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German Pages 109 Year 2004
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 32
ECKART KLEIN CHRISTIAN HACKE · BERND GRZESZICK
Der Terror, der Staat und das Recht Herausgegeben von JOSEF ISENSEE
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
E. Klein · Ch. Hacke · B. Grzeszick
Der Terror, der Staat und das Recht
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 32
ECKART KLEIN CHRISTIAN HACKE · BERND GRZESZICK
Der Terror, der Staat und das Recht
Herausgegeben von JOSEF ISENSEE
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 3-428-11127-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort des Herausgebers Nach dem 11. September 2001 werde nichts mehr sein, wie es vorher gewesen, so hieß es allenthalben unter dem unmittelbaren Eindruck der Terroranschläge auf die Vereinigten Staaten. Nun haben sich die Rauchwolken des Schreckens verzogen, doch Klarheit hat sich damit noch nicht eingestellt. Für die USA war es eine neue Erfahrung, daß sie in ihrem eigenen Territorium nicht mehr unangreifbar sind. Die Ozeane, die sie von fremden Kontinenten trennen, schützen nicht vor dem weltweit mobilen Terrorismus, der an jedem Ort zuschlagen kann. Die militärische und technische Überlegenheit wird zuschanden angesichts der primitiven Waffen, deren sich die einzelnen Kämpfer bedienen. Das bisherige Sicherheitsgefühl der heute einzigen Weltmacht ist zusammengebrochen. Das bedeutet, aus der Distanz des Alten Europa gesehen, noch keinen grundstürzenden Wandel, sondern eher den Übergang zur Normalität. Denn jeder Staat lebt in zumindest latenter Gefahr für seine Existenz und ist darauf angewiesen, sich so zu verhalten, daß sich die Gefahr nicht realisiert, und so zu organisieren, daß er, wenn sie eintritt, bestehen kann. Freilich macht es einen Unterschied, ob ein Kleinstaat sich bedroht fühlt oder eine Weltmacht. Deren Befindlichkeit wirkt sich auf alle anderen Staaten aus, die zu ihr in Beziehung stehen, gleich, ob diese freundlich oder feindlich ist. Mit dem Sicherheitsgefühl kann die Grundgelassenheit im Gebrauch der politischen wie der militärischen Mittel verlorengehen. Terrorismus als solcher ist nicht neu. Er hat sich auch zu anderen Zeiten geregt. Doch in den Händen des Islamismus gewinnt er eine Qualität und Quantität, die alle bisherigen Erfahrungen und Vorstellungen übersteigt. Er kann zum Fanal
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Vorwort des Herausgebers
werden für den Weltkrieg der Kulturen, der des Islams gegen den Westen. Der Terrorismus fügt sich nicht in die Kategorien des staatlichen und des internationalen Rechts und droht, ihr Normensystem zu sprengen. Der Verfassungsstaat und die Staatengemeinschaft stehen vor einer Bewährungsprobe ohnegleichen, ihre Macht gegenüber dem Terror zu behaupten und zugleich die Werte zu wahren, auf denen sie gründen: Sicherheit, Freiheit und Recht. Das Problem wird in den hier vereinten Abhandlungen aus der Sicht der Völkerrechtslehre, der Politischen Wissenschaften und der Staatsrechtslehre betrachtet. Sie sind hervorgegangen aus Referaten vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft auf ihrer Generalversammlung in Erfurt am 30. September 2002. Das Rahmenthema lautete: „Nach dem 11. September 2001 – die Staatsund Völkerrechtsordnung angesichts des Terrorismus“. Bonn, im September 2003 Josef Isensee
Inhalt Die Herausforderung durch den internationalen Terrorismus – hört hier das Völkerrecht auf? Von Professor Dr. Eckart Klein, Potsdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Weltordnungspolitik nach dem 11. September: Die deutsch-amerikanischen Beziehungen im Zeichen des Krieges gegen den Terror und der Irak-Krise Von Professor Dr. Christian Hacke, Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Staat und Terrorismus. Eine staatstheoretische Überlegung in praktischer Absicht Von Professor Dr. Bernd Grzeszick, Münster . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nachwort: Der Terror und der Staat, dem das Leben lieb ist Von Professor Dr. Josef Isensee, Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Herausforderung durch den internationalen Terrorismus – Hört hier das Völkerrecht auf?* Von Eckart Klein, Potsdam I. Einleitung Daß der internationale Terrorismus eine seit langem bestehende Geißel der Menschheit ist, ist angesichts der Ereignisse vom September 2001 ganz zu Unrecht in den Hintergrund getreten. Man sollte zum Beispiel nur an die Ermordung des österreichischen Thronfolgers 1914 in Sarajewo denken, die nicht etwa von einem einzelnen Anarchisten geplant und durchgeführt wurde, sondern hinter der organisatorisch die „Serbische Union“ oder „Todesgesellschaft“ (oder – populär – „Schwarze Hand“) stand1, um sich der Konsequenzen bewußt zu sein, die terroristische Anschläge haben können. Von derartigen Aktionen, die auf bestimmte Persönlichkeiten als Repräsentanten eines Staates, einer Partei, einer Gesellschaft zielen, unterscheiden sich andere, moderne Formen des Terrorismus. Häufig sind die Opfer von Flugzeugentführungen und Geiselnahmen nicht das eigentliche Ziel, sondern nur mehr oder weniger zufällige Instrumente, mit denen die eigenen Vorstellungen (z. B. Häftlingsfreipressung) durchgesetzt werden sollen2. Der Schrecken, der Terror, wird gerade durch die * Frau Dr. Stefanie Schmahl, LL.M., bin ich für Diskussionen und ihre Hilfe bei der Erstellung der Fußnoten sehr dankbar. 1 Hans-Joachim Heintze, Ächtung des Terrorismus durch das Völkerrecht, in: Hans Frank / Kai Hirschmann (Hrsg.), Die weltweite Gefahr. Terrorismus als internationale Herausforderung, 2002, S. 67 (70). 2 Vgl. Berthold Meyer, Die innere Gefährdung des demokratischen Friedens – Staatliche Terrorismusabwehr als Balanceakt zwischen Sicherheit und
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Zufälligkeit, Opfer solcher Aktionen zu werden, geschaffen und verbreitet. Die internationale Basis, von der aus die z. T. finanziell stark abgesicherten Terrorgruppen mit Hilfe der modernen Kommunikationsmittel agieren können, verstärkt das Gefühl der Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertseins. Der 11. September 2001 brachte dies – selbst wieder mit Hilfe der Kommunikationstechnik – in einer bislang nicht gekannten Weise in das allgemeine Bewußtsein. Der Symbolwert New York zog nicht nur die Terroristen an, sondern war auch für den Betrachter von besonderer Aussagekraft3. Kaum einer weiß heute demgegenüber noch das genaue Datum der Anschläge in Nairobi und Daressalam zu nennen, obgleich auch dort Hunderte getötet und Tausende verletzt wurden4. Der Ort New York, die Art und Weise der Durchführung der Terrorakte und die Zahl der Opfer bilden in der Tat einen bisherigen Kulminationspunkt, der den 11. September als Zäsur erscheinen läßt. Es gehört zu den Eigenheiten der Terrorismusdebatte, daß man wegen des Fehlens einer allseits anerkannten Definition nicht ganz genau weiß, wovon man spricht5. Jeder Versuch eiFreiheit, in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.), Ground Zero. Friedenspolitik nach den Terroranschlägen auf die USA, 2002, S. 165 (167 f.). 3 Vgl. Jürgen Habermas, Fundamentalismus und Terror. Antworten auf Fragen zum 11. September 2001, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2 / 2002, S. 165 (167 f.). 4 Dies erkennen auch Thomas Jäger / Gerhard Kümmel, Internationale Sicherheit und der reale Stellenwert des Terrorismus, in: WeltTrends 32 (2001), S. 89. 5 Selbst das Übereinkommen zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge von 1997 (GV Res. 52 / 164 vom 15. 12. 1997), das erstmalig als eine Regelung angesehen werden darf, die nicht nur bei spezifischen Sachverhalten, sondern im Rahmen aller Lebensbereiche zur Anwendung gelangen kann (Christian Tomuschat, Der 11. September und seine rechtlichen Konsequenzen, in: EuGRZ 2001, S. 535 [537]), enthält sich einer Terrorismusdefinition. Es wählt allein die Tatsache des Bombenlegens im öffentlichen Raum zum Anknüpfungspunkt, vgl. Schmalenbach, Der internationale Terrorismus – Ein Definitionsversuch, in: NZWehrr 2000, S. 15 (17 f.).
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ner solchen eindeutigen Festlegung würde indes – zumindest aus heutiger Sicht – ein gemeinsames Vorgehen gegen den internationalen Terrorismus zum Scheitern bringen. Zu vielfältig sind die Situationen, Gründe und Absichten, aus denen heraus terroristische Akte verübt werden6. Gemeinsam mag ihnen sein, daß sie sich als besondere Form der Gewaltanwendung mit im weitesten Sinn politischer Zielsetzung präsentieren, als äußerste Stufe von Extremismus. Immerhin zeichnet sich ein Konsens über wesentliche Elemente einer Terrorismusdefinition ab. Danach handelt es sich um Aktionen, die darauf abzielen, den Tod oder schwere Verletzungen von Personen herbeizuführen, die nicht aktiv in bewaffnete Konflikte involviert sind, um damit die Öffentlichkeit, eine Regierung oder eine internationale Organisation aus politischen Gründen einzuschüchtern7. Für solche Aktionen soll eine Rechtfertigung unter keinen Umständen gegeben sein, gleichviel welche politischen, weltanschaulichen, ideologischen, rassischen, ethnischen, religiösen oder sonstigen Erwägungen geltend gemacht werden. Im folgenden geht es nicht um den „Staatsterrorismus“. Nicht, daß es ihn nicht gäbe8. Vielmehr existiert er, solange 6 Hierzu aufschlußreich Kai Hirschmann, Internationaler Terrorismus gestern und heute: Entwicklungen, Ausrichtung, Ziele, in: Hans Frank / Kai Hirschmann (Hrsg.), Die weltweite Gefahr. Terrorismus als internationale Herausforderung, 2002, S. 27 (35). 7 Zu einer generellen internationalen Definition des Terrorismus kam es erstmals in Art. 2 Abs. 1 lit. b) des Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus (GV Res. 54 / 109 vom 09. 12. 1999). Da Gegenstand der Zusammenarbeit hier nicht die Bekämpfung spezifischer Erscheinungsformen des Terrorismus ist, sondern die Austrocknung seiner finanziellen Basis, war eine generelle Definition erforderlich. Vgl. auch die Definition in Art. 1 des Rahmenbeschlusses des Rates der EU vom 13. 06. 2002 zur Bekämpfung des Terrorismus, ABl. EG vom 22. 06. 2002 L 164 S. 3 ff. 8 Von der Terrorismusdefinition in Art. 2 Abs. 1 lit. b) des Finanzierungsübereinkommens ist auch der Staatsterrorismus erfaßt. Dies verdeutlichen unter anderem die Erwägungsgründe 4 bis 6 der Präambel. Vgl. auch Axel Wüstenhagen, Die Vereinten Nationen und der internationale Terrorismus – Versuch einer Chronologie, in: Sabine von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO, 2002, S. 101 (115).
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es organisierte – staatliche – Gemeinschaften gibt. Zahllose Fälle wären aus der Geschichte zu nennen, in denen mit Hilfe der staatlichen Gewalt die eigenen Bürger terrorisiert wurden. Gerade das 20. Jahrhundert ist reich an noch der Erinnerung präsenten Beispielen, doch eben keineswegs das einzige. Die zweite Phase der Französischen Revolution, die Schrekkensherrschaft von Robespierre und Saint-Just, hat den Begriff „la terreur“ in den politischen Sprachgebrauch eingeführt9. Aus heutiger völkerrechtlicher Sicht bietet der Staatsterrorismus mit einer wichtigen Ausnahme keine grundsätzlichen Probleme mehr. Der Schutz der Menschen auch und gerade gegen die eigene Staatsgewalt wird durch die für die Staaten verbindlichen Menschenrechte wahrgenommen. Verstöße hiergegen sind nicht mehr als innerstaatliche Angelegenheiten zu qualifizieren, sondern können von allen anderen Staaten angemahnt und eingefordert werden10. Das allgemein anerkannte, freilich zu schwache Arsenal der Durchsetzungsmöglichkeiten von Völkerrechtsnormen steht zur Verfügung. Schwere Menschenrechtsverletzungen hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit bezeichnet und damit das Tor zum Ergreifen von Zwangsmaßnahmen der Staatengemeinschaft gegen den menschenrechtsverletzenden Staat geöffnet11. Nach richtigem, doch nicht unbestrittenem Verständnis sind bei Versagen des Sicherheitsrats unter bestimmten Voraussetzungen auch einzelne Staaten zur bewaffneten humanitären Intervention – wie im Kosovo – befugt12. Auch die staatliche Hirschmann (N 6), S. 31; Heintze (N 1), S. 70. Vgl. ICJ Rep. 1970, S. 3 (in Rz. 33) – Barcelona Traction, sowie Karl Doehring, Völkerrecht, 1999, Rn. 1014; Jost Delbrück, Effektivität des UN-Gewaltverbots, in: Friedens-Warte (74) 1999, S. 139 (153); Eckart Klein, Menschenrechte. Stille Revolution des Völkerrechts, 1997, S. 23 ff. 11 Vgl. SR Res. 794 vom 03. 12. 1992 (Somalia); SR Res. 929 vom 22. 06. 1994 (Ruanda); SR Res. 1199 vom 23. 09. 1998 (Kosovo); SR Res. 1264 vom 15. 09. 1999 (Osttimor). 9
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Immunität bildet für Staatsorgane, sogar für Staatsoberhäupter, keinen Schutzschild mehr gegen ihre persönliche strafrechtliche internationale Verantwortlichkeit (Pinochet, Milosevic)13. Hier handelt es sich zwar gleichfalls um neue völkerrechtliche Entwicklungen, doch sind sie schon vielfach analysiert worden14. Der von nichtstaatlichen Akteuren praktizierte internationale Terrorismus bietet hingegen ganz neue Herausforderungen, die primär darin begründet liegen, daß das Völkerrecht als vor allem zwischenstaatliches Recht Rechtsregeln entwickelt hat, die die Beziehungen zwischen Staaten regeln15. Daher kommt es, daß die zentralen Begriffe des Völkerrechts wie Frieden, Krieg, Gewaltverbot und 12 Vgl. etwa Doehring (N 10), Rn. 1015; Delbrück (N 10), S. 152 f.; Christopher Greenwood, Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?, in: EA 1993, S. 93 (104 ff.); Eckart Klein / Stefanie Schmahl, Die neue NATO-Strategie und ihre völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Implikationen, in: RuP 1999, S. 198 (203). Anders Ulrich Beyerlin, Humanitarian Intervention, in: Bernhardt (Hrsg.), in: EPIL 1995, Vol. II, S. 926 ff.; Bruno Simma, NATO, the UN and the Use of Force: Legal Aspects, in: EJIL 10 (1999), S. 1 (11); Antonio Cassese, Ex iniuria ius non oritur, in: EJIL 10 (1999), S. 23 ff.; Alain Pellet, Brief Remarks on the Unilateral Use of Force, in: EJIL 11 (2000), S. 385 ff. Zusammenfassend Christine Gray, International Law and the Use of Force, Oxford 2000, S. 27 ff.; Nico Krisch, Review Essay. Legality, Morality and the Dilemma of Humanitarian Intervention after Kosovo, in: EJIL 13 (2002), S. 323 ff. – Der IGH hat sich zur Zulässigkeit der humanitären Intervention im Kosovo inhaltlich nicht geäußert, vgl. ICJ Rep. 1999, S. 124 ff. – Legality of Use of Force. 13 Vgl. House of Lords, Urteil vom 24. 03. 1999, ILM 38 (1999) 581 – Pinochet. Seit dem 12. 02. 2002 verhandelt das UN-Strafgericht für das ehemalige Jugoslawien gegen den ehemaligen Präsidenten Milosevic, vgl. ICTY, IT-02 – 54 – Milosevic; www.un.org / icty / milosevic.html. Auch Art. 27 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (in Kraft seit 01. 07. 2002; deutsche Übersetzung des Textes in BGBl. 2000 II S. 1394) schließt den Immunitätseinwand gegenüber den im Statut genannten Verbrechen gegen das Völkerrecht aus. 14 Vgl. nur Ulf Häußler, Der Fall Pinochet: Das Völkerrecht auf dem Weg zu einem effektiven internationalen Menschenrechtsschutz, in: MRM 1999, S. 96 ff.; Wolfram Karl, Aktuelle Entwicklungen im Internationalen Menschenrechtsschutz, in: Waldemar Hummer (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Völkerrecht zur Jahrtausendwende, 2002, S. 275 (316 ff.); Kay Hailbronner, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2. Aufl. 2001, 3. Abschn., Rn. 49 ff. 15 Wolfgang Graf Vitzthum, in: ders. (N 14), 1. Abschn., Rn. 5.
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Selbstverteidigung sich auf das zwischenstaatliche Verhältnis beziehen, also Frieden und Krieg zwischen den Staaten und Selbstverteidigung eines Staates gegen einen anderen angreifenden Staat meinen. Ist das Völkerrecht in der Lage, über diesen Bereich hinauszugreifen? Oder hört es hier auf? Die Frage erinnert bewußt an das auf das Staatsrecht bezogene berühmte Diktum von Gerhard Anschütz. In der 1919 erschienenen 7. Auflage des von Georg Meyer begründeten „Lehrbuchs des Deutschen Staatsrechts“, welches das Recht des Kaiserreiches behandelte, erörtert Anschütz – der preußische Budget- und Verfassungskonflikt ist noch sehr präsent – das Problem, das daraus entsteht, daß sich die „Faktoren der Etatsfeststellung“ nicht einigen wollen und somit der Haushaltsgesetzentwurf (Budgetprovisorium) nicht zur Verabschiedung gelangt16. Die Verfassung selbst hält keine ausdrückliche Lösung bereit. Anschütz diskutiert die in der Literatur entfalteten Auffassungen und verwirft sie. Ein Staatsnotrecht, das ein Beiseiteschieben der Verfassungsschranken erlaube, gebe es nicht. Einerseits fordere die Verfassung kategorisch, daß die Finanzverwaltung stets weitergeführt werde, ebenso kategorisch binde sie aber die Finanzverwaltung an das Etatsgesetz. „Es liegt hier nicht sowohl eine Lücke im Gesetz (d. h. im Verfassungstext) als vielmehr eine Lücke im Recht vor, welche durch keinerlei rechtswissenschaftliche Begriffsoperationen ausgefüllt werden kann. Das Staatsrecht hört hier auf; die Frage, wie bei nicht vorhandenem Etatsgesetz zu verfahren sei, ist keine Rechtsfrage“17. Da aber das Staatsleben nicht stillstehen kann, wird – so die Annahme von Anschütz – außerrechtlich der handeln, der die Macht dazu hat18. Auf die völkerrechtliche Problematik gewendet geht es freilich nicht um die – wegen einer Rechtslücke – scheinbar nicht 16 Gerhard Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, S. 902 ff. 17 Anschütz (N 16), S. 906. 18 Anschütz (N 17), ebenda.
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auflösbare Kollision zweier zwingender Rechtssätze. Vielmehr geht es um die Frage, ob das prinzipiell staatenfixierte Völkerrecht Regeln auch zum Vorgehen gegen international agierende nichtstaatliche Terrororganisationen einschließlich ihrer militärischen Bekämpfung bereitstellt, überhaupt bereitzustellen in der Lage ist, oder ob es die Staaten bei ihren Reaktionen gegen nichtstaatliche Terrorgruppen in (völker-)rechtlicher Ungebundenheit läßt. Im folgenden ist diese Problematik unter dem Aspekt des Selbstverteidigungsrechts und der Menschenrechte zu erörtern. II. Die Resolutionspraxis der Vereinten Nationen Zuvor möchte ich jedoch die Beschäftigung der Vereinten Nationen mit dem Phänomen des internationalen Terrorismus untersuchen. Ich beschränke mich auf die Vereinten Nationen, da sie als universelle Organisation am ehesten geeignet sind, die globale Bedeutung des internationalen Terrorismus zu reflektieren. Es sei daher nur der Vollständigkeit halber bemerkt, daß auch auf regionaler Ebene Initiativen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus ergriffen worden sind, etwa vom Europarat19 oder der Arabischen Liga20. Dies und der folgende Überblick zeigen, daß der internationale Terrorismus sich keineswegs grundsätzlich dem Völkerrecht als Regelungsgegenstand entzieht. Anlaß zum Aufgreifen der Problematik durch die Vereinten Nationen war die Ende der sechziger Jahre plötzlich deutlich zunehmende Zahl terroristischer Akte, insbesondere Flugzeugentführungen und Geiselnahmen, von denen auch Diplomaten betroffen waren21. Insgesamt wurden zwischen 1968 und 19 Vgl. die Europäische Konvention zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. 01. 1977 (BGBl. 1978 II S. 322). 20 Vgl. die „Arab Convention on the Suppression of Terrorism“ vom 22. 04. 1998, http://www.ciaonet.org/cbr/cbr00/video/cbr_ctd/cbr_ctd_27.html. 21 Heintze (N 1), S. 71.
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1982 381 Diplomaten getötet, 824 bei Anschlägen verletzt sowie 38 Botschaften besetzt. Hiervon waren keineswegs nur westliche Länder betroffen. Daher war eine weitreichende Bereitschaft gegeben, sich dem Thema im Rahmen der Vereinten Nationen zuzuwenden. Man kann insgesamt drei Phasen der Behandlung durch die Generalversammlung und den Sicherheitsrat feststellen. Die erste Phase reicht bis etwa 1990. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß neben einer allgemeinen Verurteilung des Terrorismus von der Mehrheit der Generalversammlung der Ursachenforschung besonderes Gewicht beigelegt wurde. Der Titel, unter dem diese Frage diskutiert wurde, lautete: „Maßnahmen zur Verhinderung von internationalem Terrorismus, der das Leben unschuldiger Menschen bedroht oder vernichtet oder die Grundfreiheiten beeinträchtigt, sowie Untersuchung der tieferen Ursachen derjenigen Formen von Terrorismus und Gewaltakten, die in Elend, Enttäuschung, Leid und Verzweiflung wurzeln und manche Menschen dazu treiben, Menschenleben – einschließlich ihres eigenen – zu opfern, um radikale Veränderungen herbeizuführen“22. Wenn man sich vor Augen hält, daß in dieser Zeit der Kalte Krieg der bestimmende Faktor der Weltpolitik war, so wird klar, daß mit dieser Ursachenforschung vor allem der Zweck von Schuldzuweisungen verfolgt wurde, insbesondere an die Adresse der Kolonialmächte, des Apartheidstaates Südafrika und Israels23. Dementsprechend wurde der Befreiungskampf „mit allen verfügbaren Mitteln, einschließlich dem des bewaffneten Kampfes“, von der Generalversammlung für legitim erklärt, also dem verurteilten Bereich des Terrorismus a priori entzogen. Es verwundert nicht, daß sich dieser Versuch der Ursachenforschung 20 Jahre ergebnislos hinzog. 22 Vgl. GV Res. 3034 (XXVII) vom 18. 12. 1972; GV Res. 32 / 147 vom 16. 12. 1976; GV Res. 43 / 145 vom 17. 12. 1979; GV Res. 40 / 61 vom 09. 12. 1985. 23 So auch Tomuschat (N 5), S. 538.
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Allerdings gelang es, unter den Auspizien der Vereinten Nationen in dieser Phase einige wichtige Konventionen abzuschließen und in Kraft treten zu lassen, die spezifische Formen des internationalen Terrorismus betreffen. So wurden etwa bereits im Dezember 1970 das Haager Übereinkommen zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen24, im September 1971 das Übereinkommen von Montreal zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt25, im Dezember 1973 das Übereinkommen über die Verhütung, Verfolgung und Bestrafung von Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen einschließlich Diplomaten26 und im Dezember 1979 das Internationale Übereinkommen gegen Geiselnahme27 abgeschlossen. Diese Verträge sind von vielen, freilich keineswegs allen Staaten ratifiziert worden. Neben der Verpflichtung zur Zusammenarbeit und Prävention vereinbaren die Vertragsparteien, die im einzelnen beschriebenen Handlungen unter Strafe zu stellen oder die Auslieferung an einen Staat zu ermöglichen, der zur Strafverfolgung bereit ist („aut dedere aut iudicare“)28. Die zweite Phase ab 1990, befreit vom Eise des Kalten Krieges, konnte sich der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus direkter und ohne den Versuch von Schuldzuweisungen zuwenden. Diskutiert wird das Thema nun unter dem sehr viel schlichteren Titel „Maßnahmen zur Eliminierung des internationalen Terrorismus“29. In dieser zweiten Phase läßt 24 Vom 16. 12. 1970, UNTS vol. 860 (1973), S. 106 ff. = BGBl. 1972 II S. 1506. In Kraft seit 14. 10. 1971. 25 Vom 23. 09. 1971, UNTS vol. 974 (1975), S. 178 ff. = BGBl. 1977 II S. 1229. In Kraft seit 26. 01. 1973. 26 Vom 14. 12. 1973, UNTS vol. 1035 (1977), S. 167 ff. = BGBl. 1976 II S. 1746. In Kraft seit 20. 02. 1977. 27 Vom 17. 12. 1979, UNTS vol. 1316 (1983), S. 205 ff. = BGBl. 1980 II S. 1362. In Kraft seit 03. 06. 1983. 28 Vgl. etwa Art. 7 des Montrealer Übereinkommens von 1971 sowie Art. 8 Abs. 1 des Übereinkommens gegen Geiselnahme von 1979.
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sich einerseits zwar ein Rückgang der Zahl terroristischer Anschläge feststellen, andererseits stieg die Zahl der Toten oder Verletzten im Durchschnitt pro Anschlag erheblich an30. Schon 1989 erklärte J. D. Simon in einem Beitrag über „Terrorists and the Potential Use of Biological Weapons: A Discussion of Possibilities“: „In den letzten Jahren sahen sich Terroristen veranlaßt, dramatischere und brutalere Anschläge auszuführen, um das gleiche Maß an Publizität und staatlicher Reaktion zu erhalten, das kleinere Zwischenfälle früher schufen . . . Um im ,Wettbewerb‘ um das internationale Rampenlicht zu bestehen, sind in der Zukunft dramatischere Anschläge wahrscheinlich“31. In seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 21. September 1998 erklärte der amerikanische Präsident Clinton: „Terrorismus hat in den 1990er Jahren ein neues Gesicht erhalten. Die heutigen Terroristen machen sich die größere Offenheit und die explosionsartigen Entwicklungen in der Informations- und Waffentechnik zunutze. Die neuen Technologien des Terrors und ihre steigende Verfügbarkeit, gepaart mit einer steigenden Mobilität der Terroristen, schaffen beunruhigende Aussichten in bezug auf diese Verletzbarkeit gegenüber chemischen, biologischen und anderen Anschlägen und bringen so jeden von uns in die Rolle eines möglichen Opfers. Dies ist eine Bedrohung für die gesamte Menschheit“32.
29 Vgl. GV Res. 46 / 51 vom 09. 12. 1991; GV Res. 49 / 60 vom 09. 12. 1994; GV Res. 50 / 53 vom 11. 12. 1995; GV Res. 51 / 210 vom 17. 12. 1996. 30 Hans-Joachim Gießmann, Terrorismus mit staatlicher Duldung oder Förderung, in: Hans Frank / Kai Hirschmann (Hrsg.), Die weltweite Gefahr. Terrorismus als internationale Herausforderung, 2002, S. 279 (291). 31 J. D. Simon, „Terrorists and the Potential Use of Biological Weapons: A Discussion of Possibilities“, Santa Monica (California) 1989, S. 12. 32 Rede des Präsidenten der Vereinigten Staaten zur Eröffnungssitzung der 53. Generalversammlung der Vereinten Nationen, New York, 21. 09. 1998. Hierzu Hirschmann (N 6), S. 29 f.
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Vor diesem Hintergrund haben die Vereinten Nationen dem internationalen Terrorismus deutlicher als zuvor die Stirn geboten. In der im Konsens angenommenen „Erklärung über Maßnahmen zur Eliminierung des internationalen Terrorismus“ vom 9. Dezember 1994 (Res. 49 / 60 Annex) wird eine umfassende, nicht mehr von Ausflüchten eingeschränkte Verurteilung terroristischer Akte vorgenommen, gleichwie wo und von wem sie begangen werden. Kriminelle Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, eine breite Öffentlichkeit, einen bestimmten Personenkreis oder eine bestimmte Person zu politischen Zwecken in Schrecken zu versetzen, sind danach unter keinen Umständen zu rechtfertigen, gleichviel welche politischen, weltanschaulichen, ideologischen, rassischen, ethnischen, religiösen oder sonstigen Erwägungen zu ihrer Rechtfertigung geltend gemacht werden33. Festgestellt wird ferner, daß solche terroristischen Akte eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellen können und damit die primäre Verantwortung des Sicherheitsrats angesprochen ist (Res. 50 / 53)34. Der Sicherheitsrat hat in der Tat bereits 1992 wegen des Lockerbie-Anschlags (eine Bombenexplosion in einem Flugzeug über dem schottischen Ort Lockerbie, bei dem alle Passagiere ums Leben kamen) Zwangsmaßnahmen gegenüber Libyen verhängt, nachdem sich dieser Staat geweigert hatte, die beschuldigten Personen, zwei Libyer, zur Durchführung eines Strafverfahrens an die USA oder Großbritannien auszuliefern35. Seit dem Jahr 1998, dem Jahr der Bombenanschläge in Nairobi und Daressalam auf amerikanische Einrichtungen (7. August)36, hat sich der Sicherheitsrat immer wieder mit dieser 33 Vgl. auch GV Res. 50 / 53 vom 11. 12. 1995; GV Res. 51 / 210 vom 17. 12. 1996. 34 Vom 11. 12. 1995. 35 Vgl. SR Res. 731 (1992) vom 21. 01. 1992; SR Res. 748 (1992) vom 31. 03. 1992, sowie die Verschärfung der Sanktionen durch SR Res. 883 (1993). Zu der Problematik jüngst Stefanie Schmahl, Die „Rule of Law“ in den Vereinten Nationen, in: RuP 2001, S. 219 (222) m. w. N.
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Materie befaßt. Vor allem rückte Afghanistan ins Blickfeld, wo die von den Vereinten Nationen niemals als rechtmäßige Regierung anerkannten Taliban den größten Teil des Gebiets unter ihre Herrschaft gebracht hatten. Nicht nur wurden den Taliban selbst terroristische Akte vorgeworfen, so die Besetzung des iranischen Generalkonsulats und die Ermordung iranischer Diplomaten, sondern auch, daß sie das von ihnen kontrollierte Gebiet zur Beherbergung und Ausbildung von Terroristen und zur Planung terroristischer Handlungen benutzen ließen (Res. 1214 / 1998)37. In einer Sicherheitsratsresolution aus dem Jahr 1999 (Res. 1267)38 wurden die Taliban strikt aufgefordert, ihre Zusammenarbeit mit Terroristen zu beenden und Usama Bin Laden, gegen den von den USA wegen seiner Verwicklung in die Anschläge von Nairobi und Daressalam Anklage erhoben war, an einen Staat zu überstellen, der ein effektives Verfahren gegen ihn durchführen könne. Zusätzlich wurde gegen die Taliban ein für alle Staaten verbindliches Luftverkehrs- und Finanzmittelembargo beschlossen. Die Resolution 1333 (2000) vom 19. Dezember 2000 bestätigte diese Entscheidungen, also auch die Forderung nach der Übergabe Bin Ladens, und verhängte zusätzlich ein verbindliches Waffenembargo gegen die Taliban. Mit zwei weiteren von der Generalversammlung vorgelegten – allerdings erst kürzlich in Kraft getretenen – Übereinkommen wurde das vertragliche Netz, mit welchem dem Terrorismus Einhalt geboten werden soll, erneut enger geknüpft. Es handelt sich dabei um das 1997 beschlossene Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge39, mit dem eine umfassende Strafbarkeit für solche Vgl. SR Res. 1189 (1998) vom 13. 08. 1998. Vom 08. 12. 1998. 38 Vom 15. 10. 1999. 39 Vgl. GV Res. 52 / 164 vom 15. 12. 1997. Das Übereinkommen ist am 23. 05. 2001 in Kraft getreten. Die Bundesrepublik Deutschland hat das Übereinkommen am 05. 10. 2002 ratifiziert (BGBl. 2002 II S. 2506). 36 37
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Taten gesichert werden soll, und um das 1999 vereinbarte Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus40, das auf die weitverzweigten Finanzierungsmöglichkeiten, über die der internationale Terrorismus verfügt, reagiert. Auch hier geht es im wesentlichen um die Verpflichtung, solche Handlungen unter Strafe zu stellen, mit denen, unmittelbar oder mittelbar, widerrechtlich und vorsätzlich finanzielle Mittel bereitgestellt oder gesammelt werden in Kenntnis davon, daß diese zu Handlungen verwendet werden, die nach Maßgabe dieser Übereinkunft oder früherer Antiterrorabkommen Straftaten darstellen41. Man muß sich in diesem Zusammenhang vergegenwärtigen, daß etwa Al Qaida („Die Basis“) über erhebliche Geldquellen verfügt oder jedenfalls verfügte. Sie finanziert sich aus den privaten Ressourcen Bin Ladens sowie aus Erlösen der organisierten Kriminalität und Spenden für bestimmte muslimische Wohlfahrtsorganisationen. Bin Ladens terroristische Tätigkeiten begannen mit einem aus Erbschaft erworbenen Kapital von 300 Millionen US Dollar; 2001 wurde es auf über 5 Milliarden US Dollar geschätzt42. Es wird vermutet, daß ein hoher Anteil hiervon auf den Europäischen Geldmarkt gelangt ist43. Der Großteil der Gelder ist in – an sich – legalen Geschäftsaktivitäten und Transaktionen verborgen. Die Zerschlagung der finanziellen Basis terroristischer Organisationen ist sicher eine notwendige Bedingung für deren erfolgreiche Bekämpfung. Ohne eine in den Übereinkommen und den Sicherheitsratsresolutionen verlangte enge Kooperation der Staaten ist diese Aufgabe nicht 40 Vgl. GV Res. 54 / 109 vom 09. 12. 1999. Das Übereinkommen ist am 10. 04. 2002 in Kraft getreten. Die Bundesrepublik Deutschland hat das Übereinkommen am 20. 07. 2000 unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. 41 Vgl. Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus. 42 Rolf Tophoven, Neue terroristische Strukturen: Osama bin Laden und die „Al Qaida“, in: Hans Frank / Kai Hirschmann (Hrsg.), Die weltweite Gefahr. Terrorismus als internationale Herausforderung, 2002, S. 245 (249). 43 Tophoven (N 42), S. 258.
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zu leisten. Neuesten Berichten zufolge verfügt Al Qaida aber immer noch über ausreichende Liquidität44. Man kann mit gutem Grund mit dem 11. September 2001 die dritte Phase der internationalen Terrorismusbekämpfung beginnen lassen. Zwar stehen die seitdem gefaßten Entschließungen des Sicherheitsrats durchaus in der Kontinuität seiner schon zuvor ergangenen Resolutionen insoweit, als er diese Anschläge als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit qualifiziert, die Bestrafung oder Übergabe der hierfür Verantwortlichen und ihrer Helfer verlangt und die Einfrierung von Guthaben terroristischer Organisationen verbindlich fordert45. Ein neues Element ergibt sich jedoch aus der Hinzufügung in den Präambeln der jeweils einstimmig angenommenen Sicherheitsratsresolutionen vom 12. und 28. September 200146, in denen ausdrücklich auf das „naturgegebene Recht der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit der UN Charta“ hingewiesen wird47. Da die in Art. 51 SVN als „inherent right“ apostrophierte Selbstverteidigung zweifellos militärische Maßnahmen einschließt, stellt sich die Frage, ob damit entsprechende Aktionen aus dem zwischenstaatlichen Bezugsrahmen heraustreten können. Damit würde auch der Begriff des internationalen kriegerischen Konflikts eine neue Dimension erhalten. Daneben stellen sich weitere völkerrechtliche Fragen. Ihrer Erörterung möchte ich mich nunmehr zuwenden. 44 Vermutet wird, daß die Hintermänner von Al Qaida über mehr als 30 Millionen, möglicherweise gar über bis zu 300 Millionen Dollar verfügen, vgl. F.A.Z. vom 31. 08. 2002, S. 2. 45 Vgl. SR Res. 748 (1992) vom 31. 03. 1992 („Lockerbie“). 46 SR Res. 1368 (2001) vom 12. 09. 2001; SR Res. 1373 (2001) vom 28. 09. 2001. 47 Hierauf wird in beiden Resolutionen allerdings nur im Vorspruch, nicht im operativen Teil hingewiesen. Kritisch dazu Carsten Stahn, Security Council Resolutions 1368 (2001) and 1373 (2001): What They Say and What They Do Not Say, http://www.ejil.org/forum_WTC; Matthias Ruffert, Terrorismusbekämpfung zwischen Selbstverteidigung und kollektiver Sicherheit, in: ZRP 2002, S. 247 (250); vgl. aber auch Tomuschat (N 5), S. 543 f.
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III. Völkerrechtliche Fragestellungen 1. Selbstverteidigung
a) Das Selbstverteidigungsrecht ist unbestritten eine Form grundsätzlich erlaubter Gewaltanwendung; dies gilt für das internationale wie nationale Recht gleichermaßen. Art. 51 SVN, der nach Auffassung des Internationalen Gerichtshofs das auch im Völkergewohnheitsrecht verankerte Verteidigungsrecht der Staaten kodifiziert48, macht die Ausübung dieses Rechts vom Vorliegen eines bewaffneten Angriffs abhängig. Zudem gilt jedenfalls für Mitglieder der VN, daß sie Selbstverteidigungsmaßnahmen nur durchführen dürfen, bis der Sicherheitsrat die notwendigen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ergriffen hat. Wie bereits erwähnt, bezog sich – nach bisherigem Verständnis – diese Begrifflichkeit auf das Verhältnis zwischen Staaten oder Staatengruppen als den wesentlichen Subjekten des Völkerrechts. Ein Krieg zwischen Staaten, so wenig er den Ordnungsvorstellungen des heutigen, die Friedenserhaltung zu seinem wesentlichen Ziel erhebenden Völkerrechts entspricht, verbleibt somit im herkömmlichen Bezugsrahmen. Ein Krieg etwa zwischen NATO-Staaten und Afghanistan (oder einem anderen Staat) ist in dieses System ohne weiteres einzuordnen. Nun ist allerdings bislang nicht behauptet, jedenfalls nicht bewiesen worden, daß der Staat Afghanistan einen bewaffneten Angriff auf die USA durchgeführt hätte. Man könnte freilich in diesem Sinn argumentieren, wenn die Terrororganisation Al Qaida als Waffe, als Instrument, als Streitmacht Afghanistans eingesetzt worden wäre. Dann ließe sich nämlich eine Zurechnung dieser Handlungen, die von Ort, Durchführungsart und Umfang gewiß die Qualität eines bewaffneten 48
ICJ Rep. 1986, S. 14 (S. 102, Rz. 193) – Nicaragua.
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Angriffs aufweisen, an den Staat Afghanistan ohne weiteres durchführen. Art. 3 lit. g der 1974 von der Generalversammlung angenommenen Aggressionsdefinition49 erfaßt nämlich das Entsenden bewaffneter Banden, Gruppen, Freischärler oder Söldner durch einen Staat, wenn diese mit Waffengewalt Handlungen gegen einen anderen Staat von so schwerer Art ausführen, daß von einem Angriff gesprochen werden kann. Eine derartige Instrumentalisierung der Al Qaida-Organisation durch den Staat Afghanistan ist jedoch nicht ersichtlich. Ebensowenig gibt es Belege dafür, daß – umgekehrt – Al Qaida mit Bin Laden an der Spitze Afghanistan so unter ihre Kontrolle gebracht hätte, daß ihr der Status eines sogenannten de facto-Regimes zugeordnet werden könnte50. Ein de factoRegime bezeichnet eine über einen Staat oder einen Teil eines Staates faktisch ausgeübte Herrschaftsordnung, ohne eine allgemeine Anerkennung als staatliche Ordnung zu genießen51. Das Völkerrecht knüpft in zahlreichen Fällen an ein solches de facto-Regime an, indem es ihm völkerrechtliche Rechte gewährt und Pflichten auferlegt, um auch in nichtgefestigten Lagen das effektive Funktionieren der – an sich an Staaten ausgerichteten – Völkerrechtsnormen zu gewährleisten. In diesem Sinn verpflichtet und schützt das Gewaltverbot de facto-Regimes gleichermaßen52. Während Al Qaida mangels relevanter Anhaltspunkte nicht als de facto-Regime einzustufen ist, dürfte dies für die Taliban-Herrschaft jedenfalls zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Konflikts im Oktober 2001 die zutreffende rechtliche Qualifikation gewesen sein53. Das Regime war daGV Res. 3314 (XXIV) vom 14. 12. 1974. So auch Tomuschat (N 5), S. 541. Anders Günter Krings / Christian Burkiczak, Bedingt abwehrbereit?, in: DÖV 2002, S. 501 (509). 51 Jochen Abr. Frowein, Das de facto-Regime im Völkerrecht, 1968, S. 51 f.; Michael Bothe, in: Graf Vitzthum (N 14), 8. Abschn., Rn. 14; Otto Kimminich / Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 7. Aufl. 2000, S. 163. 52 Alfred Verdross / Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 406; Markus Krajewski, Selbstverteidigung gegen bewaffnete Angriffe nichtstaatlicher Organisationen – Der 11. September 2001 und seine Folgen, in: AVR 40 (2002), S. 183 (189). 49 50
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her im Bereich der internationalen Beziehungen an das Gewaltverbot gebunden, aber auch dadurch geschützt. Dieser Schutz wird jedoch durch die rechtmäßige Ausübung des Selbstverteidigungsrechts durchbrochen. Wir haben allerdings gesehen, daß das Taliban de facto-Regime weder unmittelbar den Angriff selbst durchführte noch sich dazu der Al Qaida bediente. Eine Zurechnung an den von Taliban beherrschten Staat kann dann nur dadurch erfolgen, daß Afghanistan es zugelassen hat, daß diese Terrororganisation Teile des Staatsgebiets als Basis für Planung, Training und Durchführung ihrer Aktionen benutzt hat. Es steht außer Frage, daß die Zulassung und Unterstützung solcher Aktionen völkerrechtswidrig ist. Dies haben nicht nur zahlreiche Resolutionen der Generalversammlung und des Sicherheitsrats der letzten Jahre bestätigt54, sondern bereits die grundlegende Erklärung der Generalversammlung aus dem Jahr 1970 über die „Grundsätze des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen Staaten in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen“ hat die Unterstützung terroristischer Handlungen als Verstoß gegen das Gewaltverbot charakterisiert55. Nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs im Nicaragua-Fall56 ist freilich nicht jeder Verstoß gegen das Gewaltverbot als bewaffneter Angriff zu qualifizieren, der zur Ausübung des Selbstverteidigungsrechts legitimiert. Der IGH hielt in dieser Entscheidung nicht nur ausdrücklich gewaltsame Repressalien Dritter, mit denen auf gewaltsame Akte „short of armed at53 Heintze (N 1), S. 92; ders., Der völkerrechtliche Rahmen der US-Reaktion auf den 11. September 2001, in: Ground Zero (N 2), S. 47; Mark A. Drumbl, Judging the 11 September Terrorist Attack, in: Human Rights Quarterly 24 (2002), S. 323 (331); Carsten Stahn, International Law at a Crossroads? The Impact of September 11, in: ZaöRV 62 (2002), S. 183 (213). 54 Vgl. etwa SR Res. 1189 (1998) vom 13. 8. 1998. 55 Sog. Friendly-Relations-Declaration, GV Res. 2625 (XXV) vom 24. 10. 1970. Deutsche Übersetzung in: VN 1978, S. 138. 56 ICJ Rep. 1986, S. 14 (S. 118 f., Rz. 228) – Nicaragua.
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tack“ gegen einen anderen Staat zu dessen Gunsten reagiert wurde, für eine unzulässige, da ihrerseits gegen das Gewaltverbot verstoßende Gegenmaßnahme. Der Gerichtshof hat sogar offengelassen, ob der durch Gewaltakte unterhalb der Schwelle des bewaffneten Angriffs selbst betroffene Staat seinerseits mit gewaltsamen Repressalien reagieren darf. Man kann die Weisheit dieser Rechtsprechung mit guten Gründen bezweifeln57, da sie in gewisser Weise zu Schutzlosigkeit führen kann, wo das Recht doch gegen rechtswidriges Verhalten Schutz bieten soll. Tatsächlich hat das strikt als Antwort auf „bewaffnete Angriffe“ begrenzte Selbstverteidigungsrecht zu problematischen Verwerfungen im Völkerrecht geführt, die seiner Glaubwürdigkeit abträglich sind – hier soll nur auf die Reaktionen Israels gegen aus dem Südlibanon vorgetragene Terrorakte der Hisbollah aufmerksam gemacht werden58. Alles dies zeigt freilich, daß vom Boden des bislang vorherrschenden Verständnisses das auf das Selbstverteidigungsrecht gegründete militärische Vorgehen gegen Taliban-Afghanistan auf ziemlich unsicheren Füßen steht. Das letzte Wort über die Rechtmäßigkeit der militärischen Maßnahmen ist damit jedoch noch nicht gesprochen. b) Es bedarf nämlich insoweit einer neuen Überlegung, die mit den den Ereignissen vom 11. September nachfolgenden Sicherheitsratsresolutionen eröffnet worden ist. Bereits die Resolution 1368 vom 12. September weist auf das naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung hin. Zu diesem Zeitpunkt, ein Tag nach dem Anschlag, war über die Hintergründe so gut wie nichts bekannt. Offenbar wurde von der Schwere des Anschlags auf die Möglichkeit der Reaktion geschlossen – to whom it may concern. Besonders bedeutsam aber ist, daß in 57 So Eckart Klein, Gegenmaßnahmen, in: BerDGVR 37 (1998), S. 39 (57); Stefanie Schmahl / Andreas Haratsch, Internationaler Terrorismus als Herausforderung an das Völkerrecht, in: WeltTrends 32 (2001), S. 111 (114). 58 Vgl. SR Res. 262 (1968). Dazu Gray (N 12), S. 115 f.; Pierre-Marie Dupuy / Christian Tomuschat, Warten auf den Schlag gegen Bagdad, in: F.A.Z. vom 31. 07. 2002, S. 10.
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der Resolution 1373 vom 28. September, als die Urheberschaft von Al Qaida bereits weitgehend feststand, dieser Hinweis auf das Selbstverteidigungsrecht wiederholt wurde. Schließlich brachte der Präsident des Sicherheitsrats am 8. Oktober 2001 das Verständnis des Rats zu den Erläuterungen zum Ausdruck, welche die USA59 und das Vereinigte Königreich60 bei Beginn der bewaffneten Maßnahmen dem Sicherheitsrat gegenüber im Sinne der Unterrichtungspflicht nach Art. 51 SVN abgegeben hatten; sie hatten sich dabei ausdrücklich auf das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht berufen61. Bekanntlich haben diese rechtliche Würdigung auch die übrigen NATO-Staaten geteilt62. Hieraus folgt: Jedenfalls nach der einmütigen Auffassung wichtiger Staaten, insbesondere der ständigen und nichtständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, dem die primäre Verantwortung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit obliegt, können das Selbstverteidigungsrecht eines Staates begründende bewaffnete Angriffe auch von privaten Organisationen – ohne Zurechnung zu einem bestimmten Staat – ausgehen. Dieser Feststellung läuft – zwar nicht zwingend, aber auch nicht zufällig – die Feststellung des Sicherheitsrates parallel, daß Akte des internationalen Terrorismus eine Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit bedeuten. Die damit UN Dok. S / 2001 / 946 vom 07. 10. 2001. UN Dok. S / 2001 / 947 vom 07. 10. 2001. 61 „The members of the Council were appreciative of the presentation made by the United States and the United Kingdom“. Presseerklärung AFG / 152-SC / 7167 des Sicherheitsratspräsidenten vom 08. 10. 2001, http:// www. un.org/News/Press/docs/2001/afg152.doc.htm. Vgl. auch Sean D. Murphy, Contemporary Practice of the United States Relating to International Law, in: AJIL 96 (2002), S. 237 (246). 62 Vgl. NATO Press Release 2001 (124) vom 12. 09. 2001, sowie die Erklärung des Generalsekretärs Lord Robertson vom 02. 10. 2001, vgl. F.A.Z. vom 04. 10. 2001, S. 1 f.: „Washington ersucht die NATO um Hilfe und arbeitet weiter an der Allianz gegen den Terror“. 59 60
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erfolgte Ablösung der Begriffe „Bedrohung des Friedens, militärischer Angriff und Selbstverteidigung“ von dem staatlichen Bezug rechtfertigt sich als teleologische Weiterentwicklung völkerrechtlicher Normen, ohne die sie ihres Gewährleistungsinhalts zumindest partiell verlustig gehen würden63. Wenn international agierende private Organisationen über eine staatlicher Gewalt ähnliche, sie in manchen Bereichen – gerade im militärischen Bereich – sogar übertreffende Machtfülle verfügen, liefe ihre Ausblendung aus den völkerrechtlichen Schutzregeln auf den auch im innerstaatlichen Recht nicht akzeptablen Satz hinaus, daß das Recht an einem bestimmten Punkt aufhöre64. Die Bewährung des Rechts muß unter allen Umständen sichergestellt werden. Andernfalls führt sich die Rechtsidee selbst ad absurdum. Werden internationale Bedrohungen staatsunabhängig, können Völkerrechtsregeln nicht an der Staatsgebundenheit festhalten. Der internationale Terrorismus ist zu einer Größe geworden, die sich sehr weitgehend ohne staatliche Unterstützung entfalten kann. Es ist richtig, wenn das Völkerrecht zum Schutz des Friedens und der Freiheit und Sicherheit der Menschen hiergegen Reaktionsmöglichkeiten bereitstellt. Das Selbstverteidigungsrecht gehört wegen der damit möglichen Entfaltung militärischer Macht hierzu. Die Tatsache, daß der internationale Terrorismus als in diesem Sinn eigenständiges, staatsunabhängiges völkerrechtliches Phänomen zu betrachten ist, schließt die Involvierung eines Staates oder mehrerer Staaten natürlich nicht aus. Nach bisherigen Grundsätzen, die – wie ausgeführt – freilich nicht sehr überzeugend sind, ist zunächst fraglich, ob die bloße Unterstützungsleistung eines Staates für terroristische Akte selbst als militärischer Angriff qualifiziert werden kann. Sind aber 63 Vgl. auch Thomas Bruha / Matthias Bortfeld, Terrorismus und Selbstverteidigung, in: VN 2001, S. 161 (163); Antonio Cassese, Terrorism is Also Disrupting Some Crucial Legal Categories of International Law, in: EJIL 12 (2001), S. 993 (997). 64 Ähnlich Schmahl / Haratsch (N 57), S. 112; Cassese (N 63), S. 993.
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die terroristischen Akte als militärische Angriffe zu verstehen65, würde die oben gefundene Lösung – d. h. das Selbstverteidigungsrecht ist gegeben – in vielen Fällen praktisch leerlaufen, würde das Selbstverteidigungsrecht nicht zu militärischen Maßnahmen auch gegen den Unterstützerstaat führen dürfen. Dies wird auch durch das folgende Argument bestätigt. Die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen (ILC) hat in ihrem Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit66 (Art. 16) die internationale Verantwortlichkeit eines Staates im Hinblick auf Unterstützungsakte für völkerrechtswidrige Handlungen eines anderen Staates bejaht, wenn der Unterstützerstaat Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der Handlung hat und der Akt auch rechtswidrig wäre, wenn er von dem Unterstützerstaat begangen würde. Abgesehen von dem auch hier vorzufindenden Zwischenstaatlichkeitskriterium treffen diese Überlegungen auch auf das Innenverhältnis von Staat und privater Terrororganisation zu und sind daher geeignet, über die Brücke des völkerrechtswidrigen Verhaltens der Terrororganisation eine eigenständige Verantwortlichkeit des Unterstützerstaats zu begründen67. Er wird damit zum Gegenstand entsprechender Maßnahmen des verletzten Staates. Für den konkreten Fall folgt hieraus, daß Taliban-Afghanistan nicht nur wegen der Unterstützung von Al Qaida zum Ziel von Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrats werden durfte (Kapitel VII SVN), sondern auch – soweit dies zu Bekämpfung der fortwirkenden Gefahr notwendig ist – zum zulässigen Adressaten von militärischen Selbstverteidigungsmaßnahmen68. 65 So auch Bruha / Bortfeld (N 63), S. 165; Krings / Burkiczak (N 50), S. 509; Krajewski (N 52), S. 201. 66 Draft articles on Responsibility of States for internationally wrongful acts adopted by the International Law Commission at its 56th session, Supplement No. 10 (A / 56 / 10), November 2001. 67 Vgl. insoweit auch den Teheraner-Geiselfall, ICJ Rep. 1980, S. 3 (S. 32, Rz. 66 f.), vgl. auch Stahn (N 53), S. 219 f. 68 Tomuschat (N 5), S. 542; Schmahl / Haratsch (N 57), S. 114; Krings / Burkiczak (N 50), S. 510.
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c) Weniger grundsätzlich, aber für die Beurteilung der einzelnen Selbstverteidigungsmaßnahmen ausschlaggebend ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Auch wenn es allgemein als moderierendes Element der Selbstverteidigung anerkannt ist, bestehen viele Unklarheiten und Unschärfen69. Obwohl immer wieder behauptet70, ist es zweifelhaft, ob das Selbstverteidigungsrecht bloß zur Abwehr eines militärischen Angriffs im Sinne der Wiederherstellung des status quo ante gegeben ist. Ist der angegriffene Staat wirklich nur darauf beschränkt, das zunächst verlorene Territorium zurückzuerobern und muß er an der Grenze des angreifenden Staates haltmachen? Was kann „status quo ante“ im Fall eines als militärischer Angriff qualifizierten terroristischen Aktes bedeuten? Man wird davon ausgehen können, daß der Angegriffene auch das Ziel verfolgen darf, eine fortdauernde schwere Bedrohung seiner Sicherheit durch den Aggressor zu beseitigen71. Ich meine daher, daß der Antrag der Bundesregierung, dem der Bundestag am 16. November 2001 zustimmte, zutreffend formuliert, wenn es heißt: „Diese Operation [Enduring freedom] hat zum Ziel, Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und vor Gericht zu stellen, sowie Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abzuhalten“72. Bezüglich der Organisation Al Qaida und ihrer Mitglieder geht es also um ihre dauerhafte Ausschaltung als Gefahrenquelle. Bezüglich des Taliban-Regime geht es darum, ihm die Unterstützung terroristischer Aktivitäten dauerhaft unmög69 Horst Fischer, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 59 Rn. 39; Gray (N 12), S. 105 ff. 70 Vgl. etwa Ian Brownlie, International Law and the Use of Force by States, Oxford 1963, S. 275; Kay Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: BerDGVR 26 (1986), S. 49 (80 ff.); Bruha / Bortfeld (N 63), S. 167. 71 So auch Heintze (N 1), S. 93. 72 BT-Drs. 14 / 7296 (Hervorhebung vom Verf.). Vgl. ferner BT-Drs. 14 / 7447 sowie BT-Plenarprotokoll 14 / 202, S. 19855 (19893).
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lich zu machen. Die Fortführung militärischer Selbstverteidigungsmaßnahmen gegen die Taliban bis zu ihrer völligen Entmachtung ist daher nicht zu beanstanden73. d) Unbestreitbar ist, daß sowohl der Aggressor als auch der Selbstverteidigung Übende an das „ius in bello“, an das in Kriegen anwendbare Recht, insbesondere das humanitäre Völkerrecht, gebunden ist74. Zu denken ist vor allem an den – soweit möglich – zu realisierenden Schutz der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen sowie den Einsatz verbotener Waffenarten75. Insoweit sind von außen gesehen – was den Krieg in Afghanistan und die dort nach wie vor durchgeführten Aktionen betrifft – die Verhältnisse unklar, da keine ausreichenden oder widerspruchsfreien Informationen vorliegen76. Traurige Tatsache ist, daß es keinen Krieg gibt, in dem kriegsrechtliche Regeln nicht verletzt werden. Derartige Verletzungen lassen den Verteidigungskrieg aber nicht grundsätzlich rechtswidrig werden. Allerdings macht sich der Verletzer eines Völkerrechtsverstoßes schuldig und ist zur Wiedergutmachung verpflichtet. Unter Umständen wird auch individuelle Strafbarkeit begründet77. e) Die Überlegungen zum Selbstverteidigungsrecht abschließend kann somit gesagt werden, daß es nach richtigem Verständnis eine ausreichende Basis bietet, um den Einsatz von Waffengewalt gegen internationale Terrororganisationen und die sie unterstützenden oder sie gewähren lassenden Staaten auch außerhalb des eigenen Staatsgebiets zu legitimieren. Die hier erkennbare Fortentwicklung des Völkerrechts – d. h.: 73 Wie hier Heintze (N 1), S. 93; ders. (N 53), S. 48. Anders Cassese (N 63), S. 999; Krajewski (N 52), S. 205 ff.; differenzierend Stahn (N 53), S. 231 f. 74 Ruffert (N 47), S. 249. 75 Vgl. etwa Art. 40 und Art. 51 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen (BGBl. 1990 II S. 1550), sowie Knut Ipsen, in: ders., Völkerrecht (N 69), § 69 Rn. 8. 76 Vgl. hierzu Murphy (N 61), S. 247 f. 77 Für die Aburteilung von Kriegsverbrechen ist die nationale, gegebenenfalls die internationale Gerichtsbarkeit zuständig.
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die Ablösung zentraler Begriffe wie „militärischer Angriff“ und „Selbstverteidigung“ aus der zwischenstaatlichen Sphäre und die Ausweitung des Zurechnungsmomentes für Terroristen unterstützende Staaten, die diese selbst zu Adressaten von Selbstverteidigungsmaßnahmen macht – folgt aus der Teleologie des Völkerrechts, die vergleichbar ist der jeder Rechtsordnung: nämlich daß deren Subjekte Rechtsbrüchen nicht hilflos ausgesetzt sein dürfen78. Das Bewußtwerden dieses Prinzips hat seine Auswirkungen auf die Quellenlehre des Völkerrechts, eine bedeutsame Konsequenz, die ich hier nur ganz allgemein andeuten kann79. Das Völkerrecht muß zunehmend als Recht der internationalen Gemeinschaft erfaßt werden, das von seinen Grundwerten her zu interpretieren ist. Es soll nicht geleugnet werden, daß es dabei zu schwierigen Kollisionsfällen kommen kann, wie z. B. das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs von 1996 über den denkbaren Einsatz von Atomwaffen belegt80. Bietet nun das Selbstverteidigungsrecht eine ausreichende Grundlage, erweist es sich als unnötig, das in der Literatur gleichfalls erörterte81, aber weniger weitreichende völkerrechtliche Notstandsrecht zu aktivieren oder seinerseits weiterzuentwickeln.
78 Vgl. auch die Überlegungen von Josef Isensee, Normalfall oder Grenzfall als Ausgangspunkt rechtsphilosophischer Konstruktion?, in: Winfried Brugger / Görg Haverkate (Hrsg.), Grenzen als Thema der Rechts- und Sozialphilosophie, 2002, S. 51 (71 f.) 79 Vgl. insoweit auch Martin Nettesheim, Das kommunitäre Völkerrecht, in: JZ 2002, S. 569 (575 f.). 80 IGH, ICJ Rep. 1996, S. 226 (Rz. 62 bis 74) – Legality of the Threat of Use of Nuclear Weapons. Dazu Thilo Marauhn, Ambivalentes Gutachten zum Atomwaffeneinsatz, in: VN 1996, S. 179 ff.; Wolfgang Kötter, Anwendung oder Nichtanwendung von Kernwaffen?, in: WeltTrends 35 (2002), S. 86 (93 ff.). 81 Ulrich Fastenrath, Ein Verteidigungskrieg läßt sich nicht vorab begrenzen, in: F.A.Z. vom 12. 11. 2001, S. 8.
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2. Menschenrechtsverpflichtungen
Eine vieldiskutierte Frage ist, ob (internationale) Terroristen Menschenrechte verletzen können, was sie zu Adressaten der Menschenrechtsverpflichtungen machen würde. Wir treffen hier in anderem Gewand wieder auf die Frage, ob Völkerrechtsnormen – d. h. in diesem Fall Menschenrechtsgewährleistungen – sich aus dem staatlichen Bezugsrahmen lösen können. Zu fragen bleibt aber zugleich nach dem Sinn einer solchen Umorientierung im konkreten Fall82. Zunächst zeigt wieder eine Durchsicht der UN-Resolutionen, daß es durchaus Ansätze zu einer solchen Betrachtungsweise gibt, etwa wenn es in Entschließungen der Generalversammlung heißt, daß terroristische Akte die grundlegenden Freiheiten beeinträchtigen und eine ernsthafte Verletzung der Menschenwürde darstellen83. An anderer Stelle heißt es vorsichtiger, daß diese Akte auf die Zerstörung von Menschenrechten zielen84. Die Erstreckung der Verpflichtung aus Menschenrechtsnormen über den Kreis der Staaten hinaus ist nicht grundsätzlich abwegig. Wo quasi staatliche Hoheitsgewalt ausgeübt wird – durch de facto-Regimes, durch „war lords“ in zerfallenen oder zerfallenden Staaten – besteht ein Bedürfnis nach Bindung dieser Gewalt85. Es ist sinnvoll, die palästinensische Autonomiebehörde als Vorläufer des Palästinenserstaates ebenso an die Menschenrechte zu binden wie den Staat Israel. Es würde keinen Sinn machen, die Taliban als de facto-Regime von der Verpflichtung, die Menschenrechte zu respektieren, zu entbinden. 82 Hierzu Eckart Klein, in: ders. / Christoph Menke (Hrsg.), Menschheit und Menschenrechte, 2002, S. 73 (78 f.). 83 GV Res. 48 / 122 vom 20. 12. 1993; GV Res. 49 / 185 vom 23. 12. 1994; GV Res. 50 / 186 vom 22. 12. 1995; GV Res. 52 / 133 vom 27. 02. 1998. 84 Vgl. die Studie „Terrorismus und Menschenrechte“ der Unterkommission der UN-Menschenrechtskommission von 1997, UN-Dok. E / CN.4 / Sub.2 / 1997 / 28. 85 Ulf Häußler, Der Schutz der Rechtsidee, in: ZRP 2001, S. 537 (540).
3 Isensee (Hrsg.)
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Auch aus prinzipieller Sicht ist die Erweiterung des Kreises der Normverpflichteten über Staaten und quasi-staatliche Gewalten hinaus nicht mehr revolutionär – nichtstaatliche Akteure sind in vielerlei Hinsicht und Gestalt auf der internationalen Ebene aufgetaucht und haben den Kreis der Völkerrechtssubjekte erweitert. Auch wenn die Qualifizierung internationaler Terrororganisationen als Menschenrechtsverpflichtete die Dogmatik des Völkerrechts nicht sprengen würde, stellt sich doch die Frage: Cui bono? Was würde mit einer solchen Adressatenerweiterung erreicht? Kaum jemand denkt daran, Individuen oder private Organisationen grundsätzlich an Menschenrechte zu binden, ebensowenig wie innerstaatlich an Grundrechte. Es gibt gute Gründe, die Staaten über die dogmatische Figur der Schutzpflicht sowohl national wie international dafür verantwortlich zu halten, daß die in den Grund- und Menschenrechten verankerten Werte im Verhältnis der Privaten untereinander respektiert werden86. Dies geschieht durch den Erlaß von Gesetzen und ihre Durchsetzung. Es ist eine etwas absurde Vorstellung, eine private Organisation just dann unmittelbar an Menschenrechte zu binden, wenn sie terroristische Akte durchzuführen sich anschickt. Nun könnte man auf die vorhin erörterte – scheinbare – Parallele hinweisen, daß solche Organisationen auch Frieden gefährden und militärische Angriffe durchführen können – warum dann nicht auch Menschenrechte verletzen? Die Antwort ist: Der realen Gefahr, die von internationalen Terrorgruppen ausgehen kann, kann mit der Aktivierung von Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrats oder dem Ergreifen von militärische Gewalt implizierenden Selbstverteidigungs86 Vgl. Eckart Klein (Hrsg.), The Duty to Protect and to Ensure Human Rights, 2000; Katja Wiesbrock, Internationaler Schutz der Menschenrechte vor Verletzungen durch Private, 1999.
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maßnahmen besser begegnet werden als wenn die damit verbundene Normerstreckung nicht erfolgen würde. Ein entsprechender Gewinn ist bei der Erweiterung des Verpflichtetenkreises aus Menschenrechtsnormen nicht zu ziehen. Die terroristischen Taten können, wenn sie als Menschenrechtsverletzungen qualifiziert werden, nicht besser bekämpft werden. Das angemessene Instrument ist neben ihrer unmittelbaren Abwehr die Ergreifung und Bestrafung der Täter. „A crime is a crime is a crime“, soll die britische Premierministerin Thatcher einmal zum Terrorismus gesagt haben. Die lückenlose Kriminalisierung terroristischer Akte – unabhängig von wem begangen – und eine effektive Strafverfolgung sind daher ebenso notwendig wie ausreichend. Die früher erwähnten Konventionen mit ihrem Grundsatz – ausliefern oder selbst vor Gericht stellen – haben daher die richtige Richtung eingeschlagen. Es soll nur der Vollständigkeit halber betont werden, daß die Behandlung und strafrechtliche Verfolgung gefaßter Terroristen ihrerseits den menschenrechtlichen Vorgaben entsprechen muß87. Die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen sind die eine, die völkerrechtlichen Anforderungen die andere Seite. Ein faires Verfahren, das unabhängige Richter einschließt, wird etwa vom Pakt über bürgerliche und politische Rechte, an den derzeit 149 Staaten gebunden sind, gefordert88, dürfte aber auch kraft Völkergewohnheitsrechts zum menschenrechtlichen Mindeststandard gehören. Dem ist aus völkerrechtlicher Sicht zu entsprechen, unabhängig davon, ob diese 87 Stefan Oeter, Welche Grenzen legt der internationale Menschenrechtsschutz der Terrorismusbekämpfung auf?, in: Gabriele von Arnim u. a. (Hrsg.), Jahrbuch Menschenrechte 2003, 2002, S. 39 (40 f.). Daher zeigten sich die europäischen Staaten skeptisch gegenüber der Anordnung des US-amerikanischen Präsidenten vom 13. 11. 2001, Militärtribunale einzurichten (41 ILM 252 [2002]), vgl. Rudolf Dolzer, Keine Lex Guantanamo, F.A.Z. vom 04. 02. 2002, S. 41; Murphy (N 61), S. 255; Drumbl (N 53), S. 335 f.; Stahn (N 53), S. 208 f. 88 Vgl. Art. 9 und Art. 14 des Paktes (BGBl. 1973 II S. 1534). Zum Ratifikationsstand vgl. BGBl. II, Fundstellennachweis B vom 31. 12. 2001, S. 492 ff.
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völkerrechtlichen Normen für innerstaatlich anwendbar erklärt sind oder nicht. 3. Sonstige Abwehrmaßnahmen
Die Auswirkungen des 11. September 2001 haben sich in manchen anderen Bereichen bemerkbar gemacht. Die Staaten schnüren Sicherheitspakete89. Dazu sind sie in einem bestimmten Umfang aufgrund der Resolution 1373 vom 28. September 2001 verpflichtet90. Abgesehen hiervon gehört es zu den notwendigen Aufgaben des Staates, die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren. Dabei dürfen aber die vom höherrangigen Recht gezogenen Grenzen nicht überschritten werden. Im innerstaatlichen Recht sind die Sicherheitsgesetze an der Verfassung zu kontrollieren; sie müssen aber zugleich den Test der Vereinbarkeit mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen bestehen. Zwar geht im Kollisionsfall die UNCharta, in der die Zuständigkeit des Sicherheitsrats zum Erlaß verbindlicher Anordnungen gegenüber den Staaten geregelt ist, anderen Verträgen vor91. Doch ist der Sicherheitsrat in seinen Entscheidungen rechtlich nicht völlig frei. Er kann sich nicht den Grundprinzipien der Rechtsordnung, auf der er beruht, entziehen92. Es stünde daher nicht in seiner Macht, die Staaten von der Beachtung fundamentaler menschenrecht89 Vgl. etwa das Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus vom 09. 01. 2002, BGBl. 2002 I S. 361. Zu den deutschen Sicherheitspaketen s. ferner Meyer (N 2), S. 168 ff. Auch die Europäische Union hat auf die Ereignisse des 11. September mit Maßnahmen gegen das terroristische Bedrohungspotential reagiert, hierzu Eckhart v. Bubnoff, Terrorismusbekämpfung – eine weltweite Herausforderung, in: NJW 2002, S. 2672 ff. 90 Kritisch hierzu Schmahl / Haratsch (N 57), S. 117; Jasper Finke / Christiane Wandscher, Terrorismusbekämpfung jenseits militärischer Gewalt, in: VN 2001, S. 168 (172); Jurij Daniel Aston, Die Bekämpfung abstrakter Gefahren für den Weltfrieden durch legislative Maßnahmen des Sicherheitsrats – Resolution 1373 (2001) im Kontext, in: ZaöRV 62 (2002), S. 257 ff. 91 Vgl. Art. 103 UN-Charta. 92 Vgl. ICJ Rep. 1949, S. 4 (31) – Korfu-Kanal; ICJ Rep. 1971, S. 12 (45 f.) – Namibia; ICJ Rep. 1984, S. 392 (434 f.) – Nicaragua; Vera Gowlland-Debbas,
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licher Gewährleistungen zu dispensieren. Eine unter keinen Umständen überschreitbare Grenze wird durch Art. 4 Abs. 2 des Paktes gezogen, der selbst in Zeiten eines öffentlichen, das Leben des Staates bedrohenden Notstandes die Abweichung (Derogation) von einzelnen besonders hervorgehobenen Bestimmungen wie Recht auf Leben, Folterverbot, Gewissensund Religionsfreiheit ausschließt. Allerdings ist auch daran zu erinnern, daß die meisten Menschenrechtsgewährleistungen – wie auch die Grundrechte des Grundgesetzes – Einschränkungsmöglichkeiten selbst vorsehen, von denen nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in angespannten Sicherheitslagen intensiver Gebrauch gemacht werden darf als in Normalzeiten93. IV. Schluß Abschließend möchte ich vier meine bisherigen Ausführungen ergänzende Thesen aufstellen. 1. Der Kampf gegen den Terrorismus muß entschlossen, wenngleich in den Grenzen des Rechts, geführt werden. Er setzt bei der Bekämpfung jeder Form des stets mit Haß, Intoleranz und Exklusion gepaarten Extremismus an, der immer gefährdet ist, in den Terrorismus abzugleiten. Terrorismus erscheint vielen als probates Mittel, ihren extremen, daher demokratisch nicht durchsetzbaren Meinungen gleichwohl Geltung zu verschaffen. Terrorismus verleiht diesen Personen einen zu ihrer eigentlichen Bedeutung disproportionalen Einfluß. Allen diesen Versuchen muß der Staat entschlossen entgegentreten. Tut er es nicht frühzeitig, muß er es später bei viel höheren Kosten (nicht nur finanzieller Art) tun. The Relationship Between the International Court of Justice and the Security Council in the Light of the Lockerbie Case, in: AJIL 88 (1994), S. 643 (667); Schmahl (N 35), S. 226. 93 Vgl. Eckart Klein, Der innere Notstand, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII, 1992, § 169 Rn. 48 f.
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2. Bei einem internationalen Phänomen wie dem Terrorismus ist eine enge Kooperation der Staaten unverzichtbar. Das Völkerrecht hat sich schon lange von einem bloßen Koordinations- zu einem Kooperationsrecht gewandelt, bei dessen Gestaltung den Vereinten Nationen eine unverzichtbare Rolle zukommt. Der internationale Terrorismus bestätigt nur die Notwendigkeit zu dieser Entwicklung. Zugleich wird die unverzichtbare Stellung der Staaten als Ordnungsfaktoren deutlich. Es ist durchaus richtig, daß die Staaten nicht mehr die einzigen Akteure auf der internationalen Bühne sind94, aber die non-state actors sind in vielerlei Hinsicht weder faktisch in der Lage noch rechtlich legitimiert, entsprechende Aufgaben zu übernehmen. 3. Im internationalen Terrorismus einen Ausdruck der Zivilisationskonflikte zu sehen95, halte ich für falsch. Keine Kultur oder Zivilisation gibt eine begründete Basis für terroristische Akte ab. Jedenfalls tut dies auch nicht der Islam als solcher. Die arabischen Staaten haben im April 1998 eine inzwischen für 12 Staaten in Kraft getretene „Arabische Konvention zur Unterdrückung des Terrorismus“ geschlossen, auch wenn der Befreiungskampf gegen fremde Besetzung und Aggression nicht als terroristischer strafbarer Akt gilt96. Die im Jahr 2000 tagende Konferenz der blockfreien Staaten, zu denen fast alle islamischen Staaten gehören, hat den Terrorismus gleichermaßen verurteilt, übrigens ausdrücklich auch das Taliban-Regime, das Terroristen Unterschlupf und Unterstützung gewähre; das Regime müsse vielmehr an der strafrechtlichen Verfolgung der gesuchten Terroristen mitwirken97.
Vgl. Nettesheim (N 79), S. 576; Karl (N 14), S. 276 f. So aber wohl Tomuschat (N 5), S. 545. 96 Vgl. Art. 1 Abs. 2 und 3 der Konvention (N 20). 97 Vgl. XIII Ministerial Conference of the Non-Aligned Movement, 8 – 9 April 2000, Cartagena (Kolumbien): http://www.nam.gov.za/xiiiminconf/ final4.htm. 94 95
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4. Schließlich, obgleich die Ursachenforschung die effektive Bekämpfung terroristischer Akte nicht lähmen darf, muß energischer darüber nachgedacht – und dann entsprechend gehandelt – werden, warum Menschen in dieser fanatisierten Weise bereit sind, solche Taten zu begehen98. Wohl kaum die Ereignisse des 11. September, wohl aber andere extreme und terroristische Verhaltensweisen werden durch den Mangel an Lebenschancen erzeugt99. Mehr als eine Milliarde Menschen, das ist etwa ein Drittel der Menschheit, lebt in extremer Armut. Es gehört nicht allzuviel Phantasie dazu sich vorzustellen, daß dies ein Pulverfaß ist, auf dem wir sitzen. In der Millenniumserklärung der Vereinten Nationen – genauer der Staats- und Regierungschefs der VN-Mitglieder – wird deshalb betont, daß die Bekämpfung der Armut besonders wichtig sei und daß man sich verpflichte, die ganze menschliche Rasse vom Mangel zu befreien100. Auch die Erklärung des Sicherheitsrats über die „globale Anstrengung, den Terrorismus zu bekämpfen“ vom 12. November 2001101 schließt richtigerweise Entwicklungsfragen mit ein. Auch hier gilt – wie in der Wissenschafts- und Bildungspolitik –, daß Sparen später sehr teuer kommt.
98 Nach Karl Popper darf die Beurteilung einer Handlung nicht von der Frage getrennt werden, welche Möglichkeiten zu weiteren, eventuell ihre Folgen korrigierenden Handlungen bestehen. Instruktiv Jürgen Kaube, Wappnet euch mit Gleichmut, in: F.A.Z. vom 27. 07. 2002, S. 40. 99 Vgl. deutlich die Stellungnahme von Kofi Annan in der Presseerklärung vom 19. 09. 2001 (http://www.un.org/News/Press/docs/2001/sgsm7964.doc. htm.: „people who are desperate . . . become easy recruits for terrorist organizations“). 100 GV Res. 55 / 2 vom 18. 09. 2000, Ziff. 11 bis 20. Vgl. auch den Bericht des Generalsekretärs zur Umsetzung der Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen vom 31. 07. 2002, A / 57 / 270. 101 SR Res. 1377 (2001) Annex.
Weltordnungspolitik nach dem 11. September: Die deutsch-amerikanischen Beziehungen im Zeichen des Krieges gegen den Terror und der Irak-Krise Von Christian Hacke, Bonn
Die veränderte Strategie der USA Der Terrorangriff vom 11. September 2001 und seine Folgen veränderten die Weltpolitik auf dramatische Weise. Gerade die Außenpolitik der USA wird dieses Ereignis noch auf Jahre bestimmen, denn mit ihm ist der Terrorismus schlagartig zur zentralen Herausforderung geworden. Auch wenn offiziell (noch) nicht von einer „Bush-Doktrin“ gesprochen wird, so zeichnet sich die weltweite Bekämpfung des Terrorismus unter der Führung der USA ab, wobei eine neue Kombination, ja Parallelisierung von innen- und außenpolitischen Sicherheitsüberlegungen im Vordergrund steht. Die globale Reichweite, der offene Zeithorizont, die Mischung von nichtstaatlichen und staatlichen Zielen sowie die konsequente FreundFeind-Kategorisierung sind Orientierungspunkte für die Bush-Doktrin: Jede Regierung, die den Terror unterstützt oder Terroristen Zuflucht gewährt, wird nun von den USA als feindliches Regime betrachtet. Nach dem 11. September wurde eine weltweite Antiterror-Koalition aufgebaut, in der Feinde zu Alliierten, Rivalen eingebunden und Freunde auf Treue überprüft werden. Waren die USA traditionell nach innen gekehrt, so ist nun zur Bewahrung der eigenen Sicherheit die Bedeutung von Außenpolitik gestiegen. Die Amerikaner wenden verstärkt ihren
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Blick nach außen und schärfen dabei auch ihr Verständnis für Probleme in der übrigen Welt. Die größere öffentliche Aufmerksamkeit für die Außen- und Sicherheitspolitik macht ihre Instrumentalisierung für innenpolitische Zwecke schwieriger, d. h. einzelne Interessengruppen können nicht länger den innenpolitischen Einfluß ausüben, den sie noch im vergangenen Jahrzehnt hatten. Seit dem 11. September zeigt sich ebenfalls eine Renationalisierung der amerikanischen Außenpolitik und ein Rückzug der Partikularinteressen im Kongreß. Das Pendel der Macht, das sich im Spannungsfeld von Präsident und Kongreß immer hin und her bewegt hat, schlägt wieder in Richtung Administration zurück. Der für den Kalten Krieg charakteristische Primat der Außen- und Sicherheitspolitik und der Trend zu überparteilichem Konsens gelten nun auch wieder für die Außenpolitik im Zeichen der Terrorismusbekämpfung. Zentrales Dokument mit weitreichender Bedeutung für den Paradigmenwechsel in der amerikanischen Außenpolitik ist die im September 2002 von Präsident Bush vorgelegte „Nationale Sicherheitsstrategie“. Dort heißt es, der Präsident werde nicht zulassen, daß irgendeine fremde Macht den großen machtpolitischen Abstand aufholen kann, der sich seit dem Ende der Sowjetunion vor mehr als einem Jahrzehnt zwischen den USA und allen anderen gebildet habe.1 Die USA müßten ihre ganze Stärke einsetzen, um ein Gleichgewicht der Mächte unter amerikanischer Führung zu fördern, und dabei verfolge das Land „einen ganz bestimmten amerikanischen Internationalismus, der unsere Werte und nationalen Interessen reflektiert“2. Die USA seien stets bemüht, internationale Unterstützung zu erhalten, sie seien aber notfalls auch „ohne zu zögern“3 zum alleinigen Handeln bereit. Das bisherige Kon1 Das offizielle Dokument findet sich ungekürzt im Internet: http://www. whitehouse.gov/nsc/nss.pdf. 2 Ebd., S. 1 3 Ebd., S. 6.
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zept der Abschreckung und Eindämmung verliert aufgrund der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und den sich daraus ergebenden Problemen der asymmetrischen Kriegführung erheblich an Bedeutung. An seine Stelle tritt eine Strategie der überwältigenden militärischen Überlegenheit durch verstärkte Aufrüstung. Die in der neuen Sicherheitsstrategie propagierte Doktrin der vorbeugenden Selbstverteidigung schließt die Führung von Präventivkriegen ausdrücklich mit ein. Oberstes Ziel der amerikanischen Politik unter Präsident George W. Bush ist es, die weltweite Führungsrolle der USA in einer unipolaren Welt mit allen Mitteln gegen alle globalen Herausforderungen zu verteidigen. Die neuen Gefahren gehen von transnational operierenden Terrornetzwerken und sie unterstützenden Staaten aus. Abschreckung hat keine Bedeutung mehr, präemptive Militärschläge bilden zukünftig die wichtigste Option. Staatliche Souveränität wird in dieser neuen Außenpolitik ebenfalls an Bedeutung verlieren, denn die USA wollen in der Lage sein, an jedem Ort der Welt präventiv einzugreifen, um einer sich abzeichnenden Bedrohung Herr zu werden. Damit einher geht ein Bedeutungsverlust multilateraler Institutionen, insbesondere der NATO, die vollauf mit der Integration der neu aufzunehmenden Mitglieder beschäftigt sein wird. Bei Bedarf greifen die USA zukünftig eher auf adhoc coalitions of the willing zurück, die nach dem Motto „der Einsatz bestimmt die Koalition“ (Donald Rumsfeld) zusammengestellt werden. So scheint sich vor dem Hintergrund der National Security Strategy vom September 2002 eine (neoimperiale) Strategie des Ausbaus und der Verfestigung der weltweiten amerikanischen Vorherrschaft abzuzeichnen, die einen Paradigmenwechsel in der amerikanischen Außenpolitik bedeuten würde.
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Die Rolle Deutschlands im Kampf gegen den Terror Ein solcher Paradigmenwechsel zieht erhebliche Probleme für die transatlantische Partnerschaft nach sich. Aufgrund der ungleichen Machtverteilung sind die europäische und die amerikanische Weltsicht und die daraus resultierende Politik fundamental verschieden. Um es mit den vielzitierten Worten Robert Kagans zu sagen: Europäer kommen von der Venus, Amerikaner vom Mars.4 Der gravierende Schwachpunkt der Analyse Kagans – bei all ihren Meriten – ist jedoch, daß er die nichtmilitärische Seite der gegenwärtigen globalen Herausforderungen vernachlässigt. Hier kann Europa, besonders Deutschland, auf eine bemerkenswerte Leistungsbilanz zurückblicken. Dem Prinzip des Multilateralismus in der Weltpolitik besonders verpflichtet, machten alle Bundesregierungen ihr Engagement für eine gemeinschaftliche Außenpolitik und für Gemeinschaftsinstitutionen, wie z. B. für die UNO, zum Herzstück ihrer Außenpolitik. Besonders die Regierung Schröder / Fischer betont die Notwendigkeit des Multilateralismus und der Verrechtlichung der Internationalen Beziehungen, die Dringlichkeit von Umwelt- und Entwicklungspolitik sowie die Bedeutung der neuen globalen Fragen. Dagegen zeigen sich die USA besonders seit Antritt der Regierung Bush bei den neuen nichtmilitärischen globalen Fragen nur wenig aufgeschlossen, während sich die Europäer zum Anwalt der neuen globalen Probleme machen. Hierbei wurde die Regierung Schröder / Fischer zur treibenden Kraft. Der Terrorangriff vom 11. September, das „Pearl Harbor der westlichen Zivilisation“5, beeinflußte jedoch auch die deutsche Außenpolitik maßgeblich. Für die Regierung Schröder / Fischer bestand kein Zweifel, daß für die NATO zum 4 Vgl. Robert Kagan, Of Paradise and Power. America and Europe in the New World Order, New York 2003, S. 3. 5 Michael Stürmer, „Zeitenwende“, in: Die Welt, 12. 9. 2001, S. 8.
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ersten Mal in ihrer Geschichte der Bündnisfall eingetreten war, daß der 11. September also einem Angriff auf alle Verbündeten gleichkam, und daß seitdem Außenpolitik und Europapolitik, Krisenmanagement, Erweiterung der EU, Globalisierung und Sicherheitspolitik im Zeichen globaler Terrorismusbekämpfung stehen.6 Dank der uneingeschränkten Solidarität der Regierung Schröder / Fischer gegenüber den USA schritt nach dem 11. September 2001 die Bundesrepublik weiter in Richtung internationale Verantwortung: Deutsche Soldaten stehen mittlerweile in Afghanistan, Kuwait, im Kosovo, in Usbekistan, Bosnien, Mazedonien und am Horn von Afrika. Insgesamt befinden sich mittlerweile fast 10 000 Soldaten in wechselndem Einsatz, obwohl die Bundeswehr für diese Operationen auf Dauer noch nicht angelegt ist. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen verringerten Kapazitäten und erweiterter Aufgabenstellung bleibt trotz erster Reformansätze noch groß: Engpässe beim Material, unzureichende Transportmöglichkeiten sowie personelle und strukturelle Probleme machen der Truppe zu schaffen. Auch ist beispielsweise im Krisenfall eine Evakuierung aus Afghanistan kaum möglich, weil es der Bundeswehr an Transportfähigkeiten mangelt. Ferner fehlt dem militärischen Engagement Deutschlands eine übergeordnete politische Interessenorientierung. Die Regierung reagiert nur auf Anfragen, statt eine eigene planerische Perspektive zu entwickeln. Deutsche Sicherheitspolitik wird deshalb vor allem durch Minimalismus, Desinteresse und Sparzwang auf politischer Ebene geprägt, was durch Engagement und Improvisation auf militärischer Ebene nicht mehr ausgeglichen werden kann. Trotz der in den „Petersberger Aufgaben“ festgesetzten Zielen bleibt die Bundesregierung bei der Kürzung des Wehretats. 6 Vgl. Bruce Hoffman, Terrorismus. Der unerklärte Krieg, Frankfurt am Main 2001; Richard Meng, Der Medienkanzler. Was bleibt vom System Schröder?, Frankfurt am Main 2002.
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Die Irak-Krise Die Dominanz der USA in der Anti-Terror-Koalition, im Afghanistanfeldzug und im Nahen Osten marginalisiert die Rolle der Europäer. Die Zuspitzung dieser Entwicklung ereignete sich in der Frage um die Irak-Politik. Nach dem 11. September rückte auch in der Nahost-Politik die Bekämpfung des internationalen Terrorismus in den Vordergrund. Im Gegensatz zur Regierung Bush betont die Regierung Schröder / Fischer dabei vor allem die Notwendigkeit einer Verbreiterung und Intensivierung der westlichen Nahost-Politik, um die Strukturprobleme vor Ort zu lösen. Diese europäische Sichtweise verknüpft Sensibilität und Verständnis für die kulturellen Belange des Islam mit der Einsicht, daß die Rückständigkeit der Regionen im Nahen Osten den gefährlichsten Nährboden für fanatischen Terrorismus bildet. Dagegen betonen die USA viel stärker ihren Selbstbehauptungswillen, Anti-Terrormaßnahmen und militärische Lösungsvorschläge. Die Amerikaner reagierten mit Kriegs-, die Europäer mit Friedensbereitschaft. Das Problem liegt darin, daß beide Seiten Recht haben. Wie immer geht es also um das rechte Maß, um das gestritten wird. Dabei wurde das gegenseitige Verständnis für die Vorgehensweise der transatlantischen Partner auch im Nahen Osten immer geringer, wie der Irak-Disput zwischen den USA und Deutschland zeigt. Den Höhepunkt transatlantischer Unstimmigkeiten löste Bundeskanzler Schröder aus, als er im Sommer 2002 in der Irak-Frage den „deutschen Weg“7 postulierte. In dieser Auseinandersetzung zeigten sich die Amerikaner als kühle, erfahrene und professionelle Realpolitiker, während die Deutschen ihre durchaus triftigen Sachargumente gegen ei7 Vgl. Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Wahlkampfauftakt am 5. August 2002 in Hannover.
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nen Krieg emotional, unerfahren und unprofessionell verspielten. Bei einer anderen Vorgehensweise hätten Schröder und Fischer für Deutschland und Europa einen glänzenden diplomatischen Erfolg erringen können, jenseits des amerikanischen und des deutschen Weges. Bedenken gegenüber US-amerikanischen Präventivplänen sind von der Bundesregierung Schröder / Fischer beherzt artikuliert worden. Vor allem warnte die Bundesregierung vor einem Krieg gegen den Irak, so lange die bestehenden Konfliktherde, wie in Afghanistan und Nahost, noch nicht befriedet seien. Auch bemängelte Berlin die amerikanische Konzeptionslosigkeit mit Blick auf eine Nachkriegsordnung für den Irak und den Nahen Osten insgesamt. Zudem warnte die Bundesregierung vor den ökonomischen Kosten eines Irak-Krieges, die sich womöglich zu einer globalen Wirtschaftskrise auswachsen könnten. Die Risiken eines Präventivschlages gegen den Irak wären, auch mit UN-Mandat, folgenschwer, doch wäre zumindest die Legitimationsgrundlage mit einem solch starken Mandat breiter. Allerdings formulierte die deutsche Seite ihre Argumente viel zu ungeschickt und undiplomatisch. Weil die Regierung Schröder / Fischer Präsident Bush als Kriegstreiber hinstellte, war Deutschland am Ende machtpolitisch völlig isoliert und geschwächt. Die Bundesregierung hat den wichtigsten Freund und Partner beispiellos brüskiert und damit das zentrale außenpolitische Interesse Deutschlands, die transatlantische Bindung zu den USA, in einer Frage aufs Spiel gesetzt, die interessensmäßig für Deutschland nachgeordnet, für die USA jedoch von zentraler Bedeutung ist. Eine kalkulierte Interessenabwägung war offensichtlich in Berlin nicht möglich. Deshalb hat die Bundesregierung durch ihren „deutschen Weg“ auch eine gemeinsame europäische Position verhindert – im fatalen Irrglauben, den irakischen Diktator Saddam Hussein mit Beschwichtigungsdiplomatie beeindrucken zu können. Angetreten, die UNO zu stärken, Multilateralismus zu praktizieren
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und das militärische Instrument zur Wahrung des Friedens stärker und couragierter einzusetzen, und in der Hoffnung, das unilaterale Handeln der USA glaubwürdig zu kritisieren, ist die Bundesregierung selbst unglaubwürdig und unkalkulierbar geworden. Sie handelte aus wahltaktischem Kalkül rücksichtslos und lehnte es ab, auf andere Vorschläge einzugehen. Doch im Unterschied zu Washington ist Berlin zu schwach, um die USA und den Rest der Welt auf den „deutschen Weg“ zu führen. Deshalb hätte Berlin gemeinsam mit London und Paris und dann mit Moskau und Peking an einem Ausweg mitwirken sollen. Ein UN-Mandat verbunden mit einem Ultimatum wäre der Königsweg gewesen, der die Rolle Deutschlands in dieser schwierigen Frage aufgewertet hätte und diplomatisch auch in Washington verstanden und gewürdigt worden wäre. Es hätte der deutschen Regierung gut angestanden, selbst eine kraftvolle UN-Resolution zu entwickeln und mit den europäischen Partnern einzubringen. Stattdessen hatte man sich ins außenpolitische Abseits manövriert. Die vom britischen Außenminister Straw im September 2002 erfolgreich propagierte Resolution, die den Irak ultimativ zu einer Rückkehr der Inspektoren aufforderte, hätte von Deutschland kommen müssen. Gleiches gilt für Frankreichs Initiative aus dem Januar 2003, eine zweimonatige Verlängerung der Inspektionen zu erreichen. Aus ihrer überheblichen Position der vermeintlichen moralischen Überlegenheit versäumte es die Regierung Schröder / Fischer, Friedenspolitik nicht nur zu fordern, sondern durch professionelle Diplomatie zu betreiben. So wurde gegen Deutschlands Willen durch die USA die Lage im Irak und im Nahen Osten, aber auch in den transatlantischen Beziehungen dynamisiert. Aufgrund der Dynamik und der neuen kriegerischen Entschlossenheit der USA, politischen Einfluß rücksichtsloser auszudehnen, führen kaum mehr Wege zurück in die Vor-
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kriegsstrukturen. Doch der Irak-Krieg hat nicht nur Wunden in der islamischen Welt, sondern auch in den transatlantischen Beziehungen geschlagen, wie der gegenwärtige Zustand der Gemeinschaftsinstitutionen EU, NATO, WEU, OSZE und UNO zeigt. Zugegeben, angesichts der neuen, ja unerwarteten neo-imperialen Außenpolitik der Regierung Bush war eine angemessene, die europäischen und die deutschen Interessen schützende Reaktion außerordentlich schwierig, aber der Arroganz der Macht derart mit einer gewissen Arroganz der Ohnmacht zu antworten, verbesserte nicht Deutschlands Handlungsspielraum. Weil Frankreich und Russland als Schlüsselstaaten Europas „mit Deutschland als Frankreichs Anhängsel“8 Europa konfrontativ gegen die USA in Stellung zu bringen suchten, ging mehr als die Irakdiplomatie des Westens zu Bruch. Die Vision eines „karolingischen Europa“ verdrängt die des bewährten „atlantischen Europa“. Doch die Atlantiker in Europas Hauptstädten revoltieren, Europa ist gespaltener denn je und die Gemeinschaftsinstitutionen versagen angesichts dieser abrupten Polarisierung nationaler Interessen. So könnte bald die europäische Integration im traditionellen Verständnis zusammenbrechen, wenn Frankreich und Deutschland eine zunehmend antiamerikanisch eingefärbte Integration zu verwirklichen suchen. Europa muß sich heute auf zwei Perspektiven einstellen: Angeführt von England, Spanien und Polen wird in der einen Perspektive ein atlantisches und zugleich kraftvoll nach Osten erweitertes Europa angestrebt. Angesichts der Dynamik wird auch in diesem transatlantischen Verbund eine verstärkte Unipolarität der USA sichtbar. Diese Vision einer atlantischen Zivilisation stützt sich auf das angelsächsische „special relation ship“ und auf neue Partner wie Spanien, Italien, Polen und an8 Karl Feldmeyer, Furor im Unterhaus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19. März 2003.
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dere. So entstehen mit Rückendeckung der USA vielfach neue Kraftzentren in Europa. Gerade Polen hat von seiner Solidarität mit den USA im Zuge des Irak-Kriegs profitiert, weil es mit seinen Soldaten die Ölförderanlagen im Irak mitsicherte. Polen knüpft an traditionell enge Beziehungen zu den Angelsachsen an. Heute bildet es mit Großbritannien die transatlantische Klammer eines erweiterten Europa und wird vermutlich im Irak eine Besatzungszone zur Verwaltung übernehmen. Polen, nicht Deutschland, ist in der Sicht der USA auf dem Weg zur Zentralmacht Europas. Deutschland könnte zum Störenfried werden, wenn Berlin weiter atlantische Partnerschaft und europäische Einigung alternativ versteht. Die zweite, „karolingische“ Perspektive für Europa entwikkelt sich unter der Führung Frankreichs mit deutsch-russischer Gefolgschaft, die vor allem in Washington, aber auch in Mittel- und Osteuropa wie auch in Westeuropa auf wachsende Kritik stößt. Beide Perspektiven, die atlantisch-kontinuierliche wie auch die neue „karolingische“, prallen derzeit fast kompromißlos aufeinander, so daß der Wunsch, die Irakkrise als Katalysator für Fortschritte in der EU zu verstehen, „wenn alle den politischen Willen für Reformen aufbringen“9, derzeit als illusorisch erscheint. Dieser Eindruck kontrastiert mit der politischen Dynamik, die seit Amtsantritt der Regierung Bush in die Weltpolitik eingetreten ist. Wie immer man diese Politik bewertet, sie überrollt auch Europa und läßt festgefahrene Politik als anachronistisch erscheinen. Gerade der Erweiterungsprozeß der NATO und die Partnerschaftsbeziehungen mit Staaten im eurasischen Raum belegen einen gestärkten amerikanischen Ge9 Zitiert nach Thomas Hanke, Hintergrund: Schnitt durch die Nabelschnur. Irak hat die EU-Außenpolitik erschüttert – jetzt müssen die Partnerländer entscheiden, ob Europa Machtpol wird oder Juniorpartner Amerikas bleibt, in: Financial Times Deutschland vom 3. April 2003.
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staltungswillen. Amerika ist und bleibt eine europäische, ja mittlerweile eurasische Macht. Deshalb gibt es keine Alternative zur Rekonstruktion der transatlantischen Beziehungen ohne Würdigung von Amerikas ordnungspolitischer Leistungsfähigkeit. Daraus folgt: Wer in Europa für Scheidung von den USA plädiert, gewinnt nicht an Einfluß über den amerikanischen Partner, sondern gibt ihn auf. Dieser dramatische Trend der Renationalisierung in der europäischen und transatlantischen Politik gefährdet traditionelle Bausteine des Bündnisses. Dabei droht vor allem eine Polarisierung nicht nur in Europa, sondern in der gesamten transatlantischen Welt. Die neue Weltordnung im Zeichen einer verstärkten pax americana Bei aller Kritik am kontraproduktiven Vorgehen der Bundesregierung in der Irak-Krise darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Dynamik der USA als weltpolitische „Hypermacht“ (Hubert Vedrine) derzeit ohnehin kaum aufzuhalten wäre. Das Anliegen der gegenwärtigen amerikanischen Administration, einen Machtwechsel im Irak herbeizuführen, reichte weiter zurück als bis zur Auseinandersetzung im Weltsicherheitsrat. Es ist Teil des eingangs erläuterten Paradigmenwechsels in der geostrategischen und strukturellen Ausrichtung der USA. Auf internationaler Ebene sind die Gewinner dieser Veränderungen diejenigen, die mit kluger Diplomatie nationalen und regionalen Eigeninteressen Priorität geben und erkennen, daß es nutzlos ist, sich einer imperialen Dampfwalze frontal in den Weg zu stellen. Die Bundeskanzler Erhard, Kiesinger und Brandt standen dem USKrieg in Vietnam kritisch gegenüber, aber sie wären nie auf die Idee gekommen, sich offen gegen Amerika zu wenden. Das war nicht unmoralisch, sondern die kluge Einschätzung der eigenen Möglichkeiten. Heute ist im Unterschied zu Viet4*
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nam noch nicht einmal ausgemacht, daß die Irak-Politik der USA scheitern muß. Es zeichnet sich eine Weltordnung ohne Illusionen ab, in der nicht universalistische Ideale, eine kraftvolle UN und weitere Gemeinschaftsinstitutionen dominieren, sondern imperiale Machtpolitik. In einer multipolaren Welt drängen Staaten nach Balance, Begrenzung und Stärkung von Gemeinschaftspolitik. Die neue Wirklichkeit steht dagegen im Zeichen von Vorherrschaftsansprüchen einer Hypermacht, die Selbstbindungen negiert und stattdessen das Imperium bis an alle Peripherien der Welt ausdehnt. In dieser neuen Weltordnung paßt sich Amerika nicht mehr der Weltpolitik an, sondern fordert vom Rest der Welt Anpassung an die eigenen Interessen und Übernahme amerikanischer Werte und Prinzipien. Gemeinschaftsinstitutionen werden von taktischen Koalitionsüberlegungen überlagert. Zum obersten Ziel wird die Sicherung von Ressourcen der eigenen Machtentfaltung und die geostrategische Beherrschung der Welt. Die internationale Politik wird ökonomisiert und militarisiert. Die Bereitschaft der USA steigt, zentrale Interessen auch durch Krieg zu sichern. Es schwinden die „weichen Machtfaktoren“, die Amerika früher als „sanften Hegemon“ stärkten: zivilisatorische Attraktivität, flexible Diplomatie und eine Großzügigkeit, die Amerikas Dominanz für den Rest der Welt erträglich erscheinen ließen. Wo ist Europa organisatorisch, integrationspolitisch und weltpolitisch hingeraten? Wo ist Deutschland geblieben? Es wächst die bohrende Erkenntnis, daß Deutschland ein beträchtliches Maß an Mitschuld, wenn nicht sogar Hauptschuld für viele Fehlentwicklungen trägt. Die Bundesregierung hat die antiamerikanische Atmosphäre in Deutschland und Europa mit aufgeladen. Auch dadurch werden alle entsprechenden europapolitischen Vorschläge, wie sie jetzt aus Berlin formuliert werden, vergiftet. Was abstrakt durchaus als überlegenswert
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erscheinen mag, wirkt auf dem Hintergrund der vergangenen Irakkrise fragwürdig, lädt zu Mißbrauch bzw. Fehlinterpretation ein. Es entsteht der Eindruck, als wollen Paris und Berlin die proamerikanischen Europäer von London über Madrid und Rom bis nach Warschau abstrafen. Die Politik der Spaltung, die man der Regierung Bush unterstellt, betreibt man selbst. Wer vermag ernsthaft den Beteuerungen des Bundeskanzlers zu glauben, die Initiativen sollten den europäischen Pfeilers der NATO stärken, wenn zugleich von einem „Emanzipationsprozeß nach außen“ die Rede ist. Emanzipation als schroffe Absage an jahrzehntelang bewährte transatlantische Bündnisstrukturen und Gemeinschaftsinstitutionen steht in Wirklichkeit für Bruch und Dilettantismus. In Abkehr von der Praxis früherer Bundesregierungen werden atlantische Partnerschaft und europäische Einigung nicht mehr als Parallelunternehmen, sondern alternativ verstanden: statt der transatlantischen Partnerschaft wird der Scheidung das Wort geredet. Auch wird steigendem Antiamerikanismus in Deutschland nicht entgegengesteuert. Im Gegenteil, er scheint zum neuen Kennzeichen der Berliner Republik zu avancieren. Das ist auch ein Zeichen, daß die historische Leistung der Vereinigten Staaten für die deutsche Entwicklung der vergangenen 50 Jahre ebenso verdrängt wird, wie man alle denkbaren Parallelen zwischen Deutschland 1945 und Irak 2003 leugnet. 1945 waren die Amerikaner willkommene aufmerksame Befreier, heute werden sie in Berlin als kriegslüsterne Imperialisten gesehen. Dabei wird vergessen, daß die deutsche Demokratie mit all ihren Wurzeln ein imperialistischer Oktroi war und ist. Vorurteile erschweren eine sachliche und zukunftsorientierte Grundsatzdebatte über die deutsche Außenpolitik nach dem amerikanischen Sieg im Irak; mehr Bereitschaft zur Selbstkritik in Berlin wäre wünschenswert. Die Frage nach der völkerrechtlichen Legitimität des Krieges ist weniger relevant als vielmehr die politische Rückbesin-
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nung auf Deutschlands Rolle als Garant transatlantischer Orientierung und auf seine ausgleichende Rolle innerhalb der Europäischen Union. Europa steht nicht alternativ zur atlantischen Partnerschaft, sondern bleibt ihr wesentlicher Bestandteil. Die Irakkrise hat gezeigt, daß derjenige Europa spaltet, der es gegen die USA einen will. Auch wird den Europäern ohne oder gegen die USA die dauerhafte Stabilisierung Ost-, Mittel- und Südosteuropas ebensowenig gelingen wie die Befriedung des Balkans in den 90er Jahren. Die Anbindung Rußlands an die europäischen und transatlantischen Strukturen sollte darüber hinaus zentrales Ziel europäischer Politik bleiben. So liegt für Deutschland dank seiner europäischen Zentrallage der Beitritt der östlichen Nachbarn zur EU und zur NATO im eigenen Interesse. Das deutsch-französische „Tandem“ bleibt für die europäische Einigung nur dann essentiell, wenn diese Kooperation gänzlich anders als im Zeichen der Irakkrise funktioniert, nämlich mit Gespür für die Interessen der anderen Mitgliedstaaten, insbesondere in Mittel- und Osteuropa und unter Anerkennung der transatlantischen Bindungen.
Staat und Terrorismus Eine staatstheoretische Überlegung in praktischer Absicht* Von Bernd Grzeszick, Münster I. Terrorismus als Herausforderung des modernen Staates Ein neues Gespenst geht um in der Welt: Der internationale Terrorismus. Dem spektakulären Terroranschlag vom 11. September 2001 folgten entsprechend dramatische Analysen: Der Anschlag habe nicht allein deutlich gemacht, daß der „Terrorismus in neuen Dimensionen“1 existiere. Vielmehr werden die einstürzenden Zwillingstürme des World Trade Center als Symbol einer Zeitenwende gedeutet. Der Anschlag und seine Folgen seien „der erste Krieg des 21. Jahrhunderts“2. Das neue Jahrhundert sei nicht durch das „Ende der Geschichte“3 gekennzeichnet, sondern durch „die Wiederkehr der Politik und den Kampf der Kulturen“4. In Folge der Ereignisse vom 11. September müsse „die westliche Wertekultur auf den Prüfstand“5 gestellt werden. Die westliche Welt sei in einer Krise, * Prof. Dr. Otto Depenheuer zum 50. Geburtstag. 1 Kai Hirschmann, Terrorismus in neuen Dimensionen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 51 / 2001, S. 7 ff. 2 Karl-Heinz Kamp, Der „erste Krieg des 21. Jahrhunderts“?, in: Die Politische Meinung, Oktober 2001, S. 5 ff. 3 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, 1992. Zu seinen Thesen nach dem Anschlag vom 11. September 2001 ders., Has History Started Again?, in: Policy 18, Winter 2002, S. 3 ff. 4 Hans Vorländer, Die Wiederkehr der Politik und der Kampf der Kulturen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52 – 53 / 2001, S. 3 ff.
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die ein grundlegendes Umdenken im Sinne einer moralischen Erneuerung erfordere6. Diese Deutungen der Ereignisse mögen zutreffend sein oder nicht – als Grundlage für eine Reflexion des Verhältnisses von Staat und Terrorismus ist ihnen jedenfalls mit Zurückhaltung zu begegnen. Denn gerade in Zeiten vermeintlicher und erst recht echter Krisen gilt es, einen klaren Blick und kühlen Kopf zu behalten. Diese Haltung gestattet es, sich zunächst bestehender Grundlagen zu versichern, um neue Entwicklungen und Herausforderungen zutreffend erkennen zu können. Um in einer „Krise“ einen Überblick über deren Dimensionen und grundsätzliche Implikationen zu gewinnen, ist eine Reaktion besonders geeignet: das Herstellen von Distanz. Distanz kann durch die Einnahme vergleichender Perspektiven erreicht werden. Die vergleichende Sicht belegt rasch, daß zu recht Zweifel an der Neuheit und Einzigartigkeit der Gefahr des internationalen Terrorismus angebracht sind. Internationaler Terrorismus ist an vielen Orten in signifikantem Umfang gegenwärtig, zum Beispiel in Afrika, im Nahen und im Fernen Osten, in Rußland sowie in Europa: im Baskenland, in Nordirland, in Norditalien und auf Korsika. Ein Blick auf die Vergangenheit erinnert daran, daß auch Deutschland Erfahrungen im Umgang mit Terrorismus hat; hier seien nur der Anschlag während der Olympiade 1972 in München sowie die Aktionen der Rote Armee Fraktion erwähnt. Schließlich zeigen die Stellungnahmen zum Terroranschlag vom 11. September sowie zu den darauffolgenden Reaktionen, daß die Bewertung dieser Vorgänge in Deutschland grundsätzlich tradierten politischen Deutungsmustern folgt: Das Feuilleton der deutschen Zeitungen teilt sich in „illusionistische naive Friedensfreunde“ hier und „rechtsintellektuelle Selbstaufrüster aus dem Geiste Carl Schmitts“ da7; und das jüngst beschlossene Terrorismusbe5 Horst W. Opaschowski, Die Westliche Wertekultur auf dem Prüfstand, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52 – 53 / 2001, S. 7 ff. 6 Opaschowski (N 5), S. 7 f., 11 ff.
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kämpfungsgesetz ist Anknüpfungspunkt für die Diskussion, ob der Staat bei seinen Reaktionen auf Terrorismus mehr auf Freiheit oder mehr auf Sicherheit setzen soll8. Diese Frage weist nun unmittelbar auf die tiefergehende staatstheoretische Bedeutung der Ereignisse hin: „Sicherheit und Freiheit“ lautet das dialektische Leitmotiv moderner Staatlichkeit. Überlegungen zum Verhältnis von Sicherheit und Freiheit führen deshalb zu den Grundlagen des modernen Staates: die Zivilisierung der Gewalt durch die staatliche Herrschafts- und Friedensordnung. Die Bewältigung von Gewalt durch deren Zivilisierung ist die grundlegende Leistung des modernen Staates. Gerade der Erfolg dieser Zivilisationsleistung droht aber, diese in Vergessenheit geraten zu lassen – wenn nicht aktuelle Ereignisse dazu Anlaß geben würden, sich dieser Leistung und ihrer Grundlagen zu versichern. Aus dieser Perspektive soll im folgenden dem Verhältnis von Staat und Terrorismus nachgegangen werden. Die Frage, wie der Staat auf Terrorismus reagieren sollte, wird mittels einer Reflexion der Grundlagen moderner Staatlichkeit beantwortet. Die Überlegungen erfolgen dabei in drei Schritten. Zunächst werden Logik und Eigenart des Terrorismus bestimmt (II., III.). Dem folgt die Analyse des Terrorismus in seinem Verhältnis zum modernen Staat (IV.). Aus diesen Einsichten werden schließlich Folgerungen für das staatliche Ver7 Kurt Scheel, Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Das deutsche Feuilleton bleibt wachsam, in: Merkur, 2002, S. 78 ff. m. N. 8 Klaus Hanzog, Freiheitsrechte und Sicherheit, in: Recht und Politik, Heft 4 / 2001, S. 189 ff.; Christian Calliess, Sicherheit im freiheitlichem Rechtsstaat, in: ZRP 2002, S. 1 ff.; Gert-Joachim Glaeßner, Sicherheit und Freiheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10 – 11 / 2002, S. 3 ff.; Günter Erbel, Die öffentliche Sicherheit im Schatten des Terrorismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10 – 11 / 2002, S. 14 ff.; Erhard Denninger, Freiheit durch Sicherheit? Anmerkungen zum Terrorismusbekämpfungsgesetz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10 – 11 / 2002, S. 22 ff.; Martin Nolte, Die Anti-Terror-Pakete im Lichte des Verfassungsrechts, in: DVBl. 2002, S. 573 ff.; Wolfgang Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge, in: ZRP 2002, S. 497 ff.
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halten gegenüber Terrorismus sowie für das Verständnis und die Gestaltung des Verfassungsrechts gezogen (V. – VIII.). II. Zum Begriff des Terrorismus Der Begriff des „Terrorismus“ ist – wie der des „Terrors“ und des „Terroristen“ – zunächst ein phänomenologischer Begriff, der in verschiedensten Sinnzusammenhängen auftaucht und zur Bezeichnung unterschiedlichster Vorgänge verwendet wird9. Dies steht einer allgemeinen Definition des Begriffs „Terrorismus“ entgegen, denn: Die Definition eines Begriffes erfordert Abgrenzungen, die wiederum einen bestimmten Kontext voraussetzen. Aber auch eine spezifische, auf einen bestimmten wissenschaftlichen Kontext bezogene Bestimmung des Terrorismusbegriffs begegnet Schwierigkeiten. Ein Blick auf die Rechtswissenschaft zeigt, daß der Gehalt des Begriffes „Terrorismus“ selbst innerhalb eines fachlich eingegrenzten Bereichs erheblich changieren kann10: Eine „terroristische Vereinigung“ im Sinne von § 129a StGB ist durch andere Verhaltensweisen gekennzeichnet, als sie von den Regeln des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge11, des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus12 sowie des Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus13 erfaßt werden. 9 Vgl. Alex P. Schmid, Political Terrorism, New Brunswick 1988, S. 6; Bruce Hoffmann, Terrorismus – Der unerklärte Krieg, 2001, S. 13 ff. 10 Vgl. Christian Tomuschat, Der 11. September 2001 und seine rechtlichen Konsequenzen, in: EuGRZ 2002, 535, 536 ff.; Eckhart von Bubnoff, Terrorismusbekämpfung – eine weltweite Herausforderung, in: NJW 2002, S. 2672; jew. m. w. N. 11 International Convention for the Suppression of Terrorist Bombings, angenommen durch Resolution 52 / 164 der UN-Generalversammlung, 15. 12. 1997. 12 International Convention for the Suppression of the Financing of Terrorism, angenommen durch Resolution 54 / 109 der UN-Generalversammlung, 9. 12. 1999.
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Im Rahmen dieses Vortrags wird nach der staatstheoretischen Verortung des Terrorismus gesucht. Diese Frage erfordert, die Eigenart des Terrorismus in Hinsicht auf den Staat herauszuarbeiten. Der Staat ist der Kontext, in dem der Zugang zum Phänomen des Terrorismus und eine Prägung seiner Begrifflichkeit zu suchen ist. Den Terrorismus in diesem Zusammenhang auf den Begriff zu bringen, wirft allerdings gleichfalls beträchtliche Schwierigkeiten auf. Die Definitionsversuche erschöpfen sich regelmäßig in einer Umschreibung des phänomenologischen Verhaltens, zum Beispiel als „Anwendung politisch motivierter versteckter Gewalt durch eine Gruppe, die sich gewöhnlich gegen Regierungen, seltener gegen andere Gruppen, Klassen oder Parteien richtet“14 oder als „planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund“15. Angesichts der Schwankungen und Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Begriffs Terrorismus empfiehlt es sich, zunächst den Staat begrifflich zu fassen, um dann vor diesem Hintergrund einen staatstheoretischen Begriff des Terrorismus herauszuarbeiten. III. Der moderne Staat als Kontrastfolie Der Staat ist eine politische Herrschaftsform, die bei modernen Staaten das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit16 innehat. Dieses Monopol ist gekoppelt an ein Kriterium, das staatliches Handeln gegenüber den Mitgliedern des Herrschaftsverbandes legitimiert. Das Kriterium zur Legitimation fällt nun je nach Legitimationsidee durchaus unterschiedlich Vom 27. 1. 1977, BGBl. 1978 II, S. 322 ff. Walter Laqueur, Terrorismus, 1987, S. 95. 15 Peter Waldmann, Terrorismus als weltweites Phänomen: Eine Einleitung, in: Kai Hirschmann / Peter Gerhard (Hrsg.), Terrorismus als weltweites Phänomen, 2000, S. 11. 16 Begriff nach Max Weber, Staatssoziologie, 2. Aufl., 1966, S. 27 ff. 13 14
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aus: In Monarchien ist es eine Erbfolge, in Demokratien ist es eine Volkswahl. Allerdings weisen die Legitimationskriterien in modernen Staaten eine Gemeinsamkeit auf: Die Frage nach der richtigen Politik wird nicht mit Gewalt entschieden17. Staat und Verfassung bilden im modernen Staat eine grundsätzlich abschließende Koppelung von Recht und Politik, die physischen Zwang als Mittel zur Erlangung politischer Macht ausschließt18. Der Einsatz physischen Zwanges gegen Bürger darf erst aufgrund einer ohne Gewalt für richtig befundenen und in das Recht überführten Politik erfolgen. Hinter dem Ausschluß des physischen Zwangs als Mittel zur Erlangung politischer Macht steht die in den Religionskriegen der frühen Neuzeit gewonnene Einsicht, daß eine dauerhafte gesellschaftliche Ordnung Frieden voraussetzt19. Die Umstellung der Rechtfertigung staatlicher Herrschaft von der religiösen Wahrheit auf den säkularen Frieden erfolgte zwar als Reaktion auf die religiösen Bürgerkriege. Der Vorrang des Friedens vor der Wahrheit ist aber nicht allein historisch-kontingent, sondern prinzipiell begründet. Die physische Integrität des einzelnen ist unabdingbare Voraussetzung für dessen soziales Dasein. Reale, soziale Freiheit ist dauerhaft nur auf der Grundlage physischer Integrität zu erreichen. Die staatlich gesicherte Friedensordnung ist Bedingung für ein relativ sicheres Leben des einzelnen und damit für alle weiteren gesellschaftlichen Differenzierungen. Über die richtige Religion, die richtige Politik und die richtige Wirtschaftsform kann gestritten werden, aber in den Grenzen der Friedlichkeit. Der moderne Staat hat insoweit nur eine Wahrheit: die des Friedens. Diese eine formale Wahrheit geht 17 Benjamin R. Barber, Ein Krieg „jeder gegen jeden“: Terror und die Politik der Angst, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 18 / 2002, S. 7 ff. 18 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 470 f. 19 Dazu nur Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 2. Aufl., 1992, S. 92 ff.
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den verschiedenen materialen Wahrheiten vor: Frieden hat Vorrang vor Wahrheit20. Die Umstellung der staatlichen Legitimation von Wahrheit auf Frieden erschöpfte sich in ihren Folgen aber nicht im Begriff der Souveränität des Staates, sondern setzte eine weitergehende Entwicklung der Staatsformen und -strukturen in Gang21. Um den Anspruch des Friedens auf Vorrang vor der Wahrheit nicht nur behaupten, sondern im Konfliktfall auch einlösen zu können, bedarf der moderne Staat zwar eines effektiven Monopols legitimer physischer Gewalt. Dieses Monopol ist aber für Mißbrauch anfällig. Die staatliche Macht bedarf deshalb wiederum der Kontrolle und Begrenzung, um Grundlage einer stabilen Friedensordnung sein zu können. Die Bindung und Begrenzung staatlicher Macht erfolgt dabei vor allem in der Form des Rechts. Die spezifischen Bindungen des Staates an das Recht werden unter dem Begriff des Staatsrechts zusammengefaßt, dessen Grundzüge weiter ausdifferenziert und schließlich verselbständigt werden: als Verfassungsrecht. Im Verfassungsrecht moderner Staaten werden nun bestimmte gemeinsame Strukturen deutlich: Gewaltenteilung, Grundrechte und Demokratie. Diese Strukturen sind gleichfalls Folge der Umstellung der Legitimation staatlicher Herrschaft von einer materialen Wahrheit auf die formale Wahrheit des Friedens. Der Vorrang des Friedens vor den materialen Wahrheiten ermöglicht und verlangt zwar eine Verständigung der Gesellschaft auf bestimmte inhaltliche Ziele. Diese sind aber wiederum einzugrenzen. Vor allem müssen politische Entscheidungen begrenzt werden und änderbar sein, da andernfalls die Möglichkeit besteht, daß eine bestimmte Politik 20 Dazu Otto Depenheuer, Wahrheit oder Frieden? Die fundamentalistische Herausforderung des modernen Staates, in: Heiner Marré / Dieter Schümmelfelder / Burkhard Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche 33 (1999), S. 5, 18 ff. 21 Josef Isensee, Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, in: JZ 1999, S. 265, 268 ff.
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andere Ziele staatlichen Handelns auf Dauer verdrängt und damit die Stabilität der Friedensordnung gefährdet. Die Begrenzung staatlicher Macht und die Änderbarkeit der Politik werden durch Gewaltenteilung, Grundrechte und Demokratie sichergestellt: Die Gewaltenteilung hemmt und kontrolliert die staatliche Macht; die Grundrechte begrenzen die staatliche Macht gegenüber dem einzelnen Bürger; und die Demokratie führt dazu, daß staatliche Macht jeweils nur auf Zeit vergeben wird. Gewaltenteilung, Grundrechte und Demokratie sind damit die adäquaten Strukturelemente des Wechselspiels zwischen der Stabilität des Staates und der Kontingenz der Politik. Hinter diesem Wechselspiel steht der Vorrang des Friedens vor der Wahrheit. Die eine, formale Wahrheit des Friedens ist Voraussetzung für die Vielfalt der verschiedenen materialen Wahrheiten. Diese können die staatliche Politik prägen, aber: in den von der Gewaltenteilung und den Grundrechten gezogenen Grenzen und auf demokratisch begrenzte Zeit. Die Strukturen des modernen Verfassungsrechts sind damit Ausdruck der Relativierung staatlicher Macht gegenüber jeder Absolutsetzung materialer politischer Ziele. Die Strukturen des gewaltenteilenden, liberalen und demokratischen Verfassungsstaates sind die adäquaten Folgen moderner Staatlichkeit. Vor dieser Folie wird nun die spezifische Logik des Terrorismus deutlich: Der Terrorist behauptet den unbedingten Vorrang seines politischen Ziels vor allen anderen Zielen. Dieser unbedingte Vorrang impliziert die Verwirklichung des Ziels mit allen Mitteln – notfalls auch mit Gewalt. Der Terrorist beansprucht damit Vorrang seines Ziels auch vor der staatlichen Friedensordnung. Die materiale Wahrheit des Terroristen geht allen anderen Wahrheiten vor, auch der formalen Wahrheit des Friedens. Die Logik des Terrorismus ist zugleich Grundlage der Unterscheidung von anderen Erscheinungsformen physischer Gewalt: Bürgerkrieg, Krieg, Störer im Sinne des Polizeirechts sowie organisierte Kriminalität.
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Mit dem Bürgerkrieg teilt der Terrorismus die Logik, eine politische Überzeugung gegenüber anderen Bürgern mit Gewalt durchzusetzen. Der Unterschied betrifft daher die Erscheinungsform: Anders als Bürgerkriegsparteien führen Terroristen häufig keine offene Auseinandersetzung, sondern gehen verdeckt vor. Dies trifft vor allem zu, wenn sie gegen eine bestehende staatliche Ordnung vorgehen. In dieser Konstellation versuchen Terroristen, die Überlegenheit der staatlichen Macht durch asymmetrische Formen der Konfliktaustragung zu kompensieren. Die verdeckte Aktion mit überraschender und Angst erzeugender Gewalt ist eines der Mittel, die Instrumentalisierung der Medien durch spektakuläre Bilder von terroristischen Anschlägen oder von Betroffenen der staatlichen Gegenmaßnahmen ein anderes22. Gegenüber Krieg läßt sich Terrorismus theoretisch relativ klar abgrenzen. Krieg ist die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Staaten. Dagegen können Bürger weder gegeneinander noch gegen ein anderes Land Krieg führen. Diese Abgrenzung wird zwar in der Praxis prekär, wenn Private mit staatlicher Duldung oder Unterstützung gegen ein anderes Land vorgehen. Aber auch dann ist im Grundsatz an der Definition festzuhalten, daß Krieg die Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols gegenüber anderen Staaten ist, denn Krieg ist gänzlich anderen rechtlichen Regeln unterworfen als Terrorismus bzw. Bürgerkrieg23. Allerdings kann zum einen das Verhalten der Terroristen den duldenden oder unterstützenden Staaten zuzurechnen sein und damit als Krieg qualifiziert werden24. Zum anderen ist darüber nachzudenken, ob Terror22 Dazu Herfried Münkler, Asymmetrische Gewalt. Terrorismus als politisch-militärische Strategie, in: Merkur 2002, S. 1 ff. 23 Vgl. Dieter Blumenwitz, Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Kampf gegen den Terrorismus, in: ZRP 2002, S. 102, 104. 24 Dieter Blumenwitz, Das universelle Gewaltanwendungsverbot und die Bekämpfung des grenzüberschreitenden Terrorismus, in: BayVBl. 1986, S. 737, 739 f.; Claus Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigung nach der Satzung der Vereinten Nationen bei staatlicher Verwicklung in Gewaltakte Privater, 1995,
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organisationen selbst Adressaten des Völkerrechts werden und durch ihre Handlungen gegen sich das völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht eines Staats auslösen können25. Der Störer im Sinne des Polizeirechts ist im Unterschied zum Terrorist ein völlig unspezifischer Rechtsbrecher. Jeder, der die bestehende Rechtsordnung gefährdet oder gegen sie verstößt, kann unabhängig von den Zielen, den Gründen, der Intensität und den Erscheinungsformen des Rechtsverstoßes Störer im Sinne des Polizei- und Ordnungsrechts sein. Von der organisierten Kriminalität26 schließlich unterscheidet den Terroristen das Handlungsziel: Während organisierte Kriminalität letztendlich auf den Erwerb von Vermögen zielt, ist terroristisches Handeln regelmäßig auf umfassendere politische Ziele ausgerichtet27. Diese Unterscheidung trifft auch zu, wenn die organisierte Kriminalität ein ganz erhebliches allgemeines Machtpotential hat. Auch dann möchte sie grundsätzlich im Schatten einer bestehenden staatlichen Ordnung existieren, nicht aber an die Stelle des Staates treten28. Täte sie dies, müßte sie ihr Verhalten ändern: Die Organisation wäre dann nicht mehr auf den Erwerb von Vermögen ausgerichtet, sondern müßte den Erwerb und Erhalt der politischen Macht verfolgen und dementsprechend umfassende Politik betreiben.
S. 235 ff.; Kirsten Schmalenbach, Die Beurteilung von grenzüberschreitenden Militäreinsätzen gegen den internationalen Terrorismus aus völkerrechtlicher Sicht, in: NZWehrR 2000, S. 177, 179 ff.; 186; Günter Krings / Christian Burkiczak, Bedingt abwehrbereit?, in: DÖV 2002, S. 501, 508 ff.; jew. m. w. N. 25 Dazu der Beitrag von Eckart Klein in diesem Band. 26 Zu diesem Begriff Hans-Werner Hamacher, Tatort Bundesrepublik – Organisierte Kriminalität, 1986, S. 7 ff. 27 Erbel (N 8), S. 18. 28 Erbel (N 8), S. 18.
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IV. Das Verhältnis zwischen Staat und Terrorismus Anhand der Logik des Terrorismus kann nun das Verhältnis des Terrorismus zum Staat erklärt werden. Terroristen mißachten das staatliche Gewaltmonopol nicht nur beiläufig, sondern wenden sich gegen die Grundlagen der staatlichen Friedensordnung. Der Terrorist unterscheidet sich von anderen Gewalttätern dadurch, daß er das staatliche Gewaltmonopol mit einem bestimmten Anspruch in Frage stellt: Der Terrorist beansprucht den grundsätzlichen Vorrang seines politischen Zieles vor dem Frieden und damit vor der staatlichen Herrschafts- und Friedensordnung. Terrorismus ist als ein Rückfall in die staatliche Vormoderne zu verstehen29, weil er gegen die staatliche Friedensordnung als zentrale Grundlage moderner Staatlichkeit gerichtet ist. Zugespitzt formuliert: Terrorismus ist ein Angriff auf die moderne Staatlichkeit selber30. Diese These bedarf allerdings der weiteren Erläuterung. Denn auf den ersten Blick scheint Terrorismus weder notwendig noch regelmäßig gegen moderne Staatlichkeit an sich gerichtet zu sein. Zum einen ist auffällig, daß historisch wie aktuell terroristische Gewalt nicht stets gegen den Staat gerichtet ist, sondern auch durch und mit ihm möglich ist. Zum anderen scheinen terroristische Handlungen auch bei Terrorismus gegen den Staat nicht gegen die Staatlichkeit an sich gerichtet zu sein. Wegen des Mittels der Gewalt stellt der Terrorist zwar das Gewaltmonopol des Staates in Frage. Aber: die Gewalt ist eben nur das Mittel des Terroristen, nicht sein Ziel. Soweit der Staat das jeweilige Ziel des Terroristen anerkennt, wird das Gewaltmonopol des Staates nicht mehr in Frage gestellt. Die nähere Betrachtung zeigt allerdings, daß diese staatliche Herrschaft dann einer anderen Logik folgt, als sie modernen Staaten zu eigen ist. Das Gewaltmonopol dieses Staates und Barber (N 17), S. 7. In diese Richtung Rudolf Burger, Die islamistische Verschärfung, in: Merkur, 2002, S. 183, 187: „es geht um die Durchsetzung von Staatlichkeit selber“. 29 30
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dessen Friedensordnung werden von Terroristen nur soweit akzeptiert, als sie die Verwirklichung ihres politischen Zieles nicht hindern, der Vorranganspruch ihres Zieles also anerkannt wird. Sobald dies nicht mehr gegeben ist, lebt der Vorranganspruch der terroristischen Wahrheit aber wieder auf. Staaten, die dies tolerieren oder gar akzeptieren und die jeweilige materiale Wahrheit zu ihrer Grundlage machen, besitzen zwar eine moderne Staatlichkeit insoweit, als sie ein souveräner territorialer Herrschaftsverband sind. Dennoch sind diese Staaten keine vollständig entwickelten modernen Staaten: Ihnen fehlen Grundrechte, Gewaltenteilung und eine Legitimation, die eine politisch variable Steuerung zuläßt. Der Grund für diese Defizite liegt in der Ausrichtung der Legitimation auf ein bestimmtes inhaltliches Ziel. Grundlage und Ziel des Gewaltmonopols dieser Staaten ist nicht die formale Wahrheit des Friedens, auf deren Grundlage und in deren Grenzen sich dann auf die richtige Politik geeinigt werden kann und muß. Statt dessen beruht ihre staatliche Gewalt auf einer bestimmten materialen Wahrheit, die das Ziel aller Politik ist, und die deshalb auch Vorrang vor dem Frieden behauptet: die Weisung Gottes, der Befehl des Führers oder der Beschluß der einen Partei, die immer Recht hat. Diese Logik ist eine andere, von modernen Staaten zu unterscheidende: die Logik des Totalitarismus31. Dieser Unterschied zwischen Terrorregime und modernem Staat zeigt sich auch in historischer Perspektive. Die erste moderne32 Prägung des Wortfeldes erfolgte durch eine staatliche Herrschaftsausübung: die „terreur“ während der Französi31 Dazu grundlegend Hanna Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1955. Weiter Eric Voeglin, Die politischen Religionen, 1993; Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien, 1997; Claus-E. Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, 1998; Manfred Henningsen, Totalitarismus und politische Religion, in: Merkur, 2002, S. 383 ff. 32 Zu Herkunft und früheren Verwendungen Rudolf Walther, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 6, 1990, S. 323, 325 ff.
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schen Revolution33. Die Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses anerkannten durchaus, daß das gesamte Staatswesen mitsamt Verfassung und Gesetzen dem Volkswohl dienen soll. Allerdings verfolgten sie ein bestimmtes Volkswohl: das ihrer Überzeugung nach richtige. Dieses wirkliche, wahre Volksinteresse hatte Vorrang vor allen anderen Überzeugungen und rechtfertigte zur Durchsetzung jedes Mittel. Nicht nur, daß sämtliche Institutionen und Rechtsbindungen deshalb der Durchsetzung des richtigen Volkswohls weichen mußten, soweit es ihm hinderlich war34. Das richtig verstandene Volkswohl hatte auch Vorrang vor dem Frieden als Grenze der politischen Auseinandersetzung. An die Stelle der Diskussion der Bürger über die richtige Politik trat der Zwang der Gewalt zur Durchsetzung einer von den Gewaltanwendern für richtig erkannten Politik. In der Diktatur des Wohlfahrtsausschusses zeigt sich damit die Logik des Terrors und dessen Verhältnis zum modernen Staat: Eine bestimmte politische Ansicht hat grundsätzlich Vorrang vor allen anderen Ansichten und im Konfliktfall auch Vorrang vor der Friedensordnung. Der Terrorismus, der sich gegen den Staat richtet, folgt demnach derselben Logik wie der Staatsterror. An die Stelle der Diskussion der Bürger über die richtige Politik in den Grenzen der Friedlichkeit tritt die Durchsetzung der subjektiv für richtig gehaltenen Politik, notfalls mit Gewalt. Staatsterror wie Terroristen behaupten den Vorrang ihrer materialen politischen Wahrheit vor der formalen politischen Wahrheit des Friedens. Sowohl der Terrorismus gegen den Staat als auch der Staatsterror sind damit Ausdruck eines absolut gesetzten Bewußtseins: Eine subjektive Ansicht wird absolut gesetzt, so daß sie Vorrang hat vor allen anderen Ansichten und sämtliche Mittel rechtfertigt einschließlich der Gewalt35. 33 Walther (N 32), S. 323 ff.; Gerd van den Heuvel, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, 1998, Sp. 1020 ff. 34 Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 5. Aufl., 1994, S. 168 f.
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Genau deshalb ist Terrorismus ein Angriff auf die moderne Staatlichkeit. Wegen der Rechtfertigung von Gewalt durch den Vorranganspruch eines politischen Zieles ist Terrorismus nicht nur gegen die Politik bestimmter moderner Staaten gerichtet, sondern zugleich gegen deren Grundidee: den Vorrang des Friedens vor der Wahrheit. Indem der Terrorist den gewaltsamen Vorrang seiner Wahrheit beansprucht, richtet er sich gegen die moderne Staatlichkeit mit ihrer formalen, relativierenden Wahrheit des Friedens. Und genau hierin liegt auch die tiefere Bedeutung des Terroraktes vom 11. September 2001: Mit diesem Anschlag wird die Staatskultur des Westens in ihrer Relativität, ihrer Offenheit und ihrer Skepsis gegen alles Absolute angegriffen36, findet tatsächlich ein Kampf der Kulturen statt.
V. Folgen für staatliches Verhalten Was folgt daraus für den Staat? Auf der Grundlage der vorangegangenen Überlegungen läßt sich das staatstheoretisch gebotene Verhalten gegenüber Terrorismus bestimmen: Der Staat hat sich gegen terroristische Gewalt zu schützen. Die Wahrung des modernen Friedens erfordert die Wahrung des staatlichen Gewaltmonopols. Sicherheit durch Staatlichkeit ist die grundlegende Aufgabe des Staates37. Die zivilisatorische Leistung des modernen Staates, die physische Gewalt zwischen den Menschen zu bändigen und die Menschen vom Naturzustand in eine stabile gesellschaftliche Ordnung mit staat35 Uwe Backes, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., 5. Band, 1989, Sp. 440; Walther (N 32) S. 361 f.; van den Heuvel (N 33), Sp. 1023; Burger (N 30), S. 183, 188, 190, 193 ff. 36 Richard Herzinger, Was für den Westen zählt, oder: Sind amerikanische Werte auch unsere Werte?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 18 / 2002, S. 3, 4 ff. 37 Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 3 ff.; ders. (N 21), S. 271 f.
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licher Herrschaft zu überführen, ist eine kulturelle Errungenschaft, die zu verteidigen ist. Diese kulturelle Errungenschaft hat Vorrang vor den jeweiligen Zielen von Terroristen. Der Vorrang der Friedlichkeit vor der Wahrheit ist Bedingung einer stabilen Friedensordnung und damit einer modernen, offenen Gesellschaft. Allerdings sind dem modernen Staat bei der Verteidigung seiner Grundlagen auch prinzipielle Grenzen gesetzt. Aus den Grundlagen moderner Staatlichkeit folgen Grenzen für den Schutz gegen Terrorismus. Der moderne Staat droht seine Rechtfertigung zu verlieren, falls er diese Grenzen verkennt. Die Rechtfertigung des Staates kann dabei aus zwei Richtungen in Frage gestellt werden: Zum einen dadurch, daß der Schutz zu schwach ausfällt, das Maß des gebotenen Schutzes unterschritten wird; zum anderen dadurch, daß der Schutz zu stark ausfällt, das Maß des gebotenen Schutzes überschritten wird. Diese beiden Gefährdungen des Staates sind nicht zufällig, sondern in der Eigenart des modernen Staates angelegt. Der moderne Staat ist als gewaltenteilender, liberaler und demokratischer Verfassungsstaat in doppelter Form relativierend, begrenzend und skeptisch. Zum einen wird als Konsequenz des Grundsatzes „Frieden statt Wahrheit“ die staatliche Gewalt monopolisiert. Das staatliche Gewaltmonopol ist damit Ausdruck der Skepsis gegenüber den Bürgern, genauer: deren Versuchung, ihre Interessen gegenüber den Mitbürgern mit Gewalt durchzusetzen. Zum anderen wird die beim Staat monopolisierte Gewalt durch eine Verfassung gebändigt, die ein übermäßiges Ausgreifen staatlicher Macht und die Absolutsetzung politischer Ziele seitens des Staates verhindern soll. Gewaltenteilung, Grundrechte und Demokratie relativieren die staatliche Macht und sind damit Ausdruck der Skepsis gegenüber den politischen Machthabern. Die beiden prinzipiellen Grenzen knüpfen an die beiden Relativierungen der privaten bzw. der staatlichen Macht an.
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Die Unterschreitung des gebotenen Schutzes verkennt die Relativierung privater Macht. Sie vergißt, daß der moderne Staat auf dem grundsätzlichen Ausschluß privater Gewalt beruht38. Gerade die Offenheit und die Relativität der Gesellschaftsordnung moderner Staaten können dazu verleiten, daß der gebotene Schutz der Grundlagen des Staates verkannt wird. Die innerhalb der staatlichen Friedensordnung anzufindende Relativierung in politischen Dingen droht auf die nicht zu relativierende Voraussetzung der staatlichen Friedensordnung übertragen zu werden. Diese Relativierung wird vor allem aus der Toleranz39 gegenüber bzw. dem Respekt vor der terroristischen Überzeugung gespeist. Dabei werden die Gründe für das Entstehen von Terrorismus dazu herangezogen, das Verhalten von Terroristen zumindest teilweise zu tolerieren und zu rechtfertigen. Die Argumentation lautet, daß bei der Reaktion auf Terrorismus die Gründe für terroristisches Verhalten berücksichtigt werden müßten. Dies könne dazu führen, daß statt strikter Zurückweisung ein Dialog mit den Terroristen zu führen sei, der eventuell zu einem Kompromiß führen könne, der für die Haltung der Terroristen Verständnis zeigt. Im Ergebnis wird Terrorismus trotz seines absoluten Anspruchs toleriert. Diese Haltung ist nicht überzeugend. Für Toleranz gegenüber terroristischer Gewalt ist in der Sphäre des Staatlichen grundsätzlich kein Platz. Gerade die Absolutheit eines mit Gewalt vorgetragenen Anspruchs auf die wahre, richtige Ausrichtung des Gemeinwesens verlangt eine entsprechend wirkungsvolle Zurückweisung dieses Anspruchs. Alles zu verstehen führt nicht dazu, alles zu rechtfertigen. Zwar ist ein Vor38 Vgl. Josef Isensee, Die Friedenspflicht der Bürger und das Gewaltmonopol des Staates, in: FS Kurt Eichenberger, Basel u. a. 1982, S. 23 ff. 39 Überblick zu den Grundlagen und Grenzen der Toleranz bei Friedrich E. Schnapp, Toleranzidee und Grundgesetz, in: JZ 1985, S. 857 ff.; Rainer Forst, Grenzen der Toleranz, in: Winfried Brugger / Görg Haverkate (Hrsg.), Grenzen als Thema der Rechts- und Sozialphilosophie, ARSP-Beiheft Nr. 84, 2002, S. 9 ff.; jew. m. w. N.
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gehen gegen Terrorismus dann besonders erfolgreich, wenn es die Ursachen des Terrorismus, also die Gründe für dessen Entstehen, berücksichtigt. Gegenüber totalitären Ansprüchen sind aber Dialogbereitschaft, Entgegenkommen und Hilfe keine erfolgversprechenden Reaktionen. Dies gilt erst recht, soweit totalitäre Ansprüche mit dem Mittel der Gewalt durchgesetzt werden: Falls die Grenze der Friedlichkeit überschritten wird, sind Schutz und Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gegenüber einem Dialog vorrangig. Kennzeichnenderweise gerät bei Terroristen auch eine Integration durch einen Diskurs der Betroffenen an ihre Grenzen. Denn ein echter, integrierender Dialog der Kulturen setzt nach seiner Idee voraus, das der Diskurs zumindest in einem gewissen Maße herrschaftsfrei verläuft, um vernünftige und deshalb richtige Ergebnisse produzieren zu können40. Terroristen pflegen aber Gewalt statt Diskurs, benutzen Waffen statt Argumente und behaupten für ihre Wahrheit einen eben nicht verhandelbaren Vorrang. Hier gilt: Keine Toleranz gegenüber Intoleranten!41 Die Überschreitung des gebotenen Schutzes verfällt in das andere Extrem: Sie verkennt, daß der moderne Staat seinerseits nur eine relativierte, eingegrenzte Macht hat. Der Staat darf im Schutz vor dem Terrorismus nicht seinerseits der terroristischen Logik des Absoluten anheim fallen. Diese andere prinzipielle Grenze, die der Staat beim Vorgehen gegen Terrorismus zu beachten hat, wird an den Reaktionen auf Selbstmordattentäter deutlich. Weil der zum Selbstmord entschlossene Attentäter durch gegen ihn gerichtete repressive Sanktionen von der Tat nicht abzuhalten ist, wird unter anderem diskutiert, Sanktionen gegen Personen aus seiner Familie oder seinem lokalen Umfeld zu richten42. 40 Dazu Axel Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, 2000, insbes. S. 101 f., 224, 322 ff. m. N. 41 Vgl. Depenheuer (N 20), S. 22.
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Solche Sanktionen sind aber rechtsstaatlich problematisch: Sie können Personen treffen, die zur Tat keinen hinreichenden Beitrag geleistet haben, und drohen damit, diese Personen zum Objekt staatlicher Maßnahmen zu machen43. Hier zeigt sich, daß der moderne, liberale und gewaltenteilende Verfassungsstaat beim Schutz gegen Terroristen einen weiteren Grundsatz beachten muß: Der Staat darf in seinen Reaktionen nicht so weit gehen, daß er seine eigenen Maßstäbe, seine sich selbst gesetzten Grenzen überschreitet. Der moderne Verfassungsstaat steht hier in einer Spannungslage zwischen der Verteidigung seines Gewaltmonopols und der Beachtung des dieses Monopol bändigenden Verfassungsrechts.
VI. Das rechtsstaatliche Dilemma des Staatsnotstands Diese Spannungslage kann zu einem Konflikt geraten, wenn die rechtsstaatliche Einbindung der Staatsgewalt dem effektiven Schutz des Staates entgegensteht. Die Frage, wie dieser Konflikt bewältigt werden kann, ist nun nicht neu, sondern unter dem Begriff des Staatsnotstands bereits vielfach diskutiert worden44. Die dazu vertretenen Lösungen folgen je42 Vgl. zur Diskussion über Kollektivsanktionen Alan M. Dershowitz, Why Terrorism Works: Understanding the Threat, Responding to the Challenge, New Haven, 2002, S. 176 ff. 43 Vgl. zu den damit angesprochenen Fragen am Beispiel der Folter Winfried Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, in: Der Staat 35 (1996), S. 67 ff.; ders., Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, in: JZ 2000, S. 165 ff. 44 Dazu sowie zum Folgenden Konrad Hesse, Ausnahmezustand und Grundgesetz, in: DÖV 1955, S. 741 ff.; ders., Grundfragen einer verfassungsrechtlichen Normierung des Ausnahmezustands, in: JZ 1960, S. 105 ff.; HansErnst Folz, Staatsnotstand und Notstandsrecht, 1962, S. 107 ff., 151 ff.; Michael Krenzler, An den Grenzen der Notstandsverfassung, 1974, S. 49 ff.; Paul Kirchhof, Die Zulässigkeit des Einsatzes staatlicher Gewalt in Ausnahmesituationen, in: William Birtles / Geoffrey Marschall / Gerhard Heuer / Paul Kirchhof / Otto F. Müller / Herbert Spehar, Die Zulässigkeit des Einsatzes staatlicher Gewalt in Ausnahmesituationen, Deutsche Sektion der internationalen Juristenkommis-
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weils einem von zwei Grundmustern: entweder die Annahme der Bindung des Staates an das rechtsstaatliche Gesetz auch im Notstand, was bei einer abschließenden Kodifizierung des Notstandsrechts dazu führen kann, daß die Verteidigung der staatlichen Ordnung eingeschränkt ist oder das Recht gebrochen wird; oder die Anerkennung eines staatlichen Notstandsrechts, das gegebenenfalls jenseits des geschriebenen Rechts besteht. Das Dilemma zwischen der rechtsstaatlichen Einbindung der Staatsgewalt und dem effektiven Schutz des Staates45 kann nicht ohne weiteres zugunsten des Staates und zu Lasten des Gesetzes aufgelöst werden. Die den Staatsnotstand auszeichnende Spannungslage zwischen Staat und rechtsstaatlichem Gesetz ist grundsätzlicher Art. Das rechtsstaatliche Gesetz sichert die Bindung des modernen Staates an seine rechtliche Verfassung. Die Verfassung des modernen Staates ist, wie gezeigt, nicht nur historische Kontingenz. Die rechtliche Bindung des Staates an die Grundsätze der Gewaltenteilung, der Grundrechte und der Demokratie ist adäquate Folge und essentieller Ausdruck moderner Staatlichkeit. Die staatlich monopolisierte Gewalt bedarf der Kontrolle und Relativierung, um auf Dauer Grundlage einer stabilen Friedensordnung sein zu können. Der Staatsterror der Französischen Revolution sowie die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts sind Beleg sion, 1976, S. 83 ff.; Heinrich Oberreuter, Notstand und Demokratie, 1978, S. 89 ff., 181 ff.; Erhard Denninger, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37 (1979), S. 8, 43 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der verdrängte Ausnahmezustand, in: NJW 1978, S. 1881 ff.; Gertrude LübbeWolff, Rechtsstaat und Ausnahmerecht, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1980, S. 110 ff.; Eckart Klein, Der innere Notstand, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII, 1992, § 169; jew. m. w. N. 45 Josef Isensee, Verfassung ohne Ernstfall: der Rechtsstaat, in: Anton Peisl / Armin Mohler (Hrsg.), Der Ernstfall, 1979, S. 98 ff.; ders., Normalfall oder Grenzfall als Ausgangspunkt rechtsphilosophischer Konstruktion?, in: Winfried Brugger / Görg Haverkate (Hrsg.), Grenzen als Thema der Rechts- und Sozialphilosophie, ARSP-Beiheft Nr. 84, 2002, S. 51, 65 ff.
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für die Notwendigkeit, ein Umschlagen der staatlichen Herrschaft in Totalitarismus und Despotie zu verhindern. Der moderne Staat ist notwendigerweise und zu Recht ein skeptischer Relativierer gegen jede Absolutsetzung bestimmter politischer Ziele und damit auch gegen sich selbst; die Bindung des Staates an eine gewaltenteilende, liberale und demokratische Verfassung ist die konsequente Folge moderner Staatlichkeit. Allerdings steht dieser Zweck des Verfassungsrechts, die Bindung und Einhegung der Staatsgewalt, der Anerkennung eines staatlichen Notstandsrechts im Ergebnis nicht entgegen. Im Gegenteil: die Anerkennung eines staatlichen Notstandsrechts ist gerade für den modernen Verfassungsstaat staatstheoretisch geboten. Wie gezeigt, hat der gewaltenteilende, liberale und demokratische Verfassungsstaat einen nicht relativierbaren, absoluten Grundsatz zur Voraussetzung: den Vorrang des Friedens vor der Wahrheit46. Der Vorrang des Friedens ist Grundlage der modernen Staatlichkeit und daher auch Bedingung der Möglichkeit des modernen Verfassungsrechts. Wird die Friedensordnung des modernen Staates in ihrer Existenz bedroht, tritt deshalb die Bindung an die Strukturen des Verfassungsrechts zugunsten der Verteidigung der Friedensordnung zurück. Soweit der Staat in seiner Existenz als moderner Staat, also in seiner Staatlichkeit, gefährdet ist, darf er die zu seiner Verteidigung erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Der Zweck des Verfassungsrechts, den Leviathan zu bändigen, steht dem nicht entgegen. Denn diese Strukturen des Verfassungsrechts setzen eine zu bändigende effektive Macht voraus. Wenn die Staatlichkeit in ihrer Existenz gefährdet, die staatliche Macht also prinzipiell geschwächt ist, kann deshalb in einem dem Machtverlust korrespondierenden Maße auch die Eingrenzung der staatlichen Macht durch das Verfassungsrecht zurückgenommen werden, damit die staatliche Friedensordnung hinreichend wirksam verteidigt werden kann47. 46
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Aus diesen Überlegungen folgen zugleich Grenzen des Notstandsrechts des Staates48. Ein Rückgriff auf den Staatsnotstand ist nur zulässig, falls und soweit dessen Voraussetzungen gegeben sind. Der Staatsnotstand ist nur das letzte Mittel zur Verteidigung der Existenz des Staates. Soweit der Staat sich mit den gesetzlich gegebenen oder möglichen Mitteln hinreichend verteidigen kann, ist ein Rückgriff auf den Staatsnotstand ausgeschlossen. Weiter ist der Staat auch im Notstand an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Insbesondere tritt die Bindung an das Gesetzesrecht nur so weit zurück, als dies die Notstandslage erfordert. Schließlich ist zur Vermeidung des Mißbrauchs des Staatsnotstands eine bestimmte finale Ausrichtung gefordert: Der Staatsnotstand legitimiert nur Mittel, die der Rückkehr zur legalen Ordnung dienen. Notstandsmaßnahmen dürfen nur in der Absicht vorgenommen werden, zur Normallage und damit zur früheren Rechtsordnung zurückzukehren. Spätestens diese Eingrenzung zeigt allerdings zugleich, daß das Problem des Mißbrauchs des Staatsnotstands mit inhaltlichen Begrenzungen nicht vollständig zu bewältigen ist49. Ob die Notstandsmaßnahmen die Rückkehr zur legalen Ordnung bezwecken, läßt sich häufig nicht eindeutig beurteilen. Vor allem aber bleibt die Frage nach dem quis judicabit unbeantwortet: Wer soll die Einhaltung der materialen Voraussetzungen und Grenzen des Staatsnotstands effektiv kontrollieren? Eine Kirchhof (N 44), S. 115 ff. Klaus Stern, Zur Frage des ungeschriebenen Notrechts, in: Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Verfassungsschutz und Rechtsstaat, 1981, S. 171, 181 ff.; Eckart Klein, Die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, in: FS für Karl Doehring, 1989, S. 459, 477; ders., Der innere Notstand, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII, 1992, § 169 Rn. 64. 49 In diese Richtung: Kirchhof (N 44), S. 98 ff.; Böckenförde (N 44), S. 1885 ff.; Josef Isensee, Normalfall oder Grenzfall als Ausgangspunkt rechtsphilosophischer Konstruktion?, in: Winfried Brugger / Görg Haverkate (Hrsg.), Grenzen als Thema der Rechts- und Sozialphilosophie, ARSP-Beiheft Nr. 84, 2002, S. 51, 70 ff. 47 48
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gerichtliche Kontrolle stößt hier schnell an ihre Grenzen: Eine inhaltliche Kodifizierung des Notstands liegt für viele Konstellationen nicht vor, und selbst bei einer entsprechenden Kodifizierung würde eine intensive gerichtliche Kontrolle durch politische Einschätzungs- und Gestaltungsspielräume konterkariert50. Daher scheint eine Kontrolle durch das Parlament, insbesondere in der Form nacheilender, die Notstandsmaßnahmen legalisierender Gesetze, die angemessene Lösung zu sein: Dies sichert die demokratische Legitimation und wahrt zugleich die rechtsstaatliche Form des Gesetzes51. Allerdings zeigt die nähere Betrachtung, daß auch dies keine vollständig überzeugende Lösung ist: Soll das Gesetz den Maßnahmen des Staatsnotstands entsprechen können, gerät es in den Widerspruch, entweder konkrete historische Umstände zu paraphrasieren und damit die rechtsstaatliche Allgemeinheit des Gesetzes zu unterlaufen, oder den Staatsnotstand nach Voraussetzungen und Folgen abstrakt zu beschreiben und damit eine effektive Kontrolle des Notstandsrechts zu verfehlen52. Zwar können im Notstand ergriffene Maßnahmen53 zumindest insoweit durch nacheilende Gesetze rückwirkend legalisiert werden, als diese Maßnahmen in Gesetzesform erfaßt werden können und eine rückwirkende Legalisierung verfassungsrechtlich zulässig ist54. Doch auf der Ebene des Verfassungsrechts werden die Grenzen einer Kodifizierung des Notstands erreicht. Dies kann an der Notstandsverfassung des Klein (N 44), Rn. 58. Christoph Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 266 f. 52 Böckenförde (N 44), S. 1883 f. 53 Zu diesem Begriff als Gegenbegriff zum rechtsstaatlichen Gesetz Carl Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten, in: VVDStRL 1 (1924), S. 63, 95 ff.; ders., Die Diktatur, 3. Aufl., 1964, S. 247 ff. 54 In diese Richtung Möllers (N 51), S. 266, der aber im weiteren eher auf Amnestie straf- bzw. dienstrechtlicher Verantwortung zielt und insoweit für ein Indemnitätsrecht des Parlaments argumentiert; dazu sogleich im Text. 50 51
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Grundgesetzes gezeigt werden. Die Gefahr des Mißbrauchs von Notstandsbefugnissen war der Grund für die detaillierte Kodifizierung des inneren Notstands in den Art. 35, 87 a und 91 GG. Deren Grenzen sind aber mehr als deutlich. Insbesondere gibt es weiterhin eine Reihe von Konstellationen, in denen die Bestimmungen des Grundgesetzes eine effektive Verteidigung des Staates im inneren Notstand nicht vorsehen55. Hinter diesem Defizit steht das Grundproblem jedes Versuches, den staatlichen Notstand auf der abstrakteren Ebene der Verfassung zu kodifizieren: Auf der Verfassungsebene werden einerseits detaillierte Regelungen den Anforderungen an eine effektive Verteidigung nicht gerecht; andererseits bieten Generalklauseln keinen Maßstab zur wirksamen Begrenzung des Notstandsrechts. Eine verfassungsgesetzliche Kodifizierung des Staatsnotstands stößt deshalb an prinzipielle Grenzen56. Die Rücknahme der rechtsstaatlichen Bindung des Staates zu einer formalen Bindung in dem Sinne, daß das Vorliegen des Staatsnotstands nur förmlich festgestellt und eventuell die Feststellungskompetenz für den Ausnahmezustand von der Innehabung der Ausnahmebefugnisse getrennt wird57, ist gleichfalls keine Lösung des Problems. Zum einen gibt eine nur kompetentielle Kontrolle die materiale Bindung der staatlichen Gewalt an das Verfassungsgesetz auf. Zum anderen kann sich aber auch eine nur kompetentielle Bindung als zu eng erweisen, um in möglichen Notstandskonstellationen eine effektive 55 Hans H. Klein, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37 (1979), S. 53, 100; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland II, 1980, S. 1335; Klein (N 44), Rn. 62; Peter Wilkesmann, Terroristische Angriffe auf die Sicherheit des Luftverkehrs, in: NVwZ 2002, S. 1316, 1321 f.; Günter Krings / Christian Burkiczak, Bedingt abwehrbereit?, in: DÖV 2002, S. 501, 510 ff. 56 Aus diesem Grund wurde eine Regelung des staatlichen Notstands in der Schweizerischen Verfassung verworfen: Arbeitsgruppe für die Totalrevision der Bundesverfassung, Schlußbericht, 1973, S. 602 ff., 605. 57 So der Vorschlag von Böckenförde (N 44), S. 1889 f.
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Verteidigung der staatlichen Friedensordnung zu ermöglichen. Eine nur kompetentielle Bindung an das rechtsstaatliche Gesetz führt aus dem Dilemma des Notstands nicht heraus. Dies gilt entsprechend auch für ein parlamentarisches Indemnitätsrecht58. Die Möglichkeit, daß das Parlament nachträglich für Maßnahmen, die ohne gesetzliche Grundlage getroffen wurden, Indemnität erteilen könne, sichert zwar insoweit die parlamentarisch-demokratische Legitimation des staatlichen Handelns59. Die Indemnität bewegt sich aber gleich dem übergesetzlichen Notstandsrecht jenseits des förmlichen rechtsstaatlichen Gesetzes. Könnte das Indemnitätsrecht die öffentlich-rechtliche Legalisierung der Notstandsmaßnahmen bewirken, würde es eine Durchbrechung der Grundsätze der Gewaltenteilung und des Gesetzesvorbehalts bedeuten60. Ein parlamentarisches Indemnitätsrecht kann deshalb den Gegensatz zwischen effektivem Schutz des Staates und rechtsstaatlichem Gesetz nicht auflösen61. Eine alle Seiten zufriedenstellende Kodifikation des Notstandsproblems ist demnach nicht möglich. Der grundlegende Konflikt bedarf der Entscheidung. Die besseren Gründe sprechen für die Anerkennung eines ungeschriebenen staatlichen Notstandsrechts, gerade wegen des Schutzes der Freiheit der Bürger, denn, wie Wilhelm von Humboldt formuliert hat: „Ohne Sicherheit ist keine Freiheit“62. Der Vorrang des Friedens ist Grundlage der modernen Staatlichkeit und daher auch 58 Böckenförde (N 44), S. 1886 ff. Gleichfalls in diese Richtung, aber unter dem Begriff der Genehmigung Kirchhof (N 44), S. 101 f. 59 Zu diesem Gedanken weiter Norbert Campagna, Prärogative und Rechtsstaat, in: Der Staat 40 (2001), S. 553, 579: „Insofern man das Prinzip der Souveränität des Volkes ernst nimmt, kann nur das Volk selbst – auch wenn es meistens nur ex post ist – über die Legitimität des Gebrauchs der Prärogative entscheiden“. 60 Dies übersieht Möllers (N 51), S. 266 f. 61 Böckenförde (N 44), S. 1887. 62 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), 1967, S. 58.
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Bedingung der Möglichkeit des modernen Verfassungsrechts. Soweit der Staat in seiner Existenz, also in seiner Staatlichkeit gefährdet ist, darf er die zu seiner Verteidigung erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Wird die Friedensordnung des modernen Staates in ihrer Existenz bedroht, treten die gesetzlichen Beschränkungen der Staatsgewalt zugunsten des Schutzes der staatlichen Friedensordnung zurück.
VII. Staatstheorie und Staatspraxis Schließlich: Wen die prinzipielle Sicht nicht überzeugt, den vermag vielleicht die praktische zu überzeugen. Auch in praktischer Perspektive ist die Anerkennung eines Staatsnotstands überzeugender als dessen Ausschluß. Zwar bleibt ein Rest an Gefahr, daß der Titel „Staatsnotstand“ mißbraucht wird. Aber unter der Bedingung eines funktionierenden modernen Staates sind die Gefahren des Mißbrauchs des Staatsnotstands gering, jedenfalls geringer als die Gefährdungen, die vom Terrorismus ausgehen. Daß dies nicht bloße Hoffnung, sondern aus der Praxis gewonnene Erfahrung ist, kann mit einem Rückblick auf die Zeit des RAF-Terrorismus belegt werden63: In Reaktion auf die erpresserischen Entführungen des Berliner CDU-Abgeordneten Peter Lorenz im Jahr 1975 sowie des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und der Lufthansa-Maschine „Landshut“ im Jahr 1977 wurde unter Bundeskanzler Helmut Schmidt im Bundeskanzleramt jeweils der „große Krisenstab“ einberufen: Ein Gremium, das der umfassenden Koordinierung der Politik diente, und an dem neben Mitgliedern der Bundesregierung Mitglieder von Länderregierungen, der Präsident des Bundeskriminalamtes, der Generalbundesanwalt sowie prominente Vertreter der Opposition beteiligt waren. 63 Darstellung der Ereignisse bei Stefan Aust, Der Baader-Meinhof Komplex, 1986, insbes. S. 314 ff., 457 ff.
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Da der „große Krisenstab“ im Verfassungsrecht nirgends Erwähnung findet, wurde er vor allem in Hinsicht auf die gewaltenteilenden Vorgaben des Grundgesetzes kritisiert64. Die weitergehende Befürchtung, daß mit dem „großen Krisenstab“ nicht allein die föderale und demokratische Gewaltenteilung bedroht sei, sondern der Staat nun seinerseits zum Gegenterror übergehe, erwies sich aber als unbegründet: Der „große Krisenstab“ widerstand der Versuchung, auf die terroristischen Erpressungen mit Gegenterror zu reagieren. Zwar wurden eine Reihe von außerordentlichen Maßnahmen erlassen. So wurden unter anderem Kontaktsperren zwischen Terroristen und Anwälten verhängt, ohne daß dafür eine hinreichende gesetzliche Grundlage bestand. Ein entsprechendes Gesetz wurde später dem Parlament zugeführt und von diesem – innerhalb kürzester Zeit – verabschiedet65. Nach dem Ende der Krisen wurde der „große Krisenstab“ jeweils wieder aufgelöst. Der Staat hatte den Staatsnotstand überwunden und die verfassungsgemäße Ordnung verteidigt, ohne zu einem totalitären Regime zu mutieren. Die Strategie der RAF, den Staat zu übermäßigen Reaktionen zu provozieren und damit auf dieselbe Stufe wie die Terroristen herunterzuziehen, war ebenso gescheitert wie der Versuch der direkten Erpressung des Staates. Der moderne Staat erwies sich im Notstand nicht nur als stärker als seine terroristischen Feinde, sondern auch als gefeit gegen die Versuchung des Totalitarismus. 64 Dazu Meinhard Schröder, Staatsrecht an den Grenzen des Rechtsstaates, in: AöR 103 (1978), S. 121, 140 f. m. N. 65 Die gesetzliche Ermächtigung zur Anordnung von Kontaktsperren wurde vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß bestätigt, wobei allerdings die Frage, ob auch die vor Inkrafttreten des Gesetzes angeordneten Kontaktsperren verfassungsgemäß waren, ausdrücklich nicht geprüft wurde; BVerfGE 49, 24 (53 ff., 69). Allerdings wurde in BVerfGE 85, 386 (400 ff.) anerkannt, daß bei Grundrechtseingriffen, die dem Schutz anderer Rechtsgüter dienen, der Vorbehalt des Gesetzes auf eine Pflicht zum Erlaß eines ermächtigenden Gesetzes reduziert sein kann, womit vorübergehend Eingriffe auch ohne die an sich erforderliche gesetzliche Grundlage vom Betroffenen hinzunehmen sind.
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Das hinter dem Schutz der staatlichen Ordnung stehende Ziel, die Wiederherstellung der Friedensordnung, wurde zwar nicht unmittelbar erreicht: Auch nach diesen Maßnahmen existierte die RAF zunächst fort und führte weitere terroristische Anschläge durch. Die entschlossene Verteidigung der staatlichen Ordnung erwies sich aber auf längere Sicht als erfolgreich: Spätestens mit den Aktionen im Herbst 1977 war die Stimmung in der Bevölkerung eindeutig gegen die RAF-Terroristen gerichtet, die in der Folgezeit einem Vorgang der Radikalisierung und Marginalisierung unterlagen und von den staatlichen Organen mit zunehmendem Erfolg verfolgt wurden, bis zur förmlichen Auflösung der RAF.
VIII. Der Staat: Bedingung der offenen Gesellschaft Ein wirksamer Schutz des Staates gegen seine Feinde ist Voraussetzung dafür, daß im Schutz des staatlichen Gewaltmonopols die offene Gesellschaft ihre spezifische Dynamik und Attraktivität entfalten konnte und kann. Dies gilt auch in Bezug auf den Terrorismus. Das Vorgehen gegen den Terrorismus beseitigt zwar noch nicht die Gründe für das Entstehen des Terrorismus. Ein wirksamer Schutz gegen den Terrorismus ist aber Voraussetzung dafür, daß auf Dauer die Gründe für das Entstehen von Terrorismus beseitigt werden können. Die offene Gesellschaft erweist sich als erfolgreicher als ihre Feinde. Der Erfolg dieser Gesellschaft darf aber nicht von ihren Voraussetzungen ablenken. Sie bedarf der wirksamen Verteidigung ihrer zentralen Voraussetzung: des modernen Staates. Dieser ist aller Anstrengungen wert, auch und erst recht in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus.
6 Isensee (Hrsg.)
Nachwort: Der Terror und der Staat, dem das Leben lieb ist Von Josef Isensee, Bonn I. „Nein!“ fuhr Naphta fort. „Nicht Befreiung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und das Gebot der Zeit. Was sie braucht, wonach sie verlangt, was sie sich schaffen wird, das ist – der Terror.“ Der antiliberale Intellektuelle aus der Schule der Jesuiten in Thomas Manns „Zauberberg“ gibt dem Terror eine religiöse Begründung: „Gotteseifer kann selbstverständlich nicht pazifistisch sein, und Gregor hat das Wort gesprochen ,Verflucht sei der Mensch, der sein Schwert zurückhält vom Blute!‘ Daß die Macht böse ist, wissen wir. Aber der Dualismus von Gut und Böse, von Jenseits und Diesseits, Geist und Macht muß, wenn das Reich kommen soll, vorübergehend aufgehoben werden in einem Prinzip, das Askese und Herrschaft vereinigt. Das ist es, was ich die Notwendigkeit des Terrors nenne.“ Die Heilsforderung der Zeit, nunmehr ins PolitischWirtschaftliche gewendet, verkörpere sich im Kommunismus, der die Kriterien des Gottesstaates der bürgerlich-kapitalistischen Verrottung entgegenstelle. „Seine Aufgabe ist der Schrecken zum Heile der Welt und zur Gewinnung des Erlösungsziels, der staats- und klassenlosen Gotteskindschaft.“1 Erste begriffliche Umrisse dessen, was Terror und was Terrorismus ist, zeichnen sich ab. Terror ist die Anwendung und 1
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Thomas Mann, Der Zauberberg, 1924, Ausgabe 1963, S. 366 ff.
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Androhung körperlicher Gewalt in der Absicht, dadurch Furcht und Schrecken in der Gesellschaft zu erzeugen und das feindliche System zu destabilisieren. Dieser alle physischen Wirkungen überschießende, psychische Effekt macht das Eigentliche des Terrors aus: die „Propaganda der Tat“ (Michail Bakunin). Terrorismus ist eine Strategie des politischen Kampfes, die planmäßig und ohne rechtliche Hemmungen den Terror einsetzt im Dienste einer großen Idee.2 Das leitende Ideal kann religiöser, moralischer, politischer Natur sein. Der Inhalt ist beliebig, er muß nur kompromißlos, abwägungs- und zweifelsresistent sein, Gegenstand absoluter Gewißheit für den, der ihn sich zu eigen macht. In den Augen des Terroristen steht sein Ideal so hoch, daß es die Vernichtung jedweden Rechtsgutes rechtfertigt, vor allem die Tötung, ohne Unterschied, ob es sich um das Leben von Feinden oder Unbeteiligten handelt, um fremdes oder um eigenes Leben. Ein blutiger Idealismus. Dieser kennt kein Maß und keine Grenze. Terrorismus ist das Übermaß als Handlungsprinzip. Exemplarisch steht die Figur des Michael Kohlhaas, der in Kleists Novelle aus beleidigtem Rechtsgefühl zum Räuber und Mörder wird, den der Kampf für die pure Gerechtigkeit (wie er sie sieht) zum Zerstörer des Rechtsfriedens macht. Terrorismus als wilde Ausschweifung der Tugend.3 Aber doch der Tugend. 2 Zu den Versuchen, das Phänomen des Terrorismus völkerrechtlich zu definieren: Eckart Klein, Die Herausforderung des internationalen Terrorismus – hört hier das Völkerrecht auf?, oben S. 16 ff. (Nachw.). Vgl. auch Stefan Oeter, Terrorismus – ein völkerrechtliches Verbrechen?, in: Hans-Joachim Koch (Hg.), Terrorismus – Rechtsfragen der äußeren und inneren Sicherheit, 2002, S. 29 ff., 34 ff. Versuch einer politologischen Definition: Dieter S. Lutz, Was ist Terrorismus?, ebd., S. 9 ff.; Bruce Hoffmann, Terrorismus. Der unerklärte Krieg, 32002, S. 13 ff. 3 Profunde Interpretation von Kleists Kohlhaas aus dem Typus des Terroristen: Horst Sendler, Über Michael Kohlhaas – damals und heute, 1985, S. 21 ff. – Hinweis bereits bei Thomas Mann: Kohlhaas sei von „terroristischer Weltverbesserungswut teilweise klärlich verrückt“ (Heinrich von Kleist und seine Erzählungen, 1954, in: ders., Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie, Bd. 3, 1968, S. 297 [306]).
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Der Terrorist als Typus handelt selbstlos. Im Kontext seiner Ideologie kann ihm Hochsinn zukommen, er sich als Held und Märtyrer darstellen. Materieller Eigennutz ist ihm fremd. Frei von Habsucht unterscheidet er sich vom gemeinen Verbrecher wie dem Raubmörder. Falls er nach Macht strebt, dann nicht, um sie zu genießen, sondern um mit ihrer Hilfe seinem Ideal zur Wirklichkeit zu verhelfen: „Schrecken zum Heile der Welt.“ Herrschaft verbindet sich mit Askese. Unverführbar und unbestechlich übt der Terrorist sein grausames Geschäft. Der Unbestechliche, so hieß Robespierre bei seinen Zeitgenossen, der völlig unheldische, pedantische Betriebsleiter der Grande Terreur mit dem untadeligen Lebenswandel des Kleinbürgers, der auf Sauberkeit bedachte Richter des Blutgerichts, der sich mit keinem Sou bereicherte und keinen Verdächtigen entkommen ließ, das gute Gewissen der Guillotine. In der Schreckensherrschaft der Jakobiner wird der Terror getauft mit dem Weihwasser der Demokratie: „Wenn in friedlichen Zeiten der Kraftquell der Volksregierung die Tugend ist, so sind es in Zeiten der Revolution Tugend und Terror zusammen. Ohne die Tugend ist der Terror verhängnisvoll, ohne den Terror ist die Tugend machtlos. Der Terror ist nichts anderes als die unmittelbare, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit; er ist also eine Emanation der Tugend, er ist nicht so sehr ein besonderer Grundsatz als vielmehr die Folge des allgemeinen Grundsatzes der Demokratie, angewandt auf die dringendsten Bedürfnisse des Vaterlandes.“4 Die Erinnerung an das Jakobinerregime hat sich unauslöschlich eingeprägt in das Begriffsverständnis des Terrors. Gleichwohl regt sich dieser in wechselnden Gestalten: als Terror von oben wie von unten, von links wie von rechts; staatlich organisiert oder spontan; als Mißbrauch des Gewalt4 Maximilien Robespierre, Über die Grundsätze der politischen Moral, die den Nationalkonvent bei der inneren Verwaltung der Republik leiten sollen. Rede vor dem Konvent am 25. Dezember 1793, in: ders., Ausgewählte Texte, 2 1989, S. 582 (594).
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monopols oder dessen Aufkündigung; ortsgebunden wie mobil, national wie global; als Unterdrückungsinstrument der Herrschenden wie Revolutionstaktik der Unterdrückten. Terroristische Züge finden sich bei den syrischen Assassinen des Mittelalters wie bei der serbischen Schwarzen Hand im frühen 20. Jahrhundert, im Staatsterrorismus des sowjetischen KGB wie der deutschen SS, in den Untergrund- und Befreiungsbewegungen des Mau-Mau in Kenia, des Sendero Luminoso in Peru, der ETA im Baskenland, der RAF in der Bundesrepublik Deutschland.
II. In den Anschlägen vom 11. September 2001 nimmt der Terrorismus bisher ungeahnte Dimensionen an. Nie zuvor hat sich die „Propaganda der Tat“ so wirksam erwiesen, nie zuvor aber auch eine Abwehr solchen Ausmaßes ausgelöst: einen Weltkrieg neuer Art. Der „Krieg gegen den Terrorismus“, den die Vereinigten Staaten erklärt haben, richtet sich gegen seine islamistische Erscheinung, die sich nunmehr als der Terrorismus schlechthin darstellt. Eigentlich sind seine einzelnen Züge nicht neuartig. Es handelt sich um eine nichtstaatliche Form des Terrorismus. Al Qaida steht nicht im Sold irgendeiner Regierung, auch wenn sie von der einen oder anderen offen oder heimlich unterstützt wird. Die Organisation ist locker und weitmaschig, mobil, virtuell allgegenwärtig. Sie vermag an allen Punkten der Erde jäh zuzuschlagen und sogleich wieder zu verschwinden. Die Logistik des Schreckens bildet ein unsichtbares Netzwerk, das von seinen Widersachern nur schwer zu fassen und kaum zu zerstören ist. Es gibt keine Institutionen, denen die Verantwortung für Terrorakte rechtlich zuzuordnen wäre. Mühelos können andere Gruppen oder Einzelgänger mit „Bekenntnissen“ ablenken oder sich mit eigenen Aktionen
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anschließen. Was an organisatorischer Dichte fehlt, ersetzt die Intensität der gemeinsamen Gesinnung: der Glaube, der Eifer, der Haß, das Feindbild. Aus ihnen erwachsen innerer Zusammenhalt und Einsatzwillen, der bis zur Bereitschaft des Kämpfers geht, sich als lebende Bombe verwenden zu lassen. Die technischen Anforderungen sind gering. Die Flugzeugentführer des 11. September brauchten nur die Fähigkeit, die Maschinen, deren sie sich bemächtigten, zu steuern; den Start besorgten die Piloten, die Landung erübrigte sich. Teppichmesser als Mittel zur Überwältigung des Flugpersonals genügten, um den Effekt einer Massenvernichtungswaffe zu erzeugen. Überhaupt sind es primitive Waffen, mit denen die Terroristen den Kampf gegen die einzige Weltmacht führen, gleichsam die Schleuder des Hirtenjungen David gegen den Goliath der modernen Zivilisation mit seiner überlegenen militärischen, technischen, wirtschaftlichen Potenz. Doch der Vergleich erschöpft sich auch in diesem Punkte. Ansonsten sind die Parteien schlechthin unvergleichbar: auf der einen Seite der Staat als die reguläre Macht, die zu rechtlichem Handeln verpflichtet ist, auf der anderen die schlechthin irreguläre Größe. Dort die res publica, eine öffentliche Institution, die, auf Transparenz und Publizität angelegt, sich vor der Öffentlichkeit verantwortet, hier ihre lichtscheue Feindin, die nur aus dem Dunkel heraus Wirkungen erzielt.5 Asymmetrische Kriegsführung. Islamistischer Terror hat sich vor dem 11. September vielerorts geregt: in Ägypten wie in Algerien, in Kaschmir wie auf Mindanao, in Tschetschenien wie in Palästina. Doch die disparaten Geheimbünde, Bruderschaften, Fundamentaloppositionen, Rebellen, Sezessions- und Befreiungsbewegungen hingen nicht zusammen. Sie entzündeten sich in bestimmten regionalen Konflikten, richteten sich gegen unterschiedliche innere oder äußere Feinde. Sie beschränkten sich auf ein 5 Dazu bemerkenswerte Hinweise, bezogen auf den Partisanen bei Carl Schmitt, Theorie des Partisanen, 21975, S. 75 f.
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begrenztes Operationsfeld. Dem bodenständigen Terrorismus folgt nun der globale. Er richtet sich nicht gegen ein einzelnes politisches System oder gegen einen einzelnen Staat, sondern gegen die Kultur des Westens überhaupt, für den die Führungsmacht der USA repräsentativ steht. Es wäre jedoch eine simplification terrible, wenn der islamistische Terror mit dem Islam als solchem identifiziert und dieser als der Angreifer bezeichnet würde. Er stößt auch in islamischen Gesellschaften auf Ablehnung und Widerstand. Sie sind sogar vielfach seine ersten Opfer. Dennoch hat er sich im Kulturraum des Islam entwickelt und holt aus ihm – ob zu Recht oder nicht, stehe dahin – seine Rechtfertigung. Hier rekrutiert er seine Kämpfer. Hier findet er Sympathisanten und Sponsoren. Er ist ein selbstermächtigter Verteidiger seines Glaubens. Die Gefahr ist nicht auszuschließen, daß er sich als Wegbereiter eines neuen Selbstbewußtseins der islamischen Welt erweist, sich zu ihrem Vorkämpfer und Repräsentanten erhebt. Das Fanal für den Weltkrieg der Kulturen ist jedenfalls gesetzt.6 Doch schon die aktuelle Erscheinung des Terrorismus stellt die internationale wie die nationale Ordnung auf eine harte Probe, in der ihre rechtlichen Strukturen sich verbiegen, wenn nicht gar zerbrechen können.
III. Nach hergebrachten Rechtsvorstellungen wären die Anschläge vom 11. September lediglich Sache des innerstaatlichen Polizei- und Strafrechts der USA, auf deren Boden sie ausgeführt wurden und der Schaden eintrat. Täter sind Private – polizeirechtlich gesehen, Störer der öffentlichen Sicherheit –, nicht aber ausländische Staaten. Deren Handeln wäre nach völkerrechtlichen Kategorien zu beurteilen. Doch die „pri6 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilisations, New York 1996 (dt. Kampf der Kulturen, 71998).
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vaten“ Störer operieren über die Staatsgrenzen hinweg und nutzen die Vielfalt der Territorialstaaten aus, um jeweils günstige Standorte zu wählen für logistische Zentren, Trainingslager, Finanzplätze, Verstecke für „Schläfer“. Der globalisierten Militanz ist nicht allein mit den Mitteln einer nationalstaatlichen Polizei zu begegnen, auch nicht einer international koordinierten. Die Terrorakte vom 11. September hatten die Wirkung eines schweren Luftangriffs. Sie waren Werk eines transnationalen Netzwerks, das, unsichtbar, unfaßbar, überall auf der Welt zuschlagen kann. Darum bewertete der Sicherheitsrat die Anschläge als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.7 Die NATO erkannte den Bündnisfall. Der Präsident der USA sah den bewaffneten Angriff als gegeben, damit die Bedingung erfüllt, das naturgegebene Recht auf Selbstverteidigung auszuüben, auch ohne die Lizenz des Sicherheitsrates.8 Die USA wählten den militärischen Weg und erklärten dem Terrorismus den Krieg – Krieg gegen den nichtstaatlichen Weltfeind. Die „Kriegsparteien“ können unterschiedlicher nicht sein: hier die gigantische, schwerfällige Kriegsmaschine der Staatenkoalition, dort die kleine, virtuell omnipräsente Schar von Kämpfern ohne Uniform, ohne Namen, ohne Gesicht. Gleichwohl traf der Krieg den Staat Afghanistan, in dem die Terror-Organisation Al Qaida ihre zentrale Operationsbasis gefunden hatte; und er richtete sich gegen das De factoRegime der Taliban. Der Staatenkrieg bildete das Mittel zu dem Zweck, den Terrorismus unschädlich zu machen. Der angegriffene Staat haftete für die nichtstaatlichen Aktionen, die 7 Dazu Klein (N 2), S. 22. Vgl. auch Thomas Bruha, Neuer Internationaler Terrorismus: Völkerrecht im Wandel?, in: Hans-Joachim Koch (Hg.), Terrorismus – Rechtsfragen der äußeren und inneren Sicherheit, 2002, S. 29 ff. (34 ff.); Karl Doehring, Völkerrecht, 1999, S. 62 ff. (Nachw.). 8 Zu der völkerrechtlichen Seite Klein (N 2), S. 26 ff. Günter Krings / Christian Burkiczak, Bedingt abwehrbereit? – Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte des Einsatzes der Bundeswehr zur Bekämpfung neuer terroristischer Gefahren im In- und Ausland, in: DÖV 2002, S. 501 (508 ff.).
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auf seinem Territorium geplant und von ihm aus gesteuert wurden. Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Staaten für grenzüberschreitende Aktivitäten Privater auf ihrem Territorium wird neu und schärfer als bisher definiert.9 Schon nach bisherigem Völkerrecht schuldet der Staat der internationalen Gemeinschaft die Wahrung seines Gewaltmonopols.10 Nun hat er auch Aktivitäten zu unterbinden, die als solche nicht gewaltsam, aber eingebunden sind in das Netz des transnationalen Terrors. Nicht nur dem kollusiven Staat droht Intervention, sondern auch dem permissiv-liberalen, vollends dem schwachen und dem zerstörten („failed state“).11 Das Völkerrecht dringt tiefer als bisher in den Binnenraum des Staates ein und determiniert rechtlich wie sozial seine Verfassung. Die Souveränität des Staates (damit des Volkes) über seine Verfassung schrumpft. Nun verschärfen sich die Tendenzen, die eingesetzt haben, seit sich das Völkerrecht mit den Prinzipien der Menschenrechte und der Demokratie identifiziert, insoweit seine hergebrachte Indifferenz gegenüber den inneren Angelegenheiten der Staaten aufgegeben und zum Schutz der Weltverfassungswerte die humanitäre Intervention reaktiviert hat. Menschenrechtsverstöße gelten nunmehr als Verletzungen des Friedens, denen einzelne Staaten und Staatengruppen als Weltpolizei, ermächtigt durch den Sicherheitsrat oder selbstermächtigt, mit militärischen Mitteln entgegentreten.12 In dem Maße, in dem sich der ursprünglich negative Begriff des Friedens als Abwesenheit von physischem Zwang mit inhaltlichen Gerechtig9 Zum Taliban-Regime als Gegner des Selbstverteidigungsrechts in der Aktion „Enduring Freedom“: Bruha (N 7), S. 67 ff.; Krings / Burkiczak (N 8), S. 509. 10 Vgl. Markus Heintzen, Das staatliche Gewaltmonopol als Strukturelement des Völkerrechts, in: Der Staat 25 (1986), S. 17 ff. 11 Zu letzterem Matthias Herdegen, Der Wegfall effektiver Staatsgewalt: „The Failed State“, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Bd. 34 (1996), S. 49 ff. 12 Dazu mit Nachw. Doehring (N 7), S. 43 ff.
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keitsvorstellungen füllt,13 wächst die Legitimation, physischen Zwang im Dienste einer gerechten Sache anzuwenden. Da aber die Vorstellungen über die Gerechtigkeit zwischen den Staaten divergieren, hatte sich das hergebrachte Völkerrecht damit begnügt, den Einsatz von physischer Gewalt zu verbieten und die Selbstverteidigung nur gegen gewaltsame Angriffe zu gestatten, ähnlich wie der moderne Staat sich aus der Einsicht, daß es keinen verläßlichen Konsens in Fragen der materialen Gerechtigkeit gibt, damit begnügt, von seinen Bürgern die unbedingte Einhaltung des Gewaltverbots zu verlangen, die Gerechtigkeit aber der offenen Diskussion und der politischen Entscheidung zu überlassen. Wer im Völkerrecht wie im Staatsrecht das Maximum an Frieden und das Optimum an Gerechtigkeit anstrebt, hält daran fest, sie begrifflich zu unterscheiden und den Frieden, ohne Gerechtigkeitszutat, als Abwesenheit von körperlicher Gewalt – anders gewendet: als Sicherheit – zu definieren.14 Die neue Art von Krieg kennt keine völkerrechtlichen Regeln, die denen des Staatenkrieges entsprächen. Feindliche Staaten erkennen einander an als Kriegsparteien. Der Feind ist der mögliche Partner eines künftigen Friedensvertrages. Das eben ist der Terrorismus gerade nicht. Der Krieg gegen ihn zielt darauf, ihn mit Stumpf und Stiel auszurotten. Der Terrorist ist der absolute Feind.15 Daher ist er kein Kombattant, dem mit der Festnahme der Status des Kriegsgefangenen zu13 Zur Aufladung des Friedensbegriffs der UN-Charta mit positiven Gehalten: Paul Kirchhof, Der Verteidigungsauftrag der deutschen Streitkräfte, in: Festschrift für Rudolf Bernhardt, 1995, S. 797 (814 ff.). 14 Zum negativen Friedensbegriff in Auseinandersetzung mit positiven Friedensbegriffen: Detlef Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 52 ff.; Albrecht Randelzhofer, Der normative Gehalt des Friedensbegriffs im Völkerrecht der Gegenwart, in: Jost Dellbrück (Hg.), Völkerrecht und Kriegsverhütung, 1979, S. 13 ff.; Josef Isensee, Die Friedenspflicht des Bürgers und das Gewaltmonopol des Staates, in: Festschrift für Kurt Eichenberger, 1982, S. 23 (32 ff.). 15 In dem Sinne, wie Carl Schmitt den Begriff entfaltet (Der Begriff des Politischen [1932], 1963, S. 26 ff.; [N 5] S. 91 ff.).
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käme.16 Er ist kein Guerillakämpfer,17 auch kein Partisan. Diese sind einem bestimmten Stück Erde verhaftet; sie verteidigen ein begrenztes Territorium gegen raumfremde Eindringlinge.18 Die Terroristen des 11. September dagegen agieren beweglich für eine Religion, die über ihre angestammten Räume hinausgreift, und tragen den Kampf in die ganze Welt. Einzelne Züge verbinden sie mit dem Typus des Piraten, der seit der Antike außerhalb der Rechtsordnung stand, der auch heute kein regulärer Kombattant ist, für den die Schranken des Kriegsrechts gälten, sondern „communis hostis omnium“,19 den, wenn er auf hoher See operiert, die mit seepolizeilichen Befugnissen ausgestatteten Schiffe aller Nationen ergreifen können.20 Doch dem Piraten geht es um die Beute. Er ist Seeräuber, darin ein Antitypus zum Asketen der Gewalt. Wird Terrorismus als Verbrechen wider die Menschheit und der Terrorist als Feind der Menschheit geächtet, so ist es nur noch ein Schritt, ihn aus der menschlichen Gemeinschaft auszuschließen und ihm die Menschenrechte abzuerkennen. Der Kampf für die Menschenrechte schlägt dann um in einen menschenrechtswidrigen Kampf.
IV. Der Krieg wider den Terrorismus stärkt die völkerrechtlichen Strebungen nach einer Weltpolizei. Die militärischen Einsätze gegen Staaten nehmen polizeiliche Züge an, indes die Dazu Oeter (N 2), S. 40 f., 44 ff.; Bruha (N 7), S. 76 ff. Dazu Oeter (N 2), S. 44 f. 18 Zu Begriff und Erscheinungen Carl Schmitt (N 5), S. 20 ff., 71 ff. 19 Cicero, De officiis, III, 29 / 107. 20 Zur Geschichte: Karl-Heinz Ziegler, Pirata hostis omnium, in: Festschrift für Ulrich von Lübtow, 1980, S. 93 ff. Zum aktuellen Recht Art. 17 – 24 Genfer Übereinkommen über die Hohe See vom 29. April 1958 und Art. 100 – 107, 110 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982. Näher Knut Ipsen, Völkerrecht, 41999, S. 579 ff. 16 17
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polizeilichen Einsätze im Innern des Staates militarisiert werden. Die Unterscheidung zwischen dem Außen und dem Innen der Staaten gerät ins Schwimmen, mit ihr die Grenze zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht. Die Unterscheidung hat auch Bedeutung für den Verfassungsstat. Sein fundamentaler Zweck besteht darin, die Sicherheit seiner Bürger im Inneren und nach außen zu gewährleisten: Sicherheit vor den Übergriffen Privater und Sicherheit vor den Angriffen auswärtiger Staaten. Unter dem einen Aspekt steht ihm das Instrumentarium der Polizei und der Justiz zur Verfügung, unter dem anderen das der Armee. Für den Verfassungsstaat macht es einen wesentlichen Unterschied, ob er eine innere Gefahr abzuwehren hat, die von einem privaten Störer ausgeht, der seiner Gewalt unterworfen ist, oder eine äußere Gefahr, die ein feindlicher Staat schafft. Hier zeigt sich ein Element rechtsstaatlicher und auch föderaler Gewaltenteilung. Das Machtgewicht der Streitkräfte dient der Selbstbehauptung des Staates nach außen. Es darf nicht innenpolitisch wirksam werden, damit die innere Machtbalance des Gemeinwesens nicht gestört wird. Die Störung der öffentlichen Sicherheit, die in terroristischen Anschlägen liegt, überschreitet die nationalen Grenzen, vollends die föderalen, innerhalb deren die Polizei handeln darf. Das internationale Netz des Terrors kann nur durch weltweite Kooperation der Staaten bekämpft werden.21 Der Rechtsstaat, der sich der Gefahr des Terrorismus erwehren will, sucht sich seine Partner nicht aus. Er muß die Staaten, auf deren Hilfe er angewiesen ist, akzeptieren wie sie sind, gleich, ob sie nun ihrerseits rechtsstaatlich domestiziert sind oder ob ihnen der Zweck der Bekämpfung des Terrors jedwedes Mittel heiligt. Immerhin sind die Staaten der Welt unter 21 Zu den organisatorischen Voraussetzungen Manfred Baldus, Der Beitrag des europäischen Polizeiamtes (Europol) zur Bekämpfung des Terrorismus, in: Hans-Joachim Koch (Hg.), Terrorismus – Rechtsfragen der äußeren und inneren Sicherheit, 2002, S. 121 f.
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dem Blickwinkel der Terrorabwehr kompatibel. Wie immer sie auch verfaßt sind, in ihrem Telos als Staat sind sie darauf ausgerichtet, die Sicherheit ihrer Untertanen zu gewährleisten und private Gewalt zu verbannen. Die Übereinstimmung reicht freilich nicht allzu tief. Nicht wenige Staaten, die sich in die internationale Allianz gegen den Terrorismus einreihen, praktizieren ihn selber. So wird denn oftmals der Teufel des privaten Terrorismus, wenn nicht ausgetrieben, so doch bekämpft mit dem Beelzebub des Staatsterrorismus. Die Frage bleibt jedoch, ob der deutsche Rechtsstaat von Verfassungs wegen gehindert ist, zur Erfüllung seiner Sicherheitsaufgabe sich der Hilfe von Polizeistaaten (Algerien, Türkei, Rußland) zu bedienen und von deren rechtsstaatswidrigen Maßnahmen zu profitieren. Tendenzen der Auslegung des Grundgesetzes gehen dahin, der deutschen Staatsgewalt umfassende Grundrechtsverantwortung aufzuerlegen für alle auch noch so entfernte Wirkungen, die von ihr ausgehen. Doch Deutschland ist nicht der Rechtsstaatsriese Atlas, der auf seinen Schultern das ganze Gewölbe des Menschenrechtshimmels trägt. Deutschland ist auch nicht der Grundrechtszensor des Planeten. Die Grenzen grundrechtlicher Verantwortung ergeben sich aus dem (in der heutigen Dogmatik noch unterbelichteten) Verfassungskollisionsrecht. Dieses begrenzt die Reichweite der Grundrechte als nationalem Recht auf die Personal- und Gebietshoheit des Staates, schließt also die Geltung für Ausländer im Ausland ohne deutschen Gebietskontakt, vollends für deren Verhältnis zu ausländischer Staatsgewalt aus. Positiv gewendet: sie setzt voraus, daß das Subjekt der Grundrechte der deutschen Staatsgewalt unterworfen ist. Soweit das der Fall ist, gelten aber die Grundrechte und rechtsstaatlichen Garantien unbedingt.22 Das Grundgesetz duldet kein rechtsstaats-exemtes Guantanamo. 22 Zu den Grenzen der Reichweite der Grundrechte Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der
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V. Die Phänomene des Terrorismus entgleiten den Definitionen und Tatbeständen des Polizeirechts, zumal denen der Gefahr und des Störers. Der Terrorakt ist eine jähe Aktion, hinter der lange, heimliche Vorbereitung steht. Der Akteur taucht plötzlich aus zivilem Milieu auf, um nach getaner Tat, so er sie überlebt, in ihm wieder zu verschwinden. Eine Schlange, die, völlig angepaßt an ihre Umgebung, apathisch verharrt, bis sie mit plötzlichem Ruck auf ihr argloses Opfer zustößt. Der stille Nachbar, der unauffällige, fleißige Student, erweist sich in der Rückschau als „Schläfer“, Reservist der Terrorarmee, der auf Abruf zum Anschlag bereitsteht. Ist der „Schläfer“ schon Störer oder noch Nichtstörer? Dürfen gegen einen muslimischen Studenten, wenn seine Rolle als „Schläfer“ bekannt ist, jederzeit Gefahrenabwehreingriffe, oder wenn individuelle Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, Gefahrerforschungseingriffe, oder weil er lediglich einer Gruppe angehört, aus der der Terrorismus seine Soldaten zu rekrutieren pflegt, Maßnahmen der Verdachtsuche getätigt werden? Oder aber besteht ein grundsätzliches Handlungs-, Ermittlungs- und Beobachtungsverbot, das nur unter den Bedingungen des polizeirechtlichen Notstandes durchbrochen werden darf? Hier paßt noch nicht einmal die Kategorie der latenten Gefahr; denn diese meint einen an sich ungefährlichen Zustand, eine Sache, die sich nur dann zur Gefahr entzündet, wenn eine andere, ebenfalls an sich ungefährliche Sache hinzutritt. Hier aber handelt es sich um einen Menschen, der, tatbereit, nur auf den Einsatzbefehl wartet. Der diffusen Gefahr können nicht scharfkantige Handlungsregeln der Verwaltung korrespondieren. An sich gilt die allgemeine Maxime, daß, je empfindlicher das gefährdete Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. V, 22000, § 115 Rn. 77 ff.; Peter Badura, Territorialprinzip und Grundrechtsschutz, in: Festschrift für Walter Leisner, 1999, S. 403 ff.
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Rechtsgut auf seiten des Opfers, desto weiter die Befugnis der Gefahrenabwehr, je empfindlicher das Rechtsgut auf seiten des Störers, desto enger die Befugnis. Doch die Gefahr hat sich noch nicht konkretisiert. Damit fehlt die klare Zielbestimmung, nach der sich das Mittel des Eingriffs nach dem Übermaßverbot dosieren ließe.23 Die Meßbarkeit rechtsstaatlichen Handelns droht verloren zu gehen. Die neuere Gesetzgebung antwortet auf die Gefahr des Terrorismus dadurch, daß sie die Eingriffsschwelle vorverlegt, insbesondere für den Zugriff auf grundrechtlich geschützte Daten. Die Gefahrenabwehr wird zunehmend erweitert durch Gefahrenvorsorge und Risikovorsorge, ein sich immer weiter ausdehnendes Vorfeld präventiver Recherchen und Kontrollen, wie es in anderen Bereichen des Verwaltungsrechts schon vorhanden ist, vom Atomrecht über das Arzneimittel- bis ins Lebensmittelrecht.24 Doch dort handelt es sich um sachliche Risiken, die der Technik und der Produktion. Hier aber geht es um das Risiko, das in der Moral und der Handlungsfreiheit des Menschen liegt. Eine typische Maßnahme der Vorfeldüberwachung ist die Rasterfahndung.25 Am Beispiel dieser Maßnahme zeigt sich, wie die Aufgabe der Polizei, konkrete Gefahren abzuwehren, 23 Eschatologische Alptraumvision Erhard Denninger, Freiheit durch Sicherheit?, in: Hans-Joachim Koch (Hg.), Terrorismus – Rechtsfragen der äußeren und inneren Sicherheit, 2002, S. 83 (88 ff.). 24 Zu Zulässigkeit und Grenzen nachrichtendienstlicher Recherchen zur Früherkennung aus dem Ausland drohender Gefahren BVerfGE 100, 313 (368 ff.). Dazu Markus Möstl, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die strategische Fernmeldeaufklärung und die informationelle Vorfeldarbeit im allgemeinen, in: DVBl. 1999, S. 1394 ff. – Zur Staatspflicht, technische Risiken zu mindern: Udo Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 41 ff., 65 ff. 25 Analyse und verfassungsrechtliche Diskussion Wolfgang Loschelder, Rasterfahndung – polizeiliche Ermittlung zwischen Effektivität und Freiheitsschutz, in: Der Staat 20 (1981), S. 349 ff. Grundsätzliche Kritik Christoph Gusy, Geheimdienstliche Kritik. Aufklärung und Verfassungsschutz, in: Hans-Joachim Koch (Hg.), Terrorismus – Rechtsfragen der äußeren und inneren Sicherheit, 2002, S. 93 ff. (107, 116: „Verdachtgewinnungseingriff“).
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und die des Nachrichtendienstes, die Sicherheitslage im allgemeinen zu beobachten, ineinander übergehen. Mit der Vorfeldüberwachung weitet sich der Handlungsraum des Staates auf Kosten der grundrechtlichen Freiheit. Ob damit die rechtsstaatliche Balance von Sicherheit und Freiheit verloren geht, ist Tatfrage. Jedenfalls ist von Verfassungs wegen zu fordern, daß der Rechtsstaat sich in seinen Mitteln nicht seinem Feind angleichen kann, ohne seine freiheitliche Identität einzubüßen. Der Kampf gegen den Terror darf nicht selbst terroristisch werden. VI. Vom Generalsekretär der Vereinten Nationen bis zu deutschen Politikern und Staatsrechtslehrern herrscht Einigkeit darüber, daß im Elend der Dritten Welt die Ursache des Terrorismus liege und daß diesem das Wasser abgegraben werden müsse durch Beseitigung des Elends. Das soll nicht in Frage gestellt werden. Wer an seiner Lagerexistenz in Palästina oder im Libanon verzweifelt, mag einen Ausweg suchen, wenn er sich für den Glaubenskampf anwerben läßt, und den Rückgewinn seiner Würde erhoffen, wenn er als lebende Bombe sich selbst mit anderen in die Luft sprengt. Dennoch greift das soziale Problemerkennungs- und Problemlösungsmuster zu kurz. Nachweislich rekrutiert sich ein erheblicher Teil der Selbstmordattentäter aus sozial begünstigten Schichten. Der Terrorismus gedeiht in einigen der reichsten Länder der Welt. Osama Bin Laden ist Milliardär. Die eigentlichen Ursachen liegen außerhalb des ökonomischsozialen Horizonts. Hierzulande gehört es freilich zur politischen Korrektheit, die Widersprüche dieser Erde allein aus der sozialen Ungleichheit zu erklären. Man will nicht wahrhaben, daß es auch ideelle Widersprüche gibt, zumal solche der religiösen Überzeugungen, die wiederum kulturelle, mentale und nationale Identitäten und Gegensätze erzeugen. Die Attitüde 7 Isensee (Hrsg.)
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des kosmopolitischen Sozialarbeiters kommt den Phänomenen nicht bei. Im Gegenteil, sie ist eine der Ursachen des Terrorismus. Denn sie behandelt religiös-kulturelle Identität als soziale Rückständigkeit, und sie hält den technischen Vorsprung, auf den sie sich stützt, für moralische Überlegenheit, die ihrerseits die Rechtfertigung dafür bietet, im Sinne der westlichen Zivilreligion, der Menschenrechte und der Demokratie zu missionieren, mit dem westlichen Hedonismus zu infizieren und in die globale Konsumgesellschaft westlicher Observanz zu assimilieren. Der Westen bleibt der islamischen Kultur schuldig, was sie um ihrer Würde willen fordert: die Anerkennung. Im Terrorismus, wie er am 11. September spektakulär in Erscheinung trat, regt sich der Kampf der Kulturen, dessen Realität zu verdrängen und zu leugnen hierzulande als Ausweis von Aufgeklärtheit, Weltoffenheit, Toleranz gilt. Dieser Kampf richtet sich gegen die Kultur des Westens, auch in ihren kosmopolitischen Ansprüchen, wie sie sich in den Prinzipien der Menschenrechte und der Demokratie verkörpern, die, vom Geist ihrer okzidentalen Herkunft geprägt, im Orient als Oktroi einer fremden Kultur und Beleidigung der eigenen empfunden werden.26 Hier zeigt sich eine prinzipielle Schwäche des Liberalismus, der sich im Verfassungsstaat verkörpert. Er bietet die Anerkennung nur den Individuen als Personen, nicht aber überindividuellen Einheiten, soweit sie sich nicht als Staaten oder Staatenverbindungen organisiert haben. Er erkennt Staaten an, nicht aber Religionen und Kulturen. Er neigt dazu, ihre Strukturen zu pulverisieren, bis nur noch Individuen übrig bleiben, denen er anheimgibt, sich kraft ihrer Selbstbestimmung neue Strukturen zu schaffen. In seiner Eigenschaft als Rechtsstaat sieht der liberale Staat nur freie und gleiche Individuen. In sei26 Vgl. Bassam Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, 1992.
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ner Eigenschaft als Sozialstaat nimmt er darüber hinaus sozioökonomische Unterschiede wahr, doch tut er sich schwer, kulturelle Besonderheiten aufzunehmen, obwohl er auch Kulturstaat ist. Das eben ist er in seinem Verständnis von grundrechtlicher Freiheit in einem erheblich minderen Maße, als er Sozialstaat ist. Religionsstaat aber will er schlechthin nicht sein. Wenn er überhaupt religiöse Phänomene registriert, dann nur in ihren kulturellen, sozialen und politischen Derivaten. Er neigt dazu, die Wirklichkeit der Religion zu übersehen, weil er über ihre Wahrheit nichts zu sagen hat. Der Umstand, daß er zu Beginn der Neuzeit in Europa das Bürgerkriegspotential der konfessionellen Differenzen dadurch entschärfte, daß er seinerseits eine neutrale Position bezog, besagt nichts darüber, daß weltweit die Religion entpolitisiert sei oder sich entpolitisieren lasse. Das ist noch nicht einmal auf dem alten Kontinent ohne Rest gelungen, wie das Beispiel Nordirland zeigt, ganz zu schweigen von Bosnien und Kosovo. Die Kirchen machen es freilich dem Staat in Deutschland leicht, sie als religiöse Größen zu übersehen, weil sie sich in einem anhaltenden Prozeß der Selbstsäkularisierung ihrem säkularen Umfeld angepaßt haben und ein aufklärerisches Mimikry zeigen, so daß so gut wie nichts von dem fascinosum et tremendum des Christentums übrigbleibt.27 Der Terrorismus lebt aus der Macht einer Idee. Eine Idee ist resistent gegen physische Gewalt. Es reicht nicht, die Organisation der Al Qaida, ein nur lose geknüpftes Netz, zu zerstören. Es reicht noch nicht einmal, ihren Führer zu töten. Sein Charisma würde überdauern. Ein toter Osama Bin Laden könnte gefährlicher werden als der lebende. Ein neuer Mahdi, ein islamistischer Messias. Das Dilemma: der Westen muß sich 27 Dazu Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 25 (1991), S. 105 (138 ff.); ders., Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts, in: Festschrift für Joseph Listl, 1999, S. 67 (88 ff.); Otto Depenheuer, Religion als ethische Reserve der säkularen Gesellschaft, in: Hommage an Josef Isensee, 2002, S. 3 ff.
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der Gewalt des Terrorismus mit wirksamer Gegengewalt erwehren. Doch die Triebkräfte der Gewalt vermag er damit nicht zu bannen. Im Gegenteil, jede militärische Niederlage kann ihr neue Energien zuführen, das Feuer des Fanatismus kräftiger entfachen und dem Heer des Terrorismus weitere Rekruten zuführen. Wenn der Hydra ein Kopf abgeschlagen ist, können deren mehrere nachwachsen. Der Kampf gegen den Terrorismus entscheidet sich auf der Ebene der Ideen. Auf der einen Seite stehen die Ideen des Westens in ihrem Anspruch auf Universalität, auf der anderen die des islamistischen Protestes, des Hasses auf Amerika und seine Verbündeten, nicht nur auf ihre Politik, sondern gerade auf ihre politischen Werte, ihre Kultur und Lebensart. Der Haß ist tief verwurzelt in den Massen, indes die aufgeklärten unter den autoritären Führern den westlichen Werten aufgeschlossen sind, freilich mehr den ökonomischen als den politischen. Der Haß steigt hervor aus der Religion des Islam. Noch ist der Islamismus nicht mit dem Islam identisch und mag als Exzeß, als Verirrung oder als Perversion gedeutet werden. Offen ist aber, ob er sich auf Dauer zu dessen Avantgardisten oder gar zu dessen Repräsentanten erheben wird. Dann freilich wäre der Kampf der Kulturen Realität. Noch einmal: zwischen Islam und Islamismus ist zu unterscheiden. Dennoch ist es angezeigt, die religiös-kulturellen Unterschiede zwischen Orient und Okzident ernst zu nehmen und sie nicht als folkloristisches Dekor kosmopolitischer Einheit zu verharmlosen. In Deutschland neigt man dazu, einseitig die dem Westen kompatiblen Momente des Islam hervorzuheben und sich ein aufklärerisch-gefälliges Bild von ihm zu machen, wie es etwa Lessing von Sultan Saladin im „Nathan dem Weisen“ zeichnet. Doch die gegenwärtige Realität liegt von diesem Ideal des 18. Jahrhunderts so weit entfernt wie Bagdad von Wolfenbüttel. Der Kampf der Kulturen ist freilich auch nur ein Deutungsmuster, das die Realität des Terrorismus nicht ausschöpft. So-
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weit es aber greift, zeigt sich, daß polizeiliche und militärische Mittel nur an Symptomen kurieren können. Hier müssen andere Wege gefunden werden. Ich weiß keine Lösung. Aber ein erster Schritt wäre es, wenn der Westen im allgemeinen, wenn Europa, wenn Deutschland im besonderen sich der religiöskulturellen Bedingtheit der rechtlichen Prinzipien bewußt würden, deren universale Geltung sie betreiben.
VII. Der Terrorismus bedient sich schlechthin verwerflicher Mittel, die kein noch so hehres Ziel rechtfertigt: der Opferung Unschuldiger in der Absicht, Aufmerksamkeit zu erlangen und Schrecken zu verbreiten. Der Begriff ist negativ besetzt. Wer eine Person oder eine Organisation als terroristisch bezeichnet, will sie als böse brandmarken. Der Adressat wird sich gegen die Qualifikation wehren, um sich moralisch behaupten zu können. Seinem Selbstverständnis nach ist er Widerstandskämpfer, Befreiungskrieger, Retter der Bedrohten, Helfer der Schwachen, Glaubensheld. Der Terrorist ist allerdings kein gewöhnlicher Krimineller. Vom erpresserischen Geiselnehmer wie vom Mafioso unterscheidet er sich durch das Fehlen von Eigennutz. Er dient einer großen, überpersönlichen Sendung, bereit, alles dafür zu opfern, selbst das eigene Leben. Der islamistische Selbstmordattentäter aber bildet eine moralische Provokation, die verheerendere Wirkungen zeitigt als die physische Bedrohung, die von ihm ausgeht. Er negiert die Kultur des Westens, die Wertordnung des Verfassungsstaates, dem das Leben des Einzelnen als der Güter höchstes gilt und die Tötung als der schwerste aller Eingriffe. Der moderne Staat beschränkt sich auf innerweltliche Aufgaben. Für ihn gibt es kein Jenseits. Er hat nicht ewige Wahrheiten zu verkünden, sondern praktischen Bedürfnissen eines diesseitigen Gemeinwohls Genüge zu tun. Er leistet, lohnt
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und straft im Diesseits. Das höchste Gut, das er zu schützen und zu wahren hat, ist das menschliche Leben. Der Staat, dem das Leben seiner Bürger lieb ist. Die Teleologie des Rechtsstaats hat ihren Ursprung in der Todesfurcht. Sie bildet den Schlüssel zur Initialphilosophie des modernen Staates bei Thomas Hobbes. Dieser berichtet in seiner Selbstbiographie, seine Mutter habe ihn im Jahre 1588 vorzeitig geboren, weil sie einen Schock erlitten habe durch die Nachricht, daß die spanische Armada in britische Gewässer eingedrungen sei. Sie habe zwei Kinder zugleich zur Welt gebracht, ihn und die Furcht: „Fama ferebat enim sparsitque per oppida nostra Extremum genti classe venire diem. Atq; metum tantum concepit tunc mea mater, Ut paretet geminos, méque metúmque simul.“28
Die vorstaatliche Ausgangslage in der hobbesianischen Philosophie ist die Furcht des Menschen, von seinesgleichen getötet zu werden. Die vom Überlebenswillen geleitete Intelligenz findet den Ausweg aus dem Zustand der Friedlosigkeit, dem Krieg aller gegen alle: den allseitigen Friedensschluß, in dem sich alle einer Macht unterwerfen, die dazu geschaffen ist, den Frieden zu gewährleisten und das Leben zu schützen, freilich unter dem Vorbehalt, daß sie dazu fähig und willens ist. Wo nicht, da lebt die natürliche Freiheit zur Notwehr wieder auf. Staatlicher Schutz und staatsbürgerlicher Gehorsam beruhen auf Gegenseitigkeit. Ohne Schutz kein Gehorsam. Einem Staat, der allein innerweltliche Ziele kennt, ist das irdische Leben der Güter höchstes. Seine Machtmittel, die physischen wie die psychischen, verfangen nur, wenn seine Adressaten diese Prämisse teilen. Alle höheren Ziele, zu denen der Rechtsstaat sich ausdifferenziert, gehen davon aus. Je höher und „ziviler“ das Ziel, desto blasser die Erinnerung an 28 Thomas Hobbes, Thomæ Hobbesii Malmesburiensis Vita. Authore Seipso, London 1679, S. 2.
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das erste und fundamentale, die Bannung der Todesfurcht. Die psychischen Machtmittel des Staates, etwa strafrechtliche Abschreckung, drängen die physischen zurück und ermöglichen die feine Dosierung nach dem Übermaßverbot. Der Art nach werden die Sanktionen abgestuft von moralischem Druck zu materieller Einbuße, von Geldentzug über Freiheitsentzug zu körperlichem Zwang. Das schärfste Zwangs- und Drohmittel im Arsenal der Staatsgewalt ist die Tötung. Die Verfassung des Rechtsstaats geht darauf aus, den Einsatz dieses Mittels tunlichst zu vermeiden. Im Verbot der Todesstrafe verbietet sie diesen als schlechthin unangemessen. Allenfalls gestattet sie ihn als ultima ratio in Grenzfällen wie etwa den polizeilichen Rettungsschuß. Dieser Konzeption entspricht die Erwartung, daß aus der Sicht des Bürgers die Tötung als das ärgste aller Übel empfunden wird. Darin liegt die Sanktion hinter allen rechtlichen Sanktionen, der äußerste Schrecken, aus denen die Normbefehle letztlich ihre Präventionswirkung ziehen. Die Todesfurcht ist es auch, die dem militärischen Potential den Effekt der Abschreckung gibt. Die Sanktionen versagen gegenüber dem Terroristen, dem das eigene Leben nicht zählt und nicht das fremde. Damit wird die rechtsstaatliche Staatsgewalt, die sich seiner zu erwehren hat, zu einer Reprimitivierung genötigt, zur Beschränkung auf die Mittel des körperlichen Zwangs. Der zweckrational organisierte Staat scheitert an dem, der den Tod nicht fürchtet: dem religiösen und dem politischen Fanatiker, der, in der Hoffnung auf jenseitigen Lohn oder diesseitigen Nachruhm, bereit ist, sich und andere um einer großen Sache willen zu opfern, aber auch an dem heroischen wie dem spielerischen Nihilisten, dem Desperado. Die Gesellschaft der Todesverächter darf nicht als eine negative Auslese der Menschheit erscheinen. Im Gegenteil: In ihr finden sich auch die edelsten Vertreter, für die Senecas Satz gilt: „Qui potest mori, non potest cogi.“ Die Todesdrohung kann den stoischen Philosophen nicht erschüttern,
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weil er den Tod nicht fürchtet. Sie beugt auch nicht den christlichen Märtyrer. Dieser ist bereit, sein Leben zu opfern. Doch er vernichtet nicht das Leben anderer. Zwischen dem Märtyrer und dem Selbstmordattentäter liegt ein moralischer Abgrund. Das Modell der innerweltlichen Prävention wurde schon durch einen Zeitgenossen von Hobbes, Samuel von Pufendorf, Utilitarist auch er, auf seine Nützlichkeit hin geprüft und verworfen, weil er „das wichtigste und höchste Band der menschlichen Gesellschaft“, die Religion, „in ihrem Nutzen für das Leben der Menschen“ vernachlässige: Wenn man die Religion beiseite lasse, werde die innere Festigkeit der Staaten immer gering sein. „Die Furcht vor irdischen Strafen . . . würde nicht ausreichen, die Bürger bei der Pflicht zu halten. Dann wäre das Wort am Platz: Wer den Tod nicht fürchtet, der fürchtet nichts. Denn jemand, der Gott nicht fürchtet, hat nur den Tod zu scheuen. Wer aber imstande ist, den Tod zu verachten, kann sich gegenüber der Obrigkeit alles herausnehmen.“29 Der säkulare Verfassungsstaat baut nicht auf die Gottesfurcht seiner Bürger. Die heutige Gesellschaft ist immer weniger bereit, sich die religiöse Begründung der staatsbürgerlichen Pflichten zu eigen zu machen. Der Liberalismus in der Nachfolge von Thomas Hobbes hängt denn auch die Erwartungen tiefer, wohl zu tief, wenn er allein auf den vernunftgeleiteten Eigennutz der Menschen setzt. Kant baut die gute Staatsverfassung nicht auf die Moralität der Bürger, sondern auf den Mechanismus der Natur, daß der Widerstreit der 29 Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur (hg. u. übersetzt von Klaus Luig), S. 56. S. auch ebd., S. 57: „Wenn keine Strafe Gottes droht, kann auch niemand auf die Glaubwürdigkeit eines anderen vertrauen. Alle lebten stets ängstlich in Mißtrauen und Furcht, von anderen getäuscht und zu Schaden gebracht zu werden. Herrscher und Untertanen wären kaum geneigt, zu ihrem Ruhm hervorragende Werke zu vollbringen. Denn ohne Bindung an das Gewissen wären bei den Herrschern alle Amtspflichten einschließlich des Richterspruches für Geld zu haben.“
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selbstsüchtigen Neigungen zu der vernünftigen Einsicht aller führt, sich Zwangsgesetzen zu beugen, somit den inneren wie den äußeren Frieden zu fördern und zu sichern. Das Problem sei selbst für ein Volk von Teufeln lösbar. Freilich macht Kant den Vorbehalt „wenn sie nur Verstand haben“.30 Verstand aber ist die Fähigkeit, zweckmäßig im Sinne der Selbsterhaltung zu handeln. Diese Art von Verstand geht dem Terroristen ab, der sich und andere um der großen Sache willen in die Luft sprengt.31 An ihm zerbricht die Logik des Rechtsstaats.
VIII. Wenn das rechtsstaatliche Instrumentarium der Prävention gegen Personen versagt, die den Tod nicht fürchten, bleibt die Frage, ob der Rechtsstaat nicht zu Mitteln greifen darf, die auf das besondere Wertbewußtsein der Terroristen abstellen. Die britische Kolonialmacht in Indien suchte – mit einigem Erfolg – Muslime von Selbstmordanschlägen abzuhalten, indem sie drohte, die Leichname der Attentäter in Schweinehaut einzunähen. Maßnahmen dieser Art würden heute als Mißachtung religiöser Empfindungen und als Leichenschändung von der Weltöffentlichkeit gebrandmarkt werden. Im übrigen verlöre sich die abschreckende Wirkung schnell, wenn Mullahs – ohne daß es besonderen theologischen Scharfsinns bedürfte – darlegten, daß der den Selbstmordattentätern verheißene Lohn im Jenseits von der erniedrigenden Behandlung des Leichnams 30 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Zusatz (1795), in: ders., Werke (hg. von Wilhelm Weischedel), Bd. VI, 1964, S. 191. 31 Zutreffend Erhard Denninger, Freiheit durch Sicherheit, Anwendungen zum Terroristenbekämpfungsgesetz, in: StV 2002, S. 96 (102). – Zu Recht weist aber Karl-Heinz Kamp darauf hin, daß die „Abschreckungsresistenz“ nicht unbedingt für die Organisation gilt, die hinter dem Attentäter steht, daß diese an ihrem Überleben interessiert ist (Etappensieg gegen des Terror, Arbeitspapier der Konrad Adenauer-Stiftung, Nr. 58 / 2002, S. 6 f.).
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nicht berührt werde. Nachhaltiger könnten Repressalien gegen die Familie des Selbstmordattentäters wirken, der dieser zu Ruhm und Lohn verhelfen möchte. Israel läßt die Häuser der Angehörigen sprengen. Doch auch hier erhebt sich das rechtsstaatliche Gebot, daß der legitime Zweck der Sicherheit nicht jedwedes Mittel heiligt, nicht Vergeltungsmaßnahmen gegen Unschuldige und nicht die Instrumentalisierung des Familiensinnes. Ein wirksames Mittel könnte es sein, den heroisch gesonnenen Selbstmordkandidaten die Hoffnung auf Nachruhm zu nehmen und das Verwerfliche ihres Tuns bewußt zu machen. Dazu bedürfte es freilich einer Umwertung der Werte im humanen Sinne, die, so sehr sie anzustreben ist, nicht vorausgesetzt werden kann. Der Verfassungsstaat gäbe sich selbst auf, wollte er Terror mit Terror beantworten. Er täte unrecht. Er handelte auch unklug und würde seiner Sache nicht nützen. Die Terroristen schreckt er nicht ab. Er selbst aber würde sich delegitimieren und seinen Feinden zuarbeiten, die ihn zu Überreaktionen provozieren wollen, damit er sich demaskiere und sein „wahres Gesicht“ zeige, das der grausamen Despotie.
IX. Dennoch darf der Verfassungsstaat sich gegenüber dem Terror nicht schwach erweisen. Gefordert wird er zugleich als Rechtsstaat und als Machtstaat. Er hat das Recht in den Bahnen des Rechts wider das Unrecht zu schützen und den Schutz wirksam zu gewährleisen. Er schuldet nicht nur Rechtmäßigkeit, sondern auch Effizienz, nicht nur Bemühen, sondern Erfolg. Dem dienen die Blankovollmacht zum Handeln und die Machtmittel, mit denen er ausgestattet ist, zumal das Gewaltmonopol. Und doch heiligt der Zweck nicht jedwedes Mittel, sondern nur ein solches, das sich mit den freiheitssichernden und den die Menschenwürde achtenden Standards der Verfassung verträgt.
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Hier geht es nicht um die Erfüllung irgendeiner seiner vielen Aufgaben, sondern um die Grundkondition des Staatsvertrages: Schutz gegen Gehorsam. Versagt der Staat hier, so verliert er die Anerkennung seiner Bürger. Die Gewährleistung der Sicherheit im Innern wie nach außen ist der fundamentale Zweck, um dessentwillen der moderne Staat geschaffen worden ist. Die grundrechtlichen und die demokratischen Freiheitsverbürgungen des Verfassungsgesetzes bauen auf dem staatlich gewährleisteten Gesamtzustand der Sicherheit. Diese Voraussetzung der Freiheit versteht sich in der modernen Zivilisation von selbst. Sie wird vom Verfassungsgesetz nicht eigens ausformuliert.32 Das Bundesverfassungsgericht freilich bringt sie zur Sprache: „Es wäre eine Sinnverkehrung des Grundgesetzes, wollte man dem Staat verbieten, terroristischen Bestrebungen, die erklärtermaßen die Zerstörung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben und die planmäßige Vernichtung von Menschenleben als Mittel zur Verwirklichung dieses Vorhabens einsetzen, mit den erforderlichen rechtsstaatlichen Mitteln wirksam entgegenzutreten. Die Sicherheit des Staates als verfaßter Friedensund Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet.“33 Im äußersten Fall der terroristischen Gefahr können sich die Mittel, die das Gesetz zur Abwehr bereitstellt, als unzulänglich erweisen und auch die Notbefugnisse, die die Verfassung für den Ausnahmefall vorsieht, versagen. Nach einer juristischen Doktrin ist der Rechtsstaat absolut der Legalität verpflichtet und daher im Grenzfall gehindert, sich präterlegaler Mittel zu bedienen, auch wenn allein diese die Rettung 32 33
Vgl. Bernd Grzeszick, Staat und Terrorismus, oben S. 55 ff. BVerfGE 49, 24 (56 f.) – Bezug auf BVerwGE 49, 202 (209).
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bringen könnten. Er wäre also von Rechts wegen gezwungen, im Ernstfall zu kapitulieren. Doch damit verfehlte er seinen eigentlichen Zweck. Dieser verlangt, daß er jedweder Gefahr standhält, die seinen Bürgern und dem Gemeinwesen im ganzen drohen, und öffnet als ultima ratio ein ungeschriebenes Notrecht des Staates, das ihm die erforderlichen Mittel gibt, sich gegen Angriffe zu behaupten und seine Bürger zu schützen.34 Auch in dieser Grenzsituation bliebe er an die rechtsstaatlichen Kautelen gebunden, insbesondere an die Grundrechte. Diese aber stehen nicht nur den Bürgern zu, die er zu schützen, sondern auch den Terroristen, die er abzuwehren hat. Die Asymmetrie des Krieges bleibt unaufhebbar zwischen der grundrechtlich gebundenen Staatsgewalt und der alles staatliche Recht sprengenden terroristischen Gewalt. Der Rechtsstaat hat die schwierigere Ausgangslage. Sie besteht letztlich darin, daß ihm das Leben seiner Bürger lieb ist und sogar das seiner Feinde. Das kann ihm gegenüber den Terroristen, dem das fremde Leben nichts zählt, noch nicht einmal das eigene, Nachteile bereiten. Diese aber werden mehr als ausgeglichen durch die moralische Autorität, die ihm dadurch zuwächst. An dieser bricht sich letztlich alle physische Gewalt.
34 Zum ungeschriebenen Notrecht mit Nachw. Grzeszick (N 32), S. 74 ff.; Josef Isensee, Normalfall oder Grenzfall als Ausgangspunkt rechtstheoretischer Konstruktion?, in: Winfried Brugger / Görg Haverkate (Hg.), Grenzen als Thema der Rechts- und Staatsphilosophie, 2002, S. 1 (70 ff.).