finnland, Nr. 38704/03 (Abschnitt Law B.3.); EGMR, Entsch. v. 27.06.2006, Szabó v. Schweden, Nr. 28578/03 (Abschnitt Law 1.); EGMR, Entsch. v. 27.06.2006, Csoszanszki v. Schweden, Nr. 22318/ 02 (Abschnitt Law 1.); ferner zu einer solchen generellen Verpflichtung EGMR (GC), Urt. v. 21.11.2001, Al-Adsani v. Vereinigtes Königreich, Nr. 35763/97, § 55. 695 Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 2 A.I. 696 Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 2 A.II.3. 697 EGMR, Entsch. v. 27.06.2006, Szabó v. Schweden, Nr. 28578/03 (Abschnitt Law 1.); EGMR, Entsch. v. 15.03.2005, Veermäe v. Finnland, Nr. 38704/03 (Abschnitt Law B.3.); EGMR, Entsch. v. 27.06.2006, Csoszanszki v. Schweden, Nr. 22318/02 (Abschnitt Law 1.); EGMR, Urt. v. 26.06.1992, Drozd und Janousek v. Frankreich und Spanien, Nr. 12747/87, § 110. Grundsätzlich anderer Ansicht van Zyl Smit/Spencer, The European dimension to the release of sentenced prisoners, in: Padfield/van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Release from Prison. European policy and practice (2010), S. 9 (42), die argumentieren, dass mit dem Erreichen des Zeitpunkts der (höchstwahrscheinlichen) bedingten Entlassung nach schwedischem Recht alle Strafzwecke als erfüllt und daher eine de facto längere Strafverbüßung als ungerechtfertigt anzusehen sei. 698 EGMR, Entsch. v. 27.06.2006, Szabó v. Schweden, Nr. 28578/03 (Abschnitt Law 1.); vgl. auch EGMR, Entsch. v. 15.03.2005, Veermäe v. Finnland, Nr. 38704/03 (Abschnitt Law B.3.); EGMR, Entsch. v. 27.06.2006, Csoszanszki v. Schweden, Nr. 22318/ 02 (Abschnitt Law 1.).
I. Anerkennung der Sanktion und ihre Vollstreckung
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der Rechtssache Somogyi v. Ungarn Näheres auseinandergesetzt.699 Diesem Urteil liegt ebenfalls ein Fall der Vollstreckungshilfe Ungarns für einen anderen Staat, nämlich Italien, zugrunde. Somogyi, ein ungarischer Staatsbürger, war in Italien 1999 zu einer achtjährigen Haftstrafe wegen bewaffneten Raubes verurteilt worden. Die Inhaftierung hätte bei voller Strafvollstreckung am 28. Dezember 2007 geendet.700 Am 19. Mai 2003 wurde er auf Basis der Regelungen des Europäischen Überstellungsübereinkommens nach Ungarn überstellt. Mit Entscheidung des Budapester Landgerichts vom 20. Oktober 2003 wurde festgelegt, Somogyi habe den verbleibenden Strafrest unter einem strikten Vollzugsregime (Zuchthaus/fegyház) zu verbüßen.701 Eine bedingte Entlassung konnte daher erst nach Verbüßung von 4/5 der verhängten Strafe am 23. Mai 2006 erfolgen.702 Der Verurteilte legte, unterstützt von der Generalstaatsanwaltschaft, Rechtsmittel gegen die Adoptionsentscheidung ein und trug vor, die Unterbringung in der strikten Vollzugsform führe zu einer nach Art. 11 ÜberstÜbk unzulässigen Verschärfung seiner Strafe einschließlich einer dadurch bedingten verspäteten bedingten Entlassung.703 Am 14. März 2006 entschied der ungarische Supreme Court, dass dem italienischen Urteil am besten entsprochen worden wäre, wenn Somogyi in einem mittleren Vollzugsregime (börtön) inhaftiert worden wäre. Damit wäre eine bedingte Entlassung bereits nach Verbüßung von 2/3 der verhängten Strafe, also im November 2005, möglich gewesen. Infolge der Entscheidung wurde der Verurteilte am 17. März 2006 schließlich aus der Haft entlassen.704 Der von Somogyi anschließend geltend gemachte Staatshaftungsanspruch wurde vom Supreme Court mit der Begründung abgewiesen, weder habe das Budapester Landgericht bei seiner fehlerhaften Entscheidung grob fahrlässig gehandelt noch habe Somogyi einen tatsächlichen Schaden im Zusammenhang mit der fehlerhaften Inhaftierung unter strengem Vollzugsregime belegt.705 Der EGMR knüpft in seinem Urteil an die Entscheidung des Supreme Court vom 14. März 2006 an, mit der die Rechtswidrigkeit der Unterstellung des Verurteilten unter das strenge Vollzugsregime festgestellt wurde, und kommt zu dem Schluss, dass die bis zu diesem Urteil in Ungarn erfolgte Inhaftierung Somogyis wegen Nichteinhaltung der Anforderungen des nationalen Rechts unrechtmäßig i. S. v. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK gewesen ist.706 Er beschränkt diese Einschätzung nicht auf die Zeit der über den Zeitpunkt der mutmaßlich früheren Entlassung nach dem mittleren Vollzugsregime andauernden Inhaftierung. Auch zieht der EGMR keinen Ver699 700 701 702 703 704 705 706
EGMR, Urt. v. 11.01.2011, Somogyi v. Ungarn, Nr. EGMR, Urt. v. 11.01.2011, Somogyi v. Ungarn, Nr. EGMR, Urt. v. 11.01.2011, Somogyi v. Ungarn, Nr. EGMR, Urt. v. 11.01.2011, Somogyi v. Ungarn, Nr. EGMR, Urt. v. 11.01.2011, Somogyi v. Ungarn, Nr. EGMR, Urt. v. 11.01.2011, Somogyi v. Ungarn, Nr. EGMR, Urt. v. 11.01.2011, Somogyi v. Ungarn, Nr. EGMR, Urt. v. 11.01.2011, Somogyi v. Ungarn, Nr.
5770/05. 5770/05, § 6. 5770/05, § 7. 5770/05, § 7. 5770/05, § 8. 5770/05, §§ 9 f. 5770/05, §§ 11 f. 5770/05, § 23.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
gleich zu einem möglichen Zeitpunkt der bedingten Entlassung nach dem Vollstreckungsregime des Urteilsstaates Italien. Damit gibt die Entscheidung auf die hier vorliegende Frage nach der Konventionskonformität einer de facto längeren Strafverbüßung infolge Vollstreckungsüberstellung aufgrund abweichender Regelungen der bedingten Entlassung keine Antwort und lässt sich auch nicht indiziell heranziehen. Allerdings ist die Entscheidung für die Vollstreckungshilfe insoweit bedeutsam, als sie deutlich macht, dass Verletzungen des Rechts des Vollstreckungsstaates bei der Übernahme und, soweit erforderlich, Anpassung der Sanktionsentscheidung gem. Art. 8 RB 2008/909/JI707 dazu führen (können), dass die Inhaftierung im Vollstreckungsstaat das Recht des Verurteilten auf persönliche Freiheit gem. Art. 6 EU-GRCh verletzen. d) Schlussfolgerung Es zeigt sich, dass die Verlängerung der tatsächlichen Verbüßungsdauer infolge einer Vollstreckungsübertragung im Vergleich zur anzunehmenden Verbüßungsdauer im Urteilsstaat nicht per se die Rechte des Verurteilten verletzt, solange das Maß der im Urteilsstaat zugemessenen Strafe nicht überschritten wird. Die Vollstreckungsübertragung, die unter der Annahme besserer Resozialisierungschancen im Staat der engeren sozialen Bindung708 regelmäßig auch im Interesse des Verurteilten liegt, ist ein sachlicher Grund für eine abweichende Behandlung gegenüber jenen Fällen, in denen die Strafe im Urteilsstaat vollstreckt wird. Das Strafschärfungsverbot des Art. 8 Abs. 4 RB 2008/909/JI wird allein durch eine faktisch spätere bedingte Entlassung nicht verletzt. Auch eine Verletzung des Gleichheitssatzes gemäß Art. 20 EU-GRCh scheidet regelmäßig ebenso aus wie eine Verletzung des Rechts auf persönliche Freiheit gemäß Art. 6 EU-GRCh. Anderes gilt, wenn das Maß der Verlängerung des Freiheitsentzugs im konkreten Einzelfall unverhältnismäßig zu werden droht; es gilt ein Übermaßverbot, dessen Grenzen allerdings weit gezogen sind. Nach hier vertretener Auffassung muss bei dieser Abwägung die Wahrscheinlichkeit einer früheren bedingten Entlassung bei hypothetischer Anwendung des Rechts des Urteilsstaates berücksichtigt werden. Hier spielen sowohl rechtliche als auch tatsächliche Faktoren eine Rolle. Besonders gewichtig zu Gunsten des Verurteilten muss berücksichtigt werden, wenn das Recht des Urteilsstaates von einer zwingenden vorzeitigen Entlassung ausgeht, bei der gerade keine Resozialisierungsprognose anzustellen gewesen wäre.709 Auch aus dem Prinzip des Vertrauensschutzes lässt sich kein gene707
Siehe dazu oben I.I., in diesem Kapitel. Vgl. zur Frage sozialer Bindungen auch EKMR, Entsch. v. 01.10.1990, Wakefield v. Vereinigtes Königreich, Nr. 15817/89 (Abschnitt Law). 709 Siehe dazu oben I.IV.1., in diesem Kapitel. 708
J. Beurteilung der Resozialisierungschancen
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reller Anspruch auf die Anwendung einer günstigeren Regelung der bedingten Entlassung im Recht des Urteilsstaates durch den Vollstreckungsstaat ableiten. Vielmehr bedarf es bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte einer entsprechenden Einzelfallprüfung durch den Urteilsstaat. Ist im Ausnahmefall von einer drohenden Verletzung des Gleichheitssatzes oder des Rechts auf persönliche Freiheit auszugehen oder liegt im Einzelfall ein schutzwürdiges Vertrauen in die (sinngemäße) Anwendung der Regelungen des Urteilsstaates zu bedingten Entlassung vor, so sind die beteiligten Staaten gehalten, etwa von der in Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI vorgesehenen Möglichkeit einer entsprechenden Vereinbarung Gebrauch zu machen. Gilt schon kein generelles Verschlechterungsverbot im Hinblick auf das Maß der de facto zu verbüßenden Strafe, so lässt sich a majore ad minus auch kein zwingendes Meistbegünstigungsprinzip begründen, nachdem die jeweils günstigeren Regelungen des Rechts der bedingten Entlassung des Urteils- bzw. des Vollstreckungsstaates zur Anwendung kommen müssen. Allerdings bleibt nochmals festzuhalten, dass durch die Verknüpfung des Straf- und Strafzumessungsrechts des Urteilsstaates mit dem Strafvollstreckungsrecht, insbesondere mit den Regelungen zur bedingten Entlassung, des Vollstreckungsstaates in das aufeinander abgestimmte innerstaatliche System des Strafens systemwidrig eingegriffen wird und eine gewisse Beliebigkeit der tatsächlich zu verbüßenden Strafe droht.710 Im Ergebnis ist daher zu fordern, dass es nicht weitgehend pauschal zu einer Anwendung der vollstreckungsstaatlichen Regelungen des Rechts auf bedingte Entlassung kommen sollte. Vielmehr ist soweit als möglich von der Regelung des Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI Gebrauch zu machen, damit allenfalls günstigere Regelungen des Urteilsstaates zur bedingten Entlassung (bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen) auch bei Vollstreckungsüberstellung im Vollstreckungsstaat zur Anwendung gelangen.
J. Beurteilung der Resozialisierungschancen I. Behörden des Urteilsstaates als Adressaten der Prüfungspflicht Da bereits mit Übermittlung des Urteils und der im Anhang zum Rahmenbeschluss beigefügten Bescheinigung der Ausgang des Vollstreckungsübertragungsverfahrens grundsätzlich vorgeprägt ist, muss die Beurteilung der Resozialisierungschancen im avisierten Vollstreckungsstaat durch den Ausstellungsstaat vor dieser Übermittlung erfolgen. Entsprechend ordnet Art. 4 Abs. 2 RB 2008/909/ JI an, die Übermittlung des Urteils und der Bescheinigung könne erfolgen, „wenn sich die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats, gegebenenfalls nach Konsul710 F.-C. Schroeder, Die Übertragung der Strafvollstreckung, ZStW 98 (1986), 457 (469); siehe bereits oben Teil 1 Kapitel 1 B.III.4.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
tationen zwischen den zuständigen Behörden des Ausstellungs- und des Vollstreckungsstaates vergewissert hat, dass die Vollstreckung der verhängten Sanktion durch den Vollstreckungsstaat der Erleichterung der Resozialisierung der verurteilten Person dient.“ 711 Die Formulierung der Vorschrift ist zeitlich konditional, eine Übermittlung darf erst erfolgen, nachdem der Ausstellungsstaat sich von der Erleichterung der Resozialisierung im avisierten Vollstreckungsstaat überzeugt hat. Die strikte Beachtung dieser zeitlich konditionalen Sperrwirkung in der Praxis ist zu fordern. II. Beurteilungsmaßstab Maßstab für die Beurteilung der Erleichterung ist der Vergleich zu einem Vollzug im Ausstellungsstaat. Kommen aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte mehrere Mitgliedstaaten als Vollstreckungsstaaten in Betracht, so sind die Resozialisierungschancen in all diesen potentiellen Vollstreckungsstaaten gegeneinander abzuwägen. Für die Frage, welche Aspekte in die Beurteilung der Resozialisierungschancen einbezogen werden sollten, gibt Erwägungsgrund 9 wichtige Hinweise für die teleologische Auslegung des Art. 4 Abs. 2 RB 2008/909/JI, ohne dabei selbst normative Wirkung zu entfalten. Danach sollte die zuständige Behörde des Ausstellungsstaates, wenn sie sich vergewissert, ob die Vollstreckung der Sanktion durch den Vollstreckungsstaat der Verwirklichung des Zieles der Resozialisierung der verurteilten Person dient, dabei Aspekten wie beispielsweise der Bindung der verurteilten Person an den Vollstreckungsstaat Rechnung tragen und berücksichtigen, ob sie, also die verurteilte Person selbst, diesen Staat als den Ort familiärer, sprachlicher, kultureller, sozialer, wirtschaftlicher oder sonstiger Verbindungen zum Vollstreckungsstaat ansieht. Bedenklich erscheint es, wenn der Erwägungsgrund lediglich festhält, die Vollstreckung der Sanktion im Vollstreckungsstaat „sollte“ die Resozialisierung der verurteilten Person begünstigen. Zwar ist klar, dass es sich bei der Einschätzung lediglich um eine Prognoseentscheidung handelt und daher keine sichere Vorhersage getroffen werden kann. Dennoch darf die Formulierung des Erwägungsgrundes nicht dazu verleiten, die klare Formulierung des korrespondierenden, normative Wirkung entfaltenden Art. 4 Abs. 2 RB 2008/909/JI zu unterlaufen: Der Ausstellungsstaat muss sich vor Einleitung des Vollstreckungsüberstellungsverfahrens vergewissern, dass prognostisch die Vollstreckung im avisierten Vollstreckungsstaat der Resozialisierung und Wiedereingliederung des Verurteilten in die Gesellschaft dienen wird. Dabei wird eine prognostisch erhebliche Verlängerung der tatsächlichen Verbüßungsdauer durch eine im Vergleich zum Urteilsstaat ungünstigere Regelung der bedingten Entlassung ein gewichtiges Argument gegen die Annahme gleichwertiger oder besserer Resozialisierungschancen sein.
711
Kursivsetzungen durch den Verfasser.
J. Beurteilung der Resozialisierungschancen
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III. Fakultative und zwingende Konsultation des Vollstreckungsstaates Grundsätzlich überlässt es der Rahmenbeschluss dem Ermessen der zuständigen Behörde des Ausstellungsstaates, ob sie vor der Übermittlung von Urteil und Bescheinigung die Behörden des Vollstreckungsstaates konsultiert. Anderes gilt jedoch in jenen Fallgestaltungen, in denen der Rahmenbeschluss selbst keine Vermutung für per se bessere Resozialisierungschancen im Vollstreckungsstaat aufstellt, also der Verurteilte nicht sowohl Angehöriger des Vollstreckungsstaates ist als auch seinen gegenwärtigen oder zukünftigen Lebensmittelpunkt dort hat.712 In diesen Fällen ist die vorherige Konsultation der zuständigen Behörden durch die zuständigen Behörden des Ausstellungsstaates zwingend vorgesehen (Art. 4 Abs. 3 S. 2 RB 2008/909/JI). Während dieser Konsultationen kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates der zuständigen Behörde des Ausstellungsstaates eine mit Gründen versehene Stellungnahme übermitteln, wonach die Vollstreckung der Sanktion im avisierten Vollstreckungsstaat nicht der Erleichterung der Resozialisierung und der erfolgreichen Wiedereingliederung der verurteilten Person in die Gesellschaft dienen würde.713 Art. 4 Abs. 3 S. 3 RB 2008/909/JI ordnet an, dass im Rahmen einer Konsultation die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates den Ausstellungsstaat unverzüglich darüber unterrichtet, ob sie der Übermittlung des Urteils zustimmt oder nicht. Da Art. 4 Abs. 3 S. 3 RB 2008/909/JI auf Satz 2 derselben Vorschrift Bezug nimmt („In diesen Fällen [. . .]“), stellt sich die Frage, ob der in Satz 2 verankerte Verweis auf Art. 4 Abs. 1 lit. c RB 2008/909/JI auch jene Fallkonstellationen einschließt, in denen zwar grundsätzlich ein Zustimmungsbedürfnis bestünde, der Vollstreckungsstaat jedoch darauf verzichtet hat (Art. 4 Abs. 7 RB 2008/909/JI). Wortlaut und Gesetzesaufbau geben hier keine klare Antwort. Sinn und Zweck des zwingenden Konsultationserfordernisses ist es, in jenen Fällen, in denen sich nicht bereits aus der generellen Fallkonstellation die Vermutung besserer Resozialisierungschancen im Vollstreckungsstaat ableiten lässt, eine hinreichende Beurteilungsgrundlage für den Ausstellungsstaat zu gewährleisten. Auch korrespondiert die zwingende Konsultation des Vollstreckungsstaates durch den Ausstellungsstaat mit dem zwingenden Zustimmungserfordernis des Vollstreckungsstaates zur Einleitung des auf Vollstreckungsübertragung gerichteten Verfahrens. Wenn zudem das Zustimmungserfordernis des Vollstreckungsstaates in den hier in Frage stehenden Fallkonstellationen des Art. 4 Abs. 1 lit. c, Abs. 7 RB 2008/ 909/JI, wie bereits gezeigt, weniger den Zweifeln an der Vermutung besserer Resozialisierungschancen als mehr einer im Vergleich zu eigenen Staatsbürgern geringeren rechtlichen Bindung zwischen Verurteiltem und Vollstreckungsstaat 712 713
Siehe oben F., in diesem Kapitel. Art. 4 Abs. 4 RB 2008/909/JI.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
Rechnung trägt, ist es konsequent, die gesetzliche Anordnung zwingender Konsultation des Vollstreckungsstaates nur auf jene Fälle zu erstrecken, in denen eine Zustimmung des Vollstreckungsstaates zwingende Voraussetzung der Übermittlung von Urteil und Bescheinigung ist. Für die Fälle des Art. 4 Abs. 1 lit. c, Abs. 7 RB 2008/909/JI heißt dies, dass sie nur solange Fälle einer zwingenden Konsultation sind, als der Vollstreckungsstaat keine Erklärung des Verzichts auf das Zustimmungserfordernis nach Abs. 7 RB 2008/909/JI abgegeben hat. Jenseits der ausdrücklich gesetzlich angeordneten Fälle zwingender Konsultation muss eine solche immer auch dann erfolgen, wenn der Ausstellungsstaat ein Verfahren der Vollstreckungsübertragung einzuleiten beabsichtigt, ohne eine Konsultation aber keine hinreichende Beurteilungsgrundlage für die nach Art. 4 Abs. 2 RB 2008/909/JI erforderliche Abwägung der Resozialisierungschancen hat. Auch dann, wenn keine Konsultation stattfindet, hat der Vollstreckungsstaat das Recht, dem Ausstellungsstaat unverzüglich nach Übermittlung von Urteil und Bescheinigung eine mit Gründen versehene Stellungnahme zu übermitteln, wonach die Vollstreckung der Sanktion im Vollstreckungsstaat nicht der besseren Resozialisierung und Wiedereingliederung des Verurteilten in die Gesellschaft dienen würde. Die zuständige Behörde des Ausstellungsstaates trifft dann die Pflicht, die Stellungnahme zu prüfen und zu entscheiden, ob sie die Bescheinigung zurückzieht oder nicht (Art. 4 Abs. 4 RB 2008/909/JI). IV. Einbeziehung weiterer Entscheidungskriterien, insbesondere weiterer Strafzwecke Der Rahmenbeschluss enthält keine ausdrückliche Verpflichtung für den Urteilsstaat, im Falle besserer Resozialisierungschancen in einem anderen Mitgliedstaat ein Verfahren zur Strafvollstreckungsübertragung einzuleiten. Nach der Rechtsprechung des BVerfG hat der Verurteilte, wie gezeigt,714 keinen gebundenen Anspruch auf Einleitung eines Verfahrens zur Vollstreckungsübertragung bzw. auf Zustimmung zur Vollstreckungsübertragung gegen die deutschen Behörden. Für Deutschland als Urteilsstaat gilt daher auch unter dem Vollstreckungshilferegime des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung, dass die deutschen Behörden bei ihrer Entscheidung darüber, ob sie eine Vollstreckungsübertragung einleiten und einem anderen Mitgliedstaat eine entsprechende Bescheinigung übermitteln, nicht nur auf die zwingend erforderlichen prognostisch besseren oder jedenfalls gleichwertigen Resozialisierungschancen für den Verurteilten im avisierten Vollstreckungsstaat abstellen müssen, sondern auch weitere Erwägungen in ihre Entscheidung einbeziehen dürfen. Daher bleibt es insbesondere zulässig, auch den Einfluss der Vollstreckungsübertra714
Siehe oben Teil 1 Kapitel 1 A.I.3.b) und 4.b).
K. Zusammenfassende Schlussfolgerungen
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gung auf die Erfüllung weiterer Strafzwecke in die Entscheidung einzubeziehen.715 Dieses Verständnis wird auch durch den Rahmenbeschluss selbst unterstützt. Denn die Einbeziehung weiterer Strafzwecke liegt auch dem bereits vorgestellten Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI zugrunde, der dem Urteilsstaat das Zurückziehen einer bereits übermittelten Bescheinigung erlaubt, wenn der Urteilsstaat dies, nachdem er über die Regelungen des Vollstreckungsstaates zur bedingten Entlassung informiert worden ist, für notwendig erachtet.716
K. Zusammenfassende Schlussfolgerungen 1. Es hat sich gezeigt, dass die Neuregelung der Vollstreckungshilfe dem mit dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl eingeführten Modell der Beschleunigung und Erleichterung der Rechtshilfe im Grundsatz folgt. Der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung ist geprägt durch eine grundsätzliche Verpflichtung des Vollstreckungsstaates, bei Vorliegen der im Rahmenbeschluss statuierten Voraussetzungen die im Urteilsstaat verhängte Sanktion anzuerkennen und zu vollstrecken. Anders als im Rahmen der bisherigen völkervertraglichen Vollstreckungshilfe ist der ersuchte Vollstreckungsstaat also in seiner Entscheidung weitestgehend gebunden. Die Verfahrensbeschleunigung wird durch Formalisierung, durch Einschränkung der Überprüfungsmöglichkeiten im Vollstreckungsstaat, durch Fristsetzungen sowie durch Abschaffung der politischen Ebene der Bewilligungsentscheidung erreicht. Das Erfordernis der Zustimmung des Verurteilten zur Vollstreckungsübertragung wird eingeschränkt. Diese Einschränkung erfolgt jedoch systemgerecht. Denn das Zustimmungserfordernis entfällt in jenen Fällen, in denen die Vollstreckungsübertragung nicht mit einer Überstellung des Verurteilten verbunden ist, weil sich der Verurteilte bereits im Vollstreckungsstaat aufhält, sowie in den Fällen, in denen zwar einer Überstellung erfolgt, der Verurteilte aber ohnehin ausgewiesen wird. Damit ist der Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses zwar weiter gefasst als jener des Überstellungsübereinkommen des Europarates, jedoch stehen die so getroffenen Regelungen im Einklang mit den das Überstellungsübereinkommen ergänzenden bzw. modifizierenden völkerrechtlichen Regelungen. 2. Die im Rahmenbeschluss getroffenen Regelungen zum Umgang mit der Strafe gehen von einer so weit als möglich unveränderten Adoption aus. Die noch im Überstellungsübereinkommen vorgesehene Möglichkeit einer Exequatur715 Vgl. die entsprechende Erklärung Deutschlands zum Überstellungsübereinkommen, dazu oben Teil 1 Kapitel 1 A.I.4.b). 716 Siehe ausführlich dazu oben Teil 1 Kapitel 3 I.IV.3.
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Teil 1, Kap. 3: Konzeption der Vollstreckungshilfe
entscheidung entfällt. Damit wird das Zusammenspiel von materiellem Strafrecht, Strafzumessungs- und Strafvollstreckungsrecht innerhalb eines jeden innerstaatlichen Strafrechtssystems systemwidrig durchbrochen. Es kann eine faktische Verschlechterung für den Verurteilten durch eine de facto längere Strafverbüßung infolge unterschiedlicher Regelungen zur bedingten Entlassung drohen. Allerdings ist diese faktische Schlechterstellung rechtlich nicht zu beanstanden, soweit sie nicht unverhältnismäßig wird. Ein allgemeines Verbot der faktischen Schlechterstellung lässt sich weder aus dem Vertrauensschutzprinzip noch aus dem Gleichheitssatz oder dem Recht auf persönliche Freiheit ableiten. Die drohenden Folgen einer Schlechterstellung sind jedoch bei der Prognoseentscheidung einzubeziehen, ob die Vollstreckungsübertragung zu einer Verbesserung der Resozialisierungschancen führen wird. 3. Zwar folgt der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung dem mit dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl eingeführten Modell einer Abschaffung der beiderseitigen Strafbarkeit als zwingender Rechtshilfevoraussetzung. Auch sehen die Regelungen des Rahmenbeschlusses grundsätzlich ein zwingendes Verbot vor, im Bereich der sogenannten Listendelikte das Vorliegen der beiderseitigen Strafbarkeit zur Voraussetzung einer Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion zu machen. Allerdings ermöglicht es der Rahmenbeschluss den Mitgliedstaaten erstmals, einen Vorbehalt gegen diesen zwingenden Verzicht auf die beiderseitige Strafbarkeit als Vollstreckungshilfevoraussetzung einzulegen. Damit bleibt es der im zweiten Kapitel des zweiten Hauptteils vorzunehmenden verfassungsrechtlichen Untersuchung vorbehalten zu beurteilen, ob die Bundesrepublik Deutschland bei der noch ausstehenden Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung einen solchen Vorbehalt einlegen sollte, wie dies nach Abschluss der vorliegenden Studie bei Umsetzung des Rahmenbeschlusses tatsächlich erfolgt ist.717
717
Näher dazu unten Teil 4 C.
Teil 2
Maßstab und Grenzen der Vollstreckungshilfe Kapitel 1
Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen der Europäischen Vollstreckungsanordnung 1. Wurde bei der Untersuchung der bisherigen transnationalen und deutschen Rechtsgrundlagen der innereuropäischen Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen bereits der Frage nachgegangen, ob ein Bedürfnis für deren Neuregelung durch den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungshilfe besteht bzw. bestand, so blieben noch die Fragen offen, ob sich die getroffene Neuregelung in den primärvertraglich gesetzten Grenzen hält und welche unionsrechtlichen Maßstäbe und Grenzen bei der Umsetzung und Anwendung der Neuregelung zu beachten sind. 2. Zur Beantwortung dieser Fragen wird im vorliegenden Kapitel zunächst untersucht, ob sich der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung innerhalb der der Union zugewiesenen Kompetenzen und Kompetenzausübungsschranken hält. Zu diesem Zweck werden die Rechtsgrundlage und die Wahrung der Subsidiaritätsschranke sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes diskutiert. Dies erfolgt auch vor dem Hintergrund des im ersten Teil der Arbeit erhobenen Befundes, dass die Vollstreckungshilfe bereits durch eine Vielzahl völkerrechtlicher Vereinbarungen geregelt ist. 3. Um die primärvertraglichen Maßstäbe für den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung, dessen Umsetzung in mitgliedstaatliches Recht sowie für die zukünftige Anwendungspraxis der Europäischen Vollstreckungsanordnung aufzuzeigen, werden anschließend die strafjustizielle Zusammenarbeit und insbesondere der sie kennzeichnende Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen in das Zielgefüge des Primärvertragsrechts eingeordnet. Dabei werden nicht nur das Raumziel der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie die Rolle der Grundrechtsgewährleistungen im Unionsrecht einbezogen, vielmehr wird auch untersucht, welche Schutzgewährleistungen für die unterschiedlichen Rechtsordnungen und -traditionen das europäische Primärvertragsrecht selbst bietet und welche Anforderungen daraus für die sekundärrechtliche Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen abzuleiten sind. Die Überlegungen mün-
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
den in die Frage, ob sich bereits aus den primärvertraglichen Bestimmungen das Erfordernis eines ordre public-Schutzes als Grenze der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen ableiten lässt und, wenn dies zu bejahen ist, wie ein solcher Vorbehalt zu konturieren ist. Bei der Entfaltung der primärvertraglichen Maßstäbe für den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsordnung wird zudem der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen die Änderungen durch den Lissabonner Reformvertrag haben. 4. Ergänzend und abschließend wird die Rechtsform des Rahmenbeschlusses, in der die Regelungen zur Europäischen Vollstreckungsanordnung ebenso wie alle weiteren bisherigen Rechtsakte zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen ergangen sind, daraufhin untersucht, ob die in der Literatur teils vertretene These, ein Rahmenbeschluss nehme am Vorrang des Unionsrechts teil, zutrifft. Ist bzw. war dies nicht der Fall, so können bzw. konnten nämlich auch zwingende Vorgaben eines Rahmenbeschlusses im potentiellen Konfliktfall nicht entgegenstehende verfassungsrechtliche Vorgaben des deutschen Rechts überlagern. Damit würde ein weiterer Begründungsstrang zur notwendigen Begrenzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen bestehen (bzw. bestanden haben).
A. Rechtsgrundlage des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung und Konsequenzen der Lissabonner Vertragsreform Den Rechtsetzungsaktivitäten der EU auf dem Gebiet des Strafrechts bzw. der strafjustiziellen Zusammenarbeit wird vielfach mit besonderer Skepsis begegnet. So hat das Bundesverfassungsgericht in der Lissabon-Entscheidung in Betonung der Integrationsverantwortung der deutschen Verfassungsorgane festgestellt: „Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf allerdings nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politische Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten. Zu wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehören unter anderem die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem bei intensiven Grundrechtseingriffen wie
A. Rechtsgrundlage und Konsequenzen der Lissabonner Vertragsreform
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dem Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege oder bei Unterbringungsmaßnahmen.“ 1 In der Strafrechtswissenschaft wird vielfach die Vernachlässigung der Souveränität der Mitgliedstaaten und die Aufgabe freiheitlicher Grundgedanken zugunsten einer Effektivierung der Strafrechtspflege durch die europäischen Vorgaben beklagt.2 In der Europarechtswissenschaft wird nach der Aufgabe der strafjustiziellen Zusammenarbeit im Zielgefüge der Union gefragt3 und zur Diskussion gestellt, ob die Übertragung des Anerkennungsgedankens auf den Bereich des Strafrechts den Zusammenhalt der Union fördert oder die Nicht-Anerkennung dem Zusammenhalt schadet.4 Da die Union mit der Neuregelung der Rechtshilfe nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen vielfach Rechtsmaterien aufgreift, die – so wie die Vollstreckungshilfe – bereits durch völkervertragliche Übereinkommen geregelt sind, konzentrieren sich die Überlegungen zu den Kompetenzausübungsschranken der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit auf die Frage, ob solche bestehenden völkervertraglichen Regelungen außerhalb des rechtlichen Rahmens der EU (zumeist im Rahmen des Europarates) einen Einfluss auf die Beurteilung beider Kompetenzausübungsschranken haben. Damit gelten die nachfolgenden Überlegungen zwar beispielhaft für den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung, können aber darüber hinaus für die Implementierung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen generelle Bedeutung beanspruchen. I. Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung Bevor die Beschränkung von Unionskompetenzen untersucht werden kann, ist zunächst das Bestehen einer Kompetenz Voraussetzung. Nach Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV darf die Union „nur innerhalb der Zuständigkeiten tätig [werden], die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben“. Dabei gilt es zu beachten, dass Ziele keine Kompetenznormen sind; Maßnahmen zur Zielerreichung bedürfen daher einer 1 BVerfGE 123, 267 (357 f.) (Lissabon-Entscheidung), Kursivsetzung im Zitat durch den Verfasser. 2 Fuchs, Europäischer Haftbefehl und Staatensouveränität, JBl 2003, 405 ff.; Lüderssen, Europäisierung des Strafrechts und gubernative Rechtssetzung, GA 2003, 71 (84); Schünemann, Fortschritte und Fehltritte in der Strafrechtspflege der EU, GA 2004, 193 (200 ff.); ders., Spät kommt ihr, doch ihr kommt: Glosse eines Strafrechtlers zur Lissabon-Entscheidung des BVerfG, ZIS 8/2009, 393 ff. 3 Müller-Graff, ,Differenzierte Integration‘: Konzept mit sprengender oder unitarisierender Kraft für die Europäische Union?, integration 2007, 129 (136) sieht die polizeiliche und strafjustizielle Zusammenarbeit als einen Fall binnenmarktplausibler Tätigkeit der Union, der für das Funktionieren des europäischen Binnenmarktes zwar nicht notwendig, aber sehr plausibel sei. 4 Müller-Graff, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Unionsrecht, ZVglRWiss 11 (2012), 72 (77).
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
eigenständigen Kompetenzgrundlage im Vertragstext.5 Der in Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 EUV ausdrücklich so bezeichnete „Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung“ ist eine primärvertragliche Regelung, die trotz ihrer Bezeichnung als „Grundsatz“ keiner Abwägung zugänglich, sondern strikt einzuhalten ist. Zuständigkeiten, die der Union nicht in den Verträgen zugewiesen sind, verbleiben, wie Art. 5 Abs. 2 S. 2 EUV ausdrücklich klarstellt, bei den Mitgliedstaaten. Obwohl der Unionsvertrag in der vor der Lissabonner Vertragsreform geltenden Fassung anders als der damalige Gemeinschaftsvertrag keine in ihrer Klarheit dem heutigen Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV entsprechende Vorschrift beinhaltete, galt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung auch für die Rechtsetzung im Bereich der früheren Dritten Säule (Art. 28 ff. EU a. F.), zu der der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung gehört. Dies ergibt sich aus Art. 5 EUV a. F., der die Geltung der Kompetenzverteilungsregel der Einzelermächtigung auch für die früher im Unionsvertrag geregelten Politiken, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch mittelbar bekräftigte: Die Organe hatten „ihre Befugnisse nach Maßgabe und im Sinne der Verträge“ auszuüben. II. Art. 31 Abs. 1 lit. a, Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EUV a. F. als Rechtsgrundlage des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung Der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung stützte sich, wie im Rechtsakt einleitend angegeben, „auf den Vertrag über die Europäi5 Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV2 (2012), Art. 3 Rn. 3 EUV. Bleiben jedoch die der Union ausdrücklich zugewiesenen Kompetenzen hinter den ihr gesetzten Zielen zurück, so kann im Rahmen der dort genannten Voraussetzungen auf die Vertragsabrundungskompetenz des Art. 352 AEUV, die anders als ihre Vorläuferbestimmung in Art. 308 EGV nicht auf die Verwirklichung der Ziele des Gemeinsamen Marktes beschränkt ist, zurückgegriffen werden. Allerdings darf unter Rückgriff auf Art. 352 AEUV keine Rechtsharmonisierung in Fällen erfolgen, in denen der Vertrag an anderer Stelle eine Rechtsharmonisierung ausdrücklich ausschließt; vgl. Art. 352 Abs. 3 AEUV. Für den Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit gilt dies für Maßnahmen zur Kriminalprävention, welche in Art. 84 AEUV eine Kompetenzgrundlage finden, die jegliche Rechtsharmonisierung explizit ausschließt. Aus deutscher innerstaatlicher Sicht hat das BVerfG, BVerfGE 123, 267 (395) (Lissabon-Entscheidung), der Zustimmung zu einer auf Art. 352 AEUV gestützten, eine einstimmige Ratsentscheidung voraussetzenden Maßnahme strikte Grenzen gesetzt: „In Anbetracht der Unbestimmtheit möglicher Anwendungsfälle der Flexibilitätsklausel setzt ihre Inanspruchnahme verfassungsrechtlich die Ratifikation durch den Deutschen Bundestag und den Bundesrat auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG voraus. Der deutsche Vertreter im Rat darf die förmliche Zustimmung zu einem entsprechenden Rechtssetzungsvorschlag der Kommission für die Bundesrepublik Deutschland nicht erklären, solange diese verfassungsrechtlich gebotenen Voraussetzungen nicht erfüllt sind“. Vgl. dazu nunmehr § 8 des Gesetzes über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Integrationsverantwortungsgesetz – IntVG), BGBl. 2009 I S. 3022, geändert durch BGBl. 2009 I S. 3822.
A. Rechtsgrundlage und Konsequenzen der Lissabonner Vertragsreform
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sche Union, insbesondere auf Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe a und Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe b“. Während Art. 31 EU a. F. die materielle Regelungskompetenz der Union im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit festlegte, bestimmte Art. 34 EU a. F. über das Verfahren und über die Handlungsform. 1. Materielle Unionskompetenz gemäß Art. 31 Abs. 1 lit. a EU a. F. Art. 31 Abs. 1 lit. a EU a. F. legte fest, dass das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen „die Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Ministerien und den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten [. . .] bei der Vollstreckung von Entscheidungen“ einschließt. Die Vorschrift war durch eine funktionale, das heißt zielbezogene Kompetenzbeschreibung charakterisiert, die für die primärvertraglichen Kompetenzbeschreibungen typisch ist.6 Sie eröffnete dem Unionsgesetzgeber einen sehr weiten, gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbaren Ermessensspielraum dahingehend, welche Maßnahmen geeignet erschienen, die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Ministerien und den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten bei der Vollstreckung von Entscheidungen zu erleichtern und zu beschleunigen. Nur offensichtlich ungeeignete Maßnahmen überschreiten die Grenzen dieses Ermessensspielraums. Bei der Wahrnehmung dieses Ermessens hatten sich die Kommission, der Rat sowie das Europäische Parlament als an der Rechtsetzung beteiligte Organe an den politischen Leitvorgaben des Europäischen Rates zu orientieren, die dieser mit Tampere-Programm aus dem Jahre 19997 und dem Haager Programm aus dem Jahre 20048 gesetzt hatten. Denn dem Europäischen Rat kam und kommt gemäß Art. 4 Abs. 1 EU a. F., nunmehr Art. 15 Abs. 1 EUV sowie konkretisierend Art. 68 AEUV, die Aufgabe zu, der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse zu geben und die allgemeinen Zielvorstellungen für diese Entwicklung festzulegen. Das hat der Europäische Rat mit der Entscheidung für die Einführung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen getan.9 Kommission, Rat und Europäischem Parlament oblag es in der Folge, die konkrete Ausgestaltung dieses Grundsatzes im Rahmen der Sekundärrechtssetzung vorzunehmen.
6 Vgl. Röben, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union (Stand: 38. EL 2009), Vorbem zu Titel VI EU, Rn. 48, explizit zur damaligen Dritten Säule. 7 Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Europäischer Rat (Tampere), 15. und 16.10. 1999. 8 Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, ABl. EU 2005 C 53/1. 9 Siehe dazu unten D.I.2., in diesem Kapitel.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
2. Rechtsform des Rahmenbeschlusses zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten der EU Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU a. F. ermächtigte den Rat, auf Initiative eines Mitgliedstaates oder der Kommission Rahmenbeschlüsse zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten anzunehmen. Da der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung der Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in Bezug auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der EU dient und zu diesem Zweck auf eine Angleichung des mitgliedstaatlichen Rechts abzielt, konnte er auf die gewählte Rechtsgrundlage gestützt werden. III. Ersetzung der Rechtsgrundlagen durch die Lissabonner Vertragsreform und ihre Folgen für die Beurteilung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung Soll die Primärvertragskonformität der Rechtsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung hinterfragt werden, ist zunächst der anwendbare Rechtsmaßstab zu klären. Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund der Revision des Primärvertragsrechts durch den Lissabonner Reformvertrag, der insbesondere die Regelungen der polizeilichen und strafjustiziellen Zusammenarbeit neugestaltet und in das supranationale, mit Vorrang gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht ausgestattete Unionsrecht überführt hat. 1. Überleitung des Rahmenbeschlusses a) Anordnung der potentiell zeitlich unbeschränkten Weitergeltung des Rahmenbeschlusses Der Rahmenbeschluss ist, wie gezeigt, auf Basis der früheren Art. 31 Abs. 1 lit. a, 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EUV a. F. beschlossen worden. Bei diesen primärrechtlichen Bestimmungen handelt es sich um solche, die mit dem Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrages zum 1. Dezember 2009 außer Geltung getreten sind. Hingegen ist der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung als Teil des im Rahmen der früheren Dritten Säule erlassenen Sekundärrechtsbestandes durch Art. 9 S. 1 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen10 der Schlussakte von Lissabon in das nunmehr geltende Unionsrecht übergeleitet worden. Die Vorschrift bestimmt, dass die Rechtsakte der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf der Grundlage des Vertrags über die Europäi10
ABl. EU 2007 C 306/159.
A. Rechtsgrundlage und Konsequenzen der Lissabonner Vertragsreform
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sche Union angenommen wurden, so lange Rechtswirkung behalten, bis sie in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden. Die Weitergeltung ist also potentiell zeitlich unbefristet. Dabei ist allerdings die Rechtsnatur des übergeleiteten Rechts streitig. Diskutiert wird, ob übergeleitete Rahmenbeschlüsse ab Inkrafttreten der Lissabonner Vertragsreform, spätestens aber ab Ablauf der Übergangsfrist zum 1. Dezember 2014 am supranationalen Rechtscharakter des Unionsrechts, und damit an dessen Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht, teilnehmen. Diese Einordnungen bestimmen über das Verhältnis des Rahmenbeschlusses zum mitgliedstaatlichen Recht und entscheiden damit über seine Durchsetzungsfähigkeit.11 b) Befristete Fortgeltung der beschränkten Kompetenzen von Kommission und EuGH Art. 10 Abs. 1 S. 2 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen bestimmt, dass längstens bis zum Ablauf der fünfjährigen Übergangsfrist nach Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrages, also bis zum 30. November 2014, die Befugnisse der Kommission nach Art. 258 AEUV ausgeschlossen blieben. Damit stand der Kommission in diesem Übergangszeitraum nicht die Kompetenz zu, gegen einen Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren wegen der Verletzung einer sich aus den übergeleiteten Rechtsakten ergebenden Verpflichtung eines Mitgliedstaates einzuleiten. Zugleich ordnete Art. 10 Abs. 1 S. 2 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen die unveränderte Weitergeltung der im Vergleich zum supranationalen Recht deutlich beschränkten Befugnisse des EuGH an.12 Damit blieben die bestehenden Beschränkungen der Kompetenzen der Organe im Hinblick auf deren Mittel zur Durchsetzung der sich aus Rahmenbeschlüssen ergebenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nur zeitlich befristet bestehen, längstens bis zum Ablauf der Übergangsfrist. Sie wären früher entfallen, wenn der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung zuvor abgeändert13 oder durch einen neuen Sekundärrechtsakt auf Basis des geltenden Primärrechts ersetzt worden wäre. Im Falle der Abänderung wären die Beschränkungen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Abänderung entfallen; im Falle der Ersetzung durch eine Richtlinie hätten ohnehin die allgemeinen Regeln der Primärverträge einschließlich der damit gegebenen Durchsetzungsmechanismen gegolten, zu denen insbesondere das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 11
Siehe dazu unten F.VI. und VII., in diesem Kapitel. Ausführlich dazu unten F.IV., in diesem Kapitel. 13 Art. 10 Abs. 2 Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen. Ausführlich zu den damit verbundenen Detailproblemen Peers, Finally ,Fit for Purpose‘? The Treaty of Lisbon and the End of the Third Pillar Legal Order, Yearbook of European Law 27 (2008), 47 (55 ff.). 12
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
AEUV zählt. Solange jedoch die Beschränkungen bestanden, konnten Mitgliedstaaten für Pflichtverletzungen wie die Nichtumsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Abänderung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung oder dessen Ersetzung durch eine Richtlinie ist nicht erfolgt. Der Rahmenbeschluss behielt daher Rechtswirkung,14 ebenso galten die genannten Beschränkungen der Kompetenzen von Kommission und EuGH fort. Insbesondere war damit eine Nichtumsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung nicht sanktionierbar. 2. Art. 31 EU a. F. und dessen Ersetzung durch Art. 82 AEUV infolge der Lissabonner Vertragsreform Im Zuge der Überleitung der Vorschriften zur Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in den sogenannten supranationalen Rechtsbestand durch die Lissabonner Vertragsreform wurde Art. 31 EUV a. F. durch Art. 82 AEUV ersetzt. Ließ Art. 31 EU a. F. noch offen, auf welchem Wege die transnationale Zusammenarbeit erleichtert und beschleunigt werden sollte, bestimmt Art. 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV nunmehr ausdrücklich, dass die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen beruht und die Angleichung der Rechtsvorschriften in den in Art. 82 Abs. 2 und Art. 83 AEUV15 genannten Bereichen umfasst. Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. d AEUV greift in sprachlich nur leicht modifizierter Form die Regelung des Art. 31 Abs. 1 lit. a EU a. F. auf und ermächtigt das Europäische Parlament und den Rat dazu, Maßnahmen zu ergreifen, um „die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden oder den entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen [. . .] des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen zu erleichtern“. Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a AEUV hingegen ermächtigt nunmehr ausdrücklich zur Festlegung von Regeln und Verfahren, „mit denen die Anerkennung aller Arten von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen in der gesamten Union sichergestellt wird“. Lit. a beinhaltet damit die speziellere Regelung, lit. d bildet nur einen Auffangtatbestand, der komplementäre Maßnahmen zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung wie die Errichtung einer entsprechenden transnationalen Infrastruktur (wie sie etwa das Europäische Justizielle Netz bildet) oder die Zusammenarbeit unter 14 Zu den Rechtswirkungen des Rahmenbeschlusses nach Ablauf der Übergangsfrist siehe unten Teil 2 Kapitel 1 F.VII. 15 Art. 83 AEUV regelt die Befugnis zur Angleichung materiellen Strafrechts.
A. Rechtsgrundlage und Konsequenzen der Lissabonner Vertragsreform
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nicht-justiziellen Behörden, soweit sie Aufgaben im Bereich justizieller Zusammenarbeit in Strafsachen wahrnehmen (etwa im Rahmen der Tätigkeit der deutschen Finanzbehörden als Ermittlungsbehörden in Steuerstrafverfahren gemäß § 386 AO).16 3. Konsequenzen für die anwendbaren Maßstäbe zur Beurteilung der Rechtsetzung und der Primärrechtskonformität sowie zur Auslegung Zukünftige den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung modifizierende bzw. ersetzende Regelungen zur Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen sind daher auf Art. 81 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a AEUV zu stützen, wenn sie wiederum nur gerichtliche Entscheidungen über die Anordnung eines Freiheitsentzugs erfassen, die aufgrund eines Strafverfahrens ergangen sind.17 Im Hinblick auf den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung, der vor Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrages beschlossen wurde und in Geltung trat, ist jedoch zu differenzieren: Die formell und materiell rechtmäßige Rechtsetzung ist am Maßstab des zum Zeitpunkt der Beschlussfassung im Rat geltenden Rechts zu messen.18 Davon zu unterscheiden ist die Beurteilung der Vereinbarkeit des Regelungsgehalts des Rahmenbeschlusses mit höherrangigem Unionsrecht, also dem Primärrecht einschließlich der unionsrechtlichen Grundrechte. Hier geht es um die Frage des Ob und Wie der Umsetzung bzw. der Anwendung des Rahmenbeschlusses zum Zeitpunkt der Vornahme der Beurteilung. Dazu ist das aktuell geltende Primärrecht heranzuziehen. Denn für das Verhältnis des neu gefassten Primärrechts zum weitergeltenden Rahmenbeschluss gilt der Grundsatz des lex superior derogat legi inferiori. Auch die Auslegung und Anwendung des Rahmenbeschlusses muss daher im Einklang mit dem geltenden vorrangigen Primärrecht stehen.19 Auf die für die Auslegung und 16 Vgl. Böse, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar3 (2012), Art. 82 AEUV Rn. 33; Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), EUV/AEUV (Stand: 48. Ergänzungslieferung, August 2012), Art. 82 AEUV Rn. 66. 17 Siehe oben Teil 1 Kapitel 3 C.I. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK erlaubt einen strafenden Freiheitsentzug nur aufgrund gerichtlicher Entscheidung; Maßregeln der Besserung und Sicherung setzen, soweit sie unter Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK zu subsumieren sind, nach der EMRK nicht zwingend eine gerichtliche Anordnung voraus. 18 Vgl. zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Rechtsaktes der Union nach der Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung z. B. EuGH, Rs. C-309/10, Agrana Zucker GmbH, ECLI: EU: C: 2011: 531 (Rn. 45 m.w. N.). 19 In diesem Sinne verfährt auch Generalanwalt Bot in seinem Schlussantrag in der Rs. C-399/11 Melloni, ECLI: EU: C: 2012: 600 (Rn. 11), wenn er den durch Rahmenbeschluss 2009/299/JI über Abwesenheitsurteile eingefügten Art. 4a Abs. 1 Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl am Maßstab des Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 EU-GRCh misst. Zwar hat der EuGH die Grundrechtecharta bereits vor dem Inkrafttreten der Lissabonner Vertragsreform als zur Betonung der Bedeutung der Unionsgrundrechte herangezogen, vgl. etwa zunächst noch zögerlich EuGH, Rs. C-
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Anwendung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung maßgeblichen wichtigsten primärrechtlichen Bestimmungen wird vorliegend im Anschluss an die Untersuchung der Kompetenzgrundlagen und Kompetenzausübungsschranken näher eingegangen werden.
B. Wahrung der Kompetenzausübungsschranken bei Erlass des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung Zuvor soll jedoch die Untersuchung der Frage abgeschlossen werden, ob die Rechtsetzung in Form des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung einer Überprüfung anhand der Kompetenzen und Kompetenzausübungsschranken des Primärvertragsrechts Stand halten kann. Maßgeblich ist wiederum das Primärvertragsrecht in der zum Zeitpunkt des Erlasses des Rechtsaktes geltenden Fassung. Die Überlegungen stehen vor dem Hintergrund der Vielzahl der bereits bestehenden völkerrechtlichen Regelungen zur innereuropäischen Vollstreckungshilfe20 und beziehen die im ersten Teil der Arbeit aufgenommenen empirischen Befunde21 ein. Das Subsidiaritätsprinzip und das Verhältnismäßigkeitsprinzip setzen Schranken für die Ausübung der der Union übertragenen Kompetenzen. Sie sind daher neben dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wesentliche Kriterien für die Beantwortung der Frage, ob die mit dem Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung in der vorliegenden Form ergangene Rechtsetzung unionsvertraglich zulässig war. I. Subsidiarität 1. Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips als Kompetenzausübungsschranke Das Subsidiaritätsprinzip beschränkt das Tätigwerden der Union in jenen Bereichen, die so wie die polizeiliche und strafjustizielle Zusammenarbeit nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, auf solches Handeln, das nötig ist, sofern und soweit die mit dem Handeln verfolgten Ziele von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können (Negativkriterium) und daher we540/03, Parlament/Rat, Slg. 2006, I-5769 ff. (Rn. 38); deutlicher z. B. EuGH, Rs. C303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633 ff. (Rn. 46). Erst mit der ausdrücklichen Verankerung der Grundrechtecharta als Bestandteil des Unionsprimärrechts wurde allerdings die Grundrechtecharta unmittelbar zum Prüfungsmaßstab für die Geltung des Unionssekundärrechts. Vgl. auch Berger, Die Grundrechtecharta in der Rechtsprechung des EuGH, ÖJZ 2012, 205 ff. 20 Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 2 A. 21 Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 1 C.II.
B. Wahrung der Kompetenzausübungsschranken
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gen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind (Positivkriterium).22 Die Geltung dieser Anforderung für den Erlass des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung ergab sich bereits aus Art. 2 Abs. 2 EU a. F., der die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, wie es in Art. 5 Abs. 2 EG festgeschrieben war, auch für das Handeln im Rahmen des Titels VI EU a. F., also der damaligen sogenannten Dritten Säule, verlangte.23 Daneben nahm auch die Präambel des Unionsvertrages in der Fassung vor Inkrafttreten der Lissabonner Vertragsreform ausdrücklich die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips in Bezug;24 der Verweis konnte jedoch als Bestandteil der Präambel keine rechtliche Verbindlichkeit entfalten.25 Seit der Lissabonner Vertragsreform ist das Subsidiaritätsprinzip in textlich modifizierter Form einheitlich für alle Politikbereiche der EU in Art. 5 Abs. 3 EUV verankert. Während die dort vorgenommene Klarstellung, dass im Rahmen des Negativtests einer mangelnden Leistungsfähigkeit auf mitgliedstaatlicher Ebene sowohl deren zentrale als auch deren regionale und lokale Ebenen angesprochen sind,26 vorliegend dahinstehen kann, präzisiert die Ersetzung der For22 Art. 5 Abs. 2 EG. Zum Subsidiaritätsgrundsatz als Kompetenzausübungsschranke vgl. Dannecker, Die Dynamik des materiellen Strafrechts unter dem Einfluss europäischer und internationaler Entwicklungen, ZStW 117 (2005), 697 (731 ff.). Zur textlichen Neufassung des Subsidiaritätsprinzips in Art. 5 Abs. 3 EUV siehe die nachfolgenden Ausführungen. 23 Vgl. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union2 (1999), S. 153. 24 Erwägungsgrund 12 der Präambel zum EU i. d. F. des Amsterdamer Vertrages. 25 Ob sich die Bindung an das Subsidiaritätsprinzip auch aus der Verpflichtung der Union ergab bzw. ergibt, dass „die Entscheidungen [. . .] möglichst bürgernah getroffen werden“ (Art. 1 Abs. 2, 2. HS EU a. F., gleichlautend Art. 1 Abs. 2, 2. HS EUV), ist streitig; näher zu diesem Streit vgl. etwa Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV2, Art. 1 EUV Rn. 23. Gegen eine Einbeziehung wird argumentiert, der Begriff der Bürgernähe sei von den Strukturprinzipien des Föderalismus, zu denen das Subsidiaritätsprinzip zu rechnen ist, streng zu trennen; Calliess, Das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip (Art. 3 b EGV) als „Grundsatz der größtmöglichen Berücksichtigung der Regionen“, AöR 121 (1996), 509 (527). Denn der Begriff der Bürgernähe beziehe sich allein auf die Partizipation des Bürgers an der Entscheidungsfindung in der EU; das Subsidiaritätsprinzip hingegen sei als Regel der legislativen Ausübung auf das Verhältnis zwischen der Union und ihre Mitgliedstaaten bezogen, Pechstein/König, Die Europäische Union3 (2000), Rn. 155 ff. Für einen Einschluss des Subsidiaritätsgedankens in den Begriff der Bürgernähe spricht allerdings, dass die Aufgabenwahrnehmung auf möglichst dezentraler Ebene auch als Gewährleistung größerer Nähe zu den betroffenen Bürgern verstanden werden kann. Art. 5 Abs. 2 EG bzw. neu Art. 5 Abs. 3 EUV normieren daher einen Teilausschnitt eines allgemeinen Subsidiaritätsgedankens. 26 Schon vor der ausdrücklichen textlichen Klarstellung war es aus Sicht des Europarechts unerheblich, auf welcher mitgliedstaatlichen Ebene das Ziel erreicht werden konnte, solange es überhaupt auf mitgliedstaatlicher Ebene erreichbar war und daher das europarechtliche Subsidiaritätsprinzip die Ausübung einer Kompetenz der Gemeinschaft bzw. einer solchen im Rahmen des Unionshandelns beschränkte; vgl. etwa Ran-
254
Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
mel „und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können“ durch die Formulierung „sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“ das Positivkriterium und macht deutlich, dass allein die fehlende Effizienz auf mitgliedstaatlicher Ebene nicht spiegelbildlich zur Bejahung des Positivkriteriums der besseren Effizienz herangezogen werden kann. Obwohl die Rechtsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung am Subsidiaritätsprinzip in der zum Zeitpunkt der Rechtsetzung geltenden Formulierung, also der vor der Lissabonner Vertragsreform geltenden Fassung zu messen ist, kann die Neuformulierung als Auslegungsindiz für die frühere Textfassung herangezogen werden. Denn es ist nicht ersichtlich, dass eine materielle Rechtsänderung intendiert war, vielmehr dient die Neufassung lediglich der Klarstellung. 2. Beurteilung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung anhand des Subsidiaritätsprinzips Mit dem Erlass des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung wird das Ziel einer Verbesserung und Beschleunigung der strafjustiziellen Zusammenarbeit im Bereich der Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen zwischen den Mitgliedstaaten durch Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen innerhalb der EU verfolgt.27 Damit sollen die Resozialisierungschancen von Straftätern, die zu freiheitsentziehenden Sanktionen verurteilt worden sind, verbessert werden. Die Ausgestaltung des Rahmenbeschlusses macht jedoch deutlich, dass zugleich das Ziel verfolgt wird, die grenzüberschreitende Sanktionsdurchsetzung sicherzustellen. Soll die transnationale strafjustizielle Zusammenarbeit in Form von Rechtshilfe effektiv wirksam ausgestaltet werden, bedarf es zwingend einer zwischenstaatlichen Koordination und Abstimmung rechtshilferechtlicher Regelungen, damit diese möglichst kohärent, also aufeinander abgestimmt und so weit als möglich widerspruchsfrei sind. Die denkbare Koordination kann von einer bloßen wechselseitigen Information über eine rechtlich unverbindliche Konsultation und Koordination über völkerrechtliche Mindestvorgaben bis hin zu einem Einheitsrecht reichen. Für den Fall der Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen haben die Mitgliedstaaten der Union bereits mit dem außerhalb des Unionsrechtsrahmens erfolgten Abschluss der völkerrechtlichen Übereinkommen zur Vollstrenacher, Das Subsidiaritätsprinzip in der Rechtsprechung des EuGH, in: Gamper/Bußjäger (Hrsg.), Subsidiarität anwenden: Regionen, Staaten, Europäische Union. La Sussidiarietà Applicata: Regioni, Stati, Unione Europea (2006), S. 178 (184). 27 Vgl. Art. 3 Abs. 1 RB 2008/909/JI sowie den Titel des Rahmenbeschlusses.
B. Wahrung der Kompetenzausübungsschranken
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ckungshilfe, allen voran mit dem Überstellungsübereinkommen des Europarates von 1983, selbst zum Ausdruck gebracht, dass es einer gemeinsamen transnationalen Regelung zur Problemlösung bedarf und die mit der Regelung der Vollstreckungshilfe verfolgten Ziele nicht allein auf mitgliedstaatlicher Ebene gelöst werden können. Allerdings ist umstritten, ob die Möglichkeit zu völkerrechtlicher Kooperation außerhalb des Rahmens der Primärverträge der Union als Möglichkeit effizienten Handelns auf mitgliedstaatlicher Ebene anzusehen ist. Bejaht man dies, hätte es zur Folge, dass die Möglichkeit zu effizienter völkerrechtlicher Kooperation außerhalb der Unionsverträge die Wahrnehmung der nichtausschließlichen Unionskompetenzen im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit sperren könnte. Der Wortlaut des früheren Art. 5 Abs. 2 EGV gibt hierauf keine eindeutige Antwort: Dass von „Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten“ gesprochen wurde und nicht von „Maßnahmen auf Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten“ 28, könnte als Anhaltspunkt dafür verstanden werden, dass auch ein gemeinsames Handeln außerhalb des Rahmens der EU als hinreichende Effizienz mitgliedstaatlichen Handelns verstanden werden könnte.29 Gegen eine solche Argumentation ließe sich einwenden, der Verweis auf die Möglichkeit zur völkerrechtlichen Kooperation außerhalb des Rahmens der Primärverträge würde als generelles Argument für eine Begrenzung der Kompetenzwahrnehmung durch die Union die der Union zugewiesenen, mit den Mitgliedstaaten geteilten Kompetenzen aushöhlen.30 Manche sehen damit gar den Charakter der Union als Integrationsgemeinschaft bedroht.31 Die textliche Neufassung des Subsidiaritätsprinzips durch die Lissabonner Vertragsreform scheint die Ansicht zu stützen, dass ein gemeinsames völkerrechtliches Vorgehen der Mitgliedstaaten außerhalb des Rahmens der Union nicht als hinreichende Zielerreichung auf mitgliedstaatlicher Ebene anzusehen ist. Denn die neugefasste Formulierung in Art. 5 Abs. 2 EUV spricht als mitgliedstaatliche Handlungsebenen lediglich zentrale, regionale und lokale Ebenen, nicht aber eine völkerrechtliche Zusammenarbeit an. Letzte Sicherheit gibt dieses Indiz zwar nicht, kann doch die völkerrechtliche Zusammenarbeit als Form des Handelns mehrerer – je nach innerstaatlicher Kompetenzverteilung zu28
Kursivsetzung durch den Verfasser. So Lambers, Subsidiarität in Europa – Allheilmittel oder juristische Leerformel?, EuR 1993, 229 (236); Toth, The principle of subsidiarity in the Maastricht Treaty, CMLRev. 1992, 1079 (1098 f.). 30 In diesem Sinne die wohl h. M.; vgl. etwa Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV4 (2011), Art. 5 EUV Rn. 36 m.w. N.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV2 (2012), Art. 5 EUV Rn. 128. 31 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag. Kommentar6 (2004), Art. 5 EG Rn. 31; vgl. auch Frowein, Konkurrierende Zuständigkeit und Subsidiarität. Zur Kompetenzverteilung in bündischen Systemen, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag (1993), S. 401 (408, dort auch Fn. 32). 29
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
ständiger – zentraler, regionaler oder lokaler Ebenen verstanden werden. Gegen eine Subsidiaritätsbegründung durch Möglichkeit zu außervertraglicher Kooperation spricht jedoch auch, dass dann, wenn die Erreichung eines unionalen Zieles nicht nur ein internes, gegebenenfalls auch paralleles Handeln der Mitgliedstaaten notwendig macht, sondern eine rechtliche Koordination oder Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten erfordert, die Union das dazu geschaffene Forum ist. Auch eine differenzierende Lösung scheint denkbar: So könnte allein die bloße Möglichkeit zu völkervertraglicher Kooperation außerhalb des Unionsrahmens nicht zur Ablehnung des Negativkriteriums der Subsidiaritätsprüfung herangezogen werden. Besteht allerdings bereits eine effektive völkervertragliche Kooperation, so wäre zu prüfen, ob damit nicht bereits die Erreichung der Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme gewährleistet ist. Im ersten Teil der vorliegenden Studie hat sich jedoch gezeigt, dass mit den bestehenden völkerrechtlichen Regelungen die mit dem Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung verfolgten Ziele nicht ausreichend erreicht werden können. Zwar deckt der sachliche Anwendungsbereich der bestehenden völkerrechtlichen Übereinkommen in Summe weite Teile des sachlichen Regelungsbereichs des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung ab. Allerdings trügt dieser Vergleich, wenn man die tatsächliche Anwendbarkeit der bisherigen völkerrechtlichen Regelungen außer Betracht lässt. Wesentliche das ÜberstÜbk ergänzende völkerrechtliche Regelungen sind schließlich mangels hinreichender Ratifikation nur für einige wenige Mitgliedstaaten oder aber gar nicht in Kraft getreten.32 Hinzu kommt, dass zu den mit dem Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung verfolgten Zielen gerade nicht nur die Verbesserung der Resozialisierungschancen und der transnationalen Sanktionsdurchsetzung zählt. Vielmehr dient der Rahmenbeschluss der Umsetzung des mittlerweile primärrechtlich verankerten Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen. Wenn aber dieser Grundsatz nicht nur ein Mittel zur Verwirklichung, sondern zugleich selbst ein Teilziel der Union auf dem Weg zur Gewährleistung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts darstellt,33 so spricht auch dies gegen die Anerkennung einer außervertraglichen Kooperation als Alternative zum Handeln im unionsrechtlichen Rahmen. Das primärvertragliche Ziel der möglichst umfassenden Implementierung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung leitet zudem auch zur Bejahung des Positivkriteriums einer besseren Zielerreichung auf Unionsebene über. Denn zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung bedarf es einer Ko32 Siehe oben Teil 1 Kapitel 2 A.II.1.b) (Abkommen über die Anwendung des Übereinkommens des Europarates über die Überstellung verurteilter Personen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Mai 1987) sowie 4.b) (EGVollstreckungsübereinkommen). 33 Siehe dazu unten C.I., in diesem Kapitel.
B. Wahrung der Kompetenzausübungsschranken
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ordination des mitgliedstaatlichen Rechts, also einer transnationalen Vereinbarung, für die nach den vorhergehenden Überlegungen die völkerrechtliche Kooperation außerhalb des Unionsrechtsrahmens keine Alternative bildet. Damit aber ist festzustellen, dass die Weite des Ziels einer Implementierung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung fast automatisch die Kompetenzausübungsschranke der Subisidiarität aushebelt. Das Subsidiaritätsprinzip bleibt „eher politischer Fanfarenstoß als exaktes juristisches Taktmaß“.34 II. Verhältnismäßigkeit Hinzu kommt, dass auch das Ziel der Sicherheitsgewährleistung als Teilziel des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufgrund seiner Weite und Unbestimmtheit nicht geeignet ist, eine Beschränkung der Wahrnehmung der Unionskompetenzen im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit zu begründen.35 Stets wird ein höheres Maß an Sicherheitsgewährleistung möglich sein. Das Streben nach absoluter Sicherheit geht allerdings zu Lasten grundrechtlicher Freiheiten.36 Nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip37 dürfen die getroffenen Maßnahmen nicht weiter gehen als zur Zielerreichung erforderlich. Die Abstraktheit des Ziels, „durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität und Fremdenfeindlichkeit, zur Koordinierung von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und den anderen zuständigen Behörden sowie durch gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung der strafrechtlichen Bestimmungen ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten“ 38 schränkt dessen Eignung als Maßstab für eine konkrete Verhältnismäßigkeitsprüfung erheblich ein. Die Verbesserung der Haftbedingungen für nicht integrierte Ausländer39 wird zwar die Resozialisierungs34 Müller-Graff, Verfassungsziele der Europäischen Union, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Stand: Juli 2012), A.I., Rn. 185. 35 Siehe dazu unten C.I., in diesem Kapitel. 36 Vgl. zu dieser Debatte etwa Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, VVDStRL 63 (2004), 151 ff.; ders., Der öffentliche Raum – Ein Raum der Freiheit, der (Un-)Sicherheit und des Rechts, JZ 2009, 217 ff. 37 Art. 5 Abs. 4 EUV. 38 Art. 67 Abs. 3 AEUV, Kursivsetzung durch den Verfasser. 39 Die vom Rat für strafrechtliche Kooperation (Council for Penological Co-operation, PC-CP), einem Unterorgan des Europarates, erarbeiteten und vom Ministerkomittee angenommenen Empfehlungen betreffend ausländische Gefangene fordern, ausländischen Gefangenen bei Haftantritt und während der Haft in einer ihnen verständlichen Sprache Informationen über ihre Rechte und Pflichten als Gefangene einschließlich des Rechts auf Zugang zu den Konsularbehörden, über die wichtigsten Einrichtungen sowie über die internen Regeln der Haftanstalt, über die Regeln und das Verfahren für Anträge und Beschwerden und über ihre Rechte auf rechtliche Beratung und rechtlichen Beistand zu vermitteln; vgl. Recommendation concerning foreign prisoners, CM/
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
chancen im Urteilsstaat verbessern und damit das Bedürfnis nach Vollstreckungshilfe teilweise verringern. Sie ist aber nicht geeignet, die weiteren Ziele des Rahmenbeschlusses – Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung sowie Sanktionsdurchsetzung – sicherzustellen. Die in Teil 1, Kapitel 3 der vorliegenden Studie vorgenommene Analyse der Regelungen des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung hat deutlich gemacht, dass das gewählte Modell eines rein justiziellen, durch Formalisierung erleichterten und durch knappe Fristen auch beschleunigten Verfahrens der Vollstreckungsübertragung nicht offensichtlich ungeeignet ist, die strafjustizielle Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Ministerien und Justizbehörden der Mitgliedstaaten zu erleichtern. Der Rahmenbeschluss verstößt daher nicht gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip.
C. Primärrechtliche Auslegungsmaßstäbe und Grenzen für die Europäische Vollstreckungsanordnung Im Folgenden werden die bei der Auslegung und Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung sowie bei der Anwendung des mitgliedstaatlichen Umsetzungsrechts zu beachtenden unionsrechtlichen Maßstäbe näher untersucht. Wie bereits erläutert, ist für diese Maßstabsbestimmung das geltende Primärrecht heranzuziehen.40 I. Unionsziel eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Die Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen,41 zu deren Erleichterung und Beschleunigung der Rahmenbeschluss über die Europäische VollstreckungsanRec(2012)12 v. 10. Oktober 2012, Pkt. 15.1. Der PC-CP fordert daher, dass dort, wo dies angemessen erscheint und in Abhängigkeit von den Sicherheitsanforderungen möglich ist, ausländische Gefangene in Gefängnissen untergebracht werden sollen, in denen auch andere Gefangene gleicher Nationalität, Kultur oder Religion inhaftiert sind oder solche, welche die gleiche Sprache sprechen; Draft Recommendation concerning foreign prisoners, CM/Rec(2012)12, Pkt. 16.3. Eine solche Unterbringung kann einer desozialisierenden Wirkung der Haft entgegenwirken, eine Gefahr besteht allerdings dann, wenn aufgrund solcher Unterbringung die Bildung nicht beherrschbarer Subkulturen im Gefängnis befördert wird. Kritisch zu betrachten ist es jedenfalls, wenn ausländische, im speziellen afrikanische Gefangene mit der Begründung, sie würden ohnehin kaum Besuch von ihren Angehörigen erhalten können, gezielt in abgelegenen Haftanstalten untergebracht werden; vgl. Pilgram/Hofinger, Chapter 2: Austria, in: van Kalmthout/ Hofstee-van der Meulen/Dünkel (Hrsg.), Foreigners in European Prisons (2007), S. 89 (107), zur Unterbringung afrikanischer Häftlinge gezielt in der abgelegenen Justizanstalt Suben in Oberösterreich nahe der deutschen Grenze. Zur Frage nach dem Bestehen einer entsprechenden Unionskompetenz siehe unten Teil 3 E.II. 40 Siehe oben A.III.3., in diesem Kapitel. 41 Art. 82 ff. AEUV. Auffällig ist, dass im Unterschied zum bisherigen Titel IV des EU a. F. nunmehr im AEUV die strafjustizielle Zusammenarbeit und die polizeiliche
C. Primärrechtliche Auslegungsmaßstäbe
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ordnung beitragen soll, ist, verbunden mit der Polizeilichen Zusammenarbeit,42 eine derjenigen Politiken, die die Zielbestimmung der Gewährleistung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ausformen.43 Art. 3 Abs. 2 EUV bestimmt grundlegend: „Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, um sogleich fortzusetzen, „ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist.“ Das Unionsrecht ist final strukturiert. Daher kommt den Zielbestimmungen des Unionsvertrages leitende und begrenzende Funktion auch für die Auslegung und Anwendung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung zu.44 Als zentraler Orientierungspunkt verpflichten die Ziele die für die Union handelnden Organe. Darüber hinaus verpflichten sie über den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit auch die Mitgliedstaaten,45 die insbesondere „die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe [zu unterstützen] und [. . .] alle Maßnahmen [zu unterlassen haben], welche die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten“.46 Die Mitgliedstaaten trifft gleichsam wie die Gesellschafter einer Personengesellschaft eine Förderungspflicht. Ein Raumziel verpflichtet nicht nur zu einer gesteigerten Kohärenz bei der Wahrnehmung der Politiken der Union, die zur Erreichung des Zieles geschaffen wurden. Es fordert auch von den Mitgliedstaaten ein kohärentes Handeln im Rahmen der ihnen verbliebenen
Zusammenarbeit vertragssystematisch in zwei Kapiteln, also getrennt voneinander, geregelt werden. Jedoch werden beide Bereiche durch Art. 67 Abs. 3 AEUV zusammengefasst, so dass davon auszugehen ist, dass mit der Unterteilung in beide Bereiche insoweit keine nachhaltige Änderung gegenüber der bisherigen Rechtslage beabsichtigt ist. Allerdings hat diese vertragssystematische Trennung Konsequenzen im Bereich der Kompetenzen für kriminalpräventive Maßnahmen: Während nämlich Art. 84 AEUV für den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit jegliche Rechtsharmonisierung als Maßnahme zur Kriminalprävention ausschließt, greift diese ausdrückliche Regelung nicht für die auch zur Verhütung von Straftaten angestrebte polizeiliche Zusammenarbeit. 42 Art. 87 ff. AEUV. 43 Art. 67 ff. AEUV. Der Verwirklichung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts dienen darüber hinaus die Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung, Art. 77 ff. AEUV, sowie die Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zwar ist die letztgenannte Politik nicht ausdrücklich in der Zielbestimmung des Art. 3 Abs. 2 EU angesprochen. Sie wird jedoch gleichrangig mit den genannten Bereichen in der Auffächerung der Politiken zur Gewährleistung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Art. 67 Abs. 4 AEUV aufgeführt und in Kapitel 3 dieses Vertragstitels (Art. 81 AEUV) näher ausgeformt. 44 Ausführlich zu den Zielfunktionen Müller-Graff, Verfassungsziele der Europäischen Union, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Stand: Juli 2012), A.I., Rn. 177 ff. 45 Art. 4 Abs. 3 EUV. 46 Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
Kompetenzen.47 Sowohl die Organe der Union als auch die mitgliedstaatlichen Organe müssen bei ihrem Handeln dieses Vertragsziel im Blick behalten. Diese Verpflichtung beschränkt sich nicht allein auf gesetzgeberisches Handeln der Union und dessen mitgliedstaatliche Umsetzung, sondern gilt auch für den Rechtsvollzug.48 Daher stellt sich die Frage, welche Schlussfolgerungen aus dem Ziel der Gewährleistung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für die Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung sowie für die zukünftige Handhabung der Europäischen Vollstreckungsanordnung zu ziehen sind. 1. Historische Genese: Aufwertung der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres a) Einfügung durch den Amsterdamer Reformvertrag Der Topos des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts findet sich seit 1997 in mehr und mehr Texten der EU-Organe,49 seit der Vertragsreform von Amsterdam ist er als primärrechtliche Zielbestimmung im Vertragstext ausdrücklich verankert (Art. 61 EGV; neu: Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 Abs. 1 AEUV). Anders als sein wirtschaftliches Pendant, der Binnenmarkt,50 ist er nicht theoriefundiert, legaldefiniert und in den Grundfreiheiten vergleichbaren unmittelbar geltenden Normen ausgefaltet.51 Als eindrucksvoller Topos, dessen Begrifflichkeiten durch vielfältige Assoziationen vorgeprägt sind, ersetzte das Ziel des Rau47 Schumann, Die Union, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts? Chancen und Risiken abgestufter Integration als Methode europäischer Zielerreichung, in: Leidenmühler/Eder/Leingartner/Winkler (Hrsg.), Grundfreiheiten – Grundrechte – Europäisches Haftungsrecht (2012), S. 257 (280 f.). 48 Angesprochen ist also auch das Spektrum all dessen, was – als politikwissenschaftliche Begriffsbildung – unter dem Begriff der „Good governance“ zusammengefasst wird. 49 Monar, Die politische Konzeption des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: Vom Amsterdamer Vertrag zum Verfassungsentwurf des Konvents, in: MüllerGraff (Hrsg.), Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2005), S. 29 (29). 50 Das Konzept des Binnenmarktes beruht auf der auf David Ricardo zurückzuführenden volkswirtschaftlichen Theorie des komparativen Kostenvorteils, näher dazu z. B. Krugman/Obstfeldt, Internationale Wirtschaft: Theorie und Politik der Außenwirtschaft9 (2011), S. 55 ff., und ist in Art. 26 Abs. 2 AEUV definiert als „ein [. . .] Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist.“ 51 Vgl. Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Der primärvertragliche Rahmen, in: ders. (Hrsg.), Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2005), S. 11 (13); vgl. ferner ders., Der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ im neuen Verfassungsvertrag für Europa-Neuerungen und Notwendigkeit seiner Rekonstruktion, in: Gaitanides/Kadelbach/Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Europa und seine Verfassung. Festschrift für Manfred Zuleeg zum siebzigsten Geburtstag (2005), S. 605 ff.
C. Primärrechtliche Auslegungsmaßstäbe
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mes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts die mit dem Vertrag von Maastricht eingeführte Überschrift „Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres“, unter der diejenigen Unionspolitiken zusammengefasst wurden, die eine justizielle Zusammenarbeit sowie die Sicherheitsgewährleistung betreffen. Seitdem währt die Diskussion, ob und wie weitgehend die Neufassung des Zieles mit einer inhaltlichen Aufladung verbunden ist. In der Literatur wird ein dynamisches oder jedenfalls evolutives Begriffsverständnis des Raumzieles Freiheit, Sicherheit und Recht vorgeschlagen: Der angestrebte Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts habe das Potential dafür, mehr zu sein als die Summe der ihn konstituierenden einzelnen Elemente. Ein solches ganzheitliches Konzept vermöge dann die Entwicklung der einzelnen Elemente zu illustrieren.52 Der frühere Generaldirektor der GD Justiz und Inneres des Generalsekretariats des Rates der EU, Charles Elsen, schildert die Entstehung der neugefassten Zielbestimmung als eher zufällig geschehen. Er nimmt an, dass dieser Terminus im Laufe der Vorarbeiten zum Amsterdamer Vertrag zunächst an die Stelle des Titels „Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres“ gesetzt wurde, um schließlich im endgültigen Vertragstext nicht mehr nur als Überschrift eines Kapitels, sondern in den Bestimmungen des Vertragstextes selbst Eingang zu finden.53 Diese Beobachtung aus der Entstehungsgeschichte der Änderung schließt eine dynamische Interpretation der neugefassten Zielbestimmung nicht aus, erhöht aber jedenfalls den für eine solche Interpretation notwendigen Argumentationsbedarf.54 b) Neuverortung durch den Lissabonner Reformvertrag Forciert wurde die Diskussion um den Bedeutungsgehalt der neugefassten Zielbeschreibung durch die mit dem Lissabonner Reformvertrag vorgenommene neue Einordnung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Zielkanon in Art. 3 Abs. 2 EUV und damit noch vor dem in Art. 3 Abs. 3 EUV benannten Binnenmarkt. Manche Stimmen in der Literatur werten die Neuordnung des Gesetzeswortlautes als Zeichen der „Emanzipation“ des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts insbesondere gegenüber dem Binnenmarkt.55 Andere hingegen geben zu Bedenken, dass der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gerade erst aus der Verbindung mit den Freizügigkeits52 Baker/Harding, From past imperfect to future perfect? A longitudinal study of the Third Pillar, European Law Review 34 (2009) 1, 25 ff. 53 Elsen, Die Politik im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der sich erweiternden Europäischen Union, in: Müller-Graff (Hrsg.), Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2005), S. 43 (43). 54 Zum Ganzen Schumann, Die Union, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts? Chancen und Risiken abgestufter Integration als Methode europäischer Zielerreichung, in: Leidenmühler/Eder/Leingartner/Winkler (Hrsg.), Grundfreiheiten – Grundrechte – Europäisches Haftungsrecht (2012), S. 257 (260 ff.). 55 Weiss/Satzger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV2 (2012), Art. 67 AEUV, Rn. 11.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
rechten der Binnenmarktteilnehmer und der Unionsbürger integrationstheoretische Sinnfälligkeit erlangt und konzeptionell greifbar wird.56 Auffällig ist jedenfalls, dass der Dritte Teil des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union die Neuordnung der Zielbestimmungen in Art. 3 EUV nicht aufgreift, sondern die binnenmarktrechtlichen Regelungen der Grundfreiheiten den Politiken des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts weiterhin voranstellt. 2. Wortlaut der Zielbestimmung Indes muss jede Auslegung des Zieles an dessen Wortlaut anknüpfen. Prägende Begrifflichkeiten des Zieles sind neben dem Raumbegriff,57 der Freiheitsbegriff, der Sicherheitsbegriff und der Rechtsbegriff. Alle diese Begrifflichkeiten stehen vielfältigen Interpretationen offen. Es fragt sich daher, ob nicht weitere, eingrenzende, also die Auslegung lenkende Anhaltspunkte ersichtlich sind. a) Verknüpfung des Raumzieles mit den unionsrechtlichen Freizügigkeitsregelungen Ein solcher könnte sich aus der Verknüpfung des Zieles des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts mit der Abschaffung der Binnengrenzen (besser formuliert: der Binnengrenzkontrollen) und der Gewährleistung des freien Personenverkehrs ergeben, die im eingangs des vorliegenden Abschnittes wiedergegebenen Wortlaut der Zielbestimmung des Art. 3 Abs. 2 EUV enthalten ist. Die Verknüpfung zu den Freizügigkeitsrechten58 innerhalb der Europäischen 56 Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Lissabonner Reform, EuR 2009, Beiheft 1, 105 ff. (125). 57 Der Raumbegriff umfasst neben der territorialen Dimension auch die funktionale Verknüpfung der verschiedenen Organisationsstrukturen mit der bei ihnen jeweils lokalisierten Hoheitsgewalt. Er beschreibt damit ein ganzheitliches, territoriale und funktionale Elemente verknüpfendes Konzept, mit dem strategisch eine Integration innerhalb dieses Raumes angestrebt wird, dass aber gerade nicht auf die Ausübung ihrer Kompetenzen durch die Europäischen Union beschränkt ist. Ein Raumziel verpflichtet daher in gesteigertem Maße sowohl zu einer Kohärenz bei der Wahrnehmung der Politiken der Union, die zur Erreichung des Zieles geschaffen wurden, als auch zu einem kohärenten Handeln der Mitgliedstaaten im Rahmen der ihnen verbliebenen Kompetenzen; vgl. Schumann, Die Union, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts? Chancen und Risiken abgestufter Integration als Methode europäischer Zielerreichung, in: Leidenmühler/Eder/Leingartner/Winkler (Hrsg.), Grundfreiheiten – Grundrechte – Europäisches Haftungsrecht (2012) 257 (280 f.). 58 Diese Freizügigkeitsrechte bestehen zum einen in den Grundfreiheiten des Binnenmarktes, also der Freizügigkeit aufgrund wirtschaftlicher Betätigung. Für die Zielkonkretisierung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts stellt sich daher die Frage nach einem Binnenmarktbezug. Eine weitere Gewährleistung eines Freizügigkeitsrechts knüpft an den Status als Unionsbürger an bzw. leitet sich bei Drittstaatsangehörigen als Familienangehörigen eines Unionsbürgers aus dessen Freizügigkeitsrecht ab. Die Inbezugnahme der Unionsbürgerschaft als von wirtschaftlicher Betätigung losge-
C. Primärrechtliche Auslegungsmaßstäbe
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Union bildet damit einen ersten Anhaltspunkt für die Konkretisierung des Zieles der Gewährleistung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Die Verknüpfung des Zieles der Gewährleistung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts mit der Sicherstellung des freien Personenverkehrs ist ein zentrales Element der Zielbestimmung. Es findet sich nicht nur in Art. 3 Abs. 2 EUV, sondern wird in Art. 67 Abs. 2 AEUV aufgegriffen, der den Wegfall der Personenkontrollen an Binnengrenzen nochmals ausdrücklich betont und mit der Entwicklung einer gemeinsamen Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen verknüpft. Anzumerken bleibt, dass sich in der Umsetzung des Zieles der Wegfall der Binnengrenzkontrollen bislang nicht auf die gesamte EU erstreckt,59 hingegen Schengen-assoziierte Drittstaaten60 einbezieht.61 Die Verknüpfung des Zieles der Errichtung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts mit der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union betont auch der zwölfte Erwägungsgrund zum EUV, nach dem „die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit [der] Bürger durch den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ nach Maßgabe der Bestimmungen der Verträge gefördert werden soll.62 Bereits in der Urfassung des 1993 in Kraft getretenen Unionsvertrages wurde der Zusammenhang von Freizügigkeit und Sicherheitsgewährleistung für die Bürger herausgestellt. Danach sollte diese Sicherheit „durch die Einfügung von Bestimmungen über Justiz und Inneres“ gewährleistet werden;63 mithin durch diejenigen Politiken, die ursprünglich der Dritten Säule der Union zugewiesen waren und die
löster Ausdruck europäischer Integration könnte als Indiz für eine Ablösung des Raumzieles der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verstanden werden. Einen dritten Anhaltspunkt bietet die Anknüpfung an die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen. Diese deutet die Kompensationsfunktion der dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zugeordneten Politiken für die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen durch die Schengener Abkommen (Schengener Übereinkommen vom 14.06.1985, ABl. EU 2000 L 239/13; Schengener Durchführungsübereinkommen, ABl. EU 2000 L 239/19) an. 59 Generelle Grenzkontrollen erfolgen noch gegenüber Zypern, Bulgarien und Rumänien, für die im Übrigen der Schengen-aquis gilt, sowie gegenüber dem Vereinigten Königreich und Irland, die eine eigenständige Common Travel Area bilden, und weitgehende Sonderregeln für die Beteiligung am Schengen-Besitzstand bzw. dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts haben. 60 Island, Norwegen, Schweiz, Liechtenstein. 61 Näher dazu Schumann, Die Union, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts? Chancen und Risiken abgestufter Integration als Methode europäischer Zielerreichung, in: Leidenmühler/Eder/Leingartner/Winkler (Hrsg.), Grundfreiheiten – Grundrechte – Europäisches Haftungsrecht (2012), S. 257 (273 ff.). 62 So schon der 11. Erwägungsgrund zum EU i. d. F. des Amsterdamer Vertrages. 63 Vgl. Erwägungsgrund 10 EUV i. d. F. des Maastrichter Vertrages: „IN BEKRÄFTIGUNG ihres Ziels, die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit ihrer Bürger durch die Einfügung von Bestimmungen über Justiz und Inneres in diesen Vertrag zu fördern.“
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
noch heute, wenn auch in erheblich vertiefter Form, die ausformenden Politiken des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bilden. b) Erfordernis der Kohärenz des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung mit den Freizügigkeitsrechten Für die Europäische Vollstreckungsanordnung lässt sich ableiten, dass sowohl ihre Ausgestaltung im Rahmenbeschluss als auch ihre mitgliedstaatliche Umsetzung und Anwendung kohärent zu den unionsrechtlich gewährten Freizügigkeitsrechten vorgenommen werden müssen. Das erfordert die weitestgehende Gleichstellung von Personen, die einen unionsrechtlich geschützten Aufenthaltsstatus in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger sie nicht sind, besitzen mit den Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates. Zwei Anforderungen an den Rahmenbeschluss werden hier deutlich. Zum einen muss sichergestellt werden, dass ein Vollstreckungsstaat unter den gleichen Bedingungen solchen Überstellungen zustimmt, die zwar nicht eigene Staatsangehörige, wohl aber in diesem Mitgliedstaat ansässige Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten bzw. aufenthaltsberechtige Drittstaatsangehörige betreffen, sofern diese ihre Lebensmittelpunkt in diesem Unionsstaat haben und ihnen ihr Aufenthaltsrecht nicht auf unionsrechtskonforme Art und Weise entzogen wird.64 In vergleichbarer Art und Weise müssen sie durch Wahrung eines Zustimmungserfordernisses vor einer Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat geschützt werden, solange ihr unionsrechtliches Aufenthaltsrecht besteht. 3. Ausgleichsfunktion für die Freizügigkeit: Sicherheitsgewährleistung als herausgehobenes Teilziel, Art. 67 Abs. 3 AEUV Das Teilziel der Sicherheitsgewährleistung wird durch Art. 67 Abs. 3 AEUV in herausgehobener Art und Weise mit der strafjustiziellen Zusammenarbeit verknüpft. Es soll durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU verwirklicht werden. Zwar kann bereits die Förderung der Resozialisierung zu freiheitsentziehenden Sanktionen Verurteilter durch Vollstreckung der Sanktion in dem Staat, in dem sie ihren Lebensmittelpunkt haben, als ein Beitrag zur Sicherheitsgewährleistung verstanden werden. Denn die angestrebte Erhöhung der Resozialisierungschancen ist eine Maßnahme mit spezialpräventivem Charakter. Die Betonung der Sicherheitsgewährleistung zeigt sich aber auch in verschiedenen Details des Rahmenbeschlusses, die eine zumindest gleichwertige Fokussierung auf die Sanktionsdurchsetzung belegen. Dazu zählen insbesondere die starke Stellung des Urteilsstaates bei der Entscheidung über die Vollstreckungsübertragung und die Zurückdrängung des Zustimmungserfordernisses des Verurteilten. 64
Siehe dazu unten E., in diesem Kapitel.
C. Primärrechtliche Auslegungsmaßstäbe
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4. Sprachliche Aufwertung des Raumziels als Ausdruck der Wertegemeinschaft Die Ersetzung der Bezeichnung „Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres“ durch den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ kann auch als Betonung der Wertegemeinschaft der Union verstanden werden.65 Bedenkt man, dass die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte zu den Grundwerten der Union zählt,66 und die Förderung dieser Werte zu den Fundamentalzielen der Union gehört,67 so läge es nahe, dem Teilziel eines Raums des Rechts, vergleichbar dem deutschen Rechtsstaatsprinzip, zumindest auch einen materiellen Bedeutungsgehalt beizumessen. Dann wäre der Einfügung des neuen Zielterminus in das Primärvertragsrecht durch den Amsterdamer Vertrag zumindest ein Verweis auf die (ohnehin bestehende) Bedeutung der Grundrechte und der Rechtstaatlichkeit im Unionsrecht zu entnehmen. Wirft man allerdings einen Blick auf die ausformenden Politiken dieses Zieles in den Art. 67 ff. AEUV, so stellt aber man fest, dass es kein eigenständiges Kapitel über die Aufgaben und Kompetenzen der Union zur Grundrechtsgewährleistung gibt, vielmehr die Achtung der europäischen Grundwerte und individuellen Grundrechte – selbstverständlich – Maßstab und zugleich Begrenzung des unionalen Handelns auch in den unmittelbar der Erreichung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts dienenden Politikbereichen ist, wie Art. 67 Abs. 1 AEUV einleitend nochmals deklaratorisch betont. Nimmt man also die vertragssystematische Einordnung des Zieles der Gewährleistung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach dem Fundamentalziel der Förderung des Friedens, der Werte der Union (einschließlich der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit68) und des Wohlergehens ihrer Völker69 auf der einen und die ausformenden Politiken des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auf der anderen Seite in den Blick, so wird deutlich, dass es sich beim Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zwar um eine sprachliche Aufwertung von hohem symbolischen Wert handelt, im Kern jedoch die Absicherung der Freizügigkeit durch Gewährleistung innerer Sicherheit und Zugang zum Recht70 steht.71 65 Monar, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: von Bogdandy/ Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge2 (2009), S. 749 (758). 66 Art. 2 EUV. 67 Art. 3 Abs. 1 EUV. 68 Art. 2 S. 1 EUV. 69 Art. 3 Abs. 1 EUV. 70 Art. 67 Abs. 4 EUV. Die Vorschrift verweist jedoch nicht auf eine eigenständige ausformende Politik des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, sondern ist bei der Umsetzung in allen drei Bereichen – Zuwanderung, Asyl, Grenzen; ziviljustizielle Zusammenarbeit sowie Polizeiliche und strafjustizielle Zusammenarbeit zu beach-
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
Gleichwohl sind die Politiken des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ebenso wie die weiteren, in Art. 3 Abs. 3, 4 und 5 EUV aufgezählten operativen Hauptziele72 am Fundamentalziel der Union, zu dem die der Förderung der Grundrechte als einem zentralen Element der Grundwerte der Union gehören, auszurichten.73 Richtig ist auch, dass innerhalb dieser vier Hauptziele der Union der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ein besonderes Gewicht bei der Grundrechtswahrung zukommt, welche die Bündelung dieser unter dem einen hohen Symbolwert habenden Topos des Raums der Freiheit der Sicherheit und des Rechts rechtspolitisch zu rechtfertigen vermag, ohne die vertragssystematische Kontinuität zur früheren Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) zu durchbrechen. II. Grundrechte 1. Achtung der Menschenwürde und Wahrung der Menschenrechte als Grundwerte der EU Nicht nur Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV verpflichtet neben der Achtung der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten auch auf die Wahrung der Grundrechte. Schon die Präambel des Unionsvertrags in ihrem neu eingefügten zweiten und in ihrem vierten Absatz betont die Bedeutung des „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe[s] Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie die Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben,“ und bekennt sich zur „[. . .] Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit“. Dieses Bekenntnis spiegelt auch die neugefasste Grundwerteklausel in dem Art. 2 EUV des Unionsvertrages wider, die Maßstab für jedes unionsrechtlich determinierte Handeln ist.74
ten. Die Vorschrift streicht die seit der Lissabonner Vertragsreform betonte Stellung des Einzelnen als Begünstigten des der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts heraus. 71 Im Ergebnis ebenso Möstl, Rechtsgrundlagen und Rechtsbestand der Europäischen Sicherheitspolitik, in: Hatje/Nettesheim (Hrsg.), Sicherheit in der Europäischen Union, EuR Beiheft 3/2009, 33 (35 ff.), der treffend formuliert, man solle den Topos des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts als bündige Kurzformel für Grund und Grenzen der präzedenzlosen Integration in den Bereichen Justiz und Inneres begreifen. 72 Dies sind der Binnenmarkt, die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. 73 Zur Verknüpfung des Raumzieles der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts mit dem Fundamentalziel und der Grundwerteklausel der Union vgl. auch Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: Integrationswert für Bürger und Gesellschaft, Mitgliedstaaten und Union, integration 2012, 100 ff. 74 Vgl. zu diesen Grundwerten auch Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: Integrationswert für Bürger und Gesellschaft, Mitgliedstaaten und Union, integration 2012, 100 (104).
C. Primärrechtliche Auslegungsmaßstäbe
267
2. Grundrechtsgewährleistungen gemäß Art. 6 EUV Mit der Lissabonner Vertragsreform hat nunmehr auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union rechtliche Verbindlichkeit erlangt und ist den Verträgen rechtlich gleichrangig.75 Diese enthält, neben dem grundlegenden Bekenntnis zur Menschenwürde, auch ein Kapitel über Justizielle Rechte.76 Zudem wird die Europäische Union auf den Beitritt zur EMRK festgelegt77 und die Rechtsprechung des EuGH bestätigt, nach der die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze Teil des Unionsrechts sind.78 Soweit die Grundrechtecharta der EU Rechte enthält, die den in der EMRK garantierten Rechten entsprechen, haben die EU-Charta-Bestimmungen zumindest gleiche Bedeutung und Tragweite wie die EMRK-Rechte, können aber weitergehenden Schutz gewähren.79 Damit soll eine Kohärenz zwischen Unionsrecht und EMRK-Recht gewährleistet und ein Widerspruch zwischen der Rechtsprechung des EuGH und der des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vermieden werden.80 III. Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV: „[. . .] und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden“ Art. 67 AEUV greift als einleitende Vorschrift des Vertragstitels V die Zielbestimmung des Art. 3 Abs. 2 EU auf und konkretisiert die Verwirklichungswege zur Erreichung des Zieles der Gewährleistung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Art. 67 Abs. 1 AEUV bestimmt, dass „die Union [. . .] einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts [bildet], indem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden“. Der zweite Halbsatz benennt zwei das Ziel ergänzende Maßstäbe für die Verwirklichung der Politiken des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, nämlich einerseits die Achtung der Grundrechte und andererseits die Achtung der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten.
75 Art. 6 Abs. 1 EUV. Zum Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem vgl. etwa Lindner, Grundrechtsschutz in Europa – System einer Kollisionsdogmatik, EuR 2007, 160 ff. 76 Art. 1, Art. 46–50 EU-GRCh. 77 Art. 6 Abs. 2 EUV. 78 Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 6 Abs. 2 EU a. F. 79 Art. 51 Abs. 3 EU-GRCh. 80 Vgl. näher Paeffgen, Haus ohne Hüter? Die Justizgrundrechte im Mehr-EbenenSystem von EG-/EU-Vertrag, EMRK und Europäischem Verfassungsvertrags-Entwurf, ZStW 118 (2006), 275 ff.; Brummund, Kohärenter Grundrechtsschutz im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Einordnung von Titel V AEUV in das grundrechtliche Mehrebenensystem des Europäischen Verfassungsverbundes (2010).
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
An dieser Stelle soll der Frage nachgegangen werden, welcher Auslegungs-, Umsetzungs- und Anwendungsmaßstab aus der Verpflichtung zur Achtung der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten für den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung als einen Rechtsakt zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen ableitbar ist. Angesichts der bereits angesprochenen erheblichen Unterschiede im Bereich des Straf-, Strafverfahrens- und Strafvollstreckungsrechts zwischen den Mitgliedstaaten der EU81 ist diese Frage von erheblicher auch praktischer Relevanz. 1. Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV als lex specialis zu Art. 4 Abs. 2 EUV Sachlich konkretisiert Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV die allgemeine Bestimmung des Art. 4 Abs. 2 EUV,82 der die ursprünglich bereits mit dem Vertrag von Maastricht eingeführte Achtungsverpflichtung der Union gegenüber der nationalen Identität der Mitgliedstaaten aufgreift. Bereits Art. 4 Abs. 2 EUV differenziert diesen Schutz gegenüber dem bisherigen Art. 6 Abs. 3 EU i. d. F. des Amsterdamer Vertrages deutlich stärker aus.83 Die Schutzwirkung sowohl des Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV als auch des Art. 4 Abs. 2 EUV erlangt gerade dann praktische Bedeutung, wenn es nicht um allen Mitgliedstaaten gemeinsame Werte, sondern um mitgliedstaatliche Besonderheiten geht. Allerdings stellt Art. 4 Abs. 2 EUV ausdrücklich auf die grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen der Mitgliedstaaten ab und bezweckt damit nicht den Schutz jeglicher verfassungsrechtlichen Besonderheit, sondern schützt nur tatsächlich grundlegende, für das jeweilige politische System konstituierende Besonderheiten.84 Der Schutzbereich des Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV ist hingegen weniger eng formuliert: Die Union wird zur Achtung der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten verpflichtet. 81
Siehe insbesondere oben Einführung C.III. Röben, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union (Stand: August 2012), Art. 67 AEUV Rn. 90. Näher zu Art. 4 Abs. 2 EUV und dem daraus resultierenden Achtungsanspruch Walter, Integrationsgrenze Verfassungsidentität – Konzept und Kontrolle aus europäischer, deutscher und französischer Perspektive, ZaöRV 2012, 177 ff. 83 Art. 4 Abs. 2 EUV betont zudem die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Dies wird in der ordre public-Klausel des Art. 72 AEUV aufgegriffen, nach der die Bestimmungen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nicht die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit berühren. 84 Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV2 (2012), Art. 4 EUV Rn. 14. Vgl. zur potentiellen Begrenzung des Anerkennungskonzepts bei Verletzung mitgliedstaatlich-verfassungsrechtlicher Identität auch spiegelbildlich BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, verweisend auf Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3, Art. 1 Abs. 1 GG. 82
C. Primärrechtliche Auslegungsmaßstäbe
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2. Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV als Kompetenzausübungsmaßstab Art. 67 Abs. 1, 2. HS AEUV würde aber fehlverstanden, wenn die Klausel dazu herangezogen würde, jegliche Angleichung der Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten im Bereich des Straf-, Strafverfahrens- und Rechtshilferechts auszuschließen. Das wird spätestens dann deutlich, wenn die Klausel im Konnex mit Art. 67 Abs. 3 AEUV gelesen wird, nach dem die Union u. a. „durch gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch Angleichung der strafrechtlichen Bestimmungen ein hohes Maß an Sicherheit“ gewährleistet. Art. 82 Abs. 1 AEUV macht in wiederholender und Art. 67 Abs. 3 AEUV präzisierender Formulierung deutlich, dass neben der Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen auch die Rechtsangleichung zu den Verwirklichungswegen der strafjustiziellen Zusammenarbeit gehört. Die Inbezugnahme der unterschiedlichen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten in Art. 67 Abs. 1, 2. HS AEUV bildet daher vorrangig einen Kompetenzausübungsmaßstab für das inhaltliche Wie der Harmonisierung von mitgliedstaatlichem Straf-, Strafverfahrens- und Rechtshilferecht.85 Sie entscheidet regelmäßig nicht über die Frage, ob ein Rechtsakt erlassen werden darf, sondern darüber, wie weitgehend beziehungsweise in welche Richtung er harmonisierend ausgestaltet werden darf. Nur ausnahmsweise, nämlich dann, wenn die einzig denkbare Regelung des Unionssekundärrechts die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten gänzlich oder jedenfalls grob missachtet, wird die Vorschrift auch über das Ob einer Maßnahme entscheiden können. 3. Sachgebietliche Konkretisierung des Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV insbesondere durch Notbremsenmechanismen bei der Angleichung des materiellen Straf- und des Strafverfahrensrechts Die nach Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV geforderte Achtung der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten im Bereich des Strafrechts erfährt eine weitere Konkretisierung durch die in Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV geregelten sogenannten Notbremsenmechanismen. Mit Hilfe dieser Notbremsenmechanismen kann ein Mitgliedstaat den Erlass solcher alle Mitgliedstaaten bindenden harmonisierenden Regelungen verhindern, die das Straf-
85 Schumann/Soyer, Europäische Integration zwischen Binnenmarkt und Strafjustiz – Das Menschenbild im Strafrecht der Europäischen Union, in: Geist (Hrsg.), Das Menschenbild im Strafrecht (2010), 99 (119). In diesem Sinne auch GA Bots, Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-399/11, Melloni, ECLI: EU: C: 2012: 600 (Rn. 143).
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
verfahrensrecht (Art. 82 Abs. 2 AEUV) oder das materielle Strafrecht (Art. 83 AEUV) betreffen und die nach Auffassung dieses Mitgliedstaates grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren bzw. – genauer gesagt86 – verletzen würden. Macht ein Mitgliedstaat geltend, der Entwurf einer solchen harmonisierenden Richtlinie berühre grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung, so kann er beantragen, dass der Europäische Rat befasst wird. Das Gesetzgebungsverfahren ist auszusetzen. Kann auch im Europäischen Rat kein Einvernehmen herbeigeführt werden, so ist das Gesetzgebungsverfahren gescheitert. Eine Rechtssetzung mit bindender Wirkung für alle Mitgliedstaaten erfolgt nicht. Die mit dem Vertrag von Lissabon neu eingeführten Notbremsen kompensieren die gleichzeitig erfolgte Abschaffung des Einstimmigkeitserfordernisses bei der Rechtsharmonisierung im Bereich des materiellen Straf- und des Strafverfahrensrechts. Als Rückkompensation für den Notbremsenmechanismus ist jedoch der Zugang zu einer verstärkten Zusammenarbeit für die integrationswilligen Mitgliedstaaten erleichtert. Denn die erforderliche Genehmigung gilt als erteilt, wenn mindestens neun Mitgliedstaaten auf Grundlage des Richtlinienentwurfs eine verstärkte Zusammenarbeit begründen wollen.87 Dass die Mitgliedstaaten gerade im Bereich des Strafverfahrensrechts den verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten besondere Bedeutung beigemessen haben, macht die – allerdings nicht wortgleiche – Wiederholung dieses in Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV benannten Kompetenzausübungsmaßstabs in Art. 82 Abs. 2 AEUV deutlich, der mit den Sätzen 1 und 3 der Vorschrift die Angleichung bestimmter, ausdrücklich benannter Bereiche des Strafverfahrensrechts, soweit erforderlich, ermöglicht, in Satz 2 aber nochmals betont, dass dabei „die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigt“ werden. Die Notbremsenmechanismen sind zwar Konkretisierungen des in Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV verankerten Grundsatzes. Der Grundsatz bleibt jedoch auch jenseits dieser Konkretisierungen anwendbar.88
86 Zwar spricht der Vertragstext nur von einem „Berühren“, richtigerweise ist jedoch auf ein „Verletzen“ abzustellen. Denn würde die unionsrechtliche Regelung im Einklang mit der mitgliedstaatlichen Regelung stehen und diese nicht verletzen, so wäre es rechtsmissbräuchlich, würde der betroffene Mitgliedstaat vom Notbremsenmechanismus Gebrauch machen. Damit würde der Mitgliedstaat den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV verletzen. 87 Ausführlich dazu Schumann, Die Union, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Chancen und Risiken differenzierter Integration als Methode europäischer Zielerreichung, in: Leidenmühler/Eder/Leingartner/Winkler (Hrsg.), Grundfreiheiten – Grundrechte – Europäisches Haftungsrecht (2012), S. 257 (270 f.). 88 Röben, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union (Stand: August 2012), Art. 67 AEUV Rn. 93.
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze
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4. Schlussfolgerung: Vertraglich abgesichertes Gebot des Schutzes grundlegender Aspekte der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen Für die Zwecke der vorliegende Untersuchung sind drei Punkte festzuhalten: Erstens ist zu betonen, dass das Primärvertragsrecht mit Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV die grundsätzliche Schutzwürdigkeit der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten gerade im Bereich der Politiken zur Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts anerkennt. Dies schließt die prägenden Unterschiede zwischen den Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten ein. Zweitens ist nochmals festzuhalten, dass die Inbezugnahme der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten grundsätzlich einen Maßstab für die Sekundärrechtsausgestaltung und -umsetzung sowie für die Rechtsauslegung bildet und – nur äußerstenfalls – auch eine Grenze für gesetzgeberische Maßnahmen in Wahrnehmung der Kompetenzen, die in Titel V der Union eingeräumt worden sind, zieht. Drittens belegen auch die Notbremsenmechanismen bei der Harmonisierung des materiellen Straf- und des Strafverfahrensrechts, dass die vertragsschließenden Parteien die Möglichkeit zum Schutz grundlegender Aspekte der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen vor dem Zugriff integrativer Maßnahmen abgesichert wissen wollten. All diese Maßnahmen bilden Sicherungsmechanismen für den mitgliedstaatlichen ordre public im Bereich des Strafrechts und dienen als Ausgleich für die mit dem Lissabonner Reformvertrag vorgenommene Überführung der Regelungen zur strafrechtlichen Zusammenarbeit in den Bereich des supranationalen Rechts, mit der für den Regelfall das Einstimmigkeitserfordernis im Rat, also die Notwendigkeit eines Konsenses aller Mitgliedstaaten, aufgegeben wurde und mit der verbesserte Durchsetzungsmöglichkeiten getroffener Regelungen gegenüber den Mitgliedstaaten einhergehen.
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze Damit stellt sich die Frage nach dem Bestehen bzw. der primärvertraglich bedingten Notwendigkeit einer ordre public-Grenze, die den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen der Mitgliedstaaten begrenzen würde. Dieser Frage wird im vorliegenden Abschnitt nachgegangen werden. Zum besseren Verständnis ist zuvor jedoch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung als solcher näher zu untersuchen. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen dabei die Rechtsnatur und die Ausgestaltung des Grundsatzes in diesem Politikbereich der Sicherheitsgewährleistung durch strafjustizielle Zusammenar-
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
beit sowie die Analyse der Übertragung des ursprünglich im Binnenmarktrecht entwickelten, zwischenzeitlich aber in konzeptionell unterschiedlicher Gestaltung in weiteren Politiken der Union angewandten89 Grundsatzes auf die strafjustizielle Zusammenarbeit. Ziel der Untersuchung ist es, aufzuzeigen, dass nach dem derzeitigen Stand der Rechtsangleichung im Bereich des Strafrechts, aber auch nach den der Union nur im beschränkten Ausmaß übertragenen Kompetenzen zu einer solchen Rechtsangleichung,90 auch im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit eine gegenseitige Anerkennung nicht schrankenlos erfolgen kann. Vielmehr wird zu zeigen sein, dass sowohl das Primärvertragsrecht als auch die Konzeption des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung eine ausnahmsweise Begrenzung der Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen erfordern. Diese Begrenzung ist strukturell vergleichbar den primärvertraglich verankerten bzw. durch die Rechtsprechung herausgearbeiteten ungeschriebenen Gründen, die eine Anerkennung im Bereich der Grundfreiheiten beschränken können. Sie ähnelt ebenso der ordre public-Klausel, die in Art. 34 Nr. 1 der sogenannten Brüssel I-Verordnung91 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen geregelt ist, und aufgrund derer die Anerkennung einer solchen von einem anderen Mitgliedstaat gefällten Entscheidung zu versagen ist, wenn „die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde“. Die Feststellung, dass es eines die gegenseitige Anerkennung begrenzenden ordre public-Schutzes bedarf, zieht in der Folge die Frage nach sich, von welchem ordre public die Rede sein muss. Verallgemeinernd stehen sich in der Diskussion unter den Befürwortern einer ordre public-Grenze zwei gegensätzliche Auffassungen gegenüber.92 Während die einen den nationalen ordre public zur 89 Vgl. auch zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in der ziviljustiziellen Zusammenarbeit Hess, Mutual Recognition in the European Law of Civil Procedure, ZVglRWiss 11 (2012), 21 ff.; zum Steuerrecht Reimer, Taxation – An Area without Mutual Recognition?, ZVglRWiss 11 (2012), 38 ff.; zum Strafrecht Dannecker, Le Principe de reconnaissance mutuelle en matière pénale dans L’Union européenne, ZVglRWiss 11 (2012), 64 ff., sowie die zusammenführende Untersuchung von Müller-Graff, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Unionsrecht, ZVglRWiss 11 (2012), 72 ff. vgl. ferner Vernimmen-van Tiggelen/Surano, Analysis of the future of mutual recognition in criminal matters in the European Union, European Commission – DG Justice, Freedom and Security (2009). 90 Siehe dazu auch die vorstehenden Überlegungen insbesondere zu Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV. 91 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EU 2001 L 12/1, zuletzt geändert durch VO (EU) 2015/ 263, ABl. EU 2015 L 45/2. 92 Ausführlich dazu unten D.III., in diesem Kapitel.
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze
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Anwendung bringen wollen,93 plädieren die anderen für einen europäischen ordre public, der insbesondere an Art. 6 EUV und den dort in Bezug genommenen Grundrechtsstandards anknüpft.94 Wieder andere Stimmen in der Diskussion lehnen hingegen unter Verweis auf die angestrebte möglichst umfassende Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung jegliche ordre public-Beschränkung der Anerkennung ab.95 Diese Position allerdings ist schon an dieser Stelle abzulehnen; sie fokussiert zu stark die verfahrensrechtliche Folgefrage einer ordre public-Grenze, nämlich die mit ihr verbundene Frage nach den Möglichkeiten einer Überprüfung der strafjustiziellen Entscheidung eines Mitgliedstaates durch die Behörden des Vollstreckungsstaates im Rahmen der Anerkennung, und vernachlässigt die Frage, ob die materielle Rechtslage des Primärrechts nicht eine ordre public-Grenze der Anerkennung bedingt. Neben dieser vertragssystematischen und normhierarchischen Frage des Unionsrechts überzeugt auch die Annahme nicht, der Unionsgesetzgeber schließe kategorisch jedwede Ablehnung der Anerkennung der Vollstreckung einer strafjustiziellen Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates, die dem Anwendungsbereich eines entsprechenden Umsetzungsrahmenbeschluss unterfällt, aus. Vielmehr hat die Kommission schon in der Begründung des Ursprungsentwurfs des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl – aus hiesigem Verständnis deklaratorisch im Hinblick auf die Geltung der Unionsgrundrechte auch bei der Anwendung der Umsetzungsbestimmungen des mitgliedstaatlichen Rechts96 – ausgeführt, dass zwar die Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls im Rahmenbeschlussentwurf
93 Müller-Graff, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Unionsrecht, ZVglRWiss 111 (2012), 72 (83 f.); Ballegooij/Gonzales, Mutual Recognition an Judicial Decisions in Criminal Matters. A „Rule of Reason“ for Surrender Procedures?, in: Schrauwen (Hrsg.), Rule of Reason. Rethinking another Classic of European Legal Doctrine (2005), S. 161 (176 ff.); implizit auch Braum, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Historische Grundlagen und Perspektiven europäischer Strafrechtsentwicklung, GA 2005, 681 (694); für die Vollstreckungsübernahme explizit Satzger, Die Europäische Vollstreckungsübernahme, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für eine europäische Strafrechtspflege (2006), S. 146 (150 f.). 94 Böse, Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung unter dem Vertrag von Lissabon, in: Ambos (Hrsg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 45 (54); Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl (2007), S. 347 ff.; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union (2010), S. 216; Vogel, Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf Europäische Strafverfolgung, ZStW 116 (2004), 400 (412); Sieber, Die Zukunft des Europäischen Strafrechts – ein neuer Ansatz zu den Zielen und Modellen des europäischen Strafrechtssystems –, ZStW 121 (2009), 1 (35). Für die Begrenzung durch den europäischen ordre public wohl auch Herrnfeld, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar3 (2012), Art. 67 Rn. 24 ff. 95 Pohl, Vorbehalt und Anerkennung. Der Europäische Haftbefehl zwischen Grundgesetz und europäischem Primärrecht (2009), S. 127. 96 Siehe dazu oben C.II., aber auch unten D.V., jeweils in diesem Kapitel.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
abschließend aufgezählt seien, dies jedoch „[v]orbehaltlich der Anwendung der allgemeinen Bestimmungen über den Schutz der Grundrechte und insbesondere der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ gilt.97 Bei der grundsätzlichen Anerkennung einer ordre public-Grenze führt, wie zu zeigen sein wird, die allzu formale Unterscheidung zwischen europäischem und nationalem ordre public in die Irre. Vielmehr wird die Analyse des Primärrechts deutlich machen, dass der ordre public-Grenze ein Konzept zugrundeliegt, dass nationale Interessen mit einer unionsrechtlich determinierten Missbrauchskontrolle verknüpft. I. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen 1. Primärvertragliche Verankerung98 und Stellung im Gefüge der strafjustiziellen Zusammenarbeit Art. 67 Abs. 3 AEUV konkretisiert das in Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 Abs. 1 AEUV genannte Teilziel der Sicherheitsgewährleistung, indem er festlegt: „Die Union wirkt darauf hin, [. . .] durch gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung der strafrechtlichen Bestimmungen ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.“ In Art. 82 Abs. 1 AEUV wird die damit getroffene Festlegung des Wie der Zielverwirklichung aufgegriffen und differenzierter bestimmt, „[d]ie justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen und Urteile und umfasst die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten [. . .]“. In Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a AEUV werden sodann das Europäische Parlament und der Rat ermächtigt, im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens „Regeln und Verfahren festzulegen, mit denen die Anerkennung aller Arten von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen in der gesamten Union sichergestellt wird“. In Art. 82 Abs. 2 AEUV schließlich ist die Kompetenz zum Erlass von Mindestvorschriften zu bestimmten Aspekten des Strafverfahrens verankert. Diese Kompetenz reicht, wie die Vorschrift ausdrücklich klarstellt, „soweit dies zur Erleichterung der Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizei97
KOM(2001) 522 endg., S. 18. Der Grundsatz ist zudem in Art. 70 AEUV angesprochen, der – ohne eine Vorläuferregelung im früheren Unions-/Gemeinschaftsrechts gehabt zu haben – die Evaluation der Umsetzung der Unionspolitiken des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts mit dem Ziel der Förderung insbesondere der umfassenden Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung betrifft. Für die vorliegende Untersuchung ist diese Norm jedoch nicht von Bedeutung und bleibt daher außer Betracht. 98
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze
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lichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist“. Zur Erreichung des Zieles der Sicherheitsgewährleistung sollen gemäß Art. 67 Abs. 3 AEUV Regelungen für eine intensivierte grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizei- und Justizbehörden geschaffen werden, in die eigens geschaffene europäische Institutionen wie das Europäische Polizeiamt Europol und Eurojust als sein Pendant auf der justiziellen Ebene einzubeziehen sind. Zugleich wird die Union ermächtigt zur Mindestharmonisierung mitgliedstaatlichen Rechtshilfe-, Straf- und Strafverfahrensrechts.99 Mit dem Verweis auf die Erforderlichkeit einer solchen Angleichung und Harmonisierung erfolgt aber auch eine Gewichtung der Methoden von Kooperation, namentlich der gegenseitigen Anerkennung von strafjustiziellen Entscheidungen auf der einen und der Rechtsharmonisierung auf der anderen Seite. Der Kooperation wird gegenüber der Harmonisierung der Vorrang eingeräumt. Deutlich kommt dies in der Kompetenznorm des Art. 82 AEUV zum Ausdruck, der in Abs. 1 UAbs. 1 betont, „[D]ie justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und umfasst die Angleichung der Rechtsvorschriften in den in Absatz 2 und Artikel 83 genannten Bereichen.“ 100 Anerkennung ist Grundlage, Rechtsangleichung ist notwendiger Teil der Kooperation.101 Während allerdings für das Strafverfahrensrecht die in Art. 67 Abs. 3 AEUV verlangte Erforderlichkeit der Rechtsangleichung durch Art. 82 Abs. 2 AEUV klar auf die Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung bezogen ist, kann sich die Erforderlichkeit der Harmonisierung materiellen Strafrechts auch aus anderen Gründen ergeben.102 Deutlich wird dies vor allem bei der sogenannten strafrechtlichen Annexkompetenz nach Art. 83 Abs. 3 AEUV,103 die den Erlass strafrechtsangleichender Richtlinien gestattet, wenn sich dies als unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind, erweist. Die Erforderlichkeit der Anglei99
Art. 67 Abs. 3, 82 ff. AEUV. Kursivsetzung durch den Verfasser. 101 Obgleich Art. 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV für die Angleichung von Rechtsvorschriften nur auf Art. 82 Abs. 2 und Art. 83 AEUV verweist, ermächtigt auch Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV zu rechtsharmonisierenden Maßnahmen. Nichts anderes ist die Einführung gemeinsamer rechtshilferechtlicher Regelungen in Umsetzung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung. 102 A. A. offenbar Satzger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV2 (2012), Art. 83 Rn. 3 AEUV, der auch der Harmonisierung des materiellen Strafrechts eine lediglich dienende Rolle gegenüber dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen beimisst. 103 Mit dieser Kompetenznorm wird die frühere Rechtsprechung des EuGH, Rs. C176/03, Umweltrahmenbeschluss, Slg. 2005, I-7879 ff., sowie EuGH, Rs. C-440/05 Rahmenbeschluss Meeresverschmutzung, Slg. 2007, I-9097 ff., aufgegriffen. 100
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
chung des materiellen Strafrechts ergibt sich hier aus der Effektuierung von Maßnahmen, die in einem anderen Politikbereich ergangen sind; sie ist nicht primär auf das Funktionieren des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen gerichtet. Gleichwohl erleichtert auch eine Harmonisierung materiellen Strafrechts die gegenseitige Anerkennung. 2. Von der programmatischen Leitlinie zum primärrechtlichen Rechtsprinzip in der strafjustiziellen Zusammenarbeit Für die Unionspolitik der strafjustiziellen Zusammenarbeit wurde der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung erst mit der Lissabonner Vertragsreform explizit in den Primärverträgen verankert. Anders als in den soeben vorgestellten Vorschriften war in den bis zum Inkrafttreten dieser Reform geltenden Vertragstexten nicht ausdrücklich der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen als der Weg zur Erleichterung und Beschleunigung der strafjustiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der EU normiert.104 Ein entsprechender Verweis fehlt sowohl in den Zielbestimmungen der Art. 2 UAbs. 1, 4. Spiegelstrich und Art. 29 EU i. d. F. des Amsterdamer Vertrages sowie Art. 61 lit. a, e EG als auch in der Kompetenznorm des Art. 31 EU i. d. F. des Amsterdamer Vertrages. a) Programmatische Leitentscheidung des Europäischen Rates für die sekundärrechtliche Ausgestaltung der strafjustiziellen Zusammenarbeit Allerdings wurden zehn Jahre vor der „Vergemeinschaftung“ der strafjustiziellen Zusammenarbeit durch den Lissabonner Reformvertrag die Bestimmungen über die Politiken in den Bereichen Justiz und Inneres durch den Vertrag von Amsterdam schon einmal grundlegend reformiert. Dies hatte der Europäische Rat in Wahrnehmung seiner Aufgabe und Kompetenz zur Festlegung der allgemeinen politischen Zielvorstellungen zum Anlass genommen, um auf seiner Tagung in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999105 im Rahmen des auf fünf Jahre 104 Vgl. zur Entwicklung auch Juppe, Die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen in Europa. Historische Grundlagen – Aktuelle und zukünftige Problembereiche (2007). 105 Zuvor hatte der Europäische Rat schon auf seiner Tagung in Cardiff am 15. und 16. Juni 1998 den Rat ersucht, die Möglichkeiten für eine weitergehende gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen von Gerichten der jeweils anderen Mitgliedstaaten zu ermitteln, um so eine engere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Kriminalitätsbekämpfung zu ermöglichen, vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes zur Tagung des Europäischen Rates in Cardiff am 15 und 16. Juni 1998, Tz. 39: „Der Europäische Rat hebt die Bedeutung einer wirkungsvollen justitiellen Zusammenarbeit zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität hervor. Er erkennt an, daß die Befähigung der einzelstaatlichen Rechtssysteme zu enger Zusammenarbeit gestärkt werden muß, und ersucht den Rat, die Möglichkeiten für eine weitergehende gegenseitige
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze
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angelegten sogenannten Tampere-Programms106 den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zum „Eckstein der strafjustiziellen Zusammenarbeit“ zu bestimmen.107 Durch die Verankerung im Tampere-Programm erlangte der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit jedoch keine normative Rechtsverbindlichkeit für die Mitgliedstaaten, vielmehr hatte er programmatischen Charakter, an dem sich die an der Rechtsetzung beteiligten Organe zu orientieren hatten. Diese rechtliche Einordnung ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 EU a. F. (nunmehr Art. 15 Abs. 1 S. 1 EUV, konkretisiert durch Art. 68 AEUV) wonach der Europäische Rat der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse gibt und die allgemeinen politischen Zielvorstellungen festlegt. Der Rat wird damit nicht gesetzgeberisch tätig, die programmatischen Festlegungen entfalten also keine allgemeine normative Wirkung, wie Art. 15 Abs. 1 S. 2 EU nunmehr ausdrücklich klarstellt, wie aber auch schon für Art. 4 Abs. 1 EU a. F. galt.108 Zur Umsetzung des Tampere-Programms sowie des nachfolgenden Haager Programms aus dem Jahre 2004109 und schließlich des Stockholmer Programms Anerkennung der Entscheidungen von Gerichten der jeweils anderen Mitgliedstaaten zu ermitteln.“, abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/summits/car1_de.htm (29.12.2012). Zugleich hat der Europäische Rat den Rat und die Kommission aufgefordert, einen Aktionsplan vorzulegen, wie die Bestimmungen Raumes des Amsterdamer Vertrags über den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts am besten umzusetzen seien, vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes zum Europäischen Rat von Cardiff am 15. und 16. Juni 1998, Tz. 48. Im daraufhin erstellten sogenannten Wiener Aktionsplan, vgl. Aktionsplan des Rates und der Kommission zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags über den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, ABl. EU 1999 C 19/1, den der Rat am 3. Dezember 1998 angenommen und der Europäischen Rat auf seiner Tagung am 10./ 11. Dezember 1998 ausdrücklich gebilligt hat, wurde die „Einleitung eines Prozesses im Hinblick auf die Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen und ihrer Vollstreckung“ binnen zwei Jahren nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages gefordert, ABl. EU 1999 C 19/1, Tz. 45 lit. f. Binnen fünf Jahren sollten Maßnahmen ergriffen werden zur Prüfung der Frage, ob die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei der Strafvollstreckung verbessert werden könne, ABl. EU 1999 C 19/1, Tz. 49 lit. c. 106 Nicht im Amtsblatt der EU veröffentlicht, jedoch abrufbar unter http://www. europarl.europa.eu/summits/tam_de.htm (06.10.2012). 107 Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Europäischer Rat (Tampere), 15. und 16.10. 1999, Tz. 33, 35 ff. 108 So die herrschende Meinung, vgl. nur Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV4 (2011), Art. 15 EUV Rn. 12 ff. Hingegen sehen Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV2 (2012), Art. 15 EUV Rn. 3, und Pechstein/König, Die Europäische Union3 (2000), Rn. 175 ff. (177, 225) eine Rechtsverbindlichkeit gegenüber dem Rat als gegeben an. Zur praktischen Bedeutung des Meinungsstreits vgl. auch Suhr, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV4 (2011), Art. 68 AEUV Rn. 4 f. 109 Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, ABl. EU 2005 C 53/1.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
aus dem Jahre 2009110 haben Rat und Kommission weitere konzeptionelle Überlegungen in Form von primärvertraglich nicht definierten, damit sogenannten atypischen Handlungsformen – Mitteilungen, Maßnahmen- und Aktionspläne sowie Grünbücher – vorgelegt.111 Mangels normativen Charakters konnten auch diese Organhandlungen keine Auswirkung auf die rechtliche Einordnung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung entfalten.112 b) Rechtsverbindlichkeit und Ausgestaltung des Grundsatzes durch Sekundärrechtssetzung und durch Rechtsprechung des EuGH Konzeptionell besagt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen, dass strafrechtliche Entscheidungen der Justizbehörden eines Mitgliedstaates von den Justizbehörden eines anderen Mitgliedstaates grundsätzlich anzuerkennen sind. Bemerkenswert ist, dass im Tampere-Programm selbst keine weitere konzeptionelle Ausgestaltung des Anerkennungsgrundsatzes vorgenommen wird. Erst in der nachfolgenden Mitteilung der Kommission findet sich der ausdrückliche Verweis darauf, dass innerhalb der Rechts- und Werte110 Das Stockholmer Programm – ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutze der Bürger, ABl. EU 2010 C 115/1. 111 Dazu zählen u. a. die auf der informellen Tagung der Justiz- und Innenminister v. 28. und 29. Juli 2000 in Marseille festgelegten Leitlinien für die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung sowie die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Gegenseitige Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen, KOM(2000) 495 endg., das vom Rat beschlossene Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen, ABl. EU 2001 C12/10, und die 2005 veröffentlichte Mitteilung der Kommission an den Rat und an das europäische Parlament zur gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen und zur Stärkung des Vertrauens der Mitgliedstaaten untereinander, KOM(2005) 195 endg. Vgl. zu diesen, soweit sie die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung bei der Strafvollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen betreffen, oben Teil 1 Kapitel 3 A. 112 Vgl. etwa zur Handlungsform der Mitteilung Adam, Die Mitteilungen der Kommission: Verwaltungsvorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts? Eine Untersuchung zur rechtsdogmatischen Einordnung eines Instruments der Kommission zur Steuerung der Durchführung des Gemeinschaftsrechts (1999). Während bei rechtsaktsinterpretierenden Mitteilungen der Kommission, wie sie etwa aus dem Bereich des Wettbewerbsrechts, vgl. Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EU 2006 C 298/17, aber auch für die Berechnung der Pauschalbeträge und Zwangsstrafen, vgl. Mitteilung der Kommission zur Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag, SEK(2005) 1658; Mitteilung der Kommission Aktualisierung der Daten zur Berechnung der Pauschalbeträge und Zwangsgelder, die die Kommission dem Gerichtshof bei Vertragsverletzungsverfahren vorschlägt, KOM (2012) 6106 endg., im sog. zweiten Vertragsverletzungsverfahren, Art. 260 Abs. 1, 2 AEUV, bekannt sind, im Wege des Vertrauensschutzes eine Selbstbindung der Kommission entstehen kann, bleiben die hier einschlägigen, im Vorfeld von Rechtsetzungsprozessen ergangenen Mitteilungen unverbindlich. Rat und – nach Inkrafttreten der Vertragsreform nunmehr auch das Europäische Parlament als echter Mitgesetzgeber – können durch diese Mitteilungen nicht in ihrer gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit, deren Grenzen durch die Primärverträge bestimmt werden, beeinträchtigt werden.
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze
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gemeinschaft Europäische Union die Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates als gleichwertig zu einer eigenen innerstaatlichen Entscheidung anzusehen sei und der Anerkennungsgrundsatz daher auf einem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten beruhe.113 Der Grundsatz soll für justizbehördliche Entscheidungen aller Art bzw. in allen Verfahrensabschnitten gelten;114 seien dies nun verfahrensbeendigende verurteilende115 oder freisprechende Erkenntnisse oder aber Entscheidungen innerhalb eines Verfahrens. Dazu zählen Anordnungen zur Sicherstellung oder Einziehung von Vermögensgegenständen, Tatwerkzeugen, Erträgen aus Straftaten und Beweismitteln,116 Europäische Haftbefehle,117 und Beweisanordnungen.118 113 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament – Gegenseitige Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen, KOM(2000) 495 endg., S. 4 f. Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 3 A.I.1. 114 Das Stockholmer Programm – ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutze der Bürger, ABl. EU 2010 C 115/1 (12); Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament und den Rat: Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger, KOM(2009) 262 endg., S. 11. 115 Vgl. den in der vorliegenden Arbeit in Bezug genommenen Rahmenbeschluss 2008/909/JI sowie Rahmenbeschluss 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen, ABl. EU 2008 L 337/102. 116 Umgesetzt durch den Rahmenbeschluss 2003/577/JI über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union, ABl. EU 2003, L 196/45; den Rahmenbeschluss 2005/ 212/JI des Rates vom 24.02.2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten, ABl. EU 2005 L 68/49, sowie den Rahmenbeschluss 2006/783/JI des Rates vom 6.10.2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen, ABl. EU 2006, L 328/59 und die Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der EU, ABl. EU 2014 L 127/39. 117 Umgesetzt durch den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. EU 2002 L 190/1. Dazu etwa Alegre/Leaf, European Arrest Warrant – a solution ahead of time? (2003); Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007); Rohlffs, Der Europäische Haftbefehl (2003); Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl (2008); Unger, Schutzlos ausgeliefert? Der Europäische Haftbefehl (2005); Zeder, Der Europäische Haftbefehl: das Ende der Auslieferung in der EU, AnwBl 2003, 376; Blekxtoon/Ballegooij (Hrsg.), Handbook on the European Arrest Warrant (2004). Vgl. ferner EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633 ff.; BVerfG 113, 273 ff. 118 Teilweise umgesetzt durch Rahmenbeschluss 2008/978/JI des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen, ABl. EU 2008 L 350/72. Dazu Mavany, Die Europäische Beweisanordnung und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung (2012). Ausführlich zur Problematik des transnationalen Beweisverkehrs Gleß, Beweisrechtsgrundsätze einer grenzüberschreitenden Strafverfolgung (2006), siehe auch Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren: Das Prinzip gegenseitiger Anerkennung
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
Erst durch die sekundärrechtliche Umsetzung der programmatischen Leitlinien des Europäischen Rates hat der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Politikbereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit Rechtsverbindlichkeit für die Mitgliedstaaten erlangt. Als erster Sekundärrechtsakt zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen wurde der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl im Jahre 2002 erlassen.119 Dieser hat die anhand des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung bereits aufgezeigte Grundstruktur der sekundärrechtlichen Ausgestaltung120 dieses Grundsatzes eingeführt. Sie ist durch die Ausgestaltung als rein justizielles Verfahren, die Verfahrensbeschleunigung durch Formalisierung und kurze Entscheidungsfristen, die grundsätzlich zwingende Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung ohne eine inhaltliche Kontrolle sowie der Versagung nur unter Berufung auf eine enumerative Liste von Ablehnungs- und Versagungsgründen geprägt. Das Vorliegen einer beiderseitigen Strafbarkeit wird nicht als zwingende Voraussetzung der Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung eingeordnet. Für die Katalogtaten und bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen ist die Versagung der Anerkennung einer Entscheidung unter Berufung auf ein Fehlen beiderseitiger Strafbarkeit vielmehr ausdrücklich ausgeschlossen. Ob der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl jenseits dieser ausdrücklich benannten Versagungsgründe Raum für eine Versagung der Anerkennung und Vollstreckung wegen Verletzung des ordre public lässt, ist ebenso umstritten wie die daran anschließende Frage, welcher ordre public-Maßstab einschlägig wäre.121 Damit wird deutlich, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen erst durch die sekundärrechtliche Ausgestaltung seine tatsächliche Gestalt erlangt hat. Die Ausgestaltung ist zwar im eben nochmals wiederholten Grundmuster für alle Rahmenbeschlüsse zur Umsetzung des Grundsatzes vergleichbar. Im Detail ist die Ausgestaltung jedoch in den einzelnen Rechtsakten unterschiedlich, teils bedingt durch den Regelungsgegenstand des einzelnen Rahmenbeschlusses,122 teils aber auch in evolutiver Fortentwicklung der mit dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl eingeführten Grundstruktur. Letzteres gilt etwa für die kritikwürdige123 Abschaffung zwingender Ablehnungsgründe zugunsten ausschließlich fakultativer Versagungsgründe. im europäisierten Strafverfahren am Beispiel von Auslieferung und Beweismitteltransfer (2010). 119 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. EU 2002 L 190/1. 120 Siehe oben Teil 1 Kapitel 3 E. 121 Siehe dazu unten D.III., in diesem Kapitel, mit entsprechenden Nachweisen. 122 So etwa die Anpassung der Liste der Katalogtaten, vgl. dazu unten Teil 2 Kapitel 2 A. III. 123 Siehe dazu unten Teil 2 Kapitel 2 D.II.1.
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Anzumerken bleibt, dass bereits vor der Umsetzung der im Tampere-Programm gesetzten Leitlinien Regelungen gegenseitiger Anerkennung im Unionssekundärrecht zur strafjustiziellen Zusammenarbeit geschaffen wurden. So enthielt das Übereinkommen der Europäischen Union über den Entzug der Fahrerlaubnis vom 17. Juni 1998124 drei Möglichkeiten der Vollstreckung der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates über den Entzug der Fahrerlaubnis, die dem Wohnsitzstaat zur Auswahl standen: Erstens kam die unmittelbare Vollstreckung der Entscheidung des anderen Mitgliedstaates in Betracht,125 zweitens die Vollstreckung mittels einer Entscheidung einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde, also durch Adoptionsentscheidung, erforderlichenfalls verbunden mit der Herabsetzung der Dauer des Entzugs der Fahrerlaubnis auf das nach dem Recht des Wohnsitzstaates zulässige Höchstmaß,126 oder schließlich, drittens, die Umwandlung der Entscheidung durch eine Entscheidung einer Justiz- und Verwaltungsbehörde des Vollstreckungsstaates, die so die Entscheidung des anderen Mitgliedstaates ersetzt, also eine Exequatur.127 Die unmittelbare Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung ist also nur eine, aber nicht die einzige Möglichkeit der vorgesehenen Möglichkeiten zum Umgang mit der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates, die Anerkennung der Entscheidung so weit als möglich in der vom Entscheidungsstaat getroffenen Form in diesem Rechtsakt daher kein Grundsatz.128 Andererseits erfasst das Übereinkommen nicht nur justizielle, sondern auch verwaltungsbehördliche Entscheidungen.129 Auch die Verankerung des ne bis in idem-Grundsatzes in Art. 54 ff. des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) vom 19. Juli 1990 stellt eine rechtliche Verankerung der Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen eines anderen Mitgliedstaates dar, die bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen zwingend ist. Mit dem Schengen-Protokoll zum Amsterdamer Vertrag wurde der ursprünglich auf völkerrechtlicher Grundlage außerhalb des primärvertraglichen Rahmens der Unionsrechts geschaffene Rechtsbestand des Schengen-Rechts in den aquis der Union integriert.130 Gerade Grundsatz des ne bis in idem hat seine konkrete Gestalt nicht nur durch die rechtlichen Bestimmungen der Art. 54 ff. SDÜ, und zudem Art. 50 EU-GRCh seit dem Inkrafttreten des Lissabonner Re-
124 Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Entzug der Fahrerlaubnis, ABl. EU 1998 C 216/2. 125 Art. 4 Abs. 1 lit. a des Übereinkommens. 126 Art. 4 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 des Übereinkommens. 127 Art. 4 Abs. 1 lit. c, Abs. 3 des Übereinkommens. 128 Kritisch zu dieser Wahlmöglichkeit KOM(2004) 334 endg., S. 51. 129 Vgl. Art. 1 lit. a des Übereinkommens. 130 Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand, ABl. EU 2010 C 83/210.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
formvertrages, sondern durch deren Auslegung in der Rechtsprechung des EuGH erlangt.131 c) Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung als primärvertragliches Ziel und Methode132 Indem in Art. 67 Abs. 3 AEUV normiert ist, „durch die gegenseitige Anerkennung [. . . solle] ein hohes Maß an Sicherheit“ 133 gewährleistet werden, macht der Wortlaut des Primärvertragsrechts deutlich, dass die gegenseitige Anerkennung, auf der die strafjustizielle Zusammenarbeit „beruht“, dem Ziel der Sicherheitsgewährleistung dient und damit die von den Herren der Verträge vorgegebene primäre Methode dieser Zusammenarbeit darstellt. Die Einordnung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung als Methode schließt nicht aus, die Verwirklichung des Grundsatzes zugleich als ein Ziel der Union zu begreifen.134 Denn mit der primärrechtlichen Verankerung des Grundsatzes haben die Vertragsparteien deutlich gemacht, dass nach ihrem Verständnis das angestrebte hohe Maß an Sicherheit gerade auf diesem Weg zu verwirklichen ist. Die primärvertragliche Entscheidung für die Umsetzung des Grundsatzes verpflichtet die Organe, die dafür notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um diesen Grundsatz möglichst umfassend zu verwirklichen. Der Verwirklichungsweg wird gleichsam selbst zum Ziel.135 Dient der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Gewährleistung eines hohen Maßes an Sicherheit, so muss sich die sekundärrechtliche Ausgestaltung an diesem Ziel der Sicherheitsgewährleistung orientieren. Allerdings kann die Sicherheitsgewährleistung, wie in diesem Kapitel bereits gezeigt, nicht der ausschließliche Bezugspunkt dieser sekundärrechtlichen Umsetzung sein. Unabhängig davon, ob man ein weites wertebezogenes Verständnis des Zieles der Errichtung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vertritt, oder aber – mit Blick auf die ausformenden Politiken – ein eher enges, primär auf die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres fokussiertes Begriffsverständnis zugrundelegt, entfalten die Grundwerte der Union ebenso wie die unions131
Näher dazu unten Teil 2 Kapitel 2 D.II.1. Zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen in rechtstheoretischem Verständnis vgl. Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union? (2010), S. 103 ff. 133 Kursivsetzung durch den Verfasser. 134 Müller-Graff, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Unionsrecht, ZVglRWiss 11 (2012), S. 72 (76); Möstl, Preconditions and Limits of Mutual Recognition, CMLRev 47 (2010), 405 (410). 135 Dies hat Konsequenzen für die Subsidiaritätsprüfung. Das Subsidiaritätserfordernis als Kompetenzausübungsschranke wird dadurch weitgehend entwertet; übrig bleibt lediglich die frühzeitige Einbindung und Sensibilisierung der mitgliedstaatlichen Parlamente im Rahmen des Frühwarnmechanismus. Näher dazu oben B.I., in diesem Kapitel. 132
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rechtlich garantierten Grundrechte zwingende Maßstabswirkung für die sekundärrechtliche Ausgestaltung der gegenseitigen Anerkennung. Ebenso ist die Verpflichtung zur Achtung der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen stets im Blick zu halten.136 Zusammenfassend ist festzuhalten: Eine nähere konzeptionelle Ausgestaltung erfährt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen weder im Tampere-Programm noch im revidierten Vertragsprimärrecht. Seine tatsächliche Gestalt erlangt er erst durch die Ausgestaltung der ihn umsetzenden Sekundärrechtsakte. Entsprechend interpretiert auch der EuGH den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung anhand der Vorschriften des jeweiligen Rechtsaktes, mit dem die gegenseitige Anerkennung einer bestimmten Kategorie strafrechtlicher Entscheidungen festgeschrieben werden soll.137 Die sekundärrechtliche Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen muss sich ebenso wie die Anwendung der mitgliedstaatlichen Umsetzungsrechtsakte am Sicherheitsziel, an der Wahrung der Grundwerte der EU und der Grundrechte des Einzelnen und an der Achtung der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten orientieren. 3. Übertragung binnenmarktrechtlicher Methodik: Förderung der grenzüberschreitenden Privatinitiative versus transnationale Anerkennung und Durchsetzung von Hoheitsgewalt138 Integrationsgeschichtlich ist der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung auf den Gemeinsamen Markt zurückzuführen, mit dessen Ausgestaltung und Absicherung sich der EuGH in der Entscheidung Cassis de Dijon aus dem Jahr 1979 auseinandergesetzt hat.139 In diesem Fall ging es um den Import eines französischen Likörs in die Bundesrepublik Deutschland. Das Inverkehrbringen des Likörs in der Bundesrepublik Deutschland wurde unter Verweis darauf untersagt, dass der Likör nicht den nach deutschem Recht erforderlichen Mindestalkoholgehalt von 25% besaß. Der deutsche Verbraucher müsse, so die Argumentation der deutschen Regierung im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, aus Gründen des Gesundheit und Verbraucherschutzes darauf vertrauen können, dass ein solcher Alkoholgehalt gewährleistet sei. In seiner Entscheidung stellte der EuGH 136
Näher dazu siehe oben Teil 2 Kapitel 1 C. Vgl. z. B. EuGH, Rs. C-123/08, Wolzenburg, Slg. 2009, I-9621 ff. (Rn. 57). 138 Ausführlich zur Übertragung binnenmarktrechtlicher Methodik in den Bereich strafjustizieller Zusammenarbeit Schumann/Soyer, Zur Konzeption europäischer Integration zwischen Binnenmarkt und Strafjustiz, in: Geist (Hrsg.), Das Menschenbild im Strafrecht (2010), S. 99 (103 ff.). 139 EuGH, Rs. 120/78, Rewe-Zentral-AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649 ff. 137
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zunächst fest, dass das deutsche Importverbot nicht unmittelbar oder mittelbar an der Herkunft des Likörs aus einem anderen Mitgliedstaat anknüpfte, also keine Diskriminierung darstellte. Das Importverbot sah er jedoch als geeignet an, den Marktzutritt von Waren aus einem anderen Mitgliedstaat beschränken.140 Dass ein solches Marktzugangshindernis ebenfalls gegen die Warenverkehrsfreiheit verstößt, hatte der EuGH bereits zuvor in der Rechtssache Dassonville141 festgestellt. Grundfreiheiten sind also nicht nur Diskriminierungs- sondern darüber hinaus Beschränkungsverbote.142 Während im Binnenmarkt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Durchsetzung der Wahrnehmung der Grundfreiheiten und damit der wirtschaftlichen Privatinitiative als Motor der Integration dient, zielt die gegenseitige Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen auf die Anerkennung von Hoheitsgewalt ab. Der Einwand, die gegenseitige Anerkennung entfalte im Bereich des Strafrechts faktisch eine freiheitsbeschränkende Wirkung,143 ist in einer Vielzahl von Fällen nicht von der Hand zu weisen. Allerdings kommt es auf die einzelne strafjustizielle Entscheidung und die Zielrichtung und Wirkung der Anerkennung an. So kann die Anerkennung ein und derselben verurteilenden Entscheidung sowohl auf die Durchsetzung der Sanktion abzielen als auch vor erneuter Strafverfolgung schützen: In einem Fluchtfall etwa könnte eine Europäische Vollstreckungsanordnung oder ein Europäischer Haftbefehl zur Strafvollstreckung erlassen werden. In beiden Fällen zielt die Anerkennung der Entscheidung auf Durchsetzung der Sanktion ab. Die Anerkennung dieser Entscheidung kann aber bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen144 über den transnationalen ne bis in idemGrundsatz auch vor weiterer Strafverfolgung schützen und damit freiheitsbewahrend wirken. Als Konzept ist der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen neutral;145 erst mit seiner inhaltlichen Aufladung wirkt er sanktionsdurchsetzend oder aber freiheitsbewahrend.146 Prima facie steht allerdings die freiheitsbeschränkende Wirkung im Vordergrund der bisherigen
140 EuGH, Rs. 120/78, Rewe-Zentral-AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, S. 649 (Rn. 6 ff.). 141 EuGH, Rs. 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837 ff. (Rn. 2/4 ff.). Vgl. auch zur parallelen Problematik im Berecih der Dienstleistungsfreiheit EuGH, Rs. 33/74, van Binsbergen, Slg. 1974, 1299 ff. (Rn. 10/12 ff.). 142 Zur Verallgemeinerung des Konzepts des Beschränkungsverbots vgl. Reichelt, Die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts im Lichte von Liberalisierung und Konvergenz (2005). 143 Vgl. etwa Nettesheim, Grundrechtskonzeptionen des EuGH im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, EuR 2009, 24 (40 f.). 144 Siehe dazu unten Teil 2 Kapitel 3 A.II.1., insbesondere auch zur Frage der Notwendigkeit eines Vollstreckungselements. 145 Gleß, Zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, ZStW 116 (2004), 353 (354). 146 Pohl, Vorbehalt und Anerkennung. Der Europäische Haftbefehl zwischen Grundgesetz und europäischem Primärrecht (2009), S. 76.
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Maßnahmen gegenseitiger Anerkennung, weshalb das von den EU-Organen propagierte gegenseitige Vertrauen als Grundlage der Anerkennung nicht hinreichen kann, manche vielmehr sogar ein grundsätzliches Misstrauen fordern.147 Diese Ambivalenz widerstreitet jedoch der Idee eines Anerkennungsgrundsatzes im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit nicht grundsätzlich. Sie ist vielmehr bei deren sekundärrechtlicher Ausgestaltung und der Ausrichtung an den zuvor benannten primärrechtlichen Maßstäben148 im Blick zu halten. II. Notwendige Begrenzung des Anerkennungskonzepts 1. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung als Methode negativer Integration Im Binnenmarkt ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung eine der wesentlichen Stützen der Methode der negativen Integration,149 mit deren Hilfe ohne Rechtsangleichung Handelsschranken zwischen den Mitgliedstaaten abgebaut werden können. Rechtliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten werden im Rahmen der Anerkennung nicht einfach durch Harmonisierung beseitigt, sondern auf verfahrensrechtlichem Wege mit dem Freizügigkeitskonzept des Binnenmarktes in Einklang gebracht.150 Die Kommission hat das vom EuGH entwickelte Konzept in ihrem Weißbuch „Vollendung des Binnenmarktes“ aufgegriffen und darauf gesetzt, dass an die Stelle einer aufwendigen Detailharmonisierung von Produktzulassungsregelungen durch Gemeinschaftsrechtsetzung die wechselseitige Anerkennung der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Produktzulassungsregelungen, wie sie bestehen, als gleichwertig tritt.151 Auch für die strafjustizielle Zusammenarbeit wurde auf dem Gipfel von Cardiff die gegenseitige Anerkennung als Alternative zur drohenden Harmonisierung in Stellung gebracht. Dieses scheinbare Alternativverhältnis zwischen materiell-rechtlicher Harmonisierung und gegenseitiger Anerkennung spiegelt sich vereinzelt auch im Sekundärrecht der früheren Dritten Säule wider. So gibt die Gemeinsame Maßnahme 96/443/JI zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit152 in Titel I A den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, zwischen 147 Namentlich Nettesheim, Grundrechtskonzeptionen des EuGH im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, EuR 2009, 24 (40 f.). 148 Siehe oben C., in diesem Kapitel. 149 Schroeder/Müller, Das Recht des Binnenmarktes, in: Wagner/Wedl (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven zum europäischen Recht (2007), S. 87 (89). 150 Schroeder, Hintergrund, Ziele und Ausformung von Anerkennungs- und Herkunftslandprinzip, in: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht (Hrsg.), Anerkennungs-/Herkunftslandprinzip in Europa (2009), S. 5. 151 Weißbuch der Europäischen Kommission zur Vollendung des Europäischen Binnenmarktes, KOM(85) 310, Tz. 57 ff. 152 ABl. EU 1996 L 185/5.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
einer Harmonisierung des einschlägigen materiellen Strafrechts oder einem Verzicht auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit zu wählen. Letzteres, also der Verzicht auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit, führt zur gegenseitigen Anerkennung der gegebenenfalls auch unterschiedlichen strafrechtlichen Wertungen zwischen den Mitgliedstaaten. Es ist allerdings ein Trugschluss, die Harmonisierung einerseits und die gegenseitige Anerkennung andererseits in einem reinen Alternativverhältnis zueinander zu sehen. Denn der Anerkennungsgrundsatz wird unter Verweis auf das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander gerechtfertigt. Das gegenseitige Vertrauen kommt auch im Listenkonzept der Anerkennungsrechtsakte zum Tragen, bei deren Einschlägigkeit die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit nicht mehr zur Voraussetzung der Anerkennung der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates gemacht werden darf. Ein solches eingefordertes Vertrauen gilt es aber zu erarbeiten; hierzu bedarf es eines über einen Mindeststandard an Vergleichbarkeit sowohl materiell-strafrechtlicher Wertungen als auch verfahrensrechtlicher Schutzstandards. Die Anerkennung hat sowohl eine inhaltliche als auch eine Verfahrenskomponente: Anerkennung ersetzt die Kontrolle anhand der eigenen Schutzstandards des Bestimmungs- bzw. Vollstreckungsstaates durch Vertrauen auf die Gleichwertigkeit der Schutzstandards im Herkunfts- bzw. Urteilsstaat. Unter Anerkennung wird daher nicht nur die inhaltliche Anerkennung des rechtlichen Schutzstandards der Urteilsstaates verstanden, sondern auch ein weitestgehender Verzicht auf die Kontrolle, ob die Behörden des Urteilsstaates dieses Recht ordnungsgemäß angewendet haben.153 Allerdings werden schon im Binnenmarkt unterschiedliche Abstufungen der Anerkennung diskutiert, die teils in einer Unterscheidung zwischen Herkunftslandprinzip (mit der schon formal alleinigen Geltung des Rechts des Herkunftslandes) und Anerkennungsgrundsatz (mit dem Erfordernis formaler Zulassung unter Anerkennung eines materiell gleichwertigen durch den Herkunftsstaat gebotenen Schutzes) ihren Ausdruck finden.154 Damit wird erneut deutlich, dass der Anerkennungsgrundsatz unterschiedlich ausgestaltet sein kann. 2. Vertrauen in die Gleichwertigkeit der Entscheidungsstandards und deren Grenzen Grundlage der Anerkennung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit ist das Vertrauen in die Gleichwertigkeit der Produktzulassungsregeln des Herkunftsstaates. Es stellt sich die Frage, worin die Grundlagen des wechselseitigen Vertrauens in 153
Siehe oben Teil 1 Kapitel 3 A.II.1.c) und d). Vgl. Schroeder, Hintergrund, Ziele und Ausformung von Anerkennungs- und Herkunftslandprinzip, in: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht (Hrsg.), Anerkennungs-/Herkunftslandprinzip in Europa (2009), S. 5 (18 ff.). 154
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze
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die Gleichwertigkeit der einer justiziellen Entscheidung zugrundeliegenden materiellen und formalen Regeln zu suchen sind. Angeknüpft werden könnte zunächst an gemeinsame Standards. Eine wesentliche Grundlage wechselseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bildet daher die Verpflichtung auf die gemeinsamen Grundwerte und die Grundrechte, wie sie in Art. 6 EUV in Bezug genommen sind. Zugleich indiziert aber Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV mit seinem Verweis auf die Achtung der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten, dass zwischen den Mitgliedstaaten unterschiedliche schutzbedürftige Wertentscheidungen bestehen können. Die Vorschrift verlangt damit nach Möglichkeiten, zwischen den Mitgliedstaaten unterschiedliche, für den potentiellen Anerkennungsstaat aber unverzichtbare Wertentscheidungen seiner Rechtsordnung zu schützen und aus einem solchen Grunde die Anerkennung der strafjustiziellen Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates ausnahmsweise zu versagen. Im Bereich des materiellen Strafrechts liegt der Fokus der europäischen Rechtsetzung nicht nur auf der Angleichung der Tatbestände, häufig verbunden mit der Klarstellung, dass auch bestimmte Beteilungsformen unter Strafe zu stellen und juristische Personen ebenfalls zur Verantwortung zu ziehen sind. Vielmehr wird auch eine Teilharmonisierung der Strafen betrieben, indem für die mindestharmonisierten Tatbestände sogenannte Mindesthöchststrafen vorgeschrieben werden.155 Die Diskrepanzen der Durchbrechung des innerstaatlichen Systems von Strafrahmen, Strafzumessungspraxis und Strafvollstreckungsrecht durch die Vollstreckungshilfe wird dadurch jedoch nicht gelöst. So ändern auch harmonisierte Mindesthöchststrafen nichts an der unterschiedlichen Rechtslage und Rechtspraxis der bedingten Entlassung. Damit führt auch ein unter Umständen harmonisierender Effekt der Sicherung bestimmter Mindesthöchststrafen nicht zu einer grenzüberschreitend vergleichbar langen Strafverbüßungsdauer für vergleichbare Taten.156 3. Versagung der Anerkennung aufgrund „zwingender Erfordernisse des Allgemeininteresses“ bzw. durch ordre public-Erwägungen In der Rechtssache Cassis de Dijon hat der EuGH nicht nur das umfassende Verständnis der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote bestätigt, sondern auch klargestellt, dass im Falle nicht diskriminierender, jedoch den Marktzugang 155
Vgl. dazu insbesondere Ratsdok. 8308/02, S. 7, sowie Ratsdok. 8308/02 COR 1
(de). 156 Innerstaatlich birgt das System der unionsweiten Mindesthöchststrafen Gefahren für die Kohärenz der Strafrechtsordnung, vgl. Zeder, Europastrafrecht zwischen Angleichung im materiellen Recht, gegenseitiger Anerkennung und Angleichung im Strafverfahren, in: Moos/Jesionek/Müller (Hrsg.), Strafprozessrecht im Wandel. Festschrift für Roland Miklau zum 65. Geburtstag (2006), S. 635 (639).
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
beschränkender Maßnahmen über die vertraglich verankerten Rechtfertigungsgründe hinaus weitere, ungeschriebene Rechtfertigungsgründe in Betracht kommen, nämlich so genannte „zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses“.157 Angeführt werden können diese, wenn die Rechtsordnung des Herkunfts- bzw. Urteilsmitgliedstaates und die Rechtsordnungen des Bestimmungs- bzw. Vollstreckungsstaates unterschiedlich mit einem solchen nach der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaates als besonders schutzbedürftig angesehenen zwingenden Allgemeininteresse umgehen. Die Begrenzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung durch entgegenstehende zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses ist die Grundaussage des Cassis-Urteils.158 Obwohl es sich bei den „zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses“ um einen unionsrechtlichen Terminus handelt, kann ihr Vorliegen im konkreten Fall immer nur auf mitgliedstaatlichen Gegebenheiten beruhen.159 Beispiele im Themenbereich der vorliegenden Studie über die Vollstreckungshilfe bilden etwa die Frage von Strafverfahren in Abwesenheit des Beschuldigten,160 die im Eingangskapitel der Arbeit vorgestellten Unterschiede bei der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Leugnung des Holocaust oder bei der Frage der Strafbarkeit aktiver Sterbehilfe,161 die ebenfalls Ausdruck unterschiedlicher grundrechtlich geprägter Wertentscheidungen sind. Inhaltlich steht eine solche Eingrenzung der Anerkennung im grundsätzlichen Einklang mit dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag für den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl. Art. 27 des Entwurfs lautete: „Ohne die Ziele von Artikel 29 EUV [a. F.] zu gefährden, kann jeder Mitgliedstaat eine vollständige Liste der Handlungen erstellen, die in einigen Mitgliedstaaten möglicherweise als strafbare Handlungen gelten, bei denen seine Justizbehörden jedoch die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ablehnen, da dies eine Verletzung wesentlicher Rechtsgrundsätze dieses Staates darstellen würde.“ 162 157 Mit der Feststellung, dass neben den primärvertraglich verankerten Rechtfertigungsgründen auch ungeschriebene „zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses“ eine Beschränkung der Grundfreiheiten zu rechtfertigen vermögen, schränkt der EuGH die primärvertraglichen Bestimmungen der Grundfreiheiten nicht contra legem ein. Denn diese zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses können nur unterschiedslos für inländische wie ausländische Waren geltende Beschränkungen, die ein Marktzugangshindernis für Waren aus einem anderen Mitgliedstaat darstellen, gerechtfertigt werden. Der EuGH präzisiert also mit dieser Rechtsprechung zu Rechtfertigungsmöglichkeiten aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses lediglich seine eigene Rechtsprechung zur Reichweite der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote. 158 Müller-Graff, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Unionsrecht, ZVglRWiss 111 (2012), 72 (80). 159 Zu den Konsequenzen der Einordnung der zwingenden Erfordernisse als unionsrechtlichen Terminus siehe sogleich unter D.III.3., in diesem Kapitel. 160 Siehe dazu D.III.2., in diesem Kapitel, sowie ausführlich unten Teil 2 Kapitel 3 A.II.3. 161 Siehe oben Einleitung C.III.1. 162 KOM(2001) 522 endg., ABl. EU 2001 C 332 E/305.
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Je stärker allerdings eine Rechtsharmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen besteht, desto weniger Wertungsunterschiede können zwischen den Rechtsordnungen identifiziert werden und desto weniger kommt damit eine Berufung auf solch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses in Betracht. Zulässig kann eine Berufung auf abweichende Wertentscheidungen der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaates nur dann sein, wenn die betreffende Wertentscheidung nicht durch abschließende harmonisierende unionsrechtliche Regelungen verdrängt ist.163 III. Standard der Begrenzung: Europäischer oder nationaler ordre public? In der strafjustiziellen Zusammenarbeit bildet der ordre public-Standard das Äquivalent zu den zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses im Bereich der Grundfreiheiten. Eingangs des vorliegenden Kapitels wurde bereits festgehalten, dass die Konzeption einer Begrenzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen durch eine ordre publicGrenze nicht auf ungeteilte Zustimmung in der Diskussion stößt. Unter Berufung auf die sekundärrechtliche Ausgestaltung des Grundsatzes wurde eine ordre public-Grenze teils gänzlich abgelehnt und statt dessen auf die in den Rahmenbeschlüssen enthaltenen einzelnen Versagungsgründe verwiesen.164 Dem könnte dann zugestimmt werden, wenn damit alle denkbaren Ausprägungen einer ordre public-Grenze abgedeckt wären. Tatsächlich mögen die Versagungsgründe wichtige Anwendungsfälle der ordre public-Grenze abdecken, eine vollständige Absicherung dieser Grenze können sie jedoch nicht leisten.165 Dies würde eine vollständige Antizipation voraussetzen, die nicht möglich ist, wie sich etwa bei dem vom europäischen Gesetzgeber unternommenen, aber fehlgeschlagenen Versuch, eine Negativliste für die Beibehaltung der beiderseiti163 Vgl. entsprechend zur Vorläufervorschrift des heutigen Art. 36 AEUV MüllerGraff, in: von der Groeben/Schwarze, EU-Kommentar6 (2004), Bd. 1, Art. 30 EG, Rn. 14 ff., sowie zu den zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses EuGH, Rs. 120/78, Rewe-Zentral-AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649 ff. (Rn. 8); EuGH, Rs. 261/81, Rau, Slg. 1982, 3961 ff. (Rn. 12); Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze, EU-Kommentar6 (2004), Bd. 1, Art. 28 EG, Rn. 198. 164 Pohl, Vorbehalt und Anerkennung. Der Europäische Haftbefehl zwischen Grundgesetz und europäischem Primärrecht (2009), S. 127, der allerdings aus der (von ihm abgelehnten) Anerkennung eines allgemeinen ordre public-Vorbehalts auf die umfassende Überprüfung der anzuerkennenden Entscheidung schlussfolgert und daher mit einem solchen Vorbehalt andere Konsequenzen verknüpft als die hier zugrundegelegte Konzeption des Aufgreifens evidenter Verstöße. Siehe dazu bereits oben Teil 1 Kapitel 1 A.II.4. sowie die nachfolgenden Überlegungen unter III. und IV. in diesem Abschnitt. 165 Ausführlich zu den Versagungsgründen im Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung unten Teil 2 Kapitel 3 A.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
gen Strafbarkeit als Anerkennungsvoraussetzung zu erstellen, gezeigt hat.166 Es bedarf daher der offenen Konzeption eines ordre public-Einwands. Soweit ein solcher Einwand anerkannt wird, fokussiert die Diskussion darauf, ob ein nationaler167 oder ein europäischer168 ordre public-Maßstab anzuwenden ist.169 Auch § 73 IRG greift diese Unterscheidung auf und erklärt in Satz 2 der Vorschrift für die Rechtshilfe im Verhältnis zu anderen Mitgliedstaaten der EU allein den europäischen ordre public-Standard für maßgeblich.170 Die bloße Gegenüberstellung der Begrifflichkeiten eines europäischen bzw. nationalen ordre public-Standards droht jedoch zu Missverständnissen zu führen. Fraglich ist also, wie eine solche ordre public-Grenze zu konturieren ist. Ein Missverständnis könnte darin liegen, unter einem schutzwürdigen und die Anerkennung begrenzenden ordre public lediglich die Summe der allen Mitgliedstaaten gemeinsamen grundlegenden Werte in ihrer gleichartigen konkreten Ausgestaltung zu verstehen (Konsensprinzip). Ähnliches gilt für ein Verständnis, nach dem Inhalt des ordre public sei, „was die jeweilige politische Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten gerade noch für normativ vertretbar hält“.171 Ein derart en-
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Siehe oben Teil 1 Kapitel 3 F.II.3. Müller-Graff, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Unionsrecht, ZVglRWiss 111 (2012), 72 (83 f.); Ballegooij/Gonzales, Mutual Recognition an Judicial Decisions in Criminal Matters. A „Rule of Reason“ for Surrender Procedures?, in: Schrauwen (Hrsg.), Rule of Reason. Rethinking another Classic of European Legal Doctrine (2005), S. 161 (176 ff.); implizit auch Braum, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Historische Grundlagen und Perspektiven europäischer Strafrechtsentwicklung, GA 2005, 681 (694); für die Vollstreckungsübernahme explizit Satzger, Die Europäische Vollstreckungsübernahme, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für eine europäische Strafrechtspflege (2006), S. 146 (150 f.). 168 Böse, Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung unter dem Vertrag von Lissabon, in: Ambos (Hrsg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 45 (54); Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl (2007), S. 347 ff.; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union (2010), S. 216; Vogel, Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf Europäische Strafverfolgung, ZStW 116 (2004), 400 (412); Sieber, Die Zukunft des Europäischen Strafrechts – ein neuer Ansatz zu den Zielen und Modellen des europäischen Strafrechtssystems –, ZStW 121 (2009), 1 (35). 169 Vgl. zur Diskussion allgemein Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Eckstein der justiziellen zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union (2010), S. 212 ff., der zwar die grundsätzliche Notwendigkeit eines europäischen ordre public als Anerkennungsgrenze beim jetzigen Stand der Zusammenarbeit bejaht, die Notwendigkeit der Begrenzung durch einen nationalen ordre public aber ausdrücklich offen lässt (ebd., 216). 170 Ausführlich dazu oben Teil 1 Kapitel 2 C. 171 Braum, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Historische Grundlagen und Perspektiven europäischer Strafrechtsentwicklung, GA 2005, 681 (694), zum Gehalt des europäischen ordre public. Das dies allerdings zu eng verstanden ist, zeigt die Rechtsprechung des EuGH bei der Herausarbeitung der europäischen Grundrechte, vgl. zur dabei angewandten Methode und dem ermittelten Rechtsstandard Schumann, Grenzen167
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ges Verständnis einer ordre public-Grenze wäre jedoch gerade nicht geeignet, die in Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV, Art. 4 Abs. 2 EUV verlangte Achtung für die Besonderheiten der einzelnen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu gewährleisten. Zur Klärung der Begriffsverständnisses des ordre public als Grenze der gegenseitigen Anerkennung ist es hilfreich, die Entscheidungen des EuGH in der Rechtssache C-36/02 Omega sowie in der Rechtssache C-7/98 Krombach/Bamberski in Bezug zu nehmen. In ersterer Entscheidung war der EuGH mit der Begrenzung des Anerkennungskonzepts bei den Grundfreiheiten aufgrund zwingender Erfordernisse des Allgemeininteresses, die sich aus der deutschen Rechtsordnung ergaben, befasst. Im zweitgenannten Fall hatte er über die Auslegung der Grenze des nationalen ordre public für den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ziviljustizieller Entscheidungen zu entscheiden. Dabei lag die Besonderheit des letztgenannten Falles auch darin, dass die ziviljustizielle Entscheidung als Annexentscheidung in einem Strafverfahren ergangen ist. 1. Systematik der ordre public-Grenze im Lichte des Urteils des EuGH, Rs. C-36/02 Omega/Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Slg. 2004, I-9641 ff. In der Entscheidung ging es um die Untersagungsverfügung der Stadt Bonn hinsichtlich des Betriebs eines sogenannten Laserdrome, in dessen Spielbetrieb das Simulieren des gezielten Tötens von Mitspielern integriert war. Die Verbotsverfügung stützte sich auf die damit verbundene Verletzung des durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürdegrundsatzes. Da der Betreiber des Laserdrome den Spielbetrieb als Franchisenehmer einer britischen Firma anbot, stellte sich die Frage, ob die Verbotsverfügung in die passive Dienstleistungsfreiheit als Grundfreiheit des Binnenmarktes eingriff. Während nach Begründung der deutschen Untersagungsverfügung die Franchisedienstleistung aufgrund des mit dem Spielangebots verbundenen simulierten Tötens gegen die Menschenwürde verstieß, wurde diese Spielvariante durch den Franchisegeber nach britischem Recht rechtmäßig vermarktet. Es stellte sich daher die Frage, ob die Verbotsverfügung widerrechtlich in die passive Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 Abs. 1 EG (nunmehr: Art. 56 Abs. 1 AEUV) eingriff oder aber der Eingriff als Schutz der öffentlichen Ordnung verstanden werden konnte, der gemäß Art. 55, 46 Abs. 1 EG (Art. 62, 52 Abs. 1 AEUV) einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen konnte. Konkret stellte sich die Frage, ob die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung in Art. 46 Abs. 1 EG (Art. 52 Abs. 1 AEUV) nur dann zulässig lose Freiheit für den EuGH? Zur legitimierenden und bindenden Kraft wertender Rechtsvergleichung, ZRP 2010, 240 ff. m.w. N.
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ist, wenn sich der vorgetragene Einwand auf gemeinsame Rechts-, im konkreten Fall gemeinsame Grundrechtsüberzeugungen aller Mitgliedstaaten stützen kann oder ob es ausreicht, dass eine massive Grundrechtsverletzung und eine damit verbundene Bedrohung der öffentlichen Ordnung nur nach dem Recht des Mitgliedstaates anzunehmen ist, der sich auf die Rechtfertigungsregel des Europarechts beruft. Der EuGH macht zunächst deutlich, dass die Tragweite des Begriffs der öffentlichen Ordnung in Art. 46 EG durch das Unionsrecht selbst zu bestimmen ist,172 die Ausfüllung des so bestimmten Rahmens aber dem jeweiligen Mitgliedstaat überlassen bleibt.173 Durch Verweis darauf, dass das Unionsrecht selbst auf die Achtung der Menschenwürde als allgemeinen Rechtsgrundsatz abzielt, erkennt der EuGH an, dass der Schutz der Menschenwürde als eine in der nationalen Verfassung eines Mitgliedstaates verankerte grundlegende Wertvorstellung geeignet ist, den unionsrechtlichen Begriff des Schutzes der öffentlichen Ordnung auszufüllen.174 Daher ist es für die Inanspruchnahme des Rechtfertigungsgrunds des Schutzes der öffentlichen Ordnung „nicht unerlässlich, dass die von den Behörden eines Mitgliedstaates erlassene beschränkende Maßnahme einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung darüber entspricht, wie das betreffende Grundrecht oder berechtigte Interesse zu schützen ist“.175 Zur rechtfertigenden Wirkung bedurfte es noch einer Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit i. e. S. der Unterlassungsverfügung, die der EuGH ebenfalls als gegeben ansah.176 2. Systematik der ordre public-Grenze im Lichte des Urteils des EuGH, Rs. C-7/98 Krombach/Bamberski, Slg. 2000, I-1956 ff. In vergleichbarer Weise hatte der EuGH bereits in der Rechtssache Krombach entschieden, in der es um die (Nicht-)Vollstreckung eines zivilrechtlichen Schadenersatzanspruchs ging, über den im Rahmen eines Adhäsionsverfahrens in einem in Frankreich geführten Strafverfahrens entschieden worden war. Dem Verfahren lag, kurz zusammengefasst, folgender Sachverhalt zugrunde: Dieter Krombach, ein deutscher Arzt, war der Stiefvater eines vierzehnjährigen Mädchens, dessen leiblicher Vater der in Frankreich lebende André Bamberski 172 EuGH, Rs. C-36/02, Omega/Oberbürgermeisterin der Stadt Bonn, Slg. 2004, 19641 ff. (Rn. 30). 173 EuGH, Rs. C-36/02, Omega/Oberbürgermeisterin der Stadt Bonn, Slg. 2004, 19641 ff. (Rn. 31 f.). 174 EuGH, Rs. C-36/02, Omega/Oberbürgermeisterin der Stadt Bonn, Slg. 2004, 19641 ff. (Rn.. 33–35). 175 EuGH, Rs. C-36/02, Omega/Oberbürgermeisterin der Stadt Bonn, Slg. 2004, 19641 ff. (Rn. 37). 176 EuGH, Rs. C-7/98, Krombach/Bamberski, Slg. 2000, I-1956 ff. (Rn. 38 f.).
IIII-
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze
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war. Im Sommer 1982 hatte das Mädchen die Ferien bei ihrer Mutter und dem Stiefvater am Bodensee verbracht, wo sie am Morgen des 10. Juli tot in ihrem Bett aufgefunden wurde. Der herbeigerufene Notarzt stellte zwar keine äußerliche Gewalteinwirkung fest, jedoch wurden im Bereich des Brustkorbs und des rechten Oberarms des toten Mädchens mehrere Einstiche gefunden. Krombach erklärte, er habe dem Mädchen auf eigenen Wunsch ein Eisenpräparat verabreicht, das ihr zu mehr Bräune habe verhelfen sollen. Am nächsten Morgen habe er sie tot im Bett gefunden und versucht, sie durch verschiedene Injektionen wiederzubeleben. In der Autopsie konnte die Todesursache nicht geklärt werden, Anzeichen sexueller Gewalteinwirkung wurden nicht festgestellt. Ein gegen Krombach geführtes Ermittlungsverfahren wegen eines Tötungsverdachts wurde seitens der zuständigen deutschen Staatsanwaltschaft und nach gerichtlicher Überprüfung177 schließlich mangels Tatverdacht endgültig eingestellt. Aufgrund einer Strafanzeige von Bamberski wurde gegen Krombach in der Folge jedoch ein Strafverfahren in Frankreich durchgeführt. Trotz gerichtlicher Anordnung des persönlichen Erscheinens nahm Krombach an der Hauptverhandlung nicht persönlich teil, ließ sich jedoch durch einen Rechtsanwalt vertreten. Die von der Verteidigung in der Hauptverhandlung eingebrachten Anträge behandelte das Pariser Schwurgericht allerdings als unzulässig, denn nach Art. 630 der französischen Strafprozessordnung sei die Vertretung eines abwesenden Angeklagten verboten. Krombach wurde im März 1995 in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge sowie zu Zahlung von Schadensersatz und Kostenerstattung in Höhe von 350.000 FF verurteilt. In der Folge entwickelte sich ein Rechtsstreit um die Vollstreckbarerklärung des Schadenersatzurteils in Deutschland, in dessen Verlauf Krombach die Verletzung seines Rechts auf wirksame Verteidigung im dem Schadenersatzurteil zugrundeliegenden französischen Strafverfahren geltend machte und der EuGH schließlich mit der Auslegung des Art. 27 Nr. 1 Europäisches Gerichtsstandsund Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) befasst war. Die Vorschrift bestimmt: „Eine Entscheidung wird nicht anerkannt: 1. wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem sie geltend gemacht wird, widersprechen würde“.178 Der EuGH entschied zur Auslegung dieses ordre public-Vorbehalts: „Auch wenn es demnach nicht Sache des Gerichtshofes ist, den Inhalt der öffentlichen Ordnung eines Vertragsstaates zu definieren, hat er doch über die Grenzen zu wachen, innerhalb derer sich das Gericht eines Vertragsstaates auf diesen Begriff stützen darf, um der Entscheidung eines Gerichts eines anderen Vertragsstaates
177
§ 170 Abs. 2 S. 1, §§ 172–174 StPO. Siehe zur aktuellen innereuropäischen Rechtslage Art. 34 Nr. 1 VO (EG) 44/2001, ABl. EU 2001 L 12/1, zuletzt geändert durch VO (EU) 2015/263, ABl. EU 2015 L 45/2. 178
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
die Anerkennung zu versagen.“ 179 Eine Anwendung der ordre public-Klausel des EuGVÜ kommt nach dem Urteil des EuGH nur dann in Betracht, „wenn die die Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaates stünde.“ 180 3. Übertragung der Systematik auf den ordre public-Einwand beim Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen Abstrahierend lässt sich die vom EuGH in beiden Fällen vorgenommene rechtfertigende Begrenzung der Anerkennung durch den Schutz der öffentlichen Ordnung wie folgt zusammenfassen:181 Es handelt sich um einen unionsrechtlichen Begriff bzw. ein unionsrechtliches Konzept, dessen äußerer Rahmen unionsautonom bestimmt wird (Rahmenbegriff).182 Innerhalb des so gesetzten Rahmens obliegt den Mitgliedstaaten die Ausfüllung des Rahmenbegriffs anhand ihrer jeweils spezifischen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung (Konkretisierungsspielraum). Damit können auch besondere, von den Wertungen anderer Mitgliedstaaten abweichende, die öffentliche Ordnung des betroffenen Mitgliedstaates aber charakterisierende Wertungen zur Ausfüllung des Begriffs der öffentlichen Ordnung und damit zur Beschränkung der Anerkennung herangezogen werden.183 179 EuGH, Rs. C-7/98, Krombach/Bamberski, Slg. 2000, I-1956 ff. (Rn. 23). Bestätigt durch EuGH, Rs. C-38/98, Renault SA/Maxicar SpA und Orazio Formento, Slg. 2000, I-2000, 2973 ff. (Rn. 27 f.). Vgl. aus der jüngeren Judikatur zu Art. 34 Nr. 1 VO (EG) 44/2001 EuGH, Rs. C-302/13, flyLAL, ECLI: EU: C: 2014: 2319 (Rn. 46–49); sowie die Analysen der GA Kokott im Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-302/13, flyLAL, ECLI: EU: C: 2014: 2046 (Rn. 71–74) sowie dies. im Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-559/14, Rudolfs Meroni, ECLI: EU: C: 2016: 120 (Rn. 33–37) m.w. N. 180 EuGH, Rs. C-7/98, Krombach/Bamberski, Slg. 2000, I-1956 ff. (Rn. 37). 181 Siehe auch die Analyse der Krombach-Entscheidung durch Lenaerts, The Contribution of the European Court of Justice to the Area of Freedom, Security and Justice, ICLQ 59 (2010), 255 (283). 182 Vgl. zum Erfordernis der unionsautonomen Auslegung EuGH, Rs. C-66/08, Kozłowski, Slg. I-2008, 6041 ff. (Rn. 42): „Aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt nämlich, dass die Begriffe einer Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontextes der Vorschrift und des mit der Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. entsprechend Urt. v. 18. Oktober 2007, Österreichischer Rundfunk, C-195/06, Slg. 2007, I-8817, Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).“ 183 Entsprechend hat der EuGH, Rs. 34/79, Henn und Darby, Slg. 1979, 3795 ff. (3813), zum Begriff der „öffentlichen Sittlichkeit“ als Teilbereich des Oberbegriffs der „öffentlichen Ordnung“ festgestellt, dass es „grundsätzlich Sache jedes Mitgliedstaates [ist], den Begriff der öffentlichen Sittlichkeit für sein Gebiet im Einklang mit seiner eigenen Wertordnung und der von ihm gewählten Form auszufüllen“.
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Ein solcherart ausgestaltetes Konzept ist auf die Bestimmung der ordre publicGrenze des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen übertragbar.184 Gegenseitige Anerkennung und ordre public-Einwand stehen dabei in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis. Ausnahmetatbestände sind im Unionsrecht grundsätzlich eng auszulegen,185 denn die Ausgestaltung des Regeltatbestandes zielt auf die möglichst effektive Erreichung der Unionsziele ab und soll möglichst weitgehend bewahrt bleiben.186 Dieses Auslegungsverständnis muss grundsätzlich auch für den nunmehr primärvertraglich verankerten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen und dessen Begrenzung durch den ordre public-Einwand gelten. Allerdings müssen bei der Bestimmung der Reichweite und Grenzen die bereits erarbeiteten primärrechtlichen Vorgaben einschließlich der Grundrechte beachtet werden.187 Das heißt, dass solche Grenzen, die dem Schutz unionsrechtlicher Grundrechte dienen, entsprechend der Reichweite dieses Grundrechtsschutzes zu definieren sind und damit gegebenenfalls, nämlich dann, wenn die grundrechtliche Wertung dies erfordert, auch weit ausgelegt werden müssen. Eine solcherart mögliche ausnahmsweise Versagung der Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen unter Berufung auf einen ordre public-Einwand zum Schutze grundlegender Wertentscheidungen einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung fügt sich konzeptionell in die generelle Ausgestaltung des Schutzes der grundlegenden Wertentscheidungen der Mitgliedstaaten im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit ein: Eine für alle Mitgliedstaaten bindende Harmonisierung von Straf- oder strafverfahrensrechtlichen Regelungen kann ein Mitglied-
184 Dafür auch Ballegooij/Gonzales, Mutual Recognition an Judicial Decisions in Criminal Matters. A „Rule of Reason“ for Surrender Procedures?, in: Schrauwen (Hrsg.), Rule of Reason. Rethinking another Classic of European Legal Doctrine (2005), S. 161 (176 ff.). 185 Vgl. EuGH, Rs. C-7/98, Krombach/Bamberski, Slg. 2000, I-1956 ff. (Rn. 21, 30 m.w. N.); EuGH, Rs. C-38/98, Renault SA/Maxicar SpA und Orazio Formento, Slg. 2000, I-2000, 2973 ff. (Rn. 26). 186 Nicolaysen, Der Gerichtshof. Funktion und Bewährung der Judikative, EuR 1972, 375 (378 f.), spricht von der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft als tragendem Rechtsprinzip. Zur Orientierung an der Auslegung an der effektiven Wirksamkeit des Unionsrechts, dem sog. effet utile, vgl. Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (2008); Streinz, Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling (1995), S. 1491 ff.; Schumann, Grenzenlose Freiheit für den EuGH? Zur legitimierenden und bindenden Kraft wertender Rechtsvergleichung, JRP 2010, 240, 245. 187 Zum Erfordernis der Auslegung von Rahmenbeschlüssen, insbesondere der dort geregelten Versagungsgründe, im Lichte der Grundrechte vgl. auch den Schlussantrag des GA Cruz Villalón in der Rs. C-306/09, I.B./Conseil des ministres, Slg. 2010, I10341 (Rn. 42 ff.).
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
staat durch Nutzung des sogenannten Notbremsenmechanismus verhindern.188 Vereinfachend könnte die hier herausgearbeitete ordre public-Grenze der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen als unionsrechtlich kontrollierte nationale ordre public-Grenze umschrieben werden. 4. Inhaltliche Konkretisierung der unionsrechtlich kontrollierten Grenze des nationalen ordre public Die so gezogene Grenze des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der Union soll im Folgenden für die Bereiche der materiell-strafrechtlichen Wertungen, des Strafverfahrensrechts im engeren Sinne und des Strafvollstreckungs- einschließlich des Strafvollzugsrechts näher ausgefüllt werden. Ein Anspruch auf Vollständigkeit der Aufzählung wird damit nicht verbunden, vielmehr haben die Überlegungen zum Ziel, die zuvor abstrakt herausgearbeitete Grenze der Anerkennung inhaltlich klarer fassbar zu machen. Die Überlegungen fokussieren auf die Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen und orientieren sich beispielhaft am deutschen Recht. Es stellt sich also die Frage nach Gründen der ausnahmsweisen Versagung in der Situation, in der das Erkenntnisverfahren abgeschlossen ist und ein rechtskräftiges Urteil vorliegt. Da hier dem potentiellen Gehalt der ordre public-Grenze nachgegangen wird, bleiben die im Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung explizit getroffenen Regelungen über fakultative Versagungsgründe zunächst weitgehend außer Betracht, sie werden an späterer Stelle der vorliegenden Arbeit näher untersucht.189 Funktional-systematisch kann aber schon jetzt festgestellt werden, dass die Versagungsgründe wesentliche Anwendungsbereiche einer ordre public-Grenze aufgreifen und im Bedarfsfalle als lex specialis-Regelung in der Systematik des Rahmenbeschlusses vorrangig heranzuziehen sind. Zum nationalen ordre public sind die unverzichtbaren verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen zu zählen. Diese können ihren Ausdruck in einfachgesetzlichen Regelungen gefunden haben. Nicht jede einfachgesetzliche Ausgestaltung eines Verfassungsgrundsatzes wird aber dem unverzichtbaren ordre public zurechenbar sein. Im Wesentlichen wird die ordre public-Grenze daher auf die grundrechtlichen Gewährleistungen und Strukturprinzipien des Grundgesetzes zu beziehen sein. a) Verfahrensrecht Obgleich das Strafverfahrensrecht als angewandtes Verfassungsrecht190 verstanden werden kann, wird die ordre public-Grenze regelmäßig nicht die ein188 189
Siehe oben Teil 2 Kapitel 1 C.III.3. Siehe dazu unten Teil 2 Kapitel 2 D.
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze
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zelne Detailregelung der StPO umfassen, sondern muss, gerade bei der Europäischen Vollstreckungsanordnung, bei der das Erkenntnisverfahren bereits abgeschlossen ist, die Fairness dieses Verfahrens in einer Gesamtbetrachtung erfassen.191 Das Erfordernis eines rechtstaatlichen fairen Verfahrens ergibt sich insbesondere aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzip. Inhaltlich nähert sich die so näher definierte nationale ordre public-Grenze für den Bereich des Strafverfahrens einer europäischen ordre public-Grenze an, wie sie in Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung deklaratorisch angesprochen ist. Dies entspricht auch der Erklärung, die Deutschland bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zum Überstellungsabkommen abgegeben hat, und aus der sich ableiten lässt, dass der Schutzstandard der EMRK für Deutschland bei der Anwendung des Überstellungsübereinkommens der anwendbare deutsche ordre public ist.192 Damit wird jedenfalls für den Bereich des Strafverfahrensrechts aus der hier vorgeschlagenen Begrenzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen wenig Konfliktpotential bei der tatsächlichen Anwendung der Europäischen Vollstreckungsanordnung erwachsen. Auch wenn ein grundsätzliches Vertrauen in die Einhaltung dieser rechtsstaatlichen Standards innerhalb der Mitgliedstaaten zu rechtfertigen sein mag, kann dieses Vertrauen nicht unwiderleglich sein.192a So, wie es in rein innerstaatlichen Fällen im Einzelfall zur Verletzung dieses Schutzstandards kommen kann,193 ist dies auch bei transnationalen Fällen möglich.194 Der Vollstreckungsstaat, dem eine solche Verletzung im Urteilsstaat offensichtlich ist, kann aber nicht gezwungen sein, an der Vertiefung dieser Verletzung durch Durchsetzung der Entscheidung mitzuwirken. 190
E. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 1 (1952); weitergehend Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 2 Rn. 1, 7, die vom „Strafverfahrensrecht als Seismograph der Staatsverfassung“ sprechen und sich dabei weniger auf die geschriebenen Verfassungsnormen beziehen, sondern auf die Verfassungswirklichkeit abstellen. 191 Auf die Gleichwertigkeit des insgesamt gebotenen Rechtsschutzes bei arbeitsteiliger Strafverfolgung stellt auch Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), Vor § 1 IRG Rn. 41, ab. Zustimmend Andreou, Gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen in der Europäischen Union (2009), S. 68. 192 Vgl. Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte (1994), S. 192. Siehe oben Teil 1 Kapitel 2 A.I.5. 192a Siehe dazu ausführlich D.V.2., in diesem Kapitel. 193 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 01.06.2010, Gaefgen v. Deutschland, Nr. 22978/05; EGMR, Urt. v. 11.07.2006, Jalloh v. Deutschland, Nr. 54810/00. 194 Vgl. die Beispielsfälle bei Guild, Crime and the EU’s Constitutional Future in an Area of Freedom, Security, and Justice, European Law Journal 10 (2004), 218 (227), sowie Alegre/Leaf, Mutual Recognition in European Judicial Cooperation: A Step Too Far Too Soon? Case Study – the European Arrest Warrant, European Law Journal 10 (2004), 200 (210 ff.).
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
Während jedoch bei der Europäischen Vollstreckungsanordnung regelmäßig wenig Konfliktpotential aus dem verfahrensrechtlichen Bereich drohen wird, da davon ausgegangen werden darf, dass die Verfahrensrechte der Mitgliedstaaten grundsätzlich dem gemeinsamen europäischen ordre public genügen, droht Konfliktpotential eher dann, wenn eine Rechtshilfeleistung auf Basis des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung im laufenden Erkenntnisverfahren, in concreto in Vollzug einer Europäischen Beweisanordnung,195 erfolgt.196 Hier droht aufgrund der unterschiedlichen Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Strafverfahren197 Konfliktgefahr. Denn auch wenn man davon ausgeht, dass die Systeme aufgrund der Bindung aller Mitgliedstaaten der EU an die EMRK zumindest als jeweils geschlossenes Strafverfahrenssystem einen gleichwertigen Grundrechtsschutz garantieren, so kann die Transposition einzelner Regelungen eines Mitgliedstaates in das Rechtssystem eines anderen Mitgliedstaates mit den dortigen wesentlichen Rechtsgrundsätzen kollidieren.198 Entsprechend bestimmt Art. 12 RB 2008/978/ JI (Europäische Beweisanordnung), dass zwar grundsätzlich die Behörden des Vollstreckungsstaates bei der Beweiserlangung die vom Ausstellungsstaat mitgteilten Formvorschriften und Verfahren einhält, diese Verpflichtung jedoch entfällt, wenn diese Vorschriften und Verfahren wesentlichen Rechtsgrundsätzen des Vollstreckungsstaates entgegenstehen. Zu einem fairen Verfahren zählt auch das Recht auf rechtliches Gehör. Wie der der Entscheidung in der Rechtssache Krombach zugrundeliegende Sachverhalt deutlich macht, bestehen in Bezug auf Abwesenheitsentscheidungen deutlich divergierende Regelungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU (der Rechtssache Krombach lagen solche Divergenzen zwischen dem deutschen und dem französischen Recht zugrunde). Der EuGH hat in seinem Urteil anerkannt, dass solche unterschiedlichen Regelungen geeignet sind, den Einwand eines Verstoßes gegen den nationalen ordre public zu begründen und die Urteilsanerkennung zu begrenzen. Allerdings ist zwischenzeitlich durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI über Abwesenheitsurteile die Beschränkung der Anerkennung einer Entscheidung, die in einem Abwesenheitsverfahren gefällt worden ist, mit einstimmigen Ratsbeschluss unionsrechtlich harmonisiert worden, so dass grundsätzlich kein Raum für eine Einwendung des nationalen ordre public verbleiben wird. Im Rah195
Rahmenbeschluss 2008/978/JI (Europäische Beweisanordnung). Für eine hinreichende Differenzierung bei der Ausgestaltung der Rechtsakte zur Umsetzung des Anerkennungsgrundsatzes zwischen Instrumenten der Vollstreckung einer bereits rechtskräftigen Endentscheidung und solchen einer Beweissammlung im Ermittlungsverfahren plädiert auch Zeder, Gegenwart und Zukunft der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen in der EU. Die Beweisanordnung: Zukunftsmodell oder Irrweg?, ÖJZ 2009, 991 (1000). 197 Für einen guten Überblick Hörnle, Unterschiede zwischen Strafverfahrensordnungen und ihre kulturellen Hintergründe, ZStW 117 (2005), 801 ff. 198 Kritisch auch Braum, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Historische Grundlagen und Perspektiven europäischer Strafrechtsentwicklung, GA 2005, 681 (695 f.). 196
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze
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menbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung ist diese Möglichkeit der Versagung der Anerkennung eines in absentia ergangenen Urteils in Art. 9 Abs. 1 lit. i RB 2008/909/JI geregelt.199 b) Materielles Strafrecht Ebenso wie beim Strafverfahrensrecht sind auch im Bereich des materiellen Strafrechts nicht die Ausgestaltung der Straftatbestände im Detail als Bestandteil einer ordre public-Grenze zu verstehen. Vielmehr geht es auch hier um verfassungsrechtliche Wertungen, die den Wesensgehalt der deutschen Rechtsordnung bestimmen. Daher ist die ordre public-Grenze dann einschlägig, wenn ein Urteil vollzogen werden soll, das an ein Verhalten des Verurteilten anknüpft, welches – gegebenenfalls bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts – nach der deutschen Rechtsordnung gerade grundrechtlich geschützt wäre.200 Ebenso ist die ordre public-Grenze erreicht, wenn die zu vollstreckende Entscheidung verfassungsrechtlich abzuleitende Grundsätze wie das Schuldprinzip verletzen würde. Dies gilt in vollem Umfang für das Schuldprinzip im Sinne der Vorwerfbarkeit des inkriminierten Verhaltens. Daher ist etwa mit Blick auf das Schuldprinzip zu kritisieren, wenn bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Anerkennung und Vollstreckung von Geldsanktionen gemäß Art. 87b Abs. 3 Nr. 9 IRG die Vollstreckung von Sanktionen, die als sogenannte Halterhaftung201 verhängt wurden, nur auf Einwendung202 der betroffenen Person hin als unzulässig anzusehen sein soll. Denn das Schuldprinzip gehört zum Wesensgehalt der deutschen Strafrechtsordnung und ist verfassungsrechtlich abzuleiten.203 199 Ausführlich dazu unten Teil 2 Kapitel 2 D.II.3. Vgl. aber BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, mit Bezugnahme auf eine grundrechtskonforme Auslegung im Lichte der EU-GRCh. Das BVerfG betont dabei in Rz. 56 auch die verfahrensrechtliche Auswirkung des Schuldprinzips: „Die Verwirklichung des Schuldgrundsatzes ist gefährdet, wenn die Ermittlung des Sachverhalts nicht sichergestellt ist.“ 200 Ausführlich dazu unten Teil 2 Kapitel 2 B.I. 201 Zum Verstoß der Halterhaftung gegen das Schuldprinzip vgl. Schmidt, Verteidigung von Ausländern3 (2012), Rn. 574; Ahlbrecht, Europa und der Straßenverkehr nach dem Lissabon-Vertrag, DAR 2010, 185 (188); Milke, Halterhaftung in Europa – rechtliche Grenzen in Deutschland, NZV 2010, 17 (19); für einen knappen rechtsvergleichenden Überblick zur Halterhaftung in Europa vgl. Nissen/Schäpe, EU-weite Halterhaftung – Bestrafung ohne Schuld, DAR 2009, 488 ff.; kritisch zu einem Verzicht auf das Schuldprinzip im Verwaltungssanktionenrecht schon Tiedemann, Der Strafschutz der Finanzinteressen der Europäischen Gemeinschaften, NJW 1990, 2226 (2229 f.). 202 Zur Art und Weise der Einwendungserhebung vgl. Johnson, in: Grützner/Pötz/ Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 87b IRG Rn. 19. Für einen kurzen Überblick über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses vgl. Johnson/Plötzgen-Kamradt, Gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen in Deutschland, eucrim 2011, 33 ff. Vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.2.2012 – III-3 AR 6/11 mit Anmerkung Johnson, ZIS 3/2012, 77 ff. 203 Ausführlich Appel, Verfassung und Strafe. Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen staatlichen Strafens (1998), S. 109 ff., 517 ff.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
Praktisch kaum vorstellbar scheint innerhalb der EU,204 dass das Maß der ausgesprochenen Strafe so stark von deutschen Wertvorstellungen abweicht, dass evident der Grundsatz der schuldangemessenen Strafe verletzt würde. Eine obere Begrenzung möglicher Divergenzen wird durch die in Art. 8 Abs. 2 RB 2008/ 909/JI vorgesehene Anpassung an das Höchstmaß der im Vollstreckungsstaat für vergleichbare Straftaten vorgesehene Strafmaß gezogen.205 Zudem begrenzt Art. 49 Abs. 3 EU-GRCh als dem Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung vorrangiges Primärrecht das Strafmaß, das gegenüber der Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf. Insoweit bedürfte es nicht der Berufung auf den nationalen ordre public; bereits der europäische ordre public, auf den Art. 1 Abs. 4 RB 2008/909/JI nicht explizit, jedoch inhaltlich verweist und zu dem Art. 49 Abs. 3 EU-GRCh zu rechnen ist, würde zu einer Begrenzung der Anerkennungs- und Vollstreckungsverpflichtung führen. c) Strafvollstreckungs- und Strafvollzugsrecht Im Bereich des Strafvollstreckungs- und -vollzugsrechts spielt die Begrenzung der Anerkennung durch den nationalen ordre public denklogisch keine Rolle. Geht es nämlich um eine Begrenzung der Anerkennung einer strafjustiziellen Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates und deren Vollstreckung in Deutschland, so kommt das deutsche Strafvollstreckungs- und -vollzugsrecht zur Anwendung. Dessen Anwendung aber kann nicht gegen den deutschen ordre public verstoßen. Eine andere Frage ist es, ob Deutschland als Urteilsstaat mit Blick auf das Strafvollstreckungs- und -vollzugsrecht eines als Vollstreckungsstaat avisierten anderen Mitgliedstaates von der Einleitung oder Fortführung eines Vollstreckungsübertragungsverfahrens Abstand nehmen muss, weil die Vollstreckungsübertragung nicht mit einer besseren, sondern mit einer erheblich schlechteren Resozialisierungsprognose verbunden wäre und eine Übertragung daher den verfassungsrechtlich abgeleiteten Resozialisierungsgrundsatz206 verletzen würde. Dies ist nicht Gegenstand der Begrenzung des Anerkennungskonzepts, sondern im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens bei der Entscheidung über die Einleitung eines solchen Verfahrens zu berücksichtigen.207 Hier muss auch eine deutliche 204
Vgl. aber im Verhältnis zu Griechenland noch OLG Karlsruhe, StV 1997, 368 f. Näher dazu oben Teil 1 Kapitel 3 H.I. 206 Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 1 A.IV.2.d). 207 Zur Frage der Begrenzung einer Überstellung auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls aufgrund gegen den europäischen ordre public verstoßender Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat vgl. das auf Vorlage des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen ergangene Urteil des EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, Aranyosi und Ca˘lda˘raru, ECLI: EU: C: 2016: 198. Näher dazu unten Teil 2 Kapitel 1 D.V.2. 205
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze
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Verschlechterung der Position des Verurteilten bei der bedingten Entlassung eine Rolle spielen. d) Schlussfolgerung: Anerkennungsgrenze des nationalen ordre public als Schutz grundrechtlicher Freiheitsrechte Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Begrenzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen durch einen unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public im Falle der Anerkennung und Vollstreckung von freiheitsentziehenden Sanktionen im Wesentlichen dort von Bedeutung sein wird, wo es um die Anerkennung solcher Urteile und der mit ihnen verbundenen Sanktionen geht, die an einem Verhalten anknüpfen, das nach den Wertungen der deutschen Rechtsordnung nicht nur nicht strafbar, sondern vielmehr grundrechtlich geschützt ist. Soweit eine Anerkennungsversagung wegen Verstoßes gegen grundsätzliche Verfahrensprinzipien im deutschen Strafrechtssystem in Betracht kommt, wird aufgrund der notwendigen Gesamtbetrachtung des Verfahrens zugleich auch der ohnehin dem Rahmenbeschluss vorrangige europäische ordre public verletzt sein. Damit zeigt sich schon an dieser Stelle, dass die vorgeschlagene Begrenzung des Anerkennungskonzepts dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen als primärrechtlichem Ziel, das ein Optimierungsgebot für die sekundärrechtliche Ausgestaltung beinhaltet, nicht zuwiderläuft, sondern einen unverzichtbaren Bestandteil der notwendigen Achtung für die unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten insbesondere im Bereich grundrechtlicher Freiheitsgewährleistungen bildet.208 Ist es also nach der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung eines Mitgliedstaates Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts, im Angesicht einer unheilbaren Krankheit über sein Lebensende selbst zu bestimmen und ist es daher unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, eine Tötung auf Verlangen vorzunehmen, so kann dieser Staat nicht verpflichtet sein, ein Urteil zu vollstrecken, das eine solche Handlung ahndet.209 IV. Verfahrensrechtliche Vorbeugung gegen Fehlanwendung oder Missbrauch des ordre public-Vorbehalts Nicht von der Hand zu weisen ist der mögliche Einwand einer drohenden Fehlanwendung in der Rechtspraxis, mag sie auf einem Fehlverständnis der hier herausgearbeiteten unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public-Grenze 208 Ähnlich plädiert Müller-Graff, Gegenseitige Anerkennung im Europäischen Unionsrecht, ZVglRWiss 111 (2012), 72 (83 f.), für die Anerkennung eines „essentiellen mitgliedstaatlichen ordre public in concreto“ als Begrenzung der gegenseitigen Anerkennung strafustizieller Entscheidungen und stützt sich dabei auf Art. 4 Abs. 2 EUV. 209 Siehe dazu oben Eingangskapitel C.III.1.
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beruhen oder gar wissentlich erfolgen. Die Handhabung der Grenze mag unvorsehbar erscheinen, man könnte den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen in Gefahr wähnen – durch umfangreiche Überprüfung der anzuerkennenden Entscheidung im Vollstreckungsstaat statt eines Vertrauens auf deren Gleichwertigkeit zu eigenen Entscheidungen, gar durch exzessive Verweigerung der Anerkennung. 1. Unterscheidung zwischen rechtsdogmatischer und rechtstatsächlicher Ebene Dem ist zunächst zu entgegnen, dass eine drohende Fehlanwendung eine rechtstatsächliche Frage und daher auf einer anderen Diskussionsebene als das hier entwickelte rechtsdogmatische Konzept zu verorten ist. Sie vermag deshalb das rechtsdogmatische Konzept als solches nicht in Frage zu stellen. Schon die Geltendmachung der explizit in den sekundärrechtlichen Regelungen verankerten Versagungsgründe setzt zumindest insoweit eine Überprüfungsmöglichkeit im Vollstreckungsstaat voraus. Dies gilt auch für eine Verletzung des europäischen ordre public.210 2. Letztverbindliche Auslegungszuständigkeit des EuGH für die äußeren Grenzen des unionsrechtlichen Rahmenbegriff des nationalen ordre public Dem hier entwickelten Konzept ist zudem ein Schutzmechanismus gegen eine solche Fehlanwendung der ordre public-Grenze inhärent, die in der unionsrechtlichen Begrenzung des ordre public als Rahmenbegriff liegt. Dem EuGH wird durch die letztverbindliche Interpretationshoheit über den unionsrechtlichen Begriff des nationalen ordre public eine Missbrauchskontrolle der mitgliedstaatlichen Handhabung ermöglicht. Diese Interpretationshoheit ist durch das Vorabentscheidungsverfahren abgesichert. Da es sich dabei bei der Herausarbeitung der ordre public-Grenze insbesondere aus Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV um eine Auslegung primärrechtlicher Bestimmungen handelt, ist die Zuständigkeit des EuGH auch nicht durch Art. 35 EU a. F. beschränkt, sondern ergibt sich aus Art. 19 EUV, Art. 267 AEUV. Allerdings setzt dies voraus, dass die nach Art. 267 Abs. 1 AEUV bestehende Vorlagepflicht letztinstanzlicher innerstaatlicher Gerichte nicht unter Verweis auf die acte-clair-Doktrin211 unterlaufen wird.212 210 Das unter Verweis auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens nicht jegliche Kontrollmöglichkeit enfällt, anerkennt auch die Europäische Kommission, vgl. die Wiedergabe deren Stellungnahme durch GA Cruz Villalón im Verfahren vor dem EuGH, C237/15 PPU, Lanigan, ECLI: EU: C: 2015: 509 (Rn. 81). 211 EuGH, Rs. 283/81, CILFIT, Slg. 1982, 3415 ff. (Leitsatz 5): Eine Vorlagepflicht des letztinstanzlichen Gerichts entfällt ausnahmsweise, wenn das Gericht festgestellt hat, „dass die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass
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V. Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes durch die unionsrechtlich kontrollierte Grenze des nationalen ordre public als Lösung de lege lata oder de lege ferenda? Klarzustellen bleibt, ob die hier herausgearbeitete Begrenzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen durch einen nationalen ordre public bereits im geltenden Recht greift. 1. Erfordernis der Primärrechtskonformität der sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung Zwar ist festzustellen, dass die sekundärrechtlichen Rahmenbeschlüsse eine solche Begrenzung nicht vorsehen. Die aufgezeigte Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes ist jedoch vorliegend aus den primärrechtlichen Bestimmungen des Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV sowie aus dem primärrechtlichen Charakter des Anerkennungsgrundsatzes als Rechtsprinzip, damit als Optimierungsgebot, abgeleitet worden. An diesem Maßstab muss sich die sekundärrechtliche Ausgestaltung des Anerkennungsgrundsatzes schon jetzt messen lassen, auch wenn in den Text der Rahmenbeschlüsse eine solche Begrenzung nicht aufgenommen worden ist.213 Bei der vorgeschlagenen Lösung handelt es sich also um eine solche, die de lege lata Geltung beansprucht. Jedoch kommt allein dem EuGH die Kompetenz zu, über die Primärrechtskonformität der sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu entscheiden und darüber zu befinden, ob die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Anerkennung, wie sie ihre konkrete Gestalt etwa durch den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung erlangt für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt; ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Gemeinschaft zu beurteilen.“ 212 Auf eine mögliche Tendenz des BGH, in Strafsachen von der acte clair-Theorie auszugehen, könnten die Entscheidungen BGHSt 56, 11 (16) (bestätigt durch BVerfG, NJW 2012, 1202 ff.) und BGH, Beschl. v. 19.06.2012, 4 Ars 5/12, NJW 2012, 2980 ff. = HRRS 2012 Nr. 644 hindeuten. Kritisch zur Nichtvorlage in der erstgenannten Entscheidung Böse, Die transnationale Geltung des Grundsatzes „ne bis in idem“ und das „Vollstreckungselement“. Zugleich Besprechung von BGH, Beschl. v. 25.10.2010, GA 2011, 504 (512); Merkel/Scheinfeld, Ne bis in idem in der Europäischen Union – zum Streit um das „Vollstreckungselement“, ZIS 5/2012, 206 (212 f.); Zeder, Auswirkungen der Grundrechte-Charta am Beispiel ne bis in idem, JSt 2012, 195 (200). Gegen einen Entfall der Vorlagepflicht argumentieren auch Burchard/Brodowski, Art. 50 Charta der Grundrechte der Europäischen Union und das europäische ne bis in idem nach dem Vertrag von Lissabon. Zugleich Besprechung von LG Aachen, StraFo 2010, 179 (185 f.). 213 In diesem Sinne auch Herrnfeld, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar3 (2012), Art. 67 Rn. 24.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
hat, entsprechend der hier vorgeschlagenen Lösung zu begrenzen ist. Die mitgliedstaatlichen Organe sind nicht dazu berechtigt, selbst über eine solche Einschränkung entgegen des Wortlauts des Rahmenbeschlusses zu befinden. 2. Rechtsprechung des EuGH zum abschließenden Charakter der sekundärrechtlich verankerten Versagungsgründe, insbesondere die Urteile in den Rs. C-396/11, Radu, sowie Rs. C-399/11, Melloni In seiner bisherigen Rechtsprechung war der EuGH mit der Frage der Primärrechtskonformität der Ausgestaltung von Rahmenbeschlüssen zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen im Lichte von Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV noch nicht befasst. Allerdings hat es der EuGH in seiner Rechtsprechung zur Auslegung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl vor der am 5. April 2016 in den Rechtssachen Aranyosi und Ca˘lda˘raru ergangenen Entscheidung stets abgelehnt, eine Möglichkeit, die grundsätzlich verpflichtetende Anerkennung der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates unter Berufung auf andere als die in Art. 3, 4 und 4a RB 2002/ 584/JI ausdrücklich vorgesehenen zwingenden bzw. fakultativen Versagungsgründe zuzulassen.214 Dennoch schien es schon vor dem Urteil Aranyosi und Ca˘lda˘raru nicht völlig ausgeschlossen, dass der EuGH zukünftig eine andere Entscheidung trifft. Anlass für diese Einschätzung boten die Ausführungen des EuGH in seinem Urteil vom 29. Januar 2013 in der Rechtssache Radu. Dort betont der EuGH zunächst den abschließenden Charakter der explizit in den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl aufgenommenen Versagungsgründe und stellt fest, dass ein Unterlassen der Anhörung des Beschuldigten vor Erlass eines Europäischen Haftbefehls weder dem in Art. 4a RB 2002/584/JI geregelten Versagungsgrund eines Abwesenheitsurteils215 unterfällt noch ein anderer Versagungsgrund einschlägig ist.216 Jedoch belässt es der EuGH nicht bei dieser Feststellung, sondern führt anschließend aus, dass es entgegen dem Vorbringen des Klägers im Ausgangsver214 Vgl. EuGH, Rs. C-388/08 PPU, Leymann und Pustarov, Slg. 2008, I-8983 ff. (Rn. 51); EuGH, Rs. C-123/08, Wolzenburg, Slg. 2008, I-9621 ff. (Rn. 57); EuGH, Rs. C-261/09, Mantello, Slg. 2010, I-11477 ff. (Rn. 37); EuGH, Rs. C-396/11, Radu, ECLI: EU: C: 2013: 39 (Rn. 36). Zum Urteil in den verb. Rs. Aranyosi und Ca˘lda˘raru sogleich am Ende dieses Unterabschnitts. 215 Näher zu der Regelung des Anerkennungsversagungsgrundes eines Abwesenheitsurteils im Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung siehe unten Teil 2 Kapitel 3 A.II.3. Zur weitgehenden Vereinheitlichung der Regelungen des Versagungsgrundes eines Abwesenheitsurteils in den Rechtsakten zur gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen Klitsch, Der neue Rahmenbeschluss zu Abwesenheitsverurteilungen – ein Appell zur Revision, ZIS 1/2009, 11 ff. 216 EuGH, Rs. C-396/11, Radu, ECLI: EU: C: 2013: 39 (Rn. 37 f.).
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fahren zur Wahrung der in Art. 47 und 48 EU-GRCh garantierten justiziellen Grundrechte nicht erforderlich sei, die Verweigerung der Anerkennung und Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darauf stützen zu können, dass die gesuchte Person vor der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls nicht von der ausstellenden Justizbehörde angehört worden sei.217 Implizit prüft der EuGH damit, ob die primärrechtlichen Regelungen der Art. 47 und 48 EU-GRCh über die in Art. 3, 4 und 4a RB 2002/584/JI explizit enthaltenen Versagungsgründe hinaus eine weitergehende Versagungsmöglichkeit erfordern. Im konkreten Fall verneint der EuGH dieses. Deutlich wird aber, dass er (selbstverständlich) auch die Beschränkung der Versagungsgründe in den sekundärrechtlichen Ausgestaltungen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf ihre Primärrechtskonformität hin prüft. In gleicher Weise hat der EuGH in seinem Urteil vom 26. Februar 2013 in der Rechtssache Melloni die Neuregelung des Versagungsgrundes eines Abwesenheitsurteils in Art. 4a Abs. 1 RB EuHB218 am Maßstab der Art. 47 und 48 EU-GRCh überprüft und als vereinbar mit dem Gewährleistungen der Grundrechtecharta und im Einklang mit dem durch Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK gewährleisteten Standard bestätigt.219 Kurze Zeit nach den Entscheidungen Radu und Melloni hat es der EuGH in der Rechtssache Jeremy F. allerdings noch der Rechtsordnung des Ausstellungsstaates zugewiesen, für hinreichenden Rechtsschutz gegen die Verletzung des europäischen ordre public durch die Ausgangsentscheidung Sorge zu tragen, namentlich die Rechtmäßigkeit des Verfahrens der Strafverfolgung, der Strafvollstreckung oder der Verhängung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung oder auch des strafrechtlichen Hauptverfahrens, das zur Verhängung dieser Strafe oder Maßregel geführt hat, in Frage zu stellen.220 Dem Vollstreckungsstaat komme nach dieser den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl betreffenden Entscheidung eine Aussetzung des Überstellungsmechanismus nur dann zu, „wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EU enthaltenen Grund217
EuGH, Rs. C-396/11, Radu, ECLI: EU: C: 2013: 39 (Rn. 39 ff.). Ausführlich zum Versagungsgrund eines Abwesenheitsurteils und dessen Grenzen anhand der entsprechenden Regelung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung siehe unten Teil 2 Kapitel 3 A.II.3. 219 EuGH, Rs. C-399/11, Melloni, ECLI: EU: C: 2013: 107 (Rn. 47–54), unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 14.06.2001, Medenica v. Schweiz, Nr. 20491/92, §§ 56–59; EGMR, Urt. v. 01.03.2006, Sejdovic v. Italien, Nr. 56581/00, §§ 84, 86, 98, sowie EGMR, Urt. v. 24.04.2012, Haralampiev v. Bulgarien, Nr. 29648/03, §§ 32 f. Hingegen hat der EuGH im Bereich des Antidiskriminierungsrechts bereits sekundärrechtliche Bestimmungen wegen des Verstoßes gegen in der Grundrechtecharta garantierte Rechte für ungültig erklärt, vgl. EuGH, Rs. C-236/09, Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u. a., Slg. 2011, I-773 ff. (Rn. 5 ff., 34). 220 EuGH, Rs. C-168/13 PPU, Jeremy F., ECLI: EU: C: 2013: 358 (Rn. 50), unter Verweis auf eine frühere Entscheidung im Bereich des transnationalen Ehe- und Kindschaftsrechts. In diesem Sinne könnten auch die Ausführungen des EuGH zum Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in EuGH, GA 2/13, EMRK-Beitritt, ECLI: EU: C: 2014: 2454 (Rn. 191–195) zu verstehen sein. 218
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
sätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 EU mit den Folgen von Art. 7 Abs. 2 festgestellt wird.“ 221 Inhaltlich steht die Beschränkung auf schwere und anhaltende, mithin strukturelle Verletzungen im Einklang mit der Rechtsprechung im Bereich des Asylrechts; dort jedoch hat der EuGH kein solches Erfordernis der Feststellung durch den Rat aufgestellt.222 Diese letztgenannte Rechtsprechung der EuGH wurde von der Europäischen Kommission in der Rechtssache Lanigan dergestalt interpretiert, dass ausnahmsweise auch der Vollstreckungsstaat aufgrund von Verletzungen europäischer Grundsätze das gegenseitige Vertrauen in die Gleichwertigkeit der einzelnen Entscheidung als widerlegt ansehen und die Anerkennung versagen darf.223 In den verbundenen Rechtssachen Aranyosi und Ca˘lda˘raru hat der EuGH diese Ansicht nunmehr bestätigt und die Möglichkeit des Vollstreckungsstaates zur Verweigerung der Überstellung auf einen Europäischen Haftbefehl hin anerkannt, wenn aufgrund der Haftbedingungen im Ausstellungsstaat eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des Art. 4 EU-GRCh nicht auszuschließen ist.223a 3. Erweiterte Möglichkeit der Versagung der Anerkennung aufgrund der Verletzung des europäischen ordre public? – Der Schlussantrag GA Sharpston vom 18. Oktober 2012 in der Rs. C-396/11, Radu Die Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV angesprochen sind, gehören zum vorrangigen Unionsprimärrecht, an dem sich Inhalt, Umsetzung und Anwendung der sekundärrechtlichen Rahmenbeschlüsse zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen messen lassen müssen.224 Entsprechend sind die in diesen Rahmenbeschlüssen enthaltenen Bestimmungen,225 nach denen durch diese Rechtsakte nicht die Pflicht, diese Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze zu 221
EuGH, Rs. C-168/13 PPU, Jeremy F., ECLI: EU: C: 2013: 358 (Rn. 49). Vgl. EuGH, verb. Rs. C-411/10 u. C-493/10, N.S. u. a., Slg. 2011, I-13905 ff. (Rn. 79 ff.). 223 Vgl. die Wiedergabe deren Stellungnahme der Europäische Kommission durch GA Cruz Villalón im Verfahren vor dem EuGH, C-237/15 PPU, Lanigan, ECLI: EU: C: 2015: 509 (Rn. 81): „However, the principle of mutual recognition is not intended to establish an automatic regime for recognition and execution, and the presumption that all Member States respect fundamental rights is not a onclusive presumption. [. . .] Consequently, in certain cases, the executing judicial authority must be able to rebut that presumption.“. 223a EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI: EU: 2016: 198 (Rn. 82 ff., 104). 224 Siehe dazu oben Teil 2 Kapitel 1 C.II. 225 Vgl. insbesondere Art. 3 Abs. 4 RB 2008/909/JI (Europäische Vollstreckungsanordnung) und Art. 1 Abs. 3 RB 2002/584/JI (Europäischer Haftbefehl). 222
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze
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achten, berühren, deklaratorischer Natur. Einige Mitgliedstaaten, so auch Deutschland mit § 73 S. 2 IRG, haben daher die Verletzung dieses Rechtstandards als Versagungsgrund explizit in ihr Umsetzungsrecht aufgenommen.226 Die Kommission steht dem kritisch, aber nicht völlig ablehnend gegenüber: „Diese Gründe mögen zwar legitim sein, auch wenn sie über den Rahmenbeschluss hinausgehen [. . .], sollten aber in der Union nur in Ausnahmefällen geltend gemacht werden.“ 227 Generalanwältin Sharpston hat jüngst die Möglichkeit der Berücksichtigung dieses Grundrechtsstandards bei der Entscheidung über die Anerkennung oder Versagung eines Europäischen Haftbefehls ausdrücklich eingefordert. Bei einer gegenteiligen Auslegung des Art. 1 Abs. 3 RB 2002/584/JI „bestünde die Gefahr, dass diese Vorschrift – außer vielleicht als elegante Plattitüde – keinerlei Bedeutung hat“.228 Auch die Generalanwälte Colomer und Bots haben sich – nach hiesigem, normhierarchisch begründeten Verständnis deklaratorisch – für eine Begrenzung des Anerkennungskonzepts durch Art. 6 EUV ausgesprochen.229 Mit dem Urteil in den Rechtssachen Aranyosi und Ca˘lda˘raru hat der EuGH diese Auffassungen bestätigt. 4. Explizite Ablehnung erweiterter Versagungsgründe aufgrund nationaler Grundrechte in Anknüpfung an Art. 53 EU-GRCh, EuGH, Rs. C-399/11, Melloni Die soeben aufgezeigte Anerkennung der Erweiterung der Versagungsgründe durch den EuGH ist allein auf die Ableitung solcher Versagungsgründe aus den Unionsgrundrechten beschränkt. Sie ist aufgrund des Vorrangs der Grundrechtecharta gegenüber den sekundärrechtlichen Rechtsakten zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung normhierarchisch zwingend. Explizit abgelehnt hat der EuGH in seinem bereits angesprochenen Urteil vom 26. Februar 2013 in der Rechtssache Melloni jedoch die Ausweitung der Versagungsgründe aufgrund nationaler Grundrechte. In seiner Argumentation knüpft der EuGH zunächst an Art. 53 EU-GRCh an, nach dem keine Bestimmung der Grundrechtecharta als eine Einschränkung u. a. der durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten gewährleisteten Grundrechte verstanden werden darf.230 Der EuGH erwägt, ob daraus abgeleitet werden könne, dass es einem Mitgliedstaat 226
Siehe KOM(2006) 8 endg., S. 6. Siehe KOM(2006) 8 endg., S. 6. 228 GA Sharpston im Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-396/11, Radu, ECLI: EU: C: 2012: 648 (Rn. 70). 229 GA Colomer, Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-297/07, Bouquain, Slg. 2008, I-9425 ff. (Rn. 51); wie hier unter Betonung des deklaratorischen Charakters von Art. 1 Abs. 3 RB 220/584/JI GA Bots, Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-123/08, Wolzenburg, Slg. 2009, I-9621 ff. (Rn. 148 f.) sowie Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-261/09, Mantello, Slg. 2010, I-11477 ff. (Rn. 88). 230 EuGH, Rs. C-399/11, Melloni, ECLI: EU: C: 2013: 107 (Rn. 56–64). 227
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
generell gestattet sei, einen in seiner innerstaatlichen Verfassung garantierten Grundrechtsstandard anzuwenden, wenn der dadurch gewährleistete Schutz höher als der sich aus der Charta ergebende ist. Dies hätte zur Folge, dass der innerstaatliche Grundrechtsstandard gegebenenfalls auch der Anwendung unionsrechtlicher Vorschriften, in concreto der zwingenden Anerkennung eines Europäischen Haftbefehls, entgegengehalten werden könnte.231 Der Gerichtshof lehnt ein solches Verständnis des Art. 53 EU-GRCh unter Verweis auf den Vorrang des Unionsrechts ausdrücklich ab, denn anderenfalls würde es einem Mitgliedstaat erlaubt sein, „die Anwendung von mit der Charta vollständig im Einklang stehenden [sekundären] Unionsrechtsakten zu verhindern, wenn sie den in der Verfassung dieses Staats garantierten Grundrechten nicht entsprächen“.232 Dabei interpretiert der EuGH die durch Art. 53 EU-GRCh gewährleistete Garantie der „Aufrechterhaltung des durch [. . .] das Recht der Mitgliedstaaten [. . .] in seinem jeweiligen Anwendungsbereich gegenwärtig gewährleisteten Schutzniveaus“, so die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte,233 in Kohärenz mit dem das supranationale Unionsrecht konstituierenden Grundsatz des Vorrangs vor jeglichem innerstaatlichen Recht, selbst wenn dieses verfassungsrechtlichen Rang hat.234 Zwar enthalten weder Art. 53 EU-GRCh noch die nicht rechtsverbindliche, vielmehr lediglich als Interpretationshilfe dienende235 Erläuterung zu diesem einen expliziten Hinweis auf den Vorrang des Unionsrecht. Dennoch ist nicht davon auszugehen, die Mitgliedstaaten hätten durch die Aufnahme des Art. 53 EUGRCh die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten gefährden und damit die gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dem die einheitliche Anwendung absichernden Vorrang außer Kraft setzen wollen. Denn die einheitliche Anwendung des Unionsrechts ist nach ständiger Rechtsprechung ein Grunderfordernis der Unionsrechtsordnung.236 Ihre Gewährleistung dient nicht nur dem Schutz der Autonomie der Unionsrechtsordnung vor Eingriffen durch die Mitgliedstaaten. Die einheitliche Anwendung bei vergleichbarem Sachverhalt ist vielmehr auch Grundbedingung von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit gegenüber dem Rechtsunterworfenen.237 Der Interpretation des Art. 53 EUGRCh ist daher zuzustimmen. 231
EuGH, Rs. C-399/11, Melloni, ECLI: EU: C: 2013: 107 (Rn. 56). EuGH, Rs. C-399/11, Melloni, ECLI: EU: C: 2013: 107 (Rn. 57 f.), Einfügung durch den Verfasser. 233 ABl. EU 2007 C 303/17 (35). 234 EuGH, Rs. C-399/11, Melloni, ECLI: EU: C: 2013: 107 (Rn. 60); ausführlich bereits GA Bots, Schlussantrag im selben Verfahren, ECLI: EU: C: 2012: 600 (Rn. 89– 136). Grundlegend zum Vorrang EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 (1269 ff.) explizit zum Vorrang auch vor mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 ff. (Rn. 3). 235 Vgl. ABl. EU 2007 C 303/17. 236 Vgl. etwa EuGH, verb. Rs. C-143/88 u C-92/89, Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Slg. 1991, I-415 ff. (Rn. 26). 232
D. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und ordre public-Grenze
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Allerdings kann der Argumentation des EuGH nicht gefolgt werden, soweit er – vor Ablauf der Übergangsfrist zum Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrags – zugleich von einem Vorrang unionsrechtlicher Rahmenbeschlüsse vor mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht ausgeht. Aus verfassungsrechtlicher Sicht müssten sich im unauflöslichen Konfliktfall die grundgesetzlichen Wertungen durchsetzen, da Rahmenbeschlüsse, wie nachfolgend zu zeigen sein wird, bis zum Ablauf der Übergangsfrist am 30.11.2014 gerade nicht am Vorrang des Unionsrechts teilnahmen.238 Aus unionsrechtlicher Sicht ist festzuhalten, dass der EuGH sich in seiner Argumentation gegen eine Ableitung weiterer bzw. erweiterter Versagungsgründe insbesondere nicht mit dem in der vorliegenden Arbeit herausgearbeiteten Anknüpfungspunkt des Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV auseinandergesetzt hat. Zwar hätte die Vorlage des spanischen Verfassungsgerichts Anlass geboten, eine solche Prüfung vorzunehmen, da das vorlegende Gericht deutlich gemacht hat, dass es einen Konflikt mit dem Wesensgehalt nationaler Grundrechte sieht, wenn spanische Gerichte verpflichtet sind, einen Europäischen Haftbefehl, der aufgrund eines Abwesenheitsurteils erlassen wurde, unabhängig von der Schwere der zur Last gelegten Straftaten stets zu vollstrecken, wenn nicht ein Versagungsgrund im Sinne des die Art. 47 f. EU-GRCh konkretisierenden Art. 4a Abs. 1 RB EuHB vorliegt.239 Entsprechend ist Generalanwalt Bots in seinem Schlussantrag vom 02.10.2012 kurz auf eine mögliche Prüfung des Art. 4 Abs. 2 EUV eingegangen, hat diese jedoch zutreffend unter Verweis darauf, dass jedenfalls nicht die nationale Identität Spaniens gefährdet sei, verworfen.240 Zwar erwähnt der Generalanwalt im Folgenden auch das Schutzgebots der verschiedenen Rechtsordnungen und -rechtstraditionen der Mitgliedstaaten, Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV sowie die Einzelausprägungen in Art. 82 Abs. 2 AEUV und Art. 83 Abs. 2 AEUV.241 Obwohl Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV anders als Art. 4 Abs. 2 EUV nicht allein auf den Schutz tatsächlich grundlegender, für das jeweilige politische System konstituierender Besonderheiten beschränkt ist, sondern auch jenseits dieser Verfassungsidentität die grundlegenden Besonderheiten der mitgliedstaat-
237 Ausführlich Nettesheim, Der Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz (1995), S. 447 ff.; Schumann, Die Union, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts? Chancen und Risiken abgestufter Integration als Methode europäischer Zielerreichung, in: Leidenmühler/Eder/Leingartner/Winkler (Hrsg.), Grundfreiheiten – Grundrechte – Europäisches Haftungsrecht (2012), S. 257 (264). 238 Ausführlich unten F., in diesem Kapitel. 239 Vgl. EuGH, Rs. C-399/11, Melloni, ECLI: EU: C: 2013: 107 (Rn. 20 f.). 240 GA Bots, Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-399/11, Melloni, ECLI: EU: C: 2012: 600 (Rn. 137–142). 241 GA Bots, Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-399/11, Melloni, ECLI: EU: C: 2012: 600 (Rn. 143 f.).
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
lichen Strafrechtssysteme schützt,242 verzichtet der Generalanwalt auf eine nähere Prüfung. Der EuGH hat diesen Aspekt der Vorlage in seinem Urteil gar nicht aufgegriffen. 5. Schlussfolgerung: Anerkennung des unionsrechtlichen kontrollierten nationalen ordre public als Anerkennungsgrenze in der Rechtspraxis noch offen Mit dem Urteil in der Rechtssache Melloni hat der EuGH also keine Entscheidung getroffen, aus der eine Ablehnung des vorliegend herausgearbeiteten Modells einer Begrenzung des Anerkennungskonzepts durch einen unionsrechtlich kontrollierten Vorbehalt des nationalen ordre public abzuleiten ist. Hingegen macht die Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Rechtssachen Radu, Melloni sowie Aranyosi und Ca˘lda˘raru deutlich, dass sich die Beschränkung der expliziten Versagungsgründe in den sekundärrechtlichen Ausgestaltungen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen am primärrechtlichen Maßstab des Art. 6 EUV messen lassen muss. Die Anerkennung des materiell-rechtlichen Maßstabs eines europäischen ordre public als Versagungsgrund ist damit klargestellt.
E. Vollstreckungsüberstellung und unionsrechtliche Freizügigkeitsrechte Der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung muss im Einklang mit den Regelungen zur Freizügigkeit der Unionsbürger und deren Begrenzungen aus Gründen der wesentlichen bzw. schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit verstanden werden, die in Ausformung des Art. 20 Abs. 2 AEUV durch die Art. 27 und 28 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG243 konkretisiert sind. Aus diesen ergibt sich nämlich, in welchen Fällen Unionsbürger nach einer strafrechtlichen Verurteilung abgeschoben werden dürfen.
242
Vgl. oben Teil 2, Kapitel 1, C.III.1. Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/ EWG, 72/194/EWG, 73/148 EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/ EWG und 93/96/EWG, ABl. EU 2004 L 158/77, korr. ABl. EU 2004 L 229/35, i. d. F. VO (EU) Nr. 492/2011, ABl. EU 2011 L 141/1, in der Bundesrepublik Deutschland umgesetzt durch das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern v. 30. Juli 2004, BGBl. 2004 I S. 1950, zuletzt geändert durch Art. 6 G v. 22.12.2015, BGBl. I 2557. 243
E. Vollstreckungsüberstellung und unionsrechtliche Freizügigkeitsrechte
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I. Beschränkung der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit Art. 27 Abs. 1 RL 2004/38/EWG bestimmt, dass die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen ungeachtet deren Staatsangehörigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt werden kann. Abs. 2 der Vorschrift betont ausdrücklich, dass bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist und ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein darf. Klarstellend ist angefügt: „Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.“ Vielmehr geht es um eine Prognoseentscheidung, denn Voraussetzung einer Beschränkung des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts ist, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine „tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig“.244 Wirtschaftliche Erwägungen, etwa die Kosten des Strafvollzugs, stellen keinen Grund der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit dar, der einen Eingriff in das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht rechtfertigen könnte.245 Bevor eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt wird, hat der Mitgliedstaat insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zur berücksichtigen.246 Mit dieser Entscheidung wird auch die Beurteilung der Resozialisierungschancen gemäß Art. 4 Abs. 2 RB 2008/909/JI vorgeprägt.247 II. Besonderer Schutz bei verfestigtem Aufenthalt Besonderen Schutz genießen daueraufenthaltsberechtigte Unionsbürger und Familienangehörige, also Personen, die mindestens auf einen ununterbrochenen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat zurückblicken.248 Gegen diese kann eine Ausweisung nur aus „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ verfügt werden.249 Unionsbürger, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufenthaltsmitgliedstaat ge244 245 246 247 248 249
Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG. Vgl. Art. 27 Abs. 1 S. 2 RL 2004/38/EG. Art. 28 Abs. 1 RL 2004/38/EG. Zu dieser Entscheidung oben Kapitel 4 B.III.4. Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG. Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
habt haben, und Minderjährige genießen nochmals erhöhten Ausweisungsschutz. Gegen sie darf eine Ausweisung grundsätzlich nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht „auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit“.250 Eine Ausweisungsverfügung kann als Strafe oder Nebenstrafe zu einer Freiheitsstrafe nur erlassen werden, wenn diese Voraussetzungen eingehalten sind.251 Soll eine ergangene Ausweisungsverfügung mehr als zwei Jahre nach ihrem Erlass vollstreckt werden, so setzt dies voraus, dass der Mitgliedstaat überprüft, ob von dem Betroffenen (noch immer) eine gegenwärtige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgeht oder ob seit dem Erlass der Ausweisungsverfügung eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist.252 III. „Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ als unionsrechtlicher Rahmenbegriff Ob „Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ bzw. „schwerwiegende“ solche oder gar „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ vorliegen, beurteilt grundsätzlich der betroffene Mitgliedstaat selbst.253 Der EuGH ist jedoch dazu berufen, den äußeren Rahmen dieser unionsrechtlichen Begriffe abzustecken.254 So hat er zuletzt in der Rs. C-348/09, P. I./Oberbürgermeisterin der Stadt Remscheid, entschieden, dass es den Mitgliedstaaten freistehe, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV angeführten als besonders schwere Beeinträchtigungen eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet sind, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen und damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit zu subsumieren. Im konkreten Fall ging es um den sexuellen Missbrauch eines Kindes, das das Alter der sexuellen Mündigkeit noch nicht erreicht hatte, vorgenommen unter dem erschwerenden Umstand eines Autoritäts- bzw. Vertrauensverhältnisses bzw. unter Zwang, Gewalt oder Drohung. In seiner Argumentation knüpft der EuGH dabei auch an die in einer unionsrechtlichen Richtlinie vorgesehenen Mindesthöchststrafen an, die für die hier in Rede stehenden Handlungen bei fünf, acht bzw. zehn Jahren Freiheitsentzug liegen.255 250 Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG. Dies gilt gegenüber Kindern nicht, wenn die Ausweisung zum Wohl des Kindes notwendig ist, wie dies im Übereinkommen der Vereinten Nationen v. 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist. 251 Art. 33 Abs. 1 RL 2004/38/EG. 252 Art. 33 Abs. 2 RL 2004/38/EG. 253 Vgl. Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG. 254 Vgl. z. B. die jüngsten Entscheidungen EuGH, Rs. C-145/09, Tsakouridis, Slg. 2010 I-11979 ff. (Rn. 39 ff.); EuGH, Rs. C-348/09, P. I./Oberbürgermeisterin der Stadt Remscheid, ECLI: EU: C: 2011: 276 (Rn. 21 ff.); ferner EuGH, Rs. C-268/99, Jany u. a., Slg. 2001, I-8615 ff. (Rn. 60). 255 Vgl. Art. 3 Abs. 4, Abs. 5 UAbs. i, iii RL 2011/93, ABl. EU 2011 L 335/1, korr. ABl. EU 2012 L 18/7.
F. Rechtsform des Rahmenbeschlusses und mitgliedstaatliches Recht
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In der Rs. C-145/09, Tsakouridis, hat der EuGH auch bejaht, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit“ fallen könne.256 Die hier aufgezeigten Grundsätze müssen bei der Anwendung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung Berücksichtigung finden.257
F. Rechtsform des Rahmenbeschlusses und mitgliedstaatliches Recht – Vorrang des Unionsrechts? Neben den primärrechtlichen Wertungen insbesondere des Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV könnte bzw. konnte sich die Anwendbarkeit des unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public als Anerkennungsgrenze auch aus dem Verhältnis von Rahmenbeschlüssen zu mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht ableiten lassen. Das wäre dann der Fall gewesen, wenn Rahmenbeschlüsse nicht im Vorrang des Unionsrechts teilhaben. Dies war streitig. Während etwa der EuGH von einem Vorrang von Rahmenbeschlüssen vor jeglichem mitgliedstaatlichen Recht ausging,258 hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum ersten Europäischen Haftbefehlsgesetz einen solchen Vorrang abgelehnt.259 Im Folgenden ist die Frage des Vorrangs von Rahmenbeschlüssen daher näher untersucht worden. I. Rahmenbeschluss als Rechtsakt der früheren Dritten Säule Der Rahmenbeschluss war eine Rechtsform, die durch den Amsterdamer Vertrag eingeführt worden war und – zusammen mit dem (einfachen) Beschluss – das Instrument der Gemeinsamen Maßnahme260 ersetzte.261 Er diente zur Anglei-
256
EuGH, Rs. C-145/09, Tsakouridis, Slg. 2010, I-11979 ff. (Rn. 39 ff., 56). Siehe oben Teil 1 Kapitel 3 G. 258 EuGH, Rs. C-399/11, Melloni, ECLI: EU: C: 2013: 107 (Rn. 58–63); siehe dazu bereits oben D.V.4, in diesem Kapitel. 259 BVerfG 113, 273 ff. (300 f.) (Europäischer Haftbefehl). 260 Diese wurde bei Gründung der Europäischen Union mit dem Maastrichter Vertrag in Art. K.3 Abs. 2 lit. b EUV für die Bereiche der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, der Zusammenarbeit im Zollwesen und der polizeilichen Zusammenarbeit zur Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus, des illegalen Drogenhandels und sonstiger schwerwiegender Formen internationaler Kriminalität in Verbindung mit dem Aufbau eines unionsweiten Systems zum Austausch von Informationen im Rahmen eines Europäischen Polizeiamts (Europol) geschaffen. 261 Satzger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV (2003), Art. 34 EUV Rn. 9. Vgl. auch Zeder, Der Rahmenbeschluss als Instrument der EU-Rechtsangleichung im Strafrecht, ÖJZ 2001, 81. 257
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
chung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der PJZS.262 Für die vorliegende Untersuchung ist auch nach Inkrafttreten der Lissabonner Vertragsreform von Bedeutung, ob ein Rahmenbeschluss am Vorrang supranationalen Europarechts teilnahm oder nicht. Denn gemäß Art. 9 und 10 Abs. 1 des Übergangsprotokolls behalten die vor Inkrafttreten der Vertragsreform auf Grundlage des alten EUV beschlossenen Rechtsakte Rechtswirkung.263 Mit der Schaffung der an der Richtlinie orientierten Rechtsform des Rahmenbeschlusses264 war eine höhere Bindungswirkung gegenüber der früheren Gemeinsamen Maßnahme, deren Verbindlichkeit im Einzelfall festzulegen war, angestrebt. So bedeutete die Zielverbindlichkeit der Rahmenbeschlüsse für die Mitgliedstaaten zwangsläufig eine Verpflichtung, das zur Zielerreichung Erforderliche zu tun, also umzusetzen. Soweit nötig, war nicht nur das zur Umsetzung erlassene, sondern auch jegliches andere mitgliedstaatliche Recht rahmenbeschlusskonform auszulegen.265 Damit ist allerdings noch nicht gesagt, inwieweit der innerstaatlichen Beachtung dieser Verpflichtung durch das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht Grenzen gesetzt waren. II. Einheitsthese versus Säulenstruktur der früheren Europäischen Union 1. Säulenstruktur als Ausdruck unterschiedlicher Integrationstiefe Das Recht der Zweiten und Dritten Säule ergänzte gemäß Art. 1 Abs. 3 EU a. F. unter dem Gemeinsamen Dach der Europäischen Union das Recht der Europäischen Gemeinschaften. Daher hätte es nahe gelegen, schon vor Inkrafttreten der Lissabonner Vertragsreform von einer einheitlichen Rechtsordnung des Unionsrechts zu sprechen, um zu verdeutlichen, dass die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in der Zweiten und Dritten Säule gerade im Hinblick auf die bereits bestehende Vergemeinschaftung in der Ersten Säule erfolgte, diese ergänzte und sich ohne Zweifel schon durch diese Einbettung von sonstiger völkerrechtlicher Kooperation souveräner Staaten unterschied. So sehr der Konnex zwischen den Säulen, wie er auch im einheitlichen institutionellen Rahmen zum Ausdruck kam,266 zu beachten war, so blieb doch zu berücksichtigen, dass mit der Gründung der Europäischen Union zwar eine Annäherung der in Zweiter und Dritter Säule geregelten Materien bezweckt war, dass aber gerade keine vollständige Integration in
262 Vgl. Art. 34 Abs. 2 Satz 2 lit. b EU a. F. Vgl. näher dazu EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633 ff. (Rn. 24 ff.). 263 Siehe oben A.III.1., in diesem Kapitel. 264 Siehe dazu auch oben A.II.2., in diesem Kapitel. 265 EuGH, Rs. C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-5285 ff. (Rn. 43). Näher dazu unten F.VIII., in diesem Kapitel. 266 Vgl. Art. 3 Abs. 1 EU a. F.
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das Gemeinschaftsrecht vorgenommen wurde. Vor diesem Hintergrund war auch die Entscheidung des EuGH zu interpretieren, mit der er den Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt durch Strafrecht für nichtig erklärt hatte.267 Diese Entscheidung beschäftigte sich mit der Reichweite der Kompetenzen für Regelungen zum Umweltschutz innerhalb der früheren Ersten Säule. Der dort statuierte Vorrang der Ersten Säule konnte sich nicht nur auf die unterschiedliche institutionelle Beteiligung bei der Gesetzgebung stützen, sondern ließ auch auf einen abgestuften Rechtscharakter der Säulen der Europäischen Union alten Zuschnitts schließen. 2. Passerelle-Klausel, Art. 42 EU a. F., als Ausdruck unterschiedlicher Integrationstiefe Auch die Möglichkeit der vereinfachten Überführung auf Basis des Art. 42 EU a. F. (sog. „Passerelle“)268 hätte ihren Sinn verloren, wenn ohnehin die Wirkungen von Unions- und Gemeinschaftsrecht gleich gewesen wären. Zwar ist der EU-Vertrag, wie Art. 1 Abs. 2 EU gleichlautend vor und nach der Lissabonner Vertragsreform betont, eine Stufe der immer engeren Integration der Völker Europas. Dass dieser Integrationsprozess auch im Bereich der Dritten Säule dynamisch angelegt war, wurde durch die Evolutivklausel des Art. 42 EU a. F. belegt.269 Das dort verankerte halbautonome Vertragsänderungsverfahren270 sah vor, dass der Rat eine Vergemeinschaftung von Zuständigkeiten der Polizeilichen und Justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen beschließen konnte. Um wirksam zu werden, hätte der Beschluss allerdings der Annahme durch die Mitgliedstaaten entsprechend ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften bedurft. Der Verzicht auf das Erfordernis einer Regierungskonferenz in Abweichung von dem in Art. 48 EU vorgesehenen Verfahren ermöglichte zwar potentiell eine vereinfachte Vertragsänderung, zeigte jedoch deutlich, dass sich die Mitgliedstaaten (noch) gegen eine Vergemeinschaftung entschieden und sich selbst als Herren der Verträge die Entscheidung über eine solche vorbehalten hatten. Von der Evolutivklausel des Art. 42 EU a. F. wurde aber kein Gebrauch gemacht. Entsprechende Bestrebungen der finnischen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2006 zur Vergemeinschaftung über Art. 42 EU a. F. waren im Rat nicht konsensfähig. 267 EuGH, Rs. C-176/03, Kommission/Rat, Slg. 2005, I-7879 ff. Die in dieser Entscheidung bejahte strafrechtliche Annexkompetenz der Gemeinschaft begrenzt aufgrund des Art. 47 EU a. F. zugleich das Tätigwerden der Mitgliedstaaten innerhalb der Dritten Säule. 268 Vgl. dazu etwa Jour-Schröder/Konow, Die Passerelle des Art. 42 EU-Vertrag – Macht sie die Regeln des Verfassungsentwurfs für einen europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts obsolet?, EuZW 2006, 550 ff. 269 Böse, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar (2000), Art. 29 EUV Rn. 2. 270 Zu halbautonomen und autonomen Vertragsänderungsverfahren als atypischen Vertragsänderungsverfahren vgl. Sichert, Grenzen der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union, 2005, S. 260 ff.
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3. Lediglich Teilvergemeinschaftung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts durch die Amsterdamer Vertragsreform Die Unterschiede zwischen Unions- und Gemeinschaftsrecht ließen sich auch nicht durch den Hinweis darauf negieren, dass die Polizeiliche und Justitielle Zusammenarbeit innerhalb der Dritten Säule schon damals gemeinsam mit den Regelungen in Titel IV des EG-Vertrages säulenübergreifend dem schrittweisen Aufbau eines einheitlichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts271 diente. Mit dem Amsterdamer Vertrag war dieser Titel IV des früheren EG-Vertrages aus der Dritten Säule in die damalige supranationale Erste Säule überführt worden. Die Polizeiliche und Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen wurde jedoch bewusst in der intergouvernementalen Dritten Säule belassen. Unterschiede im Rechtscharakter beider Säulen konnten sich angesichts dieser bewussten Entscheidung der Mitgliedstaaten als Herren der Verträge nicht ohne weiteres durch den gemeinsamen Oberbegriff überspielen lassen.272 III. Rahmenbeschluss zwischen völkerrechtlichem Vertrag und supranationaler Richtlinie Inwieweit vergleichbar ausgestaltete Rechtsinstrumente der Ersten und der Dritten Säule auch vergleichbare Rechtswirkungen haben konnten, ließ sich losgelöst von einer generalisierenden Einheitsthese diskutieren.273 1. Rahmenbeschluss als Nachbildung der Richtlinie Argumentiert wurde, die Orientierung des Rahmenbeschlusses an der Richtlinie habe gerade die nahezu wortgleiche Umschreibung seiner rechtlichen Wirkung betroffen.274 Lehne sich der frühere Unionsvertrag derart an das damalige 271 Ausführlich zu diesem etwa Götz, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Ipsen/Schmidt-Jortzig, Recht – Staat – Gemeinwohl. Festschrift für Dietrich Rauschning (2001), S. 185 ff. 272 Götz, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Ipsen/SchmidtJortzig, Recht – Staat – Gemeinwohl. Festschrift für Dietrich Rauschning (2001), S. 185 (193), sprach von einem qualitativem und sogar kategorialem Unterschied zwischen der gemeinsamen Wahrnehmung staatlicher Hoheitsrechte in der Dritten Säule und der Übertragung von Hoheitsrechten in der Ersten Säule. 273 EuGH, Rs. C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-5285 ff. (Rn. 36), sieht im Rahmenbeschluss einen Rückgriff der Herren der Verträge auf Rechtsinstrumente mit analogen Wirkungen wie im EG-Vertrag. Schroeder, Der Rahmenbeschluss als Rechtssatzform in den Verträgen, in: Lagodny/Wiederin/Winkler (Hrsg.), Probleme des Rahmenbeschlusses am Beispiel des Europäischen Haftbefehls (2007), S. 37 (47, dort Fn. 37, 47 ff.), bezweifelte einen solchen subjektiven Willen der Vertragsparteien, schlussfolgert jedoch aus systematischen Erwägungen auf eine weitgehende Parallelität. 274 Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (2002), S. 568.
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Gemeinschaftsrecht an, spreche nichts gegen eine Auslegung dieses Unionsrechts möglichst in Anlehnung an das Gemeinschaftsrecht. Rahmenbeschlüssen sei daher – mit Ausnahme der ausdrücklich ausgeschlossenen unmittelbaren Wirksamkeit – genau die gleiche rechtliche Bindungskraft zuzusprechen gewesen wie der Richtlinie.275 Zumindest zwang die Schaffung der strukturell an der gemeinschaftsrechtlichen Richtlinie angelehnten Rechtsform des Rahmenbeschlusses dazu, ihr weitergehenden Einfluss auf das nationale Recht zuzubilligen als dies ein völkervertragliches Übereinkommen auf Basis von Art. 34 Abs. 2 Satz 2 lit. d EU a. F. hatte. Dabei war zu berücksichtigen, dass der Rahmenbeschluss eingeführt wurde, um ein für die Mitgliedstaaten verbindliches und damit gegenüber der früheren Gemeinsamen Maßnahme und dem ratifizierungsbedürftigen Übereinkommen effizienteres Mittel der Zusammenarbeit zu schaffen. Der Rahmenbeschluss ging über klassisches Völkervertragsrecht hinaus: Anders als das den Mitgliedstaaten zur Annahme nach ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften empfohlene Übereinkommen276 trat er bereits aufgrund des Ratsbeschlusses zu dem in ihm festgelegten Termin für die Mitgliedstaaten in Kraft und band diese kraft der besonderen vertraglichen Ermächtigung in Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU a. F.277 Einer Ratifikation bedurfte es nicht mehr. Die Umsetzungsverpflichtung entstand aufgrund des durch Art. 29 ff. EU a. F. legitimierten Ratsbeschlusses. Fraglich blieb, ob aus der fehlenden Ratifikationsbedürftigkeit zwingend abzuleiten war, dass der Rahmenbeschluss jeglichem mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht vorging, insoweit also ein Vorrang nicht nur des früheren Gemeinschaftsrechts, sondern auch des unionsrechtlichen Rahmenbeschlusses bestand. Im Interesse der Einheitlichkeit und Funktionsfähigkeit des Unionsrechts hätte ein solcher Vorrang sicherlich gelegen. Zwingend war eine solche Schlussfolgerung hingegen nicht: Es verblieb auch ohne die Annahme einer solch weitgehenden Maßstabswirkung von Rahmenbeschlüssen ein Unterschied zu den Übereinkommen, indem bereits der Ratsbeschluss unmittelbar die unionsrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Umsetzung nach sich zog und die Verpflichtung zu 275 Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (2002), S. 568. 276 Ein Übereinkommen bedurfte der Annahme durch die Mitgliedstaaten gemäß deren verfassungsrechtlichen Vorschriften. Gem. Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. d EU a. F. „empfiehlt“ der Rat den Mitgliedstaaten die Annahme der Übereinkommen. Der Ratsbeschluss verpflichtete die Mitgliedstaaten daher nicht zur Ratifikation. Nach dem Prinzip der Unionstreue waren sie allerdings verpflichtet, zumindest fristgemäß ein Ratifikationsverfahren einzuleiten. Vgl. Böse, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar2 (2009), Art. 34 EUV Rn. 8; Suhr, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV3 (2007), Art. 34 EUV Rn. 23; Satzger, in: Streinz, EUV/EGV (2003), Art. 34 EUV Rn. 12. 277 Vgl. Griller, Die Unterscheidung von Unionsrecht und Gemeinschaftsrecht nach Amsterdam, in: Müller-Graff/Schwarze (Hrsg.), Rechtsschutz und Rechtskontrolle nach Amsterdam, EuR Beiheft 1/1999, 45 (67).
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konformer Auslegung ab Ablauf der Umsetzungsfrist begründete. Andererseits zwang selbst die Ratifikationsbedürftigkeit von Übereinkommen nicht notwendig zur Annahme, die mit ihnen eingegangenen Verpflichtungen müssten sich am Maßstab des nationalen Verfassungsrechts messen lassen. Schließlich hinderte ein solches Erfordernis nicht die allgemeine Anerkennung des Vorrangs des Gemeinschaftsprimärrechts, obwohl dieses selbst ebenfalls ratifikationsbedürftig war. Vielmehr war diese Überzeugung des Vorrangs im Ziel und der Ausgestaltung der Ersten Säule, also ihrer Supranationalität, verankert.278 Aus der Vertragshistorie ließ sich jedenfalls gegen die Annahme eines Vorrangs von Rahmenbeschlüssen einwenden, dass der Rahmenbeschluss als eigenständige, wenn auch an die gemeinschaftsrechtliche Richtlinie angelehnte Rechtsform durch den Amsterdamer Vertrag geschaffen worden war – dies geschah also in einem Zuge mit der Überführung der ziviljustiziellen Zusammenarbeit in den EG-Vertrag. Hätten die Mitgliedstaaten identische Möglichkeiten für die strafjustizielle Zusammenarbeit gewünscht, dann hätte es nahe gelegen, die frühere Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres schon damals komplett zu vergemeinschaften. 2. Einstimmigkeitserfordernis bei der Beschlussfassung im Rat als Indiz völkerrechtlicher Rechtsnatur Die einzig notwendige Mitwirkungshandlung der Mitgliedstaaten bei der Begründung neuer Verpflichtungen durch Rahmenbeschlüsse war das zustimmende Votum im Rat. Somit hatten die Mitgliedstaaten durch die Ratifikation des Amsterdamer Vertrages auch in der Dritten Säule insoweit Hoheitsrechte auf die Union übertragen,279 als es zur Begründung der unionsrechtlichen Verpflichtung keiner verfassungsrechtlichen Ratifikation mehr bedurfte. Aus dem Ratsbeschluss als Handeln eines supranationalen Organs, das über Art. 5 EU a. F. im Bereich des Unionsrechts tätig wurde, ließ sich jedoch nicht automatisch auf einen supranationalen Charakter des geschaffenen Rechts schließen.280 Zwar schloss ein Einstimmigkeitserfordernis einen supranationalen Rechtscharakter nicht aus. So waren auch die ausnahmsweise einstimmig zu beschließenden Sekundärrechtsakte der Ersten Säule supranationales Recht. Wenn aber im Unterschied zur Ersten Säule das Einstimmigkeitserfordernis in der Dritten Säule grundsätzlich der einzig zulässige Beschlussmodus war, sprach dies gegen einen
278
Vgl. EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 (1269 ff.). Die Annahme einer Übertragung von Hoheitsrechten bejahend Böse, Die polizeiliche und strafjustitielle Zusammenarbeit in der Europäischen Union, in: Müller-Graff (Hrsg.), Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2005), S. 165 (167). 280 Vgl. Vedder, Die Unterscheidung von Unionsrecht und Gemeinschaftsrecht nach Amsterdam, in: Müller-Graff/Schwarze (Hrsg.), Rechtsschutz und Rechtskontrolle nach Amsterdam, EuR Beiheft 1/1999, 7 (19, 28). 279
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supranationalen Rechtscharakter des Unionsrechts. Jedenfalls machte dieses Erfordernis deutlich, dass die Mitgliedstaaten eine starke völkerrechtliche Legitimation für die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften durch Rahmenbeschlüsse wünschten.281 IV. Nur eingeschränkte Befugnisse des EuGH Auch die Rolle des EuGH in der Dritten Säule war für die rechtliche Einordnung des Unionsrechts zu hinterfragen. Konnte er in vergleichbarer Weise für die Einheitlichkeit des Unionsrechts Sorge tragen, wie es im Gemeinschaftsrecht seine Aufgabe war? Durfte er zudem in vergleichbarer Weise rechtsfortbildend tätig sein? 1. Besonderheiten des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 35 EU a. F. Die Regelungen des Gemeinschaftsrechts für die Zuständigkeiten des EuGH und deren Ausübung fanden auf die Bestimmungen zur PJZS über Art. 46 lit. b EU a. F. nach Maßgabe des Art. 35 EU a. F. Anwendung. Dabei unterschied sich allerdings die Zuständigkeit des EuGH für Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 35 Abs. 1 EU a. F. durch drei Aspekte von der umfassenden Zuständigkeit gemäß Art. 234 EG:282 Erstens bedurfte es gemäß Art. 35 Abs. 2 EU a. F. einer Anerkennung dieser Zuständigkeit durch die einzelnen Mitgliedstaaten. Mit diesem Erfordernis wurde die bereits im Europol-Übereinkommen getroffene Regelung283 aufgegriffen und im Vergleich zum Gemeinschaftsrecht eine deutliche Annäherung an die Zuständigkeitsregelungen internationaler Gerichte für völkerrechtliche Streitigkeiten vollzogen.284 Die Vorlagemöglichkeit konnte in der Anerkennungserklärung entweder nur dem im nationalen Verfahren letztinstanzlichen Gericht (Art. 35 Abs. 3 281 Auch die Beschlüsse gem. Art. 34 Abs. 1 S. 2 lit. c EU a. F. für jeden anderen Zweck, der mit der Verfolgung der Ziele der PJZS im Einklang steht, wurden einstimmig beschlossen; zu ihrer Durchführung erforderliche Maßnahmen nahm der Rat hingegen mit qualifizierter Mehrheit an. 282 Im Übrigen wandte der EuGH entsprechend Art. 46 EU a. F. die Regelungen des Art. 234 EG auf das Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 35 EU a. F. vorbehaltlich der dort vorgesehenen Bedingungen an; vgl. EuGH, Rs. 105/03, Pupino, Slg. 2005, I5285 ff. (Rn. 28); EuGH, Rs. C-150/05, Van Straaten, Slg. 2006, I-9327 ff. (Rn. 31); EuGH, Rs. C-467/04, Gasparini, Slg. 2006, I-9199 ff. (Rn. 41). 283 Vgl. Art. 2 des Auslegungsprotokolls zum Europol-Übereinkommen, ABl. EU 1996 C 299/2. 284 Vgl. die Anerkennung der obligatorischen Gerichtsbarkeit des IGH gem. Art. 36 Abs. 2 lit. a IGH-Statut. So auch Dörr/Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR 125 (2000), 386 (408); Streinz, Der Vertrag von Amsterdam – Einführung in die Reform des Unionsvertrages von Maastricht und erste Bewertung der Ergebnisse, EuZW 1998, 137 (142).
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lit. a EU a. F.) oder aber allen Gerichten (Art. 35 Abs. 3 lit. b EU a. F.) eingeräumt werden. Anders als beim gemeinschaftsrechtlichen Vorlageverfahren gemäß Art. 234 Abs. 3 EG war zweitens die Vorlage nach dem Vertragswortlaut auch für letztinstanzliche Gerichte nicht obligatorisch.285 Drittens bezog sich die Vorabentscheidungszuständigkeit nach dem Wortlaut des Art. 35 Abs. 1 EU a. F. nicht auf die Auslegung des Unionsprimärrechts, sondern lediglich auf gemäß Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b–d EU a. F. geschaffenes Unionssekundärrecht. Allerdings bedurfte es zur Feststellung der Gültigkeit von Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen auch der Auslegung des Primärrechts, so dass insoweit eine entsprechende Kompetenz des EuGH bestand und nach Maßgabe des eingangs des Abschnitts zitierten Übergangsprotokolls weiterhin, nach Ablauf der Übergangsfrist nunmehr uneingeschränkt, besteht.286 2. Gewährleistung der Einheitlichkeit des Unionsrechts? Die Voraussetzung einer expliziten Anerkennung der Zuständigkeit des EuGH für Vorabentscheidungen innerhalb der Dritten Säule lässt zunächst vermuten, dass die in diesen Verfahren getroffenen Feststellungen zu Gültigkeit und Auslegung des Unionssekundärrechts auch nur für diejenigen Staaten maßgeblich sein können, die eine solche Anerkennungserklärung abgegeben haben. Den anderen Mitgliedstaaten wäre damit freigestellt, die Entscheidung des EuGH autonom nachzuvollziehen und etwa die Verwerfung ungültigen Unionssekundärrechts durch den EuGH anzuerkennen oder eine abweichende Entscheidung zu treffen. Eine Einheitlichkeit des Unionsrechtes wäre in Frage gestellt. Im Gemeinschaftsrecht wirkte eine Verwerfungsentscheidung des EuGH erga omnes.287 Auch im Rahmen einer Vorabentscheidung nach Art. 35 Abs. 1 EU a. F. war von einer alle Mitgliedstaaten treffenden vergleichbaren Wirkung auszugehen: Billigte man einer Verwerfungsentscheidung nach Art. 35 Abs. 1 EU a. F. keine faktische erga omnes-Wirkung zu, hätte es eines jederzeit möglichen bestätigenden Erkenntnisses in einem Nichtigkeitsverfahren bedurft.288 Ohne das Erfordernis vorheriger Anerkennung eröffnete nämlich Art. 35 Abs. 6 EU a. F. mit 285 Allerdings konnten sich die Mitgliedstaaten entsprechend der Erklärung Nr. 10 zum Vertrag von Amsterdam vorbehalten, ihre letztinstanzlichen Gerichte zur Vorlage zu verpflichten. Neun Mitgliedstaaten haben eine solche Verpflichtung begründet. Vgl. Erklärung zu Art. K.7 des Vertrages über die Europäische Union, ABl. EU 1997 C 340/ 133. Eine solche Vorlagepflicht besteht für bundesdeutsche Gerichte gem. § 1 Abs. 2 EuGH-Gesetz, BGBl. 1998 I S. 2035. 286 Vgl. EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633 ff. (Rn. 18). 287 Vgl. nur EuGH, Rs. 66/80, International Chemical Cooperation/Administrazione delle Finanze dello Stato, Slg. 1981, 1192 ff. (Rn. 13); Dörr/Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR 125 (2000), 386 (410). 288 So auch Böse, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar2 (2009), Art. 35 EUV Rn. 6.
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der von einem Mitgliedstaat oder der Kommission zu erhebenden Nichtigkeitsklage289 dem EuGH eine Möglichkeit, die Gültigkeit eines Rahmenbeschlusses, eines Beschlusses oder eines aufgrund Unionssekundärrecht ergangenen Durchführungsaktes, mit erga omnes-Wirkung festzustellen.290 Ein solcher Umweg war sicher nicht die Intention der Mitgliedstaaten für das Anerkennungserfordernis, zumal Art. 35 Abs. 6 und 7 EU a. F. belegten, dass die Gerichtsbarkeit des EuGH in der Dritten Säule als solche von allen Mitgliedstaaten anerkannt war.291 Schwieriger war eine faktische erga omnes-Wirkung von Auslegungsentscheidungen nach Art. 35 Abs. 1 EU a. F. zu beurteilen. Ein Streben nach einheitlicher Geltung des Unionsrechts war bereits zu verzeichnen. Es war jedoch nicht durch dem supranationalem Recht gleichwertige Schutzmechanismen abgesichert. Im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 35 EU a. F. fehlte es an einer unionsrechtlich verankerten Vorlageverpflichtung, auch wenn die Mitgliedstaaten in einer gemeinsamen Protokollerklärung zum Amsterdamer Vertrag bekräftigt haben, dass ungeachtet des Wortlauts des Art. 35 Abs. 3 EU a. F. jeder Staat eine Vorlagepflicht seiner letztinstanzlichen Gerichte einführen könne.292 Allerdings gewährte Art. 35 Abs. 7 EU a. F. dem EuGH eine Auslegungszuständigkeit für Gemeinsame Standpunkte, Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse, für die es keiner vorherigen Anerkennung der Gerichtsbarkeit durch die Mitgliedstaaten bedurfte. 3. Eingeschränkter Individualrechtsschutz Der Rechtsschutz des Einzelnen gegenüber Rechtsakten der früheren Dritten Säule wird über die mitgliedstaatlichen Gerichte gewährt. Ein direkter Zugang des Einzelnen zur Europäischen Gerichtsbarkeit besteht nicht. Dieser ist auch nicht notwendig, solange die auf Basis des Art. 34 Abs. 2 EU a. F. ergangenen Rechtsakte den Einzelnen nicht unmittelbar treffen und dem innerstaatlichen Gericht auch inhaltlich eine entsprechende Kontrollbefugnis obliegt. Der Ausschluss unmittelbarer Wirkung ergibt sich bei Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen aufgrund ausdrücklicher vertraglicher Festlegung, bei Übereinkommen aufgrund der Notwendigkeit verfassungsrechtlicher Ratifikation. Solange es zur unmittelbaren Wirkung gegenüber dem Einzelnen eines innerstaatlichen Rechtsaktes bedarf, ist hinreichender Rechtsschutz zu erlangen, indem dieser Rechtsakt vor dem zuständigen innerstaatlichen Gericht angefochten wird. Der EuGH kann gegebenenfalls über ein Vorabentscheidungsverfahren einbezogen werden.
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Vgl. Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV3 (2007), Art. 46 EU Rn. 6. Nicht aber diejenige eines Übereinkommen nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. d EU
a. F. Böse, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar2 (2009), Art. 35 EUV Rn. 6. Erklärung zu Art. K.7 des Vertrages über die Europäische Union, ABl. EU 1997 C 340/133. 291 292
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V. Eingeschränkte demokratische Legitimation von Rahmenbeschlüssen Mit dem Erfordernis innerstaatlicher Umsetzung von Rahmenbeschlüssen und dem ausdrücklichen Ausschluss der unmittelbaren Wirkung korrespondierte auch die geringe Beteiligung des Europäischen Parlamentes bei der Rechtsetzung, die sich nach Art. 39 EU a. F. auf bloße Informations- und Stellungnahmerechte beschränkte. Die demokratische Legitimation erfuhr der Rahmenbeschluss selbst nur mittelbar über die Beschlussfassung im Rat, dessen Mitglieder als Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten an die nationalen Parlamente rückgekoppelt sind. Erst die Umsetzung im Mitgliedstaat vermag unmittelbar gegenüber dem Einzelnen zu wirken. Die Umsetzung erfolgt regelmäßig in Gesetzesform und bezieht ihre demokratische Legitimation über die nationalen Parlamente. Die Beschränkung der Beteiligung des Europäischen Parlaments auf ein Anhörungsrecht schloss einen supranationalen Charakter des so beschlossenen Rechts nicht zwingend aus. Das Anhörungsverfahren ist schließlich auch aus dem supranationalen Recht bekannt. Allerdings kann die Regelungsmaterie bei der Beurteilung der Anforderungen an eine demokratische Legitimation nicht außer Betracht bleiben. Gerade die Fragen des Polizei-, Straf- und Strafverfahrensrechts, die den Gegenstand der Dritten Säule bildeten, bedürfen einer besonders starken Legitimation, die bei Rahmenbeschlüssen nur über die Legitimation des Umsetzungsrechts durch die nationalen Parlamente gewährleistet ist. VI. Dogmatisch: kein Vorrang von Rahmenbeschlüssen vor Ablauf der Übergangsfrist Billigte man Rahmenbeschlüssen aufgrund ihrer Orientierung an der Richtlinie schon vor Ablauf der Übergangsfrist des Lissabonner Reformvertrages eine objektive Maßstabswirkung293 zu, die einer Umsetzung etwaig entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht aus dessen Maßstabsfunktion verdrängte, so hätte weder entgegenstehendes Verfassungsrecht herangezogen werden können, um ein Unterlassen der Umsetzung zu rechtfertigen, noch das in Umsetzung erlassene Recht unter Hinweis auf nationales Verfassungsrecht in Frage gestellt werden.294 Eine solche Maßstabswirkung hätte dann allerdings nicht anderes als die Akzeptanz eines Vorrangs von Rahmenbeschlüssen vor jeglichem mitgliedstaatlichen Recht bedeutet.295 Der EuGH hat sich mit dieser Frage in seiner Pupino-Ent293 Darunter ist ein Vorrang ohne unmittelbare Normenkollision zu verstehen; eine Normenkollision unmittelbar zwischen einem Rahmenbeschluss und innerstaatlichem Recht ist mangels unmittelbarer Anwendbarkeit von Rahmenbeschlüssen nicht möglich. 294 Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (2002), S. 568. 295 Explizit dafür Masing, Vorrang des Europarechts bei umsetzungsgebundenen Rechtsakten, NJW 2006, 264 ff.; Böse, Die polizeiliche und strafjustitielle Zusammen-
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scheidung nicht auseinandergesetzt. Das deutsche BVerfG und der tschechische Verfassungsgerichtshof haben in ihren Entscheidungen zu den mitgliedstaatlichen Umsetzungsgesetzen zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl die offene Konfrontation vermieden.296 Während der tschechische Verfassungsgerichtshof die Frage nach dem Vorrang aufwarf, aber unbeantwortet lassen konnte, weil er gewählte Umsetzung bei vorsorglicher Prüfung am Maßstab des tschechischen Verfassungsrechts als verfassungskonform ansah,297 hat das BVerfG klargestellt, dass es den Rahmenbeschluss als Rechtsform des Unionsrechts nicht vom Vorrang des supranationalen Rechts umfasst sah. In der Sache hatte es keine Kollision der zwingenden Vorgaben des Rahmenbeschlusses mit dem Verfassungsrecht angenommen, sondern festgestellt, die verbleibenden Umsetzungsspielräume seien vom deutschen Gesetzgeber nicht in verfassungskonformer Weise ausgefüllt worden.298 Das polnische Verfassungstribunal hat in der Sache nicht zwischen Gemeinschafts- und Unionsrecht differenziert, sondern die Umsetzung für unvereinbar mit dem Verfassungsrecht erklärt299 und dem Gesetzgeber die Anpassung des Verfassungsrechts nahe gelegt. Dem ist der polnische Gesetzgeber gefolgt.300 Einer Identität der Rechtswirkungen von Richtlinien und Rahmenbeschlüssen stand bei aller strukturellen Vergleichbarkeit entgegen, dass das frühere Unionsrecht und Gemeinschaftsrecht auf verschiedenen Stufen der Integration standen. Wie weitgehend Akte beider Rechtsgebiete innerstaatliche Wirkungen gegenüber dem Rechtsanwender entfalten konnten, war auch davon abhängig, wie weit dieses Recht demokratisch legitimiert und rechtsstaatlich kontrolliert war. Der Verzicht auf Hoheitsrechte durch den Mitgliedstaat zugunsten der Union konnte
arbeit in der Europäischen Union – Deutscher Landesbericht, in: Müller-Graff (Hrsg.), Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2005), S. 165 (167); ders., Vorrang des Unionsrechts? in: Sieber/Dannecker/Kindhäuser/Vogel/Walter (Hrsg.), in: Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht – Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen – Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag 82008), S. 1321 ff.; diesem Sinne wohl auch v. Unger, „So lange“ nicht mehr: Das BVerfG behauptet die normative Freiheit des deutschen Rechts, NVwZ 2005, 1266 (1270 f.). 296 Zu diesen und den Entscheidungen des polnische Verfassungsgerichtshof, P 1/05, Urt. v. 27.4.2005, des griechischen Obersten Gerichtshofs, zusammengefasst im Ratsdok. 11858/05, sowie des Obersten Gerichtshof Zyperns, 295/2005, Urt. v. 07.11.2005 vgl. Deen-Racsamány, The European Arrest Warrant and the Surrender of Nationals Revisited: The Lessons of Constitutional Challenges, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice, Vol. 14/3, 271 ff. 297 Tschechischer Verfassungsgerichtshof, ÚS Pl 66/04, Urt. v. 3.05.2006, Rz. 55 ff. 298 BVerfGE 113, 273 (304 ff., 307) (Europäischer Haftbefehl). 299 Zuvor hat es eine rahmenbeschlusskonforme Interpretation der Verfassung ausgeschlossen, weil diese die Lage des Einzelnen im Bereich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit verschlechtere. 300 Näher dazu Nalewajko, Der Europäische Haftbefehl: aktuelle Entwicklungen in Polen, ZIS 3/2007, 113 ff.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
nicht dazu führen, dass eine – nicht identische, jedoch im Schutzniveau vergleichbare – demokratische Legitimation und justizielle Kontrolle der Ausübung übertragener Hoheitsgewalt nicht mehr gewährleistet ist. Die aufgezeigte eingeschränkte Rolle des EuGH im Bereich der früheren Dritten Säule setzte daher den möglichen Wirkungen des übergeleiteten Unions(sekundär)rechts Grenzen.301 Insbesondere die fortbestehenden Einschränkungen während der Übergangsfrist im Kooperationsverhältnis zwischen dem EuGH und den mitgliedstaatlichen Gerichten hinsichtlich des Vorabentscheidungsverfahrens der früheren Dritten Säule standen in diesem Zeitraum der Annahme eines Vorrangs dieses Unionsrechts entgegen. Ähnliches galt für die nur rudimentäre Einbindung des Europäischen Parlamentes. Die Beschränkung auf eine bloße Anhörung im Rechtsetzungsverfahren stand zwar abstrakt betrachtet einer Vorrangwirkung nicht entgegen. Schließlich war dieses Verfahren im Zeitpunkt der Leitentscheidungen des EuGH zur Supranationalität302 des früheren Gemeinschaftsrechts der Regelfall des Gesetzgebungsverfahrens. Allerdings darf nicht außer Betracht gelassen werden, dass Rechtsakte im Bereich der Polizeilichen und strafjustiziellen Zusammenarbeit den Rechtsunterworfenen in besonderer Weise in seinen Rechten berühren können und daher einer starken demokratischen Legitimation bedürfen. Im Ergebnis war daher festzustellen, dass die für das supranationale Recht entwickelten Rechtsinstitute der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs nicht auf die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in ihrer Ausgestaltung vor der Lissabonner Vertragsreform übertragen werden konnten.303 Rahmenbeschlüsse hatten daher vor Ablauf der Übergangsfrist keinen Vorrang gegenüber mitgliedstaatlichem (Verfassungs-)Recht gleich dem supranationalen Unionsrecht. Zwar nahm und nimmt die primärrechtlich seit der Lissabonner Vertragsreform verankerte Vorgabe eines Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen unzweifelhaft am Vorrang des Unionsrechts teil. Dies galt aber nicht für die sekundärrechtliche Ausgestaltung der Anerkennung, die in einem Rahmenbeschluss getroffen wurde. Anderes hieße, entgegen der Anordnung der Beibehaltung der Rechtswirkung von Sekundärrechtsakten der früheren Dritten Säule diese bereits ab Inkrafttreten des Lissa-
301
Vgl. auch Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 36. Vgl. EuGH, Rs 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 ff.; EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 ff. 303 Zum gleichen Ergebnis kommt Müller-Graff, Die Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (JIZ), in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling (1995), Bd. II, S. 925 (931 f.), für die Dritte Säule in der Gestalt vor ihrer Reform durch den Amsterdamer Vertrag 1999. Einen absoluten Vorrang der Rahmenbeschlüsse gegenüber nationalem Verfassungsrecht ebenfalls ablehnend Merli, Europäischer Haftbefehl und nationales Verfassungsrecht, in: Lagodny/Wiederin/Winkler (Hrsg.), Probleme des Rahmenbeschlusses am Beispiel des Europäischen Haftbefehls (2007), S. 125 (129 f.). 302
F. Rechtsform des Rahmenbeschlusses und mitgliedstaatliches Recht
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bonner Vertrages am Vorrang teilhaben zu lassen.304 Für eine solche Veränderung des Rechtscharakters von Rahmenbeschlüssen schon während der Übergangsfrist wurde mit der Aufhebung des Art. 34 EU a. F. und dem damit verbundenen Entfall des ausdrücklichen primärrechtlichen Ausschlusses einer unmittelbaren Wirkung von Rahmenbeschlüssen argumentiert.305 Eine solche Änderung des Rechtscharakters von Rahmenbeschlüssen – man könnte von einer supranationalen Aufladung sprechen – ist jedoch erst mit Ablauf der Übergangsfrist zum 1. Dezember 2014 und mit dem damit verbundenen Entfall der zeitlich befristeten Weitergeltung der Beschränkung der Kompetenzen von Kommission und EuGH anzunehmen. Denn diese Beschränkungen sind wesentliche Begründungselemente, die gegen einen supranationalen Rechtscharakter von Rahmenbeschlüssen sprachen und die daher während der Übergangsfrist einer Supranationalisierung von Rahmenbeschlüssen widerstritten.306 Wenn ein Rahmenbeschluss jedoch auch während der Übergangsfrist nicht am Vorrang des Unionsrechts teilnahm, so konnte die mit ihm getroffene Konkretisierung des Anerkennungskonzepts nicht zwingende verfassungsrechtliche Vorgaben der Mitgliedstaaten überlagern.307 Vielmehr begrenzten solche verfassungsrechtlichen Vorgaben eine Anerkennung, soweit sie nicht den primärrechtlich verankerten und insoweit mit Vorrang ausgestatteten Anerkennungsgrundsatz als solchen in Frage stellten. VII. Supranationale Aufladung mit Ablauf der Übergangsfrist und ihre Auswirkung auf das Konzept einer Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes durch eine unionsrechtlich kontrollierte Grenze des nationalen ordre public Sind die dargelegten Beschränkungen der Kompetenzen der Organe mit Ablauf der Übergangsfrist entfallen, ohne dass zuvor oder gleichzeitig der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung geändert, durch eine Richtlinie ersetzt oder – eine eher theoretische Möglichkeit – aufgehoben wurde, so spricht dies dafür, dass sich zu diesem Zeitpunkt die Rechtsnatur des Rahmen304 Dagegen auch Haack, Der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ im Vertrag von Lissabon – Rhetorik oder Integrationsschub?, in: Leiße (Hrsg.), Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon (2010), S. 220 (226). 305 Wohlfahrt, Veränderungen des Lissabon-Vertrages im Hinblick auf die Doktrin der unmittelbaren Wirkung, ZAöRV 2010, 523 (528 ff.). 306 Zum gleichen Ergebnis kommen Peers, Finally ,Fit for Purpose‘? The Treaty of Lisbon and the End of the Third Pillar Legal Oder, Yearbook of European Law 27 (2008), 47 (63), und Obwexer, Rechtsfragen des Übergangs von „Nizza“ zu „Lissabon“, in: Eilmansberger/Griller/Obwexer (Hrsg.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon (2011), S. 47 (91). 307 Unger, Schutzlos ausgeliefert? Der Europäische Haftbefehl. Ein Beispiel für die Missachtung europäischer Bürgerrechte (2005), S. 130 f.
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
beschlusses änderte. Seit diesem Zeitpunkt nehmen auch Rahmenbeschlüsse am Vorrang des Unionsrechts teil. Eine solche Evolution der Rechtsaktsform des Rahmenbeschlusses ist durchaus kritisch zu betrachten, weil es bei ihrer Rechtsetzung an einer der Bedeutung des Sachgebietes der strafjustiziellen Zusammenarbeit entsprechenden demokratischen Legitimation der Rahmenbeschlüsse durch Mitentscheidung des Europäischen Parlaments fehlte. Dies war wohl auch den Mitgliedern der Regierungskonferenz zur Lissabonner Vertragsreform bewusst: Dem Vertrag wurde zu Artikel 10 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen die 50. Erklärung beigefügt, mit der das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission ersucht wurden, „sich im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse zu bemühen, in geeigneten Fällen und nach Möglichkeit innerhalb der in Artikel 10 Absatz 3 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen genannten Frist von fünf Jahren Rechtsakte zu erlassen, mit denen die in Artikel 10 Absatz 1 jenes Protokolls genannten Rechtsakte geändert oder ersetzt werden“. Mit einer solchen bemerkenswerten Aufladung der Rechtsaktsform des Rahmenbeschlusses als seit Ablauf der Übergangsfrist mit Vorrang ausgestattetem Recht könnte auch zu erklären sein, warum Art. 9 S. 1 des Übergangsprotokolls zum Lissabonner Vertrag in auffälliger Unbestimmtheit der Formulierung davon spricht, diese Rechtsakte „behalten so lange Rechtswirkung, bis sie in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden“, statt anzuordnen „behalten so lange ihre Rechtswirkung“. Die gewählte offene Formulierung steht nämlich einer substanziellen Änderung der Qualität dieser Rechtswirkung durch supranationale Aufladung mit Ablauf der Übergangsfrist nicht entgegen, während eine konkretere Formulierung wie die beispielhaft vorgeschlagene auch als Beschränkung auf diejenigen Rechtswirkungen verstanden werden könnte, die Rahmenbeschlüsse bei Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrages bereits besaßen und während der Übergangszeit beibehalten haben. Mit einer supranantionalen Aufladung der Rechtswirkungen von Rahmenbeschlüssen ab Ablauf der Übergangsfrist entfielen ab diesem Zeitpunkt der auf den fehlenden Vorrang von Rahmenbeschlüssen gegründete Argumentationsstrang für die Notwendigkeit einer Beachtung zwingender mitgliedstaatlicher verfassungsrechtlicher Erfordernisse als Begrenzung des durch Rahmenbeschlüsse sekundärrechtlich ausgestalteten Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen. Dies betrifft jedoch nicht die zuvor bereits aufgezeigte Ableitung einer Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes durch einen unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public aus den geltenden primärvertraglichen Bestimmungen. Das herausgearbeitete Modell der Begrenzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen in der EU durch einen unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public behält also seinen Geltungsanspruch.
F. Rechtsform des Rahmenbeschlusses und mitgliedstaatliches Recht
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VIII. Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung des gesamten mitgliedstaatlichen Rechts ab Ablauf der jeweiligen Umsetzungsfrist Zwar wurde durch Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b S. 3 EU a. F. eine Übertragung der vom EuGH zur Kompensation einer Nicht- oder Falschumsetzung von Richtlinien entwickelten ausnahmsweise unmittelbaren Wirkung308 eines solchen umsetzungsbedürftigen Rechtsakts explizit ausgeschlossen. Rahmenbeschlüsse waren bzw. sind danach nicht unmittelbar wirksam. Wohl aber sind die mitgliedstaatlichen Organe seit Ablauf der Umsetzungsfrist selbst bei Nichtumsetzung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung des gesamten mitgliedstaatlichen Rechts verpflichtet, um das Ziel des Rahmenbeschlusses bestmöglich zu erreichen.309 Die Abgrenzung zwischen Konformauslegung und unmittelbarer Wirkung ist fließend. Zur parallelen Problematik bei der Rechtsform der Richtlinie hat der EuGH, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., ausgeführt: „Ermöglicht es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, so ist das nationale Gericht verpflichtet, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richt308
Grundlegend EuGH, Rs. 41/74, van Duyn, Slg. 1974, 1337 ff. (Rn. 12 f.). EuGH, Rs. C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-5285 ff. (Rn. 43). Aus der Vielzahl der an dieser Entscheidung anknüpfenden Literatur vgl. etwa grundsätzlich zustimmend Herrmann, Anmerkung, EuZW 2005, 436 ff. sowie entschieden ablehnend Hillgruber, Anmerkung, JZ 2005, 841 ff.; vgl. weiter Gärditz/Gusy, Zur Wirkung europäischer Rahmenbeschlüsse im innerstaatlichen Recht, GA 2006, 225 ff.; Fetzer/Groß, Die PupinoEntscheidung des EuGH – Abkehr vom intergouvernementalen Charakter der EU? – Erwiderung auf Herrmann, EuZW 2005, 436, EuZW 2005, 550 ff.; Fletcher, Extending „indirect effect“ to the third pillar: the significance of Pupino?, European Law Review 30 (2005), 862 ff.; Spencer, Child Witnesses and the European Union, The Cambridge Law Journal 2005, 569 ff.; v. Unger, Pupino: Der EuGH vergemeinschaftet das intergouvernementale Recht, NVwZ 2006, 46 ff. Zur Gestalt der richtlinienkonformen Auslegung unter Berücksichtigung der Rs. Pupino auch W.-H. Roth, Die richtlinienkonforme Auslegung, EWS 2005, 385 ff. Die Entscheidung hatte erhebliche Auswirkungen auf die Vorrangdebatte; nicht zuletzt deshalb, weil die Verpflichtung zur Konformauslegung in einer ersten deutschen Übersetzung mit dem Begriff der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung wiedergegeben wurde, vgl. EuGH, Rs. C-105/03, Pupino, EuZW 2005, 433 ff. (Rn. 32, 34, 43 und 60). Dieser Begriff war bis dahin nur aus dem als supranational eingeordneten Gemeinschaftsrecht der Ersten Säule bekannt. Die in der amtlichen Sammlung veröffentlichte deutsche Übersetzung der italienischen Fassung des Urteils spricht hingegen zutreffend von einer Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung. Gem. Art. 31 VerfO EuGH ist allein verbindlich die Urteilsfassung in der Verfahrenssprache. Dies ist gem. Art. 29 § 2 Abs. 2, Art. 103 § 1 VerfO EuGH i.V. m. Art. 23 Abs. 1 Satzung EuGH die Sprache des nach Art. 35 Abs. 1 EU vorlegenden Gerichts, im konkreten Fall daher Italienisch. 309
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
linie verfolgte Ziel zu erreichen.“ 310 Die vollständige Derogation einer Norm des mitgliedstaatlichen Rechts durch einen Rahmenbeschluss, der nicht umgesetzt wurde, würde hingegen keine grundsätzlich zulässige restriktive Auslegung, sondern eine negative unmittelbare Wirkung darstellen und damit unzulässig sein.311 Für die vorliegende Problematik der Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen hätte dies zu Auswirkungen bei der Anwendung des Überstellungsübereinkommens des Europarates im Verhältnis zu anderen Mitgliedstaaten der EU führen können. Nachdem die Umsetzungsfrist des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung am 4. Dezember 2011 abgelaufen ist, Deutschland aber erst 2015 umgesetzt hat, war ein bestehendes Entscheidungsermessen deutscher Behörden bei der Anwendung der in Geltung befindlichen vertraglichen und gesetzlichen Vollstreckungshilferegelungen im Einklang mit den Vorgaben des Rahmenbeschlusses in jenen Fällen auf eine gebundene Entscheidung reduziert, in denen es nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses ebenfalls keiner Zustimmung Deutschlands zur Einleitung eines Vollstreckungsübertragungsverfahrens bedurft hätte und zudem kein Versagungsgrund im Sinne des Rahmenbeschlusses vorgelegen wäre.
G. Zusammenfassende Schlussfolgerungen 1. Anhand des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung hat sich gezeigt, dass die Kompetenzausübungsschranke des Subsidiarität nicht geeignet ist, die Rechtsetzung zur sekundärrechtlichen Umsetzung des Grundsatzes des gegenseitigen Anerkennung zu beschränken. Durch die Verankerung des Anerkennungsgrundsatzes als Zwischenziel zur Gewährleistung der Sicherheit in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist gleichsam automatisch die Kompetenzausübungsschranke der Subsidiarität ausgehebelt. Das Subsidiaritätsprinzip vermag daher über die frühzeitige Einbindung der nationalen Parlamente ein „politisches Frühwarnsystem“ bilden, greift jedoch nicht als effektive rechtliche Begrenzung rechtshilferechtlicher Rechtsetzung der EU im Bereich des Strafrechts. Den Mitgliedstaaten ist die Flucht in außervertragliche Kooperation anstelle der Wahrnehmung unionsrechtlicher Kompetenzen verwehrt. 2. Es hat sich jedoch gezeigt, dass das Primärvertragsrecht selbst mit Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV bei der sekundärrechtlichen Umsetzung des Grundsatzes 310 EuGH, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Pfeiffer u. a., Slg. 2004, I-8835 ff. (Rn. 116). Vgl. auch Thüsing, Zu den Grenzen richtlinienkonformer Auslegung, ZIP 2004, 2301 (2304 f.). 311 Für Beispiele einer negativen unmittelbaren Wirkung, wiederum aus dem Bereich der Rechtsprechung zu Richtlinien, vgl. EuGH, Rs. C-386/00, Axa, Slg. 2002, I-2209 ff.; EuGH, Rs. C-443/98, Unilever Italia SpA/Central Food SpA, Slg. 2000, I-7535 ff.
G. Zusammenfassende Schlussfolgerungen
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der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen in der EU nach einem hinreichenden Schutz der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten verlangt. Dieser primärrechtlich verankerte Kompetenzausübungsmaßstab findet seine sachgebietlichen Konkretisierungen in den Regelungen der sogenannten Notbremsenmechanismen bei der Angleichung des materiellen Straf- und des Strafverfahrensrechts. Er bleibt jedoch auch jenseits dieser Konkretisierungen anwendbar. 3. Die Achtung der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten erfordert eine hinreichende Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes. Die Reichweite der notwendigen Begrenzung ist einerseits abhängig vom Maß der bereits vorgenommenen Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Rechts bzw. dem verbleibenden Grad der Unterschiedlichkeit. Sie wird andererseits bestimmt durch die Art der anzuerkennenden strafjustiziellen Entscheidungen. So wird für die Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen eine Begrenzung der Anerkennung wegen verfahrensrechtlicher Mängel im Urteilsverfahrens nur dann in Frage kommen, wenn das Verfahren insgesamt den Maßstab des Art. 6 EUV, Art. 6 EMRK verletzt hat. Hingegen kann bei Beibehaltung des Verzichts auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit eine Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes dann erforderlich werden, wenn mit der verletzten Norm des materiellen Strafrechts des Urteilsstaates ein Verhalten unter Strafe gestellt ist, das nach der deutschen Rechtsordnung gerade als Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten geschützt ist. Darauf wird im nachfolgenden Kapitel der Arbeit näher einzugehen sein. 4. Die hier vorgeschlagene und aus Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV abzuleitende Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes kann durch einen Vorbehalt des nationalen ordre public gewährleistet werden, der jedoch aufgrund seiner Ableitung aus dem Primärvertragsrecht als unionsrechtlicher Rahmenbegriff zu verstehen ist. Damit obliegt dem EuGH die Bestimmung der äußeren Grenzen dieses Begriffs, der durch die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte ausgefüllt werden kann. Aus Sicht des Unionsrechts besteht keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Wahrnehmung des so gebotenen ordre public-Schutzes. Eine solche Verpflichtung kann jedoch aus dem mitgliedstaatlichen Recht abzuleiten sein; dies wird im nachfolgenden Kapitel analysiert werden. 5. Die so entwickelte Begrenzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen stellt eine parallele Konzeption zur Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes sowohl im Binnenmarktrecht als auch im Bereich der ziviljustiziellen Zusammenarbeit dar; sie ist systemkohärent. Während jedoch die jüngste Rechtsprechung des EuGH die sekundärrechtliche Ausgestaltung des Anerkennungsgrundsatzes am Maßstab der primärrechtlich verankerten und damit vorrangigen Unionsgrundrechte misst und damit implizit eine Anerkennungsgrenze des europäischen ordre public im Sinne des Art. 6
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Teil 2, Kap. 1: Unionsrechtliche Grundlagen, Maßstäbe und Grenzen
EUV anerkennt, ist die hier vorgeschlagene weitergehende Begrenzung des Anerkennungskonzepts durch einen unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public noch nicht von der Rechtsprechung des EuGH aufgegriffen und untersucht worden. 6. Eine weitere Stütze fand die hier vorgeschlagene Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes darin, dass die bisherigen Rechtsakte zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in der Rechtsform des Rahmenbeschlusses ergangen sind. Es konnte gezeigt werden, dass diese Rechtsform entgegen der Rechtsprechung des EuGH bis zum Ablauf der Übergangsfrist des Lissabonner Reformvertrages nicht am Vorrang des Unionsrechts teilnahm und daher die mit ihr getroffenen Regelungen, soweit sie nicht aus vorrangigem Unionsrecht zwingend abzuleiten sind, auch nicht einer aus nationalem Verfassungsrecht erwachsenden Grenze der Anerkennung überwinden vorgehen konnten. Allerdings war diese Stütze der hier vorgeschlagenen Begrenzung des Anerkennungskonzepts von begrenzter zeitlicher Dauer. Denn seit Ablauf der fünfjährigen Übergangsfrist nach Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrages haben auch die noch in Geltung befindlichen Rahmenbeschlüsse am Vorrang des Unionsrechts teil. Soweit neue Rechtsakte zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen erlassen werden, hat dies in der Rechtsform einer Richtlinie zu erfolgen. Diese nimmt ohnehin am Vorrang des Unionsrechts teil. 7. Bis die Erreichung der Ziele des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung durch Umsetzung in deutsches Recht sichergestellt worden ist, waren die deutschen Behörden verpflichtet, diesen Zielen soweit wie möglich durch rahmenbeschlusskonforme Auslegung des geltenden Rechts der Vollstreckungshilfe zur Durchsetzung zu verhelfen.
A. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit – notwendig oder verzichtbar?
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Kapitel 2
Grenzen der Vollstreckungshilfe aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung Im vorliegenden zweiten Kapitel des zweiten Hauptteils der Arbeit wird die Frage untersucht, wo die Grenzen einer Vollstreckungshilfe aus Sicht der deutschen Rechtsordnung liegen. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob die Beibehaltung des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit als zwingender Rechtshilfevoraussetzung verfassungsrechtlich geboten ist. Während das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit Gegenstand vielfacher wissenschaftlicher Auseinandersetzung im Rahmen des Auslieferungsrechts ist, wurde es im Zusammenhang mit der Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen bislang nicht hinreichend untersucht.
A. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit – notwendig oder verzichtbar? Bereits kurz angesprochen wurde die Frage des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit, welches das klassische Rechtshilferecht typischerweise kennzeichnet,312 aber nicht von allen völkerrechtlichen Verträgen verlangt wird,313 und welches nach den Vorgaben der Rahmenbeschlüsse zur Umsetzung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung bei Vorliegen eines sogenannten Listendelikts regelmäßig nicht mehr zu prüfen, wenn nicht gar materiell abgeschafft ist.314 Die Bedeutung des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit als Rechtshilfevoraussetzung ist seit langem umstritten. Die Frage ist eng verbunden mit der Diskussion um die Stellung des Betroffenen im Rechtshilfeverfahren.315 Diskutiert wird nämlich, ob das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit dem Schutz des staatlichen Interesses an Gegenseitigkeit im Völkerrechtsverkehr oder dem Individualschutz dient. Daher ist zu fragen, welche Wurzeln dieses Erfordernis hat 312 Schultz, Aktuelle Probleme der Auslieferung – Vorläufiger Generalbericht zum vorbereitenden Kolloquium, ZStW 81 (1969), 199 (211). 313 Mix, Die Vollstreckungsübernahme im Internationalen Strafrecht (2003), S. 197, verweist zu den Fällen eines Verzichts auf das Erfordernis in der bisherigen völkervertraglichen Praxis u. a. auf die Beneluxkonvention von 1968; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung. Der Europäische Haftbefehl zwischen Grundgesetz und europäischem Primärrecht (2009), S. 49 ff., auf den Auslieferungsverkehr zwischen den Nordischen Staaten sowie auf das zwischen Spanien und Italien am 28.11.2000 geschlossene Übereinkommen zur Verfolgung schwerer Straftaten durch die Überwindung der Auslieferung in einem gemeinsamen europäischen Rechtsraum. 314 Siehe oben Teil 1 Kapitel 3 E.IV.2. 315 Ausführlich dazu jüngst N. Wilkitzki, Entstehung des Gesetzes über Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) (2010), S. 241 ff.
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Teil 2, Kap. 2: Grenzen aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung
und ob es auch dem Individualrechtsschutz dient. Fasst man die Diskussion zusammen, so lassen sich im Wesentlichen drei mögliche Quellen des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit ausmachen, nämlich eine Ableitung aus dem völkerrechtlichen Grundsatz der Gegenseitigkeit, der allein im Binnenverhältnis der beteiligten Staaten verankert ist, eine Anknüpfung an den nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatz sowie reine Praktikabilitätserwägungen. In jüngster Zeit wurde vorgeschlagen, das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als „Schutz der rechtskulturellen Identität“ des um Rechtshilfe ersuchten Staates316 und damit wie beim Reziprozitätsgedanken als Ausfluss der Souveränität zu begreifen.317 Klar ist jedenfalls, dass es sich bei dem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit nicht um Völkergewohnheitsrecht handelt.318 I. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit und völkerrechtliches Gegenseitigkeitsprinzip 1. Absicherung der Gegenseitigkeitserwartung als historische Quelle des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit Weitgehende319 Einigkeit besteht, dass das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit historisch im völkerrechtlichen Prinzip der Reziprozität wurzelt.320 Es geht dabei um die das Völkerrecht als Ausfluss der Staatensouveränität prägende Gegenseitigkeitserwartung. Kein Staat soll zu einer Leistung gegenüber einem ande316 Capus, Strafrecht und Souveränität: Das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit in der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (2010), S. 407. 317 Ähnlich Oehler, Die positiven Wirkungen ausländischer Strafurteile im Inland im Rahmen der Vollstreckung, in: Lüttger/Blei/Hanau (Hrsg.), Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag (1972), S. 777 (781), der ausführt, der Staat habe nur dann ein Interesse an der Vollstreckungsübernahme, wenn die Tat auch nach seinem Recht strafbar wäre. Dann nämlich wolle der Vollstreckungsstaat mit der Vollstreckung des ausländischen Urteils auch indirekt seine rechtliche und soziale Ordnung schützen. 318 Häde, Die Auslieferung – Rechtsinstitut zwischen Völkerrecht und Grundrechten, Der Staat 36 (1997), 1 (6); Vogler, 140 Jahre Auslieferungsrecht in Goltdammer’s Archiv. Ein Rückblick auf die Anfänge, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht. Eine Würdigung zum 70. Geburtstag von Paul-Günter Pötz (1993), S. 251 (267); ders., Der Schutz der Menschenrechte bei der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen, ZStW 105 (1993), 3 (6); Swart, Human Rights and the Abolition of Traditional Principles, in: Eser/Lagodny (Hrsg.), Principles and Procedures for a New Transnational Criminal Law (1992), S. 505 (520). 319 Zweifelnd Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 3 IRG Rn. 8, 18; zur fehlenden völkergewohnheitsrechtlichen Bindungswirkung tatsächlicher bestehender Zustände des Auslieferungsrechts Gusy, Die neuere Entwicklung des völkerrechtlichen Auslieferungsrechts, BayVBl. 1980, 10 (11). 320 Vgl. etwa Böse, Country-Report Germany, in: Moore, Anthony (Ed.)/Chiavario, Mario (General Rapporteur), Police and Judicial Co-operation in the European Union, FIDE 2004 National Reports (2004), S. 93 (112); Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/ Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 3 IRG Rn. 2.
A. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit – notwendig oder verzichtbar?
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ren Staat verpflichtet sein, die er nicht im umgekehrten Fall selbst von diesem Staat erlangen würde. 2. Untauglichkeit des Gegenseitigkeitsprinzips zur umfassenden Limitierung der Rechtshilfeleistung auf Fälle beiderseitiger Strafbarkeit Wenn Lagodny zur historischen Ableitung des Prinzips beiderseitiger Strafbarkeit ausführt, ein ersuchter Staat solle nicht wegen eines Verhaltens ausliefern müssen, das aus seiner Sicht in einem zukünftigen vergleichbaren Fall – mangels Strafbarkeit (nach eigenem innerstaatlichen Recht) – keinen Auslieferungsanspruch desselben, dann potentiell in der Rolle des Ersuchenden befindlichen Staates begründen würde,321 dann wird aber der Bereich des do ut des verlassen: Die Beschränkung des Gegenanspruchs wurzelt hier nämlich nicht im mangelnden Willen oder in der mangelnden Fähigkeit des zuerst ersuchenden Staates, im gegenläufigen Fall seinerseits die gewünschte Hilfe zu leisten. Vielmehr liegt die Beschränkung im Recht des zuerst ersuchten Staates selbst, der jedenfalls – mangels Strafbarkeit – ein dem Rechtshilfeersuchen zugrundeliegendes Verhalten seinerseits nicht strafrechtlich verfolgen und damit aufgrund der Limitierung seines eigenen Rechts auch nicht selbst wegen eines solchen Verhaltens um Rechtshilfe ersuchen könnte.322 Lagodny zitiert von Martitz: „Jeder Vertragsgenosse ist nur insoweit forderungsberechtigt, als er selber, und zwar als er nach Maßgabe seines eigenen Strafgesetzes verpflichtet ist.“ 323 Allerdings beschreibt dieses Zitat die Situation des ersuchenden und nicht die des ersuchten Staates, es kann daher rein im klassischen Sinne völkerrechtlicher Reziprozität verstanden werden, wonach der ersuchende Staat nur dann Unterstützung in Form von Rechtshilfe erwarten darf, wenn er bei umgekehrter Sachlage selbst leistungswillig und -fähig wäre. Eine Aussage dazu, ob der ersuchte Staat mangels Strafbarkeit einer Handlung nach seinem eigenen Recht zwar nicht verpflichtet, aber doch berechtigt ist, lässt sich dem Gegenseitigkeitsgedanken nicht entnehmen. Folgt man daher Lagodnys Interpretation, so ist es konsequent, zwischen der historischen Wurzel des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit im Gegenseitigkeitsprinzip und dem Inhalt des Erfordernisses scharf zu trennen,324 um die Antwort auf Frage der Verzichtbarkeit des Erfordernisses auf der verfassungsrechtlichen Ebene zu suchen. 321 So dargestellt bei Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 3 IRG Rn. 2. 322 Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland (1987), S. 48–50. 323 v. Martitz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Bd. 2 (1897), S. 63, zitiert nach Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszulieferenden in der Bundesrepublik Deutschland (1987), S. 49, dort Fn. 75. 324 So explizit noch Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, in: dies. (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen4 (2006), Einl. Rn. 64, nur angedeutet in Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 3 IRG Rn. 2.
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Teil 2, Kap. 2: Grenzen aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung
Im Ergebnis besteht Einigkeit jedenfalls darin, dass das Gegenseitigkeitsprinzip und der damit erstrebte Schutz des vorleistenden Staates, wenn nötig selbst entsprechende Unterstützung zu erlangen, diesen nicht daran hindern, seinerseits überobligatorisch Unterstützung zu leisten. Der ersuchte Staat kann also trotz eines Verzichts auf die – mangels Strafbarkeit im eigenen Recht nicht erforderliche – Unterstützung seinerseits Rechtshilfe zu leisten.325 Als Ausprägung des völkerrechtlichen Gegenseitigkeitsprinzips ist der Grundsatz beiderseitiger Strafbarkeit in freier Willensbildung der Staaten daher eine verzichtbare Voraussetzung.326 Im Lichte des Zieles der Rechtsdurchsetzung durch Rechtshilfe wird sogar davon gesprochen, dass das Interesse von ersuchtem und ersuchendem Staat dasselbe ist, nämlich die Rechtsdurchsetzung zur Bekämpfung von Kriminalität.327 Geschlussfolgert wird, dass sich Begrenzungen der Rechtshilfe möglichst allein aus der Dichotomie von Staatsinteressen auf der einen und Grundrechtsinteressen des betroffenen Individuums ableiten, andere Begrenzungen als rein politische Entscheidungsfaktoren jedoch abgeschafft werden sollten.328 II. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit und der Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege Das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit könnte unverzichtbar sein, wenn ihm eine zwingende individualschützende Komponente inhärent ist. Im Sinne einer Bindung der Rechtshilfe nach Maßgabe des eigenen Strafrechts könnte gefragt werden, ob der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz des nullum cri-
325 In diesem Sinne hat der BGH, St 24, 297 (304 ff.), für einen Fall der Vernehmung eines einer Verkehrsstraftat nach schweizerischem Recht Beschuldigten, also eines Ersuchens um sonstige (kleine) Rechtshilfe entschieden, bei dem für den vertraglich geregelten deutsch-schweizerischen Rechtshilfeverkehr nicht geklärt werden konnte, ob die schweizerischen Behörden im umgekehrten Fall noch Rechtshilfe leisten würden, weil nach Abschluss der vertraglichen Rechtshilfevereinbarungen die entsprechenden Taten im deutschen Recht dem Ordnungswidrigkeitenrecht zugeordnet worden waren. 326 Im Ergebnis ebenso Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 3 IRG Rn. 2; Vogel/Burchard, in: Grützner/ Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 3 IRG Rn. 18. Für eine Beibehaltung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit Capus, Strafrecht und Souveränität: Das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit in der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (2010), S. 311 ff. 327 Swart, Human Rights and the Abolition of Traditional Principles, in: Eser/Lagodny (Hrsg.), Principles and Procedures for a New Transnational Criminal Law (1992), S. 505 (506). 328 Swart, Human Rights and the Abolition of Traditional Principles, in: Eser/Lagodny (Hrsg.), Principles and Procedures for a New Transnational Criminal Law (1992), S. 505 (506).
A. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit – notwendig oder verzichtbar?
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men, nulla poena sine lege329 das Erfordernis begründet.330 Die Argumentation könnte lauten, ein Staat dürfe sich nicht in Selbstwiderspruch setzen, indem er einen Verfolgten wegen eines nach seiner eigenen Rechtsordnung straflosen Verhaltens fest- und in Haft nehme.331 1. Argumentation der Unbeachtlichkeit des nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatzes für das Auslieferungsrecht als Verfahrensrecht Für Fälle der Auslieferung wird gegen eine Verletzung des nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatzes eingewandt, der Schutzbereich des Grundrechts332 sei überhaupt nicht eröffnet, da in der Auslieferung keine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein strafbares Verhalten liege.333 Das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit könne den Verfolgten nur vor einer Auslieferung schützen, nicht aber davor, von dem ausländischen Staat strafrechtlich verfolgt zu werden. Der Verfolgte könne nicht auf materielle Straflosigkeit, sondern würde nur die auf der Verfahrenssituation beruhende „faktische Sicherheit“ vor Verfolgung vertrauen. Art. 103 Abs. 2 GG gilt jedoch nach allgemeiner Auffassung nicht für das Strafverfahrensrecht,334 so dass kein über den nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatz geschütztes Vertrauen vorliegen soll. Denn das Rechtshilferecht ist nicht Teil des materiellen strafbegründenden Rechts, sondern Teil des Verfahrensrechts im international-arbeitsteiligen Strafverfahren.335 Es 329 Für Deutschland: Art. 103 Abs. 2 GG; als Maßstab für den Rahmenbeschluss in der Normenhierarchie des Unionsrechts Art. 49 Abs. 1 EU-GRCh. 330 Warbrick/McGoldrick/Mackarel/Nash, Extradition and the European Union, ICLQ 46 (1997), 948 (949). 331 Vgl. Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 3 IRG Rn. 9 m.w. N. In diesem Sinne ist es wohl auch zu verstehen, wenn van den Wyngaert, Rethinking the Law of International Criminal Cooperation: The Restrictive Function of International Human Rights Through Individual-Oriented Bars, in: Eser/Lagodny (Hrsg.), Principles and Procedures for a New Transnational Criminal Law (1992), S. 489 (492), das in internationalen Verträgen vorgesehene Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Ausprägung des Legalitätsprinzips ansieht. 332 BVerfGE 71, 108 (114); Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2007) Bd. 1, § 1 Rn. 1, 53. 333 Vgl. die Wiedergabe der Ausführungen von Böse als von der Bundesregierung bestelltem Gutachter im Rahmen des bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens BVerfGE 113, 273 (287) (Europäischer Haftbefehl). 334 BVerfG, Beschl. v. 27.01.1992 – 2 BvR 294/91, NJW 1992, 2877; Böse, zitiert in: BVerfGE 113, 273 (287 ff.) (Europäischer Haftbefehl). 335 Auch Jescheck, Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, ZStW 66 (1954), 518 (531 f.), sieht den nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatz nicht betroffen und betont, ausliefern sei nicht strafen. Dem zustimmend auch Lagodny, Überlegungen zu einem menschengerechten transnationalen Straf- und Strafverfahrensrecht, in: Arnold u. a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht. Festschrift für Albin Eser zum 70. Ge-
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unterliegt daher grundsätzlich nicht der Garantie des nullum crimen-Grundsatzes gemäß Art. 103 Abs. 2 GG.336 Eine solche klare Trennung zwischen Straf- und Strafverfahrensrecht hat der EuGH in der Rechtssache Advocaten voor de Wereld nicht explizit vorgenommen.337 Implizit folgt er aber diesem Konzept, wenn er einen Verstoß gegen den nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatz verneint. Der EuGH argumentiert damit, dass der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl (wie auch die anderen das Katalogstraftatenkonzept übernehmenden Rahmenbeschlüsse) zur Definition der Katalogstraftaten auf das Recht des Ausstellungsstaates verweist.338 Er überträgt damit dem mitgliedstaatlichen materiellen Strafrecht die Aufgabe, die Anforderungen des nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatzes zu wahren. Allerdings hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum ersten Umsetzungsgesetz zum Europäischen Haftbefehl betont, es könne einer materiell rückwirkenden und damit Art. 103 Abs. 2 GG verletzenden Rechtsänderung gleichstehen, wenn sich ein bis zum Zeitpunkt der Änderung des Art. 16 GG im Zuge der Umsetzung der Implementierung der Regelungen zum Europäischen Haftbefehl in deutsches Recht vor Auslieferung absolut geschützter Deutscher für Taten in einem Mitgliedstaat der EU verantworten müsse, die keinen maßgeblichen Auslandsbezug aufweisen und zum Zeitpunkt ihrer Begehung in Deutschland straffrei waren.339 Dabei unterscheidet das Gericht zwischen Taten mit maßgeblichem Inlandsbezug zu Deutschland und solchen mit maßgeblichem Auslandsbezug, nämlich zum Urteilsstaat.340 Eine besondere Schutzverpflichtung Deutschlands gegenüber seinen eigenen Staatsangehörigen sieht das Gericht in ersteren Fällen, während in der zweiten Fallgruppe das Rechtshilfebegehren grundsätzlich legitim erscheint und ihm kein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen entgegensteht. Denn wer in einer anderen Rechtsordnung handelt, so das BVerfG, muss damit rechnen, auch von dieser zur Verantwortung gezogen zu werden. Dies werde reburtstag (2005), S. 777 (783). Gegen eine Trennung von materiellem Strafrecht und Rechtshilferecht Capus, Strafrecht und Souveränität: Das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit in der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (2010). 336 BVerfGE 109, 13 (37); OLG Braunschweig, NStZ-RR 2005, 18 (19); Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2007) Bd. 1, § 1 Rn. 422. 337 EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633 ff. Vgl. auch Weigend, Der Eckstein als Stein des Anstoßes. Zur Leidensgeschichte des Europäischen Haftbefehls in Deutschland, in: Müller-Dietz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Heike Jung zum 65. Geburtstag am 23. April 2007 (2007), S. 1069 (1073), der zum selben Ergebnis kommt. 338 EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633 ff. (Rn. 48– 54). 339 BVerfGE 113, 273 (308 f.) (Europäischer Haftbefehl). 340 BVerfGE 113, 273 (302 f.) (Europäischer Haftbefehl).
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gelmäßig der Fall sein, wenn die Tathandlung vollständig oder in wesentlichen Teilen auf dem Territorium eines Mitgliedstaates begangen wurde und der Erfolg dort eingetreten ist. Schutzwürdiges Vertrauen kann sich nicht aus einer erfolgreichen Flucht in den Heimatstaat ableiten. Ein Auslandsbezug ist nach den Ausführungen des Gerichts aber auch und gerade dann anzunehmen, wenn die Tat von vorneherein eine typische grenzüberschreitende Dimension hat und eine entsprechende Schwere aufweist, wie dies beim internationalen Terrorismus oder beim grenzüberschreitenden Drogen- oder Menschenhandel der Fall ist.341 Jenseits dieses vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Sonderfalls führt die Einordnung des Auslieferungsrechts als Verfahrensrecht zu der Schlussfolgerung, dass seine Voraussetzungen nicht dem Anwendungsbereich des nullum crimen-Grundsatzes unterfallen, ihnen daher kein individualschützender Charakter zukommt. 2. Strafvollstreckung im Rahmen der Vollstreckungshilfe als Strafe i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG? Allerdings könnte man fragen, ob die Argumentation einer strikten Trennung von materiellem Strafrecht und Rechtshilferecht vor der Fallgestaltung einer Vollstreckungsübernahme Bestand haben kann, bei der die Rechtshilfeleistung darin besteht, dass gegen den Verurteilten schließlich in Deutschland durch deutsche Hoheitsorgane die Strafe vollstreckt und Haft vollzogen wird. Mancher, der für einen Verzicht das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit bei Auslieferung bzw. Überstellung plädiert, beharrt für die Vollstreckungshilfe auf dem zwingenden Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit.342 Hintergrund der Diskussion ist die Frage nach dem Wesen der Strafvollstreckung bzw. des Strafvollzugs bei der Vollstreckungshilfe. Nach einer Ansicht handelt es sich bei der in Vollstreckung des Urteils eines anderen Staates vollzo341
BVerfGE 113, 273 (303) (Europäischer Haftbefehl). Lagodny, Überlegungen zu einem menschengerechten transnationalen Straf- und Strafverfahrensrecht, in: Arnold u. a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht. Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag (2005), S. 777 (784, Fn. 20 a. E.); Jescheck, Die internationalen Wirkungen der Strafurteile, ZStW 76 (1964), 172 (173). Für ein Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit auch Oehler, Die positiven Wirkungen ausländischer Strafurteile im Inland im Rahmen der Vollstreckung, in: Lüttger/Blei/Hanau (Hrsg.), Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag (1972), S. 777 (781); Schwaighofer, Auslieferung und Internationales Strafrecht (1988), S. 93; Vogler, Zur Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für HansHeinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, Zweiter Halbband (1985), S. 1379 (1384); Asp u. a., Entwurf einer Regelung transnationaler Strafverfahren in der Europäischen Union, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für eine europäische Strafrechtspflege (2006), S. 1 (38); Satzger, Die Europäische Vollstreckungsübernahme, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für eine europäische Strafrechtspflege (2006), S. 146 (150 f.). A. A. F.-C. Schroeder, Die Übertragung der Strafvollstreckung, ZStW 98 (1986), 457 (476). Vgl. auch den Diskussionsüberblick bei Werkusch, Die Vollstreckung ausländischer Straferkenntnisse (2001), S. 66 ff. 342
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genen Haft nur der Form nach um Strafhaft, dem Wesen nach aber um Rechtshilfe.343 Aus dem Konzept eines international-arbeitsteiligen Strafverfahrens heraus wird dem zu Recht entgegnet, es handele sich um Strafhaft, bei der eine ausländische Sanktion mit Billigung eines deutschen Gerichts als Freiheitsstrafe vollzogen werde.344 Die erstgenannte Definition ordnet Vollstreckung des ausländischen Urteils ersichtlich nicht als originären innerstaatlichen Akt des Strafens ein, während die zweite Ansicht den Strafcharakter der Vollstreckungshilfe nicht völlig negiert. Ob die innerstaatliche Vollstreckung des ausländischen Urteils dogmatisch als ein Akt des Strafens, der Art. 103 Abs. 2 GG unterfällt, einzuordnen ist, zeigt sich am besten am Vergleich mit einem rein innerstaatlichen Strafverfahren. Im Normalfall des rein innerstaatlichen Strafverfahrens bildet das durch ein innerstaatliches Gericht gefällte Strafurteil die Grundlage der Strafvollstreckung. Am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG ist das gerichtliche Strafurteil zu messen, nicht aber die Strafvollstreckung.345 Bei der Vollstreckungshilfe für einen anderen Staat fehlt es an einem innerstaatlichen Strafurteil. An seine Stelle tritt das ausländische Strafurteil, das durch die innerstaatliche Entscheidung über die Leistung von Vollstreckungshilfe mit der tatsächlichen Strafvollstreckung verknüpft wird. Damit wird aber deutlich, dass das Unwerturteil über das Verhalten und die Entscheidung über dessen Sanktionierung nicht durch die Entscheidung über die Vollstreckungshilfe, sondern durch das ausländische Strafurteil getroffen wird. Am nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatz ist damit das ausländische Strafurteil, nicht aber die innerstaatliche Rechtshilfeentscheidung zu messen. Maßstab ist nicht Art. 103 Abs. 2 GG, sondern der menschenrechtliche nullum crimen-Grundsatz bzw. dessen Umsetzung im innerstaatlichen Recht des Urteilsstaates. Der Vergleich der Vollstreckungshilfe mit dem innerstaatlichen Strafverfahren zeigt es: Das Vorliegen einer rechtskräftigen Aburteilung bildet eine Zäsur im Verfahren. Die Entscheidung über die Leistung von Vollstreckungshilfe ist keine Entscheidung über die Strafbarkeit eines Verhaltens. Sie unterfällt grundsätzlich nicht Art. 103 Abs. 2 GG. Inwieweit Wertungsunterschiede zwischen rechtskräftiger Aburteilung und Beendigung der Strafvollstreckung einem Täter zugute kommen sollen, kann mög343 Vogler, Zur Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, Zweiter Halbband (1985), S. 1379 (1391); aufgegriffen auch durch Grotz, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), Vor § 48 IRG Rn. 23. 344 So Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 57 Rn. 2. 345 Vgl. Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2007) Bd. 1, § 1 Rn. 237.
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licherweise am Maßstab des § 2 Abs. 3 StGB bestimmt werden. Dieser kodifiziert ein Meistbegünstigungsprinzip346 in Umsetzung des lex mitior-Grundsatzes: „Wird das Gesetz, das bei der Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.“ Die Vorschrift verlangt die Berücksichtigung einer Umbewertung der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit eines Verhaltens durch den Gesetzgeber bis zur rechtskräftigen Aburteilung.347 Allerdings soll § 2 Abs. 3 StGB zumindest sinngemäße Anwendung im Vollstreckungsverfahren finden, soweit dort trotz Vorliegens eines rechtskräftigen Urteils Raum für eine Entscheidung unter Anwendbarkeit des materiellen Strafrechts verbleibt, so etwa bei der Entscheidung über die Strafrestaussetzung zur Bewährung, §§ 57, 57a StGB.348 Mit dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 StGB ist dies zu vereinbaren, weil die Vorschrift statt von „Aburteilung“ von „Entscheidung“ spricht.349 Damit können richterliche Entscheidung im Strafvollstreckungsverfahren einbezogen werden. Begründen lässt sich dies das so skizzierte Verständnis der lex mitior damit, dass dem Täter eine nachträgliche Umbewertung der Tat zu seinen Gunsten soweit als möglich zugute kommen soll.350 Zwei Schlussfolgerungen lassen sich nach dem jetzigen Stand der Überlegungen ziehen: Zum einen ist festzuhalten, dass die Entscheidung über die Leistung von Vollstreckungshilfe kein Strafurteil darstellt, das konstitutiv ein Unwerturteil trifft. Die Entscheidung, Vollstreckungshilfe zu leisten, ist daher nicht schon deswegen am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen wäre. Allerdings müssen, wie die Überlegungen zur lex mitior zeigen, materiell-rechtliche Wertentscheidungen der deutschen Rechtsordnung über ein bestimmten Verhalten bei der Entscheidung über die Leistung von Vollstreckungshilfe Berücksichtigung finden. Fraglich ist bleibt daher noch immer, ob damit ein Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit zwingende Voraussetzung der Vollstreckungshilfe sein muss. 3. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Ausdruck der für die Vollstreckungshilfe notwendigen Wertegemeinschaft? Bedenken werden geäußert, ein Staat habe kein „Motiv“ dafür, eine Sanktion zu vollstrecken, wenn nach seinem Recht eine solche Handlung nicht als straf346 Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2007) Bd. 1, § 1 Rn. 6. 347 Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MüKo-StGB2 (2011), Bd. 1, § 2 Rn. 25. 348 Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2007) Bd. 1, § 2 Rn. 104. 349 Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2007) Bd. 1, § 2 Rn. 104. 350 Zum Kriterium der nachträglichen Umbewertung der Tat Dannecker, Das intertemporale Strafrecht (1993), S. 322 f.; zur Meistbegünstigung Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2007) Bd. 1, § 2 Rn. 6.
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würdig angesehen wird.351 In Übertragung eines Zitats von Lammasch über die beiderseitige Strafbarkeit als Voraussetzung der Auslieferung ließe sich sagen: Dass der Staat einen nach den Maßstäben seiner eigenen Strafrechtsordnung Unschuldigen verfolge, bedeute, den Staat „zum willenlosen Schergen fremder Ungerechtigkeit herabzuwürdigen“ 352. Zwingend erscheint dies nicht: Unterschiedliche tatsächliche Gegebenheiten in verschiedenen Staaten – etwa geographische, soziokulturelle, klimatische und andere Besonderheiten353 – können besondere Straftatbestände zur Folge haben. Aus dem Nichtbestehen eines Straftatbestandes im Vollstreckungsstaat kann daher nicht auf eine fehlende Strafwürdigkeit nach der Werteordnung dieses Staates geschlossen werden; zumindest theoretisch denkbar bleibt, dass es schlicht mangels vergleichbarer Rechtsgüter an der grundsätzlichen Bedürftigkeit mangeln, ein solches Verhalten strafrechtlich zu erfassen. Daher greift auch das Argument nicht, dass am strikten Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit festgehalten werden müsse, weil Resozialisierung nur bedeuten könne, dem Verurteilten diejenigen Wertvorstellungen und Verhaltensregelungen näher zu bringen, die in der Gesellschaft des Vollstreckungsstaates, in die er integriert werden soll, auch tatsächlich gelten.354 4. Qualitativer Unterschied der Mitwirkung am international-arbeitsteiligen Strafverfahren zwischen Auslieferung und Vollstreckungsübernahme? Wenig überzeugend ist es, eine unterschiedliches Verständnis zum Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit aus einem qualitativen Unterschied zwischen der Auslieferung und der Vollstreckungsübernahme ableiten zu wollen. Zwar ist der Strafvollzug bei der Vollstreckungsübernahme ein Akt der deutschen Hoheitsgewalt, während er bei einem Strafvollzug in einem anderen Staat einen Akt der Ausübung dessen Hoheitsgewalt bildet. Die Auslieferung als Akt deutscher Hoheitsgewalt bleibt aber kausal für diesen Grundrechtseingriff, sie hat bewusst und gewollt dazu beigetragen. Die Soering-Entscheidung hat deutlich gemacht, dass eine Verantwortlichkeit zurechenbar bleibt.355 Überzeugend hat dazu Lübbe-Wolff in ihrem Sondervotum im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Umsetzungsgesetz zum Europäischen Haftbefehl 351 Oehler, Die positiven Wirkungen ausländischer Strafurteile im Inland im Rahmen der Vollstreckung, in: Lüttger/Blei/Hanau (Hrsg.), Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag (1972), S. 777 (781); Schwaighofer, Auslieferung und Internationales Strafrecht (1988), S. 93. 352 Lammasch, Auslieferungspflicht und Asylrecht (1887), S. 44. 353 So F.-C. Schroeder, Die Übertragung der Strafvollstreckung, ZStW 98 (1986), 457 (476). 354 So aber Asp u. a., Entwurf einer Regelung transnationaler Strafverfahren in der Europäischen Union, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für eine europäische Strafrechtspflege (2006), S. 1 (39). Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 3 F. 355 Siehe oben Teil 1 Kapitel 1 A.II.4.
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ausgeführt: „Es ist also die Frage zu beantworten, ob das Grundgesetz es zulässt, eine Strafe, die über einen Ausgelieferten im Ausland verhängt wurde, nach Rücküberstellung im Inland zu vollstrecken, wenn die zugrundeliegende Tat nach deutschem Recht nicht strafbar ist. Die Antwort muss positiv ausfallen. Soweit das Grundgesetz, insbesondere Art. 103 Abs. 2 GG, einer Auslieferung trotz fehlender beiderseitiger Strafbarkeit nicht entgegensteht, kann es folgerichtig auch der Abmilderung dieses Grundrechtseingriffs dadurch, dass die Vollstreckung des ausländischen Strafurteils in Deutschland ermöglicht wird, nicht entgegenstehen.“ 356 Steht aber der Vollstreckung einer Sanktion bei Rücküberstellung nach Auslieferung ein Fehlen der inländischen Strafbarkeit nicht entgegen, so muss dies auch für an Deutschland gerichtete Ersuchen um Vollstreckungshilfe gelten, denen keine Auslieferung an den nunmehr ersuchenden Staat vorangegangen ist, so wie dies in der Konstellation des § 80 Abs. 3, 4 IRG a. F. bereits der Fall war.357 Dies gilt umso mehr, als eine Vollstreckungshilfe häufig in einem aliudVerhältnis zu einer Auslieferung zur Strafvollstreckung steht.358 5. Schlussfolgerung: Nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatz im Konzept des international-arbeitsteiligen Strafverfahrens Damit sind die vorliegenden Überlegungen am Kern des Problems angekommen: Das Konzept des international-arbeitsteiligen Strafverfahrens zeigt auf, dass es gerade nicht um eine Dopplung der am nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatz zu messenden materiell-strafrechtlichen Normen geht. Vielmehr werden die Strafvollstreckungsnormen des deutschen Strafrechts mit den Strafnormen des Ausstellungsstaates durch die rechtshilferechtlichen Regelungen der Vollstreckungshilfe verknüpft.359 Im international-arbeitsteiligen Strafverfahren 356 Sondervotum Lübbe-Wolff, in: BVerGE 113, 273 (334 f.) (Europäischer Haftbefehl). Zustimmend Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 80 IRG Rn. 59. 357 Näher dazu oben Teil 1 Kapitel 3 F.II.2.b). 358 Insoweit ist Schünemann, Die Rechte des Beschuldigten im internationalisierten Ermittlungsverfahren, StraFo 2003, 344 ff., zuzustimmen, der einer zwischen Auslieferung und Vollstreckungshilfe differenzierenden Behandlung des Erfordernisses widerstreitet, allerdings anders als die hier entwickelte Lösung zu dem Schluss kommt, dass in beiden Fällen das Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit Voraussetzung der Rechtshilfeleistung bleiben muss. Daher verknüpft Schünemann, Grundzüge eines AlternativEntwurfs zur Europäischen Strafverfolgung, ZStW 116 (2004), 376 (386), das Rechtshilferecht (in concreto bereits zur Auslieferung) mit der Voraussetzung beiderseitiger Strafbarkeit, „weil die Festnahme und Auslieferung zwecks strafrechtlicher Aburteilung die nach dem Demokratieprinzip nur vom nationalen Parlament autonom zu fällende Entscheidung über die Strafwürdigkeit der Tat voraussetzt“. 359 In einem diesem Sinne auch der Ansatz von van den Wyngaert, Rethinking the Law of International Criminal Cooperation: The Restrictive Function of International Human Rights Through Individual-Oriented Bars, in: Eser/Lagodny (Hrsg.), Principles and Procedures for a New Transnational Criminal Law (1992), S. 489 (493), die aber
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greift damit ein Kombinationsprinzip, bei dem ersuchender und ersuchter Staat gemeinsam ein Rechts- und Rechtsschutzniveau gewährleisten müssen, das ein dem Schutz in einem rein innerstaatlichen Strafverfahren gleichwertiges Schutzniveau gewährleisten muss.360 Festzuhalten ist daher, dass auch die rechtshilferechtlichen Regelungen der Vollstreckungshilfe, die im Sinne eines internationalarbeitsteiligen Strafverfahrens als den Verfahrensnormen zugehörig anzusehen sind, grundsätzlich nicht dem in Art. 103 Abs. 2 GG als Grundrecht geschützten nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatz unterworfen sind.361 Die hier vorgeschlagene Position eines Verzichts auf ein Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als zwingender Rechtshilfevoraussetzung auch bei der Vollstreckungshilfe führt nicht zu einer Preisgabe verfassungsrechtlich geschützter Positionen des Verurteilten,362 wenn der ordre public-Vorbehalt des § 73 S. 1 und 2 IRG363 ernst genommen wird. Denn der nullum crimen, nulla poena sine legeGrundsatz gehört zu diesem unverzichtbaren ordre public. Die materielle Strafnorm des Urteilsstaates muss daher einen den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG äquivalenten Schutz bieten. Für einen äquivalenten Schutz reicht allein die Bestimmtheit der Strafnorm im Urteilsstaat nicht aus. Normzweck des Art. 103 Abs. 2 GG ist nämlich, die im Tatzeitpunkt erforderliche Vorhersehbarkeit der staatlichen Reaktion auf das Verhalten sicherzustellen.364 Notwendig ist daher auch, dass ein hinreichender tatsächlicher Bezug zwischen der abgeurteilten Tat und dem Urteilsstaat besteht. Nur dann, wenn ein solcher vorliegt, war es
offen lässt, ob damit das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit stets verzichtbar ist oder unter bestimmten Umständen Voraussetzung einer Rechtshilfeleistung bleibt. 360 Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), Vor § 1 IRG Rn. 41, dessen Ausführungen sich allerdings nicht konkret auf die Vollstreckungshilfe beziehen, sondern als allgemeine Grundsätze der Rechtshilfe zu verstehen sind. 361 Zur Frage, ob Prozessvoraussetzungen wie die Verjährung dem Gesetzlichkeitsprinzip unterfallen, vgl. BVerfGE 25, 269, 284 ff., sowie Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil5 (2011), Kap. 4 Rn. 37 ff. 362 A. A. Schünemann, Die Rechte des Beschuldigten im internationalisierten Ermittlungsverfahren, StraFo 2003, 344 ff., der konsequent für die Beibehaltung des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit sowohl bei der Auslieferung als auch bei der Vollstreckungshilfe plädiert. Vgl. auch Mylonopoulos, Strafrechtsdogmatik in Europa nach dem Vertrag von Lissabon – Zur materiellen Legitimation des Europäischen Strafrechts, ZStW 123 (2011), 633 (641). 363 Zur hier vertretenen Auffassung zur Frage des Verhältnisses von S. 1 und 2 der Vorschrift siehe oben Kapitel 2 C.III.3. Hingegen plädieren für die Anwendung allein des europäischen ordre public Vogel, Abschaffung der Auslieferung? Kritische Anmerkungen zur Reform des Auslieferungsrechts in der Europäischen Union, JZ 2001, 937 (942); Böse, Country-Report Germany, in: Moore (Hrsg.)/Chiavario (General Rapporteur), Police and Judicial Co-operation in the European Union, FIDE 2004 National Reports (2004), S. 93, 112. 364 Vgl. Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar12 (2011), Art. 103 Rn. 24.
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nämlich für den Verurteilten überhaupt vorhersehbar,365 dass sein Verhalten an den strafrechtlichen Bestimmungen des Urteilsstaates gemessen werden könnte. Dabei ist zu unterscheiden: Vom Strafanwendungsrecht des Urteilsstaates muss das bestrafte Verhalten im Zeitpunkt der Tat erfasst worden sein, um überhaupt der Strafgewalt des Urteilsstaates zu unterfallen. Dieses Strafanwendungsrecht unterfällt dem Anwendungsbereich des nullum crimen, nulla poena sine legeGrundsatzes, da es über die Reichweite der Strafbarkeit bestimmt.366 Das die Tat vom Strafanwendungsrecht des Urteilsstaates erfasst war, ist notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung einer Vollstreckungshilfe. Erforderlich ist, dass auch aus Sicht der deutschen Rechtsordnung ein hinreichender Bezug der Tat zur Rechtsordnung des Urteilsstaates bestand, so dass dem Verurteilten die Strafbarkeit seiner Tat vorhersehbar war. Der hinreichende tatsächliche Bezug kann durch sinngemäße Anwendung des deutschen Strafanwendungsrechts als Teil der ordre public-Grenze sichergestellt werden.367 Wer in Deutschland als Rechtsunterworfener damit rechnen muss, in den Grenzen des deutschen Strafanwendungsrecht für Verstöße gegen materielles Strafrecht zur Verantwortung gezogen zu werden, der muss auch damit rechnen, dass andere Staaten im vergleichbaren Umfang die Grenzen ihres Strafanwendungsrechts bestimmen. Nach den bisherigen Überlegungen ist es daher der ordre public-Vorbehalt des Rechtshilferechts und nicht das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit, der eine Mitwirkung deutscher Behörden im international-arbeitsteiligen Strafverfahren durch Vollstreckungsübernahme davon abhängig macht, dass die der ausländischen Verurteilung zugrundeliegende Strafnorm den Anforderungen des nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatzes entspricht.368 Damit kommt aber im
365 Zum Erfordernis der Vorhersehbarkeit vgl. BVerfG NJW 2001, 1849; BVerfG NJW 2008, 3627. 366 Vgl. BGHSt 45, 64 (71); Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2007) Bd. 1, § 1 Rn. 87. 367 Näher dazu sogleich unter B.II., in diesem Kapitel. Für die Notwendigkeit der Beschränkung des mitgliedstaatlichen Strafanwendungsrechts im Rahmen der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auch Schünemann, Fortschritte und Fehltritte in der Strafrechtspflege der EU, GA 2004, 193 (205). 368 Eine solche Lösung, allerdings wiederum auf die Auslieferung bezogen, klingt auch bei Eser, Common Goals and Different Ways in International Criminal Law: Reflections from a European Perspective, Harvard International Law Journal 31 (1990), 117, (125 f.), an, wenn er aus der eigenständigen Rolle des vom Verfahren betroffenen Individuums im Rechtshilfeverfahren schlussfolgert: „If these ideas were taken seriously, most traditional prohibitions on extradition could be abolished, especially the principle of double-criminality and the political offense exception. But some stipulations, like a basic rights clause, would eventually have to be incorporated in extradition treaties.“ Denn die in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagene ordre public-Begrenzung der Vollstreckungshilfe übernimmt im Wesentlichen eine grundrechtsschützende Funktion. Zur Frage einer Vergleichbarkeit von Rechtshilfe durch Auslieferung und Rechtshilfe durch Vollstreckungshilfe siehe die unmittelbar nachfolgenden Überlegungen.
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Teil 2, Kap. 2: Grenzen aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung
Hinblick auf diesen Grundsatz auch die Vollstreckung einer Strafe für ein Verhalten in Betracht, das nach deutschem Strafrecht gar nicht strafbar ist bzw. war.369 III. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit aufgrund Anforderungen des Art. 104 GG an die Freiheitsentziehung? Anzusprechen bleibt die Frage, ob Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG i.V. m. Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG das Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit verlangt. Das ist jedoch nicht der Fall, denn erforderlich ist nur eine formal-gesetzliche Grundlage für eine Freiheitsbeschränkung, deren Förmlichkeiten zu wahren sind. Im Falle der Freiheitsentziehung, wie sie mit der Vollstreckungsübernahme bei freiheitsentziehenden Sanktionen verbunden ist, gilt zudem ein Richtervorbehalt, Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG. Als formelles Parlamentsgesetz regelt das IRG bzw. das durch Vertragsgesetz in innerstaatliches Recht transformierte Völkervertragsrecht die Voraussetzungen einer Vollstreckungshilfe.370 Dieses bildet das Einfallstor für das ausländische Strafurteil und begrenzt zugleich dessen Wirkung. Es ist daher auch konsequent, wenn der Gesetzgeber in Art. 80 Abs. 4 S. 2 IRG a. F. (nunmehr funktional ersetzt durch § 84a Abs. 3 IRG) für die Fälle der Strafvollstreckung, in denen es an einer Kriminalstrafdrohung nach deutschem Recht fehlt, die Dauer des Freiheitsentzugs auf maximal zwei Jahre beschränkt. Nicht nur Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG i.V. m. Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG verlangt eine formal-gesetzliche Regelung auch der zulässigen Dauer einer Freiheitsbeschränkung. Die Limitierung auf zwei Jahre ist auch ein Gebot der Verhältnismäßigkeit. Auch aus Art. 104 GG lässt sich also nicht das zwingende Erfordernis des Vorliegens beiderseitiger Strafbarkeit ableiten. Unverzichtbar ist allerdings gem. Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG eine richterliche Entscheidung über die Leistung der Vollstreckungshilfe auf Basis der rechtshilferechtlichen Regelungen.371 Diese Entscheidung bildet die Grundlage für die Vollziehung der ausländischen Sanktion. Ebenso unverzichtbar ist die der Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG, gegen die Entscheidung für die Leistung von Vollstreckungshilfe. Dies schließt beide der zumindest beim Europäischen Haftbefehl beibehaltenen Ebenen, also sowohl die Zulässigkeitsentscheidung als auch die Bewilligungsentscheidung, ein.
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Sondervotum Lübbe-Wolff, in: BVerfGE 113, 273 (334 f.) (Europäischer Haftbe-
fehl). 370 Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte (1994), S. 182; Grotz, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 49 IRG Rn. 24. 371 Vgl. zum Richtervorbehalt aus Art. 5 EMRK Morgenstern, Strafvollstreckung im Heimatstaat – der geplante EU-Rahmenbeschluss zur transnationalen Vollstreckung von Freiheitsstrafen, ZIS 2/2008, 76 (81) sowie oben Teil 1 Kapitel 1 A.III.3.
B. Ordre public als Grenze der Vollstreckungshilfeleistung
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IV. Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Garantie demokratischer Teilhabe an der Strafbarkeitsentscheidung? Schließlich wird gegen den Verzicht auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit eingewandt, das demokratische Prinzip garantiere dem Bürger, dass er grundsätzlich nur nach Strafgesetzen eingesperrt werden dürfe, an deren Entstehung er als Bürger habe mitwirken können.372 Dem könnte entgegnet werden, dass es einen solchen Grundsatz, nach dem man nur nach den Strafgesetzen des eigenen Landes verfolgt und abgeurteilt werden dürfe, nicht gibt.373 Das zeigt sich schon am simplen Beispiel desjenigen, der sich als Tourist in ein fremdes Land begibt, sich damit zwangsläufig auch der dortigen Rechtsordnung einschließlich der Strafrechtsordnung unterwirft und im Falle eines Verstoßes mit Strafe rechnen muss, soweit er nicht einem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterliegt. Allerdings erfasst diese Argumentation das Problem nicht zur Gänze, denn die Diskussion um demokratische Mitgestaltungsmöglichkeit muss sich doch in erster Linie auf das Handeln der Organe des Staates der Staatsbürgerschaft beziehen. Und genau ein solches steht in Diskussion, wenn es um die Vollstreckungshilfe des deutschen Staates für ausländische freiheitsentziehende Sanktion gegen deutsche Staatsangehörige geht. Der Gedanke der demokratischen Mitgestaltungsfähigkeit steht dieser Vollstreckungshilfe dennoch nicht entgegen, kann er doch nicht allein auf das materielle Strafrecht fokussieren: Einfallstor des ausländischen materiellen Strafrechts ist das Rechtshilferecht, das ebenso von der demokratischen Teilhabe am legislativen Prozess umfasst ist, und das die Mitwirkung der deutschen Behörden im international-arbeitsteiligen Strafverfahren sowohl anordnet als auch begrenzt.
B. Ordre public als Grenze der Vollstreckungshilfeleistung Die rechtshilferechtliche und verfassungsrechtliche Untersuchung kommt damit zum gleichen Ergebnis wie es die europarechtssystematische Untersuchung einschließlich der Einordnung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen bereits erbracht hat: Erforderlich ist eine Begren372 Schünemann, Europäischer Haftbefehl und EU-Verfassungsentwurf auf schiefer Ebene – Die Schranken des Grundgesetzes, ZRP 2003, 185 (188). Bedenken hinsichtlich der demokratischen Partizipation äußert auch Sumalla, Gegenseitige Kenntnis und gegenseitige Anerkennung als Grundlagen für die Konzeption eines europäischen strafrechtlichen Sanktionensystems, in: Sieber/Dannecker/Kindhäuser/Vogel/Walter (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht – Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen – Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag (2008), S. 1413 (1418). 373 Deiters, Gegenseitige Anerkennung von Strafgesetzen in Europa – Erwiderung zu Schünemann, ZRP 2003, 359 (360). Siehe dazu aber auch die Duplik von Schünemann, Europäischer Haftbefehl und gegenseitige Anerkennung in Strafsachen, zu: Deiters, ZRP 2003, 359, ZRP 2003, 472.
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Teil 2, Kap. 2: Grenzen aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung
zung des Anerkennungsgrundsatzes durch einen nationalen ordre public, der – neben der Wahrung der Gleichwertigkeit des verfahrensrechtlichen Schutzes des von der Entscheidung Betroffenen –374 im Wesentlichen die Aufgabe erfüllt, die Ausübung deutscher Hoheitsgewalt in denjenigen Fällen zu versagen, in denen das der Verurteilung zugrundeliegende Verhalten (bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts) nach deutschem Recht grundrechtlich geschützt wäre.375 Ein so verstandener ordre public-Vorbehalt nimmt auch die Aufgabe des Schutzes der rechtskulturellen Identität des ersuchten Staates wahr, die nach anderer Auffassung durch den Grundsatz beiderseitiger Strafbarkeit gewährleistet werden soll.376 I. Garantie der Straffreiheit grundrechtlich geschützten Verhaltens Der ordre public-Vorbehalt definiert damit die Grenzen einer Vollstreckungsübernahme näher. Nicht anerkannt und vollzogen werden darf eine Strafe für ein Verhalten, das auch bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts nicht nur nach deutschem Strafrecht nicht strafbar ist, sondern das der deutsche Strafgesetzgeber auch nicht unter Strafe stellen dürfte, weil dieses Verhalten verfassungsrechtlichen Schutz etwa durch grundrechtliche Freiheitsrechte genießt.377 Nicht jedes Verhalten aber, das nach deutschem Recht nicht mit Kriminalstrafe bedroht ist, wird als Wahrnehmung der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG, grundrechtlich geschützt. Denn das Strafrecht ist lediglich ultima ratio. Neben den strafrechtlichen Verbots- bzw. Pflichtennormen bestehen aber auch vielfältige verwaltungsrechtliche Verhaltensge- und -verbote, deren Verletzung in der deutschen Rechtsordnung nicht mit Kriminalstrafe bedroht ist, deren kriminal374 Da auf die Gleichwertigkeit abzustellen ist, unterscheiden sich hier die materiellen Anforderungen des europäischen und nationalen ordre public in der Praxis kaum, siehe dazu oben Teil 2, Kapitel 1, D.III.4.a). 375 Ähnlich Hackner/Schomburg/Lagodny/Gleß, Das 2. Europäische Haftbefehlsgesetz, NStZ 2006, 663 (668): „Respektierung einer bewussten Entscheidung für die Nichtstrafbarkeit eines bestimmten Verhaltens im einen und für die Strafbarkeit im anderen Staat“; Asp/von Hirsch/Frände, Double Criminality and Transnational Investigative measures in EU Criminal Proceedings: Some Issues of Principle, ZIS 11/2006, 512 (515 f., 520). 376 Capus, Strafrecht und Souveränität: Das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit in der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (2010), S. 407. Siehe oben A. IV., in diesem Kapitel. Eine ähnliche Funktion könnte die verfassungsrechtliche Identitätskontrolle ausüben, erwogen in BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14. Siehe jedoch Teil 2, Kapitel 1, C.III.1. 377 Wie hier Swart, Human Rights and the Abolition of Traditional Principles, in: Eser/Lagodny (Hrsg.), Principles and Procedures for a New Transnational Criminal Law (1992), S. 505 (522 ff.); zu einem solchen Konzept schon Jescheck, Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, ZStW 66 (1954), 518 (531 ff.), allerdings bezogen auf die Auslieferung. Płachta, Transfer of Prisoners under International Instruments and Domestic Legislation (1993), S. 323 f., argumentiert mit dem höheren Maß an Flexibilität der Entscheidung im Einzelfall, wenn die Frage der beiderseitigen Strafbarkeit durch eine ordre public-Klausel ersetzt würde, lässt die Diskussion im Ergebnis aber offen.
B. Ordre public als Grenze der Vollstreckungshilfeleistung
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strafrechtliche Sanktionierung aber auch nicht grundrechtlich ausgeschlossen wäre. Auch ist es zumindest denkbar, dass in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund der dortigen tatsächlichen Gegebenheiten ein Verhalten unter Strafe gestellt ist, das mangels vergleichbarer tatsächlicher Gegebenheiten vom deutschen Strafrecht nicht unter Strafe gestellt ist, das aber bei Vorliegen vergleichbarer tatsächlicher Verhältnisse unter Strafe gestellt sein könnte. Damit wird eine wertgebundene Abgrenzung über die Zulässigkeit der Vollstreckungshilfe im konkreten Einzelfall erforderlich, die der Preis für den Verzicht auf das generelle Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit ist.378 II. Beschränkte Anerkennung ausländischer Strafgewalt im international-arbeitsteiligen Strafverfahren durch sinngemäße Anwendung des deutschen Strafanwendungsrechts Problematisch bleiben jene Fälle, in denen das ausländische Strafrecht seinerseits Auslandstaten unter Strafe stellt. Der Ständige Internationale Gerichtshof hatte in seiner Entscheidung im Lotus-Fall 1927 in einem obiter dictum festgehalten, dass mangels Existenz einer entsprechenden Erlaubnisnorm im internationalen Gewohnheits- oder Völkervertragsrecht kein Staat seine Hoheitsgewalt in irgendeiner Form auf dem Territorium eines anderen Staates ausüben dürfe. Zugleich untersage das Völkerrecht aber keinem Staat, innerhalb seines Territoriums seine Jurisdiktion auf Geschehnisse außerhalb seines Territoriums zu erstrecken, er bedürfe dazu keiner besonderen Erlaubnisnorm des Völkerrechts. Anderes könne nur vertreten werden, wenn es eine nicht existente generelle Verbotsnorm des Völkerrechts gäbe, die es den Staaten untersage, die Anwendung ihres Rechts und ihrer Gerichtsbarkeit auf Personen, Güter und Handlungen außerhalb ihres Territoriums zu erstrecken, und lediglich eine Ausnahmevorschrift von diesem generellen Verbot eine solche Erstreckung für bestimmte Fälle erlaube.379 378 Oehler, Das neue Recht der Rechtshilfe in Strafsachen, ZStW 96 (1984), 555 (557), gibt am Beispiel der Auslieferung zu bedenken, dass eine solche Beurteilung die Gerichte und Behörden überfordern würde. Er will daher am Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit festhalten. 379 The S.S. Lotus, Judgment No. 9, P.C.I.J., Series A, No. 10 (1927), para. 18–19: „Now the first and foremost restriction imposed by international law upon a State is that – failing the existence of a permissive rule to the contrary – it may not exercise its power in any form in the territory of another State. In this sense jurisdiction is certainly territorial; it cannot be exercised by a State outside its territory except by virtue of a permissive rule derived from international custom or convention. It does not, however, follow that international law prohibits a State from exercising jurisdiction in its own territory, in respect of any case which relates to acts which have taken place abroad, and in which it cannot rely on some permissive rule of international law. Such a view would only be tenable if international law contained a general prohibition to States to extend the application of their laws and the jurisdiction of their courts to persons, property and
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Teil 2, Kap. 2: Grenzen aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung
Das Strafanwendungsrecht der Staaten umfasst typischerweise neben dem Territorialitätsprinzip Fallgestaltungen des aktiven Personalitätsprinzips, in denen Auslandstaten der Staatsangehörigen erfasst sind, des passiven Personalitätsprinzips, also der Ahndung von Auslandstaten zu Lasten der Staatsbürger, den Schutz besonders eng mit dem Staat verknüpfter Rechtsgüter auch gegen Auslandstaten (Schutzprinzip) sowie Fälle der stellvertretenden Strafrechtspflege und des Weltrechtsprinzips.380 Während aber die jurisdiction to prescribe, also die Kompetenz, ein bestimmtes Verhalten unter Strafe zu stellen, grundsätzlich unbeschränkt ist, findet die jurisdiction to enforce im klassischen Völkerrecht ihre Grenzen in der souveränen Entscheidung der anderen Staaten, die Durchsetzung dieser Strafgewalt außerhalb des Territoriums der Grenzen des Staates durch Leistung von Rechtshilfe zu unterstützen. Diese Grundsätze lassen sich auf die Vollstreckungsübernahme durch Deutschland übertragen. Anhaltspunkte dafür, wann im Einzelfall eine Anerkennung und Vollstreckungsübernahme einer ausländischen Entscheidung, in concreto im Fall der Europäischen Vollstreckungsanordnung, keinen hinreichenden Bezug zum Urteilsstaat mehr aufweist, lassen sich einer Betrachtung des Falles in sinngemäßer, nämlich umgestellter Anwendung des deutschen Strafanwendungsrechts ableiten. Damit wird, möglicherweise entgegen dem ersten Anschein, das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit nicht wieder durch die Hintertür eingeführt. Denn die Regeln des Strafanwendungsrechts werden nach dem hier vorgeschlagenen Modell nicht mit der Frage einer Strafbarkeit des Verhaltens bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts auch nach deutschem Recht verknüpft. Das heißt, eine Vollstreckungsübernahme ist bereits dann möglich, wenn die Tat bei sinngemäßer Anwendung des deutschen Strafanwendungsrechts einen hinreichenden Bezug
acts outside their territory, and if, as an exception to this general prohibition, it allowed States to do so in certain specific cases. But this is certainly not the case under international law as it stands at present. Far from laying down a general prohibition to the effect that States may not extend the application of their laws and the jurisdiction of their courts to persons, property and acts outside their territory, it leaves them in this respect a wide measure of discretion which is only limited in certain cases by prohibitive rules; as regards other cases, every State remains free to adopt the principles which it regards as best and most suitable.“ In ICJ, Arrest Warrant of 11 April 2002 (Democratic Republic of the Congo v. Belgium), Judgment, I.C.J. Reports 2002, p. 3, hat sich der IGH von dieser Auffassung nicht distanziert, sondern sich vielmehr auf einen Verstoß gegen Immunitätsregeln zurückgezogen; ausführlich dazu Schultz, Ist der Lotus verblüht? Anmerkung zum Urteil des IGH v. 14. Februar 2002 im Fall betreffend den Haftbefehl vom 11. April 2000 (Demokratische Republik Kongo gegen Belgien), ZaöRV 62 (2002), 703 ff. 380 Vgl. §§ 3 ff. StGB. Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union (2004), S. 68 ff.; Schultz, Ist der Lotus verblüht? Anmerkung zum Urteil des IGH v. 14. Februar 2002 im Fall betreffend den Haftbefehl vom 11. April 2000 (Demokratische Republik Kongo gegen Belgien), ZaöRV 62 (2002), 703 (708).
B. Ordre public als Grenze der Vollstreckungshilfeleistung
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zum Urteilsstaat aufweist und die Pönalisierung des Verhaltens nicht nach deutschem Recht ordre public-widrig wäre. Schwierigkeiten der Beurteilung dieser Frage ergeben sich daraus, dass das Strafanwendungsrecht stets eines Bezugs zum materiellen Strafrecht bedarf, es mangels Strafbarkeit des Verhaltens nach deutschem Recht aber gerade an diesem konkreten Bezug fehlt. Hier muss wertend auf vergleichbare Rechtsgüter schützende Normen des deutschen Strafrechts abgestellt und anhand dessen die einschlägige Regelung des Strafanwendungsrechts bestimmt werden. Damit lässt sich zusammenfassend festhalten, dass das Prinzip beiderseitiger Strafbarkeit im neuen Rechtshilfekonzept der EU, das den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zur zentralen Methode hat, zu Recht keine zwingende Voraussetzung der Rechtshilfeleistung ist. Ihm ist kein individualschützender Charakter beizumessen. Wäre das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit zwingend, könnte sich dies im Einzelfall auch zu Lasten des Verurteilten auswirken: Ausgehend von der Grundannahme, dass die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe am Ort der engsten sozialen Bindungen das Vollstreckungsziel der Resozialisierung besser zu erreichen vermag, würde es dem Verurteilten zum Nachteil gereichen können, wenn das Nichtvorliegen beiderseitiger Strafbarkeit die Vollstreckungsüberstellung ausschließen würde. Die „Gratwanderung zwischen Verfassungsgebot und Fürsorgepflicht“ 381 kann in diesen Fällen mit dem in der vorliegenden Studie vorgeschlagenen Modell vermieden werden. Der Schutz grundlegender Interessen des Verurteilten muss statt über das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit über den die Rechtshilfeleistung begrenzenden Grundsatz des ordre public erlangt werden. So ist über diesen auch die Einhaltung des Gesetzlichkeitsprinzips als eine zwingende Grenze des Rechtshilferechts einzuordnen. Im Konzept des international-arbeitsteiligen Strafverfahrens bedeutet dies allerdings, dass bei einer Vollstreckungsübernahme durch Deutschland die materiellen Normen des ausländischen Strafrechts, auf dessen Basis die zu vollstreckende Entscheidung getroffen wurde, am Gesetzlichkeitsprinzip zu messen sind. In sinngemäßer Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzip ist eine Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen allerdings auch dort begrenzt, wo es Handlungen erfasst, die weder auf dessen Territorium gesetzt wurden noch deren Erfolg dort eintrat und bei denen sich auch aus anderen Überlegungen wie dem Personalitätsprinzip, dem Schutzprinzip, dem Weltrechtsprinzip und dem Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege kein hinreichender Anknüpfungspunkt an den Urteilsstaat erkennen lässt. Damit sind auch ausländische Urteile im Inland vollstreckbar, soweit sie den aufgezeigten Maßstäben genügen 381 P. Wilkitzki, Der Regierungsentwurf eines Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG), GA 1961, 361 (375); Vogler, Zur Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für HansHeinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, Zweiter Halbband (1985), S. 1379 (1384).
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Teil 2, Kap. 2: Grenzen aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung
und nicht ein Handeln unter Strafe stellen, das nach deutschem Recht grundrechtlich geschützt wäre. Entgegen etwa der in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl verankerten und ebenso in Art. 3 Abs. 4 RB 2008/909/JI über die Europäische Vollstreckungsanordnung ausgeführten Lösung findet sich der hier einschlägige zu beachtende ordre public-Maßstab nicht allein im europäischen Recht, sondern muss sich die Vollstreckungsübernahme im konkreten Fall auch am Maßstab des nationalen deutschen ordre public messen lassen.382
C. Konsequenzen für die Umsetzung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung in deutsches Recht I. Rechtsdogmatisch: Kein Vorbehalt für eine Beibehaltung beiderseitiger Strafbarkeit erforderlich Für die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, ob er eine Erklärung gegen die Anwendung des Art. 7 Abs. 1 RB 2008/909/JI über die Europäische Vollstreckungsanordnung abgeben sollte (Art. 7 Abs. 4 RB 2008/909/JI),383 bedeutete dies, dass ein solcher Vorbehalt aus rechtsdogmatischer Sicht nicht zwingend erforderlich ist. Denn die Begrenzung des Anerkennungskonzepts durch einen unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public bietet einen hinreichenden Schutz. II. Rechtspolitisch: Vorbehalt als Konfliktvermeidungsstrategie Rechtspolitisch ist bzw. war die Entscheidung schwieriger: Denn die hier entwickelte Lösung einer Prüfung am nationalen ordre public beinhaltet rechtspolitisch wohl Konfliktpotential zwischen den europäischen Organen, insbesondere EuGH und Kommission, auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite, solange dieses Konzept keine Anerkennung in der Rechtsprechung des EuGH gefunden hat. Daher spricht bzw. sprach rechtspolitisch vieles für die Abgabe einer generellen Erklärung, wie es der Rahmenbeschluss ermöglicht. Der Konflikt zwischen deutschem und europäischem Recht würde damit vermieden. Auch steht nicht zu befürchten, eine Vollstreckungsübernahme wäre dann auch in jenen Fällen nicht möglich, in denen zwar keine beiderseitige Strafbarkeit gegeben, die Vollstreckungsübernahme nach Maßgabe des ordre public aber dennoch zulässig und aus resozialisierenden oder humanitären Erwägungen gegenüber dem Verurteilten, dem sonst ein Strafvollzug in der Fremde drohte, geboten wäre. Denn der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung 382 383
Ausführlich dazu oben Teil 2 Kapitel 1 D. und F. Siehe näher dazu oben Teil 1 Kapitel 3 F.III.2.
C. Umsetzung des Rahmenbeschlusses in deutsches Recht
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ordnet das Nichtvorliegen beiderseitiger Strafbarkeit jenseits des dann abbedungenen Art. 7 Abs. 1 RB 2008/909/JI nicht als zwingendes Erfordernis, sondern als lediglich fakultativen Versagungsgrund ein, der in Art. 9 Abs. 1 lit. d RB 2008/909/JI näher konkretisiert wird. Art. 9 Abs. 1 RB 2008/909/JI, der die Versagungsgründe benennt, ist zur Gänze als Ermessensvorschrift ausgestaltet, anders als der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl384 kennt jener über die Europäische Vollstreckungsanordnung keine zwingenden Ablehnungsgründe, sondern nur fakultative Versagungsgründe. Daher sollte Deutschland eine entsprechende Erklärung abgeben (dies ist bei Umsetzung des RB 2008/ 909/JI zwischenzeitlich geschehen385) und eine sachgerechte Ermessensentscheidung über die etwaige Berufung auf das Fehlen beiderseitiger Strafbarkeit als fakultativem Versagungsgrund in jedem Einzelfall treffen.386
384
Art. 3 RB 2002/584/JI. Vgl. unten Teil 4 C.I. 386 Im praktischen Ergebnis entspricht dies der von Płachta, Transfer of Prisoners under International Instruments and Domestic Legislation (1993), S. 323 f., erwogenen flexiblen Lösung durch Ersetzung des zwingenden Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit mittels eines ordre public-Vorbehalts, siehe oben B.I., in diesem Kapitel. 385
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Teil 2, Kap. 3: Ergebnisse der Untersuchung
Kapitel 3
Grenzen der Vollstreckungshilfe nach der Konzeption des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung sowie im Lichte der Ergebnisse der Untersuchung Im vorliegenden Kapitel der Arbeit werden die in den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung aufgenommenen Versagungsgründe näher untersucht. Diese Versagungsgründe können als Detailausprägungen der hier vorgeschlagenen Begrenzung des Anerkennungskonzepts durch einen unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public verstanden werden. Abschließend wird in diesem Kapitel nochmals die Frage aufgeworfen, ob neben diesen enumerativ in den Rahmenbeschluss aufgenommenen Versagungsgründen noch Bedarf für eine allgemeine Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes verbleibt.
A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe Die fakultativen Versagungsgründe können nach ihren Anknüpfungspunkten systematisiert werden. Eine erste Gruppe bezieht sich auf das Nichtvorliegen der im Rahmenbeschluss zur Europäischen Vollstreckungsanordnung aufgestellten materiellen Voraussetzungen, die Nichteinhaltung des Verfahrens zur Vollstreckungsübernahme und auf Praktikabilitätserwägungen (Art. 9 Abs. 1 lit. a, b, h RB 2008/909/JI). Eine zweite Gruppe beinhaltet justizgrundrechtliche Regelungen zum Schutze des Verurteilten und Ausflüsse der Staatensouveränität (Art. 9 Abs. 1 lit. c, d, i, l RB 2008/909/JI). Die dritte Gruppe von Versagungsgründen enthält potentielle Vollstreckungshindernisse, die sich aus dem Recht des Vollstreckungsstaates ergeben oder aus dessen Interessen abzuleiten sind (Art. 9 Abs. 1 lit. d, e, f, g, j, k RB 2008/909/JI). Die so vorgenommene Gruppeneinteilung soll das Verständnis der nur aufzählend im Rahmenbeschluss verankerten Versagungsgründe durch Systematisierung erleichtern, schließt aber keineswegs Überschneidungen bei deren Hintergründen und Zielsetzungen aus und hat keinen normativen Charakter. I. Fehlen materieller Voraussetzungen der Vollstreckungsübertragung; Verfahrensmängel; Praktikabilitätserwägungen 1. Bescheinigung unvollständig oder im Widerspruch zum Urteil; materielle Überstellungsvoraussetzungen fehlen Im Einzelnen erfasst die erste Gruppe zunächst Fälle, in denen die vom Ausstellungsstaat übermittelte Bescheinigung unvollständig ist oder dem Urteil offensichtlich nicht entspricht, also formelle Mängel im Vollstreckungsübertragungsverfahren vorliegen (Art. 9 Abs. 1 lit. a RB 2008/909/JI). Zudem sind die-
A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe
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jenigen Fälle angesprochen, in denen die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 1 RB 2008/909/JI nicht vorliegen, und damit keine der vom Rahmenbeschluss erfassten Fallgestaltungen gegeben sind (lit. b der Vorschrift).387 Die Vollstreckungsübernahme kann darüber hinaus versagt werden, wenn zum Zeitpunkt des Eingangs der Bescheinigung und des Urteils bei der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaates weniger als sechs Monate der Sanktion noch zu verbüßen sind (lit. h). In den beiden erstgenannten Fällen muss die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates jedoch zuvor die zuständige Behörde des Ausstellungsstaates auf geeignete Art und Weise konsultieren und gegebenenfalls um unverzügliche Übermittlung aller erforderlichen zusätzlichen Angaben bzw. um Vervollständigung oder Berichtigung bitten.388 In den Fällen des lit. a ist ausdrücklich vorgesehen, dass sie hierfür eine zumutbare Frist setzt.389 Eine Möglichkeit zur angemessenen Fristsetzung muss auch für die sonstigen Konsultationen gelten. Nur in den Fällen des Art. 9 Abs. 1 lit. a RB 2008/909/JI und in solchen Fällen, in denen der Vollstreckungsstaat eine Übersetzung des Urteils oder dessen wesentlicher Teile verlangt, 390 ist mit der Fristsetzung ein Aufschub der 90-Tage-Frist zur Entscheidung über die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion verbunden.391 2. Verbleibende Verbüßungsdauer unzureichend Art. 9 Abs. 1 lit. h RB 2008/909/JI erlaubt, wie bereits gesagt, die Versagung der Vollstreckungsübernahme, wenn weniger als sechs Monate zu vollstreckende Strafdauer verbleiben. Funktional entspricht die Vorschrift der zwingende Bagatellgrenze, unterhalb derer kein Europäischer Haftbefehl erlassen werden darf. Während nach Art. 2 Abs. 1 RB 2002/584/JI ein Europäischer Haftbefehl zur Strafvollstreckung nicht ergehen darf, wenn nur noch weniger als vier Monate des verhängten Freiheitsentzuges zu vollstrecken sind, ist vorliegend eine längere verbleibende Strafdauer als Bagatellgrenze vorgesehen. Allerdings ist die Berufung auf das Unterschreiten der Bagatellgrenze, anders als beim Europäischen Haftbefehl, als fakultativer Versagungsgrund ausgestaltet. Die etwa aus Art. 3 Abs. 1 lit. c ÜberstÜbk bekannte Forderung einer verbleibenden Mindestverbüßungsdauer muss differenziert betrachtet werden. Es drängt sich die Frage auf, ob bei einer verbleibenden Verbüßungszeit von weniger als sechs Monaten Aufwand und Nutzen der Vollstreckungsübertragung in angemes387 388 389 390 391
Näher dazu oben Teil 1 Kapitel 3 G.I. Art. 9 Abs. 3 RB 2008/909/JI. Art. 9 Abs. 1 lit. a RB 2008/909/JI am Ende. Art. 23 Abs. 3 RB 2008/909/JI. Vgl. Art. 11 und 12 Abs. 2 RB 2008/909/JI.
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Teil 2, Kap. 3: Ergebnisse der Untersuchung
senem Verhältnis zueinander stehen. Vorrangig ist aber zu fragen, ob bei solch kurzer verbleibender Frist tatsächlich bessere Resozialisierungschancen im Vollstreckungsstaat vorlägen. Nur dann, wenn der Ausstellungsstaat diese prognostische Frage bejaht hat, durfte er das Vollstreckungsüberstellungsverfahren überhaupt einleiten. In der Tat ist zu bedenken, dass eine solch kurze verbleibende Frist der Annahme besserer Resozialisierungschancen im Vollstreckungsstaat nicht zwingend entgegensteht. Denn gerade das Übergangsmanagement von der Haft in die Freiheit ist von entscheidender Bedeutung für die Legalbewährungsaussichten des Verurteilten in der Zukunft. Ist also davon auszugehen, der Verurteilte werde nach der Haftentlassung im Vollstreckungsstaat leben, so können auch bei weniger als sechs Monaten Frist die Chancen einer Legalbewährung höher sein, wenn er nur durch Überstellung in den Vollstreckungsstaat die Chance erlangt, geeignete und angemessene Vorbereitungsmaßnahmen für die Zeit nach der Haftentlassung zu erlangen. Daher ist es zu begrüßen, wenn die verbleibende Mindestverbüßungsdauer, die noch im ÜberstÜbk zwingende Voraussetzung der Überstellung war, im Rahmenbeschluss nur noch als fakultativer Versagungsgrund ausgestaltet und damit einer Ermessensentscheidung der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaates zugänglich ist. Für eine entsprechende Ermessensentscheidung deutscher Behörden gilt das zur Berücksichtigung des Resozialisierungszieles bereits Gesagte.392 II. Schutz von Justizgrundrechten; Staatssouveränität Zur zweiten, grund- und teils zugleich souveränitätsrechtlich geprägten Gruppe der Versagungsgründe ist der Grundsatz des ne bis in idem (Art. 9 Abs. 1 lit. c RB 2008/909/JI) zu rechnen. Ebenso ist in die Gruppe die nähere Eingrenzung der Berufung auf eine fehlende beiderseitige Strafbarkeit (lit. d) zu fassen. Hinzu kommt eine Regelung zum Umgang mit Abwesenheitsurteilen (lit. i) sowie die Erfassung von Fällen, in denen sich das Urteil auf Straftaten erstreckt, die nach dem Recht des Vollstreckungsstaates ganz oder zum großen oder zu einem wesentlichen Teil in dessen Hoheitsgebiet oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen worden sind (lit. l). 1. Ne bis in idem-Grundsatz Der Grundsatz ne bis in idem verbietet eine mehrfache Bestrafung wegen derselben Tat. Art. 9 Abs. 1 lit. c RB 2008/909/JI betrifft die Versagung der Anerkennung einer Entscheidung und der Vollstreckung der Sanktion, wenn „die Vollstreckung dem Grundsatz ne bis in idem zuwiderlaufen würde“. Das erstrebte Ziel der Regelung, die Achtung des Grundsatzes, wegen derselben Tat 392 Näher dazu oben Teil 1 Kapitel 3 H.I.1. unter Einbeziehung von BVerfGE 96, 100 (115 ff.).
A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe
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nicht zweimal verfolgt bzw. bestraft zu werden, ist anzuerkennen. Die Ausgestaltung dieser Regelung im Rahmenbeschluss ist jedoch kritikwürdig; sie bedarf in mehrfacher Hinsicht einer Auslegung im Einklang mit dem Primärrecht. Insbesondere stellt sich mit der ausdrücklichen Anerkennung der Grundrechtecharta als den Verträgen gleichrangiges Primärrecht die Frage nach der Auslegung der Voraussetzungen des unionsrechtlichen Grundsatzes ne bis in idem neu. Denn die Regelung des Art. 50 EU-GRCh enthält durch den Verzicht auf die ausdrückliche Forderung nach einem Vollstreckungselement eine von Art. 54 SDÜ abweichende Formulierung des Grundsatzes. a) Primärrechtskonforme Auslegung: Zwingender Versagungsgrund trotz „Kann“-Bestimmung Entgegen dem Wortlaut des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung ist der Versagungsgrund als zwingend einzuordnen. Anders als etwa der Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl differenziert der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung jedoch nicht zwischen zwingenden und fakultativen Versagungsgründen sondern stellt es durch die Verwendung des Begriffs „kann“ scheinbar in das Ermessen der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaates, ob von den Versagungsgründen im Einzelfall Gebrauch gemacht wird. Jedoch handelt es sich bei dem Grundsatz des ne bis in idem um ein Grundrecht des Einzelnen. Zwar war der Grundsatz traditionell nur innerstaatlich anerkannt,393 er wurde aber zunächst durch Art. 54 ff. SDÜ transnational auf das Verhältnis zwischen den SchengenVertragsparteien erstreckt394 und ist nunmehr in Art. 50 EU-GRCh als unionsweites transnationales Grundrecht geschützt.395 Die Grundrechtecharta und da393 Ablehnend zur Einordnung des Grundsatzes ne bis in idem als allgemeines Völkerrecht BVerfGE 75, 1 (18 ff.); BVerfGK 13, 7 (13 ff.) = HRRS 2008 Nr. 378 (S. 5 ff.); BVerfG, NJW 2012, 1202 (1203 m.w. N.). Vgl. aber auch Art. 4 des 7. ZP zur EMRK. 394 Aus der Vielzahl der Literatur dazu Dannecker, Die Garantie des Grundsatzes „ne bis in idem“ in Europa, in: Hirsch/Wolter/Brauns, Festschrift für Günter Kohlmann zum 70. Geburtstag (2003), S. 593 ff.; Eicker, Transstaatliche Strafverfolgung. Ein Beitrag zur Europäisierung, Internationalisierung und Fortentwicklung des Grundsatzes ne bis in idem (2004); Liebau, „Ne bis in idem“ in Europa (2005), S. 87 ff., 121 ff.; Vervaele, European criminal law and general principles of Union law, in: Vervaele (Hrsg.), European Evidence Warrant. Transnational Judicial Inquiries in the EU (2005), S. 131 (136 ff.); Bogensberger, Die Anwendung des transnationalen Ne-bis-in-idem-Prinzips in Europa – and the Oscar for the development of the standards goes to . . . the Court, in Moos/Jesionek/Müller (Hrsg.), Strafprozessrecht im Wandel, Festschrift für Roland Miklau (2006), S. 91 ff.; Soyer, Rechtsangleichung in der EU im Strafrecht, AnwBl 2006, 262; Zeder, Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem) in der EU: Fragen, Fragen, Fragen – und einige Antworten, AnwBl 2007, 454 ff. 395 Vgl. Böse, Die transnationale Geltung des Grundsatzes „ne bis in idem“ und das „Vollstreckungselement“. Zugleich Besprechung von BGH, Beschl. v. 25.10.2010, GA
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Teil 2, Kap. 3: Ergebnisse der Untersuchung
mit auch der Grundsatz des ne bis in idem ist über Art. 6 Abs. 1 EUV ausdrücklich als den Primärverträgen gleichrangig verankert. Der Grundsatz beansprucht damit unionsweite transnationale Geltung als Grundrecht; dies gilt jedenfalls soweit nicht Ausnahmen von der Verbindlichkeit der Grundrechtecharta für einzelne Mitgliedstaaten bestehen.396 Für letztere und zudem im Verhältnis zu den Drittstaaten Island, Norwegen und Schweiz gilt der Grundsatz des ne bis in idem gemäß Art. 54 ff. SDÜ.397 Seine Beachtung steht daher nicht im bloßen Ermessen der zuständigen Behörde. Obwohl also die primärrechtskonforme Auslegung des Art. 9 Abs. 1 lit. c RB 2008/909/JI eindeutig zu einer zwingenden Versagung führt, muss der Verzicht auf die klarstellende Differenzierung zwischen fakultativen und zwingenden Versagungsgründen wegen des dadurch gesetzten Anscheins einer Ermessensentscheidung als verfehlt kritisiert werden. b) Inbezugnahme des unionsrechtlichen ne bis in idem-Grundsatzes Mit der Einordnung als unionsrechtliches Grundrecht und zwingender Versagungsgrund für eine Urteilsanerkennung wird zugleich klar, dass der Grundsatz des ne bis in idem unionsautonom auszulegen ist.398 Denn auch die mitgliedstaatlichen Behörden sind im Anwendungsbereich des Unionsrechts, nämlich bei Umsetzung und Anwendung der Europäischen Vollstreckungsanordnung, an die Unionsgrundrechte gebunden.399 Sie dürfen den Schutzstandard des Art. 50 EUGRCh nicht unterschreiten. Daher handelt es sich bei dem ne bis in idem-Grundsatz in Art. 9 Abs. 1 lit. c RB 2008/909/JI – anders als beim Begriff des ordre public als Anerkennungsgrenze – auch nicht um einen unionsrechtlichen Rah-
2011, 504 ff.; Zeder, Auswirkungen der Grundrechte-Charta am Beispiel ne bis in idem, JSt 2012, 195 ff. 396 Siehe Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und auf das Vereinigte Königreich zum Vertrag von Lissabon, ABl. 2008 C 313/313 f., sowie Ratsdok. 15265/1/09 REV 1, Anlage I (S. 14) im Hinblick auf die Tschechische Republik. Siehe zu Letzterem Streinz, Rechtliche Verankerung der Garantien für Irland und der „Fußnote“ für Tschechien, in: Eilmansberger/ Griller/Obwexer (Hrsg.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon (2011), S. 23 ff. 397 Zur Frage der Anwendbarkeit des Schengen-Besitzstandes auf das Vereinigte Königreich siehe Schumann, Die Union, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts? Chancen und Risiken abgestufter Integration als Methode europäischer Zielerreichung, in: Leidenmühler/Eder/Leingartner/Winkler (Hrsg.), Grundfreiheiten – Grundrechte – Europäisches Haftungsrecht (2012), S. 257 (273 ff.). Im Hinblick auf die Drittstaaten vgl. Dannecker, Zur transnationalen Geltung des Grundsatzes „ne bis in idem“ in der Europäischen Union und den Drittstaaten Island, Norwegen und Schweiz, Zeitschrift für Europarecht 5 (2009), 110 ff. 398 So ausdrücklich EuGH, Rs. C-261/09, Mantello, Slg. 2010, I-11477 ff. (Rn. 38). 399 Art. 51 Abs. 1 EU-GRCh. Zum Awendungsbereich der Grundrechtecharta auch EuGH, Rs. C-617/10, Åklagaren/Åkerberg Fransson, ECLI: EU: C: 2013: 105 (Rn. 16– 29).
A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe
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menbegriff, der Raum für unterschiedliche Interpretation im Lichte mitgliedstaatlichen Verständnisses lässt.400 c) Voraussetzungen im Einzelnen In der Rechtssache Mantello hat der EuGH anhand des Tatbestandsmerkmals „derselben Handlung“ entschieden, dass der zwingende Versagungsgrund des Art. 3 Nr. 2 RB 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl, der inhaltlich die Voraussetzungen des ne bis in idem-Grundsatzes wiedergibt, im Einklang mit Art. 54 SDÜ auszulegen ist.401 Art. 54 SDÜ setzt das Vorliegen derselben Tat („idem“) sowie eine rechtskräftige Aburteilung durch einen Mitgliedstaat voraus und verlangt darüber hinaus (anders als Art. 50 EU-GRCh) für den Fall einer Verurteilung, dass die Strafe bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann. Nach der zu Art. 54 SDÜ ergangenen Rechtsprechung des EuGH ist für die Einordnung als „dieselbe Tat“ eines Täters maßgebend, ob ein Komplex zeitlich, räumlich sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbundener Tatsachen vorliegt, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder dem geschützten Interesse.402 Allein die Verbindung mehrerer Taten durch einen einheitlichen Vorsatz zwingt noch nicht zur Annahme der Tatidentität.403 Offen ist im Einzelnen noch, was als rechtskräftige Aburteilung i. S. d. Art. 54 SDÜ zu verstehen ist. Umfasst sind jedenfalls rechtskräftige gerichtliche Verurteilungen und Freisprüche. Nicht aber muss es sich zwingend um ein gerichtliches Urteil handeln. Auch verfahrensbeendende Entscheidungen anderer, zur Mitwirkung an der Strafverfolgung berufener Behörden können einer erneuten Strafverfolgung entgegenstehen, wenn sie Ahndungswirkung haben und nach dem nationalen Recht die Strafklage dadurch endgültig verbraucht ist.404 Ebenso ist ein Freispruch wegen Verfolgungsverjährung405 oder aus Mangel an Beweisen406 als 400 Zum Rahmencharakter des unionsrechtlichen Begriffs des nationalen ordre public siehe oben Teil 2 Kapitel 1 D.III.3. 401 EuGH, Rs. C-261/09, Mantello, Slg. 2010, I-11477 ff. (Rn. 39 f.). 402 EuGH, Rs. C-436/04, van Esbroeck, Slg. 2006, I-2333 ff. (Rn. 27, 31 f., 36); EuGH, Rs. C-150/05, van Straaten, Slg. 2006, I-9327 ff. (Rn. 41, 44, 47 f.); EuGH, Rs. C-467/04, Gasparini, Slg. 2006, I-9199 ff. (Rn. 54); EuGH, Rs. C-288/05, Kretzinger, Slg. 2007, I-6441 ff. (Rn. 29 ff., 37); EuGH, Rs. C-367/05, Kraaijenbrink, Slg. 2007, I-6619 ff. (Rn. 23 ff., 36); EuGH, Rs. C-261/09, Mantello, Slg. 2010, I-11477 ff. (Rn. 39). 403 EuGH, Rs. C-367/05, Kraaijenbrink, Slg. 2007, I-6619 ff. (Rn. 30). 404 So z. B. bei staatsanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellungen gegen Zahlung einer Geldauflage, vgl. EuGH, C-385/01, Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I-1345 ff. (Rn. 25 ff.). Vgl. zum Fehlen des Strafklageverbrauchs EuGH, Rs. C-491/07, Turansky´, Slg. 2008, I-11039 ff. (Rn. 34 ff.); vgl. auch EuGH, Rs. C-469/03, Miraglia, Slg. 2005, I-2009 ff. (Rn. 28 ff.). 405 EuGH, Rs. C-467/04, Gasparini, Slg. 2006, I-9199 ff. (Rn. 22 ff.). 406 EuGH, Rs. C-150/05, van Straaten, Slg. 2006, I-9327 ff. (Rn. 54 ff.).
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Teil 2, Kap. 3: Ergebnisse der Untersuchung
rechtskräftige Aburteilung anzusehen. Jedoch entfaltet eine rechtskräftige Aburteilung eines Täters keine Sperrwirkung für die Verfolgung eines Mittäters.407 Eine Strafe ist auch dann i. S. d. Art. 54 SDÜ bereits vollstreckt oder wird gerade vollstreckt, wenn die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden ist.408 Eine auf eine spätere Vollstreckung der Haftstrafe anzurechnende kurzfristige Polizei- oder Untersuchungshaft führt hingegen nicht dazu, dass die Strafe als bereits vollstreckt gilt oder gerade vollstreckt wird.409 Ebenso wenig reicht es aus, dass der vorverurteilende Mitgliedstaat die Möglichkeit gehabt hätte, einen Vollstreckungshaftbefehl nach dem Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl zu erlassen.410 Während Art. 3 Nr. 2 RB 2002/584/JI bereits im Wortlaut weitgehend an Art. 54 SDÜ anknüpft und ausdrücklich ein Vollstreckungselement voraussetzt, ohne das der Versagungsgrund ne bis in idem nicht greifen soll, spricht Art. 9 Abs. 1 lit. c RB 2008/909/JI von der Versagung, wenn „die Vollstreckung der Sanktion dem Grundsatz ne bis in idem zuwiderlaufen würde“. Die Tatbestandsvoraussetzungen des ne bis in idem sind nicht mehr explizit benannt. Es ist daher auf die sonstigen unionsrechtlichen Regelungen des Grundsatzes zurückzugreifen. Der Kohärenzgedanke spricht zunächst für eine Auslegung im Sinne des Art. 3 Nr. 2 RB 2002/584/JI sowie Art. 54 SDÜ. Fraglich ist allerdings, ob dies auch die Tatbestandsvoraussetzung eines Vollstreckungselements einschließt. Denn Art. 50 EU-GRCh sieht vor: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“ Im Wortlaut der Vorschrift ist das Erfordernis eines Vollstreckungselements nicht angesprochen. Während der deutsche Bundesgerichtshof davon ausgeht, dass es dennoch eines Vollstreckungselements bedarf,411 mehren sich in der Literatur die Stimmen, die in dem Verzicht auf das Vollstreckungselement eine bewusste Entscheidung des Grundrechtekonvents, auf den die Charta zurückgeht, sehen und den Verzicht sachlich begründen.412 In seinem Urteil in der Rechts407
EuGH, Rs. C-467/04, Gasparini, Slg. 2006, I-9199 ff. (Rn. 34 ff.). EuGH, Rs. C-288/05, Kretzinger, Slg. 2007, I-6441 ff. (Rn. 38 ff.). 409 EuGH, Rs. C-288/05, Kretzinger, Slg. 2007, I-6441 ff. (Rn. 45 ff.). 410 EuGH, Rs. C-288/05, Kretzinger, Slg. 2007, I-6441 ff. (Rn. 56 ff.). 411 BGHSt 56, 11 (14 ff.); BGH, Beschl. v. 01.12.2010, 2 StR 420/10 (LG Aachen) = HRRS 2011 Nr. 84, dazu auch BVerfG NJW 2012, 1202 ff. 412 Böse, Die transnationale Geltung des Grundsatzes „ne bis in idem“ und das „Vollstreckungselement“. Zugleich Besprechung von BGH, Beschl. v. 25.10.2010, GA 2011, 504 (511); für den Verzicht plädieren auch Merkel/Scheinfeld, Ne bis in idem in der Europäischen Union – zum Streit um das „Vollstreckungselement“, ZIS 5/2012, 206 (208 ff., 212); Zeder, Auswirkungen der Grundrechte-Charta am Beispiel ne bis in idem, JSt 2012, 195 (197); a. A. Burchard/Brodowski, Art. 50 Charta der Grundrechte der Europäischen Union und das europäische ne bis in idem nach dem Vertrag von Lissabon. Zugleich Besprechung von LG Aachen, Beschl. v. 8.12.2009 – 52 Ks 9/08, StraFo 2010, 179 (180 ff.); Satzger, Auf dem Weg zu einer „europäischen Rechts408
A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe
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sache Spasic, deren Ausgangsfall einen Europäischen Haftbefehl betraf, hat der EuGH die weitergehende Anforderung eines Vollstreckungselements nach Art. 54 SDÜ als rechtmäßige Beschränkung des Grundsatzes des Art. 50 EUGRCh eingeordnet.412a Der Bezugspunkt der Verweisung des Art. 3 Nr. 2 RB 2002/584/JI ist damit aber nicht geklärt. d) Konsultationspflicht vor Versagung Beabsichtigt der Vollstreckungsstaat, die Anerkennung und Vollstreckung unter Berufung auf den Grundsatz des ne bis in idem zu versagen, so hat er zuvor die zuständige Behörde des Ausstellungsstaates zu konsultieren und um unverzügliche Übermittlung allfällig erforderlicher weiterer Informationen zu bitten.413 2. Grundsatz beiderseitiger Strafbarkeit Der bereits im Zusammenhang mit der beiderseitigen Strafbarkeit und der ordre public-Grenze der Rechtshilfe angesprochene Art. 9 Abs. 1 lit. d RB 2008/ 909/JI konkretisiert den Versagungsgrund des Fehlens beiderseitiger Strafbarkeit näher.414 Ergänzend zu den obigen Ausführungen ist klarzustellen, dass die Vorschrift sowohl Fälle außerhalb der Katalogtaten des Art. 7 Abs. 1 RB 2008/909/JI erfasst, bei denen eine Versagung der Anerkennung und Vollstreckung unter Berufung auf mangelnde beiderseitige Strafbarkeit stets möglich ist, als auch die Listendelikte des Art. 7 Abs. 1 RB 2008/909/JI, sofern ein Mitgliedstaat eine Erklärung abgegeben hat oder im Zuge der Versagung abgibt, die sein Beharren auf dem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit deutlich macht.415 Es ist nochmals zu betonen, dass in beiden Fällen die Versagung fakultativ ist; aus Sicht des deutschen Rechts wird sie jedoch dann zwingend, wenn durch die Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion die ordre public-Grenze überschritten würde.416 Die Regelung in Art. 9 Abs. 1 lit. d RB 2008/909/JI grenzt nun konkretisierend ein, dass in Steuer-, Zoll- und Währungsangelegenheiten die Vollstreckung nicht aus dem Grund versagt werden könne, dass das Recht des Vollstreckungsstaates keine gleichartigen Steuern vorschreibt oder keine gleichartigen Steuer-, Zoll- und Währungsbestimmungen enthält wie das Recht des Ausstellungsstaats. kraft“?, in: Heinrich u. a. (Hrsg.), Strafrecht als Scienta Universalis. Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011 (2011), Bd. 2, S. 1515 (1522 ff.). 412a EuGH, Rs. C-129/14 PPU, Spasic, ECLI: EU: C: 2014: 586 (Rn. 51 ff.). 413 Art. 9 Abs. 3 RB 2008/909/JI. 414 Siehe oben A.IV., dieses Kapitel. 415 Zu den Mitgliedstaaten, die bislang eine solche Erklärung abgegeben haben, siehe oben Teil 1 Kapitel 3 E.IV.2. 416 Eingehend dazu oben B., dieses Kapitel.
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Teil 2, Kap. 3: Ergebnisse der Untersuchung
Dies entspricht der herrschenden Ansicht in Deutschland, nach der es für die Bejahung der beiderseitigen Strafbarkeit ausreichend ist, wenn das deutsche Recht Verbote für gleichartige Sachverhalte, also etwa für die Hinterziehung von Steuern kennt, und die formelle Schlüssigkeitsprüfung des dem Vollstreckungshilfeersuchen zugrundeliegenden Sachverhalts zu dem Ergebnis führt, dass eine Steuerhinterziehung auch nach Maßgabe des deutschen Rechts vorläge, wenn in Deutschland eine entsprechende Steuer zu erheben wäre. Nicht erforderlich ist nach h. A. hingegen, dass die dem Vollstreckungshilfeersuchen zugrundeliegende Tat in concreto eine in Deutschland tatsächlich zu erhebende Steuerart beträfe.417 3. Abwesenheitsurteil Art. 9 Abs. 1 lit. i RB 2008/909/JI regelt die Versagung der Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen. Er gestattet grundsätzlich die Versagung der Anerkennung des Urteils und der Vollstreckung der Sanktion, wenn aus der vom Ausstellungsstaat dem Vollstreckungsstaat übermittelten Bescheinigung hervorgeht, dass die betroffene Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist. a) Anwesenheitsrecht als elementarer Teil des fair trial-Grundsatzes Damit wird der Bedeutung des Anwesenheitsrechts als eines Kerngehalts des fair trial-Grundsatzes im Sinne des Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK418 Rechnung zu tragen gesucht. Das Anwesenheitsrecht ist zwar nicht ausdrücklich in Art. 6 Abs. 3 EMRK angesprochen, ergibt sich jedoch aus zumindest drei der Gewährleistungen implizit,419 nämlich aus dem Recht, sich selbst zu verteidigen (lit. c), aus dem Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen (lit. d), sowie aus dem Recht auf unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher, wenn die angeklagte Person die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht (lit. e). Diese Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 3 EMRK, der mangels des noch nicht erfolgten Beitritts der EU zur EMRK bislang nur Rechtserkenntnisquelle für die 417 Vgl. Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 3 IRG Rn. 28 ff. (insb. Rn. 33, 38). Dies spiegelt sich auch in § 83 Nr. 3 IRG wider, der der Umsetzung der Parallelvorschrift im Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl dient. 418 Vgl. EGMR, Urt. v. 09.04.1984, Goddi v. Italien, Nr. 8966/80, §§ 28 ff. 419 Vgl. EGMR, Urt. v. 12.02.1985, Colozza v. Italien, Nr. 9024/80, §§ 26 f.; EGMR, Urt. v. 12.02.1985, Rubinat v. Italien, Nr. 9317/81, § 16; EGMR, Urt. v. 28.08. 1991, F. C.B. v. Italien, Nr. 12151/86, §§ 29, 33, 36; EGMR, Urt. v. 12.10.1992, T. v. Italien, Nr. 14104/88, § 26; EGMR, Urt. v. 19.12.1989, Brozicek v. Italien, Nr. 10964/84, § 45; EGMR (GC), Urt. v. 25.11.1997, Zana v. Türkei, Nr. 18954/91, § 68.
A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe
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unionsrechtlichen Grundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EU, nicht aber selbst Bestandteil des Unionsrechts ist, werden inhaltlich von der Achtung der Verteidigungsrechte gemäß Art. 48 Abs. 2 EU-GRCh umfasst. Dies ergibt sich aus Art. 52 Abs. 3 EU-GRCh, nach dem in der EU-Grundrechtecharta verankerte Rechte, soweit sie jenen der in der EMRK Gewährleisteten entsprechen, im Mindestmaß gleiche Bedeutung und Tragweite haben.420 Zwar ist das Anwesenheitsrecht für die Waffengleichheit im Verfahren von herausragender Bedeutung. Dennoch erfasst der Versagungsgrund des Art. 9 Abs. 1 lit. i RB 2008/909/JI nicht jegliche Entscheidung in Abwesenheit des Verurteilten. Im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR421 wird vielmehr der tatbestandliche Anwendungsbereich dieses Versagungsgrundes ausdrücklich konkretisiert. b) Einschränkend konkretisierende Neufassung des Versagungsgrundes durch den Rahmenbeschluss Abwesenheitsurteile Nur dreieinhalb Monate nach Inkrafttreten des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung wurde die Ausgestaltung dieses Versagungsgrundes durch den Rahmenbeschluss zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist,422 im Lichte der einschlägigen EGMR-Rechtsprechung präzisiert und ergänzt. Der neugefasste Versagungsgrund in Art. 9 Abs. 1 lit. i RB 2008/909/JI bringt so die Anforderungen an das innerstaatliche Strafverfahren klar zum Ausdruck, bei deren Einhaltung trotz Abwesenheitsurteils die Inanspruchnahme dieses Versagungsgrundes ausgeschlossen ist. Als Ziel der Angleichung und Präzisierung des Versagungsgrundes eines Abwesenheitsurteiles in den Rahmenbeschlüssen zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung wird angeführt, „die Verfahrensrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, zu stärken, zugleich die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu erleichtern und insbesondere die gegenseitige 420 Eser, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union3 (2011), Art. 48 Rn. 20 ff. 421 Siehe die Nachweise in den Fußnoten 418 f. Näher zu Abwesenheitsurteilen und Anwesenheitserfordernis in Auseinandersetzung mit der Judikatur des EGMR Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002), S. 721 ff. 422 Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/ 947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist, ABl. EU L 81/24 ff.
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Teil 2, Kap. 3: Ergebnisse der Untersuchung
Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern.“ 423 Zwar leitet die Titelbezeichnung des Rahmenbeschlusses über Abwesenheitsurteile mit dem Ziel der Stärkung der Verfahrensrechte von Personen ein und der erste Erwägungsgrund nimmt Bezug auf das Recht eines Angeklagten, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen. Die Anerkennung des Vorliegens eines Abwesenheitsurteils als Versagungsgrund solle dem Rechnung tragen. Im Vordergrund der Vereinheitlichung stand aber wohl das Bestreben, damit die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidung zwischen Mitgliedstaaten zu verbessern und so die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu erleichtern. Neben der bereits angesprochenen Zielvorschrift macht dies Erwägungsgrund 2 des Rahmenbeschlusses deutlich, der die Befürchtung aufgreift, dass die bis zu diesem Zeitpunkt uneinheitliche Regelung dieses Versagungsgrundes in den verschiedenen Rahmenbeschlüssen zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung die Arbeit der Praktiker erschweren und die justizielle Zusammenarbeit behindern könnte. Dem sollte mit der durch den Rahmenbeschluss über Abwesenheitsurteile vorgenommenen Vereinheitlichung entgegengewirkt werden; die Neuregelung sollte zugleich als Element des „Baukastens“ 424 für zukünftige Rechtsakte zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung dienen.425 c) Ausgestaltung der Einschränkung des Versagungsgrundes im Vergleich von Alt- und Neufassung Der Versagungsgrund des Abwesenheitsurteils wird schon in der ursprünglichen Textfassung des Rahmenbeschlusses Europäische Vollstreckungsanordnung begrenzt. Unter bestimmten Voraussetzungen werden solche Fälle ausgeschlossen, in den der Verurteilte entweder vorab tatsächlich Kenntnis von der Verhandlung hatte oder im Nachinein auf eine Anfechtung der Entscheidung verzichtet hat.426 Im Einzelnen musste aus der dem Vollstreckungsstaat zu übermittelnden Bescheinigung hervorgehen, dass entweder die Person persönlich vorgeladen oder über einen gemäß den nationalen Rechtsvorschriften des Ausstellungsstaats zuständigen Vertreter über Termin und Ort der Verhandlung, die zu dem Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden ist. Der Versagungsgrund sollte auch dann nicht greifen, wenn die betreffende Person gegenüber einer zuständigen Behörde angegeben hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht.
423 424 425 426
Art. 1 Abs. 1 RB 2009/299/JI. Vgl. auch oben Teil 1 Kapitel 3 A.II.2.b). Vgl. Erwägungsgrund 5 RB 2009/299/JI. Vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. i RB 2008/909/JI i. d. F. ABl. EU 2008 L 327/27 (34).
A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe
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Die Neufassung präzisiert nun, in welchen Fällen eine Kenntnis des Verurteilten von der bevorstehenden Verhandlung eine Versagung der Urteilsanerkennung unter Berufung auf die Urteilsfindung in absentia ausgeschlossen ist. Dabei wird die Position des Verurteilten gestärkt, wenn der Ausschluss jetzt ausdrücklich voraussetzt, dass es auf eine rechtzeitige Kenntnis ankommt. Zur Interpretation der Rechtzeitigkeit muss u. a. auf den Rahmenbeschluss über Abwesenheitsurteile, der diese Einfügung vorgenommen hat, zurückgegriffen werden. Erwägungsgrund 7 dieses Rahmenbeschlusses interpretiert „rechtzeitig“ als „früh genug, um an der Verhandlung teilnehmen und ihre Verteidigungsrechte effektiv ausüben zu können“. Die gegenseitige Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen wird gestärkt, indem der Versagungsgrund durch Einbeziehung weiterer Möglichkeiten, wie der Verurteilte Kenntnis von der bevorstehenden Verhandlung erlangt hat, tatbestandlich beschränkt wird. Eine Versagung der Anerkennung der Entscheidung wegen Urteilsfindung in absentia ist ausgeschlossen, wenn der Verurteilte im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des Rechts des Ausstellungsstaates entweder persönlich vorgeladen und dabei über Termin und Ort der Verhandlung informiert wurde, oder wenn er auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde und zwar auf eine solche Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass der Verurteilte von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte und über die Möglichkeit eines Abwesenheitsurteils informiert wurde.427 Der Einwand des Abwesenheitsurteils kann auch nicht erhoben werden, wenn Verurteilte der in der Verhandlung anwaltlich vertreten war. Diese Einschränkung des Versagungsgrundes ist neu. Sie unterstützt ebenfalls die Verwirklichung des Grundsatzes der Anerkennung und schränkt dessen Begrenzung ein. Voraussetzung ist, dass der Rechtsbeistand entweder vom Verurteilten im Einklang mit weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsstaates in Kenntnis der anberaumten Verhandlung mandatiert oder vom Staat bestellt worden sein muss, um den Verurteilten in der mündlichen Verhandlung zu verteidigen. 428 Nach der Urfassung sollte der Versagungsgrund auch dann nicht greifen, wenn die betreffende Person gegenüber einer zuständigen Behörde angegeben hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht.429 Nunmehr ist eine Berufung auf den Versagungsgrund ausgeschlossen, wenn der Verurteilte ausdrücklich erklärt hat, dass er die Entscheidung nicht anficht oder wenn er tatsächlich innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens beziehungsweise kein Beru427 428 429
34.
Art. 9 Abs. 1 lit. i UAbs. i RB 2008/909/JI. Art. 9 Abs. 1 lit. i UAbs. ii RB 2008/909/JI. Art. 9 Abs. 1 lit. i RB 2008/909/JI i. d. F. v. 5.12.2008, ABl. EU 2008 L 327/27,
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Teil 2, Kap. 3: Ergebnisse der Untersuchung
fungsverfahren beantragt hat. In beiden Fällen ist jedoch Voraussetzung, dass dem Verurteilten zuvor die Entscheidung zugestellt worden ist. Dabei muss er ausdrücklich informiert worden sein über sein Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren, an dem er teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann.430 d) Bewertung der Ausgestaltung des Versagungsgrundes im Lichte der ordre public-Grenze der Anerkennung Insgesamt zielt die Neufassung des Versagungsgrundes auf dessen präzisierende Einschränkung ab. Die Ziele einer Erleichterung der justiziellen Zusammenarbeit durch möglichst umfassende „Verkehrsfähigkeit“ justizieller Entscheidungen und einer Stärkung der Verfahrensrechte des Einzelnen, wie sie im Titel des Rahmenbeschlusses über Abwesenheitsurteile angesprochen sind, erweisen sich als dichotom; letzteres Ziel wird im wesentlichen den Mitgliedstaaten überantwortet,431 denen jedoch bei den weitreichenden Einschränkungen des Versagungsgrundes des Abwesenheitsurteils wenig Spielraum verbleibt, denn im Übrigen ist, wie gezeigt, die Europäische Vollstreckungsanordnung grundsätzlich anzuerkennen und zu vollstrecken. Das deutsche Strafprozessrecht kennt nur wenige Möglichkeiten einer Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten.432 Solange aber die Einschränkungen des Versagungsgrundes die Mindestgarantien des Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK, Art. 48 Abs. 2 EU-GRCh nicht verletzen, erscheint es nicht erforderlich, eine Verletzung des ordre public-Vorbehalts des § 73 IRG anzunehmen, und so in einem dann unauflöslichen Konflikt mit den Vorgaben des Rahmenbeschlusses die Anerkennung des Urteils und den Vollzug der Sanktion abzulehnen. Im Interesse eines international-arbeitsteiligen Strafverfahrens erscheint die Einhaltung der EMRK-Standards als ausreichend für die Gewährung der Vollstreckungshilfe. 430
Art. 9 Abs. 1 lit. i UAbs. iii RB 2008/909/JI. Art. 1 Abs. 2 RB 2009/299/JI, ABl. EU 2009 L 81/24, stellt klar, dass der Rahmenbeschluss „nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Art. 6 des Vertrags über die Europäische Union einschließlich des Verteidigungsrechts von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist [berührt]; die Verpflichtungen der Justizbehörden in dieser Hinsicht bleiben unberührt.“ Erwägungsgrund 8 nimmt auf das Anwesenheitsrecht des Angeklagten als wesentlichen Bestandteil des fair-trial-Grundsatzes Bezug, und Erwägungsgrund 15 verweist die Mitgliedstaaten für die Wahrnehmung ihres Ermessensspielraums bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses in innerstaatliches Recht auf das Recht auf eine faires Verfahren, betont zugleich die Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und die Erleichterung der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen als das Gesamtziel des Rahmenbeschlusses und verlangt damit eine Abwägung. 432 Vgl. §§ 230 ff., 329, 350, 411 Abs. 2 StPO. Näher Kühne, Strafprozessrecht. Eine systematische Darstellung des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts8 (2010), Rn. 105. 431
A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe
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Auch der Verurteilte selbst wird im Übrigen bei der Beurteilung der Eingriffstiefe eines Rahmenbeschlusses in die Pflicht genommen. Erwägungsgrund 8 des Rahmenbeschlusses über Abwesenheitsurteile betont nämlich, „[n]ach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte könnte bei der Prüfung der Frage, ob die Art der Zustellung der Informationen eine ausreichende Gewähr dafür bietet, dass die Person Kenntnis von der Verhandlung hat, gegebenenfalls auch in besonderem Maße darauf geachtet werden, welche Sorgfalt die betroffene Person im Zusammenhang mit der Entgegennahme der an sie gerichteten Informationen an den Tag legt.“ 433 Für die Bestellung eines Beistands und die damit zusammenhängenden Fragen verweist Erwägungsgrund 10 wiederum auf das einzelstaatliche Recht.434 Zugleich macht der Erwägungsgrund jedoch geltend, dass es keine Rolle spielen sollte, ob der Rechtsbeistand von der betroffenen Person gewählt, bestellt und vergütet wurde oder aber vom Staat bestellt und vergütet wurde, wobei davon auszugehen ist, dass die betroffene Person sich bewusst dafür entschieden haben sollte, von einem Rechtsbeistand vertreten zu werden, statt persönlich zu der Verhandlung zu erscheinen.435 e) Zusätzliche, zeitlich beschränkte Gefährdung der einheitlichen Anwendung des Rahmenbeschlusses durch Übergangsregelungen Die Modifikation des Versagungsgrundes eines Abwesenheitsurteils führt zur weiteren Erhöhung der Komplexität der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung, indem sie Möglichkeiten einer weiteren zeitlich beschränkten Differenzierung zwischen den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung eröffnet hat. Zwar war der vereinheitlichende Rahmenbeschluss zu Abwesenheitsurteilen bis zum 28. März 2011, somit vor Ablauf der Umsetzungsfrist des Rahmenbeschlusses zur Europäischen Vollstreckungsanordnung, in innerstaatliches Recht umzusetzen.436 Allerdings eröffnete Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses über Abwesenheitsurteile jedem Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu erklären, dass er aus schwerwiegenden Gründen vermutlich nicht in der Lage (gewesen) sein werde, die Umsetzungsfrist einzuhalten. Eine solche Erklärung hätte für den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung zur Folge gehabt, dass der Versagungsgrund des Art. 9 Abs. 1 lit. i RB 2008/909/ JI längstens bis zum 31. Dezember 2013 nicht in seiner präzisierten und eingeengten Version Anwendung gefunden hätte auf die Anerkennung und Durchführung von Abwesenheitsurteilen dieses Mitgliedstaats. Implizit bedeutete dies eine Verlängerung der Umsetzungsfrist für den Rahmenbeschluss über Abwesenheits-
433 434 435 436
Erwägungsgrund 8 S. 4 RB 2009/299/JI. Erwägungsgrund 10 S. 3 RB 2009/299/JI. Erwägungsgrund 10 S. 2 RB 2009/299/JI. Art. 8 Abs. 1 RB 2009/299/JI.
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Teil 2, Kap. 3: Ergebnisse der Untersuchung
urteile für diejenigen Mitgliedstaaten, die eine solche Erklärung abgegeben haben. Italien hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.437 Dies führte zu einer weiteren, wenn auch zeitlich befristeten Differenzierung in der unionsinternen Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen. Jeder andere Mitgliedstaat konnte aber verlangen, dass der Mitgliedstaat, der eine derartige Erklärung abgegeben hat, den Versagungsgrund in der ursprünglich angenommenen Fassung anwendet; vgl. Art. 8 Abs. 3 S. 2 RB 2009/299/JI. Diese Bestimmung scheint irreführend, ermöglichte sie doch scheinbar das Verlangen nach Anwendung eines fakultativen Versagungsgrundes. Verständlich wird dies nur, wenn man davon ausgeht, dass es sich bei dem Versagungsgrund um eine konkretisierende Vorschrift eines allgemeinen, aus Art. 6 EMRK i.V. m. Art. 6 EUV herzuleitenden Versagungsgrundes als Ausprägung des fair trialGrundsatzes handelt. Damit aber wird implizit als denkbar anerkannt, dass diese grundrechtlichen Vorschriften auch außerhalb der explizit benannten Versagungsgründe eine Versagung der Anerkennung erfordern könnten.438 Dies unterstützt die in dieser Arbeit entwickelte Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes. f) Terminologische Inkonsistenzen in der deutschen Sprachfassung Terminologisch auffällig ist, dass durch den vereinheitlichenden Rahmenbeschluss die Verwendung des Begriffs „Abwesenheitsurteil“ im Gesetzeswortlaut entfallen ist und an dessen Stelle von einem „Urteil, das im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist“, gesprochen wird. Aus Gründen der besseren Verständlichkeit wird in der vorliegenden Arbeit jedoch am Begriff des Abwesenheitsurteils festgehalten. Dass im Zuge der Neufassung des Versagungsgrundes des Abwesenheitsurteils in der deutschen Textfassung von Art. 9 Abs. 1 lit. i RB 2008/909/JI nunmehr von „Entscheidungsstaat“ statt von „Ausstellungsstaat“ gesprochen wird, geht zwar konform mit den weiteren Bestimmungen des Rahmenbeschlusses über Abwesenheitsurteile in dessen deutschsprachiger Textfassung. Es ist jedoch ein Systembruch innerhalb des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung, der ansonsten in der deutschen Textfassung stets vom „Ausstellungsstaat“ spricht. Inhaltlich ist mit den unterschiedlichen Begrifflichkeiten keine Differenzierung verbunden, die englische Sprachfassung beider Rahmenbeschlüsse unternimmt beispielsweise keine solche Unterscheidung, sondern spricht 437 Erklärung zu Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschluss 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/ 783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war, ABl. EU 2009 L 97/26. 438 Siehe dazu oben ausführlich Teil 2 Kapitel 1 D.V., dort insbesondere 2. und 3.
A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe
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stets vom „issuing state“. Zu kritisieren ist dennoch, dass solche sprachlichen Unstimmigkeiten die Verständlichkeit der ohnehin komplexen Regelung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung erschweren. g) Konsultationspflicht Eine Versagung der Anerkennung des Urteils und der Vollstreckung der Sanktion unter Berufung auf das Vorliegen eines Abwesenheitsurteils und im Einklang mit Art. 9 Abs. 1 lit. i RB 2008/909/JI setzt voraus, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates zuvor die zuständige Behörde des Ausstellungsstaates konsultiert und gegebenenfalls um Übermittlung aller erforderlichen zuständigen Angaben ersucht hat.439 4. Zuständigkeit des Vollstreckungsstaates für die Verfolgung der dem Urteil zugrundeliegenden Tat nach dem Territorialitätsprinzip In Absicherung sowohl souveränitätsrechtlicher als auch grundrechtlicher Erwägungen i. S. d. nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatzes ermöglicht Art. 9 Abs. 1 lit. l RB 2008/909/JI die Versagung von Anerkennung und Vollstreckung, wenn das Urteil sich auf Straftaten erstreckt, die nach dem Recht des Vollstreckungsstaates ganz oder zum großen oder zu einem wesentlichen Teil in dessen Hoheitsgebiet oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen worden sind. Zur Frage der entsprechenden Ermessensausübung bei der Entscheidung darüber, ob die zuständige deutsche Behörde als Vollstreckungsbehörde diesen Versagungsgrund geltend machen muss, wurde bereits Stellung genommen.440 Ergänzend ist hier lediglich anzumerken, dass die Geltendmachung eines Versagungsgrundes des Art. 9 Abs. 2 RB 2008/909/JI unter Berufung darauf, es handele sich um eine Straftat, „die zum Teil im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaates oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen“ wurde, eine Ermessensentscheidung voraussetzt. Von diesem Versagungsgrund soll nach Art. 9 Abs. 2 RB 2008/909/JI nur unter „außergewöhnlichen Umständen und von Fall zu Fall unter Würdigung der jeweiligen besonderen Umstände und insbesondere der Frage [. . .], ob die betreffenden Taten zum großen Teil oder zu einem wesentlichen Teil im Ausstellungsstaat begangen worden sind“, Gebrauch gemacht werden. Mit dieser ermessenlenkenden Regelung soll ersichtlich vermieden werden, dass der Versagungsgrund einer territorialen Anknüpfung an den Vollstreckungsstaat missbraucht wird und schon geringe Anknüpfungen an den Vollstreckungsstaat zum Anlass für eine Versagung von Anerkennung und Vollstreckung genommen werden, ohne dass es im Einzelfall tatsächlich einer solchen Ablehnung 439 440
Art. 9 Abs. 3 RB 2008/909/JI. Siehe oben B., dieses Kapitel.
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Teil 2, Kap. 3: Ergebnisse der Untersuchung
bedürfte. Eine Ergebnisbindung lässt sich aus dieser lenkenden Regelung aber nicht ableiten, notwendig und hinreichend ist eine entsprechend gründliche Abwägung. III. Vollstreckungshindernisse, die sich aus dem Recht des Vollstreckungsstaates ergeben oder dessen Interessen dienen Die dritte Gruppe der Versagungsgründe enthält potentielle Vollstreckungshindernisse, die sich aus dem innerstaatlichen Recht des Vollstreckungsstaates ergeben oder die den Interessen des Vollstreckungsstaates Rechnung tragen sollen. Die Notwendigkeit solcher Versagungsgründe ergibt sich daraus, dass der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung umfassender als jede andere bisherige Regelung zur gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen die Anerkennung einer anderen Rechtsordnung impliziert. Damit sind auch wesentliche Bereiche erfasst, in denen die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ganz unterschiedliche Wertungen bzw. Ausgestaltungen vorgenommen haben, die – jedenfalls bislang – nicht mindestharmonisiert sind.441 1. Vollstreckungsverjährung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates eingetreten So können die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion versagt werden, wenn die Vollstreckung der Sanktion nach dem Recht des Vollstreckungsstaates verjährt ist (Art. 9 Abs. 1 lit. e RB 2008/909/JI). Der Fall der Vollstreckungsverjährung ist problematisch. Denn es ist umstritten, ob die Verjährungsregeln dem Gesetzlichkeitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, konkret in der Ausprägung des Rückwirkungsverbots, unterfallen.442 Nicht eins zu eins übertragbar ist hier die Diskussion um die Frage einer Überstellung eines Deutschen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, da diese nach der Argumentation der Rechtsprechung am grundsätzlichen Schutz eines Deutschen vor Auslieferung, Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG, anknüpft, der nur ausnahmsweise durch Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG durchbrochen werde, so dass aus dem Statusrecht als Deutscher ein Schutzanspruch des Grundrechtsträgers des Art. 16 Abs. 2 GG folge, der im Rahmen einer stets erforderlichen Abwägung als eigenständiger Wertungsgesichtspunkt mit dem grenzüberschreitenden europäischen Strafverfolgungsinte441
Siehe dazu bereits Einleitung C.III. Vgl. Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB3 (2010) Bd. I, § 1 Rn. 61 ff. m.w. N. Differenzierend Dannecker, in: Laufhütte/Rissingvan Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB12 (2007) Bd. 1, § 1 Rn. 411 ff. (414 f.), der eine Differenzierung nach schutzwürdigem Vertrauen ablehnt, statt dessen auf Strafwürdigkeits- und Strafbedürftigkeitsgesichtspunkte abstellt und dies damit begründet, dass das Rückwirkungsverbot als absolutes Recht keinem Abwägungsprozess unterliegen darf. 442
A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe
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resse in Ausgleich gebracht werden müsse.443 Die Frage, ob ein schutzwürdiges Vertrauen des Verurteilten verletzt wird, wenn gegen diesen trotz Vorliegens der Vollstreckungsverjährung nach eigenem Recht die Sanktion in Deutschland vollstreckt werden würde, ist unabhängig vom Statusrecht als Deutscher; entscheidend ist vielmehr der Grad der Einordnung in die deutsche Rechtsordnung, der wesentlich am verfestigten Aufenthalt in Deutschland anzuknüpfen sein wird. In Rede steht das Vertrauen in die rechtliche Regelung der Vollstreckungsverjährung. Zwar hat das BVerfG eine Verjährungsverlängerung grundsätzlich nicht als eine Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG angesehen.444 Andererseits hat der deutsche Gesetzgeber bislang in § 49 Abs. 1 Nr. 5 IRG eine Vollstreckung eines ausländischen Straferkenntnisses für unzulässig erklärt, wenn diese nach deutschem Recht verjährt ist oder bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts verjährt wäre. Der Gesetzgeber unterscheidet also nicht zwischen Fällen, in denen der zugrundeliegende Sachverhalt auch einem deutschen Strafanspruch unterlegen wäre und jenen, in denen dies nicht der Fall ist. Begründet wird die einheitliche Berücksichtigung der deutschen Vollstreckungsverjährungsregeln mit der im Vergleich zur Auslieferung445 engeren Beziehung der deutschen Strafverfolgungsbehörden zur abgeurteilten Tat im Falle der Vollstreckungshilfe.446 Zwingend ist dies jedoch nicht. Bei der Frage nach einem schutzwürdigen Vertrauen ließe sich differenzieren nach der engeren Anknüpfung der Tat an den Ausstellungs- oder den Vollstreckungsstaat. So erscheint ein Verurteilter, der die Tat im Urteilsstaat begangen hat und erst später seinen Aufenthalt dauerhaft nach Deutschland verlegt hat, weniger schutzwürdig als jener Verurteilte, der etwa in Deutschland eine Tat zu Lasten des Ausstellungsstaates oder eines Staatsangehörigen des Ausstellungsstaates begangen hat, die nach dem Recht des Ausstellungsstaates zu bestrafen war. In letzterem Falle stellt sich nämlich selbst bei grundsätzlichem Vorliegen der beiderseitigen Strafbarkeit die Frage, ob der Verurteilte nicht ein schutzwürdiges Vertrauen in die ihm eher vertrauten Regeln der Vollstreckungsverjährung nach deutschem Recht entwickeln durfte. Der sachliche Unterschied zur BVerfG-Entscheidung über das fehlende schutzwürdige Vertrauen bei Aufhebung der Verjährung bei lebenslanger Freiheitsstrafe liegt in letzterer Fallkonstellation darin, dass es gerade an einer Wertentscheidung des deutschen Gesetzgebers fehlt, vielmehr diese Wertentscheidung dem Gesetzgeber des Ausstellungsstaates überlassen blieb. Diese Wertentscheidung wird aber für einen nicht mit dieser Rechtsordnung vertrauten Verurteilten nicht erkennbar gewesen sein. Eine
443 BVerfG, Beschl. v. 03.09.2009, 2 BvR 1826/09 (OLG München), NJOZ 2010, 1436 (1438). 444 BVerfGE 25, 269 ff. zur rückwirkenden Verlängerung der Verfolgungsverjährung für Mord. 445 Hierzu § 9 Abs. 1 Nr. 2 IRG. 446 Vgl. Grotz, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 49 IRG Rn. 27.
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Teil 2, Kap. 3: Ergebnisse der Untersuchung
differenzierte Handhabung dieses fakultativen Versagungsgrundes bei der Umsetzung in deutsches Recht scheint also vertretbar,447 ohne dass die bisher diskutierten Fallkonstellationen eine solche Differenzierung aber zwingend machten; der deutsche Gesetzgeber wäre frei, die bisherige Regelung einer strikten Ablehnung der Vollstreckungsübernahme bei Vollstreckungsverjährung nach deutschem Recht beizubehalten. Für eine Differenzierung könnten jedoch humanitäre Erwägungen streiten: Eine Differenzierung würde es nämlich ermöglichen, eine Vollstreckungsübernahme zu bejahen, in denen zwar nach deutschem Recht Verjährung vorläge, der bislang im Ausstellungsstaat inhaftierte Verurteilte aber bessere Resozialisierungschancen in Deutschland zu erwarten hätte und nur durch die Anerkennung und Vollstreckungsübernahme diese Chance zu realisieren wäre. 2. Immunität nach dem Recht des Vollstreckungsstaates als Strafvollstreckungshindernis Eine Versagung der Anerkennung und Vollstreckung ist nach Art. 9 Abs. 1 lit. f RB 2008/909/JI zulässig, wenn nach dem Recht des Vollstreckungsstaates Immunität besteht, die eine Vollstreckung der Sanktion unmöglich macht. Die Substitution dieser Regelungen des Rechts des Vollstreckungsstaates durch die Regelungen des Ausstellungsstaates ist nicht vorstellbar, dies gilt für völkerrechtlich begründete Pflichten der Immunitätsgewährleistung nach dem Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen von 1961 (WÜD) ebenso wie für verfassungsrechtlich begründete Immunität.448 Bei der Umsetzung in deutsches Recht ist dieser im Rahmenbeschluss nur als fakultativ eingeordnete Versagungsgrund daher insoweit als zwingend auszugestalten, als die Aufhebung der Immunität nach den Regeln des deutschen Rechts als Voraussetzung der Nichteinwendung des Versagungsgrundes vorzusehen sein wird. 3. Strafunmündigkeit nach dem Recht des Vollstreckungsstaates Die Versagung der Vollstreckung ist auch dann möglich, wenn die Sanktion gegen eine Person verhängt wurde, die nach dem Recht des Vollstreckungsstaates aufgrund ihres Alters für die dem Urteil zugrundeliegenden Handlungen strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden könnten (Art. 9 Abs. 1 lit. g RB 2008/909/JI). Die Bedeutung dieser Regelung wird deutlich, wenn man die unterschiedliche Ausgestaltung der Strafmündigkeit in den Rechtsordnungen der
447 Im Ergebnis ebenso, aber mit anderen Ausgangsprämissen Grotz, in: Grützner/ Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 49 IRG Rn. 27; ebenso Schomburg/Hackner, in: Schomburg/ Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 49 IRG Rn. 19. 448 Art. 46, 60 Abs. 4 GG.
A. In den Rahmenbeschluss aufgenommene Versagungsgründe
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Mitgliedstaaten Revue passieren lässt. Diese reichen von einer ersten, allerdings deutlich eingeschränkten strafrechtlichen Verantwortlichkeit ab sieben Jahren in Irland, acht Jahren in Schottland, zehn Jahren in Frankreich, England und Wales bis hin zu einer Strafmündigkeit erst mit 16 Jahren in Belgien. Im Gros der Mitgliedstaaten setzt die Strafmündigkeit im Bereich von 13–15 Jahren ein.449 Auch für diesen Versagungsgrund gelten ähnliche Überlegungen wie im Falle der Vollstreckungsverjährung. Eine Unterschreitung der im deutschen Recht vorgesehenen gesetzlichen Grenze zur Strafmündigkeit, die erst mit vierzehn Jahren erreicht ist,450 ist grundsätzlich abzulehnen; anderes käme allenfalls aus humanitären Erwägungen im Fall einer tatsächlichen Überstellung des verurteilten Kindes in Betracht. Aber selbst in diesem Falle stellte sich die Frage, ob nicht nach Vollstreckungsüberstellung bei einem erheblichen Unterschreiten der Altersgrenze das Gnadenrecht, das nach Art. 19 Abs. 1 RB 2008/909/JI sowohl dem Ausstellungs- als auch dem Vollstreckungsstaat zusteht, zu einer Begnadigungspflicht erstarkt. Rechtspolitisch ließe ein solches Vorgehen allerdings erwarten, dass der betroffene Urteilsstaat in solchen Konstellationen zukünftig auf die Einleitung eines Verfahrens zur Vollstreckungsüberstellung verzichten würde. 4. Ablehnung des Verzichts auf den Grundsatz der Spezialität seitens des Urteilsstaates Art. 9 Abs. 1 lit. j RB 2008/909/JI gestattet eine Versagung der Anerkennung des Urteils und der Vollstreckung der Sanktion in den Fällen, in denen der Vollstreckungsstaat vor der Anerkennung seinerseits vergeblich den Ausstellungsstaat um Entbindung von der Beschränkung der Spezialität ersucht hat. Ein solches Ersuchen ist dann notwendig, wenn ein Verurteilter, der in den Vollstreckungsstaat überstellt werden soll, entgegen der Regel des Art. 18 Abs. 1 RB 2008/909/JI wegen einer vor der Überstellung begangenen anderen Handlung als derjenigen, der die Überstellung zugrunde liegt, verfolgt, verurteilt bzw. einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden soll. Der Spezialitätsgrundsatz entfällt, wenn einer der in Art. 18 Abs. 2 RB 2008/909/JI genannten Fälle vorliegt. Der Versagungsgrund der lit. j kann als Ausprägung des völkerrechtlichen Gegenseitigkeitsprinzips verstanden werden; ein Staat soll grundsätzlich nicht verpflichtet werden, das Urteil eines anderen Staates zu vollstrecken, wenn dieser seinerseits nicht bereit ist, Unterstützung bei der Durchsetzung des Vollstreckungsstaates zu leisten. Dennoch sollte auch bei der Umsetzung in deutsches Recht die Ausgestaltung als fakultativer Versagungsgrund beibehalten werden. Denn es gilt auch hier, dass in einer allfälligen Ermessensentscheidung dem
449 Stevens/Gladstone, Review of Good Practices in Preventing Juvenile Crime in the EU (2006), S. 23. 450 § 1 Abs. 2, § 3 JGG.
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Teil 2, Kap. 3: Ergebnisse der Untersuchung
Resozialisierungsinteresse des im Ausland Inhaftierten ein entsprechendes Gewicht beizumessen ist.451 5. Vom Urteilsstaat verhängte Maßregel der Besserung und Sicherung kann nach dem Recht des Vollstreckungsstaates nicht adoptiert oder angepasst werden Art. 9 Abs. 1 lit. k RB 2008/909/JI ermöglicht es dem Vollstreckungsstaat schließlich, die Anerkennung und Vollstreckung zu versagen, wenn die verhängte Sanktion eine Maßnahme der psychiatrischen Betreuung oder der Gesundheitsfürsorge oder eine andere freiheitsentziehende Maßnahme einschließt, die gemäß des Rechts- oder Gesundheitssystems des Vollstreckungsstaates nicht vollstreckt werden kann und die auch nicht in eine nach dem Recht des Vollstreckungsstaates für vergleichbare Straftaten vorgesehene Maßnahmen umgewandelt werden kann, weil keine Maßnahme, in die umgewandelt werden könnte, vorgesehen ist.
B. Verbleibender Schutzbedarf des ordre public Obwohl die Versagungsgründe wesentliche Elemente eines ordre public-Schutzes gewährleisten, bedarf es doch eines offenen Schutzkonzepts einer ordre public-Klausel. Dabei ist der Verweis auf den europäischen ordre public unzureichend. Denn über diesen Schutzstandard lassen sich zwar beispielsweise verfahrensrechtliche Mindestgarantien absichern. Sollen aber gerade die fundamentalen Besonderheiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nötigenfalls einem ordre publicSchutz unterfallen, so kann dies nur im Rahmen eines hier skizzierten nationalen ordre public Schutzes gewährleistet werden. Ein so verstandener ordre public-Schutz bietet hinreichende Kompensation für den Verzicht auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit. Neben den grundrechtlich geschützten Handlungsfreiheiten unterfällt dem Schutz eines solchen ordre public-Konzepts insbesondere das strafrechtliche Schuldprinzip. Bereits der Grundsatz der schuldangemessenen Strafe, wie er im deutschen Recht gilt, findet keine ausdrückliche Verankerung im Unionsrecht. Statt dessen bestimmt Art. 49 Abs. 3 EU-GRCh auf unionsrechtlicher Ebene ausdrücklich, das Strafmaß dürfe gegenüber der Straftat nicht unverhältnismäßig sein. Ob damit das strafrechtliche Schuldprinzip in seinem vollen Bedeutungsgehalt Eingang in die Grundrechtecharta gefunden hat, erscheint zweifelhaft, denn das Verschuldensprinzip im Sinne der individuellen Vorwerfbarkeit kann aus dieser Bestimmung nicht ohne weiteres herausgelesen werden. Auch Esser formuliert 451
BVerfGE 96, 100 (115 ff.); näher dazu oben Teil 1 Kapitel 3 G.I.1.
B. Verbleibender Schutzbedarf des ordre public
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noch vorsichtig, die Verhältnismäßigkeit von Strafen sei „Ausdruck des Schuldprinzips“.452 Aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts ist der Schuldgrundsatz allerdings unverzichtbar. Das BVerfG hat in der Lissabon-Entscheidung festgestellt: „Das Schuldprinzip gehört zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist.“ 453 Es ist damit Bestandteil des auch bei Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung und beim Vollzug des Umsetzungsrechts zu beachtenden ordre public.
452 Esser, Grundrechte – nationale Garantien, in: Sieber/Brüner/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (2011), § 55 Rn. 42. 453 BVerfGE 123, 267 (413) (Lissabon-Entscheidung), rechnet den Schuldgrundsatz zum von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfassten Rechtsbestand, der unverfügbar ist.
Teil 3
Zusammenfassende Schlussfolgerungen Exemplarisch am Beispiel der zwischen den Mitgliedstaaten der EU zu leistenden Vollstreckungshilfe für freiheitsentziehende Sanktionen wurde in der vorliegenden Arbeit der Frage nachgegangen, wie der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen so ausgestaltet werden kann, dass diese Ausgestaltung sowohl mit dem System des Europarechts wie auch mit dem System der innerstaatlichen Rechtsordnungen im Einklang steht. Beispielhaft wurde dazu die deutsche Rechtsordnung herangezogen. Im Eingangskapitel wurden der Arbeit vier Ziele gesteckt: Erstens sollte die Vollstreckungshilfe rechtlich eingeordnet, ihre Ziele und die Anforderungen an ihre Ausgestaltung untersucht werden. Zugleich sollte aufgezeigt werden, ob tatsächlich ein Bedürfnis für die durch den Rahmenbeschluss vorgenommene Neuregelung der innereuropäischen Vollstreckungshilfe besteht. Zweitens waren das Ausmaß und der Inhalt der Neuerungen bei der Vollstreckungshilfe auf Basis der Europäischen Vollstreckungsanordnung gegenüber dem bisherigen innereuropäischen Vollstreckungshilferecht aufzuzeigen. Drittens sollten die Grenzen eines dem System des Europarechts wie auch dem der deutschen Rechtsordnungen gerecht werdenden Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen in der EU herausgearbeitet werden. Und viertens schließlich soll in der vorliegenden Zusammenfassung auch ein weitergehender Harmonisierungsbedarf diskutiert werden.
A. Ziele der und Bedürfnis für Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen Die Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen ist Teil der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Als solche dient sie der Durchsetzung einer transnationalen Werteordnung in einem international-arbeitsteiligen Strafverfahren. Mit der Übernahme der Vollstreckung einer von einem anderen Staat verhängten freiheitsentziehenden Sanktion können zwei Ziele verbunden sein, nämlich das Ziel der Rechts- bzw. Sanktionsdurchsetzung und das Ziel der Verbesserung der Resozialisierungschancen des Verurteilten. Mit dem Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung wird neben diesen inhaltlichen Zielen der Vollstreckungshilfe zugleich die Effektivierung der Rechtshilfe
B. Vergleich der Vollstreckungshilfe vor dem Rahmenbeschluss
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zwischen den Mitgliedstaaten der EU durch Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen bezweckt. Unter Rückgriff auf bereits vorliegende empirische Untersuchungen und durch Analyse der Bestimmungen des Bundes-Strafvollzugsgesetzes konnte gezeigt werden, dass regelmäßig ein Bedürfnis dafür besteht, einen Freiheitsentzug an nicht integrierten Ausländern mit Hilfe einer Vollstreckungsüberstellung in das Heimat- oder Wohnsitzland zu vermeiden. Denn nicht integrierte Ausländer sind trotz formalgesetzlicher Gleichbehandlung bei der Anwendung resozialisierender Maßnahmen im Strafvollzug strukturell benachteiligt.
B. Vergleich der Vollstreckungshilfe vor dem Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung mit dessen Neukonzeption Zu konstatieren ist, dass sich der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung in sichtbarer Kontinuität zu früheren völkerrechtlichen Übereinkommen über die Vollstreckungshilfe bewegt. Seit dem Europaratsübereinkommen zur Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983, das noch weitestgehend von dem Gedanken des Gefangenentransfers zur Verbesserung der Resozialisierungschancen geprägt war, gab es zahlreiche Bemühungen einer sukzessiven Ausweitung des Vollstreckungshilfekonzepts, die darauf abzielten, neben das Resozialisierungsziel der Vollstreckungsüberstellung das Rechts- bzw. Sanktionsdurchsetzungsziel als zweites Ziel der Vollstreckungshilfe zu stellen. Inhaltlich zielte dies auf jene Fälle ab, in denen sich der Verurteilte bereits im Vollstreckungsstaat befand, aber aufgrund von Auslieferungshindernissen wie der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger eine Sanktionsdurchsetzung nur im Wege der Vollstreckungshilfe möglich war. Ist eine Auslieferung möglich, so tritt neben das Sanktionsdurchsetzungsziel der Vollstreckungshilfe wieder das Resozialisierungsziel, denn der Vollstreckungshilfe im Heimatstaat sind regelmäßig bessere Resozialisierungschancen einzuräumen als einer Auslieferung zur Strafvollstreckung in der Fremde. Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht des Vollstreckungsstaates muss die Vollstreckungshilfe Vorrang vor der Auslieferung haben, will der Staat seiner Fürsorgepflicht gegenüber seinen Staatsbürgern gerecht werden.1 Die Konzeption der Europäischen Vollstreckungsanordnung ist weitestgehend kohärent zu den weiteren Rechtsakten zur Umsetzung des methodischen Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjiustizieller Entscheidungen in der EU. Sie ist geprägt durch die Ausgestaltung als ein einstufiges Verfahren rein auf
1 Offen gelassen von BVerfGE 113, 273 ff. (Europäischer Haftbefehl); ausdrücklich dafür Sondervotum Lübbe-Wolff (334 f.).
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Teil 3: Zusammenfassende Schlussfolgerungen
justizieller Ebene, so dass die aus dem klassischen Rechtshilfemodell bekannte zweite Ebene der politischen Bewilligungsentscheidung2 entfällt. Aus dem Ersuchens- und Bewilligungsmodell wird ein Modell einer sehr eingeschränkten Ermessensentscheidung, die einer gebundenen Entscheidung nahekommt. Die Anerkennung des Urteils und die Übernahme der Strafvollstreckung hat – jedenfalls nach engem Verständnis des Wortlauts der sekundärrechtlichen Ausgestaltung – zu erfolgen, wenn die im Rahmenbeschluss aufgestellten Voraussetzungen vorliegen und keiner der in Art. 9 Abs. 1 RB 2008/909/JI enumerativ aufgeführten fakultativen Versagungsgründe geltend gemacht wird. Auch sprachlich kennzeichnet den Rahmenbeschluss die neue Terminologie des Rechtshilferechts zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, die verdeutlichen soll, dass es sich um ein rein justizielles Verfahren handelt, das auf Seiten des Anerkennenden eine weitestgehend gebundene Entscheidung einführt, bei der für politische Bewilligungsüberlegungen kein Raum verbleibt. Aus dem Ersuchensbzw. Urteilsstaat wird der Ausstellungsstaat, denn dieser leitet das Verfahren zur Vollstreckungsüberstellung mittels Ausstellung einer entsprechenden Bescheinigung ein, die dem Vollstreckungsstaat zusammen mit dem Urteil zur Anerkennung und Vollstreckung übermittelt wird. Auch das Konstrukt des Entfalls der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit bei Vorliegen eines sogenannten Listendelikts, das im Ausstellungsstaat mit einer Mindesthöchststrafe von zumindest drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist, wird grundsätzlich beibehalten. Während der Entfall des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit jedoch bei früheren Rechtsakten gegenseitiger Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen unabdingbarer Bestandteil des Regelungsmodells war, ist es aus der Perspektive des Anerkennungskonzepts eine Innovation, dass bei dem Rahmenbeschluss über die Europäischen Vollstreckungsanordnung ebenso wie bei dem Rahmenbeschluss über die Europäische Überwachungsanordnung3 die Möglichkeit eines Vorbehalts eröffnet wurde, so dass jeder Mitgliedstaat das Vorliegen der beiderseitigen Strafbarkeit auch im Falle der Listendelikte zur Voraussetzung der Anerkennung und Vollstreckungsübernahme machen kann. Ist dies geschehen, so verbleibt die Berufung auf das als fakultativer Versagungsgrund ausgestaltete Fehlen der beiderseitigen Strafbarkeit im Einzelfall eine Ermessensentscheidung.
2 Dies gilt selbst bei formaler Beibehaltung eines zweigeteilten Verfahrens, wie dies in Deutschland z. B. bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl erfolgt ist. Denn für eine politische Bewilligungsentscheidung verbleibt jenseits der als Rechtsentscheidungen ausgestalteten fakultativen Versagungsgründe kein Spielraum. 3 Rahmenbeschluss 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen, ABl. EU 2008 L 337/102.
C. Grundsatz gegenseitiger Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen
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C. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen und seine Grenzen Den Schwerpunkt der Arbeit bildete die Untersuchung der Grenzen des Anerkennungsgrundsatzes sowohl aus der Sicht des Unionsrechts als auch aus der Sicht verfassungsrechtlicher Anforderungen an ein international-arbeitsteiliges Strafverfahren. I. Verzichtbarkeit der beiderseitigen Strafbarkeit Es konnte gezeigt werden, dass der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit keine unverzichtbare Voraussetzung der Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen ist. Jedoch werden im international-arbeitsteiligen Strafverfahren durch die rechtshilferechtlichen Normen die Rechtsordnung des Urteilsund des Vollstreckungsstaates dergestalt miteinander verknüpft, dass zur Beurteilung der Wahrung des nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatzes auf das Recht des Urteilsstaates abzustellen ist. Dieses wird durch die rechtshilferechtlichen Normen des Vollstreckungsstaates in Bezug genommen; einer doppelten Wahrung des Grundsatzes durch das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit bedarf es nicht. II. Notwendigkeit eines ordre public-Schutzes aus materiell-verfassungsrechtlicher Sicht Seine Grenze findet dieses Verständnis des Konzepts eines international-arbeitsteiligen Strafverfahrens jedoch dort, wo der nationale ordre public verletzt wird: Deutschland als Vollstreckungsstaat kann nicht an der Verwirklichung einer freiheitsentziehenden Sanktion mitwirken, die an einem Verhalten des Verurteilten anknüpft, welches nach den Wertungen des Grundgesetzes gerade grundrechtlich geschützt ist. Zudem erfordert der Grundsatz des nullum crimen, nulla poena sine lege auch im Konzept des international-arbeitsteiligen Strafverfahrens einen hinreichenden Bezug des Urteilsstaates zu dem sanktionierten Verhalten. Ob ein solcher Bezug besteht, ist in sinngemäßer Anwendung des deutschen Strafanwendungsrechts zu beurteilen. Fehlt es an einem solchen hinreichenden Bezug, so würde eine Mitwirkung deutscher Behörden an der Vollstreckung der Sanktion gegen den ordre public der deutschen Rechtsordnung verstoßen. III. Notwendigkeit einer ordre public-Grenze bei der Umsetzung und Anwendung des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung Auch dem europäischen Primärvertragsrecht selbst konnte entnommen werden, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidun-
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Teil 3: Zusammenfassende Schlussfolgerungen
gen einer Begrenzung über einen offenen ordre public-Vorbehalt bedarf, der beim derzeitigen Stand der Integration nicht auf enumerative Versagungsgründe zu beschränken ist. 1. Aufgrund der primärvertraglichen Vorgaben, an denen sich der Grundsatz der Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen orientieren muss Das Primärvertragsrecht setzt auf die Stärkung der strafjustiziellen Zusammenarbeit durch nunmehr ausdrückliche primärvertragliche Verankerung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen, betont aber zugleich die Verpflichtung zur Achtung der verschiedenen mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen und -ordnungen (Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV in Konkretisierung der Verpflichtung zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV). Damit muss auch die sekundärrechtliche Ausgestaltung des primärvertraglich nicht näher definierten Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen diese Achtung gewährleisten. Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV bildet einen Maßstab für die sekundärrechtliche Ausgestaltung und erstarkt nur äußersten Falles zur Kompetenzausübungsgrenze. Dem Achtungsgebot entsprechen zwar in weiten Teilen die Anerkennungsversagungsgründe, wie sie auch der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung beinhaltet. Diese Versagungsgründe sind jedoch enumerativ. Der Verschiedenartigkeit der Rechtsordnungen und -traditionen wird aber erst durch eine offene Klausel, wie sie der ordre public-Einwand darstellt, mit hinreichender Sicherheit Rechnung getragen. 2. Aufgrund der Grundkonzeption des Anerkennungsgrundsatzes Die Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses, wie sie auch durch einen ordre public-Vorbehalt geschützt werden, ist diesem wesensimmanent. Denn der Anerkennungsgrundsatz wird als Methode negativer Integration anstelle einer Vollharmonisierung eingesetzt. Je geringer aber das Ausmaß der zugrundeliegenden Harmonisierung, desto mehr Raum verbleibt für das Erfordernis einer ausnahmsweisen Rechtfertigung der Versagung einer Anerkennung aufgrund zwingender Erfordernisse des Allgemeininteresses bzw. für einen ordre public-Einwand. 3. Aufgrund fehlender Teilhabe von Rahmenbeschlüssen am Vorrang des supranationalen Unionsrechts vor Ablauf der Übergangsfrist des Lissabonner Reformvertrages Rahmenbeschlüsse nahmen, obzwar der Richtlinie des supranationalen Unionsrechts nachgebildet, als Rechtsakte der früheren sogenannten Dritten Säule vor Ablauf der Übergangsfrist des Lissabonner Reformvertrages nicht am Vorrang des supranationalen Unionsrechts teil. Dem Unionsrecht der früheren Dritten
C. Grundsatz gegenseitiger Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen
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Säule fehlte es an den strukturellen Merkmalen des supranationalen Rechts. Zudem hätte die Annahme eines Vorrangs des Rechts der Dritten Säule gleich dem supranationalen Unionsrecht vor Ablauf der Übergangsfrist negiert, dass die vertragsschließenden Staaten sich bei der Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht dafür entschieden haben, die Politiken der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres gerade nicht in den EG-Vertrag zu integrieren. Noch deutlicher wurde dies bei der Entscheidung der Vertragsparteien, durch den Amsterdamer Vertrag zwar die ziviljustizielle Zusammenarbeit sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Visa, Asyl und Einwanderung in den Titel IV des EG-Vertrages zu überführen, die Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen aber im Unionsvertrag belassen zu haben. Auch mit der Anordnung der Weitergeltung des Sekundärrechtsbestandes der früheren Dritten Säule durch das Übergangsprotokoll zum Lissabonner Reformvertrag hatten Rahmenbeschlüsse noch keinen Vorrang erlangt. Mangels Teilhabe von Rahmenbeschlüssen am Vorrang des Unionsrecht konnten Wertungen des deutschen ordre public, soweit sie aus dem Verfassungsrecht abzuleiten sind, nicht von Regelungen des Rahmenbeschlusses überlagert werden. Allerdings geboten der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und das Gebot der rahmenbeschlusskonformen Auslegung eine Konfliktvermeidung soweit als irgend möglich. Mit Ablauf der Übergangsfrist des Lissabonner Reformvertrages erfuhren die Rahmenbeschlüsse allerdings eine ,supranationale Aufladung‘, aufgrund derer sie nunmehr am Vorrang des Unionsrechts teilhaben. Dies stellt das Ergebnis der vorliegenden Studie jedoch nicht in Frage, da die Annahme einer primärrechtlichen Begrenzung des Anerkennungskonzepts durch eine unionsrechtlich kontrollierte ordre public-Grenze aus Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV abzuleiten ist. IV. Europäischer oder nationaler ordre public? Für die Frage, welcher ordre public-Standard für einen solchen Einwand in Bezug zu nehmen ist, wird regelmäßig entweder auf den europäischen ordre public, insbesondere Art. 6 EUV, oder auf den nationalen ordre public verwiesen. So greift auch § 73 IRG dieses scheinbare Alternativverhältnis auf. 1. Unionsrechtlich kontrollierter nationaler ordre public Zutreffend ist jedoch auf die rechtliche Verankerung und den Sinn und Zweck eines solchen Vorbehalts abzustellen. Es wurde gezeigt, dass das Unionsrecht selbst die Begrenzung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen durch einen ordre public-Vorbehalt verlangt. Eine entsprechende Anerkennungsgrenze sollte daher in die sekundärrechtliche Umsetzung aufgenommen werden. Es handelt sich um einen unionsrechtlichen Rechtsbe-
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Teil 3: Zusammenfassende Schlussfolgerungen
griff, dessen äußere Grenzen unionsautonom zu bestimmen sind. Zugleich ist der ordre public-Vorbehalt jedoch dazu bestimmt, den Besonderheiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und -traditionen Rechnung zu tragen. Daher handelt es sich um einen unionsrechtlichen Rahmenbegriff, der von den Mitgliedstaaten autonom, damit gerade auch voneinander abweichend, konkretisiert werden kann. Ein solcher ordre public-Begriff könnte auch als unionsrechtlich kontrollierter nationaler ordre public verstanden werden. Das hier herausgearbeitete Konzept einer grundsätzlichen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU und deren ausnahmsweiser Begrenzung durch einen unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public ist keine grundsätzliche Negation der bisherigen sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen. Den kennzeichnenden wesentlichen Neuerungen – Abschaffung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit als zwingender Voraussetzung einer Rechtshilfeleistung, die grundsätzliche Pflicht zur Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung des Urteilsstaates durch den Vollstreckungsstaat, die Verfahrensbeschleunigung durch kurze Fristen sowie durch Formalisierung und schließlich die Ausgestaltung als rein justizielles Verfahren – ist zuzustimmen. Gerade die Abschaffung der beiderseitigen Strafbarkeit als zwingender Rechtshilfevoraussetzung, verbunden mit der grundsätzlichen Pflicht zur Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates bedarf jedoch eines hinreichenden Korrektivs für jene Fälle, in denen die Wertungswidersprüche zwischen den (Straf-)Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten einer solchen Mitwirkung an der Strafverfolgung eines anderen Staates entgegenstehen. In einem solchen Fall ist kein international-arbeitsteiliges Strafverfahren zur Durchsetzung transnationaler Werte möglich. Es ist festzuhalten, dass das hier vorgeschlagene Konzept eine deutlich weitergehende Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zulässt, als dies bei einer vielfach in der Literatur geforderten Beibehaltung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit der Fall wäre. Zudem bewegt sich dieses Konzept, bei dem die ausnahmsweise Beschränkung der Anerkennung durch einen unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public bejaht wird, im Einklang mit dem geltenden Unionsprimärrecht, an dem sich auch die vor der Lissabonner Vertragsreform beschlossenen Sekundärrechtsakte zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung messen lassen müssen und das deren Anwendbarkeit begrenzt. 2. Verfahrensrechtliche Vorbeugung gegen Fehlanwendung oder Missbrauch eines ordre public-Vorbehalts Nicht von der Hand zu weisen ist der mögliche Einwand einer drohenden Fehlanwendung in der Rechtspraxis, mag sie auf einem Fehlverständnis der ordre
D. Schlussfolgerungen
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public-Grenze beruhen oder gar wissentlich erfolgen. Die Handhabung der Grenze mag unvorsehbar erscheinen, man mag den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen in Gefahr wähnen. Dem ist zu entgegnen, dass eine drohende Fehlanwendung eine rechtstatsächliche Frage ist, die daher auf einer anderen Diskussionsebene als das hier entwickelte rechtsdogmatische Konzept zu verorten ist und dieses Konzept als solches nicht in Frage zu stellen vermag. Zudem ist dem hier entwickelten Konzept ein Schutzmechanismus gegen eine solche Fehlanwendung der ordre public-Grenze inhärent. Denn dem EuGH obliegt die Missbrauchskontrolle durch letztverbindliche Interpretationshoheit über den unionsrechtlichen Begriff des nationalen ordre public. Diese Interpretationshoheit ist durch das Vorabentscheidungsverfahren abgesichert. 3. Differenzierung in Abhängigkeit von der Form der Rechtshilfeleistung? Klarzustellen bleibt, dass die Bedeutung der ordre public-Grenze von den unterschiedlichen Formen der Rechtshilfeleistung – Auslieferung, Vollstreckungshilfe, sonstige Rechtshilfe – abhängig ist.4
D. Schlussfolgerungen zur Legitimation der Europäischen Vollstreckungsanordnung und Anforderungen an ihre Handhabung I. Effizienzorientierung des Rahmenbeschlusses – weitestgehende Verkehrsfähigkeit freiheitsentziehender Sanktionsentscheidungen zur Rechtsdurchsetzung Die Analyse des Regelungsmodells des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung hat gezeigt, dass im Einklang mit den primärrechtlichen Vorgaben eine möglichst weitgehende Anerkennung von strafjustiziellen Entscheidung, die eine freiheitsentziehende Sanktion beinhalten, angestrebt wird. Solche Entscheidungen sollen also möglichst weitgehend ,verkehrs-‘ und vollstreckungsfähig zwischen den Mitgliedstaaten der EU sein. Diese Grundausrichtung des Rahmenbeschlusses zeigt sich besonders deutlich an einigen zentralen Punkten des Regelmodells. So werden (im Einklang mit Tendenzen früherer völkervertraglicher Vereinbarungen, die aber zumeist nur geringe Ratifikationsstände erlangt haben) Zustimmungserfordernisse insbesondere des Verurteilten, aber auch des Vollstreckungsstaates zurückgedrängt. 4 Ebenso Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 (2012), § 73 IRG Rn. 5; Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen3 (Stand: 29. Lieferung Oktober 2012), § 73 IRG Rn. 14 f. Vgl. dazu oben Teil 2 Kapitel 1 D.III.4.
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Teil 3: Zusammenfassende Schlussfolgerungen
Der Verzicht auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als zwingender Voraussetzung einer Vollstreckungshilfe trägt ebenso zur Effektivierung bei. Dies gilt angesichts der Konstruktion des Rahmenbeschlusses selbst in jenen Fällen, in denen ein Mitgliedstaat gemäß Art. 7 Abs. 4 RB 2008/909/JI eine Erklärung abgegeben und sich auch im Falle der sogenannten Listendelikte die Überprüfung beiderseitiger Strafbarkeit vorbehalten hat. Denn die beiderseitige Strafbarkeit wird in der Ausgestaltung des Rahmenbeschlusses selbst dann, wenn ihre Prüfung zulässig ist, zum fakultativen Versagungsgrund der Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion. So bedingt aus der Konzeption des Rahmenbeschlusses heraus das Fehlen der beiderseitigen Strafbarkeit nicht zwingend eine Versagung der Vollstreckungsübernahme; die Einwendung des Versagungsgrundes bleibt aus Sicht des Rahmenbeschlusses eine Ermessensentscheidung der zuständigen Behörde des Mitgliedstaates. Über eine Ermessensbindung entscheidet in dieser Frage das mitgliedstaatliche Recht. Generell fällt auf, dass alle Versagungsgründe nur als fakultative Einwendungen ausgestaltet sind. Dies mag der Effizienzsteigerung dienen, kann aber schon aus Sicht des Unionsrechts nicht überzeugen. So ist etwa der Grundsatz des ne bis in idem ein zwingender Bestandteil des Unionsrechts, der sowohl in Art. 49 EU-GRCh als auch in Art. 54 ff. SDÜ verankert ist, und der bei der Ausgestaltung und Auslegung des Unionssekundärrechts Beachtung finden muss. Daher ist der Versagungsgrund des Art. 9 Abs. 1 lit. c RB 2008/909/JI als zwingender Versagungsgrund zu beachten, die Wahrung des ne bis in idem-Grundsatzes kann nicht in das Ermessen der zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden gestellt werden. Obwohl die Erleichterung der Vollstreckungsübertragung auch der besseren Resozialisierung dienen kann, profitiert das Rechtsdurchsetzungsziel in deutlich stärkerem Maße von der Ausgestaltung des Rahmenbeschlusses. Dies beruht auf der wesentlichen Einbeziehung derjenigen Fallkonstellationen, die – anders als die Vollstreckungshilfe in der Konzeption des ÜberstÜbk – nicht mit einem Gefangenentransfer in den Heimatstaat einhergehen, sondern auf die Vollstreckung gegenüber solchen Verurteilten abzielen, die sich bereits im Vollstreckungsstaat befinden und gegen die sonst ein Europäischer Haftbefehl zur Strafvollstreckung in Erwägung zu ziehen wäre. Zuzugestehen ist, dass der Vergleich mit dieser alternativen Möglichkeit die Resozialisierungsgesichtspunkte wieder in den Fokus treten lässt, da die Europäische Vollstreckungsanordnung demgegenüber als gelinderes Mittel erscheint. II. Primat der Resozialisierung zwingende Folge des Raumzieles der Sicherheit Obwohl das Rechtsdurchsetzungsziel mit deutlichem Gewicht neben das Resozialisierungsziel der Vollstreckungshilfe tritt, muss bei der Auslegung und An-
D. Schlussfolgerungen
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wendung der Regelungen des Rahmenbeschlusses das Ziel einer Verbesserung der Resozialisierungschancen demgegenüber prioritär bleiben. Dies ergibt sich nicht nur aus der ausdrücklichen Verweisung auf das Ziel der Erleichterung der Resozialisierung in Art. 3 Abs. 1 RB 2008/909/JI. Es folgt vielmehr auch zwingend aus der Orientierung am Raumziel der Sicherheitsgewährleistung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Aus der Perspektive des Urteilsstaates beinhalten sowohl die Orientierung an den besseren Resozialisierungsvoraussetzungen als auch die Überstellung einer Person außer Landes positive Aspekte auf die Sicherheitsgewährleistung im Urteilsstaat. Allerdings ginge eine ausschließliche Fokussierung auf das eigene Staatsgebiet in einem europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts fehl. Denn das Ziel der Sicherheitsgewährleistung ist ein Ziel des gesamten Raums und Gemeinschaftsaufgabe von Union und Mitgliedstaaten, so dass es nicht auf eine Sicherheitserlangung durch Überstellung außer Landes gehen kann, sondern das Ziel der Resozialisierung Maßstab der Entscheidung des Urteilsstaates über die Einleitung eines Vollstreckungsübertragungsverfahrens sein muss. Dies entspricht auch der Orientierungsfunktion, die die Grundrechte für die Wahrnehmung von der Union im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zugewiesenen Kompetenzen haben (Art. 67 Abs. 1 AEUV). Denn die Ausrichtung des Strafvollzugs am Resozialisierungsziel ist keine grundrechtliche Wertung, die sich auf die deutsche Rechtsordnung beschränkt. Vielmehr kann sie als europäisches Grundverständnis angesehen werden, wie die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze in Nr. 6 zum Ausdruck bringen. Dort ist festgehalten, dass jede Freiheitsentziehung so durchzuführen ist, dass sie dem betroffenen Individuum die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtert.5 Daher kann davon ausgegangen werden, dass die Anknüpfung des Resozialisierungszieles des Strafvollzugs an grundrechtlich geschützte Rechtspositionen ein auch auf die Unionsebene übertragbarer Gedanke ist. Dann aber nimmt das Resozialisierungsziel an der in Art. 67 Abs. 1 AEUV zum Ausdruck kommenden Maßstabs- und Orientierungsfunktion der Grundrechte für die strafjustizielle Zusammenarbeit teil. Kritisch zu betrachten ist es, wenn der Rahmenbeschluss das alleinige Initiativrecht zur Einleitung der Vollstreckungsübertragung dem Urteilsstaat respektive Ausstellungsstaat zuweist6 und die Einleitung eines Vollstreckungsübernahmeverfahrens damit in dessen alleiniges Ermessen stellt. Hier macht es den Anschein, dass sanktionsdurchsetzenden Erwägungen Vorrang vor Resozialisierungsinteressen eingeräumt wird. Denn auch der Vollstreckungsstaat und der
5 Council of Europe, Recommendation Rec(2006)2 of the Committee of Ministers to Member States on the European Prison Rules v. 11.01.2006 [in deutscher Übersetzung dBMJ/öBMJ/Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartment (Hrsg.), Europäische Strafvollzugsgrundsätze (2007)]. 6 Vgl. Art. 4 Abs. 1 RB 2008/909/JI.
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Teil 3: Zusammenfassende Schlussfolgerungen
Verurteilte selbst können ein legitimes Interesse an der Einleitung des Verfahrens mit dem Ziel besserer Resozialisierungschancen als bei einer Strafverbüßung fern der Heimat haben. Das beiden eingeräumte bloße Anregungsrecht ist kein hinreichendes Surrogat.
E. Weitergehender Integrationsbedarf im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit Hat die Europäische Vollstreckungsanordnung den gewünschten Erfolg in der Praxis, wird rasch ein weitergehender Harmonisierungsbedarf geltend gemacht werden. Dies ist dem europäischen Integrationsprozess inhärent, bei dem nach der sogenannten Theorie der funktionalen Integration ein Integrationsschritt nahezu zwangsläufig das Bedürfnis nach weiterer Integration aufkommen lässt (sogenannter spill over-Effekt). I. Kritik an der Beliebigkeit der tatsächlichen Strafverbüßung So kann die Regelung des Rahmenbeschlusses zur bedingten Entlassung, auch wenn sie in Kontinuität zum ÜberstÜbk steht, nicht überzeugen. Sowohl die in der Arbeit vorgestellten Fallbeispiele als auch die vorliegende rechtsvergleichende Forschung zum Recht der bedingten Entlassung zeigen, dass mit der Vollstreckungsüberstellung in der Praxis eine deutlich spürbare Veränderung der Länge der verbüßten Strafe einherzugehen droht. Dies ist zwar nach herrschendem dogmatischen Verständnis nicht als Verstoß gegen das Prinzip der Schuldbegrenzung der Strafe anzusehen, da die Vollstreckungsüberstellung keine Strafschärfung im Sinne eines Überschreitens der Dauer der ursprünglich verhängten Sanktion zur Folge haben darf. Dennoch ist es zumindest kriminalpolitisch nicht überzeugend, wenn sich infolge der Vollstreckungsüberstellung der tatsächlich zu verbüßende Strafteil deutlich verlängert. Ebenso muss, soll die dem Gedanken der gegenseitigen Anerkennung zugrundeliegende Gleichwertigkeit strafjustizieller Entscheidungen auch eine Gleichwertigkeit der Strafvollzugssysteme gegenüber stehen, ein Mindeststandard bei den Haftbedingungen gewährleistet sein. Eine wesentliche Grundlage legt in diesem Bereich die Arbeit des Europarates, wie sie etwa in den sogenannten Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen zum Ausdruck kommt. Der EGMR hat in einer Reihe von Urteilen Mängel in Haftanstalten in der EU festgestellt.7 Dies hat die Kommission im Jahre 2011 in ihrem Grünbuch mit dem Titel Stärkung des gegenseitigen Vertrauens im europäischen Rechtsraum – Grünbuch zur Anwendung der EU-Strafrechtsvorschriften im Bereich des Freiheitsentzugs neben ande-
7
Siehe oben Teil 1 Kapitel 1 B.I.1.a).
F. Schlussbemerkung
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rem aufgegriffen und nach Möglichkeiten zur Unterstützung der entsprechenden Tätigkeiten des Europarates gefragt.8 Bislang beschränken sich die Aktivitäten der EU in diesem Bereich auf die Unterstützung entsprechender Praxis- und Forschungsprogramme. II. Kompetenzgrundlage für den entstehenden Harmonisierungsbedarf? Sowohl für die Frage der bedingten Entlassung als auch für diejenige nach den Haftbedingungen wäre zu klären, ob Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. d AEUV eine hinreichende Rechtsgrundlage bildet. Gestützt auf diese Kompetenznorm können Rat und Europäisches Parlament gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen erlassen, um „die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen der Strafverfolgung sowie des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen zu erleichtern“. Gegen eine Rechtsharmonisierung auf Basis dieser Vorschrift spricht jedoch, dass die Vorschrift die Erleichterung der behördlichen Zusammenarbeit im Blick hat, während Art. 82 Abs. 2 AEUV die Festlegung von Mindestvorschriften unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten anspricht und in lit. d der Vorschrift speziell die Regelung sonstiger spezifischer (d.h. einzelner) Aspekte des Strafverfahrens erlaubt, soweit der Rat dies zuvor durch einstimmigen Beschluss mit Zustimmung des Europäischen Parlaments bestimmt hat. Die erhöhten Anforderungen des Abs. 2 für die materielle Rechtsharmonisierung sprechen dafür, dass eine unionsweite Mindestharmonisierung nur auf Basis dieser strengeren Kompetenznorm vorgenommen werden dürfte.
F. Schlussbemerkung Am Beispiel des Resozialisierungszieles der Europäischen Vollstreckungsanordnung zeigt sich, dass die Grundrechte, und damit die Rechte des Einzelnen als wesentlicher Leitmaßstab der Kompetenzwahrnehmung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu beachten sind (vgl. Art. 67 Abs. 1 AEUV). Festzuhalten bleibt, dass bei sachgerechter Anwendung die Europäische Vollstreckungsanordnung ein Rechtsinstrument ist, das geeignet ist, die Interessen des einzelnen Verurteilten und das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit miteinander in Einklang zu bringen. Nach hier vertretener Auffassung ist die Anerkennung eines unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public als Grenze des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen beim
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KOM(2011) 327 endg., S. 12.
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Teil 3: Zusammenfassende Schlussfolgerungen
derzeitigen Stand der Integration zwingend. Will man dies nicht akzeptieren, so verbleibt als alternative Lösung nur die schon normhierarchisch zwingende Begrenzung der sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Anerkennungsgrundsatzes durch den europäischen ordre public – verbunden mit der Beibehaltung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit als dann weiterhin zwingender Rechtshilfevoraussetzung.9
G. Kernthesen zu Anerkennung und ordre public A: Kernkonzeption eines unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre publicVorbehalts Der seit dem Lissabonner Reformvertrag primärvertraglich verankerte Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU ist konzeptionell durch einen unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public zu begrenzen. a) Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV ist Kompetenzausübungsmaßstab für die sekundärrechtliche Ausgestaltung des primärrechtlich in Art. 67 Abs. 3 und Art. 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV verankerten Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen. Dieser Anerkennungsgrundsatz ist Teilziel und Methode zur Gewährleistung eines hohen Maßes an Sicherheit in der EU; er ist als Regel bzw Optimierungsgebot zu verstehen und gilt nicht unbegrenzt. b) Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV ist die Anordnung der Achtung der Grundrechte bei der Ausformung der strafjustiziellen Zusammenarbeit zu entnehmen, die sich als deklaratorischer Verweis auf die Wahrung der Grundrechte (Art. 6 EUV) als Kern des europäischen ordre public verstehen lässt. c) Art. 67 Abs. 1, 2. Hs. AEUV gebietet daneben, „die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten“ zu achten und eröffnet damit einen grundsätzlich eng auszulegenden unionsrechtlichen Rahmen, innerhalb dessen Grundwertungen einzelner mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen als Ausdruck des nationalen ordre public die grundsätzlich zwingende Anerkennung begrenzen können. d) Die (vom Vollstreckungsstaat einzuwendende) Anerkennungsgrenze des unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public stellt weder den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung noch die einheitliche Geltung und Anwendung des Unionsrechts in Frage. 9 In Umsetzung des RB 2008/909/JI hat der deutsche Gesetzgeber diesem rechtsdogmatischen Erfordernis Rechnung getragen. Statt der ausdrücklichen gesetzlichen Anerkennung des nationalen ordre public-Vorbehalts der Vollstreckungshilfeleistung hat er in Abkehr vom bisherigen unionsrechtlichen Konzept gegenseitiger Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen das grundsätzliche Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Vollstreckungshilfevoraussetzung beibehalten. Die davon geschaffenen Ausnahmen werden ausweislich der Gesetzesbegründung dadurch begrenzt, dass eine Vollstrekkungsübernahme ohne Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit nicht möglich ist, wenn dies gegen die wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung – den nationalen ordre public – verstieße. Vgl. dazu unten Teil 4 C.I. und II.3.
G. Kernthesen zu Anerkennung und ordre public
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B: Die Europäische Vollstreckungsanordnung – Vermutung und Grenzen der Gleichwertigkeit Das Maß an Gleichwertigkeit der mitgliedstaatlichen Strafrechtssysteme ist nicht geeignet, einen zwingenden Verzicht auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit ohne Kompensation durch die unionsrechtlich kontrollierte Möglichkeit der Berufung auf den nationalen ordre public zu tragen. a) Der gemeinsame Wertekanon der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten schließt nicht aus, dass im Vergleich der Mitgliedstaaten gegenläufige Wertentscheidungen getroffen wurden, die einer Leistung von Vollstreckungshilfe entgegen stehen. b) Vollstreckungshilfe kann durch Unterschiede im Strafvollstreckungsrecht und tatsächliche Strafvollzugsbedingungen einen systemwidrigen Einfluss auf das Maß des tatsächlich verbüßten Strafübels entfalten. Es besteht jedoch kein grundsätzlicher individualrechtlicher Anspruch des Verurteilten auf Meistbegünstigung. C: Die ordre public-Begrenzung der Vollstreckungshilfe aus Sicht der deutschen Rechtsordnung 1. Dem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit kommt keine unabdingbare grundrechtsschützende Funktion für den Verurteilten als Subjekt der Vollstreckungshilfe zu. Im international-arbeitsteiligen Strafverfahren greift ein Kombinationsprinzip, bei dem ersuchender und ersuchter Staat gemeinsam ein Rechts- und Rechtsschutzniveau gewährleisten müssen, dass ein dem rein innerstaatlichen Strafverfahren gleichwertiges Schutzniveau gewahrt bleibt. 2. Aus verfassungsrechtlicher Sicht erforderlich, aber auch hinreichend, ist die Begrenzung des Anerkennungsgrundsatzes durch einen nationalen ordre publicVorbehalt. a) Der Anerkennungsgrenze des (unionsrechtlich kontrollierten) nationalen ordre public kommt die Funktion zu, die Leistung von Vollstreckungshilfe zu versagen, wenn das der Verurteilung zugrunde liegende Verhalten nach den Wertungen der deutschen Rechtsordnung grundrechtlich geschützt wäre. b) Für den Verurteilten kann eine Ausdehnung des Strafanspruchs auf Auslandssachverhalte ohne hinreichenden Inlandsbezug zum Urteilsstaat in der Wirkung einer materiellen Rückwirkung gleichkommen. Dem nationalen ordre publicVorbehalt obliegt es daher, die Anerkennung solch ausufernder ausländischer Strafgewalt im international-arbeitsteiligen Strafverfahren durch sinngemäße Anwendung des deutschen Strafanwendungsrechts zu begrenzen. c) Dem so konturierten nationalen ordre public-Vorbehalt obliegt auch der Schutz des strafrechtlichen Schuldprinzips, das nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in der Lissabon-Entscheidung „zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität [gehört], die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist.“
Teil 4
Die Neuregelung der deutschen Vollstreckungshilfe im Rechtshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten der EU mit Wirkung zum 18. Juli 2015 Überprüfung und Bewertung anhand zentraler Studienergebnisse A. Neuregelung und zentrale Studienergebnisse – Zielsetzung des Vergleichs Zwei Jahre nach Abschluss der vorliegenden Studie (Teil 1–3) hat der Bundesgesetzgeber mit Gesetz vom 17. Juli 20151 den Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung in deutsches Recht umgesetzt und den deutschen Vollstreckungshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union erwartungsgemäß2 in den §§ 84 ff. IRG neu geregelt.3 Die gesetzliche Neuregelung beschränkt sich allerdings nicht auf die Umsetzung des RB 2008/ 909/JI sowie weiterer thematisch verwandter unionsrechtlicher Rahmenbeschlüsse, sondern hat die Gelegenheit genutzt, zugleich weitere grundlegende Neuerungen im Recht der Vollstreckungshilfe vorzunehmen.4 Eine umfassende Analyse dieser Neuregelung kann und soll vorliegend nicht geleistet werden.
1 Art. 1 des Gesetzes zur Verbesserung der internationalen Rechtshilfe bei der Vollstreckung von freiheitsentziehenden Sanktionen und bei der Überwachung von Bewährungsmaßnahmen sowie zur Änderung des Jugoslawien-Strafgerichtshof-Gesetzes und des Ruanda-Strafgerichtshof-Gesetzes, G. v. 15.07.2015, BGBl. I S. 1349. Für den Referentenentwurf siehe BR-Drucks. 24/15 v. 23.01.2015. 2 Siehe Teil 1 Kapitel 2 C.I.3. 3 Zu Übergangsregelungen für vor dem 5. Dezember 2011 ergangene Erkenntnisse im Vollstreckungshilfeverkehr mit den Niederlanden, Lettland, Polen, Irland und Malta vgl. § 98b IRG. 4 BR-Drucks. 24/15, S. 1. Kritisch zur Ausgestaltung wesentlicher dieser Neuregelungen der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 10/2015 vom April 2015, http://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/ stellungnahmen-deutschland/2015/april/stellungnahme-der-brak-2015-10.pdf (28.02. 2016); vgl. auch die Gemeinsame Stellungnahme von Strafverteidigervereinigungen und Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereinen e. V. vom 21.10.2014, http:// www.rav.de/fileadmin/user_upload/rav/Stellungnahmen/StN_zum_RE_Gesetz_zur_Ver besserung_der_intern._Rechtshilfe.pdf (28.02.2016).
B. Gesetzliche Grundkonzeption der Neuregelung
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Vielmehr soll die Möglichkeit genutzt werden, den zentralen Ergebnissen der vorliegenden Studie die nunmehr getroffenen gesetzlichen Umsetzungsregelung gegenüberzustellen und beide aneinander zu messen (Teil 4). Als zentrale Fragen der Vollstreckungshilfe nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in der Konzeption des Rahmenbeschlusses haben sich in der vorliegenden Studie folgende Punkte erwiesen: Erstens, die Anerkennung und Vollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen in jenen Fällen, in denen erweislich keine beiderseitige Strafbarkeit gegeben ist. Deren etwaige Kompensation bildet die zentrale Frage, die die Anerkennung des in der vorliegenden Studie herausgearbeiteten Konzepts des nationalen ordre public als (unionsrechtlich kontrollierter) Grenze einer Vollstreckungshilfe betrifft (dazu sogleich unter C). Der Umgang mit unterschiedlichen rechtlichen Bedingungen der Strafvollstrekkung, insbesondere den Regelungen bedingter Entlassung, und grundrechtsrelevanten faktischen Umständen des Strafvollzugs als Determinanten für die Veränderung von Art und Dauer der faktisch zu verbüßenden Strafe bilden eine weitere wesentliche Fragestellung (dazu sogleich unter D). Diese ist zugleich Teilaspekt der Frage nach den Anforderungen an vorzunehmende Prognose besser Resozialisierungschancen im avisierten Vollstreckungsstaat gegenüber eines etwaig alternativ vorzunehmenden Strafvollzugs im Urteilsstaat (dazu E).
B. Gesetzliche Grundkonzeption der Neuregelung der Vollstreckungshilfe Die Neuregelung der §§ 84 ff. IRG fügt sich in die komplexe Struktur des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen ein. I. Vollstreckung freiheitsentziehender Erkenntnisse anderer Mitgliedstaaten in der Bundesrepublik Deutschland Die Vorschriften des Vierten Teils sowie die allgemeinen Bestimmungen des Ersten und Siebten Teils des IRG sind gemäß § 84 Abs. 2 IRG auf Vollstreckungshilfeleistungen durch die Bundesrepublik Deutschland für andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union anzuwenden, soweit §§ 84–84n IRG keine besonderen Regelungen enthalten. §§ 84–84k IRG betreffen die Vollstreckung der ausländischen Erkenntnisse in der Bundesrepublik Deutschland; §§ 84 l–n IRG enthalten Regelungen für die Durchbeförderung zur Vollstreckung. Ergänzend zu §§ 84–84n IRG finden also die allgemeinen Regeln zur Vollstreckungshilfe, §§ 48 ff. IRG, Anwendung.5
5 Siehe auch die Begründung des Entwurfs der Neuregelung, BR-Drucks. 24/15, S. 36 (132).
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Teil 4: Neuregelung der deutschen Vollstreckungshilfe im Rechtshilfeverkehr
II. Vollstreckung deutscher freiheitsentziehender Erkenntnisse in einem anderen Mitgliedstaat der EU Die §§ 85–85f IRG enthalten § 71 IRG vorrangige Regelungen für die Übertragung der Vollstreckung deutscher Erkenntnisse auf einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. § 71 IRG ist in diesen Fallkonstellationen nicht anwendbar.6 Ergänzende und vereinfachende völkerrechtliche Regelungen bleiben nach Maßgabe des § 84 Abs. 3 sowie Abs. 2 i.V. m. § 1 Abs. 4 und Abs. 3 IRG anwendbar.7
C. Beiderseitige Strafbarkeit und nationale ordre public-Grenze der Vollstreckungshilfe I. Grundsätzliches Festhalten am traditionellen Rechtshilfeerfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Abkehr von einem bisherigen Kernelement des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen In der Grundkonzeption des § 84a Abs. 1 Nr. 2 IRG setzt die Übernahme der Vollstreckung der freiheitsentziehenden Sanktion, die von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaates verhängt wurde und vollstreckbar ist, das Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit des abgeurteilten Verhaltens voraus. Die Bundesrepublik Deutschland hat daher – wie in der vorliegenden Studie als rechtspolitische Konfliktvermeidungsstrategie befürwortet – von der Möglichkeit des Art. 7 Abs. 4 RB 2008/909/JI Gebrauch gemacht und durch einen Vorbehalt gegen Art. 7 Abs. 1 RB 2008/909/JI das Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit auch im Falle der Listendelikte zur Voraussetzung der Anerkennung und Vollstreckungsübernahme gemacht. Dies bedeutet die Abkehr von einem zentralen Element der bisherigen sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen.8 II. Ausnahmsweiser Verzicht auf das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit Von diesem grundsätzlichen Erfordernis werden jedoch in der Folge eine klarstellende Einschränkung und zwei explizite Ausnahmen geregelt. 1. Einschränkung des Erfordernisses bei Fiskaldelikten In § 84a Abs. 2 IRG ist klargestellt, dass das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit keiner Vollstreckung in Steuer-, Zoll- und Währungsangelegenheiten ent6 7 8
Vgl. BR-Drucks. 24/15, S. 36 (171). Siehe zum Verhältnis von § 1 Abs. 3 und 4 IRG vorliegend Teil 1 Kapitel 2 B. Vgl. oben Teil 1 Kapitel 3 F.III.2.
C. Beiderseitige Strafbarkeit und nationale ordre public-Grenze
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gegensteht, bei denen das deutsche Recht keine gleichartigen Steuer-, Zoll- und Währungsbestimmungen enthält wie das Recht des Urteilsstaates. 2. Entfall des Erfordernisses bei Strafvollstreckung bei Nichtauslieferung bzw. -durchlieferung eines Deutschen zur Strafvollstreckung oder eines Ausländers mit überwiegendem schutzwürdigem Interesse an der Strafvollstreckung im Inland Nach § 84a Abs. 3 IRG entfällt das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit in drei besonderen Fallkonstellationen. Erstens im Falle einer Europäischen Vollstreckungsanordnung gegen einen Deutschen, dessen Auslieferung zur Strafvollstreckung aufgrund der Verweigerung seiner Zustimmung dazu gemäß § 80 Abs. 3 IRG versagt worden ist. Vergleichbar ist die Übernahme der Strafvollstreckung auch ohne Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit in Fällen, in denen die Bewilligung der Auslieferung eines Ausländers zum Zwecke der Strafvollstrekkung gemäß § 83b Abs. 2 Nr. 2 IRG versagt wurde, weil dieser seine Zustimmung dazu verweigert hat und ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse des verurteilten an einer Strafvollstreckung in der Bundesrepublik Deutschland angenommen wurde. Schließlich entfällt das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Vollstreckungshilfevoraussetzung nicht nur, wenn die Auslieferung eines Deutschen zur Strafvollstreckung gemäß § 80 Abs. 3 IRG versagt wurde, sondern ebenso, wenn die Durchlieferung eines Deutschen zur Strafvollstreckung aufgrund dessen Verweigerung der Zustimmung versagt wurde, § 83f Abs. 3 S. 2 IRG. Funktional tritt § 84a Abs. 3 IRG damit weitgehend9 an die Stelle des bisherigen und im Zuge der Umsetzung des RB 2008/909/IRG aufgehobenen § 80 Abs. 4 IRG10 sowie die ebenfalls entfallenen Verweise auf diesen in § 83b Abs. 2 S. 2 IRG und § 83f Abs. 3 S. 3 IRG. Gleich der bisherigen Regelung des § 80 Abs. 4 S. 2 IRG ordnet § 84a Abs. 3 S. 2 IRG an, dass das mangels Sanktionierbarkeit nach deutschem Recht fehlende gesetzliche Höchstmaß der Sanktion (vgl. § 8 Abs. 3 RB 2008/909/JI11) mit zwei Jahren fingiert wird. 3. Entfall des Erfordernisses auf Antrag des Verurteilten Das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Vollstreckungshilfevoraussetzung entfällt gemäß § 84b Abs. 2 S. 2 IRG auch dann, wenn die verurteilte Person dies beantragt hat. Damit wird, wie in der vorliegenden Studie gefordert, die Vollstreckungsübernahme auch in jenen Fällen ermöglicht, in denen zwar keine 9
Siehe sogleich unter C.II.3., in diesem Teil. Ausführlich zu diesem Teil 1 Kapitel 3 F.II.2.b). 11 Dazu oben Teil 1 Kapitel 3 I.I. sowie § 84g Abs. 4 Satz 1 IRG. 10
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Teil 4: Neuregelung der deutschen Vollstreckungshilfe im Rechtshilfeverkehr
beiderseitige Strafbarkeit gegeben, die Vollstreckungsübernahme nach Maßgabe des – so ausdrücklich die Begründung der Neuregelung – nationalen ordre public12 aber dennoch zulässig und aus resozialisierenden oder humanitären Erwägungen gegenüber dem Verurteilten, dem sonst ein Strafvollzug in der Fremde drohte, geboten wäre.13 Der bisher ebenfalls in § 80 Abs. 4 IRG geregelte Entfall der Prüfung beiderseitiger Strafbarkeit bei Rücküberstellung eines Deutschen nach Auslieferung bzw. Durchlieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls wird nunmehr ebenfalls von § 84b Abs. 2 IRG erfasst. Zu Recht ist der Gesetzgeber aber davon ausgegangen, dass in diesen Fällen eine Vollstreckungsübernahme ohne Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit nicht gegen den Willen der verurteilten Person erfolgen sollte.14 III. Schlussfolgerung: Immanente Anerkennung des nationalen ordre public als Rechtshilfegrenze bei der Vollstreckungshilfe auch für Mitgliedstaaten der EU 1. Dem unionsrechtlich kontrollierten nationale ordre public als Grenze der gegenseitigen Anerkennung strafjustitieller Entscheidungen in der Europäischen Union kommt die Aufgabe zu, für den einzelnen Mitgliedstaat unverzichtbare Wertentscheidungen der nationalen Rechtsordnung zu schützen, die der Anerkennung und Vollstreckung einer strafjustitiellen Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates entgegenstehen. Er übernimmt damit zentral die Schutzfunktion, die im traditionellen Rechtshilfeverkehr dem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit zukommt. Die Vollstreckungshilfegrenze des nationalen ordre public ist dabei weniger weitreichend als das zwingende Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Vollstreckungshilfevoraussetzung, denn sie steht einer Vollstreckungshilfe dann nicht entgegen, wenn zwar die beiderseitige Strafbarkeit nicht gegeben ist, die Strafbarkeitsentscheidung des Urteilsstaates jedoch auch nicht den fundamentalen Wertentscheidungen des Vollstreckungsstaates widerspricht.15 2. Bei Umsetzung des RB 2008/909/JI hat der deutsche Gesetzgeber die Begrenzung der Zulässigkeit der Leistung von Vollstreckungshilfe bei freiheitsentziehenden Sanktionen durch den nationalen ordre public auch im Rechtshilfever12 Vgl. BR-Drucks. 24/15, S. 36 (139): „die Vollstreckung der [. . .] verhängten Sanktion nicht gegen die wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung verstößt.“ Dass dies ein Grundverständnis des Gesetzgebers ist, belegt auch die Kurzbeschreibung des vorgeschlagenen Gesetzesentwurfs bereits auf S. 2 der Drucksache, die mit dem Satz schließt: „Die Vollstreckung solcher freiheitsentziehender Sanktionen soll allerdings nur übernommen werden, wenn sie nicht gegen die wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung verstößt.“ 13 Vgl. oben Teil 2 Kapitel 2 C.II. 14 BR-Drucks. 24/15, S. 36 (139). 15 Vgl. oben Teil 3 C.IV.1. und F.
D. Gefahr systemwidriger Beeinflussung tatsächlicher Strafverbüßung
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kehr mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf Grundlage des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen immanent anerkannt. Statt einer ausdrücklichen gesetzlichen Anerkennung des nationalen ordre public-Vorbehalts der Vollstreckungshilfeleistung bzw. klarstellenden Modifikation des § 73 S. 2 IRG16 hat er in Abkehr vom bisherigen unionsrechtlichen Konzept gegenseitiger Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Vollstreckungshilfevoraussetzung beibehalten, jedoch Ausnahmen von diesem im traditionellen deutschen Rechtshilfeverkehr zwingenden Erfordernis anerkannt. Die geschaffenen Ausnahmen werden ausweislich der Gesetzesbegründung dadurch begrenzt, dass eine Vollstreckungsübernahme ohne Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit nicht möglich ist, wenn dies gegen die wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung – den nationalen ordre public – verstieße. 3. Mit der nach Art. 7 Abs. 4 RB 2008/909/JI abgegebenen Erklärung eines Vorbehalts gegen die zwingende Abschaffung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit hat der deutsche Gesetzgeber den in der vorliegenden Studie als Konfliktvermeidungsstrategie vorgeschlagenen Weg eingeschlagen. Für solche grundlegenden Wertungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, die sich in materiell-strafrechtlichen Regelungen niederschlagen, sind die Justizbehörden der Bundesrepublik Deutschland damit nicht auf eine Anerkennung des vorliegend herausgearbeiteten und auf Art. 67 Abs. 1 2. Hs. AEUV fundierenden Konzepts des unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public als primärrechtsbasierte Begrenzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen angewiesen.
D. Gefahr systemwidriger Beeinflussung des Maßes der tatsächlichen Strafverbüßung und zeitliche Meistbegünstigung bei Aussetzung zur Bewährung I. Gefahr systemwidriger Beeinflussung des Maßes der tatsächlichen Strafverbüßung durch Vollstreckungsübertragung Die Vollstreckungsübernahme einer freiheitsentziehenden Sanktion durch einen anderen als den Urteilsstaat verknüpft in einem international-arbeitsteiligen Strafverfahren das materielle Straf- und das Strafverfahrensrecht des Urteilsstaates mit dem Strafvollstreckungs- und -vollzugsrecht des Vollstreckungsstaates. Dabei besteht die Gefahr, dass die de facto zu verbüßende Strafe in systemwidriger Weise verändert wird.17 16 Siehe zur Auslegung des § 73 Satz 2 IRG oben Teil 1 Kapitel 2 C., dort insbesondere Pkt. IV. 17 Ausführlich dazu oben Einführung C.III., Teil 1 Kapitel 1 B.III.4. sowie Teil 1 Kapitel 3 I.IV.1.
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II. Kein grundsätzlicher Anspruch auf zwingende Meistbegünstigung, aber rechtliche Grenzen für eine Verlängerung der de facto-Strafverbüßung Die vorliegende Studie hat allerdings gezeigt,18 dass die Verlängerung der tatsächlichen Verbüßungsdauer infolge einer Vollstreckungsübertragung im Vergleich zur anzunehmenden Verbüßungsdauer im Urteilsstaat nicht per se die Rechte des Verurteilten verletzt, solange das Maß der im Urteilsstaat zugemessenen Strafe nicht überschritten wird. Die Vollstreckungsübertragung, die unter der Annahme besserer Resozialisierungschancen im Staat der engeren sozialen Bindung regelmäßig auch im Interesse des Verurteilten liegt, ist ein sachlicher Grund für eine abweichende Behandlung gegenüber jenen Fällen, in denen die Strafe im Urteilsstaat vollstreckt wird. Das Strafschärfungsverbot des Art. 8 Abs. 4 RB 2008/909/JI wird allein durch eine faktisch spätere bedingte Entlassung nicht verletzt. Auch eine Verletzung des Gleichheitssatzes gemäß Art. 20 EU-GRCh scheidet regelmäßig ebenso aus wie eine Verletzung des Rechts auf persönliche Freiheit gemäß Art. 6 EU-GRCh. Anderes gilt, wenn das Maß der Verlängerung des Freiheitsentzugs im konkreten Einzelfall unverhältnismäßig zu werden droht; es gilt ein Übermaßverbot, dessen Grenzen allerdings weit gezogen sind. Nach hier vertretener Auffassung muss bei dieser Abwägung die Wahrscheinlichkeit einer früheren bedingten Entlassung bei hypothetischer Anwendung des Rechts des Urteilsstaates berücksichtigt werden. Hier spielen sowohl rechtliche als auch tatsächliche Faktoren eine Rolle. Besonders gewichtig zu Gunsten des Verurteilten muss berücksichtigt werden, wenn das Recht des Urteilsstaates von einer zwingenden vorzeitigen Entlassung ausgeht, bei der gerade keine Resozialisierungsprognose anzustellen gewesen wäre.19 Auch aus dem Prinzip des Vertrauensschutzes lässt sich kein genereller Anspruch auf die Anwendung einer günstigeren Regelung der bedingten Entlassung im Recht des Urteilsstaates durch den Vollstreckungsstaat ableiten. Vielmehr bedarf es bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte einer entsprechenden Einzelfallprüfung durch den Urteilsstaat. Ist im Ausnahmefall von einer drohenden Verletzung des Gleichheitssatzes oder des Rechts auf persönliche Freiheit auszugehen oder liegt im Einzelfall ein schutzwürdiges Vertrauen in die (sinngemäße) Anwendung der Regelungen des Urteilsstaates zu bedingten Entlassung vor, so sind die beteiligten Staaten gehalten, etwa von der in Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI vorgesehenen Möglichkeit einer entsprechenden Vereinbarung Gebrauch zu machen. Gilt schon kein generelles Verschlechterungsverbot im Hinblick auf das Maß der de facto zu verbüßenden Strafe, so lässt sich a majore ad minus auch kein 18 19
Ausführlich dazu oben Teil 1 Kapitel 3 I.IV.4. Siehe dazu oben Teil 1 Kapitel 3 I.IV.1.
D. Gefahr systemwidriger Beeinflussung tatsächlicher Strafverbüßung
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zwingendes Meistbegünstigungsprinzip begründen, nachdem die jeweils günstigeren Regelungen des Rechts der bedingten Entlassung des Urteils- bzw. des Vollstreckungsstaates zur Anwendung kommen müssen. Im Ergebnis wurde in der vorliegenden Studie gefordert, dass es nicht weitgehend pauschal zu einer Anwendung der vollstreckungsstaatlichen Regelungen des Rechts auf bedingte Entlassung kommen sollte. Vielmehr ist soweit als möglich von der Regelung des Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI Gebrauch zu machen, damit allenfalls günstigere Regelungen des Urteilsstaates zur bedingten Entlassung (bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen) auch bei Vollstreckungsüberstellung im Vollstreckungsstaat zur Anwendung gelangen.20 III. Analyse der Neuregelung und Schlussfolgerungen: Anordnung der zeitlichen, nicht inhaltlichen Meistbegünstigung durch § 84k Abs. 1 Satz 3 IRG 1. Bei Umsetzung des RB 2008/909/JI hat sich der deutsche Gesetzgeber in eingeschränkter Wahrnehmung der durch Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI eröffneten Möglichkeit für eine nur teilweise Implementierung einer Meistbegünstigungsregelung entschieden. § 84k Abs. 1 S. 3 IRG ordnet an, dass bei der übernommenen Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Sanktion die Entscheidung über eine Aussetzung zur Bewährung bereits zu dem Zeitpunkt zu treffen ist, zu dem die verurteilte Person bei einer fortwährenden Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat nach dessen Recht einen Anspruch auf Prüfung der Aussetzung zur Bewährung hätte. 2. Inhaltlich ist die Entscheidung zwingend nach den Vorschriften des deutschen Strafgesetzbuches zu treffen, wie sich aus § 84k Abs. 1 S. 2 IRG ergibt. Damit wird die durch Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI gebotene Möglichkeit einer Anordnung der Anwendung meistbegünstigenden Regeln zur Strafaussetzung zur Bewährung nur eingeschränkt genutzt. Denn Art. 17 Abs. 4 RB 2008/909/JI erlaubt in Abweichung von der generellen Anordnung der Anwendung des Vollstreckungsrechts des Vollstreckungsstaates die Anordnung der Berücksichtigung solcher Vorschriften des Ausstellungs- bzw. Urteilsstaates, „nach denen die betreffende Person zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Anspruch auf vorzeitige oder bedingte Entlassung hat“. Dies schließt nicht nur für den Verurteilten günstigere Regelungen des Zeitpunkts der Entscheidung über eine Strafaussetzung der Bewährung ein, sondern würde es auch erlauben, für den Verurteilten günstigere inhaltliche Kriterien der Entscheidung zur Anwendung zu bringen.21 3. Zwar ist die Anordnung der Berücksichtigung des für den Verurteilten günstigeren Zeitpunkts der Entscheidung zu begrüßen. Obwohl ein allgemeiner und 20 21
Teil 1 Kapitel 3 I.IV.4. Näher dazu oben Teil 1 Kapitel 3 I.IV.3.
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zwingender Anspruch auf umfassende Meistbegünstigung, wie gezeigt, nicht herzuleiten ist, bleibt die bewusste, auch pragmatischen Erwägungen22 geschuldete Entscheidung des Gesetzgebers23 für die völlige Außerachtlassung inhaltlich günstigerer Regelungen des Urteilsstaates aber kritisch zu betrachten. Sie birgt die Gefahr unverhältnismäßiger Ergebnisse im Einzelfall gerade in jenen Fällen, in denen die Sanktion von einem Urteilsstaat ausgesprochen wurde, in dem ein System zwingender bedingter Entlassung besteht, die Voraussetzungen der deutschen Regelungen zur Strafaussetzung zur Bewährung jedoch nicht erfüllt sind. Der Gesetzgeber verweist allerdings als Möglichkeit zur Vermeidung unverhältnismäßiger, wie gezeigt im extremen Einzelfall auch dem Grundrecht auf persönliche Freiheit widersprechender24 Härtefälle auf die Möglichkeit eines Ausgleichs etwa durch Gnadenentscheidung des Urteils- oder Vollstreckungsstaates.25
E. Absicherung des Resozialisierungsziels der Vollstreckungshilfe I. Resozialisierungsziel der Vollstreckungshilfe In der vorliegenden Studie wurde gezeigt, dass mit der Vollstreckungshilfe grundsätzlich zwei Zielsetzungen verbunden sind, die im Einzelfall unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Es sind diese das Ziel verbesserter Resozialisierungschancen sowie das Ziel der Sanktionsdurchsetzung.26 Beide Ziele liegen auch dem Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung zugrunde.27 Bei diesem tritt jedoch auch die als Teilziel der Gewährleistung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ausgestaltete Implementierung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung strafjustitieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU hinzu.28 Dabei konnte gezeigt werden, dass das Primat des Resozialisierungsziels sich zwingende Folge aus dem unionsrechtlichen Raumziel der Sicherheit ableiten lässt.29 Die verfassungsrechtliche Fundierung und Bedeutung des Resozialisierungsziel wurde ebenso nachgewiesen.30 22 Namentlich etwa fehlende Kenntnis des ausländischen Vollstreckungsrechts und der ausländischen Vollstreckungspraxis durch das deutsche Vollstreckungsgericht, BRDrucks. 24/15, S. 36 (166). 23 BR-Drucks. 24/15, S. 36 (166 f.). 24 Vgl. oben Teil 1 Kapitel 3 I.IV.4.c). 25 BR-Drucks. 24/15, S. 36 (167). 26 Vgl. insbesondere Teil 1 Kapitel 1 B.IV. 27 Vgl. oben Teil 1 Kapitel 3 B.I. und II. 28 Vgl. oben Teil 1 Kapitel 3 B.III. sowie Teil 2 Kapitel 1 D.I.2.c). 29 Vgl. oben Teil 3 D.II. 30 Vgl. oben Teil 1 Kapitel 1 A.IV.2.d).
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II. Beachtung des Resozialisierungsziels bei Vollstreckungshilfeleistung durch die Bundesrepublik Deutschland 1. Für eine Vollstreckungshilfeleistung seitens der Bundesrepublik Deutschland durch Übernahme der Vollstreckung von einem anderen Mitgliedstaat verhängter freiheitsentziehender Sanktionen finden sich in den Neuregelungen keine ausdrücklichen Regelungen, die auf das in Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 2 RB 2008/909/JI ausdrücklich angesprochene Ziel der Verbesserung der Resozialisierungschancen durch Vollstreckungsübertragung Bezug nehmen. Vielmehr übernimmt der deutsche Gesetzgeber die bereits im Rahmenbeschluss angelegte weitgehend pauschalisierende Beurteilung der Resozialisierungschancen nach Fallgruppen.31 Jedoch ergibt sich schon aus dem in § 84 Abs. 1 IRG verankerten Verweis auf den unionsrechtlichen Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung, dass für die Auslegung und Anwendung der in den §§ 84 ff. IRG verankerten Umsetzungsregelungen dieses Ziel des Rahmenbeschlusses in Bezug zu nehmen ist.32 2. Entsprechend der sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustitieller Entscheidungen durch den RB 2008/ 909/JI verbleibt für die deutschen Behörden außerhalb der Bewilligungshindernisse des § 84d IRG, dort insbesondere Nr. 2 und 4, kein Ermessensspielraum für die eigenständige Berücksichtigung der Resozialisierungschancen. Art. 4 Abs. 4 RB 2008/909/JI sieht die Möglichkeit des avisierten Vollstreckungsstaates vor, im Rahmen eines Konsultationsmechanismus der zuständigen Behörde des Urteilsstaates eine mit Gründen versehene Stellungnahme zu übermitteln, „wonach die Vollstreckung der Sanktion im Vollstreckungsstaat nicht der Erleichterung der Resozialisierung und der erfolgreichen Wiedereingliederung der verurteilten Person in die Gesellschaft dienen würde.“ Eine gesetzliche Regelung dazu wurde im Rahmen der §§ 84 ff. IRG nicht getroffen. Vielmehr ist eine Ausgestaltung dieses Verfahrens in den RiVASt beabsichtigt.33 Allerdings wäre aufgrund der stärkeren Signalwirkung, die von einer expliziten gesetzlichen Regelung des Mechanismus für das Beachtung des Rahmenbeschlussziels verbesserter Resozialisierungschancen eine solche gesetzliche Verankerung vorzugswürdig gewesen.
31 Ausführlich dazu oben Teil 1 Kapitel 3 G. sowie K. sowie zur Bewertung Teil 3 D.I. Zur Umsetzung siehe § 84a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 IRG sowie § 84e IRG. 32 Vgl. zur Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung oben Teil 2 Kapitel 1 F.IV. 33 BR-Drucks. 24/15, S. 36 (43).
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III. Beachtung des Resozialisierungsziels bei Übertragung der Vollstreckung deutscher Erkenntnisse auf einen anderen Mitgliedstaat der EU 1. § 85 Abs. 1 IRG gestaltet die Einleitung der Übertragung der Vollstreckung deutscher Erkenntnisse als Ermessensentscheidung der Vollstreckungsbehörde nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung aus. Damit wird, vergleichbar § 84 Abs. 1 IRG, auch das Resozialisierungsziel des Rahmenbeschlusses in Bezug genommen. Gleich der Kritik an § 84 Abs. 1 IRG muss auch hier gelten, dass eine explizite Aufnahme des Resozialisierungsziels in den Gesetzestext vorzugswürdig gewesen wäre.34 2. Nach der sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung strafjustitieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU kommt dem Urteilsstaat die maßgebliche Initiativrolle zur Einleitung einer Vollstreckungsüberstellung und damit auch die Verantwortung für die Beachtung des Ziels verbesserter Resozialisierungschancen zu. Daher ist die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde als Ermessensbehörde ausgestaltet, für welche die Gesetzesbegründung die umfassende Berücksichtigung aller Für und Wider einer Verbesserung der Resozialisierungschancen durch Vollstreckungsübertragung fordert.35
34 In diesem Sinne auch Pkt. II.4. der Gemeinsamen Stellungnahme von Strafverteidigervereinigungen und Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereinen e. V. vom 21.10.2014, http://www.rav.de/fileadmin/user_upload/rav/Stellungnahmen/StN_zum_ RE_Gesetz_zur_Verbesserung_der_intern._Rechtshilfe.pdf (28.02.2016). 35 BR-Drucks. 24/15, S. 36 (171 ff.).
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Rahmenbeschluss 2008/909/JI (Quelle: http://eurlex.europa.eu, Europäische Union, 1998–2016)
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Sachwortverzeichnis Abwesenheitsverfahren 190, 288, 293, 298, 304 f., 309, 354, 360 ff. Adoption der Sanktion 99, 105, 147 f., 155, 157, 173 ff., 214, 235, 241, 281 Advocaten voor der Wereld-Urteil (EuGH) 196 ff., 314, 320, 336 Amnestierecht 148 f. Amsterdamer Vertrag 38, 165, 172, 253, 260 ff., 276 f., 281, 283, 316 ff., 378 Anerkennung, Grundsatz der gegenseitigen siehe auch Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; siehe auch Subsidiaritätsgrundsatz; siehe auch Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; siehe auch Vertrauen, Grundsatz des gegenseitigen – Geschichte 276 ff. – Optimierungsgebot 282 f., 385 – primärrechtliche Verankerung 274 ff., 385 – sekundärrechtliche Ausgestaltung 278 ff., 385 – Teilziel 282 f., 385 – Umsetzung durch Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung 183 – Verwirklichungsweg 282 f. Aufenthalt – aufenthaltsbeendigende Entscheidung 120 f., 152 f. – Aufenthaltsort 114, 126 f. – Aufenthaltsstaat 115 f., 142 f., 150, 154 f. – gewöhnlicher 127, 181, 200, 204, 369 – rechtlich verfestigter 205 f., 209, 311 f., 268 – und Vollzugslockerungen 123
– unionsrechtlich geschütztes Aufenthaltsrecht 264, 310 ff. Ausländer siehe auch Haftbedingungen – in Haft 116 ff., 130 ff. – Vollstreckungshilfezahlen 137 ff. Auslegung – primärrechtskonforme 251 ff., 303 ff., 355 f. – rahmenbeschlusskonforme 169, 314, 324, 327 ff., 378, 396 – verfassungskonforme 168 f., 207 f. Auslieferungsgegenrechte, Grundrechte als 74 ff., 80 ff. Ausstellungsstaat 184, 186 f., 191 ff., 207 ff., 214 ff., 237 ff., 305 f., 336, 341, 352 ff., 359 ff., 366 ff. Ausweisung 52, 118 f., 120 ff., 152, 204, 207, 210, 228, 233, 311 f. bedingte Entlassung siehe Entlassung, bedingte beiderseitige Strafbarkeit siehe Strafbarkeit, beiderseitige Bewilligungsentscheidung 81, 186 f., 241, 344, 376 Cardiff, Gipfel von 172, 276, 285 Cassis-Urteil (EuGH) 283 f., 287 ff. Dassonville-Urteil (EuGH) 284 Demokratieprinzip 40 f., 341, 345 Doppelbestrafungsverbot siehe Grundsatz des ne bis in idem Dritte Säule der EU 258 ff., 313 ff. EG-Vollstreckungsübereinkommen 154 ff.
452
Sachwortverzeichnis
Einzelermächtigung, Grundsatz der begrenzten 245 f. EMRK-Beitritt, Gutachten (EuGH) 305 Entlassung, bedingte 52 f., 89 f., 97 f., 101 f., 109 ff., 112 f., 174, 188, 217 ff., 220 ff., 225 ff., 287, 300 f., 383 f., 393 ff. EU-Haftbefehls-Gesetz-Urteil (BVerfG Europäischer Haftbefehl) 162, 200, 323, 335 ff., 343 f., 374 Europäische Vollstreckungsanordnung, Rahmenbeschluss siehe auch Adoption der Sanktion; siehe auch bedingte Entlassung – Auslegungsmaßstäbe 258 ff. – beiderseitige Strafbarkeit 193 ff. – Fallgruppendifferenzierung 204 ff. – Geltungs- und Anwendungsbereich 184 ff. – Initiativ- und Beteiligungsrechte 207 ff. – Rechtsgrundlage 244 ff. – Regelungsziele 183 f. – Resozialisierungschancen 183 f., 204 ff., 237 ff. – Terminologie 186 – Umsetzung 60, 86, 164 ff., 185 ff., 350, 376, 387 ff. – Versagungsgründe 352 ff., 386 European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics 133 ff. Exequatur 38, 51, 105, 147 f., 155 ff., 173 f., 241, 281 Freiheit, Recht auf persönliche 227, 232 ff., 242, 395 Freizügigkeitsrecht 56, 131, 150, 156, 171, 185, 206, 261 ff., 285 Gegenseitige Anerkennung siehe Anerkennung, Grundsatz der gegenseitigen Gegenseitigkeit, völkerrechtliches Prinzip der 68, 331, 332 ff., 371 Generalprävention 59, 93 f., 107 f., 223, 311
Gnadenrecht 148 f., 168, 219, 371, 395 Grünbuch KOM Vollstreckungshilfe (2004) 180 ff. Haftbedingungen – Anrechnungsmaßstab 216 f. – Ausländer 116 ff., 128 ff., 257, 383 – unmenschliche, Art. 3 EMRK 99 ff., 163, 306 Haftzahlen siehe auch European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics; siehe auch SPACE-Statistik – Ausländer 130 ff. – EU-Bürger im Ausland 130 ff. Hausarrest, elektronisch überwachter 99 Immunität 370 Initiativrecht siehe Rahmenbeschluss Europäische Vollstreckungsanordnung international-arbeitsteiliges Strafverfahren siehe Strafverfahren, internationalarbeitsteiliges Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Gesetz über die siehe Rechtshilfe Kompetenzausübungsmaßstab 269 f., 329 Konsultationserfordernisse 239 Krombach-Urteil (EuGH) 291 ff. Lebach-Urteil (BVerfG) 95 Lissabon-Entscheidung (BVerfG) 67 f., 91, 372, 386 Lissabonner Reformvertrag 47 f., 59, 165 f., 244 ff., 261 f., 267, 270 f., 276, 281, 309, 314 ff., 377 ff. Listendelikte 61, 196 ff., 242, 331, 359, 376, 382, 390 Maßnahmenprogramm Rat und KOM gegenseitige Anerkennung (2001) 177 ff., 278
Sachwortverzeichnis Meistbegünstigungsprinzip – Anspruch auf 224 ff. – weiches 224 f. – zeitliches 391 ff. – zwingendes 225 ff. Melloni-Urteil (EuGH) 251, 269, 304 f., 307 ff. Menschenwürde 95 f., 126, 208, 266 f., 291 f. Mindestverbüßungsdauer 110 f., 144, 219, 222, 253 f. Mitteilung der KOM gegenseitige Anerkennung (2000) 69, 173 ff., 197, 278 f. ne bis in idem, Grundsatz des 147, 159, 281, 284, 303, 354 ff., 382 Notbremsenmechanismus 269 ff., 296, 329 nullum crimen, nulla poena sine lege, Grundsatz des 62, 84, 332, 334 ff., 367, 377
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– unionsrechtlicher Rahmenbegriff 41, 47, 62, 271 ff., 289 ff., 294 ff., 303 ff., 325 f., 329, 377, 380, 385 ff., 390 ff. Passerelle-Klausel 315 f. Primärrecht 38, 47 f., 59, 163, 171, 187, 192, 248 ff., 252 ff., 258 ff.,273 f., 276, 282 ff., 295, 300 ff., 313 ff., 329, 355 f., 379 ff., 386, 393 Radu-Urteil (EuGH) 87, 192, 304 ff. Rahmenbeschluss siehe auch Auslegung, rahmenbeschlusskonforme; siehe auch Europäischer Haftbefehl, Rahmenbeschluss; siehe auch Europäische Vollstreckungsanordnung, Rahmenbeschluss – Ablauf der Übergangsfrist Lissabonner Reformvertrag 47 ff., 322 ff., 325 f., 330, 378 f. – Rechtsform 313 ff., 316 ff.
Omega-Urteil (EuGH) 291 f. ordre public siehe auch ordre public, europäischer; siehe auch ordre public, nationaler – und beiderseitige Strafbarkeit 42, 50, 57 f., 83, 165 ff., 372 ff., 388 ff. – Vorbehalt, § 73 IRG 49, 57, 60, 62, 82, 159, 160 ff., 290, 307, 342, 364, 379, 393 ordre public, europäischer 57, 160 ff., 191, 289 ff., 385 ordre public, nationaler – innerstaatliches Verfassungsrecht 63, 71, 80 ff., 146 f., 157, 160 ff., 168 ff., 359, 376, 391, 386 – Missbrauchskontrolle 301 ff. – Prüfungsintensität und -maßstab 83 ff. – Schutzbedarf bei Europäischer Vollstreckungsanordnung 372 – thesenartige Zusammenfassung 397 ff. – unionsrechtliche Ableitung 62, 244, 271 ff.
– Vorrangdiskussion 313 ff. Rahmenbeschluss Freiheitsstrafen siehe Europäische Vollstreckungsanordnung, Rahmenbeschluss Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 39, 56, 58, 62, 70, 172, 243, 256 f., 258 ff., 282, 316, 328, 383, 385, 396 Rechtshilfe siehe auch Auslieferungsgegenrechte; siehe auch beiderseitige Strafbarkeit, Grundsatz der; siehe auch ordre public; siehe auch Strafverfahren, international-arbeitsteiliges; siehe auch Vollzugsaktstheorie, dreidimensionale; siehe auch Wertegemeinschaft – Außen- und Innenverhältnis 71 ff. – Rechtshilfe in Strafsachen, Gesetz über die Internationale 48 f., 60 f., 86, 157 ff., 199 f., 388 ff. – völkerrechtliche Betrachtungsweise, zweidimensionale 75 f.
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Sachwortverzeichnis
Resozialisierungschancen – Beurteilung 47, 58 f., 64, 104, 114, 146, 153, 179, 194, 223 ff., 237 ff., 311, 340, 349, 354, 370, 389, 394 – Fallgruppendifferenzierung 173, 179, 192, 204 ff. Resozialisierungserschwernisse 54 f., 116 ff. Resozialisierungsziel siehe auch Lebach-Urteil (BVerfG); siehe auch Resozialisierungschancen; siehe auch Sanktionsdurchsetzungsziel – Rahmenbeschluss europäische Vollstreckungsanordnung 45, 47, 173, 183 f., 221 ff., 375 f., 382 ff. – Strafvollzug 59, 92, 95 ff., 110 – subjektives Recht 145 f., 207 ff. – Umsetzungsrecht 396 ff. Sanktionsdurchsetzungsziel 45, 59, 115, 137, 151, 155 f., 173 ff., 179, 182, 183, 220 ff., 254, 256, 264, 374 ff., 396 Schengener Durchführungsübereinkommen 48, 67, 72, 151 ff., 263, 281 schuldangemessene Strafe siehe Strafe, schuldangemessene Schuldausgleich 59, 91 f., 95 f., 104, 106 ff., 113 Schuldprinzip 91 f., 299, 372 f., 387 SPACE-Statistik 135 Spezialität, Grundsatz der 371 Spezialprävention 92 f., 104, 109 Staatsangehörige, eigene 46, 115, 143, 150 ff., 179, 181, 199, 205 f., 209 ff., 264, 336, 348, 369, 375 Staatssouveränität 37, 40, 178, 245, 332, 352, 354, 367 Strafanwendungsrecht 57, 343, 347 ff., 377 Strafaussetzung zur Bewährung siehe Entlassung, bedingte Strafbarkeit, beiderseitige – als Rechtshilfevoraussetzung 61 f., 143, 154 ff., 175 f., 193 ff., 242, 329, 359, 386, 390 ff.
– und ordre public 42, 57 f., 83, 165 ff., 372 ff., 390 ff. – Verhältnis zu Art. 104 GG 344 f. – Verhältnis zu Demokratieprinzip 345 – Verhältnis zu nullum crimen, nulla poena sine lege 334 ff. – Verhältnis zu völkerrechtlichem Gegenseitigkeitsprinzip 332 f. – Verzicht auf das Erfordernis 46 f., 175 f., 193 ff., 280 ff., 331 ff., 350, 376, 386, 390 ff. Strafe, schuldangemessene 97 f., 106 ff., 110, 112, 217, 300, 372 Strafmündigkeit 370 Strafrecht, internationales siehe Strafanwendungsrecht Strafunmündigkeit 370 Strafverfahren, international-arbeitsteiliges 41, 49 ff., 62, 66 f., 74, 80, 195, 228, 335, 338, 340 ff., 377, 380, 387 Strafvollstreckungsrecht 50, 52 ff., 90, 98, 101 f., 106, 113, 141, 148, 208, 225, 237, 242, 268, 287 Strafvollzugsrecht 40, 103, 116, 127, 233, 296, 300 f. Strafvollzugsziel 41, 55, 59, 88, 90, 95 ff., 103, 214 ff. Strafzwecke siehe auch Generalprävention; siehe auch Schuldausgleich; siehe auch Spezialprävention; siehe auch Strafvollzugsziel – präventive 92 ff., 104, 107 f. – retributive 94, 104, 107 f. Subsidiarität 60, 62, 130, 243, 245, 252 ff., 282, 328 Tampere-Programm 56, 174, 177, 247, 276 ff., 281, 283 Territorialitätsprinzip 348, 367 Überstellungsübereinkommen, Europäisches (1983) 46, 48 f., 52, 60, 90, 104 f., 141 ff., 164, 179, 182, 193, 209 ff., 234 f., 241, 255, 297, 328
Sachwortverzeichnis Unionskompetenz 40, 229 f., 243, 245 ff., 258 ff., 271 f., 274 ff., 328, 378, 383, 385 Verhältnismäßigkeit 44, 62, 89, 129, 231 f., 243, 245, 252, 257 ff., 292, 311, 344, 372 Verjährung 357 siehe auch Vollstreckungsverjährung Vertrauen, Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens 40, 69 f., 149, 174 f., 188, 196, 216, 279, 285 ff., 297, 302, 306, 384 Vertrauensschutz 61, 227 f., 236, 242, 394 Vollstreckungshilfe siehe auch EG-Vollstreckungsübereinkommen; siehe auch Europäische Vollstreckungsanordnung, Rahmenbeschluss; siehe auch Haftbedingungen; siehe auch Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Gesetz über die; siehe auch Schengener Durchführungsübereinkommen; siehe auch Überstellungsübereinkommen, Europäisches (1983);
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siehe auch Zusatzprotokoll Europarat, Überstellungsübereinkommen – Ermessensentscheidung 145 f., 150, 164, 186, 192 f., 207 ff., 239, 300, 354 ff., 371, 382, 397 f. – Gesetzes- und Richtervorbehalt 85 ff. Vollstreckungsverjährung 118, 147, 368 ff. Vollzugsaktstheorie, dreidimensionale 76 ff. siehe auch Rechtshilfe Vollzugsbelastungen 65, 115 ff., 128 ff. Vollzugsformen 56, 99 Vorabentscheidungsverfahren 168, 302, 319 ff., 381 Wertegemeinschaft 41, 68 ff., 98, 201, 265 ff., 279, 339 f. Wohnsitz 46, 122 f., 129 ff., 131, 173, 179 ff., 210, 281, 375 Zulässigkeitsentscheidung 344 Zusatzprotokoll Europarat, Überstellungsübereinkommen 48, 72, 142, 152 f., 234