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German Pages 275 Year 2007
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 40
TILMAN REPGEN THOMAS LOBINGER · ANSGAR HENSE
Vertragsfreiheit und Diskriminierung Herausgegeben von JOSEF ISENSEE
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
T. Repgen · T. Lobinger · A. Hense
Vertragsfreiheit und Diskriminierung
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 40
TILMAN REPGEN THOMAS LOBINGER · ANSGAR HENSE
Vertragsfreiheit und Diskriminierung Herausgegeben von JOSEF ISENSEE
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-12113-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de
Paul Mikat gewidmet
Vorwort des Herausgebers Vertragsfreiheit enthält auch Freiheit zur Diskriminierung. Sie entbindet legitime Willkür. Der Private entscheidet autonom, ob, mit wem und unter welchen Bedingungen er eine vertragliche Beziehung knüpft. Diese Freiheit kommt jedermann in gleichem rechtlichen Maße zu. Doch deren Ausübung erfolgt unter den Bedingungen einer ungleichen gesellschaftlichen Realität, so daß die gleiche rechtliche Freiheit sich in ungleiche soziale Macht verwandeln kann. Von jeher streben Moral und Recht danach, dem Mißbrauch der Vertragsfreiheit zu wehren. Insbesondere bemüht sich der Sozialstaat, ein soziales Machtgefälle durch rechtliche Vorkehrungen zu kompensieren und den sozial Schwächeren zu schützen durch Beschränkung der Vertragsfreiheit seines sozial überlegenen Partners. Die staatliche Regulierung der Vertragsfreiheit hat neuartige Intensität erlangt durch die Antidiskriminierungsgesetzgebung. Diese geht aus vom Europarecht mit seiner Zielsetzung, „Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen“ (Art. 13 EGV). Auf vier supranationale Richtlinien aus den Jahren 2000 bis 2004 folgt das deutsche „Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung“ vom 14. August 2006. Die gesetzlichen Benachteiligungsverbote beziehen sich auf den Zugang und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum, auf den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, auf Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, auf den Zugang
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Vorwort des Herausgebers
zu Berufsberatung und Berufsbildung, auf Mitgliedschaft in Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen, auf Sozialschutz, soziale Begünstigungen und Bildung. Der Schutz der Beschäftigten vor Benachteiligung sowie der Schutz vor Benachteiligung im Zivilrechtsverkehr schaffen ein umfangreiches Repertoire an Beschwerde- und Klagebefugnissen, Denunziationsmöglichkeiten, Überwachungsmaßnahmen und Sanktionen. Die Vertragsfreiheit steht nunmehr unter Sozialstaatskuratel. Im Ergebnis wird der „stärkere“ Partner eines virtuellen oder aktuellen Vertrages, etwa der Arbeitgeber, der Verkäufer oder der Vermieter, unter permanenten Rechtfertigungszwang gesetzt und insoweit ähnlich behandelt wie die Staatsgewalt. Diese aber ist von Haus aus an die Grundrechte, damit an die grundrechtlichen Diskriminierungsverbote gebunden. Der Private aber, gleich ob Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, Mieter oder Vermieter, Käufer oder Verkäufer, ist Inhaber grundrechtlicher Freiheit und schuldet daher für deren Ausübung niemandem Rechenschaft. Die Antidiskriminierungsvorkehrungen greifen tief in die grundrechtlich gewährleistete Vertragsfreiheit ein, zumal in die Abschlußfreiheit. Unter der Geltung des Grundgesetzes hat bisher kein anderes Gesetz so umfassend den grundrechtlichen Freiraum beschränkt wie das vorliegende Antidiskriminierungsgesetz, keines so kräftig am Fundament der Privatrechtsgesellschaft und der Marktwirtschaft gerüttelt. Das vorliegende Gemeinschaftswerk widmet sich dem Problem der Diskriminierungsverbote, wie sie aufgrund des Gesetzes aus dem Jahre 2006 bestehen, aus mehreren rechtlichen Perspektiven: der des Zivilrechts und des Arbeitsrechts, des Staatskirchenrechts und des Verfassungsrechts, zumal der Grundrechte. Die Abhandlungen gehen zurück auf Vorträge in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft auf deren Generalversammlung in Aachen am 26. September 2005. Bonn, im November 2006
Josef Isensee
Inhalt Antidiskriminierung – die Totenglocke des Privatrechts läutet Von Professor Dr. Tilman Repgen, Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote. Privatautonomie im modernen Zivil- und Arbeitsrecht Von Professor Dr. Thomas Lobinger, Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kirche und Diskriminierungsverbot Von Privatdozent Dr. Ansgar Hense, Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Nachwort – Privatautonomie: Freiheit zur Diskriminierung? – Verfassungsrechtliche Vorgaben Von Professor Dr. Josef Isensee, Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Antidiskriminierung – die Totenglocke des Privatrechts läutet Von Tilman Repgen, Hamburg
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Das Antidiskriminierungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die relevanten Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Begriff und Regelungsbereich von „Diskriminierung“ . . . . . .
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III. Kritik am Diskriminierungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Betroffene Grundrechte und Sanktionensystem . . . . . . . . . . . . .
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1. Rechtsgrundlage der Vertragsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Schadensersatz als Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Beweislastumkehr als Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Eingriff in die Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Wahlfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Ausprägungen des Privatrechtsgedankens in der Geschichte einschließlich des europäischen Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I. Privatautonomie als Kern der Privatrechtsidee . . . . . . . . . . . . . .
45
II. Vertragsfreiheit nur im ungebundenen Privatrecht möglich?
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III. Vertragsfreiheit im römischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tilman Repgen IV. Kanonisches Recht im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Deutsche Rechtstradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Hamburgisches Stadtrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Sachsenspiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Naturrechtskodifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Code civil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. ABGB und BayEntwurf 1811 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Das Menschenbild des BGB – die Prinzipien von Freiheit und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VIII. Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX. Die Principles of European Contract Law und der Zweck des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Antidiskriminierung als Schranke der Privatautonomie? . . . . . . . . . .
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I. Vier Strategien der Begrenzung der Privatautonomie . . . . . . .
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II. Freiheitsbegrenzung im Bürgerlichen Gesetzbuch . . . . . . . . . .
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III. Antidiskriminierung – eine objektive Schranke? . . . . . . . . . . . .
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IV. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Schrankenschranke 76 1. Die Ziele des Antidiskriminierungsprogramms . . . . . . . . . .
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2. Überprüfung der Verhältnismäßigkeit bezüglich der Zielsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Volkserziehung – Antidiskriminierung kein geeignetes Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Gerechtere Güterverteilung – Antidiskriminierung kein geeignetes Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 c) Schutz der Personwürde – Die (Un-)Notwendigkeit eines Antidiskriminierungsprogramms oder die bisherige Reaktion auf Diskriminierungen . . . . . . . . . . . . . . . 82 V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Antidiskriminierung
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Einleitung Carl Gottlieb Svarez, der Schöpfer des preußischen Allgemeinen Landrechts, warnte 1788 davor, den Richter infolge unklarer Bestimmungen zum Gesetzgeber zu machen. Nichts, so meinte er Aristoteles folgend1, könne der bürgerlichen Freiheit gefährlicher sein2. Die Gedankengänge des europäischen Richtliniengebers und moderner Parlamente lagen noch außerhalb der Vorstellungswelt eines Svarez. Heute wird der Gesetzgeber für die Freiheit doppelt gefährlich: Einerseits durch die Verwendung zahlreicher unbestimmter Rechtsbegriffe, andererseits und vor allem aber durch die Setzung freiheitswidriger Inhalte, wovon im folgenden zu handeln ist. Udo Di Fabio hat jüngst von der Gefährdung der Freiheit durch internationale und überstaatliche Normvorgaben gesprochen3. In dem vormodernen Diskriminierungsdenken liege, so Di Fabio, letztlich eine „Selbstgefährdung einer kulturarmen Freiheitsidee“4. Patrick Bahners meint, Di Fabio sei den Nachweis schuldig geblieben, daß das Antidiskriminierungsgesetz uralte Lebensweisheiten aushebele5. Ob Bahners mit seiner Kritik Recht hat, sei dahingestellt. Die AusheAristoteles, Rhetorik, übersetzt von Franz G. Sieveke, 51980, S. 8: Buch 1, Kap. 1, 7: 1354a – 1354b. 2 Carl Gottlieb Svarez, Inwiefern können und müssen Gesetze kurz sein?, in: Vorträge über Recht und Staat, hg. v. Hermann Conrad / Gerd Kleinheyer, 1960, S. 628; zum Hintergrund vgl. Heinz Mohnhaupt, Recht zwischen Generalisierung und Differenzierung: Das Beispiel des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten, in: Dal „De jure naturae et gentium“ di Samuel Pufendorf alla codificazione Prussiana del 1794. Atti del Convegno Internazionale Padova, 25 – 26 ottobre 2001, hg. v. Marta Ferronato, Mailand 2005, S. 187 ff. – Natürlich bezog sich Svarez auf eine Technik der Gesetzgebung, die heute nicht mehr in Betracht kommt. Soweit der Gesetzgeber freilich den Schutz vor Diskriminierung gesetzlich normiert, gefährdet er die Freiheit in der Tat auch durch Unbestimmtheit. 3 Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S. 12. 4 Di Fabio (N 3), S. 8 f. 5 Patrick Bahners, Seid fruchtbar und belehret euch. Der Verfassungsrichter Udo Di Fabio redet zur deutschen Nation (Rezension), in: FAZ vom 25. 6. 2005. 1
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belungsthese ist jedenfalls richtig. Das Antidiskriminierungsprogramm gefährdet ohne rechtfertigenden Grund die Vertragsfreiheit in einem Maße, daß man schon die Totenglocke des Privatrechts läuten zu hören meint. Der besondere Grad dieser Gefahr resultiert aus der Beliebigkeit der Freiheitsbeeinträchtigung, weil die Diskriminierungsmerkmale jederzeit mit ähnlichen Argumenten erweitert werden könnten6. Zwei zentralen Instituten des bürgerlichen Rechts läutet das Totenglöckchen. Das eine Rechtsinstitut ist die Ehe. Sie verliert im Rechtsleben immer mehr ihre Konturen, was nicht nur im Hinblick auf eine jahrtausendealte Menschheitserfahrung eigentlich unbegreiflich erscheint. Das andere Rechtsinstitut, zu dessen Begräbnis man rüstet, ist die Vertragsfreiheit, also ein Kernstück dessen, was Privatrecht ausmacht7. Privatrecht ist mit den Worten von Walter Hallstein „der Ausdruck der Persönlichkeit als Rechtsinstitution“8. Man ignoriert heute uralte Erfahrung, über die uns die Rechtsgeschichte belehrt. Nun fehlt es nicht an Stimmen, die sich warnend über das früher geplante Antidiskriminierungsgesetz bzw. seinen noch schlimmeren Vorentwurf9 geäußert haben. Da das jetzt in 6 So mit Recht bereits Elke Herrmann, Die Abschlußfreiheit – ein gefährdetes Prinzip, in: ZfA 1996, S. 19 ff. (52), im Blick auf die Antidiskriminierungsvorschrift des § 611a BGB. 7 Vielleicht sind es in Wirklichkeit nicht zwei Glöckchen, sondern eine einzige große Totenglocke mit einem besonders dumpfen Ton, haben doch beide Rechtsinstitute auch einen unmittelbaren inneren Zusammenhang, da die Ehe als Nukleus der Familie zentrale Bedeutung für die Ausbildung einer menschlichen Gesellschaft hat. Die Persönlichkeit des Menschen nimmt bereits in der frühen Kindheit entscheidende Prägungen auf, die erst viel später dann ihre Wirkungen im freien Handeln der erwachsenen Personen zeitigen. 8 Walter Hallstein, Wiederherstellung des Privatrechts. Rede bei Übernahme des Rektorats der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, in: SJZ 1946, S. 1 ff. (3). 9 Der Vorläufige Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht v. 29. 11. 2001 des Bundesjustizministeriums, veröffentlicht in einer Beilage zu NJW 2001, Heft 37, sowie die Entwurfsfassung vom 10. 12. 2001, abgedruckt z. B. in DB 2002, S. 470 f., ist von der Bundesregierung nach dem Rücktritt von Bundesministerin Herta Däubler-Gmelin zurückgezogen worden. Eingehende
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Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sich nur marginal von dem Entwurf der Vorgängerregierung unterscheidet, bleibt die Kritik gültig. Adomeit spricht von einer „sozialistischen Regulierung“10, Braun von „politisch verordneter Moral“11. Klepper behauptet einen „Angriff auf die Privatautonomie, der in der deutschen Rechtsgeschichte ohne Beispiel“ sei12. Ladeur bezeichnete den ersten Entwurf des Antidiskriminierungsgesetzes als unvereinbar mit dem gesunden Menschenverstand und einen Akt von gesetzgeberischem Vandalismus13. Pfeiffer sieht in dem Gesetzesvorhaben einen „Ausdruck einer jakobinischen Attitüde“ und „interventionistische Sozialmoral im Zivilrecht“. Picker erwartet – berechtigte – Kritik an dem Entwurf etwa bei Katharina von Koppenfels, Das Ende der Vertragsfreiheit? – Erkenntnisse aus dem (vorläufig) gescheiterten zivilrechtlichen Anti-Diskriminierungsgesetz für die Umsetzung der Richtlinien 2000 / 43 / EG und 2000 / 78 / EG, in: WM 2002, S. 1489 ff. – Dem Diskussionsentwurf vorausgegangen waren ein Entwurf eines Gesetzes zum Schutz vor Diskriminierung und zur Stärkung von Minderheitenrechten (Antidiskriminierungs- und Minderheitenrechtsgesetz), BT-Dr. 13 / 9706 vom 20. 1. 1998 und ein Entwurf eines Gesetzes zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgebotes des Artikels 3 Grundgesetz (Gleichbehandlungsgesetz), BT-Dr. 13 / 10081 vom 9. 3. 1998. 10 Klaus Adomeit, Diskriminierung – Inflation eines Begriffs, in: NJW 2002, S. 1622 f. (1623). 11 Johann Braun, Forum: Übrigens – Deutschland wird wieder totalitär, in: JuS 2002, S. 424 f. (424), mit dem wichtigen Hinweis, kennzeichnend für einen totalitären Staat sei das Fehlen einer Unterscheidung von Privatem und Öffentlichem. 12 Marian Klepper, Das „Anti-Diskriminierungs-Gesetz“: Sozialer Ausgleich statt Vertragsfreiheit, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 92 (2002), S. 11 ff. (15). 13 Karl-Heinz Ladeur, The German Proposal of an „Anti-Discrimination“-Law: Anticonstitutional and Anti-Common Sense. A Response to Nicola Vennemann, in: 3 German Law Journal No. 5 (1 May 2002) – Private Law, No. 1: „[ . . . ] it is in several respects unconstitutional and incompatible with both common sense and the requirements of the rule of law. (Apart from that it is written in an amateurish non-juridical jargon which in the past was noticeably widespread in sectarian political groups.) That it shall be integrated into the BGB with its clear systematic liberal approach, one of the masterpieces of European legal culture, has to be regarded as an act of legal vandalism.“, vgl. http: // www.germanlawjournal. com / article.php?id=152.
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„Inquisitionskomitees von wahrhaft Robespierre’schem Charakter“14. Auch Säcker fühlt sich an die französische Revolution erinnert und erkennt den „Beginn eines neuen puritanischen Tugendregimes. . .“, sieht „neojakobinische Wächter private Schuldverträge überprüfen“ und meint, „Robespierre hätte an diesem Gesetz seine Freude gehabt“15. Schmelz konstatiert ein „ideologisches Zwangskorsett“ und einen Rückfall in frühneuzeitliche Sozialdisziplinierung wie in den Polizeiordnungen16. Damit tut Schmelz zwar dem frühneuzeitlichen Staat Unrecht, aber das ist hier nicht zu verhandeln. Die Blütenlese zeigt jedenfalls eine breite Front der Ablehnung, der man freilich eine Reihe weniger drastischer, befürwortender Äußerungen gegenüberstellen könnte17. Dennoch 14 Eduard Picker, Antidiskriminierungsprogramme im freiheitlichen Privatrecht, in: Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, hg. v. Egon Lorenz, Karlsruhe 2005, S. 7 ff. (23). 15 Franz Jürgen Säcker, „Vernunft statt Freiheit!“ – Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner, in: ZRP 2002, S. 286 ff. (287, 289). 16 Christoph Schmelz, Echo zu: Säcker, „Vernunft statt Freiheit!“ – Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner, in: ZRP 2003, S. 67. Weitere ablehnende Stimmen Klaus Globig, „Ende der Privatautonomie“ oder grundrechtlich fundierte Rechtsetzung?, in: ZRP 2002, S. 529 ff. (gegen Baer [N 17]); Franz Urlesberger, Von Gleichen und Gleicheren. Zum „Diskriminierungspaket“ der Gemeinschaft, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht und Sozialrecht 2001, S. 72 ff.; Eduard Picker, Antidiskriminierungsgesetz – Der Anfang vom Ende der Privatautonomie?, in: JZ 2002, S. 880 ff. (das Ende der Privatautonomie sei zwar nicht in Sicht, aber es bestehe eine elementare Bedrohung); ders., Antidiskriminierung als Zivilrechtsprogramm?, in: JZ 2003, S. 540 ff.; ders., Antidiskriminierung und Miete, in: DWW 2004, S. 212 ff.; Thomas Pfeiffer, Diskriminierung oder Nichtdiskriminierung – was ist hier eigentlich die Frage, in: ZGS 2002, S. 165 (das allgemeine Diskriminierungsverbot führe zur „Herrschaft der Öffentlichkeit über den Einzelnen“ und sei „Ausdruck einer jakobinischen Attitüde“); v. Koppenfels (N 9), S. 1489 ff.; Hermann Reichold, Sozialgerechtigkeit versus Vertragsgerechtigkeit – arbeitsrechtliche Erfahrungen mit Diskriminierungsregeln, in: JZ 2004, S. 384 ff.; Karl Riesenhuber / Jens-Uwe Franck, Verbot der Geschlechtsdiskriminierung im Europäischen Vertragsrecht, in: JZ 2004, S. 529 ff.; Dieter Medicus, Schuldrecht I, Allgemeiner Teil, 152004, Rn. 74a f. 17 Einige Beispiele aus der inzwischen uferlosen Literatur: Jörg Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999, besonders S. 153 f., 204 ff., 210 ff.; ders.,
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tut eine Analyse der privatrechtstheoretischen Dimension Not. Gegenstand unserer Überlegungen ist das Antidiskriminierungsprogramm der europäischen Richtlinien – dem AnDiskriminierungsschutz durch Privatrecht, in: JZ 2003, S. 57 ff.; Rainer Nickel, Gleichheit und Differenz in der vielfältigen Republik. Plädoyer für ein erweitertes Antidiskriminierungsrecht, 1999; ders., Handlungsaufträge zur Bekämpfung von ethnischen Diskriminierungen in der neuen Gleichbehandlungsrichtlinie 2000 / 43 / EG, in: NJW 2001, S. 2682 ff.; Dagmar Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit: Diskriminierungsschutz und Vertragsrecht, 2000; dies., Gleichbehandlungsrichtlinien der EU – Umsetzung im deutschen Arbeitsrecht, in: NZA 2004, S. 873 ff.; sehr engagiert auch Susanne Baer, „Ende der Privatautonomie“ oder grundrechtlich fundierte Rechtsetzung? Die deutsche Debatte um das Antidiskriminierungsrecht, in: ZRP 2002, S. 290 ff.; Matthias Mahlmann, Gleichheitsschutz und Privatautonomie. Probleme und Perspektiven der Umsetzung der Richtlinie 2000 / 43 / EG gegen Diskriminierungen aufgrund von Rasse und ethnischer Herkunft, in: ZEuS 2002, S. 407 ff.; Jerzy Montag, Ausblick auf die kommende Legislaturperiode – Politik für mehr Bürgerrechte, in: ZRP 2003, S. 18 ff. (19); Friedrich Graf v. Westphalen, Einige Überlegungen zum Gesetzentwurf zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht, in: ZGS 2002, S. 283 ff.; Eberhard Eichenhofer, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, in: DVBl. 2004, S. 1078 ff.; Eva Kocher, Vom Diskriminierungsverbot zum „Mainstreaming“. Anforderungen an eine Gleichstellungspolitik für die Privatwirtschaft, in: RdA 2002, S. 167 ff.; Doris König, Antidiskriminierungsrichtlinien vor der Umsetzung – Gedanken zum Dialog mit NGOs, in: ZRP 2003, S. 315 ff.; Joachim Stünker, Schwerpunkte der rechtspolitischen Vorhaben in der 15. Legislaturperiode, in: ZRP 2003, S. 17 ff.; Ulrike Wendeling-Schröder, Diskriminierung und Privilegierung im Arbeitsleben, in: Festschrift für Peter Schwerdtner, 2003, S. 269 ff. Aufschlußreich ist auch die Anhörung zum Antidiskriminierungsgesetz am 7. 3. 2005 vor dem federführenden Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages mit insgesamt 56 Stellungnahmen von Wissenschaftlern und Interessenvertretern aller möglichen Verbände und Vereine. Das 129 Seiten lange Wortprotokoll dieser Anhörung ist abrufbar unter „http: // www.bundestag.de / parlament / gremien 15 / a12 / Oeffentliche_Sitzungen / Protokoll_ADG.pdf“. Die schriftlichen Stellungnahmen sind abrufbar unter „http: // www.bundestag.de / parlament / gremien15 / a12 / Oeffentliche_Sitzungen / 20050307 / index.html“. Selbstverständlich begreifen die Befürworter des Antidiskriminierungsprogramms die Diskriminierung als ein tatsächlich sehr relevantes Problem, vgl. etwa die zahlreichen Nachweise einschlägiger Studien bei Schiek, a. a. O., S. 19; Mahlmann, a. a. O., S. 419, spricht ohne Nachweis von einer häufig dokumentierten „Gegenwart von Diskriminierungen“. Aussagekräftige amtliche Erhebungen sind bislang nicht 2 Isensee (Hrsg.)
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fang dieses Übels18 – und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes19. Dabei geht es hier nicht um Detailkritik einpubliziert. Eine Bewertung der nichtamtlichen Studien ist hier nicht erforderlich, weil es mir allein um eine rechtliche Analyse des Antidiskriminierungsprogramms geht. Die Regierungsbegründung zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz bemüht sich zwar um eine Beschreibung der tatsächlichen Diskriminierungen im bundesrepublikanischen Alltag, vermag aber auch – außer für den Arbeitsmarkt – keine Zahlen oder konkreten Fakten zu benennen (BR-Drs. 329 / 06, S. 22 ff.), sondern verharrt auf der Ebene der Hypothesen. Die Randständigkeit von „Deutschen mit Migrationshintergrund“ ist ein soziales Phänomen, das sich gewißlich nicht vorwiegend oder gar allein mit Diskriminierungen wegen ethnischer Herkunft oder Religion erklären läßt (dies aber suggeriert die Bundesregierung, a. a. O., S. 23). Im übrigen ist die Armut, auf die die Begründung mehrfach abstellt (a. a. O., S. 22 f.), bislang kein Diskriminierungsmerkmal. Ein erster Gleichstellungsbericht der Bundesregierung sei jedoch erst in Vorbereitung (a. a. O., S. 24), so verkündet die Entwurfsbegründung und leistet insoweit eine Art Offenbarungseid. – Die Behauptung der Antidiskriminierungsverfechter, daß es sich um ein relevantes Problem handele, stößt hinsichtlich der empirischen Grundlagen aber auf verbreitete Skepsis, wenn man einmal vom Arbeitsmarkt absieht, vgl. etwa Klaus Adomeit, Schutz gegen Diskriminierung – eine neue Runde, in: NJW 2003, S. 1162; Riesenhuber / Franck (N 16), S. 537; Pfeiffer (N 16), S. 165; Picker (N 14), S. 24. Soweit lebensweltlich Diskriminierung (im pejorativen Sinne) vorkommt, kann und sollte man ihr im Privatrecht mit den bereits existenten Mitteln begegnen. Strafrechtliche und andere öffentlich-rechtliche Maßnahmen bleiben selbstverständlich möglich und u. U. auch nötig. 18 Dabei wird nicht verkannt, daß auch die Richtlinien auf älteren Fundamenten ruhen, insbesondere den völkerrechtlichen Abkommen zur Bekämpfung der Rassendiskriminierung. Ausführlich dazu Rolf Kühner, Das Recht auf Zugang zu Gaststätten und das Verbot der Rassendiskriminierung, in: NJW 1986, S. 1397 ff. 19 Der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskrimininierungsrichtlinien vom 16. 12. 2004 (BT-Dr. 15 / 4538) ist in erster Lesung des Bundestags am 21. 1. 2005 (Plenarprotokoll 15 / 152, S. 14257 ff.) behandelt worden, dann federführend im Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überarbeitet und am 17. 6. 2005 in zweiter und dritter Lesung vom Bundestag (in der Fassung der BT-Dr. 15 / 5717) beschlossen worden (Plenarprotokoll 15 / 182, S. 17201 ff.). Der Bundesrat hat jedoch dem Gesetz in der Sitzung vom 8. 7. 2005 (Protokoll der 813. Sitzung, S. 275 ff.) nicht zugestimmt und den Vermittlungsausschuß angerufen, wo die Sache am 5. 9. 2005 aufgegriffen worden ist. In der 16. Legislaturperiode ist das AntidiskriminierungsG in nur leicht veränderter Form von der CDU / CSU / SPD-geführten Bundesregierung
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zelner Formulierungen, wozu auch mancher Anlaß bestünde, sondern um die Vereinbarkeit von Antidiskriminierung und Privatrecht. Die Kritik am Antidiskriminierungsprogramm kann nur dann verfangen, wenn es gelingt, erstens den Eingriff in die Vertragsfreiheit festzustellen und zweitens diesen Eingriff als ungerechtfertigt zu überführen. Im Vordergrund des Interesses stehen hier die Richtlinien, da bereits diese – jenseits aller Diskussionen um eine sogenannte 1:1-Umsetzung – einer Überprüfung bedürfen. Wenn schon die Richtlinien im Widerspruch zu Grundprinzipien unserer Verfassung stehen, gilt das erst recht für richtlinienkonform auszulegende Umsetzungsgesetze. Mit dieser Aufgabe befaßt sich der Hauptteil in drei Punkten: Zunächst wird der Inhalt des Antidiskriminierungsprogramms skizziert und aufgezeigt, worin der Eingriff in die Privatautonomie liegt (A). Sodann wird es um die Ausprägung des Privatrechtsgedankens, insbesondere der Vertragsfreiheit in der europäischen Privatrechtsgeschichte gehen (B). Im dritten Abschnitt schließlich wird untersucht, ob die Antidiskriminierung eine gerechtfertigte Schranke der Privatautonomie ist (C).
A. Das Antidiskriminierungsprogramm I. Die relevanten Richtlinien Seit vielen Jahren bestehen im Gemeinschaftsrecht Richtlinien, deren Ziel die Verwirklichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf verschiedenen Gebieten des bürgerlichen Rechts darstellt. Konkreten politischen Handlungsbedarf haunter dem Namen „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“ in den Bundestag eingebracht worden (BT-Drucks. 16 / 1780 vom 8. 6. 2006), dortselbst in erster Lesung am 20. 6. (Plenarprotokoll 16 / 38, S. 3509B ff.) und in der Fassung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses vom 28. 6. 2006 (BT-Drucks. 16 / 2022) nach erneuter Beratung am 29. 6. 2006 mit großer Mehrheit beschlossen worden (Plenarprotokoll 16 / 43, S. 4027B ff.). 2*
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ben vier Antidiskriminierungsrichtlinien aus den letzten fünf Jahren ausgelöst: Richtlinie 2000 / 43 / EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. L 180 / 22 (Antirassismus-Richtlinie). Richtlinie 2000 / 78 / EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. L 303 / 16 (Rahmen-Richtlinie). Richtlinie 2002 / 73 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 76 / 207 / EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. L 269 / 15 (revidierte Gleichbehandlungsrichtlinie oder auch Änderungsrichtlinie). Richtlinie 2004 / 113 / EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. L 373 / 37 (vierte Gleichstellungsrichtlinie).
Diese vier jetzt durch das AGG in Bundesrecht umgesetzten20 Richtlinien folgen einem Antidiskriminierungsprogramm 20 Ob die Umsetzung den europäischen Vorgaben genügt, wird gerade mit Blick auf einige Änderungen bezweifelt, die einer Initiative Hamburgs (dazu FAZ vom 7. 6. 2006, S. 1) im Bundesrat folgen (vgl. BR-Drucks. 16 / 1852) und vom Rechtsausschuß in den Gesetzestext eingearbeitet worden sind (BT-Drucks. 16 / 2022). Betroffen ist vor allem die Ausnahme für Kündigungen (§ 2 IV AGG) und die Veränderung der Beweislastregel in § 22 AGG; vgl. auch FAZ vom 29. 6. 2006, S. 11. Hinsichtlich der in § 2 IV AGG festgelegten ausnahmslosen Geltung des Kündigungsschutzgesetzes ist auf ein EuGH-Urteil vom 11. 7. 2006 (Az. C-13 / 05) hinzuweisen, in dem die Geltung der Richtlinien auch für Kündigungen betont wird.
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auf der Grundlage von Art. 13 I EG-Vertrag21, der durch den Amsterdamer Vertrag 1997 eingeführt worden ist22. Dort heißt es: 21 Weitere wichtige Richtlinien sind in diesem Zusammenhang: Beweislastrichtlinie 97 / 80 / EG v. 15. 12. 1997, ABl. EG Nr. L 14 v. 20. 1. 1998, S. 6; Richtlinie 76 / 207 / EWG v. 9. 2. 1976, ABl. Nr. L 39 v. 14. 2. 1976, S. 40 (diese Richtlinie verbot erstmals die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts; geändert durch die Änderungsrichtlinie 2002 / 73 / EG); zur EuGH-Rechtsprechung auf diesem Gebiet vgl. Michael Holoubek, in: EU-Kommentar, hg. v. Jürgen Schwarze, 2000, Art. 12 Rn. 39 ff. Sehr weitgehend auf nationaler Ebene bereits 1976 der britische Race Relation Act (http: // www.homeoffice.gov.uk / docs / part1.html). Zur Tragweite von Art. 13 EG-Vertrag vgl. Rainer Wernsmann, Bindung Privater an Diskriminierungsverbote durch Gemeinschaftsrecht, in: JZ 2005, S. 224 ff. – Ob Art. 13 EG-Vertrag eine geeignete Rechtsgrundlage für die Richtlinien ist, wird bezweifelt, weil keine allgemeine Zuständigkeit für das Zivilrecht bestehe und Art. 13 EGV nicht privatrechtliche Vorkehrungen benenne. Art. 5 EGV schreibe im übrigen die Subsidiarität als Prinzip fest, vgl. z. B. Roger Kusch, Die Bundesratsinitiative zum Antidiskriminierungsgesetz, in: Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (Hg.), Vertragsfreiheit bewahren! Antidiskriminierung und deutsches Recht. Symposium der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zum Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes, 2005, S. 45 ff. (47) (auch im Internet abrufbar unter http: // www. bda-online.de / www / bdaonline.nsf / id / ED8D359ED35511BBC1256FC 80031B758 /$file / Tagungsband_ADG.pdf). Vgl. im übrigen auch die detaillierte Kritik von Urlesberger (N 16), S. 73 ff., bzgl. der Richtlinien 2000 / 43 und 78 / EG, der gerade die Voraussetzungen des Art. 5 EGV verletzt sieht. – Demgegenüber sieht Eichenhofer (N 17), S. 1078 u. 1080, in Art. 13 EGV „eine klare Einzelermächtigung“. 22 Dabei ist allerdings festzustellen, daß die Auseinandersetzung mit der Frage auch im Bereich des Privatrechts viel älter ist. Erinnert sei nur Art. 5 e iii) und f) des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung v. 7. 3. 1966, BGBl II 1969, S. 962; aus der Literatur z. B. Anne Breuer, Antidiskriminierungsgesetzgebung, Chance oder Irrweg? Zur Verfassungsmäßigkeit und Geeignetheit gesetzgeberischer Maßnahmen zur Förderung der Gleichberechtigung, 1991; Morroe Berger, Equality by statute: legal control over group discrimination, New York 1952; Dagmar Coester-Waltjen, Zielsetzung und Effektivität eines Antidiskriminierungsgesetzes, in: ZRP 1982, S. 217 ff. Zu den gesetzgeberischen Vorläufern in England und den Niederlanden vgl. Schiek (N 17), S. 96 ff., 103 ff. Vgl. außerdem Anhang II, S. 32 f., der französischen Fassung des Vorschlags der vierten Gleichstellungsrichtlinie, unter http: // www.europa.eu.int/comm/employment_social/news / 2003 / nov / article13proposal_fr.pdf abrufbar. Wie Majid Sattar, Eine
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Tilman Repgen „Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrags kann der Rat im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“23
Nur in Parenthese sei gesagt, daß Art. 13 I EG-Vertrag nur geeignete Vorkehrungen erlaubt. Wir werden später sehen, daß die Eignung des Antidiskriminierungsprogramms zu verneinen ist. Die Richtlinien und das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verfolgen die Bekämpfung von Diskriminierung in privatrechtlichen Beziehungen. In einem groben Überblick über das Regelungsprogramm der Richtlinien ergibt sich folgendes: Es geht um ein Benachteilungsverbot wegen Rasse, ethnischer Herkunft oder Geschlecht bezogen auf den Sektor Beschäftigung und Beruf, Bildung und Sozialwesen sowie Zugang zu öffentlich angebotenen Leistungen aller Art. Für den Bereich der Arbeit wird das Verbot ausgedehnt auf weitere Merkmale: Religion / Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung24. Die Antirassismus-Richtlinie (2000 / 43 / EG) zielt auf ein Benachteilungsverbot wegen Rasse oder ethnischer Herkunft bezogen auf den Sektor Beschäftigung und Beruf, Bildung und Sozialwesen sowie Zugang zu öffentlich angebotenen Leistungen aller Art. Die Rahmenrichtlinie (2000 / 78 / EG) dehnt bei gleichzeitiger Beschränkung auf das Arbeitsrecht das Verbot kleine Begriffsgeschichte, in: FAZ vom 11. 5. 2006, S. 2, den Ursprung der Antidiskriminierungspolitik in den USA zu suchen, ist durchaus plausibel. Zu Art. 13 EGV vgl. aus englischer Sicht Mark Bell, Anti-Discrimination Law and the European Union, Oxford 2003, S. 121 ff.; außerdem Evelyn Ellis, EU Anti-Discrimination Law, Oxford 2005. 23 Art. 13 I EGV. Hervorhebungen von mir. 24 Vgl. Art. 1 RL 2000 / 78 / EG.
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auf einige weitere Merkmale des Art. 13 EGV aus: Religion / Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung25. Die Änderungsrichtlinie (2002 / 73 / EG) ergänzt die Rahmenrichtlinie vor allem um das Merkmal Geschlecht. Die 4. Gleichstellungsrichtlinie (2004 / 113 / EG) schließlich verbietet die Diskriminierung wegen des Geschlechts beim Zugang zu öffentlich angebotenen Leistungen bei Massengeschäften, insbesondere auch bei Versicherungen.
II. Begriff und Regelungsbereich von „Diskriminierung“ Klärungsbedürftig erscheint zunächst einmal der Begriff der Diskriminierung26: Die Richtlinien sprechen27 von einer unmittelbaren Diskriminierung, wenn eine Person in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde Vgl. Art. 1 RL 2000 / 78 / EG. Dazu umfassend Jens C. Dammann, Die Grenzen zulässiger Diskriminierungen im allgemeinen Zivilrecht, 2005, S. 197 ff. Dammann plädiert im Gegensatz zur überwiegenden Literatur für ein materiales Verständnis von Diskriminierung, indem er fragt, ob die jeweilige Schlechterstellung „ein Risiko verwirklicht . . . , welches durch das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung gerade eliminiert werden soll“ (S. 264). Diese Vorgehensweise eröffnet allerdings ähnliche Probleme wie im Deliktsrecht die Lehre vom Schutzzweck der Norm. Die Hauptfrage Dammanns betrifft nicht die Vereinbarkeit des Antidiskriminierungsprogramms mit den Vorgaben unserer Rechtsordnung, sondern die engere Frage, ob der Gesetzgeber zum Schutz des Einzelnen vor Diskriminierungen im Privatrechtsverkehr verpflichtet sei. In diesem Kontext erörtert Dammann den Schutz vor Diskriminierung im bereits geltenden Recht, die Richtlinien, insbesondere 2000 / 43 / EG, und den Entwurf des Antidiskriminierungsgesetzes (BT 15 / 4538); Stefan Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht. Zugleich ein Beitrag zur einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten des EG-Vertrages, 2003; Kay Hailbronner, Die Antidiskriminierungsrichtlinien der EU, in: ZAR 2001, S. 254 ff. (256 f.). Zu einer einschränkenden Interpretation s. u. N 43. 27 In Anlehnung an Art. 2 I RL 76 / 207 EWG (GleichbehandlungsRL), ABl EG v. 14. 2. 1976 L 39 / 40. – In § 3 AGG ist statt von „Diskriminierung“ von „Benachteiligung“ die Rede. 25 26
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aus einem Grund, der eines der geächteten Differenzierungsmerkmale (Rasse, ethnische Herkunft, Religion usw.) erfüllt28. Es genügt also eine hypothetische Vergleichsperson, die günstiger behandelt worden wäre29. Eine mittelbare Diskriminierung ist hingegen gegeben, wenn eine scheinbar neutrale Vorschrift oder Verhaltensweise Personen mit den genannten Differenzierungsmerkmalen gegenüber anderen in besonderer Weise benachteiligen kann30. 28 Art. 2 II a RL 2000 / 43 / EG, Art. 2 II a RL 2000 / 78 / EG, Art. 2 II, 1. Spiegelstrich RL 2002 / 73 / EG. 29 Beispiele für solche Hypothesen bei Schiek (N 17), S. 874. Noch etwas weiter geht die Rechtsprechung des EuGH (Rs C-394 / 96 – Brown, Slg. 1998, I-4185; Rs C-342 / 93 – Gillespie, Slg. 1996, I-475), die jeden Verstoß gegen den Gleichheitssatz als Ungleichbehandlung begreift, d. h. die Anwendung unterschiedlicher Vorschriften auf gleiche Sachverhalte oder umgekehrt derselben Vorschrift auf ungleiche Sachverhalte. Holoubek (N 21), Art. 12 EGV Rn. 52 ff. scheidet im Anschluß an die EuGH-Rechtsprechung „gerechtfertigte Differenzierungen“ aus dem Begriff der Diskriminierung von Anfang an aus. Diese Rechtsprechung ist freilich nur für den Diskriminierungsbegriff des Art. 12 EGV nachvollziehbar. Bei Art. 13 EGV wäre es eine Art „Etikettenschwindel“: Es geht bei der Diskriminierung – im Privatrecht – eben nicht um Differenzierung, sondern um die Mißachtung der Person (s. u. N 43). Ebenso wie Holoubek auch Wernsmann (N 21), S. 228 (mit Rückgriff auf diverse EuGH-Urteile): „Ist eine offene Differenzierung gerechtfertigt, so liegt keine Diskriminierung aus Gründen des jeweiligen Merkmals vor.“ 30 Art. 2 II b RL 2000 / 43 / EG, Art. 2 II b RL 2000 / 78 / EG, Art. 2 II, 2. Spiegelstrich RL 76 / 207 / EWG i. d. F. der RL 2002 / 73 / EG, Art. 2 lit b) RL 2004 / 113 / EG; vgl. § 3 II AGG. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung des EuGH, Urt. v. 23. 5. 1996 – C-237 / 94, in: Slg. 1996, I-2617, Nr. 18: Wenn eine Vorschrift zwar gleichermaßen für alle Arbeitnehmer eines Staates gilt, aber ausländische Wanderarbeiter zum Beispiel unverhältnismäßig belastet, liegt eine mittelbare Ausländerdiskriminierung vor. Im konkreten Fall ging es um den Ersatz von Bestattungskosten, der nur bei einer Bestattung im betreffenden Mitgliedsstaat (Italien) geleistet werden sollte. – Eine mittelbare Diskriminierung liegt danach wohl auch vor, wenn bei der Ausschreibung einer Stelle eine bestimmte Mindestgröße und ein Mindestgewicht verlangt wird, das zwar 1 / 3 aller Frauen, aber nur 2 % der Männer nicht erreichen (im Beispiel ging es um eine Stelle eines Gefängniswärters), vgl. Klaus Adomeit, Besprechung zu: Herbert Wiedemann, Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht, 2001, in: JZ 2003, S. 998. Vgl. auch den Fall befristeter Arbeitsverträge für Fremdsprachenlektoren in EuGH
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Schon diese Definitionen deuten auf die Not der Verfasser, die gleich eine ganze Reihe unbestimmter Rechtsbegriffe benötigen, um zu umschreiben, was sie meinen. Wann liegt eine ungünstige Behandlung vor? Ist es diskriminierend, wenn der Arbeitgeber dem abgelehnten Bewerber mit Herkunft aus dem Ausland die Reisekosten vergütet, dem Bewerber aus der Umgebung jedoch nicht? Wann ist eine Vorschrift oder Verhaltensweise „scheinbar“ neutral? Und wie „besonders“ muß die Benachteiligung ausfallen? Natürlich ist die fehlende Begriffsschärfe noch kein Argument gegen den Tatbestand, aber immerhin spricht sie nicht für ihn und nährt die bereits von Svarez deutlich formulierten Bedenken gegen unbestimmte Rechtsbegriffe31. Als diskriminierend gelten fernerhin so genannte „Belästigungen“, d. h. Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit einem der Diskriminierungsmerkmale stehen und die Würde verletzen (sollen) bzw. ein entsprechendes „Umfeld“ schaffen32. Solche Belästigungen gelten als Diskriminierung33. Schon das zeigt, daß die Richtlinien das Problem nicht richtig erfassen. Es geht nicht um „Diskriminierung“ als solche, sondern um die Personwürde34 jedes Menschen35. Rs. C-272 / 92 (Spotti), Slg. 1993 I, 5185 ff. (5206 ff.), Rz. 13 ff.; s. a. Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (N 17), S. 206. 31 S. o. N 2. 32 Art. 2 III RL 2000 / 43 / EG, Art. 2 III RL 2000 / 78 / EG, Art. 2 II, 3. und 4. Spiegelstrich RL 76 / 207 / EWG i. d. F. der RL 2002 / 73 / EG, Art. 2 lit. c) und d) RL 2004 / 113 / EG. Sofern in den Richtlinien „Belästigungen“ und „sexuelle Belästigungen“ unterschieden werden, hat das nur klarstellende Funktion. – Das gleiche gilt für § 3 III und IV AGG. 33 Diese verharmlosende Rechtsfolge ordnen an: Art. 2 III 1 RL 2000 / 43 / EG, Art. 2 III 1 RL 2000 / 78 / EG, Art. 2 III RL 76 / 207 / EWG i. d. F. der RL 2002 / 73 / EG, Art. 4 III RL 2004 / 113 / EG. 34 Zum Begriff „Person“ vgl. vor allem Manfred Fuhrmann / Brigitte Th. Kible / Georg Scherer / Hans-Peter Schütt / Wolfgang Schild / Maximilian Scherner, Art. „Person“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter / Karlfried Gründer (im folgenden HistWbPh), Bd. VII: P-Q, 1989, Sp. 269 ff. 35 Es ist daher in der Tat die „Ausweitung“ des Diskriminierungsschutzes auf alle Vertragsarten konsequent, wie Herrmann (N 6), S. 53, 55, mit
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Die genannten Richtlinien gelten unter anderem und vor allem für einige Bereiche des Zivilrechts: Sie erfassen über den Bereich von Beschäftigung und Beruf36, also des Arbeitsrechts im weitesten Sinne, hinaus – für die Merkmale Rasse, ethnische Herkunft37 und Geschlecht38 – auch die Geschäfte von Privatpersonen über Waren (Güter), Dienstleistungen und Wohnraum39. Damit erstrecken sie den Gleichbehandlungsgrundsatz weit in das allgemeine Zivilrecht40. Der Hintergrund des Diskriminierungsbegriffs im Gemeinschaftsrecht ist freilich unabhängig von Personwürde: es ging im Rahmen von Art. 12 EGV um ein Verbot der Ausländerdiskriminierung im Binnenmarkt. Im Binnenmarkt sollten alle Personen unabhängig von ihrer Nationalität gleich behandelt werden. Es ging dabei weniger um individuelle Vertragsschlüsse, als um die Verhinderung von Protektionismus zugunsten der nationalen Volkswirtschaften. – Auf das Antidiskriminierungsprogramm ist dieser Diskriminierungsbegriff nur scheinbar übertragbar. Die Wertentscheidung in Art. 12 EGV ist der Schutz des Binnenmarktes. Das kann man aber für das Antidiskriminierungsprogramm nach Art. 13 EGV nicht sagen. Recht gemeint hat. Schutz vor Persönlichkeitsverletzungen ist bei allen Verträgen und auch sonst zu fordern. Nur sind die Antidiskriminierungsvorschriften dazu kein geeigneter Weg. 36 Art. 3 I RL 2000 / 43 / EG; Art 3 I RL 2000 / 78 / EG; Art. 3 I RL 76 / 207 / EWG i. d. F. der RL 2002 / 73 / EG. 37 Art. 1, 2 II RL 2000 / 43 / EG. 38 Art. 1, 2 II, 4 RL 2004 / 113 / EG. 39 Art. 3 I lit. h) RL 2000 / 43 / EG; Art. 3 I RL 2004 / 113 / EG. – Einschränkend und insofern wohl richtlinienwidrig, wenngleich in der Sache begrüßenswert § 19 V 3 AGG. 40 Di Fabio (N 3), S. 78 f., hat die plausible These vertreten, daß die stetig wachsende Notwendigkeit rechtlicher Normsetzung mit dem Verlust der sittlichen Ordnung („bürgerliche Werte“) seit den 68er-Jahren zusammenhängt. Wenn man in Freiheit nicht mehr weiß, „was sich gehört“, so muß man es im Wege des Gesetzes – und unter Verlust der Freiheit – eventuell vorschreiben. Freiheit braucht Kultur. Für das Problem der Antidiskriminierung besteht jedoch diese Notwendigkeit der Normsetzung nicht, weil es die nötigen Normen bereits gibt, wie unten (nach N 196) näher auszuführen sein wird.
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III. Kritik am Diskriminierungsbegriff Der Webfehler der Antidiskriminierungsprogramme liegt darin, daß der rechtliche Ansatzpunkt falsch gewählt ist. Das räumen die Richtlinien und auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ungewollt ein, indem sie Ausnahmetatbestände schaffen, die eine Diskriminierung bzw. Benachteiligung wegen des Alters, Geschlechts usw. zulassen. Es ist ganz klar, daß ein 20jähriger wegen seines Alters nicht die Vermietung eines öffentlich angebotenen Wohnheimplatzes in einem Altenheim verlangen kann. Zu unterscheiden – nichts anderes meint discriminare – ist eine Notwendigkeit im menschlichen Leben. Könnten wir nirgends auswählen, entscheiden und unterscheiden, hätten wir keine Chance zur Persönlichkeitsentfaltung, die jedem Menschen aufgegeben ist41. Ein discrimen 41 Besonders klar in dieser Hinsicht Fritz von Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie. Beiträge zu einem Natürlichen System des privaten Verkehrsrechts und zur Erforschung der Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts, 1936, S. 79; vgl. außerdem Tilman Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie. Die Funktion zwingenden Rechts in der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, 2001, S. 70 ff. m. weit. Nachw.; Picker (N 14), S. 38, der die Auswahl als „unverzichtbares Mittel der Identitätsgewinnung und -erhaltung“ bezeichnet. – Auch Neuner, Diskriminierungsschutz (N 17), S. 59, ein Verfechter der Antidiskriminierung, schreibt: „Die Kehrseite von Privatautonomie bedeutet [ . . . ] Diskriminierung [ . . . ]. Eine generelle Beseitigung von solchen privatrechtlichen Diskriminierungen [ . . . ], wäre im Sinne eines streng materialistischen Gleichheitsregimes zwar denkbar. Dieses stünde jedoch im Widerspruch zum geltenden Privatrecht und seinen grundrechtlichen Verankerungen.“ Vgl. a. a. O., S. 63: „Diskriminierungen sind im privaten Umfeld unverzichtbar für die Entfaltung der Persönlichkeit“. Dennoch sieht Neuner „teilhaberechtlichen Diskriminierungsschutz“ als geboten an, wenn „die Gefahr einer systematischen Ausgrenzung droht“ und lebenswichtige Güter betroffen seien (S. 63). Neuners Ansatz ist zwar konsequent durchdacht, aber überschreitet wesentlich die Aufgabe des Privatrechts, die gerade nicht die iustitia distributiva ins Zentrum rückt (vgl. z. B. Karl Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. I: Allgemeiner Teil, 141987, § 4 I a). Die entscheidende Schwäche bei Neuner ist, daß er nicht begründet, warum eine Differenzierung z. B. wegen des Geschlechtes in der öffentlichen Sphäre auf jeden Fall unzulässig sein soll (S. 63) – auch das Mädchengymnasium und der Fußballclub der Herren und der Männergesangverein?
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erhält nur dann einen negativen, pejorativen Sinn, wenn unlautere Beweggründe die Unterscheidung leiten42. Wie das Beispiel des Altenwohnheims zeigt, hängt die Unlauterkeit nicht an den von der Richtlinie vorgegebenen Merkmalen. Vielmehr ist eine Diskriminierung oder Benachteiligung im schlechten Wortsinn nur vorhanden, wenn die Anknüpfung an eines der geächteten Merkmale Ausdruck der Geringschätzung der anderen Person ist43. Dabei wird hier ein metaphysischer Personbegriff vorausgesetzt, der zugleich jeden Menschen als Person sieht, diese „Natur“ also nicht von bestimmten aktuellen Fähigkeiten – etwa dem Selbstbewußtsein – abhängig macht44. Abwei42 Wenngleich der vom AGG verwendete Begriff „Benachteiligung“ schon eher den pejorativen Wortsinn von Anfang an ausdrückt, bleibt auch bezogen auf das AGG die im Text genannte Kritik gültig, da die Bevorzugung des einen in der Regel die Benachteiligung des anderen mit sich bringt. Das allein ist für die verwerfliche Benachteiligung oder Diskriminierung aber noch nicht ausreichend. 43 Häufig wird es so sein, daß in der Diskriminierung eine Mißachtung zum Ausdruck kommen soll; so sehr deutlich auch Wernsmann (N 21), S. 226 mit Fn. 15 (sowie S. 232 f. im Rahmen der Prüfung einer Grundrechtsverträglichkeit der Antidiskriminierungsrichtlinien), ohne jedoch den Begriff der Diskriminierung als tauglichen Anknüpfungspunkt abzulehnen. Er sieht die Lösung vielmehr darin, den Anwendungsbereich dadurch zu verkleinern, daß er von Diskriminierung nur sprechen möchte, wenn für die Entscheidung eine sachliche Begründung fehle (S. 228, 233). Das erscheint jedoch letztlich nur als Notbehelf, weil die eigentliche Fehlleistung des Gesetzgebers nicht beseitigt ist. Es ist mehr ein Vorschlag zu einer Form eines sinnvollen Arrangements. Prozessual ist die Überlegung jedoch wenig wert angesichts der zwingenden Beweislastregel zugunsten des Diskriminierungsopfers. Wernsmanns These würde eigentlich erzwingen, die Beweislastumkehr als gemeinschaftsrechtswidrig einzustufen, weil es insoweit dann an einer Rechtsgrundlage im EGV fehlt („In den Fällen, in denen der Private belegbare und nachvollziehbare Gründe für eine Differenzierung [ . . . ] benennen kann, fehlt es bereits an einer Rechtsgrundlage [ . . . ]“). Den Anknüpfungspunkt an die Menschenwürde sehen auch die Anhänger des Antidiskriminierungsprogramms, z. B. Baer (N 17), S. 290 ff. Sie übersieht, daß Unterscheidung allein – wie es die Richtlinien verlangen – kein verwerfliches Tun ist, sondern die Äußerung der Verachtung. Baer spricht daher auch nicht einfach von Unterscheidung, sondern von „derartig kategorische[n] Unterscheidungen“.
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chende, insbesondere naturalistische Varianten45 sind als Rechtsbegriff unbrauchbar. Insofern erscheint es konsequent, wenn die Anhänger eines naturalisierten Personbegriffs „Person“ als Rechtsbegriff ablehnen46. Es geht richtig betrachtet beim Schutz vor Diskriminierung um nichts anderes als den Schutz der Würde der Person jedes Menschen, also um einen zentralen Wert unserer Privatrechtsordnung47. In der Würde gibt es keine Unterschiede. Alle Menschen haben einen Anspruch darauf, daß ihre Würde von jedem anderen geachtet wird, da der Ursprung dieser Würde 44 Dazu etwa Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person: Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, 21997. 45 Vgl. dazu ein kritischer Überblick bei Theda Rehbock, Zur gegenwärtigen Renaissance und Krise des Personbegriffs in der Ethik – ein kritischer Literaturbericht, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 23 (1998), S. 61 ff., sowie ausführlich Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied von „etwas“ und „jemand“, 1996; Kobusch (N 44), S. 263 ff. 46 Z. B. Norbert Hoerster, Menschenrecht auf Leben und Tötungsverbot, in: Merkur 50 (1996), S. 880 ff. (885 f.); Peter Birnbacher, Das Dilemma des Personenbegriffs, in: Personsein aus bioethischer Sicht, hg. v. Peter Strasser / Edgar Starz (ARSP-Beiheft 73), 1997, S. 9 ff. (24). 47 Der Zusammenhang zur Personwürde wird in sämtlichen Richtlinien im Zusammenhang mit dem Tatbestand der Belästigung genannt, wo ein Verhalten als Belästigung definiert wird, wenn es „bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird“. Sexuelle Belästigungen zum Beispiel als Diskriminierung wegen des Geschlechts, vgl. auch Erwägungsgrund 8 RL 2002 / 73 / EG; außerdem Erwägungsgrund 9 und Art. 2 lit. d) RL 2004 / 113 / EG. Das freilich ist begrifflich wenig konsistent und geradezu verharmlosend, wenn man z. B. an einen Sexualstraftäter denkt. Dieser trifft keinerlei „Unterscheidung“, wenn er gegen sein Opfer Gewalt ausübt, sondern er verletzt seine Personwürde. Zur zivilrechtlichen Wertung der Diskriminierung sehr klar und überzeugend z. B. Reinhard Bork, in: Julius von Staudinger (Begr.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch (= Staudinger’s Kommentar BGB), 2003, Vorbem zu §§ 145 ff. Rn. 24; vgl. auch Larenz (N 41), § 4 I a) sowie § 4 IV Nr. 3 mit der deutlichen Aussage, der Gleichheitssatz lasse sich nicht mit privatrechtskonformen Mitteln durchsetzen: „In diesem, rein privaten Bereich gilt nicht der Grundsatz der verteilenden, sondern nur der der ausgleichenden Gerechtigkeit; bis an die Grenze der Sittenwidrigkeit und des ausdrücklichen Verbots ist hier in der Tat der ,Willkür‘ des einzelnen ein Spielraum gelassen“ (Larenz, a. a. O., S. 66). Vgl. im übrigen die Ausführungen unten in N 227.
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nicht eigene Leistung, sondern der Wille des Schöpfers ist, der mit den Worten des Psalms den Menschen „nur wenig geringer gemacht [hat] als Gott“48, der jeden einzelnen ausgelöst und beim Namen gerufen hat49. Ohne rechtfertigenden Grund darf die Personwürde nicht verletzt werden. Zu überlegen ist, ob der Gesetzgeber richtig damit liegt, daß die Personwürde bei der Anknüpfung einer Entscheidung an die Diskriminierungsmerkmale stets verletzt ist. Nur dann wäre es konsequent, bei Vorliegen der Merkmale Sanktionen anzuordnen. Gerade diese Voraussetzung ist aber keineswegs erfüllt50. Wenn der Familienvater in einem Zeitungsinserat einen Klavierlehrer für seine minderjährige Tochter sucht, dann darf er durchaus eine ablehnende Entscheidung davon abhängig machen, ob jemand zwar unter Umständen gut Klavier spielt, aber zugleich notorisch pädophil ist51. Diese sexuelle Ausrichtung darf der Vater zum Ablehnungsgrund machen, ohne dadurch zugleich die Personwürde des Betroffenen zu verletzen, weil darin nach dem Sinn des Verhaltens des Vaters nicht eine Mißachtung des Anderen zum Psalm 8, 6. Vgl. Jesaja 43, 1. – Schon diese wenigen Belege zeigen, daß die Begriffsgeschichte entgegen der Meinung vieler weit vor Kant zurückreicht, vgl. Rolf-Peter Horstmann, Art. „Menschenwürde“, in: HistWbPh (N 34), Bd. V: L-Mn, Darmstadt 1980, Sp. 1124 ff.; Andreas Grossmann, Art. „Würde“, ebd., Bd. XII: W – Z, Darmstadt 2004, Sp. 1088 ff. – Anders z. B. Karl Albrecht Schachtschneider, Die Würde des Menschen, in: ders., Freiheit – Recht – Staat. Eine Aufsatzsammlung zum 65. Geburtstag, hg. v. Dagmar I. Siebold / Angelika Emmerich-Fritsche, 2005, S. 13 ff. (13). – Zur aktuellen Begriffsdiskussion vgl. Kurt Seelmann, Menschenwürde zwischen Person und Individuum. Von der Repräsentation zur Selbst-Darstellung?, in: Festschrift für Ernst-Joachim Lampe, 2003, S. 301 ff. 50 Daher ist es unrichtig, allein aus einer Differenzierung nach den Diskriminierungsmerkmalen auf eine Persönlichkeitsrechtsverletzung zu schließen. Es müssen vielmehr mindestens Umstände hinzutreten, die das Verhalten als Missachtung der anderen Person erscheinen lassen. Kurzschlüssig ist es daher auch, wenn aus einem Verstoß gegen § 611a I BGB eine Persönlichkeitsrechtsverletzung im Sinne des § 823 I BGB gefolgert wird, vgl. Nachweise und Kritik bei Herrmann (N 6), S. 41 ff. 51 Das Beispiel stammt von Braun (N 11), S. 424 ff. 48 49
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Ausdruck kommt, sondern eine Entscheidung für den Schutz des eigenen Kindes. Das zeigt, wie die Antidiskriminierungsdebatte eigentlich beinahe vollständig am Thema vorbeizielt, da nicht geeignete Maßnahmen zum Schutz der Personwürde diskutiert werden52. Statt dessen streitet man über Diskriminierungsmerkmale, die heute diese und morgen jene sein können. Die freiheitswidrige Entscheidung, die Diskriminierung als solche zu ächten, verlangt notwendigerweise eine Fülle von Ausnahmetatbeständen, über deren Inhalt und Grenzen man endlose Streitigkeiten wird führen können. Insbesondere in den Erwägungsgründen und den Ausnahmetatbeständen der Richtlinien kann man die schlimmen Folgen des begrifflichen Webfehlers beobachten53. Die Ausnahmetatbestände sind sozu52 Dabei könnte man es leicht besser wissen. Schon 1964 schrieb Jürgen Salzwedel, Gleichheitsgrundsatz und Drittwirkung, in: Festschrift für Hermann Jahrreiß, 1964, S. 339 ff. (349), mit aller wünschenswerter Klarheit: „Die Erkenntnis, daß das Diskriminierungsverbot einen Unterfall des Verbots der Verletzung von Persönlichkeitsrechten bildet, muß am Anfang jeder Überlegung zur ,Drittwirkung‘ stehen.“ 53 Z. B. Erwägungsgrund 18, Art. 4 Richtlinie 2000 / 43 / EG; Erwägungsgründe 18, 23, 24, 25, Art. 2 II b) i) und ii), 4, 5 („es sei denn [ . . . ]“), 6 Richtlinie 2000 / 78 / EG; Erwägungsgrund 12 RL 2004 / 113 / EG mit dem bezeichnenden Beispiel, bei Gesundheitsdienstleistungen sei das Abstellen auf körperliche Unterschiede (zwischen den Geschlechtern) keine Diskriminierung, weil es sich nicht um vergleichbare Situationen handele (das freilich hängt ganz vom Vergleichspunkt ab – der falsche Ansatzpunkt führt eben ins Chaos); Erwägungsgrund 16 und Art. 4 V RL 2004 / 113 / EG lassen Diskriminierung zu, wenn sie „durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt“ ist. Schiek (N 17), S. 876 f., vertritt die Auffassung, es seien überhaupt nur die in den Richtlinien als Ermächtigungen an die Mitgliedsstaaten formulierten Ausnahmen zulässig, jedoch keine ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe. In der Tat sehen die Richtlinien nur beim Alter von einer abschließenden Regelung ab, vgl. Art. 6 I RL 2000 / 78 / EG („insbesondere“). Vor diesem Hintergrund ergeben sich dann als Ausnahmetatbestände: berufliche Anforderung (Art. 4 RL 2000 / 43 / EG; Art. 4 I RL 2000 / 78 / EG; Art. 2 VI RL 76 / 207 / EWG i. d. F. der RL 2002 / 73 / EG), Differenzierung nach Staatsangehörigkeit (Art. 2 II RL 2000 / 78 / EG); Streitkräfte (Art. 2 IV RL 2000 / 78 / EG); Kirchen (Art. 4 II RL 2000 / 78 / EG); Altersbeschränkungen beim Zugang zu bestimmten Ausbildungen und Arbeitsplätzen (Art. 6 RL 2000 / 78 / EG); sehr unbestimmt der
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sagen die Laufmaschen der Antidiskriminierung – mit der naturbedingten Folge ständiger Ausweitung. Im Grunde ist das auch allen Beteiligten klar, wie die verzweifelten Bemühungen um die Begrenzung unbestimmter Rechtsbegriffe wie „öffentlich anbieten“ usw. lehren54. Das Allgemeine GleichAusnahmetatbestand in Art. 4 V RL 2004 / 113 / EG bezüglich der Diskriminierung bei Waren- und Dienstleistungen: „Diese Richtlinie schließt eine unterschiedliche Behandlung nicht aus, wenn es durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist [ . . . ]“. 54 Vgl. z. B. Burkhard Schöbener / Florian Stork, Anti-Diskriminierungsregelungen der Europäischen Union im Zivilrecht – zur Bedeutung der Vertragsfreiheit und des Rechts auf Privatleben, in: ZEuS 2004, S. 45 ff. (65 ff.). Ähnlich der Ansatz von Wernsmann (N 21), S. 233, der den Begriff des öffentlichen Anbietens stark einengt. Ebenso z. B. Gregor Thüsing, Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Geltung von EG-Richtlinien im Anti-Diskriminierungsrecht, in: NJW 2003, S. 3441 ff. (3443). Art. 3 I lit. h RL 2000 / 43 / EG, erstreckt den Anwendungsbereich der RL auf die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, „die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum.“ Thüsing, a. a. O., interpretiert das so: „Ist eine Mietwohnung öffentlich inseriert, heißt dies nicht, daß jeder hierin wohnen darf, wird ein einzelner Vertrag ausgeschrieben, bedeutet es für nur einen Arbeitssuchenden, daß er zukünftig in Lohn und Brot stehen wird; nur einer ist der Glückliche. Beide Vertragsgegenstände stehen also der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung. Gemeint sind daher viel eher öffentliche Verkehrsmittel, Restaurants und Hotels, Warenhäuser und jegliche unmittelbar der Öffentlichkeit gewidmete und durch sie nutzbare Einrichtung.“ Außerdem: Martin Franzen, Diskriminierungsverbote und Privatautonomie – Gedanken zur Umsetzung der EG-Richtlinien 2000 /43 und 2000 / 78 im allgemeinen Privatrecht, in: Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe – Jahresband 2004, 2005, S. 49 ff., hier S. 51, 56, 71 f. Helmut Heinrichs, in: Otto Palandt (Begr.), Beck’scher Kurzkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 652006, Anh. nach § 319 Rn. 6; vgl. auch Neuner, Diskriminierungsschutz (N 17), S. 66. Vgl. auch die zahlreichen „Reparaturbemühungen“ Gregor Thüsings, Die überschießende Umsetzung des deutschen Gesetzentwurfs – Weniger wäre mehr!, in: Symposium der Bundesvereinigung (N 21), S. 29 ff. Letztlich ist der Versuch der Begrenzung der Wirkungen des Antidiskriminierungsprogramms durch Merkmale wie öffentliches Anbieten der Leistung, wie sie auch von Skeptikern des Programms verfolgt wird (z. B. Oliver Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EGVertrages, 2003, S. 303; kritische Skepsis, freilich ohne eigentliche Lösung, a. a. O., S. 309; zu Remien vgl. auch die Rezension von Bettina Heiderhoff, in: ZEuP 2005, S. 206 ff.), nicht überzeugend, weil an Symptomen herumlaboriert wird, anstatt die Wurzel zu packen.
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behandlungsgesetz hat das Webmuster der Richtlinien übernommen. Danach ist eine Benachteiligung wegen eines der Diskriminierungsmerkmale in Beschäftigungsverhältnissen zulässig wegen bestimmter beruflicher Anforderungen (§ 8 AGG), bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften etc. (§ 9 AGG), wegen des Alters in vielen Einzelfällen (§ 10 Nr. 1 – 8 AGG). Für den Zivilrechtsverkehr sieht § 19 AGG einige Ausnahmen vom Benachteiligungsverbot vor, über die der Streit schon begonnen hat, bevor das Gesetz überhaupt in Kraft getreten ist55. Der verfehlte Ansatzpunkt am Begriff der Diskriminierung anstatt am Begriff der Persönlichkeitsverletzung bedingt diese letztlich sinnwidrige Konstruktion eines zu weit reichenden Verbotstatbestandes, der dann mühsam im Zweifel zu Lasten des eigentlichen Freiheitsrechtsträgers eingeschränkt wird. IV. Betroffene Grundrechte und Sanktionensystem Die Richtlinien betreffen durch ihr Diskriminierungsverbot zunächst einmal die Vertragsfreiheit als einen der wichtigsten Bestandteile der Privatautonomie. Sie bedeutet, frei zu wählen, ob, mit wem und worüber man in welcher Form einen Vertrag abschließen möchte56. Hervorzuheben ist dabei die Abgrenzung zwischen Vertragsfreiheit im engeren Sinn (nur Abschlußfreiheit) und im weiteren Sinn (auch Gestaltungsfreiheit). Hier geht es um eine Einschränkung der freien Auswahl des Vertragspartners, also die Vertragsfreiheit im engeren Sinn. Daneben kommt als weiteres betroffenes Grundrecht das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Betracht, das Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleisten soll. Diese Charta57 ist zwar bislang nicht verbindliches europäisches Recht, wird aber Vgl. oben N 20. Vgl. die Nachweise bei Repgen (N 41), S. 74, Fn. 202. 57 Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist publiziert im ABl EG v. 18. 12. 2000 unter der Nr. C 364 / 1. 55 56
3 Isensee (Hrsg.)
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immer wieder als Sammlung allgemeiner Rechtsgrundsätze vom Gericht erster Instanz und den Generalanwälten herangezogen58. In einem Erwägungsgrund unserer Richtlinien heißt es sogar, die Diskriminierungsverbote dürften andere Grundrechte und Freiheiten, insbesondere den Schutz des Privat- und Familienlebens, nicht beeinträchtigen59. 1. Rechtsgrundlage der Vertragsfreiheit? Die Vertragsfreiheit wird auch im Gemeinschaftsrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz, als Grundrecht, anerkannt, obgleich sie keine Aufnahme in die Grundrechtscharta fand60. Art. 6 ChGR formuliert ein Recht auf Freiheit, Art. 16 ChGR erkennt die unternehmerische Freiheit an. Beides ist nicht denkbar ohne Vertragsfreiheit, an die insbesondere bei Art. 16 ChGR ausweislich der Erläuterungen des Präsidiums des Konvents in diesem Zusammenhang auch gedacht worden ist61. Man könnte auch überlegen, die Vertragsfreiheit aus der allgemeinen Handlungsfreiheit abzuleiten, die der EuGH mindestens indirekt anerkannt hat62. Andere sehen die VerNachweise bei Schöbener / Stork (N 54), S. 54, Fn. 49 f. Erwägungsgrund 3 RL 2004 / 113 / EG (4. Gleichstellungsrichtlinie). Dabei handelt es sich bei Licht gesehen freilich um Rhetorik ohne Substanz, vgl. auch Kusch (N 21), S. 47. 60 Ausführlich dazu Remien (N 54), S. 34 ff.; zur grundrechtlichen Vertragsfreiheit im europäischen Gemeinschaftsrecht ders., a. a. O., S. 170 ff., mit skeptischer Beurteilung hinsichtlich der Bedeutung der Grundrechte in der Rechtsprechung des EuGH („theoretisches Potential [ . . . ] aber wenig gestalterische Kraft“ [S. 172]); freilich folgt die Vertragsfreiheit notwendigerweise aus dem Bekenntnis zu Marktwirtschaft und freiem Wettbewerb, das sich aus den Grundfreiheiten ergibt, vgl. ders., a. a. O., S. 178 ff.; Claus-Wilhelm Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 873 ff. (890), mit zahlreichen weiteren Nachweisen seit 1966; Neuner, Diskriminierungsschutz (N 17), S. 59; Wernsmann (N 21), S. 232; niemand verlangt im übrigen eine „darwinistische“ Marktordnung, wie Baer (N 17), S. 292 a. E., unterstellt. Früher hätte man übrigens von „Manchestertum“ gesprochen. 61 Schöbener / Stork (N 54), S. 55 m. weit. Nachw. 58 59
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tragsfreiheit im Schutz des Eigentums nach Art. 17 ChGR bzw. Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK verankert63. Immerhin spricht die jüngste Richtlinie selbst in Erwägungsgrund 14 davon, daß die Vertragsfreiheit nicht angetastet werden solle. Es heißt dort: „Für jede Person gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit, der die freie Wahl des Vertragspartners für eine Transaktion einschließt. . . . Diese Richtlinie sollte die freie Wahl des Vertragspartners durch eine Person solange nicht berühren, wie die Wahl des Vertragspartners nicht von dessen Geschlecht abhängig gemacht wird.“64
Damit erkennt auch der EU-Gesetzgeber die Vertragsfreiheit als ein im Gemeinschaftsrecht gültiges Rechtsprinzip an65. Möchte man nicht Privatrecht überhaupt abschaffen, bleibt auch gar keine Alternative, weil die geschichtliche Erfahrung lehrt, daß die Vertragsfreiheit zu den Kernelementen des Privatrechts gehört. Wichtig ist hier, daß die Richtlinien diese Freiheit, die zu den allgemeinen Grundsätzen unseres Rechtssystems gehört, entgegen der Rhetorik der Erwägungsgründe nicht achten66. 62 EuGH, Urt. v. 21. 9. 1989, Rs. 46 / 87 und 227 / 88, in: Slg. 1989, S. 2859 ff. (2924) Rn. 19. Vgl. auch die Schlußanträge des Generalanwalts Philippe Léger vom 11. 5. 2000, in: EuGH Rs. C-381 / 89, Slg. I-9305 – 9327, hier Nr. 72, I-9320. Vgl. auch Schöbener / Stork (N 54), S. 57. 63 So – etwas unentschlossen – Schöbener / Stork (N 54), S. 57. 64 Erwägungsgrund 14 RL 2004 / 113 / EG (4. Gleichstellungsrichtlinie). – Auch in dieser Allgemeinheit zeigt sich wieder die Unbrauchbarkeit des Konzepts, weil z. B. der Betreiber einer Mädchenschule die Aufnahme von Jungen wegen des Geschlechts verweigert. Darin kommt aber keine Schmälerung der Achtung des anderen Geschlechts zum Ausdruck. Wie oben auch Art. 3 II RL 2004 / 113 / EG (4. GleichstellungsRL): „Diese Richtlinie berührt nicht die freie Wahl des Vertragspartners durch eine Person, solange diese ihre Wahl nicht vom Geschlecht des Vertragspartners abhängig macht.“ 65 S. o. N 60. 66 Daran ändern auch die beschwörenden Postulate in den Erwägungsgründen der RLen nichts, z. B. Erwägungsgrund 6 Richtlinie 2002 / 73 / EG (ÄnderungsRL): „Diese Richtlinie achtet die Grundrechte und entspricht den insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäi-
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2. Schadensersatz als Sanktion Die Richtlinien legen nicht die Sanktionen einer Diskriminierung fest. Insbesondere ordnen sie alle keinen Kontrahierungszwang an, weil das mit dem angelsächsischen Recht unvereinbar wäre, das in der Regel nur die Schadensersatzleistung in Geld kennt. Vielmehr beschränken sich die Richtlinien darauf, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen, z. B. Schadensersatzleistungen an die Opfer, zu fordern67. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz sieht im wesentlichen Schadensersatz (unter Einschluß der Beseitigung der Benachteiligung) und eine „angemessene“ Entschädigung vor (§§ 15, 21 AGG). schen Union anerkannten Grundsätzen.“ – Urteile in eigener Sache sind freilich oft wenig verläßlich. – Auch die Regierungsbegründung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes spart nicht mit ähnlichen Behauptungen, vgl. BT-Drucks. 16 / 1780, S. 26: „Durch dieses Vorgehen [gemeint sind die Ausnahmetatbestände für zulässige Differenzierungen, T.R.] bringt der Entwurf den Schutz vor Benachteiligung mit der Vertragsfreiheit in ein ausgewogenes Verhältnis.“ Das Gegenteil ist jedoch der Fall, vgl. dazu unten C. Antidiskriminierung als Schranke der Privatautonomie? 67 Art. 15 RL 2000 / 43 / EG; Art. 17 RL 2000 / 78 / EG; Art. 6 II RL 76 / 207 / EWG i. d. F. der RL 2002 / 73 / EG; Art. 14 RL 2004 / 113 / EG. Zu den Möglichkeiten einer Integration der Geldentschädigung bei Diskriminierungen ins deutsche Schadensrecht vgl. Ben Steinbrück, Geldentschädigung bei ethnischen Diskriminierungen, in: JURA 2004, S. 439 ff., der insbesondere auf die gemeinschaftsrechtlich begründete Notwendigkeit präventiver Wirkung des Schadensersatzes hingewiesen hat (S. 441). Dort S. 443 ff. rechtsvergleichende Betrachtung der Situation in den USA. Dabei erscheint wichtig, daß auch das US-amerikanische Recht nicht allein objektive Voraussetzungen für den Schadensersatzanspruch kennt, sondern die Motivation des Schädigers berücksichtigt. Ob die Befürchtung, deutsche Gerichte könnten zukünftig punitive damages aussprechen, wirklich „jeder Grundlage“ entbehrt (so Steinbrück, a. a. O., S. 446), wird ganz von der gerichtlichen Ausfüllung des Begriffs der Angemessenheit in § 15 II AGG bzw. § 21 II AGG abhängen. Die Richtlinien verlangen allerdings keinen Strafschadensersatz, sondern ein „angemessenes“ Verhältnis zum erlittenen Schaden, also nicht nur symbolischen Ersatz, vgl. EuGH, Urt. v. 10. 4. 1984, Rs. 14 / 83 (v. Colson / Kamann), in: Slg. 1984, Rn. 23. Die Abgrenzung zur strafrechtlichen Sanktion ist freilich problematisch, vgl. Herrmann (N 6), S. 35 ff., außerdem s. u. N 215.
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3. Beweislastumkehr als Sanktion Hinzu tritt in den Richtlinien die verbindliche Anordnung einer partiellen Beweislastumkehr zugunsten des Opfers68. Das Opfer muß dem Gericht die Diskriminierung lediglich glaubhaft machen, also Tatsachen vortragen und – zur vollen Überzeugung des Gerichts – beweisen, die es für das Gericht wahrscheinlich erscheinen lassen, daß eine Diskriminierung vorliegt. Dann ist es Sache des Beklagten, als desjenigen, der diskriminiert haben soll, den Hauptbeweis zu führen, daß er nicht gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen hat. Er muß darüber beim Gericht die feste Überzeugung herstellen, die für vernünftige Zweifel keinen Raum mehr läßt. Konkrete Erfahrungen mit der Beweiserleichterung bei Diskriminierungsverdacht hat man bereits im Arbeitsrecht gesammelt, wo sie in § 611a I 3 BGB seit 25 Jahren normiert ist69. Das Bundesverfassungsgericht hat die Hürden für einen Entlastungsbeweis des Arbeitgebers relativ hoch gelegt. Insbesondere das Nachschieben von sachlichen Auswahlgründen sollte weitgehend unmöglich gemacht werden70. Mit der Frage einer Kollision 68 Art. 8 I RL 2000 / 43 / EG. Erwägungsgrund 21 dieser Richtlinie ist unscharf formuliert, wo die – bei wörtlichem Verständnis sinnlose – Verlagerung der Beweislast auf den Beklagten verlangt wird, wenn der Kläger die Diskriminierung „nachgewiesen“ habe. Art. 8 RL beseitigt jeden Zweifel, daß das so nicht gemeint ist. – Vorbild für die Beweislastverteilung dürfte unter anderem Art. 4 I Richtlinie 97 / 80 / EG des Rates vom 15. 12. 1997 über die Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, ABl 1998 L 14 / 6, sein; zu der vorausgegangenen EuGH-Rechtsprechung vgl. Urlesberger (N 16), S. 75. Vgl. auch Art. 10 RL 2000 / 78 / EG (RahmenRL); Art. 9 RL 2004 / 113 / EG; sehr restriktiv Dammann (N 26), S. 292 ff.: Vom Normzweck ausgehend sei maßgeblich, ob die Interessenbewertung durch den Gesetzgeber den Schluß von einer streng bewiesenen Tatsache auf das Vorliegen einer verbotenen Diskriminierung zulasse. 69 § 611a BGB wurde durch das Arbeitsrechtliche EG-Anpassungsgesetz vom 13. 8. 1980 mit Wirkung ab 21. 8. 1980 in das BGB eingefügt. – Kritisch zu § 611a BGB insbesondere Herrmann (N 6), S. 19 ff.; das BVerfG hält diese Norm für verfassungsmäßig. Vgl. Christian Starck, in: Hermann v. Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, 52005, Art. 3 Abs. 2 GG, Rn. 352 ff. 70 Vgl. BVerfG, Beschluß v. 16. 11. 1993 – 1 BvR 258 / 86, in: BVerfGE 89 (1994), S. 276 ff. (288 ff.).
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des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 2 GG mit der Privatautonomie des Arbeitsgebers hat sich das Gericht jedoch nicht auseinandergesetzt. Wie in § 611a I 3 BGB ist die Beweislastregel auf den Benachteilungsgrund, nicht aber die Benachteiligung selbst bezogen71. „Glaubhaftmachung“ meint auch nicht die Regel des § 294 ZPO mit dem dort vorgesehenen Beweismittel der Versicherung an Eides Statt (und der Beschränkung auf präsente Beweismittel), weil es hier darum geht, daß der Benachteiligte in einem normalen Erkenntnisverfahren die Vermutung des Gerichts erzeugt, er sei nicht nur benachteiligt, sondern unzulässig benachteiligt worden72. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz folgt auch in diesem Punkt der Richtlinie, versucht aber in § 22 den Begriff der „Glaubhaftmachung“ zu vermeiden, um Mißverständnisse zu unterbinden, die eine Parallele zu § 294 ZPO ziehen73. § 22 AGG lautet jetzt: „Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat.“ Die Richtlinien verlangen von dem Opfer, daß es Tatsachen „glaubhaft mach[t], die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen“74. Eine wörtliche Interpretation der Richtlinien ließe auch eine Herabsetzung des Beweismaßes für die benachteiligenden Tatsachen zu. Immerhin entspricht die in § 22 AGG gemeinte Regel der Rechtslage in § 611a I 3 BGB: Die Benachteiligung selbst muß 71 Zu § 611a BGB insoweit Hanns Prütting, Beweisrecht und Beweislast im arbeitsgerichtlichen Diskriminierungsprozeß, in: Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1311 ff. (1316). 72 Prütting (N 71), S. 1316 f.; Georg Annuß, in: Staudinger’s Kommentar BGB, 2005, § 611a Rn. 112 f. mit weiteren Nachweisen auch zu abweichenden Auffassungen. 73 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16 / 2022, S. 30. 74 Art. 8 I RL 2000 / 43 / EG; Art. 10 I RL 2000 / 78 / EG; Art. 9 I RL 2004 / 113 / EG.
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zur Überzeugung des Gerichts vom Opfer nachgewiesen werden. Für den Benachteiligungsgrund genügt die Vermutung, die dann aber – und das ist die entscheidende Sanktion – von der Gegenseite nicht nur erschüttert werden muß. Vielmehr muß der Gegner zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen, daß er das Opfer nicht aus einem der verbotenen Gründe benachteiligt habe. Insoweit liegt die Beweislast entgegen der Grundregel beim Prozeßgegner. 4. Eingriff in die Privatautonomie Die Richtlinien und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz greifen in doppelter Weise in die Privatautonomie ein. Dabei verstehe ich Privatautonomie im klassischen Sinne als „das Prinzip der Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen“75. Auch die Auswahl eines 75 So die Formulierung von Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts. Zweiter Band: Das Rechtsgeschäft, 41992, S. 1; ebenso schon ders., Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in: Festschrift zum Hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, 1960, S. 135 ff. (136). Aufgegriffen wurde diese Definition von BVerfG v. 13. 5. 1986, 1 BvR 1542 / 84, in: BVerfGE 72 (1987), S. 156 ff. (170). Zahlreiche weitere Nachweise bei Repgen (N 41), S. 70 f., Fn. 195. – Eine der ersten Definitionen der Privatautonomie im modernen Sinn stammte von dem Germanisten Wilhelm Eduard Wilda, Art. „Autonomie“, in: Julius Weiske (Hg.), Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten enthaltend die gesamte Rechtswissenschaft, Bd. I, 1842, S. 539 ff. (549): „Die Autonomie der Individuen besteht [ . . . ] in der denselben zustehenden Befugnis, ihre Rechtsverhältnisse zu ordnen, d. h. solche zu begründen, näher zu bestimmen, und selbst abweichend von dem Inhalte der sonst als allgemein verbindlich geltenden Normen, so weit diese nur eine subsidiäre Anwendbarkeit in Anspruch nehmen, zu gestalten.“ Weiterführend dazu Sibylle Hofer, Freiheit ohne Grenzen? Privatrechtstheoretische Diskussionen im 19. Jahrhundert, 2001, S. 26 ff., dort und insbesondere auch bei Theo Mayer-Maly, Privatautonomie und Selbstverantwortung, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 14 (1989), S. 268 ff., zum älteren Begriffverständnis. Außerdem Andreas Kaiser, Zum Verhältnis von Vertragsfreiheit und Gesellschaftsordnung während des 19. Jahrhunderts insbesondere in den Auseinandersetzungen über den Arbeitsvertrag, Diss. Berlin 1972. Auf die jüngst von Martin Josef Schermaier vorgebrachte Kritik am Begriff der Privatautonomie bei Flume und anderen (Martin Schermaier,
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Vertragspartners soll nach diesem Prinzip von dem Willen des Handelnden abhängig sein, nicht aber vom Willen Dritter oder des Staates. a) Wahlfreiheit Zunächst einmal wird die Wahlfreiheit insofern eingeschränkt, als die Diskriminierungsmerkmale nicht die Wahlentscheidung begründen dürfen, anderenfalls Sanktionen – insbesondere Schadensersatzpflichten – eingreifen76. Dieser Eingriff in die Privatautonomie wäre nur gerechtfertigt, wenn derartige Diskriminierungen stets verwerflich wären. Das ist aber – wie gezeigt77 – keineswegs der Fall. Die Diskriminierung ist für sich gesehen rechtlich und auch ethisch völlig neutral. Verwerflich erscheint sie nur, soweit sie die Herabwürdigung eines oder mehrerer anderer Menschen bewirkt. Ob das der Fall ist, läßt sich nicht einfach anhand der allgemeinen Kriterien beantworten, die die Richtlinie aufstellt, sondern ist abhängig von einer Einzelfallbewertung, deren Kriterien notwendigerweise im Gesetz nur unbestimmt ausgedrückt werden können. Hinzu tritt eine latente Gefährdung der Wahlfreiheit, weil die Diskriminierungsmerkmale leicht vermehrt werden könnten. Wer schützt uns davor, daß nicht morgen die Anhängerschaft an bestimmte politische Parteien, Gewerkschaften oder Sportvereine als Diskriminierungsmerkmal verstanden wird, nach dem nicht mehr differenziert werden dürfte? Hier sind der Phantasie keine rationalen Grenzen gesetzt. Schließlich resultiert eine indirekte Beeinflussung der Abschluß- bzw. Wahlfreiheit aus dem Diskriminierungsverbot, in: Mathias Schmoeckel / Joachim Rückert / Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (= HKK-BGB), Bd. I, 2003, Vor § 104, Rn. 6 ff.) kommt es hier nicht an, weil sie letztlich nur die Frage betrifft, ob das Rechtsgeschäft Produkt oder Mittel der Gestaltung der Rechtsverhältnisse ist. 76 Herrmann (N 6), S. 32 spricht – im Hinblick auf den gleichgelagerten § 611a II BGB – sogar von einem „mittelbar wirkenden Kontrahierungszwang“. 77 S. o. N 41.
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soweit bereits im Vorfeld eines Vertragsabschlusses bestimmte Verhaltenspflichten festgelegt werden, wie es § 611a I BGB und § 12 AGG für das Arbeitsrecht tun78. b) Beweislast Ein zweiter und bislang in dieser Hinsicht überhaupt nicht behandelter Eingriff in die Privatautonomie ist die von den Richtlinien geforderte Beweislastumkehr. Ziel dieser Beweislastumkehr ist es, das Opfer einer Diskriminierung möglichst effektiv zu schützen. Erkauft wird dieser Schutz jedoch durch eine Negation der Privatautonomie: § 193 des ersten Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuches von 1888 bestimmte, daß die rechtsbegründenden Tatsachen von demjenigen zu beweisen seien, der die entsprechende Rechtsfolge geltend mache, während die Gegenseite die Beweislast für die rechtshindernden, -hemmenden oder -vernichtenden Tatsachen zu tragen habe. Im Zuge der weiteren Diskussion über den Entwurf gelangte man jedoch zu der Überzeugung, dieser Satz enthalte eine Selbstverständlichkeit, die man zwar in ein Lehrbuch, nicht aber ins Gesetz schreiben solle79. Im Grundsatz ist diese alte, aus dem römischen Recht übernommene Beweislastregel auch heute gültig80. Auf der Seite des materiellen Rechts drückt sie aus, was sich in der den Zivilprozeß beherrschenden Verhandlungsmaxime manifestiert. Sie ist ein Reflex des Prinzips der Privatautonomie. Die Freiheit des Einzelnen korrespondiert nämlich mit dem Prinzip der Verantwortung81. Wer selbst gestaltet, muß auch die FolDazu weiterführend Herrmann (N 6), S. 26. Vgl. Prot. I, S. 259; zur Kritik vgl. die Nachweise in der Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs, gefertigt im Reichs-Justizamt von Albert Achilles, Karl Heinrich Börner und Hermann Struckmann, Bd. I, 1890, S. 251. 80 Gottfried Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht, 1996, Rn. 155. 81 Hallstein (N 8), S. 3: „die Person anerkennen heißt rechtlich, ihr eine Sphäre eigener Verantwortung zuweisen“. 78 79
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gen dieser Selbstgestaltung tragen. Auch das erscheint selbstverständlich. Nur dann nimmt man die Person und ihre Willensfreiheit völlig ernst, wenn man die Person zugleich auch ihre Handlungsfolgen verantworten läßt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Normentheorie der Beweislastverteilung durchaus begründet. Die Beweislastverteilung ist also eine Folge des auf die Freiheit bezogenen Prinzips der Verantwortung. Wer einen Klagevorwurf erhebt, muß in der Regel auch die Handlungsfolgen tragen, nämlich die zugrunde liegenden Tatsachen beweisen, wenn dieselben vom Beklagten bestritten werden. Im Fall des Unterliegens treffen ihn auch noch die Kosten. Wer für sein Verhalten keine Verantwortung trägt, dem fehlt auch ein Stück Freiheit. Die von den Richtlinien geforderte und in § 22 AGG festgesetzte Beweisregel, die praktisch in eine fast vollständige Beweislastumkehr mündet, verkennt diese Verantwortung der Person für ihr jeweiliges Handeln und damit letztlich auch die Freiheit. Zwar sind auch sonst in der Zivilrechtsordnung Fälle der Beweislastumkehr bekannt, aber in diesen Fällen geht es vor allem um die Verletzung garantieähnlicher Einstandspflichten, bei denen der Schuldner das Risiko für einen bestimmten Erfolg übernommen hat82. Es gibt also einen in der Sache liegenden Grund. Das ist in den Fällen der Antidiskriminierung anders. Hier soll die Veränderung der Beweislast allein den Schutzzielen der Richtlinie dienen. Eine Veränderung der Beweislast wie in den Richtlinien – und bei richtlinienkonformer Auslegung auch in § 22 AGG – kennt das Gesetz bereits in dem ebenfalls auf gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben beruhenden § 611a I 3 BGB. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Beweislastregel für unbedenk82 So liegt es zum Beispiel bei § 280 I 2 BGB. Vgl. dazu ausführlich Annette Keilmann, Dem Gefälligen zur Last. Untersuchungen zur Beweislastverteilung in § 280 I BGB, 2006; außerdem: Hans-Willi Laumen, Die „Beweiserleichterung bis zur Beweislastumkehr“ – Ein beweisrechtliches Phänomen, in: NJW 2002, 3739 – 3746.
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lich gehalten83, ohne freilich die Kollision mit dem Prinzip der Verantwortung zu behandeln. In den Diskriminierungsfällen liegt es so, daß der sich diskriminiert fühlende Kläger seine Benachteiligung nachweisen muß. Das ist in der Regel unproblematisch, weil ihm z. B. irgendeine Absage erteilt worden ist, weil er vielleicht aus einem Lokal abgewiesen wurde o. ä., wofür meistens Urkunden oder Zeugen vorhanden sind. Ferner muß der Diskriminierte dem Gericht glaubhaft machen, daß er aufgrund eines der geächteten Merkmale benachteiligt wurde. Hierzu genügen sogar Behauptungen „ins Blaue hinein“, wenn sie dem Gericht nur hinreichend wahrscheinlich sind84. Der Beklagte hingegen muß sodann das Gericht davon völlig überzeugen (Beweis des Gegenteils), daß er einen anderen als den vom Kläger behaupteten Grund, nämlich einen sachlichen hatte, um das Geschäft nicht abzuschließen. Und an diesem Punkt wird die Freiheit des Beklagten beschnitten, weil man ihm zwar zubilligt, das Geschäft nicht abschließen zu müssen, aber die Last aufbürdet, Rechenschaft über seine Beweggründe abzugeben. Der Beweis innerer Tatsachen ist immer schwierig. Noch schwieriger ist es aber, diesen Beweis über eine negative innere Tatsache zu führen, da der Beklagte ja nachweisen muß, daß ein diskriminierender Grund nicht vorlag. Und dies muß zur vollen Überzeugung des Gerichts gelingen85. BVerfG 23. 8. 2000 – 1 BvR 1032 / 00. So entspricht es auch der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, vgl. BAG, Urt. vom 5. 2. 2004 – 8 AZR 112 / 03, in: NJW 2004, 2112 ff. (2114 f. unter II 2 bb). 85 Mit dem Privatrechtsgedanken vereinbar wäre allenfalls die Zulassung eines Anscheinsbeweises zugunsten des Diskriminierungsopfers, wie es Tilman Bezzenberger, Ethnische Diskriminierung, Gleichheit und Sittenordnung im bürgerlichen Recht, in: AcP 196 (1996), S. 395 ff. (431 ff.), vorgeschlagen hat. Der Beklagte müßte dann lediglich Tatsachen vortragen und beweisen, die einen anderen als den typischen Geschehensablauf als ernsthafte Möglichkeit erscheinen lassen, vgl. Hanns Prütting, in: Peter Ulmer et. al., Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch (= MünchKomm BGB), Bd. II, 42001, § 286 ZPO Rn. 64. Allerdings erscheint mir die Prämisse Bezzenbergers, jede ethnische „Diskriminie83 84
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Der Eingriff in die Privatautonomie durch die Veränderung der Beweislast für das Diskriminierungsmerkmal wirkt sich also doppelt aus: einerseits nimmt das Gesetz infolge der Abweichung von der Grundregel der Beweislastverteilung die Freiheit der klagenden Partei nicht ernst, andererseits beschneidet die Beweislast des Beklagten seine Auswahlfreiheit beim Vertragsschluß. V. Zusammenfassung Ob der Privatautonomie eine tödliche Gefahr droht, die die drastische Formulierung der Überschrift rechtfertigt, mag ein jeder selbst entscheiden. Der Eingriff findet auf zweierlei Weise statt: (1) In die Privatautonomie wird einerseits eingegriffen, soweit sie die Abschlußfreiheit umfaßt. Nach den Vorstellungen des Antidiskriminierungsprogramms sollen einige Differenzierungsgründe als unzulässige Diskriminierung ausgeschlossen werden, was nach den Plänen des Gesetzgebers die Auswahl des Vertragspartners lenken soll. Bevormundung tritt an die Stelle von Freiwilligkeit. Diesen Eingriff kann man auch nicht als eine Schranke der Privatautonomie unter vielen abtun, weil die Diskriminierungsmerkmale beliebig erscheinen und abhängig von politischen Modeströmungen sind, die sich jeden Tag ändern könnten. Der Katalog der Merkmale könnte also jederzeit beträchtlich erweitert werden. Das macht den Eingriff unkalkulierbar gefährlich. Übersehen wird zudem, daß der eigentliche rechtliche Anknüpfungspunkt die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Herabsetzung der Würde eines anderen sein müßte. Das berücksichtigen aber weder die Richtlinien noch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. rung“ sei ohne weiteres grundsätzlich sittenwidrig, nicht ausreichend begründet, wenn man nicht die Sittenwidrigkeit zum Begriffsinhalt macht. Zum Problem s. o. N 43.
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(2) Die Veränderung der Beweislastverteilung rückt Freiheit und Verantwortung der Beteiligten in der Wertskala auf einen nachrangigen Platz, nachrangig gegenüber den Vorstellungen des Gesetzgebers von gutem oder moralisch richtigem Verhalten. Dadurch wird der Einzelne notwendigerweise bevormundet. Die Assoziation zu Robespierre kann man da nur schwer unterdrücken. Fest steht, daß nicht mehr im Zweifel für die Freiheit entschieden werden darf, sondern gegen sie geurteilt werden muß. Walter Hallstein hat 1946 daran erinnert, daß die „Übernahme der Moral in die öffentliche Verwaltung die Preisgabe der Moral“ bedeute86. Und in der Tat läßt sich der Freiheitsverlust durch das Antidiskriminierungsprogramm als eine Veröffentlichrechtlichung des Privaten beschreiben87.
B. Ausprägungen des Privatrechtsgedankens in der Geschichte einschließlich des europäischen Gemeinschaftsrechts I. Privatautonomie als Kern der Privatrechtsidee Unsere Privatrechtsordnung ist im wesentlichen durch das BGB geprägt, also eine Kodifikation, die am Ende des 19. Jahrhunderts steht. Landläufig – wenngleich zu Unrecht – wird ihr ein liberalistisches Menschenbild unterstellt. Die Privatautonomie, die zweifellos zu den Kerngedanken des Gesetzes gehört, ohne dort ausdrücklich normiert zu sein, erscheint auf den ersten Blick als ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Sieht man einmal vom Familienrecht ab, so trägt das Gesetz in der Tat bis heute die Züge seiner Entstehungszeit. Mit den Worten von Franz Wieacker bezeichnet man das BGB als „spätgebo86 Hallstein (N 8), SJZ 1946, S. 5 im Anschluss an Friedrich A. Hayek, The Road to Serfdom, Chicago 1944 – Ohne Freiheit keine Verantwortung und ohne Verantwortung auch keine Moral. 87 Vgl. Pfeiffer (N 16), S. 165 („Herrschaft der Öffentlichkeit über den Einzelnen“); Picker (N 14), S. 19; Reichold (N 16), S. 389; s. o. N 11.
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renes Kind der Pandektenwissenschaft und der nationaldemokratischen, insoweit vor allem vom Liberalismus angeführten Bewegung seit 1848“88. Hieraus ist im Laufe der Zeit offenbar bei vielen der verfehlte Eindruck entstanden, das bürgerliche Recht leide an einem erheblichen sozialen Defizit, trage sozusagen den Geburtsfehler des 19. Jahrhunderts, die soziale Frage, auf der Stirn und bedürfe daher dringend der Korrekturen durch einen wohlmeinenden, sozial bewußten Gesetzgeber. Mutatis mutandis gilt ähnliches auch für manche unserer Nachbarländer und ihre Zivilrechtsordnungen. Die Wieackersche Deutung, die in einer unmittelbaren Linie bis auf eine Stellungnahme August Bebels zum BGB 189689 zurückreicht, ist historisch verfehlt: sie deutet die Pandektistik falsch, wie einige neuere Untersuchungen gezeigt haben90, sie deutet den Liberalismus des 19. Jahrhunderts falsch und sie deutet schließlich auch den Inhalt des BGB falsch. Tatsächlich ent88 Franz Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, in: Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974, S. 9 ff. (15) (Erstdruck 1953). Ausführliche Kritik daran bei Tilman Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts in Wissenschaft und Kodifikation am Ende des 19. Jahrhunderts, 2001, S. 517 ff., sowie zusammenfassend ders., Art. „Bürgerliches Gesetzbuch“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (im folgenden stets: HRG), Bd. I, 22006, Sp. 219 ff., insbesondere Sp. 223 ff.; s. a. Joachim Rückert, in: HKK-BGB, Vor § 1 Rn. 93 ff. Die traditionelle Sichtweise des BGB als anachronistische Spätgeburt findet man fast überall in der aktuellen Literatur, vgl. die Nachweise bei Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, a. a. O., S. 517 Fn. 68; aus der neueren Literatur z. B. Hans Schlosser, Spuren des Naturrechts, der Pandektistik und der Rechtsgermanistik im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 / 1900, in: El Dret comú i Catalunya. Actes del X Simposi Internacional Barcelona, 2 – 3 de juny de 2000. La superació d’una sistemàtica: el Dret patrimonial, hg. v. Aquilino Iglesia Ferreirós, Barcelona 2001, S. 103 ff. (110 ff.); Gerhard Struck, Das Gesetz als Kommunikation des Gesetzgebers mit dem Bürger, in: Rechtstheorie 32 (2001), S. 373 ff. (391); in der Tendenz der h. M. folgend auch Dieter Schwab, Einführung in das Zivilrecht, 16 2005, Rn. 59 ff. 89 August Bebel, Das Bürgerliche Gesetzbuch und die Sozialdemokratie, in: Die Neue Zeit 14 (1895 / 96), Bd. II, S. 554 ff. 90 Ulrich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, 21999; Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, 2004.
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hielt das Privatrecht des 19. Jahrhunderts und dann vor allem das BGB zahlreiche soziale Stützpfeiler, die sämtliche deutsche Gesellschaftsordnungen des 20. Jahrhunderts überlebt haben und auch heute nicht als baufällig bezeichnet werden müssen91. Insbesondere wäre es eine Fehldeutung des 19. Jahrhunderts, wenn man dort die Verfechtung einer schrankenlosen Privatautonomie behauptete. Natürlich ist das Freiheitsstreben des 19. Jahrhunderts auch im Privatrecht unüberhörbar, aber es resultierte aus der Zurückdrängung der Bevormundung der Bürger im Ancien Régime. Sinnfällig wird das besonders in der Eigentumsfreiheit. Nirgends – auch nicht in § 903 BGB – gibt es ein schrankenloses subjektives Eigentumsrecht. Die ständige Einforderung der Eigentumsfreiheit im 19. Jahrhundert ist vielmehr als Reaktion auf die ständischen, grundherrlichen Bindungen zu begreifen, denen das Privateigentum in der frühen Neuzeit weithin unterworfen war. Aber es ist dem 18. und dem 19. Jahrhundert völlig klar gewesen, daß es keine grenzenlosen subjektiven Rechte gibt. Otto von Gierke hat es auf die knappe, zeitlos gültige Formel „kein Recht ohne Pflicht“ gebracht92. Wenn man also im geltenden Privatrecht soziale Defizite bekämpfen möchte, kämpft man weitgehend mit einer Chimäre. Dementsprechend sind dann auch die Kampferfolge. Das Bundesverfassungsgericht hat die Privatautonomie als „Strukturelement einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung“ bezeichnet93. In der Tat gehört die Privatautonomie seit jeher Ausführlich dazu Repgen, Soziale Aufgabe des Privatrechts (N 88). Otto Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts. Vortrag, gehalten am 5. 4. 1889 in der juristischen Gesellschaft zu Wien, 1889, S. 17; zu Gierkes Auffassung weitere Einzelheiten bei Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (N 88), S. 51 ff. Weiter zu Gierke hier bei N 133 und 236. 93 BVerfG, Beschluß v. 7. 2. 1990 – 1 BvR 26 / 84, in: BVerfGE 81 (1990), S. 242 ff. (254) (Handelsvertreter) = JZ 1990, S. 691 ff. m. Anm. von Herbert Wiedemann, S. 695 ff.; dazu auch Christian Hillgruber, Grundrechtsschutz im Vertragsrecht, zugleich: Anmerkung zu BVerfG NJW 1990, 1469, in: AcP 191 (1991), S. 69 ff.; Josef Isensee, Vertragsfreiheit im Griff der Grund91 92
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zum Kernbestand jeder abendländischen Privatrechtsordnung94. Ein paar Merkpunkte aus der Privatrechtsgeschichte rechte, in: Festschrift für Bernhard Großfeld zum 65. Geburtstag, 2002, S. 485 ff., der mit Recht darauf hinweist, daß die Anerkennung eines jeden Menschen als Rechtsperson, der Rechtsgleichheit und der Privatautonomie nicht erst in der Verfassung ihre Grundlage finde, sondern einer Privatrechtsordnung immanent sei (S. 492 f. und 496). Das ändert nichts daran, daß auch die Verfassung die Privatautonomie und damit die Vertragsfreiheit schützt, so daß gesetzgeberische Maßnahmen an dieser Vorgabe zu messen sind. Zum grundrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit vgl. Matthias Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des Grundgesetzes, 2001, S. 287 ff. (insbesondere S. 301 ff.); Remien (N 54), S. 156 ff. Den verfassungsrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit – und damit auch die Schrankenschranken – bestreitet Gerhard Struck, Vertragsfreiheit – ein Grundrecht?, in: Demokratie und Recht 1988, S. 39 f. (40): „Hier wird vertreten, daß Vertragsfreiheit diesen verfassungsrechtlichen Stellenwert gar nicht hat. Vertragsfreiheit sollte wieder von ihrem bürgerlichen Kopf auf ihre sozialstaatlichen Füße gestellt werden.“ Hintergrund ist freilich eine Differenz im Begrifflichen: Struck versteht als Gegenstand der Vertragsfreiheit die (effektive) Durchsetzungsmöglichkeit mit Hilfe der Zwangsvollstreckung. Sähe man es so, dann wäre es in der Tat kaum stimmig, in Art. 2 GG eine Garantie der Vertragsfreiheit zu suchen, weil unklar wäre, warum manche Vereinbarungen klagbar sind, andere (Gefälligkeitsverhältnisse) nicht, die selbstverständlich auch Teil der Entfaltung der Persönlichkeit sind. Sicherlich verdiente ein sanktionsloser Verstoß gegen eine Übereinkunft nicht den Namen Vertrag. Aber es erscheint mir für die Vertragsdogmatik nicht zwingend, daß präziser Erfüllungszwang geübt werden kann. Man müßte sonst dem angloamerikanischen Recht vollständig und dem kontinentaleuropäischen Recht bis ins 18. Jahrhundert einen zutreffenden Vertragsbegriff absprechen, die nur ausnahmsweise präzise Erfüllung erzwingen, Vertragsbruch sonst aber regelmäßig mit Schadensersatz sanktionieren. Auch die Ehe wird seit Jahrhunderten als Vertrag verstanden, ohne daß die Erfüllung dieses Vertragsversprechens erzwingbar wäre. Weiterführend Tilman Repgen, in: HKK-BGB, §§ 362 ff., Rn. 5 ff. [erscheint in Kürze]. Im übrigen steht bei Struck zu sehr der Streitfall im Vordergrund. Für die meisten Verträge dürfte jedoch gelten, daß sie ganz ohne Inanspruchnahme der Justiz abgeschlossen und vollzogen werden. 94 Nach dem Bericht von Hilmar Krüger, 70 Jahre westliches Schuldund Handelsrecht in der Türkei, in: Westliches Recht in der Republik Türkei 70 Jahre nach ihrer Gründung, hg. v. Heinrich Scholler / Silvia Tellenbach, 1996, S. 125 ff. (133 f.), gehört die Vertragsfreiheit auch zu den Bauelementen des türkischen Rechts und neuerdings auch allgemein des islamischen Schuldvertragsrechts.
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müssen hier genügen, um die These plausibel zu machen. Eine Vorbemerkung zu einem denkbaren, grundsätzlichen Einwand ist freilich zuerst nötig.
II. Vertragsfreiheit nur im ungebundenen Privatrecht möglich? Zugespitzt formuliert könnte man sagen, von Vertragsfreiheit lasse sich sinnvoll nur dort sprechen, wo man ein aus ständischen Bindungen gelöstes, ein „ungebundenes“ Privatrecht finde. So hat insbesondere Joachim Rückert geschrieben: „Jahrhundertelang gab es selbstverständlich Verträge, aber keine grundsätzliche Vertragsfreiheit oder gar Privatautonomie – auch nicht in Rom.“95
Und: „Eigenständige ,große‘ Privatrechtsprinzipien wie Vertragsfreiheit mögen seit der Antike angedacht worden sein. Aber reale Funktion in den Rechtssätzen und -wirklichkeiten gewinnen sie erst im Zeitalter grundsätzlich freien Privatrechts nach 1800 und nach dem Ancien Régime.“96
Die Differenz zum hier vertretenen Standpunkt97 ist geringer, als es zunächst scheinen mag. Man müßte sich darüber verständigen, was „grundsätzlich“ in diesem Zusammenhang meint. Rückert sieht in der Zeit vor 1800 nur „gebundenes Privatrecht“ und meint damit die ständische Gebundenheit auch der subjektiven Rechte98. Unausgesprochen oder vielRückert (N 89), Vor § 1 Rn. 69. Rückert (N 89), Vor § 1 Rn. 5; außerdem Joachim Rückert, Privatrechtsgeschichte und Traditionsbildung, in: Rechtshistorisches Journal 11 (1992), S. 122 ff. (144); im Ergebnis ähnlich schon Dieter Grimm, Soziale, wirtschaftliche und politische Voraussetzungen der Vertragsfreiheit. Eine vergleichende Skizze, in: La formazione storica del diritto moderno in Europa III, Florenz 1977, S. 1221 ff., der eine ständisch gegliederte Gesellschaft und Privatautonomie offenbar für kontradiktorische Gegensätze hält. 97 Vgl. die These im Text vor N 94. 98 Rückert (N 89), Vor § 1 Rn. 71. 95 96
4 Isensee (Hrsg.)
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leicht sogar unbewußt scheint mir die Vertragsfreiheit jedoch auch den älteren Rechtsordnungen geläufig. Maßgeblich ist, ob man durch Verträge frei die eigenen Rechtsverhältnisse gestalten kann. Daß diese Gestaltungsmöglichkeiten wegen der ständischen Gliederung der Gesellschaft bis zum 18. Jahrhundert unter Umständen nur einen jeweils kleineren Handlungskreis betrafen, ist wohl nicht zu bestreiten, ändert aber nichts daran, daß man am Privatrechtsgedanken auch schon früher nicht vorbeigekommen ist. Innerhalb der jeweiligen Geschäfts- oder Handlungskreise herrschte durchaus Vertragsfreiheit. Nur sind diese Gesellschaften noch keine „Privatrechtsgesellschaften“99 gewesen, weil sich der Grundsatz der rechtlichen Gleichheit noch nicht durchgesetzt hatte100. Die faktische Begrenzung privatrechtlicher Handlungsmöglichkeiten folgte für viele (die meisten?) Personen aus statusrechtlichen Bindungen, die den Geschäftskreis einengten. Der status ist allerdings eine Kategorie, die neben dem Vertragsgedanken steht. Die Status-Fragen betreffen die rechtliche (Un-)Gleichheit, also die Frage der allgemeinen Rechtsfähigkeit. Hierin trat seit dem späten 18. Jahrhundert ein fundamentaler Wechsel ein, der auch für das Privatrecht größte Relevanz besaß. Der Vertragsgedanke selbst war davon jedoch nicht betroffen. Nur konnten jetzt mehr Personen von seinen Möglichkeiten profitieren. Mir erscheint – anders als Rückert – die Kategorie des freien Vertrags im Prinzip unabhängig von der Kategorie des status. Die Kategorien Vertragsfreiheit und status (Rechtsfähigkeit) laufen freilich wie Linien in einem Punkt ineinander, nämlich im Begriff der Person, deren Freiheit selbstverständlich auch durch ihren status definiert, begrenzt wird. Die Bindung des „gebundenen“ Privatrechts liegt 99 Zum Begriff Franz Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, in: ORDO 17 (1966), S. 75 ff. 100 Zu den historischen Wurzeln des Gleichheitssatzes vgl. neuerdings Sven Mirko Damm, Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes. Der Gleichheitssatz im Europäischen Gemeinschaftsrecht sowie im deutschen und US-amerikanischen Verfassungsrecht, 2006, S. 40 ff.
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auf der Status-Ebene, nicht auf der Vertragsebene. Die zur Erläuterung der Geschichte beliebte Formel „from status to contract“ trifft nur zu, wenn man die Rechtssubjekte, also vor allem die natürlichen Personen als Ganze betrachtet, auf ihre Rechtsverhältnisse insgesamt schaut. Die Formel stimmt jedoch nicht, sofern wir die Kategorien selbst betrachten. Die allgemeine Rechtsfähigkeit, das heißt die Gleichberechtigung auf der Status-Ebene, die bereits in den mittelalterlichen Stadtrechtskulturen vorgedacht war, hat sich in der Tat erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert durchgesetzt101. Nicht zu bestreiten ist, daß auch das Prinzip der Vertragsfreiheit (sowie der Privatautonomie) im Laufe der Geschichte eine Entwicklung erfahren hat. Nach dem Gesagten ist es auch erklärlich, daß seit dem Augenblick, wo die allgemeine Rechtsfähigkeit als Prinzip anerkannt wurde, die Grenzen der Vertragsfreiheit größeres Interesse beanspruchen. Im folgenden Abschnitt kann es nicht darauf ankommen, Begriffsdefinitionen von Vertragsfreiheit o. ä. in der Privatrechtsgeschichte zu suchen, sondern nur auf ein Aufspüren der Lösungen für bestimmte Regelungsprobleme. Diese Lösungen, die privatrechtlich genannt werden wollen, bauen samt und sonders auf der Anerkennung von Privatautonomie auf, nämlich auf der selbstverantwortlichen Gestaltung der jeweiligen Rechtsbeziehungen durch freiwillige Rechtsgeschäfte.
101 Dazu: Hermann Conrad, Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, 1956. Zur rechtsphilosophischen und -theoretischen Grundlegung des Begriffs der allgemeinen Rechtsfähigkeit vgl. Helmut Coing, Der Rechtsbegriff der menschlichen Person und die Theorien der Menschenrechte, in: Beiträge zur Rechtsforschung. Deutsche Landesreferate zum III. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in London 1950, hg. v. Ernst Wolff, 1950, S. 191 ff.; Thomas Duve, in: HKK-BGB, §§ 1 ff.
4*
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III. Vertragsfreiheit im römischen Recht Cicero bezeichnete die Freiheit als das höchste Recht im Staat102. Im Privatrecht führte das römische Freiheitsprinzip nach dem Urteil von Fritz Schulz „zu einer ausgeprägt individualistischen Gestaltung“103. Schulz beobachtete eine gewisse Abneigung des römischen Privatrechts gegen privatrechtliche Gemeinschaftsverhältnisse, wofür er vor allem auf die strikte Gütertrennung in der Ehe und ärmliche Ausbildung eines privaten Vereinsrechts hinwies104. Ob das genügt, um den individualistischen Charakter zu begründen, mag dahinstehen105. Nirgends sprechen allerdings die Römer von Vertragsfreiheit. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie diese nicht gekannt hätten: Hier gilt, was vom Rechtsinstitut des Vertrags selbst zu sagen ist. Die Römer praktizierten die Vertragsfreiheit, ohne sie begrifflich auszuformen. Die römische Antike kannte keine einheitliche Vertragsdogmatik. Diese ist eine Entwicklung erst des kanonischen Rechts im Spätmittelalter und dann der Naturrechtsepoche der frühen Neuzeit. Dennoch kannte das klassische römische Recht Verträge in einer Vielzahl unterschiedlicher Formen106. 102 Cicero, In Verrem II, 5, 163: „O nomen dulce libertatis! o ius eximium nostrae civitatis!“ 103 Fritz Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, 1954 (Nachdruck der Ausgabe von 1934), S. 99; kritisch zu Historizität der Analyse von Schulz Rückert, Privatrechtsgeschichte (N 96), S. 141 f. 104 Schulz (N 103), S. 100 f. 105 Hier macht sich noch das Erbgut der Sichtweise des römischen Rechts im 19. Jahrhundert bemerkbar. Vgl. etwa Theodor Mommsen, Die Aufgabe der historischen Rechtswissenschaft, in: Gesammelte Schriften, Bd. III, 1907, S. 582 f.; dort heißt es auf S. 583: „Wenn wir also streben ein Recht zu entwickeln, das sich für freie Bürger schickt, so dürfen wir, was das Civilrecht betrifft, in dieser Beziehung unbedingt auf das römische Recht der klassischen Periode fußen und sicher sein einen Geist darin zu finden, der wohl oft dem Princip der Solidarität der Staatsbürger unter einander, nicht aber dem der Freiheit des Individuums widerstreitet.“ 106 Handliche Übersicht z. B. bei Klaus-Peter Nanz, Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert, 1985, S. 5 ff.
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In den Digesten hieß es: Ait praetor: „Pacta conventa, quae neque dolo malo, neque adversus leges plebis scita senatus consulta decreta edicta principum, nequo quo fraus cui eorum fiat, facta erunt, servabo.“107
Der Prätor sagt: „Formlose Vereinbarungen, die weder arglistig noch unter Verstoß gegen Gesetze, Volksentscheidungen, Senatsbeschlüsse, Entscheidungen oder Edikte der Kaiser getroffen werden und durch die nicht irgendeine dieser Normen umgangen wird, werde ich anerkennen.“108
Mal war die Form festgelegt109 und der Inhalt mehr oder weniger frei zu bestimmen, mal lagen die Inhalte fest und die Form war frei wählbar. Völlig frei blieb in Rom die Auswahl des Vertragspartners. Allerdings waren nicht alle Vertragsformen für alle Personen zugänglich, weil jedenfalls das ältere Recht die Peregrinen, also die Fremden ohne Bürgerrecht, von manchen Geschäften ausschloß – zu schweigen von den status-bedingten Einschränkungen der gewaltunterworfenen Hauskinder und generell der Frauen. Soweit aber der statusbedingte Geschäftskreis reichte, herrschte im Ergebnis Vertragsfreiheit: das „Ob“ des Vertragsschlusses und die Auswahl des Vertragspartners unterlagen keiner Bindung. Inhalt und Gestaltung waren im skizzierten Rahmen ebenfalls frei. Doch bedeutete Freiheit auch in Rom nicht, tun zu dürfen, was man Ulpian D. 2.14.7.7. Übersetzung in Anlehnung an Okko Behrends / Rolf Knütel / Berthold Kupisch / Hans Hermann Seiler, Corpus iuris civilis, Bd. II: Dig. 1 ff., 1995, S. 229. 109 Theo Mayer-Maly hat insbesondere den Typenzwang im Auge, wenn er meint, die römische Spätantike sei von einer umfassenden Anerkennung der Vertragsfreiheit ziemlich weit entfernt gewesen: Vgl. Art. „Vertragsfreiheit“, in: HRG V, Sp. 855 ff. (856). Interessant sind dort die Beobachtungen der Vertragsfreiheit im Sinne der Formfreiheit in den leges Barbarorum, die freilich kaum für unsere moderne Rechtsordnung wirksam geworden sind und daher hier übergangen werden. Ob man an die Einhaltung bestimmter Formen etc. gebunden ist, ist allerdings meines Erachtens eher ein zweitrangiges, mehr rechtstechnisches Problem. Man wird wohl auch nicht behaupten wollen, im geltenden Recht herrsche auf dem Gebiet der Veräußerung von Immobilien keine Vertragsfreiheit, weil es die Formvorschrift des § 311b I BGB gibt. 107 108
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wollte. Immer mußte man die Schranken der pietas, fides und humanitas110, die „guten Sitten“ beachten. Wichtig war insbesondere die Schranke des Rechtsmißbrauchs111. Dieses Wechselspiel von Freiheit und Sittenschranken gehört zu den Selbstverständlichkeiten des Privatrechtsgedankens, wie er sich dann im Mittelalter aus dem römischen Recht entwickelt hat. Keine europäische Privatrechtsordnung hat jemals unbeschränkte Freiheit versprochen. Das hängt letztlich damit zusammen, daß die Freiheit begrifflich nicht unbeschränkt ist. Es geht vielmehr um sittlich gebundene Freiheit112. Sie steht immer im Dienst des Menschen, seiner Entfaltungsmöglichkeiten, seiner Personwürde113. Wo sie diese verletzt, hört sie auf, Freiheit zu sein. Umgekehrt ergibt sich aber auch aus der Würde des Menschen ein Anspruch auf Freiheit114. Schulz (N 103), S. 107. Schulz (N 103), S. 107 f. 112 Zum Begriff der Freiheit vgl. Walter Warnach / Otto Herrmann Pesch / Robert Spaemann, Art. „Freiheit“, in: HistWbPh (N 34), Bd. II: D-F, 1972, Sp. 1064 ff. 113 Besonders klar wird dieser Zusammenhang in der Virginia Bill of Rights vom 12. 6. 1776 ausgesprochen: „That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; namely, the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property, and pursuing and obtaining happiness and safety.“ Ganz ähnlich auch in „The Declaration of Independence of the Thirteen Colonies“ vom 4. 7. 1776: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ – vgl. Joachim Rückert, Verfassungen und Vertragsfreiheit, in: Gesellschaftliche Freiheit und vertragliche Bindung in Rechtsgeschichte und Philosophie, hg. v. Jean-François Kérvégan / Heinz Mohnhaupt, 1999, S. 165 ff. (181 ff.); ders., „Frei und sozial“ als Rechtsprinzip, 2006; Coing (N 101), S. 194. Dezidiert anders etwa Eichenhofer (N 17), S. 1085. – Selbst wenn man jedoch in der Vertragsfreiheit vor allem ein Teilhaberecht erkennen möchte, so bleibt doch offen, wie es mit der Freiheit vereinbar sein soll, die Auswahl des Vertragspartners vorzuschreiben. Vertragsparität kann sich nur auf die Vertragsgestaltung beziehen, nicht auf die Nutzung dieses Instrumentes selbst. Eichenhofer nimmt nicht zur Kenntnis (S. 1086), daß Diskriminierungen im Sinne der Persönlichkeitsverletzung zivilrechtlich sanktioniert sind. Ein weitergehender Schutz ist im Zivilrecht nicht möglich. 110 111
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IV. Kanonisches Recht im Mittelalter Neben dem römischen Recht ruht unsere Privatrechtsordnung wesentlich auf dem kanonischen Recht des Mittelalters. Auch hier gehört die Vertragsfreiheit zu den selbstverständlichen Grundannahmen, ohne daß man sie in eine Regel gefaßt hätte. Immerhin heißt es in den Dekretalen (X 1.35.1): Pacta quantumcunque nuda servanda sunt. Ex concilio Africano:
Bloße Vertragsversprechen jeder Art müssen eingehalten werden. Von dem afrikanischen Konzil:
Antigonus episcopus Madaurensis dixit: Gravem iniuriam patior, et credo, dolere sanctitatem vestram contumeliam meam et computare communem iniuriam. Optantius quum se repraesentaret, pactum mecum habuit et divisimus plebes; manuscriptiones nostrae tenentur et pittacia. Contra hoc pactum circuit plebes mihi attributas, et usurpat populos, ut illum patrem, me vitricum nominent. Gratus episcopus dixit: Factum hoc dolendum est, ut in se illiciat populorum imperitorum animas contra disciplinam, contra evangelicam traditionem, contra pacis placita. Nam si id sibi posse contingere arbitraretur, nunquam profecto in fratrem aliquis deliquisset. Unde aut inita pacta suam obtineant firmitatem, aut conventus, si se non cohibuerit, ecclesiasticam sentiat disciplinam. Dixerunt universi: Pax servetur, pacta custodiantur.
Antigonus, Bischof von Madaurens, hat gesagt: Ich erleide schweres Unrecht und glaube, daß Eure Heiligkeit mein Ungemach nachempfinden und das allgemeine Unrecht sehen. Als Optantius in Erscheinung trat, hat er mit mir einen Vertrag geschlossen und wir haben die Völker aufgeteilt. Unsere Texte und Verträge enthalten das. Er umgeht diesen Vertrag und beansprucht mir zugeschriebene Völker, damit sie jenen Vater, mich Stiefvater nennen. Der Bischof Gratus hat gesagt: Dieses Geschehen muß (uns) schmerzen, weil es in sich die Seelen der unerfahrenen Völker gegen die Disziplin, gegen die Tradition des Evangeliums und gegen Lehren des Friedens verführt. Denn, wenn geurteilt würde, daß ihm das glückt, hätte niemals irgend jemand sich am Bruder vergangen. Daher behalten sowohl Verträge als auch einfache Versprechen ihre Gültigkeit, wenn sie nicht der kirchlichen Lehre entgegenstehen, meint er. Alle haben gesagt: Der Friede möge bewahrt und die Verträge mögen gehalten werden.
114 Paul Mikat, Gleichheitsgrundsatz und Testierfreiheit, in: Festschrift für Hans Carl Nipperdey, Bd. I, 1965, S. 581 ff. (588).
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Hier wird die Verbindlichkeit eines Versprechens ganz unabhängig von der Einhaltung bestimmter Formen usw. angeordnet. „Ex nudo pacto oritur actio et obligatio“ lautete nun die Regel, die die vertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten vom Typenzwang losgelöst hat115. In erster Linie ist das sicherlich eine wichtige Aussage zur Vertragsdogmatik. Sie ist aber nur verständlich, wenn man zugleich den Vertragsgedanken, d. h. die Gestaltung der Rechtsverhältnisse durch Verträge, mitdenkt. Das kanonische Recht akzeptierte also die Gestaltungsfreiheit. Auf die Idee, die Auswahl des Vertragspartners zu regulieren, kam im Mittelalter niemand. Bemerkenswert ist aber auch die Grenze, die der Vertragsfreiheit in dem Fragment gezogen wird. Die Verträge dürfen nicht rechtswidrig sein, also in diesem Fall nicht gegen die kirchliche Lehre verstoßen. V. Deutsche Rechtstradition Auch zur deutschen Rechtstradition des Mittelalters gehört die Vertragsfreiheit mit großer Selbstverständlichkeit. Das mag überraschen, kündet doch die Literatur eher das Bild von einer ständisch geordneten Gesellschaft, die dem einzelnen wenig oder keine Entfaltungsmöglichkeiten bot116. Ein prinzi115 Vgl. Peter Landau, Der Einfluß des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur, in: Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, hg. v. Reiner Schulze, 1991, S. 39 ff. (55); Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. I: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), S. 399 f. mit Nachweisen für die zitierte Regel. Außerdem: Nanz (N 106), S. 46 ff. 116 Vgl. Mayer-Maly (N 109), Sp. 856. Außerdem Werner Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit, Basel 1948, S. 17 ff.; allerdings konstatiert auch Scherrer für das Hoch- und Spätmittelalter eine weitreichende Inhaltsfreiheit, S. 24 f. – Auch im 19. Jahrhundert begriff man die Freiheit nicht unbedingt als ein „deutsches Prinzip“, Hofer (N 75), S. 15 ff. mit vielen Nachweisen aus der Literatur. Nur mühsam findet man Bekenntnisse zur Privatautonomie oder auch nur zur Vertragsfreiheit. Das Beispiel von Hofer (a. a. O., S. 18: Mittermaier) ist gerade keines mit historischem Blickwinkel, denn Mittermaier spricht de lege ferenda. Siehe aber unten das Beispiel Bluntschli (N 119).
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pieller Einwand gegen das Vorhandensein von Vertragsfreiheit ist aus der Abwesenheit allgemeiner, gleicher Rechtsfähigkeit – wie dargelegt117 – nicht abzuleiten. Freiheit erscheint hier eher als Einzelprivileg. Nicht zufällig bezeichnete man zum Beispiel die Berechtigung zur Abhaltung von Märkten als „Freiheiten“118. Dieses Bild ist aber in seiner Einseitigkeit arg unvollständig119. Überall finden wir auch im Mittelalter ganz selbstverständlich Privatrechtsverkehr, der sich in freien Bahnen bewegt. Besonders deutlich läßt sich das in den Stadtrechten und im Gesellschaftshandel des Spätmittelalters zum Beispiel im Hanseraum verfolgen, der zu dieser Zeit kaum von römisch-rechtlicher Dogmatik beeinflußt gewesen ist120. S. o. bei und nach N 95. Vgl. die vielfachen Hinweise bei Richard Schröder / Eberhard Freiherr von Künßberg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 71932, S. 664, 671, 680. 119 Eher unkritisch auch Hofer (N 75), S. 19 f.: „Das alte deutsche Recht konnte nämlich nicht – oder jedenfalls nur unter großen Schwierigkeiten – als freiheitlich bezeichnet werden.“ Ähnlich auch a. a. O., S. 23: „Die Germanisten standen vor dem Problem, daß Freiheit nicht als Grundgedanke des deutschen Rechts, dagegen sehr wohl als Prinzip des von ihnen abgelehnten römischen Rechts nachgewiesen werden konnte.“ – Daß die Germanisten in ihrer Auseinandersetzung mit den Romanisten nicht über die Freiheit als deutsches Rechtsprinzip sprachen, könnte man – entgegen der Deutung von Hofer (S. 20 f.) – auch damit erklären, daß sich an diesem Punkt kein vom römischen Recht abweichendes Profil entwickeln ließ. – Allerdings benennt Hofer auch die Beobachtungen von Bluntschli. Johann Caspar Bluntschli, Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen überhaupt und die historische Schule insbesondere, in: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 2 (1839), Sp. 1931 f., meinte, das deutsche Recht sei durch Freiheit des Einzelnen gekennzeichnet, weil es „keine absolute Herrschaft des einen Menschen über den andern“ gebe. „Jedem, selbst schon in alter Zeit dem Hörigen, der sein Gütchen baut, wird eine Rechtssphäre gelassen, in welcher er zu einem gewissen Grade wenigstens von Freiheit gelangen mag“. Persönlichkeit und Freiheit des Einzelnen charakterisiere das deutsche Recht. Bluntschli sah also in den Abstufungen der Rechtsfähigkeit keinen Gegensatz zu einem freiheitlichen Privatrecht. – Im übrigen gilt für das Mittelalter und auch noch den frühneuzeitlichen Staat – selbst im Absolutismus –, daß die Organisationstiefe herrschaftlicher Reglementierung weit hinter dem zurückblieb, was unserer lebensweltlichen Erfahrung entspricht. Die Freiheitsräume des Einzelnen waren schon insofern wesentlich größer. 117 118
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Für die Kaufleute war es ganz selbstverständlich, daß sie in freier, von außen nicht beeinflußter Weise Gesellschaftsverträge mit ihren Partnern eingingen. Aber auch außerhalb der besonderen Welt der Kaufleute war die Vertragsfreiheit in der mittelalterlichen Stadt geläufig. 1. Hamburgisches Stadtrecht Über die Geläufigkeit der Vertragsfreiheit gibt etwa das Mietrecht des Hamburgischen Stadtrechts121 von 1270 Auskunft: Der Wohnungsmietvertrag war unkündbar – ein Zustand, der sich vor allem aus der Kurzfristigkeit derartiger Abmachungen erklärt. Dennoch akzeptierte das Stadtrecht, daß die Parteien ihren Vertrag einvernehmlich auflösen konnten122. Schon dies wäre ohne den Vertragsgedanken kaum er120 Albrecht Cordes, Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel im Hanseraum, 1998; ders., Kapital, Arbeit, Risiko, Gewinn. Aufgabenteilung in einer Lübecker Handelsgesellschaft des 16. Jahrhunderts, in: Festschrift für Antjekathrin Graßmann, 2005, S. 517 ff.; ders., Gewinnteilungsprinzipien im hansischen und oberitalienischen Gesellschaftshandel des Spätmittelalters, in: Festschrift für Karl Kroeschell, 1997, S. 135 ff. 121 Sämtliche im folgenden zitierten Vorschriften des Hamburgischen Stadtrechts sind der Ausgabe von Johann Martin Lappenberg, Hamburgische Rechtsaltertümer. Bd. I: Die ältesten Stadt-, Schiff- und Landrechte Hamburgs, 1845, entnommen; das Stadtrecht in seiner ältesten Fassung von 1270 ist außerdem nun in einer Übertragung ins Hochdeutsche vorhanden: Frank Eichler, Das Hamburger Ordeelbook von 1270 samt Schiffrecht nach der Handschrift von Fredericus Varendorp von 1493 (Kopenhagener Codex). Textausgabe und Übersetzung ins Hochdeutsche mit rechtsgeschichtlichem Kommentar, 2005. 122 StR 1270 I 9 Satz 3 und 4 knüpft an die einvernehmliche Vertragsbeendigung andere Rechtsfolgen als an die faktische einseitige Beendigung, die als Vertragsbruch aufgefaßt wird. Ausführlich dazu Tilman Repgen, Die Sicherung der Mietzinsforderungen des Wohnungsvermieters im mittelalterlichen Hamburgischen Stadtrecht, in: Recht im Hanseraum, hg. v. Albrecht Cordes, [erscheint 2007]. Anders entschied das römische Recht, das die Bindungswirkung des Vertragsversprechens weniger strikt faßte und bei einer faktischen Beendigung des Mietverhältnisses Schadensersatzpflichten davon abhängig machte, ob die (faktische) Vertragsaufhebung gerechtfertigt war, vgl. Max Kaser / Rolf Knütel, Römisches Privatrecht, 182005, § 42 II 5, Rn. 15 f.
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klärlich. Aber auch sonst hielt das Stadtrecht viel von gegenseitigen Verträgen. Ein Fragment aus dem Stadtrecht von 1301 bestätigt diese Beobachtung. Dort ging es um Mietzinsforderungen im Fall der Vorenthaltung der Wohnung bzw. des Nichteinzugs des Mieters. Das Stadtrecht stellte eine hier nicht weiter interessierende Regel auf, betonte aber im Schlußsatz, daß eine andere Vereinbarung darüber getroffen werden könne123. Die große Wertschätzung des Vertrags, die aus diesen Vorschriften hervorleuchtet, ist nur erklärlich vor dem Hintergrund eines freiheitlichen Menschenbildes, bei dem die freie Person im Mittelpunkt steht. Trotz aller Standesunterschiede und den damit verbundenen vielfältig abgestuften Rechten in der Gemeinschaft war also auch dem Mittelalter der Gedanke der prinzipiell gleichen, freien Selbstbestimmung der Person auf der Ebene des Privatrechts bekannt. Das Hamburgische Stadtrecht von 1270 drückte das in Art. VI 14 so aus: So wat een man deme anderen louet mit motwillen umbedwungen, dat schal he eme to rechte lesten, it sy an kope, it sy an hure, vnde in allen dingen124.
Das, was ein Mann einem anderen verspricht, mit Mutwillen und ungezwungen, das soll er ihm zu Recht leisten, sei es beim Kauf, sei es bei der Miete, und in allen Dingen.
Diese Regel galt in Hamburg unabhängig von allen Standesunterschieden und Abhängigkeiten. Selbst der, der kein Bürgerrecht besaß, konnte einer dieser Mieter sein. 2. Sachsenspiegel Auch der Sachsenspiegel, die wohl wichtigste deutsche Rechtsquelle im Mittelalter, setzte die Vertragsfreiheit als gegeben voraus. Dort hieß es:
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StR 1303 C XXIX. StR 1270 VI 14; vgl. StR 1301 G XIII und 1497 L II.
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Wer icht borgit oder gelobit, der sal is gelden, unde was he tut, das sal he stete halden125.
Wer für etwas bürgt oder etwas gelobt, der soll es erfüllen, und was er rechtsgeschäftlich tätigt [sc. verspricht], das soll er stets halten.
Diese Regel wäre nicht erklärlich, wenn die Gestaltung der Rechtsverhältnisse des einzelnen durch Verträge nicht für Eike von Repgow, den Autor des Sachsenspiegels, eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre. Ganz allgemein schrieb hier Eike dem Vertrag Bindungswirkung zu. Das wäre ohne den Vertragsgedanken unsinnig. Die Vertragsversprechen liefen dann ins Leere. VI. Naturrechtskodifikationen 1. ALR Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, das am Übergang vom Ancien Régime zur Privatrechtsgesellschaft des 19. Jahrhunderts steht, hat keine explizite Regelung der Vertragsfreiheit aufgestellt126, sondern erklärte, daß man über alles, was Gegenstand einer rechtmäßigen Willenserklärung sein könne, Verträge schließen könne (I 5 § 39). Ausgenommen waren die Verstöße gegen gesetzliche Verbote (I 4 § 6) und Delikte sowie Vereinbarungen über die Einschränkung der Gewissensfreiheit, die Verpflichtung zur Ehelosigkeit (in bestimmtem Zeitgrenzen und mit Ausnahme der Kleriker) oder zur Sklaverei sowie Geschäfte über nicht verkehrsfähige Sachen (I 4 §§ 7 – 19). Carl Gottlieb Svarez erläuterte, daß zum wirksamen Vertragsschluß ein „freier, ernstlicher und gewisser Wille“ gehöre127. 125 Sachsenspiegel Landrecht I 7, zitiert nach: Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2º, Textband, hg. v. Ruth SchmidtWiegand, 1998, fol. 12 v, auch im Internet unter http: // www.sachsenspiegel-online.de / export / index.html. 126 Vgl. Rückert (N 89), Vor § 1 Rn. 69. 127 Carl Gottlieb Svarez, Allgemeine Grundsätze des Rechts. Von Verträgen, in: Vorträge über Recht und Staat (N 2), S. 271, 275 f.
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2. Code civil Ganz und gar den neuen Bedingungen des 19. Jahrhunderts zugewandt war der Code civil des Français, den Napoléon 1804 in Kraft treten ließ. Art. 1108 Code civil macht zwar einen „erlaubten Grund“ (une cause licite) zur Voraussetzung einer vertraglichen Verbindlichkeit. Damit ist aber bei Verträgen nur gemeint, daß diese im Rahmen der Gesetze abgeschlossen werden müssen. Solche gelten dann, wie Art. 1134 Code civil betont, für die Vertragsparteien „als Gesetze“ („tienent lieu de loi à ceux qui les ont faites“). Aber auch der Code civil setzt die Idee der Vertragsfreiheit mehr voraus, als sie zu explizieren128. Paul Johann Anselm Feuerbach nannte als Grundprinzipien dieses Gesetzes die Freiheit der Person, ihre Gleichheit vor dem Gesetz, die Freiheit des Eigentums und die Trennung von Staat und Kirche129. Von Freiheit könnte aber nicht die Rede sein, wenn die Mittel zu ihrer Verwirklichung völlig fehlten. Zu diesen Mitteln zählte Feuerbach auch die Vertragsfreiheit, wie sogleich zu sehen sein wird. 3. ABGB und BayEntwurf 1811 Auch das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811 beschränkte sich auf die Nennung der Merkmale eines Vertragsschlusses, ohne die Vertragsfreiheit selbst auszudrücken (§§ 859, 869 ABGB). Feuerbachs Bayerischer 128 Weiterführend Alfons Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert, 1991, S. 3 ff., der die „autonomie de la volonté“ als ein Produkt des 19. Jahrhunderts, insbesondere des deutschen Idealismus auffaßt; siehe auch Joachim Rückert, Zur Legitimation der Vertragsfreiheit im 19. Jahrhundert, in: Naturrecht im 19. Jahrhundert, hg. v. Diethelm Klippel, 1997, S. 135 ff. (139, 157). 129 Paul Anselm Feuerbach, Betrachtungen über den Geist des Code Napoléon, und dessen Verhältnis zur Gesetzgebung und Verfassung teutscher Staaten überhaupt und Baierns insbesondere, in: Themis, oder Beiträge zur Gesetzgebung, hg. v. Paul Anselm Feuerbach, 1812, S. 1 ff., insbesondere 15 ff. (Freiheit der Person), S. 20 ff. (Gleichheit), S. 29 ff. (Eigentumsfreiheit), S. 49 ff. (Trennung von Kirche und Staat).
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Entwurf, der auf eine Adaption des Code civil an die bayerischen Gegebenheiten abzielte, brachte ebenfalls 1811 schon eine Regelung allgemeiner Vertragsfreiheit: „Jeder Vertrag, derselbe habe einen besonderen gesetzlichen Namen oder nicht, bringt Rechte und Verbindlichkeiten hervor, wenn derselbe verbietenden Gesezen nicht entgegen und unter den gesezlichen Erfordernißen eingegangen ist. . .“.130
Und wenig später schrieb Franz von Zeiller, der so maßgeblich das österreichische Zivilgesetzbuch beeinflußt hatte, eine sehr grundsätzliche Bemerkung zur Vertragsfreiheit: „In einem Gesetzbuche, worin die Freyheit der Person und des Eigenthums zum Hauptaugenmerke gemacht wird, muß in der Materie von Verträgen überall der Grundsatz hervorleuchten, daß die Verträge, in so fern sie der bürgerlichen Ordnung überhaupt und den besonderen Verhältnissen des Staates nicht widerstreiten, nach dem Willen der vertragmachenden Theile aufrecht erhalten werden sollen. Dieß geschieht, indem der Gesetzgeber . . . die Freyheit nur nach den strengen Forderungen einer weisen Politik beschränket.“131
Zeiller stellte also die Vertrags- und die Eigentumsfreiheit in den Mittelpunkt des Privatrechts. Beide sind bestimmt, der Personalität des Menschen zu dienen. Eine andere tragende Rechtfertigung gibt es nicht.
VII. Das Menschenbild des BGB – die Prinzipien von Freiheit und Verantwortung Ebensowenig wie in den zuvor erwähnten großen Kodifikationen findet man im Bürgerlichen Gesetzbuch für das deutsche Reich eine Definition der Vertragsfreiheit. Der Gesetzgeber war der Meinung, Lehrsätze eigneten sich nicht 130 IV 1 § 5 Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Bayern von 1811, hg. v. Walter Demel / Werner Schubert, Ebelsbach 1986. 131 Franz von Zeiller, Abhandlung über die Principien des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, Wien 1816 – 1820, Nachdruck 1986, S. 70. Dazu Rückert (N 128), S. 151 ff.
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zur Gesetzgebung. Dennoch war die Vertragsfreiheit selbstverständliches Prinzip. In den Motiven zum ersten Entwurf heißt es: „Vermöge des Principes der Vertragsfreiheit, von welchem das Recht der Schuldverhältnisse beherrscht wird, können die Parteien ihre Rechts- und Verkehrsbeziehungen nach ihrem Ermessen mit obligatorischer Wirkung unter sich bestimmen, soweit nicht allgemeine oder bestimmte einzelne absolute Gesetzesvorschriften entgegenstehen.“132
Insbesondere Gierke war es, der damals an die immanenten Schranken aller subjektiven Rechte, also auch der Freiheitsrechte, erinnert hat. Schrankenlose Vertragsfreiheit sei „eine furchtbare Waffe in der Hand des Starken, ein stumpfes Werkzeug in der Hand des Schwachen“133. Auch das Privatrecht müsse das Gemeinwohl erstreben134. Dieser Gemeinschaftsvorbehalt stand für ihn in einer dialektischen Spannung zur Motive, Bd. II, S. 2; hierzu auch Rückert (N 89), Vor § 1 Rn. 44. Gierke (N 92), S. 28; die immanenten Schranken folgen für Gierke unmittelbar aus der „germanischen“ Rechtsidee, die die Persönlichkeit „nicht in römischer Weise als eine an sich mit Andern unverbundene, schrankenlose, absolute Willensmacht, sondern von vornherein bedingt und innerlich beschränkt durch die sittliche Ordnung der menschlichen Gemeinschaft“ begriffen habe. So ders., Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. II: Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs, 1873, S. 33. Ausführlich zum Ansatz von Gierke Repgen, Soziale Aufgabe (N 88), insbes. S. 54 ff. Es ist bemerkenswert, daß ausgerechnet Gierke, der sich im Gesetzgebungsverfahren nur mit wenigen Kritikpunkten durchsetzen konnte, bis heute in der Diskussion über Stärken und Schwächen des BGB präsent geblieben ist. Sein „Tropfen socialistischen Öles“ ist praktisch jedem Juristen, der eine deutsche Universität besucht hat, ein bekannter Topos (weiter dazu s. u. N 236). Gierkes Hauptanliegen, den Gemeinschaftsgedanken im Privatrecht zu verankern, ist in verschiedenen Brechungen immer wieder und wohl hauptsächlich unbewußt Ausgangspunkt der vielfachen Bemühungen um eine „Sozialisierung des Privatrechts“. Eine bemerkenswerte Analyse dieses Vorgangs findet man bereits bei Walter Hallstein, Von der Sozialisierung des Privatrechts, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 102 (1942), S. 530 ff.; s. a. den dichten Überblick bei Rückert (N 128), S. 168, mit der knappen und treffenden Bemerkung, Gierkes Text gebe „eine flammende Vorschau, der bis heute wenig Substanz hinzugedacht“ worden sei. 134 Gierke (N 92), S. 6. 132 133
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Freiheit, deren Auflösung er in einer Synthese versuchte. Danach konnten aus dem status des Einzelnen in der Gemeinschaft Rechtspositionen erwachsen, die diese dann auch respektieren mußte135. In seiner Genossenschaftstheorie hatte Gierke das Maß der persönlichen Freiheit als abhängig vom Zeitbewußtsein aufgefaßt136. Vor dem Hintergrund der Überlegungen Gierkes wird besonders deutlich, daß sich seit der Akzeptanz der allgemeinen Rechtsfähigkeit, also eines gleichen status für alle Menschen, Rücksichten auf den „Stand“ innerhalb der Gemeinschaft auch als Freiheitsgrenzen im Vertragsrecht auswirken können. Als Beispiel sei die Zustimmungsbedürftigkeit bestimmter Rechtsgeschäfte von im gesetzlichen Güterstand lebenden Eheleuten gemäß § 1365 BGB genannt. In der historischen Erfahrung mag man die Grenzen der Freiheit als zeitbedingt betrachten, aber der Zeitgeist taugt gewißlich nicht als rechtlicher Maßstab. Vielmehr ist ein normativer Begriff der Sittlichkeit erforderlich137. Das gilt nicht nur, weil die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gelehrt haben, daß der Zeitgeist auch ziemlich weit in menschliche und moralische Wüsteneien führen kann, sondern auch, weil die Rückbindung des Privatrechts an die Verfassung der Bundesrepublik den Wertekonsens des Grundgesetzes auch im Zivilrecht zur verbindlichen Norm gemacht hat138. Dieser Wertekonsens ist aber seiner Idee nach nur in sehr engen Grenzen Wandlungen unterworfen. Es steht außer Frage, daß das personale Menschenbild auch für das bürgerliche Recht Gültigkeit beEinzelheiten bei Repgen, Soziale Aufgabe (N 88), S. 62 ff. Gierke (N 133), S. 34; vgl. Hofer (N 75), S. 145. 137 Vgl. etwa RG, Urt. v. 26. 10. 1921, in: RGZ 103 (1922), S. 82 ff. (84), und Urt. v. 15. 12. 1933, in: RGZ 143 (1934), S. 24 ff. (31), die auf den billig und gerecht denkenden Teil des Volkes abstellen; Theo Mayer-Maly / Christian Armbrüster, in: MünchKomm BGB, § 138 Rn. 11 ff.; Rolf Sack, in: Staudinger’s Kommentar BGB, 2003, § 138 Rn. 20 ff.; Bezzenberger (N 85), S. 399, weist mit Recht darauf hin, daß es beim Schutz von Minderheiten nicht um gesamtgesellschaftliche Mehrheitsanschauungen gehen könne. 138 Zur Frage der Drittwirkung s. u. N 227. 135 136
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ansprucht139. Das Grundgesetz hat etwas aufgegriffen, was längst vorher auch im Privatrecht präsent war. Als Beleg möge hier ein Satz von Franz Philipp von Kübel, dem Redaktor des Schuldrechts im ersten Entwurf, dienen: „Der die Rechtsordnung zur Anerkennung der rechtsgestaltenden Kraft der Willenserklärung bestimmende Grund beruht in der Erkenntniß der Nothwendigkeit der Autonomie der Person im Privatrecht und der Vertragsfreiheit insbesondere im Verkehrsrecht und hat demgemäß die juristische Willenserklärung zu ihrem praktischen Zwecke, der Person die Möglichkeit zu gewähren, innerhalb gewisser Grenzen die von ihr gewollten Rechtsfolgen durch die Erklärung des Willens herbeizuführen, insbesondere also auch durch Vertrag sich beliebig zu verpflichten.“140
Es ist die Anerkennung der Personalität des Menschen, die die Vertragsfreiheit legitimiert. In der Personalität des Menschen liegt der tiefste Sinn des Privatrechts. Wer dahinter zurück möchte, muß dies offen tun. Er wird freilich weder Privatrecht noch Gerechtigkeit finden. Das gilt auch vor der Erfahrung der vielfältigen Versuche im 20. Jahrhundert, den Gleichheitssatz im Privatrecht zur unmittelbaren Geltung zu bringen141. Soweit aus dem Gleichheitssatz mehr als die 139 Vgl. im Überblick: Tilman Repgen, Sind Freiheit und Verantwortung im Privatrecht Vergangenheit?, in: Festschrift für Ernst-Joachim Lampe, 2003, S. 399 ff. Weniger zur prinzipiellen Seite als zu deren dogmatischen Konsequenzen Harry Westermann, Person und Persönlichkeit als Wert im Zivilrecht, 1957. 140 Franz Philipp von Kübel, Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Recht der Schuldverhältnisse (1882), in: Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches, Bd. II / 1: Recht der Schuldverhältnisse, Berlin / New York 1980, S. 125 ff. (136), und ähnlich auch S. 144. 141 Besonders deutlich Ludwig Raiser, Der Gleichheitsgrundsatz im Privatrecht, in: Zeitschrift für das Gesamte Handelsrecht 111 (1948), S. 75 ff., sowie ders., Vertragsfreiheit heute, in: JZ 1958, S. 1 ff. Aus jüngerer Zeit etwa Claus-Wilhelm Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, der aber keinen Zweifel daran läßt, daß die Bindung einer Vertragspartei an die Gebote der iustitia distributiva im Privatrecht eine Ausnahme von der Regel der Vertragsfreiheit sein müsse (S. 35). Als wesentliche Ausnahme akzeptiert Canaris neben den Monopolfällen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz.
5 Isensee (Hrsg.)
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Gleichheit vor dem Gesetz, privatrechtlich ausgedrückt: die allgemeine Rechtsfähigkeit, hergeleitet wird, begibt man sich in Konflikt mit dem Prinzip der Freiheit142. Teilhabegerechtigkeit im Privatrecht143 heißt Gleichberechtigung, nicht Gleichstellung. Letztere ist nur mit den Mitteln des öffentlichen Rechts möglich144. VIII. Gemeinschaftsrecht Das europäische Gemeinschaftsrecht hat ein ambivalentes Verhältnis zur Vertragsfreiheit. Von seiner Grundkonzeption her, die vor allem ökonomischen Zielen dient, ist die Vertragsfreiheit ein Wesenselement des europäischen Rechts145. Ein Binnenmarkt, auf dem keine Vertragsfreiheit herrscht, dürfte kaum funktionieren146. Und in der Tat ordnet sich auch das Verbraucherschutzrecht in weitem Umfang diesem Binnenmarktziel unter und dient der Vertragsfreiheit147. Uneinge142 Zu den unterschiedlichen Strategien zur Bewältigung dieses Konflikts s. u. N 160. 143 Sehr eingehend zum Problem der Teilhabegerechtigkeit, insbesondere einem „Grundrecht auf produktive Teilhabe“, Michael Köhler, Freiheitliches Rechtsprinzip und Teilhabegerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, in: Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit. Zur Aktualität der Rechtsphilosophie Kants für die Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, hg. v. Götz Landwehr, 1999, S. 103 ff. Wichtig zur Frage der Teilhabe auch Karl Heinz Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, 1986. 144 Symptomatisch etwa die Arbeit von Hans Hanau, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke privater Gestaltungsmacht. Zu Herleitung und Struktur einer Angemessenheitskontrolle von Verfassungs wegen, 2004, der mit dem im öffentlichen Recht entwickelten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz privatrechtlichen Gestaltungen zur Gerechtigkeit verhelfen möchte. 145 Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Remien (N 54), S. 34 ff., 147. 146 Vgl. Böhm (N 99), S. 98; zustimmend z. B. Remien (N 54), S. 19. 147 Ausführlich zum Verhältnis von Verbraucherschutz und Privatautonomie im Gemeinschaftsrecht Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie (N 41), S. 30 ff. m. weit. Nachw.; neuestens Caroline MellerHannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht. Private Freiheit und staatliche Ordnung, 2005.
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schränkt gilt das freilich nur für die Verbesserung der Phase der Willensbildung, die durch zahlreiche Informations- und Formvorschriften gewährleistet werden soll. Eingriffe in die Vertragsabwicklung und in das Sanktionensystem stehen häufig dem Privatrechtsgedanken entgegen. Dadurch wird mitunter einer Bevormundung Vorschub geleistet148. Die Antidiskriminierungsrichtlinien erkennen zwar verbal die Vertragsfreiheit als Rechtsgrundsatz an149, aber es ist nicht zu verkennen, daß das Gemeinschaftsrecht dennoch das vertragsfreiheitsfeindliche Antidiskriminierungsprogramm vorantreibt. IX. Die Principles of European Contract Law und der Zweck des Privatrechts Zum Abschluß dieses Überblicks lohnt noch eine kurze Untersuchung der Principles of European Contract Law150, da sie mindestens eine Vorahnung einer nicht unwahrscheinlichen europäischen Rechtsentwicklung erlauben. Es ist nicht sehr verwunderlich, daß die Principles jene Ambivalenz widerspiegeln, die auch auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts zu beobachten ist. Auffällig im Vergleich zu den nationalen Privatrechtsordnungen ist die plakative Festschreibung der Vertragsfreiheit als Grundsatz: „(1) Die Parteien sind frei, einen Vertrag zu schließen und seinen Inhalt zu bestimmen, vorbehaltlich der Gebote von Treu und Glauben und des redlichen Geschäftsverkehrs sowie der zwingenden Vorschriften, die durch die vorliegenden Grundregeln festgesetzt sind. 148 So bereits Hans Giger, Sinkende Attraktivität sozialer Denkstrukturen im Privatrecht. Besinnung auf den ordnungspolitischen Charakter des Rechts, in: Sozialismus. Ende einer Illusion. Zerfallserscheinungen im Lichte der Wissenschaften, hg. v. Hans Giger / Willy Linder, Zürich 1988, S. 387 ff. (413). 149 S. o. N 64. 150 Einzelheiten zur Entstehung der Principles bei: Ole Lando, Vorwort zu: Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts I und II, hg. v. Christian von Bar / Reinhard Zimmermann, 2002, S. XV ff.; zu Hintergründen und sonstigen Plänen für ein Europäisches Zivilgesetzbuch vgl. Remien (N 54), S. 68 ff., insbes. S. 91 ff.
5*
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Tilman Repgen (2) Die Parteien können die Anwendung jeder dieser Grundregeln ausschließen oder von ihnen abweichen oder ihre Wirkungen ändern, außer wenn in diesen Grundregeln etwas anderes bestimmt ist.“151
Sicherlich ist der Vorbehalt entgegenstehenden zwingenden Rechts legislatorisch vernünftig. Aber die Schwierigkeit wird deutlich in der Erläuterung von Art. 1:102 PECL, wo es heißt, auch die Wahl des Vertragspartners könne durch zwingende Vorschriften des nationalen Rechts eingeschränkt sein152. Da die Vertragsfreiheit trotz ihrer normativen Ausprägung in den Principles nicht an den Zweck des Privatrechts zurückgebunden wird, erscheint die Einschränkung durch zwingende Gesetzesvorschriften einigermaßen beliebig. Richtigerweise wird man nur verhältnismäßige Einschränkungen, die dem Zweck des Privatrechts nicht widersprechen, als zulässig ansehen dürfen. Der Zweck ist aber die Ermöglichung der freien Entfaltung der Persönlichkeit153. Das Privatrecht dient damit der Person. Der Eigenwert oder Selbstzweck der Person ist Bestandteil des Gerechtigkeitsideals der christlich-abendländischen Tradition154. Tiefster Grund für die Beachtung der Privatautonomie ist die Würde, die der Personalität des Menschen zukommt. Es gehört zur Natur des Menschen, einen gewissen Grad an Selbständigkeit anzustreben. Das ist zugleich 151 Art. 1:102 PECL; ebenso auch Art. 1.1 und 1.5 der UNIDROITPrinciples. Die PECL beruhen auf umfangreicher Rechtsvergleichung der Mitgliedsstaaten. Für Nachweise aus den nationalen Rechtsordnungen Deutschlands (Art. 2 Abs. 1 GG), Griechenlands, Dänemarks, Frankreichs, Belgiens, Luxemburgs, Italiens, Portugals, Spaniens, Österreichs und der Niederlande vgl. Anmerkung zu Art. 1:102, in: Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts I und II, hg. v. Christian von Bar / Reinhard Zimmermann, 2002, S. 93. 152 Kommentar zu Art. 1:102 Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, hg. v. Christian von Bar / Reinhard Zimmermann, 2002, S. 93. Die Grenzen des nationalen Rechts werden durch Art. 1:103 PECL einbezogen. 153 Vgl. Hallstein (N 8), S. 6, der von der „Anerkennung der menschlichen Persönlichkeit durch das Privatrecht“ spricht. 154 Heinrich Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 21967, S. 12 ff. Weiterführend mit zahlreichen Nachweisen Repgen (N 41), S. 70 ff.
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eine Aufgabe, die niemand einem anderen abnehmen kann155 – auch nicht der Staat, wie die gescheiterten Totalitarismen des 20. Jahrhunderts anschaulich lehren. Von hier aus bezieht das Privatrecht seine Rechtfertigung, seinen Sinn156.
C. Antidiskriminierung als Schranke der Privatautonomie? Hält man einen Augenblick inne und faßt den bisherigen Gedankengang zusammen, so stand an erster Stelle eine Inhaltsskizze des Antidiskriminierungsprogramms anhand der Richtlinien und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes mit der Feststellung, daß und auf welche Weise dieses Antidiskriminierungsprogramm in die Privatautonomie eingreift. Sodann hat zweitens ein geschichtlicher Rückblick vergegenwärtigt, daß die Privatautonomie in Gestalt der Vertragsfreiheit seit jeher als Prinzip des Privatrechts Gültigkeit beansprucht. Sie hat eine tragende Funktion für die Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen. In einem dritten Schritt ist nunmehr zu untersuchen, ob der Eingriff in die Privatautonomie durch das Antidiskriminierungsprogramm nur eine weitere Schranke der Privatautonomie ist, die wir hinzunehmen haben wie schon manche Schranken zuvor. Alle vorgetragenen Hinweise aus der Privatrechtsgeschichte bestätigen, daß die Privatautonomie nur im Rahmen der Rechtsordnung gewährt ist157. Der Konsens der Vertragspar155 Fritz von Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie. Beiträge zu einem Natürlichen System des privaten Verkehrsrechts und zur Erforschung der Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts, 1936, S. 79. 156 Mit den Worten von Hallstein (N 133), S. 553: „Was dem Privatrecht seine Rechtfertigung, seinen unermeßlichen sittlichen Rang, was ihm seine Unsterblichkeit verleiht, das ist die Verantwortung des Menschen für sein eigenes Leben.“ 157 Zum geltenden Recht Werner Flume, Allgemeiner Teil, Bd. II, S. 2; bestätigt von BVerfG, Beschluß vom 7. 2. 1990 (Handelsvertreter) (N 93), S. 254; vgl. auch Ernst Rudolf Huber, Bedeutungswandel der Grundrechte, in: AöR 62 (1933), S. 1 ff. (37 ff.); sehr deutlich auch Hallstein (N 8), S. 6:
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teien erlangt erst durch die Anerkennung seitens der Rechtsordnung Verbindlichkeit. Schon in den Institutionen Justinians heißt es: Et libertas quidem est, ex qua etiam liberi vocantur, naturalis facultas eius quod cuique facere libet, nisi si quid aut vi aut iure prohibetur.
Und die Freiheit, libertas, nach der man auch von freien Menschen, liberi, spricht, ist die natürliche Fähigkeit, das zu tun, was einem jeden zu tun beliebt, sofern es nicht durch Gewalt oder das Recht verhindert wird158.
Ist die Rechtsordnung aber darin frei, wo die Grenzen zu ziehen sind? Kann sie bei einer Diskriminierung dem Vertrag die Anerkennung verweigern oder sonstige den Willen beschränkende Sanktionen anordnen?
I. Vier Strategien der Begrenzung der Privatautonomie Es geht also um die Auslotung der Schranken und Schrankenschranken der Privatautonomie. Man kann im wesentlichen vier Konzepte159 der Begrenzung der Freiheit im Privatrecht unterscheiden160: „[ . . . ] sehen wir uns diese Freiheit näher an: nirgends ist sie Freiheit vom Recht, überall ist sie nur Freiheit im Recht“. Rechtsvergleichend: Karl Hackl, Vertragsfreiheit und Kontrahierungszwang im deutschen, im österreichischen und im italienischen Recht. Eine rechtsvergleichende Studie zum Privat- und Wirtschaftsrecht, 1980. 158 Inst. 1.3.1, Übersetzung bei Behrends / Knütel / Kupisch / Seiler (N 108), Bd. I, 21997, S. 6, Hervorhebungen von mir. 159 Bester Überblick dazu: Rückert (N 89), Vor § 1: Das BGB und seine Prinzipien, Rn. 87 ff. Das folgende in Anlehnung an Rückert. 160 Zu den Freiheitsgrenzen im 19. Jahrhundert vgl. die gründliche Analyse von Hofer (N 75); Carl Friedrich Wilhelm von Gerber z. B. sah als leitendes Prinzip die „Anerkennung der freien Möglichkeit individueller Willensbestimmung in Bezug auf die rechtliche Beherrschung der Dinge“ (System des Deutschen Privatrechts, 61858, S. 4); hier bleiben die Freiheitsgrenzen offen. Anders Paul Achatius Pfizer, der die verfahrensmäßige Absicherung der Freiheitsbeschränkungen durch einen Verfas-
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(1) Freiheit wird heute erstens durch das Prinzip der Gleichheit begrenzt. Jedem Rechtssubjekt, jeder Person wird die gleiche rechtliche Freiheit eingeräumt. Das BGB ist ganz und gar auf dieser Überlegung aufgebaut. Von einer einseitigen Bevorzugung der Interessen etwa nur der Bürger gegenüber nichtbesitzenden Bevölkerungsklassen konnte und kann nicht die Rede sein. (2) Zweitens gibt es objektive Grenzen wie die angesprochenen Sittenverstöße – übrigens in allen westlichen Gesellschaften161 – insbesondere §§ 138162 und 826 BGB. (3) Drittens sind eine Reihe von Schutznormen zu nennen, die bestimmten Personen oder Personengruppen dienen. Z. B. die Vorschriften des AGB-Rechts oder – um ein deutlicheres Beispiel zu wählen – das richterliche Moderationsrecht in § 343 BGB. Auch ist an die bürgerlich-rechtlichen Formvorschriften zu denken, die zum Beispiel den Grundstückskaufvertrag der notariellen Beurkundung unterwerfen (§ 311b Abs. 1 BGB)163. Ebenfalls zählen die §§ 2303 ff. BGB über das Pflichtteilsrecht der Abkömmlinge hierher. Sie begrenzen die Testierfreiheit. (4) Weniger analysiert ist bislang die Möglichkeit, die Grenzen aus dem Prinzip der Freiheit selbst abzuleiten, also im Konfliktfall auf Lösungen zu setzen, die dem Prinzip der Freiheit möglichst entsprechen164. Zu denken ist etwa an sungsstaat als ausreichend betrachtete, somit im Grunde jede beliebige Beschränkung rechtfertigen konnte. Schmid ließ eine Beschränkung der Freiheit aus politischen und volkswirtschaftlichen Gründen zu. Bornemann dachte an eine Begrenzung durch christliche Gebote, vgl. Hofer, a. a. O., S. 47 f. 161 Überblick bei Hein Kötz, Die Ungültigkeit von Verträgen wegen Gesetz- und Sittenwidrigkeit. Eine rechtsvergleichende Studie, in: RabelsZ 58 (1994), S. 209 ff. 162 Zum Inhalt der guten Sitten vgl. den souveränen Überblick von Hans-Peter Haferkamp, in: HKK-BGB, § 138 Rn. 1 ff. 163 Dabei ist die Form jedoch nicht einfach als eine Einschränkung der Vertragsfreiheit, sondern manchmal auch als deren Voraussetzung zu begreifen, vgl. Rudolf Meyer-Pritzl, in: HKK-BGB, §§ 125 ff. Rn. 2 f.
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die Bevorzugung von Eigeninitiative gegenüber staatlicher Intervention. Ein anschauliches Beispiel ist das Wohngeld, das solchen Mietern gezahlt wird, die aus eigener Kraft die Wohnung nicht finanzieren können – anstelle staatlicher Zuweisung von Wohnraum165. Solche Lösungen treten mehr und mehr vor allem auf dem Gebiet der sozialen Sicherungssysteme und des Arbeitsmarktes in unser Bewußtsein, sind aber ursprünglich im Privatrechtsgedanken verankert. Im 19. Jahrhundert wurde die Freiheit in Verbindung mit Gleichheit Leitprinzip des Privatrechts. „Mehr Freiheit sollte auch mehr Gleichheit bringen“166 – nicht als Gegensatz, sondern die Einschränkungen sollten vom Prinzip selbst hergeleitet sein. Sie sollten zur Emanzipation verhelfen, nicht bevormunden167. Ganz anders agieren die Antidiskriminierungsprogramme. Sie konstruieren keine Anreize zur Einbeziehung diskriminierter Personen im Sinne echter Teilhabe, sondern fördern allenfalls Verstellung und Bevormundung. Geeignete Anreizsysteme zur Einbeziehung diskriminierter Personen, wie sie auf dem Gebiet der Wohnungsversorgung etwa in der Möglichkeit der Unterstützung durch Wohngeldzahlung 164 Insbesondere dazu: Rückert (N 159), Rn. 88, 103; die Idee ist freilich älter. Sie begegnet z. B. in den Beratungen des BGB, vgl. Repgen, Soziale Aufgabe (N 88), insbes. S. 83 ff., 502 ff. Sehr deutlich auch Hallstein (N 8), S. 5 u. 7, wo er das Subsidiaritätsprinzip geltend macht. Die Aufgabe des Privatrechts, so führte er aus, sei nicht weniger sozial als die des öffentlichen Rechts. Der Unterschied bestehe in den Mitteln. Das Heil sei nicht vom Staate zu erwarten. Ferner Hans Giger, Sinkende Attraktivität sozialer Denkstrukturen im Privatrecht. Besinnung auf den ordnungspolitischen Charakter des Rechts, in: Sozialismus. Ende einer Illusion. Zerfallserscheinungen im Lichte der Wissenschaften, hg. v. Hans Giger / Willy Linder, Zürich 1988, S. 387 ff. (413): „Es sind mithin nur Einschränkungen möglich, die letztlich der Garantierung der Freiheit selbst dienen. Dabei muß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stets Berücksichtigung finden. Wo dies nicht geschieht, fehlt die Systemverträglichkeit solcher Eingriffe.“ 165 Rückert (N 89), Vor § 1 Rn. 103. 166 Rückert (N 89), Vor § 1 Rn. 117. – Zu den Auswirkungen des menschenrechtlichen Gleichheitssatzes s. u. N 227. 167 Rückert (N 89), Vor § 1 Rn. 117. – Konkretes Beispiel dazu sogleich bei N 170.
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existieren, gehören freilich dem öffentlich-rechtlichen Regelungsgebiet an168. II. Freiheitsbegrenzung im Bürgerlichen Gesetzbuch Das Bürgerliche Gesetzbuch bedient sich all dieser Methoden der Begrenzung von Freiheit. Es gibt durchaus objektive Grenzen, wie in § 138 BGB die guten Sitten, es gibt aber auch freiheitserhaltende Lösungen wie zum Beispiel bei der Irrtumsanfechtung, die eben dem Willensfehler nicht die Nichtigkeitsfolge anheftet, sondern der betroffenen Vertragspartei die freie Wahl über die Anfechtung einräumt. Im Recht der Erfüllung gibt es einen alten Streit über die Frage, ob neben der realen Leistungsbewirkung auch ein Willensmoment erforderlich ist. Wortlaut und Systematik des BGB lassen verschiedene Deutungen zu. Hilfreich erscheint allein eine Besinnung auf das Prinzip der Privatautonomie, das ein voluntatives Element sinnvoll sein läßt169. Ein letztes Beispiel aus dem materiellen bürgerlichen Recht: Der Vermieter einer Wohnung hat durch das Vermieterpfandrecht eine gegenüber anderen Gläubigern des Mieters begünstigte Rechtsstellung. Diese Position wuchs sich im 19. Jahrhundert infolge der Wohnungsfrage zu einer echten Abhängigkeit aus. Das BGB hat die Situation des Mieters durch eine Begrenzung des Vermieterpfandrechts – insbesondere durch die Herausnahme unpfändbarer Gegenstände aus der Sicherungsmasse – zu einer „Emanzipation“ der Mieter beigetragen. Es ging hier dem Gesetzgeber um die Eröffnung rechtsgeschäftlicher Bewegungsfreiheit für die Wohnungsmieter170. 168 Die Ansätze, Diskriminierungsschutz aus dem Sozialstaatsgedanken zu begründen (z. B. Neuner, Diskriminierungsschutz [N 17], S. 57 ff.), nehmen das Privatrecht für eine ihm (bisher) fremde Aufgabe in Anspruch. 169 Ausführlicher dazu Repgen (N 35), §§ 362 ff. Rn. 53 ff. [erscheint in Kürze]. 170 Einzelheiten dazu bei Repgen, Soziale Aufgabe (N 88), S. 250 ff.; außerdem ders., Das Vermieterpfandrecht im Kaiserreich, in: Das Bürger-
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Die Begrenzung der privatrechtlichen Freiheit geschieht im übrigen auch nicht allein innerhalb des BGB. Vor allem das feinsinnige Instrumentarium des Zwangsvollstreckungsrechts modifiziert oder begrenzt die privatautonomen Regelungen im Interesse des Schuldners und der Allgemeinheit. Diese Aufgabe hat das Zwangsvollstreckungsrecht erst im Laufe des 18. und dann deutlicher des 19. Jahrhunderts vom materiellen Recht übernommen, das bis dahin noch eine wesentlich größere Fülle von Einschränkungen kannte. Die Notwendigkeit dazu ergab sich aus der veränderten Vertragsdoktrin, die nicht mehr beinahe ausschließlich Geldleistungen einklagbar sein ließ, sondern im Prinzip jeden Vertrag mit präziser Erfüllungspflicht ausstattete171. Schon Friedrich der Große betonte: „Der gerechte Mittelweg ergibt sich, wenn man zwar die Gültigkeit der Verträge aufrechterhält, aber die zahlungsunfähigen Schuldner nicht zu sehr drückt: das scheint mir in der Rechtspflege der Stein der Weisen“172.
III. Antidiskriminierung – eine objektive Schranke? Es ist immerhin denkbar, daß die Antidiskriminierung nur eine weitere objektive Schranke im System des Privatrechts liche Gesetzbuch und seine Richter. Zur Reaktion der Rechtsprechung auf die Kodifikation des deutschen Privatrechts (1896–1914), hg. v. Ulrich Falk / Heinz Mohnhaupt, 2000, S. 231 ff.; zur Wohnungsfrage auch ders., Die Reaktion der Rechtsprechung auf die Wohnungsfrage im 19. Jahrhundert, in: Mit den Augen der Rechtsgeschichte. Rechtsfälle (selbst)kritisch kommentiert, hg. v. Michele Luminati [erscheint 2007]. 171 Zum ganzen Repgen (N 35), §§ 362 ff. Rn. 5 ff. [erscheint 2007]; zu den Hintergründen Tilman Repgen, Vertragstreue und Erfüllungszwang in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft, 1994. 172 Friedrich der Große, Dissertation sur le raisons d’établir ou d’abroger les lois, in: Œvres de Frédéric le Grand, Bd. IX, 1848, S. 24: „Ce juste milieu qui, en maintenant la validité des contrats, n’opprime pas les débiteurs insolvables, me paraît la pierre philosophale de la jurisprudence“; zum Zusammenhang bei Friedrich vgl. Jiro Rei Yashiki, Die soziale Funktion des Gesetzbuches und des Juristen in den Rechtsvorstellungen Friedrichs des Großen (1), in: Hitotsubashi Journal of Law and Politics 28 (2000), S. 33 ff. (41).
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darstellt173. Das wäre allerdings nur zulässig, wenn diese Einschränkung nicht ihrerseits an einer Schrankenschranke scheiterte. Es genügt daher nicht, daß jeder nur gleiche Freiheit besitzt, diese Freiheit aber gleichmäßig durch jeden beliebigen gesellschaftlichen Zweck eingeschränkt werden könnte174. Jeder muß vielmehr auch möglichst viel Freiheit erlangen, weil man nur so dem personalen Zweck des Privatrechts gerecht werden kann, der in der Entfaltung der Persönlichkeit liegt175. Selbstverständliches Ziel jeder Rechtsordnung ist die Gerechtigkeit176. Vor dem Hintergrund der Privatrechtstradition wäre freilich auch zu überlegen, ob nicht denjenigen, der die Freiheit einschränken möchte, eine regelrechte Begründungslast trifft. Diese Last auf den überwälzen zu wollen, der diskriminiert, besteht kein Anlaß177. Die Geschichte deutet eher auf den 173 Mahlmann (N 17), S. 419, hält das sogar für zweifellos, geht aber von der fehlerhaften Prämisse aus, es gehe bei der Antidiskriminierung um normative Gleichheit. In Frage steht aber in der gesamten Debatte, ob das Privatrecht der verordneten Gleichstellung benachteiligter Gruppen dienen kann. 174 So etwas mißverständlich aber Paul Achatius Pfizer, Gedanken über Recht, Staat und Kirche, Teil 1, 1842, S. 336. Man müßte – was Hofer nicht tut – betonen, daß zugleich ausgedehnteste Freiheit verlangt wird. Vgl. Hofer (N 75), S. 30 f. 175 Skeptisch allerdings Rückert (N 89), Vor § 1 BGB Rn. 109: „Das BGB kennt einen solchen Personalismus nicht, auch nicht als ethischen.“ 176 Adolf Gröber, Die Bedeutung des Bürgerlichen Gesetzbuches für den Arbeiterstand, 1897, S. 37: „[ . . . ] die Sätze des menschlichen Gesetzes müssen dienen der göttlichen Gerechtigkeit.“ Ähnlich Rudolf von Jhering, Recht und Sitte, o. J., S. 131: „Es gibt in meinen Augen keinen verhängnisvolleren Irrtum, als daß der Vertrag als solcher, sofern sein Inhalt nur nicht gesetzwidrig oder unmoralisch sei, einen gerechtfertigten Anspruch auf den Schutz des Gesetzes habe [ . . . ] Das Interesse der Gesellschaft [ . . . ] geht auf das, was nicht bloß dem Einzelnen, sondern was allen paßt, bei dem alle bestehen können, und das ist [ . . . ] nichts anderes als die Gerechtigkeit. Sie steht über der Freiheit.“ (Hervorhebungen im Original). Die scheinbar demokratische Rückkoppelung der Freiheit bei Jhering ist gewiß problematisch, aber richtig erscheint doch, daß Freiheit allein kein Selbstzweck ist. Zu fragen ist immer: Freiheit wozu? 177 Das entspräche höchstens der belgischen Verfassungstradition, die den Gleichheitssatz zum Ausgangspunkt der Rechtfertigung macht, vgl.
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Grundsatz „in dubio pro libertate“. Dieser Ansatz soll hier aber nicht weiterverfolgt werden, um nicht bloß zu einer „Beweislastentscheidung“ zu gelangen. Es kann hier aber auch nicht darum gehen, eine allgemeine und umfassende Theorie der zulässigen Begrenzung der Freiheit im Privatrecht zu entwickeln. Notwendig und ausreichend ist es vielmehr, das Antidiskriminierungsprogramm der Richtlinien und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes als unzulässige Beschränkung der Freiheit zu erweisen. Das ist der Fall, wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt ist. IV. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Schrankenschranke Eine europaweit anerkannte Schrankenschranke für die Eingriffe in Freiheitsrechte wie die Privatautonomie ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Er verlangt, daß der verfolgte Zweck und das vorgesehene Mittel erlaubt sind sowie, daß der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Zwecks geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne, also angemessen und zumutbar ist178. Das gilt übrigens auch auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts179. Juliane Kokott, Grundrechtliche Schranken und Schrankenschranken, in: Detlev Merten / Hans-Jürgen Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa (= HGR), Bd. I, 2004, § 22 Rn. 107. 178 Vgl. dazu nur Hans Hugo Klein, Grundrechte am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: HGR, Bd. I, 2004, § 6 Rn. 59 ff., sowie Kokott (N 177), § 22 Rn. 98 ff. A. a. O., Rn. 99, auch der Nachweis der Gültigkeit dieses Grundsatzes für das europäische Gemeinschaftsrecht. – Die Anwendung sowohl auf Freiheits- wie auf den Gleichheitsgrundsatz scheint sich mehr und mehr durchzusetzen. Kokott befürwortet sie (Rn. 109). Offen bleibt dabei allerdings die Verteilung der Begründungslast im Konflikt von Freiheits- und Gleichheitsgrundsatz. 179 EuGHE 1989, 2609 Rn. 18 – Wachauf; 2000, I-2737 Rn. 45 – Karlsson formuliert, daß Grundrechtseinschränkungen „dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen“ müssen und nicht unverhältnismäßig sein dürfen. Dazu Dirk Ehlers, in: ders. (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003, § 13 Rn. 42 ff.; Wernsmann (N 21), S. 232; Picker (N 14), S. 104. Im übrigen vgl. die Nachweise in N 178.
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1. Die Ziele des Antidiskriminierungsprogramms Mit dem Antidiskriminierungsprogramm verfolgt man das Ziel, Diskriminierungen zu unterbinden, bei näherer Betrachtung eine gewisse Volkserziehung (a)180. Im Geschäftsverkehr soll sich niemand an den Diskriminierungsmerkmalen orientieren181. Sehr freimütig heißt es in der Begründung zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz: „Die Richtlinien sollen die gesellschaftliche Wirklichkeit in den Mitgliedstaaten verändern, d. h. sie sollen Diskriminierungen nicht nur verbieten, sondern wirksam beseitigen. Auch deshalb enthalten die Richtlinien neben materiell-rechtlichen und prozessualen Vorgaben zusätzlich Vorschriften zum sozialen Dialog, zur Unterstützung durch Verbände und zur Benennung von Unterstützungseinrichtungen“182.
Und wenig später liest man in der Begründung, das geltende Recht biete zwar schon jetzt – unter Einschluß des Zivilrechts – Schutz gegen Diskriminierung, dieser werde aber zu wenig genutzt183. 180 Auch erklärte Verfechter der Antidiskriminierung sprechen von einer „ethisch motivierten Gesetzgebung“, vgl. Schiek (N 17), S. 874. Nun ist es keineswegs verwerflich, wenn der Gesetzgeber sich von ethischen Motiven leiten läßt. Allerdings ist das Privatrecht in nur sehr geringem Umfang ein geeignetes Instrument der Ordnungspolitik. 181 Besonders deutlich wird die sozialpädagogische Absicht bei der in Deutschland erwogenen Verbandsklage, die aus eigenem Antrieb bei Diskriminierungsverdacht zulässig wäre. Vgl. Picker (N 14), S. 23 f. In den Richtlinien wird die sozialpädagogische Absicht weniger deutlich. Immerhin benennt etwa Erwägungsgrund 5 Richtlinie 2004 / 113 / EG (vierte GleichstellungsRL) die Gleichstellung von Mann und Frau als eine Hauptaufgabe der Gemeinschaft. 182 Regierungsbegründung zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, BT-Drucks. 16 / 1780, S. 21. Wortgleich bereits der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien vom 16. 12. 2004, in: BT-Drs. 15 / 4538, S. 18. Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend verteidigte im Juli 2005 den Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes u. a. damit, es gehe darum, „das Gleichheitsgebot [ . . . ] auch zwischen Bürgern und Bürgerinnen endlich gesetzlich abzusichern“, vgl. Protokoll der 813. Sitzung des Bundesrats vom 8. 7. 2005, S. 277 (C). Vgl. auch den pädagogischen Impetus in Erwägungsgrund 12 Richtlinie 2000 / 43 / EG (s. u. N 187).
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Selbstverständlich haben Gesetze Bewußtseinsbildung zum Ziel, auch privatrechtliche Gesetze. Volkserziehung durch den Gesetzgeber steht seit der Aufklärung in guter Tradition. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden184. Sie muß, sofern sie überhaupt verfassungskonformen Zielen dient, allerdings mit geeigneten Mitteln betrieben werden, was hier nicht der Fall ist. Problematisch erscheint darüber hinaus die antifreiheitliche Zielrichtung dieser Volkserziehung. Sie kommt insbesondere auch darin zum Ausdruck, daß die Richtlinien vorschreiben, der Gesetzgeber müsse Verbänden und sonstigen Organisationen Möglichkeiten einräumen, entweder selbst die Einhaltung der Antidiskriminierungsvorschriften im Wege der Verbandsklage geltend zu machen – also ohne eigene Betroffenheit – oder aber mindestens zur Unterstützung diskriminierter Personen tätig zu werden185. Letzteres ist im Rahmen unseres Vereinsrechts unabhängig von einer gesetzlichen Regelung möglich. Ein Verbandsklagerecht würde jedoch geradezu eine Überwachungsmentalität hervorrufen, auf deren Überwindung unsere Gesellschaft in der Vergangenheit einigen Wert gelegt hat. Der Aspekt der Volkserziehung kommt schließlich in den Antidiskriminierungsstellen zum Ausdruck, die die Richtlinien nach dem Vorbild angloamerikanischer „commissions“ fordern186. Weiterhin geht es dem Richtliniengeber um eine in seinen Augen gerechtere Güterverteilung (b) zugunsten diskriminierter Personen. So heißt es in einer der Richtlinien, es gehe bei der Bekämpfung von Diskriminierungen um die Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften, die allen Men183 BT-Drs. 16 / 1780, S. 22 f., ebenso schon früher zum gescheiterten Antidiskriminierungsgesetz BT-Drs. 15 / 4538, S. 19 f. 184 Anders jedoch Picker (N 14), S. 24 ff. 185 Vgl. Art. 7 II Richtlinie 2000 / 43 / EG. 186 Art. 13 Richtlinie 2000 / 43 / EG; vgl. in Großbritannien die „Commission for Racial Equality (CRE)“, die die Einhaltung des Race Relations Act von 1976 überwacht, Musterprozesse führt und politische Berichte erstattet. In den USA arbeitet ähnlich die „Equal Employment Opportunity Commission (EEOC)“.
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schen Teilhabe ermöglichen187. Im Umkehrschluß heißt das, daß nach Meinung des Richtliniengebers bisher die Verteilung der Güter infolge Diskriminierung ungerecht ist. Schließlich – das zeigt insbesondere der Tatbestand der Belästigung – geht es dem Richtliniengeber um den Schutz der Personwürde (c) der Betroffenen. 2. Überprüfung der Verhältnismäßigkeit bezüglich der Zielsetzungen Überprüft man die angeordneten Maßnahmen, so ist hinsichtlich der beiden Ziele Volkserziehung und Güterverteilung die Eignung der Maßnahmen zu verneinen188, hinsichtlich des Schutzes der Personwürde die Erforderlichkeit. Das Antidiskriminierungsprogramm verstößt daher gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. a) Volkserziehung – Antidiskriminierung kein geeignetes Mittel Die Volkserziehung zu nicht diskriminierenden Verhaltensweisen muß scheitern, weil die angeordnete Beweislastumkehr es für diejenigen, die Verträge schließen, nötig macht, ihre Beweggründe möglichst im dunkeln zu lassen189. Differenzie187 Erwägungsgrund 12 Richtlinie 2000 / 43 / EG: „Um die Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften zu gewährleisten, die allen Menschen – ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – eine Teilhabe ermöglichen, sollten spezifische Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft über die Gewährleistung des Zugangs zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit hinausgehen und auch Aspekte wie Bildung, Sozialschutz, einschließlich sozialer Sicherheit und der Gesundheitsdienste, soziale Vergünstigungen, Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, mit abdecken.“ 188 Ebenso insbesondere Picker (N 14), S. 100 ff., der diese Aspekte ausführlich und zutreffend begründet hat. 189 Vgl. auch Picker (N 14), S. 56 f.
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rung wird also versteckt betrieben werden, auch soweit sie nicht mit Mißachtung verknüpft ist. Es ist daher die Eignung der gewählten Maßnahme zu verneinen, denn der hypothetische künftige Zustand entspricht nicht demjenigen, der das Ziel ist. Über die Notwendigkeit der Maßnahme (von mehreren geeigneten Mitteln wird das schonendste gewählt) braucht also nicht mehr weiter nachgedacht zu werden. Im übrigen träfen die Sanktionen auch oftmals den Falschen. Es kann z. B. durchaus sein, daß ein Vermieter „diskriminiert“, weil die anderen Mieter das verlangen190. Völlig offen bleibt – wenigstens außerhalb des Bereichs des Arbeitsrechts –, ob überhaupt ein tatsächliches Bedürfnis für privatrechtliche Antidiskriminierung besteht. Die Kommission hat das Schutzbedürfnis insofern nicht dargelegt191. b) Gerechtere Güterverteilung – Antidiskriminierung kein geeignetes Mittel Das zweite erklärte Ziel ist die Herstellung einer gerechteren Güterverteilung. Es entspricht der Menschheitserfahrung, daß vor allem wirtschaftliche Freiheit zur Mehrung des Wohlstandes förderlich ist192. Das ist auch der tiefere Sinn der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes. Auch hier verfehlt Zwang auf einzelne Marktanbieter sein Ziel, weil die ökonomisch sinnvolle Reaktion die Abwendung von dem proPicker (N 14), S. 75 ff. Vgl. Riesenhuber / Franck (N 16), S. 537 f.; symptomatisch etwa die Ausführungen von Nickel, Gleichheit (N 17), S. 73 ff., insbesondere S. 81 ff., der auf eine Reihe von Einzelfällen hinweist, ohne daß sich daraus wirklich Rückschlüsse auf die Häufigkeit des Problems ablesen lassen. Auch die Regierungsbegründung läßt außerhalb des Bereichs der Beschäftigung empirische Belege für die Antidiskriminierung vermissen und verweist nebulös auf „Untersuchungen“ und „Vorurteilsstudien“, ohne hierzu nähere Angaben, geschweige denn Argumente vorzutragen (BTDrs. 16 / 1780, S. 23 f.), vgl. auch oben N 17. – Zu betonen ist, daß das Privatrecht persönlichkeitsrechtsverletzende Diskriminierungen auch bisher nicht duldet! Siehe dazu ausführlicher unten bei N 199. 192 Picker (N 14), S. 48 ff. 190 191
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blematischen Markt ist193. Es ist daher die Geeignetheit der gesetzgeberischen Maßnahme zu verneinen, weil der hypothetische künftige Zustand nicht mit dem Ziel verbesserter Güterverteilung korreliert. Man wird zum Beispiel noch weniger als bisher geneigt sein, Geld in Mietshäuser zu investieren, wenn man nicht nur mit den Schwierigkeiten des Kündigungsschutzes kämpfen muß, sondern auch noch mit den „Folterinstrumenten“ der Antidiskriminierungsverfechter bedroht wird. Ähnliches gilt auch für Arbeitgeber. Das Angebot wird kleiner. Die zur Verteilung anstehenden Güter werden mithin knapper und es gibt auch für die Diskriminierten weniger Prosperität, ja die Chancen zur Marktteilnahme sinken, weil der Markt noch enger wird194. Im übrigen wäre eine Inanspruchnahme allein der Vermieter zur Verschaffung von Wohnraum für „Diskriminierte“ wegen des Charakters eines Sonderopfers verfassungsrechtlich kaum haltbar, weil die besonderen Voraussetzungen für ein Sonderopfer nicht erfüllt sind; es fehlt insbesondere die nötige Sachnähe195.
193 Ausführlich Picker (N 14), S. 61, 70 ff. (Bsp. eines Vermieters eines großen Mietshauses) und passim; in diesem Sinne auch zum Beispiel Globig (N 16), S. 530. 194 Auch dies bei Picker (N 14), S. 100 und passim. – Die Auferlegung von besonderen Schutzpflichten zugunsten potentiell diskriminierter Personenkreise, wie sie etwa Art. 7 II Richtlinie 2000 / 78 / EG zugunsten Behinderter vorsieht, ist für das Privatrecht systemfremd. Es handelt sich insoweit um eine Aufgabe des Sozialrechts. Anders offenbar Neuner, Diskriminierungsschutz (N 17), S. 65. 195 BVerfG, Urt. v. 10. 12. 1980 – 2 BvF 3 / 77, in: BVerfGE 55 (1981), S. 274 ff. (274), und Beschluß v. 8. 4. 1987 – 2 BvR 909 / 82 u. a., in: BVerfGE 75 (1988), 108 ff. (157), verlangen „Sachnähe“ für ein Sonderopfer. BVerfG, Beschluß v. 18. 11. 2003 – 1 BvR 302 / 96, in: NJW 2004, S. 146 ff. (149), hat Versorgungsaufgaben im Grundsatz dem Staat zugeschoben. Picker (N 14), S. 97, schlägt als Ausweg „Kompensation“ von Nachteilen am Markt vor – eine unbedingt vorzugswürdige Methode (wie beim Wohngeld), da sie freiheitsfördernd ist. Die staatlichen Maßnahmen müssen dabei nicht unbedingt aus Steuermitteln gedeckt werden. Zu den denkbaren Mechanismen vgl. Köhler (N 141), S. 117 ff., insbesondere S. 120 f.
6 Isensee (Hrsg.)
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c) Schutz der Personwürde – Die (Un-)Notwendigkeit eines Antidiskriminierungsprogramms oder die bisherige Reaktion auf Diskriminierungen Schließlich zum Schutz der Personwürde: Der Begriff „Diskriminierung“ umfaßt sehr unterschiedliche Verhaltensweisen. Auswahl, Unterscheidung ist im menschlichen Leben dauernd gefordert, wie oben bereits gezeigt worden ist196. Es wäre auch grotesk, wenn man zum Beispiel bei der Auswahl des Ehepartners nur ausnahmsweise von dem Diskriminierungsverbot wegen des Geschlechts absehen dürfte. Das aber läge durchaus in der Konsequenz des Antidiskriminierungsprogramms, das diesen Anwendungsfall nur dadurch umgeht, daß es die Diskriminierung auf die Fälle des öffentlichen Angebots beschränkt. Das Merkmal der Diskriminierung ist zwar eigentlich erfüllt, aber es wird nicht sanktionsbewehrt. Ein Ausschluß von Teilhabe ist eine „negative“ Diskriminierung, wenn der Modus der Auswahl eine Herabsetzung der betroffenen Person bedeutet. Ob das der Fall ist, hängt ganz und gar von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab und ist gesetzgeberisch bislang generalklauselartig geregelt worden. Krasse Beispiele negativer Diskriminierung bietet die Geschichte vieler Länder dieser Erde197. Aus unserem Land sei an die Zurückweisung von Juden aus öffentlich zugänglichen Geschäften, Theatern usw. in den Jahren nach 1933 erinnert. Das Privatrecht198 schützt gegen eine solche Herabsetzung durch das Rechtsinstitut der Sittenwidrigkeit. Sittenwidriges Verhalten kann die Nichtigkeit benachteiligender Vertragsklauseln, Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche Zum Begriffsverständnis s. o. N 41. Auch in Deutschland soll es eine signifikante Benachteiligung ausländischer Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt geben, vgl. Nickel, Handlungsaufträge (N 17), S. 2669. Für weitere Nachweise s. o. N 17. 198 Daneben stehen der strafrechtliche Schutz sowie auch die Mittel des Polizei- und Ordnungsrechts. Daß diese Vorkehrungen der Rechtsordnung im Nationalsozialismus de facto keinen wirksamen Schutz boten, liegt nicht daran, daß entsprechende Regeln gefehlt hätten, sondern daran, daß diese Regeln nicht oder nicht lege artis angewendet worden sind. 196 197
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auslösen199. Damit wird dem allein berechtigten Anliegen des Diskriminierungsschutzes im Sinne des Schutzes des Persönlichkeitsrechts im Privatrecht bereits Rechnung getragen200. Die Regeln des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes mögen zwar zum Schutz der Personwürde eventuell geeignet sein, aber es fehlt ihnen die Erforderlichkeit. Sie sind daher unverhältnismäßig. Die von den Richtlinien geforderte Schadensersatzsanktion enthält das geltende Recht bereits, da aus § 823 I BGB und u. U. auch aus § 826 BGB wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Schadensersatz verlangt werden kann201. Obgleich über Einzelfragen des Persönlichkeitsrechtsschutzes Streit herrscht, besteht doch Einigkeit darüber, daß das Persönlichkeitsrecht auch deliktisch geschützt ist. Zu entscheiden ist selbstverständlich, wann man eine Diskriminierung als herabsetzend betrachten muß. Bezzenberger hat 199 Die Möglichkeit des Schadensersatzanspruchs (aus §§ 823 Abs. 1 sowie 826 BGB) für Persönlichkeitsrechtverletzungen übersieht Wernsmann (N 21), S. 231, der daher zu Unrecht das Besondere an dem Eingriff in die Privatautonomie in den Richtlinien darin sieht, daß hier Sanktionen an das Nichtzustandekommen eines Vertrags geknüpft werden. Wichtig ist insbesondere der Schadensersatzanspruch aus § 823 I BGB wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung, vgl. Johannes Hager, in: Staudinger’s Kommentar BGB, 1999, § 823 Rn. 239; Karl Larenz / Claus Wilhelm Canaris, Schuldrecht II / 2, Besonderer Teil, 131994, § 80 II 2 d), S. 501; Claus Wilhelm Canaris, Grundrechte und Privatrecht, in: AcP 184 (1984), S. 201 ff. (243). 200 So insbesondere auch schon v. Koppenfels (N 9), S. 1489 ff. (1492 ff.). Ausreichenden Diskriminierungsschutz im geltenden Recht konstatiert auch Neuner, Diskriminierungsschutz (N 17), S. 61: „Hinsichtlich des Schutzes vor diskriminierenden Übergriffen wird diesem Erfordernis [ . . . ] durch [ . . . ] § 823 Abs. 1 BGB dem Grunde nach Rechnung getragen. [ . . . ] Abschlusspflichten [sind] von Verfassungs wegen nur geboten, wenn jener existentielle Persönlichkeitsbezug vorliegt.“ Bezzenberger (N 85), S. 434: „Diese Ergebnisse zeigen, daß die hergebrachten Regeln des bürgerlichen Rechts vor Diskriminierung schützen können.“ Ähnlich auch im Ergebnis Franzen (N 54), S. 68 ff. – Anders, ohne Begründung, etwa Montag (N 17), S. 19. 201 Vgl. z. B. Johannes Hager, in: Staudinger’s Kommentar BGB, 1999, § 823 Rn. 239; Larenz / Canaris (N 199), § 80 II 2 d), S. 501; Canaris (N 199), S. 243.
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als Maßstab eine negative Formulierung des kategorischen Imperativs vorgeschlagen: „Sittenwidrig ist demnach eine Ungleichbehandlung, welche die Bedingungen für die Möglichkeit von Menschenwürde notwendig und erkennbar zerstören würde, wenn sie zur allgemeinen Regel erhoben wäre.“202
Daraus folgert Bezzenberger zum Beispiel, jede Unterscheidung nach der ethnischen Herkunft sei sittenwidrig203. Letztlich bleibt aber bei dieser Betrachtungsweise der Grund für die Sittenwidrigkeit unklar. Bezzenberger stellt auf seine Formulierung des kategorischen Imperativs ab. Dieser ist – wie er selbst einräumt – jedoch rein formaler Natur und taugt daher kaum zur Begründung einer materiellen Wertung, die nur aus der Verletzung der Personwürde ableitbar ist204. Das Sittenwidrigkeitsurteil ist nicht nur für die Schadensersatzforderung aus § 826 BGB relevant, sondern selbstverständlich auch für die Nichtigkeitsfolge des § 138 BGB. Die Tatbestände der Persönlichkeitsrechtsverletzung nach §§ 823 I, 826 BGB und der Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB verlangen mithin eine materielle Wertung205, die den Ausgang von der Verletzung der Personwürde des Betroffenen nehmen muß206. Die genannten Schadensersatzansprüche erfordern auch in den Diskriminierungsfällen Verschulden. Das verlangt schon das mit der Freiheit der Person korrespondierende Prinzip der Verantwortung. Dem steht das Gemeinschaftsrecht letztlich nicht entgegen. Die Richtlinien verlangen keinen verschul202 Ausführlich zu Rechtsfolgen sittenwidriger Diskriminierung im geltenden Recht Bezzenberger (N 85), S. 421 ff. (411). 203 Bezzenberger (N 85), S. 412, 415, 425 f. 204 Signifikant ist die von Bezzenberger (N 85), S. 418, konstatierte materielle Ausnahmebegründung für die Sittenwidrigkeit bei letztwilligen Verfügungen. 205 Zu § 138 vgl. Sack (N 137), § 138 Rn. 22. 206 Abzulehnen ist der Vorschlag von Heinrichs (N 54), Anh nach § 319 Rn. 10, Verstöße gegen Inhalt und Wertungen der Antidiskriminierungsrichtlinien kurzerhand als sittenwidrig einzustufen. Wie dargelegt erfassen die Richtlinien auch nicht zu beanstandende Differenzierungen.
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densunabhängigen Schadensersatzanspruch, da sie die Voraussetzungen („Modalitäten“) des Ersatzanspruchs im einzelnen der Regelung durch die jeweiligen Mitgliedsstaaten überlassen207. Das Schweigen der Richtlinien über das Verschuldenserfordernis ist also nicht so zu verstehen, daß ein verschuldensunabhängiger Ersatzanspruch geschaffen werden müßte. Zur Umsetzung der Richtlinien würde daher wohl ein klarstellender Hinweis auf das Persönlichkeitsrecht im Katalog der absoluten Rechte des § 823 I BGB ausreichen208. Probleme würde freilich die von den Richtlinien geforderte Beweislastumkehr bereiten, die das geltende Recht so bisher nur in § 611a BGB vorsieht209. § 21 I AGG geht über die Erfordernisse der Richtlinien hinaus, indem dort ein verschuldensunabhängiger Beseitigungsanspruch festgelegt wird. Schadensersatz, der über die bloße Folgenbeseitigung hinausgeht, soll nach § 21 II AGG zwar an das Verschulden des Benachteiligenden gekoppelt bleiben, aber wie in § 280 I 2 BGB gilt insoweit – zusätzlich zur Beweislastumkehr in § 22 AGG bezüglich der diskriminierenden Motivation des Schädigers – eine Beweislastumkehr zulasten des Benachteiligenden. Aus welchem sachlichen Grund diese Beweislastumkehr abweichend von der Grundregel gerechtfertigt sein könnte, bleibt auch in der Gesetzesbegründung offen210. Die Regelung des § 280 I 2 BGB entspricht nämlich keineswegs einem allgemeinen Rechtsgedanken, sondern erscheint bei näherer Betrachtung lediglich dann passend, wenn es um die Verletzung erfolgsbezogener Leistungspflichten geht211. Gerade darum geht es nicht bei einer unzulässigen Benachteiligung. 207 Vgl. z. B. Art. 8 II RL 2004 / 113 / EG (vierte Gleichstellungsrichtlinie); Art. 6 II RL 76 / 207 / EWG in der Fassung der RL 2002 / 73 / EG. 208 Im Hinblick auf EuGH Urt. v. 10. 5. 2001 – Rs. C-144 / 99, in: NJW 2001, S. 2244 ff. muß eine gesetzgeberische Umsetzung stattfinden, worauf v. Westphalen (N 17), S. 284, mit Recht hingewiesen hat. 209 Hier sieht auch Heinrichs (N 54), Anh nach § 319 Rn. 2 und 17, Umsetzungsbedarf. 210 Vgl. BT-Drs. 16 / 1780, S. 46. 211 Keilmann (N 83) mit detaillierter Begründung.
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Bei einer Persönlichkeitsverletzung ist bereits nach herkömmlichem bürgerlichen Recht nicht nur der Vermögensschaden ersatzfähig, sondern auch eine Geldentschädigung trotz fehlender Regelung in § 253 BGB als Genugtuung geschuldet212. So entscheidet die ständige Rechtsprechung seit der „Herrenreiter“-Entscheidung213. Der BGH hat dies mit der Wertentscheidung von Art. 1 und 2 I GG begründet214. In den „Caroline-Urteilen“ hat der BGH neben die Genugtuungsfunktion noch den Präventionsgedanken gestellt und damit eine relativ hohe Geldsumme als Entschädigung begründet215. Soweit gegen den Präventionszweck eingewendet wird, dieser sei dem Privatrecht prinzipiell fremd, ist daran zu erinnern, daß die römische Injurienklage seit der klassischen Zeit stets diesen Zweck verfolgt hat. Das 19. Jahrhundert hat das Schmerzensgeld als Strafe aufgefaßt216, also auch den der Strafe typischen Präventionszweck damit vereinbart. 212 Ausführlich dazu Gottfried Schiemann, in: Staudinger’s Kommentar BGB, 2005, § 253 Rn. 51 ff.; zum dogmengeschichtlichen Hintergrund: Karin Nehlsen-von Stryk, Schmerzensgeld ohne Genugtuung, in: JZ 1987, S. 119 ff. – Canaris schlägt vor (Larenz / Canaris, Schuldrecht II / 2 [N 199], S. 502), in den Diskriminierungsfällen den Konflikt mit der Abschlußfreiheit des Täters dadurch zu entschärfen, daß man nur ein moderates Schmerzensgeld gewähre. So praxisnah dieser Vorschlag sein mag, dogmatisch überzeugt das kaum, weil das Prinzip der Vertragsfreiheit hinter die Personwürde zurücktreten muß. Die Grenzziehung zwischen deliktischer Diskriminierung und erlaubter Unterscheidung muß auf der Tatbestandsebene stattfinden. Nicht jede Differenzierung nach dem Geschlecht ist auch eine (negative) Diskriminierung. Entscheidend ist, ob Mißachtung geäußert wird. 213 BGH Urt. v. 14. 2. 1958 – I ZR 151 / 56, in: BGHZ 26 (1958), S. 349 ff. (Herrenreiter). Es ging in der Entscheidung um eine Entschädigung für die Verwendung des Bildes eines Herrenreiters auf einem Plakat für ein Präparat zur Stimulierung der Sexualität. 214 BGH Urt. 19. 9. 1961 – VI ZR 259 / 60, in: BGHZ 35 (1962), S. 363 ff. (367) (Ginsengwurzel); zustimmend BVerfG Beschluß v. 14. 2. 1973 – 1 BvR 112 / 65, in: BVerfGE 34 (1973), S. 269 ff. 215 BGH Urt. v. 15. 11. 1994 – VI ZR 56 / 94, in: BGHZ 128 (1996), S. 1 ff. (1, 15) (Caroline I); BGH, Urt. v. 5. 12. 1995 – VI ZR 332 / 94, NJW 1996, S. 984 ff. (985) (Caroline II). 216 Nehlsen-von Stryk (N 212), S. 120 ff.
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Es ist allerdings richtig, daß jedenfalls seit dem 2. Schadensrechtsänderungsgesetz eine tragfähige dogmatische Grundlage für das rechtspolitisch gewünschte und auch allseits akzeptierte Ergebnis fehlt217. § 253 BGB bedürfte einer Ergänzung. Voraussetzungen der Geldentschädigung sind nach der Rechtsprechung eine schwere Verletzung des Persönlichkeitsrechts, Verschulden und die Beachtung der Subsidiarität der Geldentschädigung gegenüber anderen Ausgleichsmöglichkeiten wie Widerruf, Gegendarstellung etc. § 21 II 3 AGG schafft zwar eine insoweit für die Fälle der unzulässigen Benachteiligung eindeutige Anspruchsgrundlage, wäre aber im Hinblick auf die Rechtsprechung zum Persönlichkeitsrecht verzichtbar. Folge eines Schadensersatzanspruchs kann nach verbreiteter Auffassung auch ein Zwang zum Vertragsschluß sein218, wobei von manchen § 826 BGB als Anspruchsgrundlage bevorzugt wird219. Demgegenüber leiten andere den Kontrahierungszwang verschuldensunabhängig aus einem quasi-negatorischen Unterlassungsanspruch (gemeint wohl in Analogie zu § 1004 BGB) ab220. Gegen eine Begründung des KontrahieSchiemann (N 212), § 253 Rn. 56 f. Franz Bydlinski, Zu den dogmatischen Grundfragen des Kontrahierungszwangs, in: AcP 180 (1980), S. 1 ff. (10 ff.), mit zahlreichen Nachweisen; Karl Larenz / Manfred Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 81997, § 34 Rn. 35; Othmar Jauernig, in: ders. (Hg.), Bürgerliches Gesetzbuch, 112004, Vor § 145 Rn. 11; Herrmann (N 6), S. 59 ff. (kritisch). – Neuner, Diskriminierungsschutz (N 17), S. 61, hält den Kontrahierungszwang auf dem Weg über einen deliktischen Anspruch für widersinnig, weil das Deliktsrecht nicht der iustitia distributiva dienen könne. Vielmehr müsse dieser Anspruch „methodenoffen“ (oder doch: methodenlos?) aus Art. 1 u. 20 Abs. 1 GG hergeleitet werden. Außer der Kontrahierung kann sich zudem ein Anspruch auf Ersatz des Verzugsschadens aus §§ 280 II, 286 BGB ergeben. Bei Unmöglichkeit ergäbe sich ein Schadensersatzanspruch nach §§ 280, 281, 283 BGB. 219 Z. B. Medicus (N 16), Rn. 84; diese Rechtsgrundlage des Kontrahierungszwangs ist insbesondere im Kartellrecht entwickelt worden, grundlegend Hans Carl Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag, 1920. 217 218
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rungszwangs aus vorvertraglichem Schuldverhältnis221 spricht vor allem, daß hier kein aus Vertragsanbahnung entstandenes Vertrauen verletzt wird. Im übrigen wäre man auf den Ersatz des negativen Interesses beschränkt222. Ob der Kontrahierungszwang wirklich eine geeignete Rechtsfolge der Bekämpfung von Verletzungen der Personenwürde darstellt, kann man freilich angesichts des Umstands bezweifeln, daß eine widerwillige Vertragserfüllung oftmals wertlos ist. Eine bessere dogmatische Herleitung des Ergebnisses leistet für die Diskriminierungsfälle bereits die Auslegung. Sie ist einem – aus welchem Rechtsgrund auch immer hergeleiteten – nachträglichen Kontrahierungszwang insofern überlegen, als sie die größte Berücksichtigung der Freiheit aller Beteiligten ermöglicht223. Ein Beispielsfall mag das erläutern: Vorausgesetzt, ein Lebensmittel-Supermarkt würde an seine Türe ein großes Schild hängen: „Wir verkaufen nicht an Ausländer.“224 Nun beträte eine perfekt deutsch 220 Bork (N 47), Vorbem zu §§ 145 ff. Rn. 20 ff.; Reinhard Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2001, Rn. 672; so der Sache nach bereits Nipperdey (N 219), S. 96 ff.; zustimmend Bezzenberger (N 85), S. 428 f. m. weit. Nachw. in Fn. 187. Ablehnend etwa Bydlinski (N 218), S. 11 f.; gegen eine Ausdehnung des § 1004 BGB auf den Schutz des Persönlichkeitsrechts Karl Heinz Gursky, in: Staudinger’s Kommentar BGB, 1999, § 1004 Rn. 78. 221 So insbesondere Schiek (N 17), S. 396 ff. 222 So mit Recht Neuner, Diskriminierungsschutz (N 17), S. 61; vgl. Jan Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 143 ff. 223 Zu diesem Anliegen bereits oben bei N 164. 224 Die Problematik ist bisher vor allem am Gaststättenfall diskutiert worden: vgl. Hansjörg Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung. Zur Kontrolle und Gewährleistung personal motivierten Verhaltens im Privatrecht, 1978, S. 147 f., 151; Bydlinski (N 218), S. 44 f.; Kühner (N 18), S. 1397 ff. In den Gastwirtsfällen stellt das Schild an der Tür regelmäßig auch einen Ausdruck der Nichtachtung der betroffenen Personen dar, weil sein Inhalt in krassem Gegensatz zum sonstigen Verhalten des Lokalbetreibers (öffentliches Angebot) steht. Daher – und nur daher – liegt darin regelmäßig auch eine Persönlichkeitsverletzung im Sinne von § 823 I BGB. Kritisch dazu Herrmann (N 6), S. 47 ff. Ihr ist wohl insofern zuzustimmen, als der bloße Nichtabschluß eines Vertrags noch keine Per-
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sprechende, äußerlich nicht als Ausländerin erkennbare, den Geschäftsleuten bisher unbekannte Frau das Geschäft und nähme aus den Regalen Brot, Butter, Eier und Käse und begäbe sich damit an die Kasse. In diesem Augenblick wäre der Vertrag zustande gekommen. Das Schild vor der Türe mag noch so deutlich sein, das Angebot im Geschäft ist nach seinem gesamten Erscheinungsbild öffentlich und ad incertas personas gerichtet. Der Ausschluß der Ausländer ist in sich sittenwidrig und stellt ein selbstwidersprüchliches, insofern nach § 242 BGB unbeachtliches Verhalten des Unternehmers dar225. Der Selbstwiderspruch ist geradezu das Wesensmerkmal unzulässiger Diskriminierung226. Aus ihm resultiert die wahrnehmbare Mißachtung des Diskriminierungsopfers. Infolge der Selbstwidersprüchlichkeit kommt es in den bezeichneten Fällen nach dem Willen des Diskriminierungsopfers zu einem Vertragsschluß. Da das Antidiskriminierungsprogramm im Grunde vor allem die Angebote in der „öffentlichen Sphäre“ treffen möchte, dürften die meisten dort gemeinten Fälle von dieser Form der Berücksichtigung der Auslegungsregeln bei Willenserklärungen ergriffen werden. Es bleibt aber zu betonen, daß der rechtliche Anknüpfungspunkt der Auslegung ein anderer ist als im Antidiskriminierungsprogramm der Richtlinien und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Dort sanktioniert man die Differenzierung selbst, hier die Mißachtung der Person des Erklärungsempfängers. sönlichkeitsverletzung darstellt (S. 49). Allerdings können Umstände hinzutreten, die dieses Verhalten zu einem Ausdruck der Nichtachtung werden lassen. Dazu sind nicht nur ausdrückliche unwahre Tatsachenbehauptungen oder Werturteile geeignet (so aber anscheinend Herrmann, a. a. O., S. 49 f.). 225 Ausführlicher zur Selbstbindung beim Angebot Picker (N 14), S. 30 ff. Bezzenberger (N 85), S. 421 ff. hingegen diskutiert nicht die Auslegungsfrage, sondern möchte (S. 432) dem Diskriminierten mit einem Anscheinsbeweis helfen. Das erscheint mir jedoch nur die zweitbeste Lösung. Wenn es um einen typischen Ablauf geht, wird die Auslegung i. d. R. zum Vertragsschluß kommen. 226 Picker (N 14), S. 33.
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Dennoch ist es bisher zulässig, daß sich der Unternehmer seine Kunden nach beliebigen Kriterien auswählt227. Anders 227 Art. 3 GG gilt eben nicht auf der Ebene des Privatrechts. Die von Hans Carl Nipperdey entwickelte Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte wird in Deutschland von der ganz h. M. abgelehnt. Grundlegend: Günter Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, in: Festschrift für Hans Nawiasky, 1956, S. 157 ff. Die zentrale Aussage ist folgende (a. a. O., S. 158 f.): „Die primäre Entscheidung des Grundgesetzes für ein gegen den Staat gerichtetes Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 1), das auch Vorrang gegenüber Art. 3 hat, umschließt begrifflich auch die Freiheit dem Staat gegenüber, von ihm ungehindert in der unter gleichgeordneten Privaten bestehenden Verkehrs- und Tauschgerechtigkeit des Zivilrechts von Grundrechtssätzen, die für staatliches Handeln unabdingbar sind, abweichen zu können.“ Vgl. im übrigen nur BVerfG, Urt. v. 15. 1. 1958 – 1 BvR 400 / 51, in: BVerfGE 7 (1958), S. 198 ff. (205 f.) (Lüth); Beschluß v. 24. 2. 1971 – 1 BvR 435 / 68, in: BVerfGE 30 (1971), S. 173 ff. (188) (Mephisto); Beschluß v. 23. 4. 1986 – 2 BvR 487 / 80, in: BVerfGE 73 (1987), S. 261 ff. (269) (Sozialplan); Beschluß v. 7. 2. 1990 (N 93), S. 256 (Handelsvertreter); Beschluß v. 19. 10. 1993 – 1 BvR 567 / 89 u. a., in: NJW 1994, S. 36 ff. (38 f.) (Bürgschaft); BGH, Urt. v. 9. 2. 1978 – III ZR 59 / 76, in: BGHZ 70 (1978), S. 313 ff. (324 f.) (eine schrankenlose Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf private Rechtsgeschäfte höhle, so der BGH, die Vertrags- und Testierfreiheit weitgehend aus. Daher seien nur Verstöße gegen Art. 3 GG, die aus besonderen Gründen als anstößig empfunden werden, sittenwidrig); Bodo Pieroth / Bernhard Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 21Aufl. 2005, Rn. 173 ff., insbesondere Rn. 181; Wolfgang Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts (= HStR), Bd. V, 2Aufl. 2000, § 117 Rn. 54 ff. (umfassend zur Drittwirkungslehre). Siehe auch Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, ebd., § 111 Rn. 128 ff., 134 f.; ders., Inhaltskontrolle des Bundesverfassungsgerichts über Verfügungen von Todes wegen – zum „Hohenzollern-Beschluß“ des BVerfG [22. 3. 2004 – 1 BvR 2248 / 01], in: DNotZ 2004, S. 754 ff. (758); zusammenfassend mit weiteren Nachweisen Ruffert (N 93), S. 8 ff. Vgl. Canaris, Grundrechte und Privatrecht (N 199), S. 203 ff., 217 ff.; weiterführend ders., Grundrechte und Privatrecht – eine Zwischenbilanz, Berlin / New York 1999, S. 33 ff. Kritisch hingegen Johannes Hager, Grundrechte im Privatrecht, in: JZ 1994, S. 373 ff.; ebenfalls Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (N 17), S. 154: „Ohne unmittelbare Drittwirkung keine Privatautonomie!“ Eine Bindung Privater an den Gleichheitssatz wird als Eingriff in die Privatautonomie daher bisher verworfen, vgl. nur Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1988, S. 1580 f.; Horst Dreier, Grundgesetz, Bd. I, 22004,
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als für den Staat ist es dem Privaten erlaubt, ohne sachlichen Grund bei seinen Rechtsgeschäften zu differenzieren228. Nur muß er dazu Mittel wählen, die nicht zugleich das Persönlichkeitsrecht derjenigen, die er nicht als Kunden zulassen möchte, verletzt229. Er müßte also seinen Markt von Anfang Vorb. vor Art. 1 Rn. 98 ff.; Hans-Uwe Erichsen, Die Drittwirkung der Grundrechte, in: JURA 1996, S. 527 ff. (530); Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 201995, Rn. 356; Isensee, a. a. O., § 111 Rn. 135; Jürgen Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 149 ff.; Larenz / Wolf, Allgemeiner Teil (N 218), § 4 Rn. 55 ff.; Bezzenberger (N 85), S. 403 u. 408 f.; vgl. aus der älteren Debatte nur Götz Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, 1958, S. 114, 169 f.; Mikat (N 114), S. 589, 594 m. weit. Nachw. Der prinzipiellen Ablehnung einer Anwendung des Gleichheitssatzes auf private Rechtsverhältnisse steht nicht entgegen, daß vor allem im Gesellschaftsrecht Ansätze zur Beachtung des Gleichheitssatzes zu finden sind, so insbesondere, wenn es um die gleichmäßige Verteilung von Vorteilen und Lasten geht (dazu insbesondere Hueck, a. a. O., S. 59, 80, 96 ff.). Es ist auffällig, daß das Gesetz hier in aller Regel abweichende Vereinbarungen zuläßt. Hinzu treten die Fälle des Kontrahierungszwangs aus dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes, vgl. Bezzenberger (N 85), S. 405 f. m. weit. Nachw. in Fn. 70. Kritisch dazu insbesondere Herrmann (N 6), S. 59 ff. Wohl aber folgt aus den Grundrechten ein Schutzgebot, die grundrechtlichen Güter vor einer Verletzung durch andere Private zu bewahren, vgl. BVerfG, NJW 1994, S. 36 / 38 f. (Bürgschaft); Beschluß v. 16. 11. 1993 – 1 BvR 258 / 86, in: NJW 1994, S. 647 ff. (647) (Gleichberechtigung); ausführlich dazu: Canaris, Grundrechte und Privatrecht (N 199), S. 225 ff.; zur Reichweite der Schutzpflichten der Grundrechte umfassend Isensee, a. a. O., § 111; dennoch gilt mit Bezzenberger (N 85), S. 410: „Weder aus dem Völkerrecht noch aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundrecht des Art. 3 I GG und nicht einmal aus dem speziellen Diskriminierungsverbot des Art. 3 III GG läßt sich somit ein allgemeines zivilrechtliches Verbot ethnischer Diskriminierung begründen . . .“, da stets auch die Freiheitsrechte Beachtung verlangen. 228 Mikat (N 114), S. 589: Die Gestaltung des individuellen Lebensraumes ohne zwingende Bindung an Grundrechtsnormen sei ein „unverzichtbares Kernstück der Freiheit“. Zu ihr gehöre es auch, „Ziele verfolgen zu können, welche die Organe der Gemeinschaft nicht als ,wertvoll‘ ansehen“ würden. Die Grenze sei die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft. Daher gilt der allgemeine Gleichheitssatz nicht im Privatrecht: Mikat, a. a. O., S. 594; zustimmend u. a. Bezzenberger (N 85), S. 403. 229 In diesem Sinne bereits Salzwedel (N 52), S. 350 f. – An dieser Stelle muß auch die rechtliche Bewertung der Gastwirtsfälle ansetzen, s. o. N 224.
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an als „closed shop“ einrichten. Er müßte dafür sorgen, daß sein äußeres Verhalten auch seinem wirklichen Willen entspricht und dürfte nicht ein öffentliches Angebot abgeben230. Ob das betriebswirtschaftlich sinnvoll wäre, ist eine Frage außerhalb rechtlicher Kategorien. „Positive“ Diskriminierung im Sinne von interessengeleiteter Unterscheidung, Bewertung und Auswahl ist oft erforderlich231, weil der Mensch nur in Freiheit seine Persönlichkeit entfalten kann. Freiheit setzt aber auch voraus, daß man seine Rechtsbeziehungen selbst gestalten, privatautonom handeln kann. Und das bedeutet konstitutiv: Wahlfreiheit. Auswahl ist aber stets Bevorzugung des einen und Zurücksetzung des anderen. Sonst findet gerade keine Wahl statt. Picker faßt diesen Tatbestand prägnant zusammen: „Privatrecht . . . ist ohne ,Diskriminierung‘ nicht denkbar“232. Im Hinblick auf den Schutz der Personwürde ist die Notwendigkeit einer zusätzlichen Maßnahme im Privatrecht nicht erkennbar – auch nicht die Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes –, was der deutsche Gesetzgeber selbst einräumt233. Insbesondere ist nicht ersichtlich, inwiefern das Antidiskriminierungsprogramm zu einem wirksameren Schutz als bisher führen würde. Ganz im Gegenteil: Zum Schutz der Personwürde gehört auch die Erhaltung eines möglichst großen Freiheitsraumes, der durch die beschlossenen Maßnahmen (unnötig) eingeschränkt wird. In diesem Sinne auch Picker (N 14), S. 39 f., 42. Picker (N 14), S. 43 mit stärkerem Akzent auf die Konsequenzen für die Wirtschaftsverfassung, die freilich zuletzt im Menschenbild ihre Rechtfertigung finden. Picker stellt ins Zentrum seiner wertmäßigen Begründung „Liberalität und Prosperität im Staatswesen“ (S. 45). 232 Picker (N 14), S. 46; es überrascht daher auch nicht die von Dammann (N 26) verteidigte These von der prinzipiellen Zulässigkeit der Diskriminierung im Privatrechtsverkehr, die auch der Gesetzgeber zu erahnen scheint, wenn er die Wahl des Begriffs „Benachteiligung“ statt „Diskriminierung“ damit begründet, nicht jede Zufügung eines Nachteils sei diskriminierend (Regierungsbegründung, in: BT-Drucks. 16 / 1780, S. 30). 233 S. o. N 183. 230 231
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V. Ergebnis Das Antidiskriminierungsprogramm scheitert hinsichtlich der Ziele Volkserziehung und Güterverteilung auf der Ebene der Geeignetheit234. Bezüglich des Schutzes der Personwürde besteht kein Handlungsbedarf, weil das bisher geltende Recht diesen Schutz bereits gewährleistete. Abwägungen über die Angemessenheit und Zumutbarkeit, d. h. die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne235, sind also gar nicht mehr erforderlich.
D. Schluß Otto Gierke hat in einem Vortrag vom 5. April 1889, also ungefähr ein Jahr nach dem Bekanntwerden des ersten Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, unter anderem folgende, berühmt gewordene These geäußert: „Wir können mit dem großen germanischen Gedanken der Einheit alles Rechtes nicht brechen, ohne unsere Zukunft aufzugeben. Und mit diesem Gedanken ist ewig unvereinbar ein absolutistisches öffentliches Recht, ewig unvereinbar aber auch ein individualistisches Privatrecht. Wir brauchen ein öffentliches Recht, das durch und durch Recht ist; das ein Verhältnis der Gegenseitigkeit zwischen dem Ganzen selbst und seinem Gliede, zwischen der höchsten Allgemeinheit und dem Einzelnen setzt; . . . Wir brauchen aber auch ein Privatrecht, in welchem trotz aller Heilighaltung der unantastbaren Sphäre des Individuums der Gedanke der Gemeinschaft lebt und webt. Schroff ausgedrückt: in unserem öffentlichen Recht muß ein Hauch des naturrechtlichen Freiheitstraumes wehen und unser Privatrecht muß ein Tropfen sozialistischen Öles durchsickern.“236 So im Ergebnis auch Picker (N 14), S. 100. Vgl. dazu Fritz Ossenbühl, Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab, in: Festgabe zum 10jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 315 ff. Auf die Frage, ob die Abwägung im Sinne der Angemessenheit und Zumutbarkeit überhaupt rationaler und verbindlicher Maßstäbe entbehrt oder nicht, kommt es hier folglich nicht an; skeptisch Bernhard Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976. 236 Gierke (N 92), S. 12 f. 234 235
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Dieser – hier durchaus mechanisierte – Tropfen eines früheren Salböls237 sollte sozialistisch in dem Sinne sein, daß sämtliche privatrechtlichen Rechtsinstitute einer Art Gemeinwohlvorbehalt ausgesetzt sein müßten238. Es ging Gierke darum, die alten Gegensätze von Gemeinschafts- und Individualinteressen in einer einheitlichen Rechtsordnung ohne scharfe prinzipielle Grenzziehungen einzelner Disziplinen zum Ausgleich zu bringen. Hans-Carl Nipperdey hat einmal gesagt: „Das Verhältnis der Gesamtheit zu ihren Gliedern ist [ . . . ] seit Jahrhunderten das große Zentralproblem, um das das menschliche Denken und namentlich das juristische Denken kreist239. Es gibt keine vornehmere und verantwortungsvollere Aufgabe für den Juristentag in seiner Eigenschaft als Rechtspolitiker und Gesetzgeber als diese. Aber auch nur der Jurist kann das Problem lösen. Uns sind Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, Einzelrecht und Gesamtinteresse, Freiheit und Zwang die von jeher leidenschaftlich durchdachten Grundfragen. Die Erkenntnis der Vorteile und Nachteile dieser Prinzipien und ihre Ausbalancierung bedeutet unsere Lebensaufgabe“240.
Wenn wir uns heute dieser Lebensaufgabe des Juristen stellen wollen, dann müssen wir die Achtung von Freiheit und Verantwortung der Person vom Gesetzgeber verlangen. Einzelheiten bei Repgen, Soziale Aufgabe (N 88), S. 4. S. o. N 92 und N 133. 239 Freiheit besteht nun einmal nur in Gemeinschaft. Wer ganz allein ist, ist vielleicht einsam, aber nicht frei; vgl. Di Fabio (N 3), S. 72, 83. Zweifelhaft ist jedoch die Schlußfolgerung, die Freiheit sei nur gesellschaftliches Konstrukt (a. a. O., S. 74). So wenig die Personalität des Menschen ein Trick der Kultur ist, so wenig ist es dann auch die Freiheit, weil die Person ohne Freiheit ihre Rolle verfehlt. Konsequent begreift Di Fabio allerdings auch die Person als gesellschaftliches Konstrukt (a. a. O., S. 84 f.). Im übrigen gilt auch das Umgekehrte: Wäre der Mensch nur soziales Wesen, bedürfte es wohl ebenso wenig der Rechtsordnung, vgl. Hallstein (N 8), S. 3 (V) und S. 4: „Erst daraus doch, daß aus der freien Entfaltung der Persönlichkeit einerseits und seiner gesellschaftlichen Einbettung andererseits eine notwendige Spannung entsteht, erwächst das Problem des Rechts.“ Das „Ob“ des Privatrechts ist also nicht allein von sozialen Zwecken abhängig. 240 Hans Carl Nipperdey, in: Verhandlungen des Deutschen Juristentags 1928, Bd. II, S. 770, hier zitiert nach Knut Wolfgang Nörr, Die Leiden des Privatrechts, 1994, S. 71 f. 237 238
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Obgleich der Glaube an die Vernunft, den die Aufklärung geschürt hat, spätestens in Hiroshima und Nagasaki verglüht ist und die Rückbesinnung auf den eigentlichen Sinngeber unserer Welt geboten wäre, scheinen die modernen Gesetzgeber nicht zu akzeptieren, daß es – um mit Montesquieu zu sprechen – Regeln gibt, die die „vernunftbegabten Einzelwesen . . . nicht selbst gemacht haben“241. Es wird Zeit, wieder darüber nachzudenken, daß auch jenseits der Ewigkeitsgarantien des Verfassungsrechts Regeln bestehen, die der Gesetzgeber – er sei deutsch oder europäisch – nicht beliebig verändern darf. Im Privatrecht scheint dieses Bewußtsein abhanden gekommen zu sein. Dabei sollte man die Augen nicht vor der jahrtausendealten Erfahrung242 verschließen, die der römische Jurist Julius Paulus243 im dritten nachchristlichen Jahrhundert in den folgenden knappen Ausspruch gefaßt hat: Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat.244
Nicht aus der Regel folgt das Recht, sondern aus dem Recht, was als Regel gilt.
Am Anfang der modernen europäischen Rechtswissenschaft war diese Erkenntnis noch klar. In der Glosse des Accursius heißt es: Est autem ius a iustitia, sicut a matre sua, ergo prius fuit iustitia quam ius.245
Recht kommt von Gerechtigkeit, wie von seiner Mutter. Also war die Gerechtigkeit früher als das Recht.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner „Solange“Rechtsprechung die Verfassungsmäßigkeit des europäischen 241 Charles Louis de Secondat de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, übersetzt und hg. v. Ernst Forsthoff, Bd. II, 1951, ND 1992, S. 10. 242 Lesenswert in diesem Zusammenhang Friedrich A. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003, S. 75 ff. 243 Zu diesem: Rolf Knütel, in: Juristen. Ein biographisches Lexikon, hg. v. Michael Stolleis, 1995, S. 477 ff. 244 Paulus D. 50.17.1. 245 Accursius, gl. „iustitia“ zu D. 1.1.1, in: Corpus iuris civilis Iustinianei. Accursii commentariis, ac Contii, et Dionysii Gothofredi etc., tom. I: Digestum vetus, Lyon 1627, col. 14.
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Gemeinschaftsprivatrechts unter den Vorbehalt des gemeinsamen Wertkonsenses hinsichtlich der Grundprinzipien unserer Verfassung gestellt246. Dazu zählt auch die Anerkennung des Privatrechtsgedankens auf der Grundlage der Art. 1 und 2 des Bonner Grundgesetzes, denn der Mensch wird nur dann in seiner Personalität ernst genommen, wenn dem Einzelnen Freiheit und Verantwortung für sein Handeln bleiben. Das setzt die Gewährleistung des Privatrechts, genauer der Privatautonomie in ihrer wichtigen Ausprägung der Vertragsfreiheit voraus. Freilich hat sich das Verfassungsgericht enge Fesseln angelegt, weil es die eigene Überprüfung bindenden europäischen Rechts davon abhängig gemacht hat, ob die Europäischen Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Mitgliedsstaaten generell gewährleisten247. Das könnte man einerseits dahin auslegen, daß ein singulärer Verstoß in einer Richtlinie noch nicht ausreichen würde248. Andererseits könnte man sagen, daß eine generelle Norm – und dazu zählen die vier (!) Richtlinien – auch einen generellen Verstoß bewirkt, wenn sie von den Grundrechten abweicht. Im übrigen aber haben die Antidiskriminierungsrichtlinien nicht nur punktuelle Bedeutung, sondern sind Ausdruck eines eigenständigen Politikziels im Sinne von Art. 13 EGV, wie es die Erwägungsgründe und Zweckbestimmungen der hier untersuchten Richtlinien deutlich vor Augen führen249. Wenn man also in den Richtlinien einen – ungerechtfertigten – Verstoß gegen das von Art. 2 GG geschützte Prinzip der Vertragsfreiheit sieht250, so ist die Über246 BVerfG, Beschluß v. 22. 10. 1986 – 2 BvR 197 / 83, in: BVerfGE 73 (1987), S. 339 ff. (340, 387) (Solange II), bestätigt in Beschluß v. 7. 6. 2000 – 2 BvL 1 / 97, in: BVerfGE 102 (2001), S. 147 ff. (162 ff.) (Bananenmarkt). 247 Vgl. die Nachweise in N 246. 248 In diesem Sinne verstehen es z. B. Schöbener / Stork (N 54), S. 48 ff. m. weit. Nachw. in Rn. 30. 249 Vgl. etwa Erwägungsgrund 12 und Art. 1 RL 2000 / 43 / EG; Erwägungsgrund 12 und Art. 1 RL 2000 / 78 / EG; Erwägungsgründe 4, 8 RL 2002 / 73 / EG; Erwägungsgründe 5, 6, 7 und Art. 1 RL 2004 / 113 / EG. 250 Zum verfassungsrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit s. o. N. 93.
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prüfung der Richtlinie durch das Verfassungsgericht möglich251. Konsequent müßte das Verfassungsgericht, wenn es denn zur Entscheidung angerufen wird252, sein Urteil mit den Worten beginnen: „Da die Europäischen Gemeinschaften nun nicht mehr einen wirksamen Schutz der Grundrechte gewährleisten. . .“. Die tatsächliche Gleichheit in der Teilhabe, also die Gleichstellung, ist kein geeignetes Prinzip des Privatrechts. Ihre Durchführung wäre utopisch und ihr Sinn zweifelhaft. Im Matthäus-Evangelium wird das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg erzählt, das die hier angesprochenen Probleme auf den Punkt bringt. Die Arbeiter der ersten Stunde murrten, weil die, die zuletzt kamen, wie die ersten je einen Denar als Lohn empfangen hatten. Da erwiderte der Gutsbesitzer: „Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh! Ich will dem letzten ebensoviel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich (zu anderen) gütig bin?“253 Eine Antidiskriminierung, wie sie sich die Gesetzgeber auf EU- und Bundesebene vorstellen, hat im Privatrecht keinen Platz. Sie ist zutiefst ungerecht, weil sie den freien Willen des Einzelnen nicht achtet, dem die Selbstgestaltung seiner Rechtsverhältnisse aufgrund seiner personalen Würde zukommt. Es geht nicht um irgendwelche Beliebigkeiten der Rechtsordnung, sondern es geht um den Menschen selbst. 251 Für eine Solange III – Entscheidung plädierte bereits Canaris (N 60), S. 891, im Hinblick auf die Klauselrichtlinie 93 / 13 / EWG. – Aus verfassungsrechtlicher Sicht ausführlich, wenngleich ohne Bezug zur Frage der Vertragsfreiheit: Rupert Scholz, Wie lange bis „Solange III“?, in: NJW 1990, S. 941 ff. 252 U. a. Wernsmann (N 21), S. 225, meint, daß das BVerfG nur noch für die Überprüfung solcher Vorschriften zuständig sei, die über die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben hinausgehen. Das ist jedoch nur richtig, soweit man die Prämisse teilt, daß die Grundrechte im Gemeinschaftsrecht noch generell gewährleistet seien. 253 Mt 20, 1 ff. (13 ff.). Hervorhebungen von mir.
7 Isensee (Hrsg.)
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So kurz nach dem Schillerjahr mag es passend sein, diesen Dichter, der der Freiheit so großen Raum gegeben hat, zum Schluß zu zitieren: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, Und würd’ er in Ketten geboren, Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei, Nicht den Mißbrauch rasender Toren; Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, Vor dem freien Menschen erzittert nicht.“254
254 Friedrich Schiller: „Die Worte des Glaubens.“ Im Zusammenhang lautet das Zitat: „Drei Worte nenn’ ich euch, inhaltschwer, / Sie gehen von Munde zu Munde, / Doch stammen sie nicht von außen her; / Das Herz nur gibt davon Kunde. / Dem Menschen ist aller Werth geraubt, / Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt. // Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, / Und würd’ er in Ketten geboren, / Lasst euch nicht irren des Pöbels Geschrei, / Nicht den Mißbrauch rasender Thoren! / Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, / Vor dem freien Menschen erzittert nicht! // Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall, / Der Mensch kann sie üben im Leben, / Und sollt’ er auch straucheln überall, / Er kann nach der göttlichen streben, / Und was kein Verstand der Verständigen sieht, / Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt. // Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt, / Wie auch der menschliche wanke; / Hoch über der Zeit und dem Raume webt / Lebendig der höchste Gedanke, / Und ob Alles in ewigem Wechsel kreist, / Es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist. // Die drei Worte bewahret euch, inhaltschwer, / Sie pflanzet von Munde zu Munde, / Und stammen sie gleich nicht von außen her, / Euer Innres gibt davon Kunde. / Dem Menschen ist nimmer sein Werth geraubt, / So lang er noch an die drei Worte glaubt.“
Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote Privatautonomie im modernen Zivil- und Arbeitsrecht Von Thomas Lobinger, Heidelberg
Inhalt A. Die Problematik rechtlicher Antidiskriminierungsprogramme . . . 102 I. Privatautonomie und Vertragsfreiheit als Konstituenzien moderner Privatrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Der Wesensgehalt von Privatautonomie und Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Die vor- und außerrechtliche Basis freiheitsverbürgender Privatrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Die Humanität freiheitsverbürgender Privatrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Die ökonomische Erfolgsträchtigkeit freiheitsverbürgender Privatrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 c) Das Problem der Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . 109 3. Die positivrechtliche Gewährleistung von Privatautonomie und Vertragsfreiheit im deutschen und europäischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Diskriminierungsverbote als Freiheitsbeschränkung . . . . . . . . . 112 1. Der Wesensgehalt von Diskriminierungsverboten . . . . . . . . 112 2. Der Gleichheitssatz als normativer Ausgangs- und Anknüpfungspunkt von Diskriminierungsverboten . . . . . . . . . . 113 3. „Antidiskriminierung“ als Schlagwort heterogener rechtlicher und rechtspolitischer Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) Integritätsschützende Diskriminierungsverbote . . . . . . . 119 7*
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Thomas Lobinger b) Verteilungs- und integrationspolitisch motivierte Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 c) Sozial- und moralpädagogisch motivierte Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
III. Die Aktualität der Problematik vor dem Hintergrund der jüngsten deutschen und europäischen Antidiskriminierungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Der wesentliche Inhalt der Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Der Stand der europäischen und der nationalen Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b) Die wichtigsten Vorgaben für das allgemeine Zivilrecht 127 c) Die wichtigsten Vorgaben für das Arbeitsrecht . . . . . . . . 131 2. Die überschießende Richtlinienumsetzung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Das gescheiterte Programm einer sog. 1:1-Umsetzung . . . . 139 B. Systembedingungen für eine konsistente Antidiskriminierungsgesetzgebung im Zivil- und Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 I. Integritätsschützende Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Die grundsätzliche Systemverträglichkeit integritätsschützender Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Die Persönlichkeitsrechtsverletzung als verbotenes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Die mangelhafte Umsetzung der integritätsschützenden Antidiskriminierungsprogrammatik durch die Richtlinien und das deutsche AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Die defizitäre Auswahl verbotener Unterscheidungsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Die defizitäre Auswahl verbotener Diskriminierungshandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 c) Die Beweislastregelung als schutzzielüberschreitende Pauschalierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 II. Verteilungs- und integrationspolitisch motivierte Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Die grundsätzliche Systemwidrigkeit zivilrechtlicher Diskriminierungsverbote mit verteilungs- und integrationspolitischer Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
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2. Die allgemeinen Systembedingungen einer zulässigen verteilungs- und integrationspolitischen Inanspruchnahme Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 a) Verteilungs- und integrationspolitisch motivierte Diskriminierungsverbote als abgabeähnliche Belastung . . . 154 b) Der rechtliche Bewertungsmaßstab für die Zulässigkeit entsprechender Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 c) Verteilungs- und integrationspolitisch motivierte Diskriminierungsverbote als grundsätzlich unzulässige Sonderopfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3. Arbeitsrechtliche Sonderlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 III. Sozial- und moralpädagogisch motivierte Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 1. Die Unvereinbarkeit sozial- und moralpädagogisch motivierter Diskriminierungsverbote mit den Grundlagen einer freiheitlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2. Das Fehlen besonderer Rechtfertigungsmöglichkeiten . . . . 165 3. Die Ungeeignetheit und Willkürlichkeit speziell der aktuellen „Erziehungsprogramme“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 C. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 I. Die Notwendigkeit einer umfassenden rechtlichen Überprüfung der Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 II. Die primärrechtliche Relevanz der aufgezeigten Systembedingungen für eine zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 III. Die wichtigsten Folgerungen im einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Die alleinige Maßgeblichkeit der integritätsschutzrechtlichen Programmatik als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. Die Konsequenzen für die Lesart der Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3. Die Konsequenzen für die Sanktionsregelungen . . . . . . . . . . 174 D. Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Thesenartige Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
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A. Die Problematik rechtlicher Antidiskriminierungsprogramme I. Privatautonomie und Vertragsfreiheit als Konstituenzien moderner Privatrechtsordnungen 1. Der Wesensgehalt von Privatautonomie und Vertragsfreiheit a) Wollte man das maßgebliche Charakteristikum moderner Privatrechtsordnungen in einem plakativen Schlagwort zusammenfassen, so müßte man von einer „Eigentumsordnung“ sprechen. Grundbaustein moderner Privatrechtsordnungen ist die Zuweisung subjektiver Rechtspositionen: Die Gegenstände und Interessen der Lebenswelt sind den Einzelnen als „ihnen gehörig“ zugeordnet. Das bedeutet im Kern, daß sie deren Willensmacht unterstellt sind – und zwar in zweifacher Hinsicht: Der Rechtsinhaber vermag andere vom Zugriff auf das in Frage stehende Gut auszuschließen1, dessen Genuß und Nutzung also für sich alleine zu reservieren. Und er vermag darüber hinaus in der Regel auch über das Objekt zu verfügen, was ihn insbesondere in die Lage versetzt, den Gegenstand für Austauschbeziehungen zu verwenden und so seine Lebensverhältnisse selbstgewählten Präferenzen entsprechend neu zu gestalten. In der Entscheidung für ein Privatrecht „als Eigentumsordnung“ gründet damit positiv auch die rechtsgeschäftliche Privatautonomie, verstanden als „das Prinzip der Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen“2: Mit der Anerkennung subjektiver (Ausschließlichkeits-)Rechte wird das notwendige Substrat dafür geschaffen, daß Privatrechtsverhältnisse überhaupt entstehen können. Zugleich wird festgelegt, daß diese Verhältnisse, wo sie nicht in der Verletzung einer zugewiesenen Rechtsposition gründen, prinzipiell nur im Willen Paradigmatisch: § 903 S. 1 BGB. Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 2, Das Rechtsgeschäft, 41992, § 1 1, S. 1. 1 2
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der an dem Rechtsverhältnis Beteiligten ihren Geltungsgrund finden können3. b) Integrierender Bestandteil eines Privatrechts als Eigentums- bzw. Rechtszuweisungsordnung ist damit zwangsläufig auch die Vertragsfreiheit. In positiver Hinsicht verhilft sie der Privatautonomie zur Geltung, falls auf beiden Seiten der Wille zur Begründung eines bindenden Rechtsverhältnisses vorhanden ist. In negativer Hinsicht sichert sie die Privatautonomie, indem sie ungewollte rechtsgeschäftliche Bindungen und hierdurch schließlich auch ungewollte Zugriffe auf zugewiesene Güter verhindert. Letzteres gewährleistet bereits der Begriff des Vertrags als einverständlich getroffene Regelung4. Klargestellt wird dies aber auch dadurch nochmals, daß man die Vertragsfreiheit heute regelmäßig in zwei Komponenten, der Abschluß- und der Inhaltsfreiheit, darstellt5. Denn auf diese Weise wird nicht nur festgehalten, daß der Einzelne in den durch die Rechtsordnung gesteckten Grenzen grundsätzlich frei ist, den Inhalt eines Vertrags gemeinsam mit seinem Partner zu bestimmen. Betont wird darüber hinaus, daß er vor allem auch in der davorliegenden Entscheidung, nämlich der Entscheidung, ob und mit wem er einen Vertrag schließen will, grundsätzlich frei ist. 3 Näher hierzu Thomas Lobinger, Rechtsgeschäftliche Verpflichtung und autonome Bindung, 1999, S. 89 ff. 4 S. hierfür nur Flume (N 2), § 33 2, S. 602. 5 S. hierfür nur etwa Reinhard Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 22006, § 17 B II, S. 249 Rn. 661; Karl Larenz / Manfred Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 92004, § 34 IV, S. 631 ff. Rn. 24 ff., § 34 V, S. 636 ff. Rn. 45 ff.; Othmar Jauernig, in: ders., Bürgerliches Gesetzbuch, 112004, Vorbem. § 145 Rn. 8; Ernst A. Kramer, in: Peter Ulmer et.al., Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch (= MünchKomm BGB), Bd. I, 42001, § 145 Rn. 8; im europäischen Kontext s. Peter-Christian Müller-Graff, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Privatrecht – Das Privatrecht in der europäischen Integration, in: NJW 1993, S. 13 (14); Burkhard Schöbener / Florian Stork, Anti-Diskriminierungsregelungen der Europäischen Union im Zivilrecht – zur Bedeutung der Vertragsfreiheit und des Rechts auf Privatleben, in: ZEuS 2004, S. 43 (57); Art. 1:102 Abs. 1 der Principles of European Contract Law (PECL).
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c) Zum Wesensgehalt der durch moderne Privatrechtsordnungen gewährleisteten Privatautonomie gehört somit immer auch die Freiheit zu willkürlicher und willkürlich selektierender Entscheidung: Weil in bezug auf die dem Einzelnen kraft subjektivrechtlicher Zuordnung zukommende Rechtssphäre nicht der staatliche Gemeinwille, sondern sein Individualwille herrschen soll, ist er in seinem rechtsgeschäftlichen Handeln weder an eine bestimmte Politik noch an das Gemeinwohl oder auch nur eine höhere Vernunft gebunden. Solange die Rechte anderer und Verbotsgesetze nicht verletzt sowie die sittlichen Mindeststandards eingehalten werden, gilt der Satz „stat pro ratione voluntas“6. Der Einzelne kann sich bei seinem Handeln allein von selbstgesetzten Präferenzen leiten lassen, mögen sie auch noch so eigentümlich und seltsam erscheinen. Daß hierdurch gleichwohl weder törichte Unvernunft noch tyrannische Willkür zur prägenden Alltagserfahrung werden, stellt das System durch zweierlei sicher: Es fordert für wirksame rechtsgeschäftliche Regelungen im Normalfall Konsens, was der Tyrannei einen Riegel vorschiebt. Und es muß der Handelnde stets die Folgen seines Handelns tragen7, was die Akteure in der Regel größere Torheiten vermeiden läßt. 2. Die vor- und außerrechtliche Basis freiheitsverbürgender Privatrechtsordnungen a) Die Humanität freiheitsverbürgender Privatrechtsordnungen Entwicklung und Verbreitung privatautonomieverbürgender Zivilrechtssysteme sind kaum Zufall und in ihren vorund außerpositiven Gründen vielfach beschrieben. Dabei wird man auch ohne weitreichende philosophische oder ökonomische Exkurse v. a. drei Sachgesichtspunkte für maßgeblich halten dürfen. S. hierfür nur Flume (N 2), § 1 5, S. 6. S. statt aller nur BGHZ 107, 92 (102); Jauernig (N 5), Vorbem. § 145 Rn. 8. 6 7
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Erstens: Die Selbstbestimmung der eigenen Lebensverhältnisse in persönlicher wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht entspricht einem urmenschlichen Bedürfnis8. Wer das Glück hat, Kinder erziehen zu dürfen, erlebt diese Urgewalt tagtäglich. Sie tritt darüber hinaus aber auch später in nahezu jedem zwischenmenschlichen Konflikt als treibende Kraft sichtbar zu Tage. Wenn also für die Rechtsverhältnisse der Einzelnen im Ausgangspunkt fest abgegrenzte Freiheitssphären maßgeblich sind, die durch die Befugnis zur Abwehr ungewollter einseitiger Zugriffe einerseits und die Möglichkeit zur Kooperation mittels einverständlich getroffener Regelungen andererseits die selbstbestimmte Gestaltung der eigenen Rechtsverhältnisse erlauben, so zeugt das sowohl von der tiefen Humanität einer solchen Ordnung wie auch von ihrem ursprünglichen Gerechtigkeitsanspruch. Denn sie achtet diejenigen, die ihr unterworfen sind, in ihrem innersten Wesen. Sie will der menschlichen Natur tatsächlich „gerecht“ werden und diese nicht etwa durch die Schaffung eines neuen, „besseren“ Menschen in ihrem Kern verändern. b) Die ökonomische Erfolgsträchtigkeit freiheitsverbürgender Privatrechtsordnungen aa) Zum zweiten beziehen moderne, auf Rechtszuweisung und Vertragsfreiheit gegründete Privatrechtsordnungen vorund außerpositive Legitimität aus ihren wohlfahrtssteigernden Effekten. „Eigentum und Vertrag“ sind die unverzichtbaren Grundlagen marktwirtschaftlicher Wettbewerbsordnungen. Das hierdurch ermöglichte „freie Spiel der Kräfte“ gewährleistet zwar keine egalitäre Distribution von Gütern und Lebenschancen, weil sich in ihm persönliche Begabung, Intelligenz, 8 S. nur etwa Eduard Picker, Antidiskriminierungsprogramme im freiheitlichen Privatrecht, in: Egon Lorenz (Hg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 2005, S. 7 (47 f.) sowie auch Franz Bydlinski, Kriterien und Sinn der Unterscheidung von Privatrecht und öffentlichem Recht, in: AcP 194 (1994), S. 317 (347).
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Leistungsfähigkeit wie auch bereits bestehende Ungleichheiten bei der Güterverteilung praktisch ungefiltert auswirken können. Gleichwohl gibt es bis heute bekanntlich keine Systemalternative, die sich auch nur annähernd erfolgreich bei der Schaffung von Wohlstand für die Gesellschaft in ihrer gesamten Breite gezeigt hätte9. Dies hat zwei maßgebliche Ursachen: Unmittelbar trägt das System zu einer die Gesellschaft in weitem Umfang erfassenden Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen bei, weil in ihm der eigene Benefit stets von der Befriedigung der Bedürfnisse anderer abhängt. Dieser Zusammenhang bewirkt einen permanenten Zwang zu Innovationen, die nicht nur darauf zielen, Neues für Wenige zu schaffen, sondern gleichermaßen, bislang Wenigen Vorbehaltenes einem immer breiteren Publikum zugänglich zu machen10. Hierdurch, das gilt es deutlich zu sehen, ist das System immer auch schon von innen heraus diskriminierungsfeindlich11. Denn wo die eigene Wohlfahrt maßgeblich von der Höhe des Absatzes abhängt, verlieren die persönlichen Eigenschaften des Abnehmers über kurz oder lang ganz von selbst den Rang eines Unterscheidungs9 S. nur etwa Carl Christian v. Weizsäcker, Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit – Ein Widerspruch?, in: Detlev Rahmsdorf / Hans-Bernd Schäfer (Hg.), Ethische Grundfragen der Wirtschafts- und Rechtsordnung, 1988, S. 23 (28 ff.); Erich Hoppmann, Moral und Marktsystem, in: ORDO 41 (1990), S. 3 (5 f.); Claus-Wilhelm Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 68; Picker (N 8), S. 50 f. 10 S. nur etwa Franz Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, in: ORDO 17 (1966), S. 75 (92); Friedrich A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, 1981, S. 161 f.; Christian Watrin, Zur sozialen Dimension marktwirtschaftlicher Ordnungen, in: Erich Streißler / Christian Watrin (Hg.), Zur Theorie marktwirtschaftlicher Ordnungen, 1980, S. 476 (488); Hoppmann (N 9), S. 5 f.; Bydlinski (N 8), S. 325; Reinhard Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995, S. 41; Canaris (N 9), S. 66 f.; Picker (N 8), S. 51. 11 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Jens C. Dammann, Die Grenzen zulässiger Diskriminierung im allgemeinen Zivilrecht, 2005, S. 97 ff.; Stefan Schnöckel, Antidiskriminierungsgesetz – ein neuer Anlauf, in: ZRP 2005, S. 170 f.
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kriteriums. Entscheidend ist allein der Geldbeutel des potentiellen Abnehmers. Das führt zunehmend sogar zu einer bewußten Umwerbung klassischer Diskriminierungsopfer, weil man sie als kaufkraftstarke Zielgruppen entdeckt. Der Einsatz homosexueller Paare in der Werbung für Fertiggerichte, Spülmittel und Autos belegt solche aus purem Eigennutz betriebene privatautonome Integration augenfällig. bb) Die logischen Weiterungen, das sei in diesem Zusammenhang ebenfalls nur kurz angemerkt, haben längst auch den Arbeitsmarkt erreicht, obwohl es hier anders als beim reinen Warenumsatz sehr viel stärker auf persönliche Eigenschaften ankommt und damit auch die Diskriminierungsbereitschaft in diesem Marktsegment von Natur aus erheblich ausgeprägter ist. Das Stichwort lautet „Diversity-Management“: Um einem im Zuge der Globalisierung, demographischer Entwicklungen, veränderter Lebensformen sowie auch gewandelter gesellschaftlicher Moralvorstellungen immer bunter werdenden Markt in der Erschließung, Produktentwicklung und auch Kundenbetreuung besser gerecht werden zu können, kommt nicht nur in den USA, sondern zunehmend auch bei uns die Erkenntnis zum Tragen, daß die Vielfalt auf der Abnehmerseite einer Entsprechung auf der Anbieterseite bedarf. Es sollte also auch dort das Personal möglichst bunt zusammengesetzt sein, will man nicht nur die Signale des Marktes authentisch interpretieren und umsetzen, sondern generell das Kreativitäts- und Innovationspotential nützen können, das in der Zusammenführung verschiedener Erfahrungswelten ruht12. 12 S. zum Schlagwort „Diversity Management“ aus jüngster Zeit nur etwa Martien Elderhorst, Diversity Management und Demographie, in: AuA 2005, S. 160 ff.; Günther Vedder, Diversity Management – Quo Vadis, in: Personal: Zeitschrift für Human Resource Management 2005, S. 20 ff.; Hartmut Wächter / Günther Vedder / Meik Führing, Personelle Vielfalt in Organisationen, in: Zeitschrift für Personalforschung 19 (2005), S. 96 ff.; einen ersten Einblick verschafft ferner auch folgende Adresse im Internet: http: // www.mitteconsult.de / de / PDF / diversity.pdf (zuletzt abgerufen am 6. April 2006).
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cc) Bei all dem werden die Schattenseiten freiheitlicher Wettbewerbsordnungen nicht übersehen. Solche Systeme produzieren immer auch Verlierer. Und die Kategorie der Gnade ist ihnen dabei weitgehend unbekannt. Wo bei bestimmten Bevölkerungsgruppen aufgrund persönlicher Eigenschaften strukturelle Marktnachteile bestehen – man denke etwa an die Lage von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt –, kann es deshalb zu Teilhabedefiziten kommen, die der Markt mit seinen eigenen Mechanismen selbst auf längere Sicht nicht zu überwinden vermag. Das diskreditiert freiheitliche Marktsysteme und ihre rechtlichen Grundlagen allerdings nicht schon per se. Es zeigt nur, daß diese Systeme ergänzungsbedürftig sind, mithin also kein Monopol bei der Verteilung gesellschaftlicher Güter und Ressourcen in Anspruch nehmen können. Soweit sie nicht hinreichen, eine den sozialmoralischen und rechtlichen Mindestanforderungen genügende Teilhabe zu gewährleisten, sind sie vielmehr durch staatlich-solidarische Unterstützungsleistungen zu komplementieren13. Selbst für diese staatlich-solidarischen Systeme der Gleichheitsgewähr leistet das marktliche System der Freiheitsgewähr allerdings noch seinen unverzichtbaren Beitrag; und damit ist auch der zweite Grund für die Erfolgsträchtigkeit solcher Systeme bei der Schaffung allgemeiner Wohlfahrt benannt. Denn mit ihrer insgesamt hohen Wertschöpfung schaffen freiheitliche Wettbewerbssysteme zugleich die unverzichtbare „Masse“ für solidarische Umverteilungsmaßnahmen. Auf diese Weise gelingt es ihnen nach heutiger Erfahrung schließlich sogar zumeist, für jeden Einzelnen weit mehr als nur das Mindestmaß menschenwürdiger Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen zu sichern14. 13 S. für diese Einsicht statt aller nur Kurt W. Rothschild, Kritik marktwirtschaftlicher Ordnungen als Realtypus, in: Erich Streißler / Christian Watrin (Hg.), Zur Theorie marktwirtschaftlicher Ordnungen, 1980, S. 13 (16); Watrin (N 10), S. 497 f.; Picker (N 8), S. 49 f. 14 S. Alfred Müller-Armack, Der Moralist und der Ökonom, in: ORDO 21 (1970), S. 19 (27, 29); Kurt W. Rothschild, Kritik marktwirtschaftlicher Ordnungen als Realtypus, in: Streißler / Watrin (N 10), S. 16, 30; Frank Münnich, Gesellschaftliche Ziele und Organisationsprinzipien, in: Streißler / Watrin (N 10), S. 187 f.; Carl Christian v. Weizsäcker, Was leistet die
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c) Das Problem der Verteilungsgerechtigkeit Mit dem Hinweis auf staatliche Distributionsmaßnahmen ist schließlich auch der dritte maßgebliche Sachgrund für den Erfolg und die Verbreitung freiheitlicher Marktsysteme berührt. Denn solche Systeme sind zentralen Verteilungssystemen nach heutiger Erfahrung nicht nur insoweit überlegen, als es um die gesamte Wertschöpfung einer Volkswirtschaft geht. Sie sind auch in ihren konkreten Verteilungseffekten im Ausgangspunkt gerechter, weil sich die Verteilung an den im gebotenen Preis ausgedrückten persönlichen Präferenzen ausrichtet und die Güter somit zum größten Bedarf wandern. Als „Informationssystem“ sucht der Markt diesen Bedarf zudem immer schon aus eigenem, „egoistischem“ Antrieb zu ermitteln15. Demgegenüber folgen zentrale Distributionssysteme mangels entsprechender systemimmanenter Anreize bereits aus rein praktischen Gründen geradezu zwangsläufig dem Leitbild einer egalitären Zuteilung. „Gerecht“ kann eine solche Verteilung, wo sie nicht mehr nur der Sicherung des existentiell Notwendigen dient, jedoch allenfalls zufällig sein. Denn der Individualität menschlichen Seins entspricht auch die Individualität menschlicher Präferenzen. Was dem einen wichtig ist, erscheint dem anderen völlig bedeutungslos. Es kann deshalb schon aus purer Vernunft, erst recht aber in einer nach ihren Grundwerten durchgehend der Individualität des Einzelnen verpflichteten Ordnung eine umfassend egalitäre Güter- und Vermögensverteilung niemals als Ideal- oder auch nur Leitbild gerechter Distribution taugen16. Als abstraktes Ziel kommt insoweit nur ein den verschiedenen und sich zudem ständig wandelnden individuellen Präferenzen möglichst Property Rights Theorie für aktuelle wirtschaftspolitische Fragen?, in: Manfred Neumann (Hg.), Ansprüche, Eigentums- und Verfügungsrechte, 1984, S. 123 (132); ders. (N 9), S. 32; Canaris (N 9), S. 74; Picker (N 8), S. 50. 15 S. zu diesen Zusammenhängen nur etwa Böhm (N 10), S. 97; v. Hayek (N 10), S. 161; Bydlinski (N 8), S. 325. 16 Vgl. auch v. Hayek (N 10), S. 15 ff.; Helmut Kliege, Rechtsprobleme der allgemeinen Geschäftsbedingungen in wirtschaftswissenschaftlicher Analyse, 1966, S. 138.
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entsprechender Zustand in Betracht. Eine privatrechtlich fundierte Wettbewerbsordnung ist folglich aber gerade auch unter dem Gesichtspunkt (richtig verstandener) Verteilungsgerechtigkeit Mittel der Wahl. Denn kein anderes System ist in gleicher Weise hieran ausgerichtet. Und kein anderes System kommt dem damit zu verbindenden Idealzustand in seinen tatsächlichen Effekten auch nur ähnlich nahe17. 3. Die positivrechtliche Gewährleistung von Privatautonomie und Vertragsfreiheit im deutschen und europäischen Recht Es entspricht nur den skizzierten Sachgründen und tiefgreifenden sozialen Erfahrungen, daß Privatautonomie und Vertragsfreiheit heute in Deutschland nicht allein Ausfluß des einfachen Gesetzesrechts, sondern darüber hinaus auch verfassungsrechtlich abgesichert sind. Das Grundgesetz gewährleistet beides generalklauselartig in seinem Art. 2 Abs. 1 sowie in maßgeblichen Einzelaspekten auch durch die Eigentums-, Berufs- und Vereinigungsfreiheit, also in seinen Art. 14, 12 und 918. Einigkeit besteht ferner aber auch darin, daß Privat17 Dabei ist selbstverständlich nicht allein auf die erreichten Zustände zu sehen. Denn für die Frage, ob eine bestimmte Lebens- und Vermögenssituation als „gerecht“ empfunden wird und damit ihre befriedenden Effekte entfalten kann, spielt es eine nicht unerhebliche Rolle, daß sie auch als selbst gemacht erfahrbar ist. Ererbter Reichtum vermittelt bekanntlich nicht annähernd die gleiche Befriedigung wie erarbeiteter. Und auch mit der auf eigenen Fehlentscheidungen beruhenden Misere läßt es sich erfahrungsgemäß noch immer leichter leben als mit der von Dritten verordneten (vgl. zu diesen Zusammenhängen auch Kliege [N 16], S. 108; Watrin [N 10], S. 499). 18 S. nur etwa BVerfGE 8, 274 (328); 70, 115 (123); 72, 155 (170); 73, 261 (270); 74, 129 (151); 89, 214 (231); Flume (N 2), § 1 10 a, S. 17; Wolfram Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 11 ff., 20 ff.; Jauernig (N 5), Vorbem. § 145 Rn. 8; Philip Kunig, in: Ingo von Münch / Philip Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, GG, 52000, Art. 2 Rn. 16; s. ferner auch die umfangreichen Nachw. zum Meinungsstand bei Jan Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 53 ff.; Christian Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 2000, S. 69 ff.
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autonomie und Vertragsfreiheit gleichermaßen im europäischen Primärrecht garantiert sind, diesen Instituten also auch „in Europa“ höchste rechtliche Dignität zukommt19. Daß man hierfür nicht auf eine explizite Regelung in den Verträgen zurückgreifen kann, sondern auf eine Gesamtschau sowie einen bislang noch weitgehend richterrechtlich elaborierten Grundrechtsschutz verwiesen ist, kann dabei kaum stören. Denn die grundlegende Selbstverpflichtung der Gemeinschaft auf eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb20, die betonte Hervorhebung des Freiheitsprinzips als Fundament der Europäischen Union21 sowie die explizite Erwähnung der Eigentums-, Berufs- und Versammlungsfreiheit wie schließlich sogar der unternehmerischen Freiheit in der als Spiegel des in Union und Gemeinschaft gewährleisteten Grundrechts19 S. nur etwa Peter-Christian Müller-Graff, Unternehmensinvestitionen und Investitionssteuerung im Marktrecht, 1984, S. 274 ff., 280 ff.; ders., Binnenmarktziel und Rechtsordnung, 1989, S. 56 ff.; ders. (N 5), S. 20; Fritz Rittner, Die wirtschaftsrechtliche Ordnung der EG und das Privatrecht, in: JZ 1990, S. 838 (840, 841); Claus-Wilhelm Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Peter Badura / Rupert Scholz (Hg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens, Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 873 (890); Heinrich (N 18), S. 160; Jörg Neuner, Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, in: JZ 2003, S. 57 (59); Schöbener / Stork (N 5), S. 55 ff., 58; Karl Riesenhuber / Jens-Uwe Franck, Verbot der Geschlechterdiskriminierung im Europäischen Vertragsrecht, in: JZ 2004, S. 529 (536 f.); Rainer Wernsmann, Bindung Privater an Diskriminierungsverbote durch Gemeinschaftsrecht, in: JZ 2005, S. 224 (232); Picker (N 8), S. 103 ff.; s. ferner etwa Hans-Werner Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, S. 21 f.; Peter Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, S. 645 f.; Hans-Werner Rengeling / Peter Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, S. 85 Rn. 146, S. 441 Rn. 648, S. 858 Rn. 1062; Hans D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, S. 247 Rn. 7; Hermann-Josef Blanke, in: Peter J. Tettinger / Klaus Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 16 Rn. 11; selbst Susanne Baer, „Ende der Privatautonomie“ oder grundrechtlich fundierte Rechtssetzung? – Die deutsche Debatte um das Antidiskriminierungsrecht, in: ZRP 2002, S. 290 (291), attestiert dem Europarecht einen „primär liberalen Zug“. 20 S. Art. 4 Abs. 1, 98, 105 Abs. 1 EGV. 21 S. Art. 6 Abs. 1 EUV.
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schutzes fungierenden EU-Grundrechtscharta22 lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß sich auch die Europäische Gemeinschaft und die Europäische Union im Sinne einer „Privatrechtsgesellschaft“ verfaßt haben, die normativ auf den Instituten Eigentum und Vertragsfreiheit aufbaut. II. Diskriminierungsverbote als Freiheitsbeschränkung 1. Der Wesensgehalt von Diskriminierungsverboten Mit dem Schlagwort der „Antidiskriminierung“ verbindet sich speziell im rechtsgeschäftlichen Bereich eine Antithese zur Privatautonomie. Denn hiermit zielt man bewußt auf eine Beschränkung von Wahlfreiheit. Bei der Entscheidung, mit welchem Partner man sich auf ein Rechtsgeschäft einlassen will, wird die Heranziehung bestimmter Kriterien verboten. Betroffen sind heute insbesondere: Geschlecht, „Rasse“ und ethnische Herkunft, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung23. Dabei muß die Entscheidung allerdings nicht notwendigerweise unmittelbar auf diesem Kriterium beruhen. Zum Bestand der Antidiskriminierungsdogmatik gehört seit langem auch das Verbot einer sog. mittelbaren Diskriminierung. Hiernach dürfen selbst solche Kriterien bei der Auswahl nicht herangezogen werden, die zwar für sich genommen neutral erscheinen, die aber in ihrem Effekt Personen mit einer der Antidiskriminierungsnorm unterfallenden Eigenschaft in besonderer Weise benachteiligen können24. Dies wäre 22 S. Art. 12, 15, 16, 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. Nr. C 364 / 1). 23 S. hierfür nur die u., u. III. 1., S. 125 ff. näher zu behandelnden EGGleichbehandlungsrichtlinien. 24 S. die Definition der mittelbaren Diskriminierung etwa in Art. 2 Abs. 2 lit. b RL 2000 / 43 / EG (Antirassismusrichtlinie); Art. 2 Abs. 2 lit. b RL 2000 / 78 / EG (Rahmenrichtlinie Beschäftigung); Art. 1 Nr. 2 RL 2002 / 73 / EG (Gender-Richtlinie = Art. 2 Abs. 2, 2. Spiegelstrich RL 76 / 207 / EWG n. F.); Art. 2 lit. b RL 2004 / 113 / EG (Gleichbehandlungsrichtlinie);
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etwa dann der Fall, wenn ein Arbeitgeber von den 20 männlichen und 20 weiblichen Bewerbern um eine Sachbearbeiterstelle von vornherein sämtliche Kandidaten aussortiert, deren Schuhgröße kleiner als „44“ mißt. Denn welchem Geschlecht die hiernach noch verbleibenden Aspiranten angehören werden, ist unschwer auszurechnen. 2. Der Gleichheitssatz als normativer Ausgangs- und Anknüpfungspunkt von Diskriminierungsverboten a) So wie sich Privatautonomie und Vertragsfreiheit in den verfassungs- und primärrechtlichen Freiheitsgarantien abgesichert sehen, suchen auch Antidiskriminierungsprogramme eine rechtliche Absicherung von höchstem Rang. Anknüpfungspunkt im deutschen Recht ist dabei naturgemäß Art. 3 GG mit seinem allgemeinen wie auch seinen besonderen Gleichheitssätzen25. Im europäischen Primärrecht finden sich zur Problematik des Begriffs vgl. nur etwa Gerlind Wisskirchen, Mittelbare Diskriminierung von Frauen im Erwerbsleben, 1994; Christine Fuchsloch, Das Verbot der mittelbaren Geschlechtsdiskriminierung, 1995; Karl-Jürgen Bieback, Die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts, 1997; Dagmar Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 1999, S. 63 ff.; dies., Gleichbehandlungsrichtlinien der EU – Umsetzung im deutschen Arbeitsrecht, in: NZA 2004, S. 873 (874 f.); Dammann (N 11), S. 264 ff.; auch Thomas Pfeiffer, Diskriminierung oder Nichtdiskriminierung – was ist hier eigentlich die Frage?, in: ZGS 2002, S. 165. 25 S. nur etwa BT-Drucks. 14 / 4538, S. 19 sowie jetzt auch wieder BTDrucks. 16 / 1780, S. 22; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit (N 24), S. 48 ff., 77 ff.; Tilman Bezzenberger, Ethnische Diskriminierung, Gleichheit und Sittenordnung im bürgerlichen Recht, in: AcP 196 (1996), S. 395 (410); Rainer Nickel, Gleichheit und Differenz in der vielfältigen Republik, 1999, S. 134, 216; ders., Handlungsaufträge zur Bekämpfung von ethnischen Diskriminierungen in der neuen Gleichbehandlungsrichtlinie 2000 / 43 / EG, in: NJW 2001, S. 2668 (2669); Baer (N 19), S. 290 ff.; Michael Wrase / Susanne Baer, Unterschiedliche Tarife für Männer und Frauen in der privaten Krankenversicherung – ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes?, in: NJW 2004, S. 1623 (1624, 1627); Ulrike Wendeling-Schröder, Diskriminierung und Privilegierung im Arbeitsleben, in: Festschrift für Peter Schwerdtner, 2003, S. 269 (271 f.); demgegenüber stellt etwa Neuner (N 19), S. 60 f., maßgeblich auf den Würde8 Isensee (Hrsg.)
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über allgemeine und z. T. eher programmatische Bekenntnisse zum Gleichheitssatz26 hinaus sogar spezifische Antidiskriminierungsregelungen. Dabei sind für unseren Zusammenhang v. a. die Art. 13 und 141 EGV von Bedeutung27, weil hierauf auch die jüngste Richtliniengesetzgebung der Gemeinschaft im Antidiskriminierungsrecht fußt28. Art. 141 EGV schreibt die Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeitsund Beschäftigungsfragen, speziell bei der Entgeltgewährung vor. Art. 13 EGV verschafft dem Rat eine Ermächtigungsgrundlage, allerdings immer nur im Rahmen der Zuständigkeiten der Gemeinschaft, um geeignete Vorkehrungen zur Bekämpfung von Diskriminierungen wegen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu treffen. b) Im Hinblick auf all diese normativen Anknüpfungen gilt es allerdings von vornherein klar zu sehen: So zweifelsfrei die Privatrechtsrelevanz der die Privatautonomie verbürgenden höchstrangigen Normen ist – es geht ihnen ja gerade darum, private Freiheitssphären zu sichern –, so zweifelhaft erscheint umgekehrt die Privatrechtsrelevanz jeglicher Gleichheitssätze, wenn diese über die Gewährung formaler Rechtsgleichheit hinausgehen soll. Das ergibt sich bereits aus dem verfassungsrechtlichen Basissatz der Staatsgerichtetheit von Grundrechtsgewährungen29: Zur Gleichbehandlung verpflichtet sind daschutz und das Sozialstaatsgebot ab, weil er, insoweit zu Recht, Art. 3 GG weder eine unmittelbare Drittwirkung noch originäre Schutzpflichten entnehmen will. 26 S. insbes. Art. 3 Abs. 2 EGV sowie als Spiegel ungeschriebenen Rechts auch Art. 20 der EU-Grundrechtscharta. 27 S. ferner auch noch Art. 6 Abs. 2 EUV i. V. m. Art. 14 EMRK sowie als Spiegel europäischer Rechtsstandards Art. 21, 23, 25, 26 EU-Grundrechtscharta. 28 S. für RL 2000 / 43 / EG ABl. v. 19. 7. 2000, S. L 180 / 22; für RL 2000 / 78 / EG ABl. v. 2. 12. 2000, S. L 303 / 16; für RL 2002 / 73 / EG ABl. v. 5. 10. 2002, S. L 269 / 15; für RL 2004 / 114 / EG ABl. v. 21. 12. 2004, S. 373 / 37. 29 S. zum deutschen Recht nur etwa BVerfGE 30, 173 (199); 73, 261 (269); Günter Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, in: Festschrift
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nach prinzipiell nur die staatlichen Gewalten gegenüber den Einzelnen, nicht aber auch die Einzelnen untereinander. Der staatlichen Gleichbehandlungspflicht ist im Hinblick auf die zum 75. Geburtstag von Hans Nawiasky, 1956, S. 157 (164); Wolfgang Rüfner, Drittwirkung der Grundrechte – Versuch einer Bilanz, in: Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, S. 215 (219); Hans Hanau, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke privater Gestaltungsmacht, 2004, S. 52 ff.; s. ferner Claus-Wilhelm Canaris, Grundrechte und Privatrecht, in: AcP 184 (1984), S. 201 (203 ff.), der mit seiner Schutzpflichtlehre im Ergebnis allerdings gerade für Art. 3 GG doch wieder zu einer weitgehend unmittelbaren Bindung Privater gelangt (s. a. a. O., S. 235 ff. sowie auch S. 243; generell weitergehend in der unmittelbaren Wirkung Johannes Hager, Grundrechte im Privatrecht, in: JZ 1994, S. 373 [374 ff.]; speziell für den hier verfolgten Zusammenhang auch Baer [N 19], S. 293; Wrase / Baer [N 25], S. 1624), weil er diese Bindung gleichsam nur „über Bande“ spielt (s. auch Canaris selbst, a. a. O., S. 237; s. für dessen Konzeption ferner auch Claus-Wilhelm Canaris, Grundrechte und Privatrecht – eine Zwischenbilanz, 1999, bes. S. 16 ff., 23 ff.). Nicht hinreichend beachtet wird dabei freilich, daß die Grundrechte staatliche Schutzpflichten immer nur für das Verhältnis auslösen können, auf das sie sich beziehen, was es bei Anerkennung des Grundsatzes von der bloßen Staatsgerichtetheit von Grundrechten folglich aber auch bei prinzipieller Anerkennung der Schutzpflichtlehre denklogisch ausschließen muß, den Gleichheitssatz im Verhältnis der Privaten untereinander zur Geltung zu bringen (klar hervorgehoben auch schon von Dürig, a. a. O., S. 158; vgl. speziell hierzu neben seiner durchgehenden Kritik an der Konzeption Canaris’ auch Uwe Diederichsen, Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht – ein Lehrstück der juristischen Methodenlehre, in: AcP 198 (1998), S. 171 (225); der genannte Einwand wird auch durch Canaris, Grundrechte und Privatrecht [N 29], S. 24 f. nicht etwa entkräftet). S. für den im Text genannten Basissatz speziell im hier verfolgten Zusammenhang ferner nur etwa Ute Mager, Möglichkeiten und Grenzen rechtlicher Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Ausländern, in: ZAR 1992, S. 170 (171); Bezzenberger (N 25), S. 401; auch Nickel (N 25), S. 135 ff.; Kay Hailbronner, Die Antidiskriminierungsrichtlinien der EU, in: ZAR 2001, S. 254 (254 f.); Thomas M. J. Möllers, Einschränkung der Vertragsund Gestaltungsfreiheit durch europäische Richtlinien, in: Wilfried Bottke / Thomas M. J. Möllers / Reiner Schmidt (Hg.), Recht in Europa – Festgabe zum 30-jährigen Bestehen der Juristischen Fakultät Augsburg, 2003, S. 189 (195); Hermann Reichold, Sozialgerechtigkeit versus Vertragsgerechtigkeit – arbeitsrechtliche Erfahrungen mit Diskriminierungsregeln, in: JZ 2004, S. 384 (387); Dammann (N 11), S. 30 ff.; zum europäischen Recht s. nur etwa Rengeling (N 19), S. 200; Szczekalla (N 19), S. 707 ff.; Rengeling / Szczekalla (N 19), § 6 B S. 219 ff. Rn. 402 ff.; Dirk Ehlers, in: ders. (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 22005, § 14 8*
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Ausgestaltung des Zivilrechts aber immer schon dann entsprochen, wenn sämtliche Private ohne Unterschied zur gegenseitigen „Diskriminierung“ berechtigt sind. Eine über die formale Gleichberechtigung hinausgehende tatsächliche Gleichstellung zu bewirken, ist hiernach im Ausgangspunkt Aufgabe des öffentlichen Rechts. Diese grundlegende Arbeitsteilung zwischen Zivil- und öffentlichem Recht ist weder Zufall noch überlebter Doktrinarismus30. Sie ist deshalb auch nur in engsten Grenzen etwa über die Konstruktion mittelbarer Grundrechtswirkungen31 oder auch staatlicher Schutzpflichten32 aufzubrechen. Denn V 3, S. 400 f. Rn. 37; Jarass (N 19), § 4 I 4 a, S. 41 f. Rn. 17 ff.; Clemens Ladenburger, in: Tettinger / Stern (N 19), Art. 51 Rn. 11 ff.; speziell für den Gleichheitssatz auch Thorsten Kingreen, in: Dirk Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 22005, § 18 I 1 b, S. 480 Rn. 3; s. auch ders., ebd., § 13 II 2 a, S. 378 Rn. 12; Rengeling / Szczekalla (N 19), § 4 B III 2, S. 176 f. Rn. 335; sowie für die EMRK auch Robert Uerpmann-Wittzack, in: Dirk Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 22005, § 3 III c, S. 30 Rn. 70; Wernsmann (N 19), S. 224; s. speziell zu Art. 13 EGV auch Hailbronner, a. a. O., S. 256; Wernsmann (N 19), S. 227; sowie auch Christian Waldhoff, Kirchliche Selbstbestimmung und Europarecht, in: JZ 2003, S. 978 (982). 30 So aber etwa Rudolf Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, S. 168; Martin Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968, S. 75 ff.; sowie speziell im hier verfolgten Zusammenhang auch Nickel (N 25), S. 50; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit (N 24), S. 336. 31 S. für die heute ganz h. M. zur mittelbaren Einwirkung von Grundrechten auf das Zivilrecht insbesondere über die Generalklauseln grundlegend Dürig (N 29), S. 176 ff.; im hier verfolgten Zusammenhang s. etwa Mager (N 29), S. 171; Wernsmann (N 19), S. 231; Martin Franzen, Diskriminierungsverbote und Privatautonomie – Gedanken zur Umsetzung der EG-Richtlinien 2000 / 43 und 2000 / 78 im allgemeinen Privatrecht, in: Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe (Hg.), Jahresband der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe 2004, 2005, S. 51 (64); krit. gegenüber dieser Lehre heute etwa Canaris (N 29), S. 210 ff.; Hager (N 29), S. 373 f. 32 Vgl. zu dieser Grundrechtswirkung allgemein nur etwa die Präzedenzentscheidung BVerfGE 39, 1, 42 ff. sowie aus der Lit. Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 34 ff.; ders., Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts (= HStR), Bd. V, 22000 (11992), § 111 Rn. 77 ff. jew. m. w. Nachw.; klar erkannt wird dabei allerdings, daß die Gleichheitsrechte als Gegenstand staatlicher Schutzpflichten notwen-
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jede wie immer begründete Verpflichtung Privater zur Gleichbehandlung berührt deren Freiheit im Kern. Und sie setzt sich so zwangsläufig gerade auch mit der rechtlichen Gewährleistung dieser Freiheit in Widerspruch. Sobald man Freiheitsund Gleichheitsgewährungen eine auch nur annähernd gleiche Privatrechtsrelevanz zumißt, schafft man folglich unweigerlich das Bild einer geradezu perplexen, in sich widersprüchlichen rechtlichen Ordnung, was bereits per se freiheitsverkürzend wirkt. Denn um eine solche Ordnung gleichwohl handhabbar zu halten, bleibt nichts, als schließlich dem zur Einzelfallentscheidung berufenen Richter erhebliche Abwägungsspielräume zu eröffnen, damit angesichts des Verzichts auf eine theoretisch klare Abgrenzung wenigstens noch ein Zustand „praktischer Konkordanz“33 unter den betroffenen Rechtsprinzipien erreicht werden kann. Das konkrete Ausmaß rechtlich gewährter Freiheit bestimmt sich mithin nicht mehr allein nach dem Gesetz. Es hängt in erheblichem Umfang von den individuellen Wertungen des konkret entscheidenden Richters ab34. digerweise ausscheiden müssen, will man die in den Freiheitsgrundrechten ruhende Privatautonomie nicht gefährden (s. Rn. 96, 135; ebenso Möllers [N 29], S. 197 ff.; vgl. ferner auch Rüfner [N 29], S. 223; Diederichsen [N 29], S. 228, 248 ff.; Neuner [N 19], S. 60; H. Hanau [N 29], S. 64 ff.; Reichold [N 29], S. 387); demgegenüber wollen die staatliche Schutzpflicht grds. auch im Hinblick auf den Gleichheitssatz aktivieren etwa Canaris (N 29), S. 235 ff.; Bezzenberger (N 25), S. 401 ff.; auch Franz Jürgen Säcker, Kritische Gedanken zur Ergänzung des BGB durch Antidiskriminierungsvorschriften, in: BB 2004, Spezial 6 / 04, S. 16 (17); Dammann (N 11), S. 91; s. im Hinblick auf die Grundfreiheiten auch Rudolf Streinz / Stefan Leible, Die unmittelbare Wirkung der Grundfreiheiten, in: EuZW 2000, S. 459 (466 f.); umfassend zur Kategorie der grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen wie v.a. auch im europäischen Recht aus jüngerer Zeit Szczekalla (N 19), passim; s. ferner auch Christian Callies, Die grundrechtliche Schutzpflicht im mehrpoligen Verfassungsverhältnis, in: JZ 2006, S. 321 ff. 33 S. zu diesem Topos und der damit verbundenen, heute ganz herrschenden Methode bei der Auflösung von Grundrechtskollisionen nur etwa BVerfGE 89, 214 (232); 94, 268 (284 ff.); 100, 271 (283 ff.); 103, 293, (306 ff.); Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 201995, Rn. 72; Peter Lerche, Grundrechtsschranken, in: HStR, Bd. V, 22000 (11992), § 122 Rn. 3 ff.; s. speziell im hier verfolgten Zusammenhang auch Hager (N 29), S. 375, 377; Nickel (N 25),
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Derartige Freiheitsverkürzungen sind im Hinblick auf den Gleichheitssatz auch nicht etwa notgedrungen hinzunehmen. Denn die Lebensfähigkeit dieses Rechtsprinzips hängt hiervon nicht ab. Es hat auch als spezifische Handlungsanleitung für die Träger öffentlicher Gewalt ein hinreichend weites Anwendungsfeld und hinreichend große Bedeutung. Sieht man im Grundsatz nur sie und nicht auch Private durch Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote verpflichtet, dient diese Lesart mithin nicht nur dem Bedürfnis nach einer rein formal verstandenen inneren Konsistenz der Rechtsordnung. Vielmehr lassen sich nur so auch die einschlägigen materiellen Wertentscheidungen in ein lebensfähiges, von permanenter gegenseitiger Bedrohung freies und damit auch schleichende Erosionen im Zuge weitgreifender richterlicher Abwägungen hinderndes Verhältnis zueinander bringen. c) Über privatrechtliche Diskriminierungsverbote ist damit allerdings noch nicht schon in toto der Stab gebrochen. Es sind vielmehr nur die Grunddaten benannt, die bei der Planung und Umsetzung rechtlicher Antidiskriminierungsprogramme zu berücksichtigen sind. Eine einheitliche Bewertung sämtlicher solcher Programme ist ohnehin nicht möglich, da S. 139 ff.; Baer (N 19), S. 291; Wrase / Baer (N 25), S. 1626; Franzen (N 31), S. 64; auch Säcker (N 32) S. 17; Wernsmann (N 19), S. 231 ff. 34 Anschaulich vorgeführt etwa von Wernsmann (N 19), S. 232 f.; vgl. auch die Darstellung der Meinungsvielfalt, wie sie zwangsläufig aus solchem Vorgehen entstehen muß, bei Dammann (N 11), S. 25 f.; s. ferner auch Szczekalla (N 19), S. 646 f.; mit klarem Blick für die Freiheitsgefährdungen gegen jedes Ausgleichs- und Konkordanzdenken im Hinblick auf die Vertragsfreiheit dagegen schon Jürgen Salzwedel, Gleichheitssatz und Drittwirkung, in: Festschrift für Hermann Jahrreiss, 1964, S. 339 (353); sowie in jüngerer Zeit auch Möllers (N 29), S. 197; H. Hanau (N 29), S. 66 f.; immerhin krit. auch Dammann, a. a. O., S. 27, der dann allerdings selbst kaum grundlegend unterschiedlich vorgeht (s. a. a. O., insbes. S. 100 ff.); s. zur Kritik an dieser Methode in anderem Zusammenhang auch schon Thomas Lobinger, Arbeitskämpfe bei Standortschließungen und -verlagerungen?, in: Volker Rieble (Hg.), Zukunft des Arbeitskampfes, 2005, S. 55 (66 f.); vgl. weiterhin nur Diederichsen (N 29), S. 228 ff., 252 ff.; sowie die deutliche Kritik im Hinblick auf das öffentliche Recht bei Walter Leisner, „Abwägung überall“ – Gefahr für den Rechtsstaat, in: NJW 1997, S. 636 (638).
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sich hinter dem Schlagwort der Antidiskriminierung durchaus verschiedene Programmatiken verbergen. Die genauere Analyse läßt drei unterschiedliche Zielrichtungen erkennen, die heute allerdings kaum immer hinreichend klar auseinandergehalten werden35. Weil die Unterschiede in den Zielrichtungen erheblichen Einfluß auf die Zulässigkeit des Mittels bei der Implementierung rechtlicher Antidiskriminierungsmaßnahmen haben, sind die verschiedenen Programmatiken hinter den aktuellen Antidiskriminierungsprogrammen im folgenden näher zu beleuchten. 3. „Antidiskriminierung“ als Schlagwort heterogener rechtlicher und rechtspolitischer Programme a) Integritätsschützende Diskriminierungsverbote Bereits assoziativ verbindet man mit dem Schlagwort der Antidiskriminierung in Deutschland heute Fälle wie etwa den, daß ein Kunde im Kaufhaus wegen seiner Hautfarbe nicht bedient wird oder der Gastwirt ein Schild an seiner Lokaltür anbringt mit der Aufschrift: „Kein Zutritt für Türken!“36 Solche Verhaltensweisen wurden allerdings auch schon lange vor den heute zur Debatte stehenden Antidiskriminierungsprogrammen als verboten erkannt und folgerichtig auch zivilrechtlich, konkret zumeist über §§ 823 Abs. 1, 826 BGB, sanktioniert37. 35 Klar differenzierend zwischen abwehrrechtlichem und teilhaberechtlichem Diskriminierungsschutz allerdings etwa Neuner (N 19), S. 58 ff.; s. ferner Picker (N 8), S. 19 ff., 28 ff.; vgl. auch Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit (N 24), S. 37 ff., die allerdings die Bedeutung der „unterschiedlichen Zieldimensionen“ für die Frage der zulässigen rechtlichen Mittel im Kampf gegen Diskriminierung nicht sieht (vgl. a. a. O., S. 48). 36 S. für solche und ähnliche Fälle nur OLG Frankfurt a. M., NJW 1985, S. 1720; BayObLG, NJW 1983, S. 2040; s. zur Kasuistik ferner Nickel (N 25), S. 82 ff.; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit (N 24), S. 274 ff., 283 ff.; Picker (N 8), S. 29 ff. 37 S. hierfür nur etwa Salzwedel (N 34), S. 351; Franz Bydlinski, Zu den Grundfragen des Kontrahierungszwanges, in: AcP 180 (1980), S. 1 (45 Fn. 69); Canaris (N 29), S. 243; Rolf Kühner, Das Recht auf Zugang zu
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Denn hierbei handelt es sich ja um ein evident sittenwidriges, das Persönlichkeitsrecht der betroffenen Gruppen verletzendes Verhalten. Deren Angehörigen wird signalisiert, daß sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft nicht erwünscht und deshalb von der Teilhabe an dem im übrigen allen offen stehenden gesellschaftlichen Leben auszunehmen sind. Im Kern wird ihnen so die Gleichwertigkeit als Person abgesprochen, was ohne weiteres den Tatbestand einer Persönlichkeitsrechtsverletzung erfüllt38. Es geht um die Herabsetzung der Würde durch Verneinung der menschlichen Ebenbürtigkeit. Damit aber steht in diesen Fällen mit dem Diskriminierungsverbot tatsächlich nur eine herkömmliche zivilrechtliche Reaktion in Rede. Denn die Unerlaubtheit persönlichkeitsrechtsverletzender Handlungen und ihre Sanktionierung mittels allgemeiner, insbesondere schadensersatzrechtlicher Schutzansprüche fügt sich in den überkommenen zivilrechtlichen Integritätsschutz nahtlos ein.
Gaststätten und das Verbot der Rassendiskriminierung, in: NJW 1986, S. 1397 (1401); Mager (N 29), S. 171; Bezzenberger (N 25), S. 421 ff., allerdings bereits mit frei gegriffenen Weiterungen im Hinblick auf eine Pflicht zum Vertragsschluß (s. a. a. O., S. 427 ff.); Katharina v. Koppenfels, Das Ende der Vertragsfreiheit?, in: WM 2002, S. 1489 (1492 ff.); Eduard Picker, Antidiskriminierung als Zivilrechtsprogramm?, in: JZ 2003, S. 540 (544); Möllers (N 29), S. 200 f.; Säcker (N 32) S. 17; Franzen (N 31), S. 71; zur völkerrechtlichen Konformität dieses Rechtszustands im Hinblick auf internationale Vereinbarungen zur Beseitigung der Rassendiskriminierung s. nur Rüdiger Wolfrum, Das Verbot der Rassendiskriminierung im Spannungsfeld zwischen dem Schutz individueller Freiheitsrechte und der Verpflichtung des einzelnen im Allgemeininteresse, in: Festschrift für Peter Schneider, 1990, S. 515 (524 f.); aus der Rspr. s. als Beispiel für ein solches – im konkreten Fall über § 138 BGB sanktioniertes – Sittenwidrigkeitsverdikt LG Frankfurt a. M, NJW-RR 2001, S. 1113 (1114). 38 S. an dieser Stelle außer den in N 37 Genannten nur etwa noch Neuner (N 19), S. 58; sowie ausführlich u. m. zahlr. w. Nachw. Picker (N 8), S. 28 ff.; dazu, daß in solchen Fällen selbstredend auch die grundrechtsdogmatische Figur der staatlichen Schutzpflicht ihr systemkonformes Anwendungsfeld hat, was dann „mittelbar [auch] der Gleichheit zugute [kommt]“, s. Isensee (N 32), § 111 Rn. 96; s. zum Ganzen näher auch nochmals u., u. B. I. 2., S. 142 ff.
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b) Verteilungs- und integrationspolitisch motivierte Diskriminierungsverbote Scharf abzugrenzen von solchen integritätsschützenden Diskriminierungsverboten sind verteilungs- und integrationspolitisch motivierte Diskriminierungsverbote. Diesen geht es nicht um die Wahrung bestehender Rechtspositionen, namentlich des Persönlichkeitsrechts, sondern vielmehr um die Erlangung neuer. Ziel ist die Unterstützung von Personengruppen, die selbst bei rein rationalen und vorurteilsfreien Reaktionen des Marktes aufgrund persönlicher Merkmale und Eigenschaften unter Nachteilen leiden, die es ihnen signifikant erschweren, die in Frage stehende Position aus eigener Kraft zu erwerben. Hinter derartigen Diskriminierungsverboten steht somit eine originär sozialstaatliche und -politische Programmatik: Es geht um die Verbesserung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Teilhabe für Personen, die von Natur aus benachteiligt sind und für die mit einer ablehnenden Reaktion des Marktes deshalb regelmäßig auch kein Urteil über den Wert und die Würde ihrer Person verbunden ist. Beurteilt bzw. prognostiziert wird mit der Anknüpfung an das in Frage stehende persönliche Merkmal allein die Fähigkeit der Person, die auf dem Markt nachgefragte Leistung möglichst optimal erbringen zu können, so wie man diese Fähigkeit auch aufgrund zahlreicher anderer Faktoren, etwa der Körpergröße, der physischen Kraft, der Freundlichkeit im Umgang, der Intelligenz, der Sprachkompetenz, der Schul- und Ausbildung, der Abschlußnoten, der Berufserfahrung, etc. zu prognostizieren versucht. Die klassischen Beispiele für derartige Diskriminierungsverbote finden sich im Arbeitsrecht. So zielt insbesondere das dort seit langem etablierte Verbot geschlechtsbezogener Benachteiligungen, wie es bislang in den §§ 611a, 611b, 612 Abs. 3 BGB statuiert war, auf die Eliminierung von Nachteilen, die sich für Frauen auf dem Arbeitsmarkt infolge drohender oder auch schon tatsächlich zu verzeichnender Ausfallzeiten infolge von Schwangerschaft und Kindererziehung
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ergeben. Ebenfalls hierher gehört das Benachteiligungsverbot wegen Schwerbehinderung gem. § 81 Abs. 2 SGB IX, das auf die Marktnachteile reagiert, die bei einer Schwerbehinderung gegenüber Nichtbehinderten auch dann noch verbleiben, wenn die Behinderung einer Beschäftigung auf der in Frage stehenden Stelle nicht schon per se entgegensteht39. c) Sozial- und moralpädagogisch motivierte Diskriminierungsverbote aa) Obwohl es vielfach Überschneidungen mit den bereits genannten Programmatiken rechtlicher Antidiskriminierungsmaßnahmen gibt, lassen sich als durchaus eigenständiger Typus schließlich noch solche Diskriminierungsverbote benennen, die weder dem Schutz des Persönlichkeitsrechts dienen noch im engeren Sinn teilhaberechtliche Ziele verfolgen, sondern in erster Linie die Schaffung einer neuen Sozialmoral bezwecken, indem sie den Privatrechtsakteuren aufgeben, sich bei ihren Entscheidungen nicht mehr nur vom persönlichen Nutzen, sondern auch und vor allem vom moralisch Guten und politisch Korrekten leiten zu lassen. Aus den durch das bestehende System gezüchteten ökonomischen und moralischen Egoisten sollen geläuterte Altruisten werden, die auch in ihren eigenen privaten Angelegenheiten stets „guter Politik“ entsprechend handeln40. bb) Besonders augenfällig wird diese Zielrichtung in der jüngsten Gleichbehandlungsrichtlinie des Rates vom 13. Dezember 2004 (2004 / 113 / EG), deren weit über Juristenkreise S. hierzu auch nochmals u., u. B. II. 3., S. 159 ff. S. speziell hierzu v.a. Franz-Jürgen Säcker, „Vernunft statt Freiheit!“ – Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner – Referentenentwurf eines privatrechtlichen Diskriminierungsgesetzes, in: ZRP 2002, S. 286 ff.; Johann Braun, Forum: Übrigens – Deutschland wird wieder totalitär, in: JuS 2002, S. 424 ff.; Pfeiffer (N 24), S. 165; Picker (N 37), S. 541; ders. (N 8), S. 20 ff.; Christoph Schmelz, „Vernunft statt Freiheit!“ – Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner, in: ZRP 2003, S. 67; vgl. ferner auch Möllers (N 29), S. 205 Fn. 80; Riesenhuber / Franck (N 19), S. 537. 39 40
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hinaus beachtetes Hauptanliegen ursprünglich sogar die ausnahmslose Anordnung von sog. Unisex-Tarifen im Versicherungswesen war und die auch in ihrer schließlich Gesetz gewordenen Fassung geschlechtsspezifische Differenzierungen bei Versicherungsprämien und -leistungen nur unter strengsten Auflagen und Kontrollen zulassen will41. Denn obwohl die Kommission in der Begründung ihres Richtlinienvorschlags42 an keiner Stelle davon ausgeht, daß hinter den Differenzierungen der Versicherer statt rationaler, rein ökonomischer Risikobewertungen mißbilligenswerte Herabwürdigungen stehen könnten43, und obwohl die Kommission ferner auch sämtliche Umstände erkannt hat, die klar belegen, daß es sich hier nicht wie auf dem Arbeitsmarkt um strukturelle Teilhabedefizite eines Geschlechts handelt44, sollen die Versicherer gegen ihre eigenen ökonomischen Einsichten zu einer gleichförmigen Behandlung der Geschlechter gezwungen werden. Die Begründung – und das offenbart den dominierenden erzieherischen Impetus der Richtlinie – hält dies für eine „echte moralische Verpflichtung“45, die selbst rein ökonomisch motivierte und statistisch fundierte Argumente als 41 S. Art. 5 Abs. 2 RL 2004 / 113 / EG: Das Geschlecht muß auf der Grundlage genauer versicherungsmathematischer und statistischer Daten „bestimmender Faktor“ für die Risikobewertung sein. 42 KOM (2003) 657 endg. 43 Vgl. hierzu nur etwa Wandt (N 8), S. 117 ff. 44 So sieht die Kommission selbst, daß sich bereits die Nachteile je nach Art der Versicherung und je nach Alter unter den Geschlechtern aufteilen (bei Kranken- und Rentenversicherungen sind im Großen und Ganzen eher Frauen mit höheren Prämien belastet, bei Kfz-Versicherungen dagegen eher Männer), daß für existentielle Risiken zudem geschlechtsneutral kassierende gesetzliche Systeme als Ausweichmöglichkeiten bereit stehen, und daß schließlich auch der Wettbewerb selbst zunehmend zum Abbau geschlechtsspezifischer Prämienfestsetzungen führt (s. hierzu KOM (2003) 657 endg., S. 9). Besonders deutlich wird der Unterschied gegenüber dem Arbeitsmarkt schließlich aber auch noch daran, daß dort die geschlechtsspezifischen Marktnachteile selbst durch staatliche Zuschüsse und Ausgleichszahlungen nie ganz auszugleichen wären (s. hierzu näher u., u. B. II. 3., S. 159 ff.), wohingegen dies hier ohne weiteres der Fall wäre. 45 KOM (2003) 657 endg., S. 4.
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„moralisch inakzeptable“ Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen erscheinen ließen46. Zum Leitspruch wird hier also: „Stat pro ratione honestas“. Private Versicherer sollen künftig nicht mehr wie Private handeln. Vielmehr sollen sie, zumal der Trend in den Mitgliedstaaten dahin gehe, geschlechtsneutral anknüpfende staatliche Systeme durch private zu ergänzen bzw. zu ersetzen, künftig wie diese – gerade abgelösten! – staatlichen Systeme agieren. Ohne jeden Anflug von Problembewußtsein werden sie deshalb von der Begründung auch kurzerhand wie staatliche Organe an das Grundrecht der Gleichbehandlung gebunden, und es wird infolgedessen ihre Tariffreiheit diesem Grundrecht „untergeordnet“47. cc) Daß es der Gleichbehandlungsrichtlinie mit all dem tatsächlich um die flächendeckende Verbreitung und Absicherung einer bestimmten Moral und nicht etwa um eine „kalte Teilverstaatlichung“ bestimmter Wirtschaftszweige geht, wird an ihrem umfassenden, über den Versicherungssektor weit hinausgreifenden Geltungsanspruch deutlich. Denn das Gleichbehandlungsgebot soll für beinahe sämtliche Anbieter auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten verbindlich gemacht werden, obwohl die Kommission in ihrer Begründung selbst feststellt, daß diese Märkte mit Ausnahme spontaner Einzelfälle ohnehin schon geschlechtsneutral reagieren und somit ein signifikantes Diskriminierungsproblem überhaupt nicht besteht48. Stellt man in Rechnung, daß auch die genannten spontanen Einzelfälle bereits mit dem herkömmlichen Schutz des Persönlichkeitsrechts in den Griff zu bekommen wären, zeigt das aber in aller Klarheit: Offenbar reicht es der Richtlinie nicht, daß das Richtige und Gute bereits aus eigennützigem Handeln entsteht. Es soll darüber hinaus immer auch aus richtiger und guter innerer Einstellung entstehen. Diese Einstellung zu befördern, ist deshalb das eigentliche Ziel 46 47 48
KOM (2003) 657 endg., S. 9. KOM (2003) 657 endg., S. 9. KOM (2003) 657 endg., S. 6.
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der Richtlinie. Es gilt, so haben es die nicht minder sozialund moralpädagogisch motivierten Verfasser sämtlicher deutscher Umsetzungsanläufe formuliert, mit den neuen Normen die „gesellschaftliche Wirklichkeit“ zu verändern49, eine „Kultur der Antidiskriminierung“ zu schaffen50, um auf diese Weise schließlich eine „nachhaltige Änderung der Einstellung und insbesondere des Verhaltens jedes Einzelnen“ zu bewirken51. III. Die Aktualität der Problematik vor dem Hintergrund der jüngsten deutschen und europäischen Antidiskriminierungsgesetzgebung 1. Der wesentliche Inhalt der Richtlinien a) Der Stand der europäischen und der nationalen Gesetzgebung Mit dem zuletzt genannten Beispiel ist bereits der maßgebliche Grund für die derzeit so hohe Konjunktur von Antidiskriminierungsdiskussionen benannt. In Deutschland standen bis vor kurzem nicht weniger als vier Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft zur Umsetzung an, die sich eine Stärkung des – nicht nur geschlechtsbezogenen – Gleichbehandlungsgrundsatzes speziell im zivilrechtlichen Bereich auf die Fahnen geschrieben haben. Dabei war die Umsetzungsfrist für die erste, die sog. Antirassismusrichtlinie vom 29. Juni 2000 (2000 / 43 / EG), bereits mit dem 19. Juli 2003 abgelaufen52. Auch die reguläre Umsetzungsfrist der zweiten Richtlinie, der sog. Rahmenrichtlinie Beschäftigung vom 27. November 2000 49 So schon die Begründung zum Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes (ADG-E), BT-Drucks. 15 / 4538, S. 18; gleichlautend jetzt auch wieder BT-Drucks. 16 / 1780, S. 21. 50 So Begr. ADG-E, BT-Drucks. 15 / 4538, S. 20; gleichlautend BTDrucks. 16 / 1780, S. 23. 51 So Begr. ADG-E, BT-Drucks. 15 / 4538, S. 22; gleichlautend BTDrucks. 16 / 1780, S. 25. 52 S. Art. 16 Abs. 1 RL 2000 / 43 / EG.
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(2000 / 78 / EG), war bereits mit dem 2. Dezember 2003 verstrichen53. Allerdings bestand hier in Teilaspekten eine Verlängerungsmöglichkeit von drei Jahren54. Die Umsetzungsfrist der dritten, der sog. Gender-Richtlinie vom 23. September 2002 (2002 / 73 / EG), endete mit dem 5. Oktober 200555. Schließlich wäre die zuletzt genannte sog. Gleichbehandlungsrichtlinie vom 13. Dezember 2004 (2004 / 113 / EG) erst bis zum 21. Dezember 2007 umzusetzen gewesen56. Wegen der verspäteten Umsetzung der Antirassismusrichtlinie 2000 / 43 / EG war die Bundesrepublik bereits in einem von der Kommission angestrengten Vertragsverletzungsverfahren verurteilt worden57. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die Inhalte der Richtlinien, die für das materielle Privatrecht Bedeutung erlangen können. Wo der Staat zur Gleichbehandlung verpflichtet wird, begegnet das von vornherein keinen Bedenken. Nicht umsonst entzündete sich ja auch der weit über die Fachkreise hinausgehende Streit über das Ob und Wie der Richtlinienumsetzung in Deutschland vor allem an den sachlichen S. Art. 18 Abs. 1 RL 2000 / 78 / EG. S. hierzu Art. 18 Abs. 2 RL 2000 / 78 / EG. 55 S. Art. 2 Abs. 1 RL 2002 / 73 / EG. 56 S. Art. 17 Abs. 1 RL 2004 / 113 / EG. 57 S. EuGH (5. Kammer), Urt. v. 28. April 2005 – C-329 / 04, ABl. C 143 / 13 v. 11. 6. 2005; zum Fall einer unmittelbaren Anwendung der RL 2000 / 78 / EG gegenüber dem Land Berlin s. ArbG Berlin, NZA-RR 2005, S. 608 ff.; eine solche unmittelbare Anwendung praktiziert nunmehr selbst unter Privaten der EuGH in seiner jüngsten Entscheidung zur Gemeinschaftsrechtswidrigkeit von § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG (EuGH, Urt. v. 22. November 2005 – Rs. C-144 / 04 – Mangold [= NJW 2005, S. 3695 = NZA 2005, S. 1345 = BB 2005, S. 2748]; vgl. hierzu auch noch u., u. c) cc), S. 135 f.; zur Problematik der unmittelbaren RL-Wirkung in dieser Entscheidung s. nur etwa Jobst-Hubertus Bauer / Christian Arnold, Auf „Junk“ folgt „Mangold“ – Europarecht verdrängt deutsches Arbeitsrecht, in: NJW 2006, S. 6 [9 f.]); vgl. zur Frage einer unmittelbaren Anwendung der Antidiskriminierungsrichtlinien allgemein auch Gregor Thüsing, Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Geltung von EG-Richtlinien im Anti-Diskriminierungsrecht, in: NJW 2003, S. 3441 ff.; speziell für das Arbeitsrecht auch Schiek, Gleichbehandlungsrichtlinien (N 24), S. 883 ff. 53 54
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Vorgaben für das Zivil- und Arbeitsrecht. Außen vor bleiben müssen damit allerdings auch die verfahrensrechtlichen Regelungen und institutionellen Neuerungen, wie sie insbesondere mit der prozessualen Beteiligung von Verbänden58, der Einrichtung einer Antidiskriminierungsbehörde59 sowie der eigenen rechtlichen Interventionsbefugnis von Gewerkschaften und Betriebsräten (s. § 17 Abs. 2 AGG) verbunden sind. Daß es sich hierbei um hochproblematische Regelungen handelt, in denen erneut ein weitgreifender erzieherischer Impetus der Gesetzesverfasser zu Tage tritt, liegt auf der Hand. Gleichwohl ist dieser Ausschnitt hier nicht weiter zu verfolgen60. b) Die wichtigsten Vorgaben für das allgemeine Zivilrecht Soweit es um das allgemeine Zivilrecht und damit um die ambitioniertesten Neuerungen in den Richtlinien geht, sind die sog. Antirassismusrichtlinie 2000 / 43 / EG61 und die sog. Gleichbehandlungsrichtlinie 2004 / 113 / EG62 einschlägig. Die Antirassismusrichtlinie regelt über arbeits- und sozialrechtliche Fragen hinaus auch „den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum“63. Bei so gut wie jeder auf dem Markt angebotenen Leistung sollen 58 S. hierfür Art. 7 Abs. 2 RL 2000 / 43 / EG; Art. 9 Abs. 2 RL 2000 / 78 / EG; Art. 8 Abs. 3 RL 2004 / 113 / EG. 59 S. hierfür Art. 13 RL 2000 / 43 / EG; Art. 12 RL 2004 / 113 / EG. 60 S. hierzu nur etwa Picker (N 37), S. 542; ders. (N 8), S. 23 f.; insoweit weniger Bedenken aber etwa bei Reichold (N 29), S. 391; besonders deutlich wird der erzieherische Impetus hinter diesen Neuerungen in der Beschlußempfehlung und dem Bericht des Rechtsausschusses (BTDrucks. 16 / 2022), wenn dort die eigenen Klagebefugnisse der Gewerkschaften und der Betriebsräte als spezielle Mittel zur Wahrung der „,guten Ordnung‘ des Betriebs“ ausgewiesen werden (a. a. O., S. 27 zu Nr. I. 3.). 61 Richtlinie des Rates v. 29. Juni 2000, ABl. L 180 / 22 v. 19. 7. 2000. 62 Richtlinie des Rates v. 13. Dezember 2004, ABl. L 373 / 37 v. 21. 12. 2004. 63 Art. 3 Abs. 1 lit. h RL 2000 / 43 / EG.
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damit unmittelbare und mittelbare Ungleichbehandlungen von Nachfragern aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft verboten sein64. Nicht nur praktisch besonders wichtig, sondern auch für die von der Richtlinie verfolgte Politik bezeichnend ist dabei neben dem Verbot als solchem vor allem die im Hinblick auf das Vorliegen einer unerlaubten Ungleichbehandlung getroffene Beweislastregelung in Art. 8 RL 2000 / 43 / EG. Denn sobald Personen, die sich aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft benachteiligt fühlen, Tatsachen, die eine Diskriminierung vermuten lassen, auch nur glaubhaft machen können (§ 22 AGG fordert nunmehr immerhin explizit einen Beweis von Indizien), soll die Beweislast den Beklagten treffen. Es soll sich also der vermeintliche Diskriminant vom Vorwurf der Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes entlasten müssen. Die enorme Bedeutung dieser Regelung liegt auf der Hand: Ist etwa einem Bewerber um eine Wohnung, eine Stelle, einen Kredit oder auch um jede andere Dienstleistung seine ethnische Herkunft ins Gesicht geschrieben, gerät ein abweisender Anbieter unvermittelt in Erklärungsnot. Er ist zwangsläufig „verdächtig“, wenn er sich für einen Bewerber anderer ethnischer Herkunft entschieden oder den Vertrag bei fehlenden konkurrierenden Bewerbern überhaupt nicht geschlossen hat, und er muß nun zur vollen Überzeugung des Gerichts darlegen und beweisen, warum er in diesem Fall nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen haben sollte65. 64 Ein ausdrückliches Verbot dieser Art sucht man im Text der Richtlinie allerdings vergeblich. Man kann es nur aus den Art. 1, 2, 7 RL 2000 / 43 / EG erschließen; vgl. zu dieser wenig präzisen Regelungstechnik nur Wolfgang Zöllner, Altersgrenzen beim Arbeitsverhältnis jetzt und nach Einführung eines Verbots der Altersdiskriminierung, in: Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer, 2003, S. 517 (524 f.). 65 Vgl. zu der weitgehend übereinstimmenden Regelung des bisherigen § 611 a Abs. 1 S. 3 BGB nur etwa Monika Schlachter, in: Thomas Dieterich et. al., Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 62006, § 611 a BGB Rn. 26 ff.; Rudi Müller-Glöge, in: MünchKomm BGB, Bd. IV, 42004, § 611 a Rn. 78 ff.; ausf. zur Beweislastregelung der Richtlinien jetzt Dammann (N 11), S. 286 ff.
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Die Sanktionen, die ihn im Fall eines nicht entkräfteten Diskriminierungsverdachts ebenso treffen sollen wie bei einem positiv erwiesenen, gibt die Richtlinie nicht konkret vor. Sicher ist noch nicht einmal, ob sie überhaupt zivilrechtlicher Natur sein müssen66, wenngleich Diskriminierungsopfern gerichtlicher oder behördlicher Rechtsschutz zu garantieren ist67 und auch Schadensersatzansprüche als Option der Sanktionierung ausdrücklich erwähnt werden68. Wie immer verlangt die Richtlinie bei aller Freiheit für die nationalen Gesetzgeber zudem „wirksame, verhältnismäßige und abschrekkende“ Sanktionen69, was in der für die deutsche Zivilistik so leidvollen Ausdeutung des EuGH dem schadensersatzrechtlichen Verschuldensprinzip bereits den Garaus gemacht hat, soweit es um Geschlechterdiskriminierung im Arbeitsrecht geht70. Vom Europarecht nicht gefordert ist dagegen, das gilt es deutlich zu sehen, ein Kontrahierungszwang für Diskriminanten. bb) Die sog. Gleichbehandlungsrichtlinie 2004 / 113 / EG folgt in ihrer groben Struktur der Antirassismusrichtlinie. Denn auch sie erfaßt praktisch jede marktmäßig angebotene Leistung, wenn sie, eher in Nuancen abweichend formulierend, jede geschlechtsbezogene Ungleichbehandlung durch 66 Vgl. hierzu nur etwa Martina Benecke / Gisela Kern, Sanktionen im Antidiskriminierungsrecht: Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung der Europäischen Richtlinien im deutschen Recht, in: EuZW 2005, S. 360 ff. mit dem schon im Hinblick auf das richtigerweise auch dort geltende Verschuldensprinzip (s. § 10 OWiG!) wenig weiterführenden Vorschlag einer rein ordnungswidrigkeitsrechtlichen Lösung (s. S. 364). Hinzu kommt, daß gem. Art. 1 Nr. 5 RL 2002 / 73 / EG in Art. 6 Abs. 2 RL 76 / 207 / EWG künftig ebenso wie gem. Art. 8 Abs. 2 RL 2004 / 113 / EG zwingend „abschreckende“ und „dem erlittenen Schaden angemessene“ Schadensersatzansprüche vorgesehen sein sollen, was die Systemflucht als Weg zur Vermeidung von Systembrüchen zumindest bei der Geschlechterdiskriminierung verbaut. 67 S. Art. 7 RL 2000 / 43 / EG. 68 S. Art. 15 RL 2000 / 43 / EG. 69 S. Art. 15 RL 2000 / 43 / EG. 70 S. EuGH, Urt. v. 22. April 1997 – Rs. C-180 / 95, Slg. 1997, S. I2195 ff. – Draehmpaehl.
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Personen verbietet, „die Güter und Dienstleistungen bereitstellen, die der Öffentlichkeit ohne Ansehen der Person zur Verfügung stehen, [ . . . ] und die außerhalb des Bereichs des Privat- und Familienlebens und der in diesem Kontext stattfindenden Transaktionen angeboten werden“71. Auch hier besteht wiederum die für die Praxis so bedeutsame Beweislastregelung72 sowie ein gewisser Spielraum für die Wahl der Sanktionen. Allerdings verpflichtet die Richtlinie in diesem Fall sogar explizit zur Schaffung einer Schadensersatzregelung73. cc) Eingehender als die Antirassismusrichtlinie beschäftigt sich die Gleichbehandlungsrichtlinie mit den Tatbeständen einer ausnahmsweise zulässigen Ungleichbehandlung. In diesen Zusammenhang gehört nicht nur die bereits erwähnte ausführliche Regelung über die Veranschlagung des Geschlechts bei versicherungsmathematischen Berechnungen74. Ebenfalls hierher zu zählen ist die Beschränkung des Anwendungsbereichs auf Leistungen, die „ohne Ansehen der Person“ erbracht werden, sowie die Bereichsausnahme für Geschäfte der Privat- und Familiensphäre75 und des Bildungssektors76. Nicht zuletzt will es die Richtlinie auch weiterhin ermöglichen, bestimmte Güter und Dienstleistungen ausschließlich oder vorwiegend den Angehörigen eines Geschlechts zur Verfügung zu stellen77. Gedacht ist dabei insbesondere an Frauenhäuser, Vermieter von Einliegerwohnungen und -zimmern sowie – man hält es kaum für möglich – auch an „private Klubs“78, die ja nicht selten geradezu eine Brutstätte reaktioSo Art. 3 Abs. 1 RL 2004 / 113 / EG. S. Art. 9 Abs. 1 RL 2004 / 113 / EG. 73 S. Art. 8 Abs. 2 RL 2004 / 113 / EG; s. die entsprechende Novellierung auch schon in Art. 1 Nr. 5 RL 2002 / 73 / EG für die Geschlechterdiskriminierung im Arbeitsrecht. 74 S. Art. 5 RL 2004 / 113 / EG und hierzu auch bereits o., u. II. 3. c) bb), S. 122 ff. 75 S. Art. 3 Abs. 1 RL 2004 / 113 / EG. 76 S. Art. 3 Abs. 3 RL 2004 / 113 / EG. 77 S. Art. 4 Abs. 5 RL 2004 / 113 / EG. 78 S. Erwägungsgrund Nr. 16, ABl. L 373 / 38 v. 21. 12. 2004. 71 72
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närer Frauen- und Familienbilder sind79. Allerdings, und deshalb darf sich hier niemand zu sicher fühlen, soll das immer nur dann gelten, wenn ein legitimes Ziel verfolgt wird und die Ungleichbehandlung zu dessen Erreichung angemessen und erforderlich ist80. Ob die Pflege der Tradition oder etwa auch nur das Bedürfnis, unter Gleichgesinnten zu verweilen, von fortschrittlichen Richtern hierunter verstanden werden wird, ist jedoch alles andere als ausgemacht und muß angesichts der jüngsten amtsrichterlich begründeten Verpflichtung einer katholischen Kirchengemeinde, ihren Pfarrsaal auch zur Feier der Verbindung zweier männlicher Lebenspartner zur Verfügung zu stellen81, wohl eher bezweifelt werden. c) Die wichtigsten Vorgaben für das Arbeitsrecht aa) Soweit das Arbeitsrecht betroffen ist, bringen die Richtlinien, insbesondere die sog. Gender-Richtlinie 2002 / 73 / EG, kaum inhaltliche Neuerungen in Sachen Geschlechtergleichbehandlung. Ob in Deutschland hierdurch für das materielle Recht überhaupt ein sachlicher und nicht nur ein im Transparenzgebot ruhender Umsetzungsbedarf begründet war bzw. noch ist, wird deshalb vielfach bezweifelt82. Massive Neuerungen bringen dagegen die Antirassismusrichtlinie 2000 / 43 / EG und die Rahmenrichtlinie Beschäftigung 2000 / 78 / EG, soweit es um die Anknüpfungspunkte für unerlaubte Un79 Treffend Thomas Pfeiffer, Unisex für alle?, in: ZGS 2003, S. 441; vgl. ferner die äußerst zurückhaltend ausgedrückte Verwunderung bei Riesenhuber / Franck (N 19), S. 539. 80 S. Art. 4 Abs. 5 RL 2004 / 113 / EG. 81 S. AG Neuss, NJW 2003, S. 3785. 82 S. Indra Hadeler, Die Revision der Gleichbehandlungsrichtlinie 76 / 207 / EWG – Umsetzungsbedarf für das deutsche Arbeitsrecht, in: NZA 2003, S. 77 (81); Ulrich Tschöpe, Der allgemeine Kündigungsschutz – Stiefkind europäischer Rechtsanpassung, in: NZA-RR 2003, S. 393 (395); vgl. auch die im Hinblick auf die Gender-Richtlinie vergleichsweise geringfügigen Anmahnungen von Schiek, Gleichbehandlungsrichtlinien (N 24), S. 877 ff.
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gleichbehandlungen geht. Ebenso wie es dem Arbeitgeber bisher bereits untersagt war, Stellenbewerber und Beschäftigte wegen ihres Geschlechts – mittelbar oder unmittelbar – unterschiedlich zu behandeln, soll es ihm künftig auch untersagt sein, dies aus Gründen der Rasse, der ethnischen Herkunft83, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung84 zu tun. Dabei gilt wiederum die bereits bekannte, praktisch so bedeutsame Beweislastregelung85. Und auch die Rechtsschutz- und Sanktionsvorgaben bewegen sich ganz in dem bereits beschriebenen Rahmen86. bb) Relativ breite Beachtung schenken die genannten Richtlinien darüber hinaus der Erfassung ausnahmsweise zulässiger Differenzierungen. Generalklauselartig können Ungleichbehandlungen zunächst dann vom Diskriminierungsbegriff ausgenommen werden, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art der geforderten Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine „wesentliche und entscheidende“ Voraussetzung bzw. Anforderung darstellt. Allerdings muß der Zweck der Tätigkeit rechtmäßig und die Anforderung „angemessen“ sein87. Als Beispiel läßt sich hier etwa eine weitgehende Beschränkung auf Bewerber schwarzer Hautfarbe denken, wenn es um das Engagement von Schauspielern und Komparsen für einen Spielfilm über die Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre in den USA geht88. Daß die Wortwahl in den beiden genannten Richtlinien unterschiedlich ausfällt, in Art. 4 RL 2000 / 43 / EG von beruflichen „Voraussetzungen“, in Art. 4 Abs. 1 RL 2000 / 78 / EG dagegen von S. für beides Art. 1 RL 2000 / 43 / EG. S. für diese weiteren Merkmale Art. 1 RL 2000 / 78 / EG. 85 S. Art. 8 RL 2000 / 43 / EG; Art. 10 der RL 2000 / 78 / EG. 86 S. hierzu Art. 7, 15 RL 2000 / 43 / EG; Art. 9, 17 RL 2000 / 78 / EG. 87 S. Art. 4 RL 2000 / 43 / EG; Art. 4 Abs. 1 RL 2000 / 78 / EG. 88 S. ferner auch die Beispiele etwa bei Gregor Thüsing, Handlungsbedarf im Diskriminierungsrecht – Die Umsetzungserfordernisse aufgrund der Richtlinien 2000 / 78 / EG und 2000 / 43 / EG, in: NZA 2001, S. 1061 (1061 f.); Hailbronner (N 29), S. 257; Franzen (N 31), S. 60. 83 84
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beruflichen „Anforderungen“ die Rede ist, spielt keine Rolle. Es dürfte sich hierbei angesichts des Fehlens entsprechender Diskrepanzen etwa in der englischen und französischen Fassung um ein reines Übersetzungsproblem handeln. cc) Besondere Ausnahmen vom Diskriminierungsverbot statuiert die Rahmenrichtlinie Beschäftigung 2000 / 78 / EG im Hinblick auf Ungleichbehandlungen wegen der Religion oder der Weltanschauung für kirchliche Arbeitgeber und andere Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht89. Eine breite Palette spezieller Ausnahmemöglichkeiten wird ferner für Altersdiskriminierungen eröffnet90. Insoweit sollen Ungleichbehandlungen unter dem allgemeinen Vorbehalt der Objektivität sowie der Angemessenheit und Erforderlichkeit prinzipiell zulässig sein, sofern sie „durch ein legitimes Ziel, [ . . . ] insbesondere aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung [ . . . ], gerechtfertigt sind.“ Woran dabei insbesondere gedacht wurde, listet die Richtlinie anschließend regelbeispielhaft auf. Insgesamt findet sich eine bunte Mischung öffentlicher und privater Belange, nach deren Lektüre man sich fast fragen möchte, warum das Verbot der Altersdiskriminierung überhaupt in die Richtlinie aufgenommen wurde. Denn nimmt man die durch Art. 4 Abs. 1 RL 2000 / 78 / EG eröffneten Differenzierungsmöglichkeiten noch hinzu, scheint jedenfalls auf den ersten Blick beinahe jedes bekannte Diskriminierungsbedürfnis auf Arbeitgeberseite erfaßt zu sein, so daß die „hehre Aufgabe“, der man sich hier verschrieben zu haben meint91, vor allem eine nicht unerhebliche weitere Bürokratisierung der Arbeitswelt bewirken dürfte, nachdem die Ausnahmemöglichkeiten, wie unter pragmatischen Erwä89 S. Art. 4 Abs. 2 der RL 2000 / 78 / EG und hierzu ausführlich Ansgar Hense, Kirche und Diskriminierungsverbot, in diesem Band. 90 S. Art. 6 RL 2000 / 78 / EG. 91 So Herbert Wiedemann / Gregor Thüsing, Der Schutz älterer Arbeitnehmer und die Umsetzung der Richtlinie 2000 / 78 / EG, in: NZA 2002, S. 1234.
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gungen gar nicht anders denkbar und vielfach angemahnt92, vom nationalen Gesetzgeber auch noch in vollem Umfang genutzt wurden93. Das kaum kaschierte Sowohl-Als-Auch der Regelung schafft Raum für unzählige Streitfragen. Nicht von Ungefähr steht die Altersdiskriminierung deshalb dort, wo man sich vornehmlich um die Detailfragen der Richtlinienumsetzung kümmert, auch heute schon ganz im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses94. Die Streitfragen dürften auch 92 S. explizit nur Jobst-Hubertus Bauer, Europäische Antidiskriminierungsrichtlinien und ihr Einfluß auf das deutsche Arbeitsrecht, in: NJW 2001, S. 2672 (2677); Zöllner (N 64), S. 533; Raimund Waltermann, Verbot der Altersdiskriminierung – Richtlinie und Umsetzung, in: NZA 2005, S. 1265 (1270); sowie konkludent auch sämtliche Stimmen, die für eine sog. 1:1-Umsetzung der Richtlinien plädieren. 93 Vgl. auch die geradezu enttäuschte Feststellung von Marlene Schmidt / Daniela Senne, Das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und seine Bedeutung für das deutsche Arbeitsrecht, in: RdA 2002, S. 80 (89), wonach es sich beim Verbot der Altersdiskriminierung angesichts der zahlreichen Rechtfertigungsmöglichkeiten um ein „Grundrecht 2. Klasse“ handle; davon, daß die Verf. selbst ambitionierter Umsetzungsentwürfe von den Ausnahmemöglichkeiten reichlich Gebrauch machen wollten, zeugt eindrucksvoll der Umstand, daß der heutige § 10 AGG bereits im ADG-E auf acht (!) Nummern angewachsen war. 94 S. aus der Lit. nur etwa Gregor Thüsing, Diskriminierungsschutz im Europäischen Arbeitsrecht, in: ZfA 2001, S. 397 (408 ff.); ders., Handlungsbedarf im Diskriminierungsrecht – Die Umsetzungserfordernisse auf Grund der Richtlinien 2000 / 78 / EG und 2000 / 43 / EG, in: NZA 2001, S. 1061 (1063 f.); ders., Verbot der Altersdiskriminierung rüttelt an Tarifverträgen, in: FAZ v. 5. Oktober 2005, S. 25; Wiedemann / Thüsing (N 91), S. 1234 ff.; Bauer (N 92), S. 2673 f.; ders., (Faktisch un-)wirksame Altersbefristung gem. § 14 Abs. 3 TzBfG, in: FA 2003, S. 139 ff.; Schmidt / Senne (N 93), S. 80 ff.; Alexius Leuchten, Der Einfluß der EG-Richtlinien zur Gleichbehandlung auf das deutsche Arbeitsrecht, in: NZA 2002, S. 1254 (1257 f., 1259 f.); Gerhard Kuras, Verbot der Diskriminierung wegen Alters, in: RdA 2003, Sonderbeilage zu Heft 5, S. 11 ff.; Wolfgang Linsenmaier, Das Verbot der Diskriminierung wegen Alters, in: RdA 2003, Sonderbeilage zu Heft 5, S. 22 ff.; Zöllner (N 64), S. 526 ff.; Manfred Löwisch, Die Auswirkungen der Gleichstellungsrahmenrichtlinie der EG auf die altersspezifischen Regelungen des Kündigungsrechts, in: Festschrift für Peter Schwerdtner, 2003, S. 769 ff.; Monika Schlachter, Altersgrenzen angesichts des gemeinschaftlichen [wohl: gemeinschaftsrechtlichen] Verbots der Altersdiskriminierung, in: Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer, 2003, S. 355 ff.; Winfried Boecken, Frühzeitige Altersgrenzenvereinba-
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in Zukunft nicht abnehmen, nachdem der EuGH mit seiner in vielfacher Hinsicht fragwürdigen Entscheidung zur Gemeinschaftsrechtswidrigkeit von § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG wegen ungerechtfertigter Altersdiskriminierung95 bereits paukenschlagartig deutlich gemacht hat, daß er die Bäume für die nationalen Gesetzgeber bei der Nutzung der Ausnahmemöglichkeiten nicht in den Himmel wachsen lassen, sondern entsprechende Regelungen in jedem Einzelfall einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterziehen will96. Rechtssicherheit ist damit auf diesem Feld nicht zu erwarten. Es können deshalb aber auch die Verfechter einer strikten Handhabung des Verbots der Altersdiskriminierung allenfalls auf Pyrrhussiege hoffen. Denn selbst wenn die Folgen nicht immer so offensichtlich widersinnig sein müssen wie bei der jüngsten Entscheidung des EuGH – so führt die Entscheidung ja ihrerseits zu einer massiven Benachteiligung älterer Arbeitssuchender, weil sie denjenigen, die altersbedingt allein noch die Chance auf einen befristeten Arbeitsvertrag haben, diese letzte Chance nimmt97 –, wird die Arbeitgeberseite angesichts einer im Hinrungen für leitende Krankenhausärzte aus nationaler und EG-rechtlicher Sicht, in: ArztR 2005, S. 60 ff.; ders., Die Altersgrenze von 68 Jahren für Vertragsärzte aus EG-rechtlicher Sicht, in: NZS 2005, S. 393 ff.; Doris König, Handlungsbedarf bei der Umsetzung des Altersdiskriminierungsverbots?, in: ZESAR 2005, S. 218 ff.; Klaus Bertelsmann, Altersdiskriminierung im Arbeitsrecht, in: ZESAR 2005, S. 242 ff.; Waltermann (N 92), S. 1265 ff.; Ulrich Preis, Verbot der Altersdiskriminierung als Gemeinschaftsgrundrecht, in: NZA 2006, 401 ff.; Martin Lüderitz, Altersdiskriminierung durch Altersgesetze, 2006; Oliver Hahn, Auswirkungen der europäischen Regelungen zur Altersdiskriminierung im deutschen Arbeitsrecht, 2006. 95 S. EuGH, Urt. v. 22. November 2005 – Rs. C-144 / 04 – Mangold (= NJW 2005, S. 3695 = NZA 2005, S. 1345 = BB 2005, S. 2748); zu den Fragwürdigkeiten in den äußeren Umständen des Verfahrens s. nur etwa Jobst-Hubertus Bauer, Ein Stück aus dem Tollhaus: Altersbefristung und der EuGH, in: NZA 2005, S. 800 ff.; ders. / C. Arnold (N 57), S. 6 f. 96 S. EuGH, a. a. O., Rn. 62 ff.; zu der hierdurch bewirkten Rechtsunsicherheit vgl. nur auch Bauer / Arnold (N 57), S. 10; Preis (N 94), S. 409. 97 Vgl. auch Jobst-Hubertus Bauer, Sachgrundlose Altersbefristung nach den „Hartz-Gesetzen“, in: NZA 2003, S. 30 (31 f.); ders. (N 95), S. 801; Bauer / Arnold (N 57), S. 8. Entsprechende Überlegungen klingen
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blick auf die Altersdiskriminierung weitgehend unwägbaren Rechtslage zunehmend darum bemüht sein, Auswahlsituationen mit Beteiligten weit divergierenden Alters von vornherein zu vermeiden. Sie wird also gerade entgegengesetzt zu den Intentionen der Richtlinie nach möglichst homogenen Altersstrukturen innerhalb von Betrieb und Unternehmen streben. 2. Die überschießende Richtlinienumsetzung in Deutschland a) Die soeben skizzierten Antidiskriminierungsrichtlinien wurden in Deutschland schließlich doch noch überschießend umgesetzt. Hierzu gab es zuvor drei vergebliche Anläufe98. Dabei bestand der zuletzt wegen der vorgezogenen Bundestagswahl an der Diskontinuität gescheiterte erstmals in der Schaffung eines eigenen Antidiskriminierungsgesetzes (ADG) außerhalb bestehender Gesetze, insbesondere des BGB99. Dieser von der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen zu Beginn der 16. Legislaturperiode unverändert wieder in den Bundestag eingebrachte100 Entwurf bildet trotz der späteren großkoalitionären Umbenennung die nur marginal modifizierte inhaltin der Entscheidung des EuGH nicht einmal an. Am Problem vorbei geht insbesondere auch der Hinweis des Gerichts, daß die Altersgrenze in § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG keinerlei Rücksicht darauf nehme, ob und wie lange der Arbeitnehmer zuvor arbeitslos war (s. EuGH, a. a. O., Rn. 64). Denn solche rein retrospektiven Erwägungen lassen ja keine Aussage über die aktuellen Chancen des Bewerbers auf dem Arbeitsmarkt zu. Nur um sie kann es vor dem Hintergrund des Eingliederungszwecks aber gehen. 98 S. den Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht v. 10. Dezember 2001 sowie den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien v. 16. Dezember 2004, BT-Drucks. 15 / 4538 mit Änderungsvorschlägen und Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend v. 15. Juni 2005, BT-Drucks. 15 / 5717, am 19. Dezember 2005 wieder eingebracht durch die Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen, BT-Drucks. 16 / 297. 99 S. Art. 1 des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien, BT-Drucks. 15 / 4538; 16 / 297. 100 S. hierzu den Nachw. in N 98.
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liche Vorlage auch für das nunmehr in Kraft getretene AGG. Überschießendes findet sich in mehrfacher Hinsicht. So sollen wie im Arbeitsrecht auch im allgemeinen Zivilrecht Benachteiligungen nicht nur wegen des Geschlechts101, der Rasse und der ethnischen Herkunft102 verhindert und beseitigt werden, sondern darüber hinaus auch wegen der Religion, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität103. Vom Benachteiligungsverbot erfaßt sind dabei die Tatbestände einer Begründung, Durchführung und Beendigung von Geschäften ohne persönlichen Einschlag, insbesondere also sog. Massengeschäfte sowie auch private Versicherungsverträge104. b) Was die in den Richtlinien konkret nicht vorgegebenen Sanktionen bei Verstößen gegen ein Diskriminierungsverbot betrifft, bietet das neue Gesetz ein uneinheitliches Bild: Für das Arbeitsrecht wurde zuletzt eine reguläre verschuldensabhängige Schadensersatzregelung geschaffen, die explizit auch den Ersatz immaterieller Schäden einschließt105. Ein eigenständiger, nicht aus einer allgemeinen Haftungsgrundlage entspringender Kontrahierungszwang ist dagegen ausdrücklich ausgeschlossen106. Bemerkenswert an dieser Regelung erscheint vor allem, daß sie sich aus deutscher Sicht ebenso systemkonform wie aus europäischer Sicht zweifelhaft darstellt, sobald man die bekannten Vorgaben des EuGH für die Geschlechterdiskriminierung im Arbeitsrecht beachtet. Denn sie fügt sich zwar den allgemeinen deutschen Schadenshaftungsgrundsätzen mit der verschuldensabhängigen Ausgestaltung der Sanktion nahtlos ein, kollidiert aber gerade hierin mit den um grundlegende deutsche Haftungsprinzipien wenig bekümmerten Vorgaben aus Luxemburg107 . So auch RL 2004 / 113 / EG. So auch RL 2000 / 43 / EG. 103 S. § 19 Abs. 1 AGG; im Arbeitsrecht tritt zur Religion noch die Weltanschauung hinzu, s. §§ 7, 1 AGG. 104 S. hierzu im einzelnen sowie auch zu weiteren Differenzierungen und Unterausnahmen die insgesamt 5 Absätze von § 19 AGG. 105 S. § 15 Abs. 1 und 2 AGG. 106 S. § 15 Abs. 6 AGG. 101 102
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c) Dieser Klarheit im Arbeitsrecht entspricht nunmehr auch die Sanktionsregelung für das allgemeine Zivilrecht. In § 21 Abs. 2 AGG findet sich eine für die deutsche Zivilistik als solche nicht zu beanstandende verschuldensabhängige Schadensersatzhaftung. Und es ist ebensowenig bereits per se etwas an der in § 21 Abs. 1 AGG statuierten Beseitigungs- und Unterlassungshaftung auszusetzen, solange man dieses Institut nicht fälschlicherweise als verschuldensunabhängigen Schadensersatz- oder Folgenbeseitigungsanspruch deutet108. Gänzlich mißlungen war demgegenüber noch die Regelung über einen möglichen Kontrahierungszwang, die man in § 21 Abs. 2 ADG-E zwischen die Beseitigungshaftung des Abs. 1 und die Schadensersatzhaftung des Abs. 3 gleichsam hineingequetscht hatte, die im AGG aber gänzlich gestrichen wurde109. Denn im Unterschied zu diesen beiden haftungsbegründenden Regelungen handelte es sich hierbei – gerade auch nach der Ansicht der Entwurfsverfasser110 – um eine lediglich haftungsausfüllende Norm, was aber die gewählte systematische Plazierung alles andere als klargestellt hatte. Da die diskriminierende Vertragsverweigerung zudem nie Beseitigungs-, sondern immer nur Schadensersatzansprüche auslösen kann – nur insoweit passte auch die in die Vorschrift integrierte Regelung über hypothetische Kausalverläufe –, hätte man den Inhalt des 107 S. EuGH, Urt. v. 22. April 1997 – Rs. C-180 / 95, Slg. 1997, S. I2195 ff. – Draehmpaehl. 108 S. zu diesem Problem grundlegend Eduard Picker, Der negatorische Beseitigungsanspruch, 1972, passim; ders., Zur Beseitigungshaftung nach § 1004 BGB – Eine Apologie, in: Festschrift für Joachim Gernhuber, 1993, S. 315 ff.; s. ferner auch Thomas Lobinger, Schadensersatz für schuldlos verursachte Bodenkontaminationen? – BGH, NJW 1996, 845, in: JuS 1997, S. 981 ff.; mindestens mißverständlich noch die Redeweise von einem „quasinegatorischen Folgenbeseitigungsanspruch“ in BT-Drucks. 15 / 4538, S. 43 f. (= BT-Drucks. 16 / 297, S. 44). 109 S. zur Kritik hieran nur auch Christian Armbrüster, Antidiskriminierungsgesetz – ein neuer Anlauf, in: ZRP 2005, S. 41 (43); Oliver Hahn / Martin Heinrich / Hermann Reichold, Neuer Anlauf zur Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien: Plädoyer für ein Artikelgesetz, in: NZA 2005, S. 1270 (1274). 110 S. BT-Drucks. 15 / 4538, S. 43 (= BT-Drucks. 16 / 297, S. 44).
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Abs. 2 als Sätze 4 ff. an den ursprünglichen Abs. 3 anschließen müssen. Insgesamt ist – zumal nach diesen Änderungen – festzustellen, daß die durch das Gesetz aufgeworfenen grundlegenden Probleme kaum in seinen Sanktionsregeln wurzeln. Diese Probleme betreffen vielmehr – wie schon bei den europäischen Richtlinien – die Diskriminierungsverbote als solche, d. h. die Verhaltensanforderungen, nicht aber auch die Sanktionsregelungen, mit denen diese Verhaltensanforderungen allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen entsprechend durchgesetzt werden sollen.
3. Das gescheiterte Programm einer sog. 1:1-Umsetzung Dem politischen Programm einer überschießenden Richtlinienumsetzung war von anderer, ursprünglich auch der für das jetzige AGG politisch mitverantwortlichen Seite das Programm einer sog. 1:1-Umsetzung gegenübergestellt111. Angesichts der grundlegenden Gefährdung der Vertragsfreiheit, der drohenden weiteren Bürokratisierung des gesamten Wirtschaftslebens wie auch zu erwartender Klagewellen sollte in 111 S. hierfür insbes. die sog. Bundesratsinitiative, in: BR-Drucks. 445 / 05; Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins e.V. (DAV), abgedruckt in NZA 2005, S. VI (VII); sowie aus der Lit. etwa Pfeiffer (N 24), S. 165; Säcker (N 32) S. 19; Dieter Hundt, Das Antidiskriminierungsgesetz – Ein Beschäftigungsprogramm für Rechtsanwälte, in: Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (Hg.), Vertragsfreiheit bewahren! Antidiskriminierung und deutsches Recht, 2005, S. 7; Roger Kusch, Die Bundesratsinitiative zum Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes, in: Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (N 111), S. 49; Michael Stein, Antidiskriminierungsgesetz aus Unternehmenssicht, in: Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (N 111), S. 61; Robert Steinau-Steinrück / Volker Schneider / Tobias Wagner, Der Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes: Ein Beitrag zur Kultur der Antidiskriminierung?, in: NZA 2005, S. 28 (32); Jobst-Hubertus Bauer, Arbeitsrechtlicher Wunschkatalog für mehr Beschäftigung, in: NZA 2005, S. 1046 (1048); Franzen (N 31), S. 74; wohl auch Herbert Wiedemann / Gregor Thüsing, Fragen zum Entwurf eines zivilrechtlichen Anti-Diskriminierungsgesetzes, in: DB 2002, S. 463 (470); Hahn / Heinrich / Reichold (N 109), S. 1274.
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Sachen Antidiskriminierung keinesfalls mehr als europarechtlich zwingend vorgegeben in deutsche Gesetze umgesetzt werden dürfen. Was konkret eine solche 1:1-Umsetzung zu bedeuten hatte, wurde allerdings kaum je näher ausgemalt112. Der Grund hierfür dürfte nicht nur in der politischen Rollenverteilung zwischen den Anhängern einer überschießenden und den Anhängern einer 1:1-Umsetzung gelegen haben. Denn das Vorhaben einer 1:1-Umsetzung klingt sehr viel simpler als es in Wirklichkeit ist. Läßt man grundlegende Systemfragen, die durch zivilrechtliche Antidiskriminierungsprogramme nicht nur für das nationale, sondern gleichermaßen für das europäische Recht aufgeworfen werden, nicht kurzerhand beiseite, kann man sich nicht dabei beruhigen, den Richtlinientext weitgehend buchstabengetreu in ein deutsches Gesetz zu übernehmen und nur dort noch um Regelungen zu ergänzen, wo es die Richtlinien an hinreichend konkreten Vorgaben haben fehlen lassen. Vielmehr ist dann zu berücksichtigen, daß, wie bereits mehrfach deutlich geworden, immer auch schon die Richtlinientexte selbst erhebliche Zweifel im Hinblick auf höherrangige Rechts- und Systemprinzipien aufwerfen. Selbst vor einer sog. 1:1-Umsetzung wären deshalb grundsätzliche Überlegungen darüber gefordert gewesen, wie sich zivilrechtliche Antidiskriminierungsprogramme mit den fundamentalen Prinzipien eines in Deutschland wie in Europa gleichermaßen freiheitlich verfaßten Privatrechts in Einklang bringen lassen. Es hätte dabei aber nicht nur gänzlich Unverträgliches für die Umsetzung ausgeschieden werden müssen. Herauszufiltern gewesen wäre darüber hinaus auch für sämtliche anderen Regelungen in den Richtlinien, welche unter mehreren möglichen Lesarten die für die Umsetzung maßgeb112 S. aber immerhin Säcker (N 32) S. 19, der für einen gänzlichen Verzicht auf materiellrechtliche Vorschriften plädierte und lediglich Bedarf für eine „verfahrensrechtliche Umhegung und Absicherung“ sah. Dieselbe Stoßrichtung auch bei v. Koppenfels (N 37), S. 1495 f.; Picker (N 37), S. 545; Franzen (N 31), S. 74; s. für ausführlichere Vorschläge einer sog. 1:1-Umsetzung i.Ü. etwa BR-Drucks. 445 / 05; Stellungnahme des DAV, NZA 2005, S. VI (VII ff.) sowie auch Hahn / Heinrich / Reichold (N 109), S. 1270 ff.
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liche sein muß. Denn im Zweifel ist auch bei der Umsetzung europäischen Rechts das systemwahrende dem systemsprengenden Verständnis vorzuziehen. Die Versäumnisse des Gesetzgebers entlasten freilich nicht auch Wissenschaft und Praxis, im Gegenteil! Sämtliche immer schon durch die Richtlinien selbst aufgeworfenen Grundfragen bleiben auch nach deren Umsetzung in nationales Recht unvermindert aktuell. Allein ihr Standort ist verschoben. Sie stellen sich nunmehr bei der Anwendung des neuen Gesetzes auf den Einzelfall und fordern damit gerade Wissenschaft und Praxis. Die im folgenden behandelte Frage nach den Systembedingungen einer konsistenten Antidiskriminierungsgesetzgebung im deutschen und europäischen Zivil- und Arbeitsrecht steht folglich auch nach Inkrafttreten des AGG unverändert auf der juristischen Tagesordnung.
B. Systembedingungen für eine konsistente Antidiskriminierungsgesetzgebung im Zivil- und Arbeitsrecht I. Integritätsschützende Diskriminierungsverbote 1. Die grundsätzliche Systemverträglichkeit integritätsschützender Diskriminierungsverbote Es ist bereits bei der Analyse der verschiedenen Programmatiken hinter den modernen Antidiskriminierungsprogrammen113 deutlich geworden, daß integritätsschützende, im Persönlichkeitsrecht gründende Diskriminierungsverbote mit den Grundlagen einer freiheitlichen Privatrechtsordnung in vollem Einklang stehen. Die Vertragsfreiheit beinhaltet nicht das Recht zu sittenwidriger Schädigung und würdeverletzendem Verhalten. Wird einem anderen die gerade für ein freiheitliches Privatrecht konstitutive rechtliche Ebenbürtigkeit abgespro113
S. o., u. A. II. 3. a), S. 119 ff.
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chen, kann es für die Sanktion dieses Verhaltens keine Rolle spielen, ob es im rechtsgeschäftlichen Bereich oder in anderen Kontexten an den Tag gelegt wurde. Immer hat die Zivilrechtsordnung hier mit ihren allgemeinen Schutzinstrumenten zu reagieren. Und dies war, wie ebenfalls bereits bemerkt, nach deutschem Recht auch bislang schon in hinreichendem Maße gewährleistet114. 2. Die Persönlichkeitsrechtsverletzung als verbotenes Verhalten Bei diesem Ausgangspunkt ist es insbesondere unproblematisch, wenn die Rechtsordnung von einer sanktionswürdigen Diskriminierung ausgeht, wo etwa in einem für den allgemeinen Verkehr geöffneten Ladengeschäft oder Gasthaus Türken, Farbigen oder Angehörigen anderer gesellschaftlicher Minderheiten trotz vorhandener Leistungskapazität der Vertragsschluß versagt wird, ohne daß hierfür Bonitätsprobleme, ungebührliches Verhalten oder Ähnliches einen plausiblen Grund liefern würden. Die widerrechtliche Herabwürdigung der Betroffenen liegt in solchen Fällen darin, daß für sie nicht gelten soll, was nach der Art der angebotenen Leistung und des mit ihr verfolgten reinen Umsatzzwecks für jeden anderen gelten würde, daß es nämlich für die Leistung allein darauf ankommt, daß der geforderte Preis gezahlt wird, nicht aber von wem er gezahlt wird. Wo der Wert eines Kunden angesichts der vom Anbieter selbst gesetzten Zwecke nach der Verkehrsanschauung nicht von dessen persönlichen Eigenschaften, sondern allein von dessen Geldbeutel abhängt, verletzt der Anbieter zwangsläufig das Persönlichkeitsrecht des Kunden, wenn die Abweisung erfolgt, obwohl diesem Bewertungskriterium voll entsprochen ist. Denn sobald das Ansehen der Person zum Ausschlußkriterium erhoben wird, obwohl sich dies in 114 Dies gestehen selbst die Verf. des ersten deutschen Umsetzungsversuchs zu, s. DiskE (N 98), S. 17; s. ferner auch bereits o., u. A. II. 3. a), S. 119 mit Nachw. in N 37.
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ersichtlichen Widerspruch zu einer vom Anbieter gerade selbst angesprochenen allgemeinen sozialen Erfahrung setzt, wird die Person nicht, wie unproblematisch zulässig, lediglich im Hinblick auf die vertraglichen Zwecke bewertet. Vielmehr wird eine Aussage über ihren Wert unabhängig von diesen Zwecken und damit über ihren Wert als solchen getroffen. Fällt diese Bewertung angesichts der Abweisung offen negativ aus, liegt hierin aber unproblematisch eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts i. S. einer Verletzung des sozialen Achtungsanspruchs des Betroffenen115. Die Vertragsverweigerung dient in diesen Fällen bei Lichte betrachtet nicht der Wahrung der eigenen Rechts- und Interessensphäre. Vielmehr wird sie zweckwidrig als Vehikel zum Übergriff in eine fremde Rechtsund Interessensphäre eingesetzt. 3. Die mangelhafte Umsetzung der integritätsschützenden Antidiskriminierungsprogrammatik durch die Richtlinien und das deutsche AGG a) Die defizitäre Auswahl verbotener Unterscheidungsmerkmale Die europäischen Richtlinien fügen sich einer solchen integritätswahrenden Antidiskriminierungsprogrammatik nur unvollkommen ein. Zwar erfassen sie, da ihnen auch die soeben nochmals traktierten Kauf- und Gasthausfälle subsumierbar sind, durchaus wichtige Konstellationen. Gleichwohl treffen sie mit ihren Regelungen lediglich einen Ausschnitt der integritätsschutzrechtlichen Diskriminierungsproblematik. Sie erweisen sich in dieser Hinsicht, wie sogleich näher zu zeigen, 115 S. zu diesem Tatbestand einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts allgemein nur etwa Axel Beater, in: Theodor Soergel (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, 132005, § 823 Anh. IV, Rn. 155 ff., bes. 211; Hartwig Sprau, in: Otto Palandt (Begr.), Beck’scher Kurzkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 652006, § 823 Rn. 110 f.; speziell zur Persönlichkeitsrechtsverletzung in den hier verfolgten Fällen s. die Nachw. o. N 37, 38.
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in zwei entscheidenden Punkten als defizitär. Umgekehrt gehen sie aber auch weit über das vom Schutzziel des Integritätsschutzes Geforderte hinaus. All diese Mängel teilt im Grundsatz auch das deutsche AGG116. Defizitär sind die Richtlinien betreffend den Schutz des Persönlichkeitsrechts zunächst in der Auswahl der unzulässigen Unterscheidungsmerkmale. In den genannten Merkmalen mögen sich zwar bestimmte, für jedermann nachvollziehbare und evident erscheinende soziale Erfahrungen widerspiegeln117. Im Hinblick auf den Schutz des Persönlichkeitsrechts erscheinen sie gleichwohl von einer willkürlichen Geschlossenheit. Denn von einer Persönlichkeitsrechtsverletzung wäre ja etwa in den exemplarischen Kauf- und Gasthausfällen gleichermaßen auszugehen, wenn der Vertragsschluß nicht wegen des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft, sondern allein wegen der Körpergröße, der Augenfarbe, der Physiognomie oder auch eines Sprachfehlers verweigert würde. Ein abschließender positiver Kriterienkatalog läßt sich in dieser Frage von vornherein nicht aufstellen, weshalb auch die überschießende Regelung des AGG insoweit keine Besserung bringt. Es ist die Aufstellung eines solchen Katalogs aber auch gar nicht nötig, solange nur das eigentliche Schutzgut hinreichend klar gesehen und als maßgeblicher Bezugspunkt des Diskriminierungsverbots erkannt wird. Denn das Persönlichkeitsrecht gibt in seiner Ausprägung als Anspruch auf Anerkennung der menschlichen Ebenbürtigkeit und Gleichwertigkeit innerhalb des Sozialwesens einen hinreichend klaren und subsumtionsfähigen Rahmen vor, um die integritätsschutzrechtlichen Diskriminierungsprobleme zu bewältigen118. S. hierzu bereits o., u. A. III. 2., S. 136 ff. Dazu, daß dies allerdings in weitem Umfang weniger deutsche als vielmehr Erfahrungen solcher Länder sind, deren Bevölkerungen historisch bedingt sehr viel heterogener zusammengesetzt sind, s. nur Picker (N 8), S. 114. 118 S. nur auch v. Koppenfels (N 37), S. 1494; Picker (N 37), S. 544 f.; ders. (N 8), S. 40, 57 ff.; Säcker (N 32) S. 17; Franzen (N 31), S. 70, 73; zur notwendigen Unvollständigkeit jedes Kriterienkatalogs vgl. ferner auch 116 117
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b) Die defizitäre Auswahl verbotener Diskriminierungshandlungen Als defizitär erweisen sich die Richtlinien hinsichtlich des Schutzes des Persönlichkeitsrechts nicht nur in der Auswahl unzulässiger Diskriminierungsmerkmale. Von prekärer Unvollständigkeit sind sie auch bei der Auswahl verbotswürdiger Diskriminierungshandlungen. Dabei muß insbesondere aus deutscher Sicht ins Auge stechen, daß die Richtlinien ebenso wie die nationale Regelung immer nur das Verhalten von Arbeitgebern sowie von Anbietern auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten mit Verboten belegen. Nicht ins Visier genommen werden dagegen die Fälle eines Kunden- oder auch Arbeitnehmerboykotts. Nimmt ein Bewerber ein Stellenangebot nur deshalb nicht an, weil der Chef, wie ihm erst später bekannt wird, eine Chefin sein wird, oder wechselt ein Kunde unmittelbar vor Unterschriftsreife der Neuwagenbestellung nur deshalb von Vertragshändler A zu Vertragshändler B, weil er erfahren hat, daß A aus der Türkei stammt, so bleibt das nach den Richtlinien und dem AGG selbst dann ohne Sanktion, wenn der Grund für den plötzlichen Sinneswandel offen ausgesprochen wird. Angesichts des Umstands, daß das maßgebliche, historisch noch nachwirkende Diskriminierungstrauma von uns Deutschen gerade in einem Kundenboykott besteht, nämlich der massenhaften Befolgung des jede Zivilität vergessen lassenden Hetzrufs „Kauft nicht bei Juden!“119, kann man diese eklatante Einäugigkeit der Richtlinien und des neuen deutschen Rechts aber kaum mehr nur mit dem Hinweis auf die gegenwärtige geringe praktische Relevanz solcher Fälle entschuldigen. Sie zeugt vielmehr davon, daß man die erste und wichtigste Forderung einer freiheitlichen Ordnung an rechtliche Antidiskriminierungsprogramme, nämlich die gleichwertige Sicherung des PersönlichThüsing, Diskriminierungsschutz (N 94), S. 414 f.; Wiedemann / Thüsing (N 111), S. 464; Neuner (N 19), S. 62; Dammann (N 11), S. 22, 188. 119 S. für die maßgebliche Bedeutung dieses Traumas etwa die Ausführungen Bezzenberger (N 25), S. 399; vgl. ferner auch Neuner (N 19), S. 60. 10 Isensee (Hrsg.)
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keitsrechts aller Mitglieder der Rechtsgemeinschaft, kaum hinreichend erfaßt hat120. Ausgewirkt haben mag sich hier der Umstand, daß die wichtigsten Betätigungsfelder europäischer Privatrechtsgesetzgebung bislang im Verbraucher- und im Arbeitnehmerschutz lagen. Die dort eingeübten Denkmuster scheinen sich deshalb auch hier geradezu reflexartig niedergeschlagen zu haben121. Nur so ist es wohl im weiteren auch zu erklären, daß Diskriminierungen durch Kunden nicht einmal dort in den Blick geraten sind, wo diese Seite sehr „groß“ und entsprechend marktmächtig, die Anbieterseite dagegen sehr „klein“ und mit dementsprechend wenig Marktmacht ausgestattet ist122. Die Folgen erscheinen geradezu grotesk: So darf zwar etwa ein Bauunternehmer, der für ein größeres privates Projekt neue Maurer einstellen will, die türkischstämmigen Bewerber um den Arbeitsplatz keinesfalls übergehen. Bei der Auswahl der Subunternehmer für die Fliesenarbeiten erscheint dies dagegen schon kaum mehr gesichert, weil man hierzu die Grenzen des Wortsinns von Art. 3 Abs. 1 lit. a der AntirassismusRL 2000 / 43 / EG bereits arg strapazieren müßte. Gänzlich frei ist der Unternehmer schließlich ohne jeden Zweifel aber bei der Auswahl seiner Baustofflieferanten. Er kann also das Angebot eines türkischstämmigen Händlers für die Ziegelsteine, die Fliesen und den Fugenmörtel ohne jede Begründung zurückweisen, mag es unter sämtlichen Angeboten auch das günstigste und qualitativ hochwertigste sein, und mag der entgangene Zuschlag für den Anbieter auch den Ruin bedeuten!
120 Zu der weiteren, von den Richtlinien und vom AGG ebenfalls nicht erfaßten Problematik einer Diskriminierung durch den Leistungsanbieter infolge eines ihm gegenüber angedrohten Kundenboykotts, s. ausf. Picker (N 8), S. 40 ff.; Dammann (N 11), S. 105 f., 260 ff. 121 Vgl. auch Reichold (N 29), S. 390. 122 Diese Einsicht geht auf einen Hinweis von Josef Isensee auf der Aachener Tagung der Görres-Gesellschaft am 26. September 2005 zurück.
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c) Die Beweislastregelung als schutzzielüberschreitende Pauschalierung aa) Zeigen die Richtlinien bei der Auswahl der maßgeblichen Diskriminierungskriterien wie auch des relevanten Diskriminierungsverhaltens im Hinblick auf den Schutz des Persönlichkeitsrechts Defizite, so schießen sie, gemessen an diesem Zweck, an anderer Stelle erheblich über das Ziel hinaus. Dabei ist in erster Linie die Beweislastregelung zu nennen, wie sie sich in sämtlichen Richtlinien und auch im AGG findet123. Diese Regelung wird in der Praxis dazu führen, daß die Abweisung eines Bewerbers den Abweisenden immer schon dann in Rechtfertigungszwang setzt, wenn der Abgewiesene auch nur eines der für eine Unterscheidung verpönten persönlichen Merkmale für den Abweisenden erkennbar aufweist. Eine solche Vermutung ist bei reinen Güterumsatzgeschäften im gewerblichen Bereich durchaus akzeptabel, weil es hier auf die Person des Geschäftspartners immer schon nach der eigenen Zwecksetzung des Anbieters nicht ankommt und somit bei einer nach der Verkehrserwartung völlig aus der Luft gegriffenen Vertragsverweigerung gegenüber Personen mit erfahrungsgemäß diskriminierungsanfälligen Merkmalen und Eigenschaften der Verdacht durchaus nahe liegt, daß es hier mit der Abweisung um nichts anderes geht als um eine jeder Marktrationalität zuwiderlaufende gesellschaftliche Ausgrenzung und Herabwürdigung. bb) Gänzlich anders verhält es sich dagegen dort, wo der Vertragspartner gerade als Person eine Rolle spielt, weil der Erfolg der einzugehenden Beziehung maßgeblich davon abhängt, daß man „miteinander kann“, den Partner also gerade auch als Person schätzt und sich in der Lage sieht, mit ihm ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Die mit dem Vertragsschluß erfolgende Prognose, ob dies der Fall sein wird, aber hängt zwangsläufig immer auch von rein subjektiven und höchst 123
§ 22. 10*
S. hierzu o., u. A. III. 1. b), c), S. 105, 109; für das AGG s. nur dessen
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irrationalen Faktoren wie etwa der Physiognomie, der Körpergröße und -fülle, der Ausstrahlung, dem Temperament, der Stimmlage, einem bestimmten Körpergeruch, dem Kleidungsstil, der Kommunikationsfähigkeit, gemeinsamen Erfahrungswelten, übereinstimmenden politischen und weltanschaulichen Grundhaltungen etc. ab. Das bedeutet zugleich, daß die Zurückweisung eines farbigen, eines jüdischen, eines homosexuellen oder auch eines behinderten Bewerbers in solchen Fällen nicht schon per se den Verdacht einer rechtlich mißbilligenswerten Herabsetzung seiner Person begründen kann. Zum einen läßt es die zweckentsprechend immer auch irrational und rein gefühlsmäßig erfolgende Auswahl stets möglich erscheinen, daß es ganz andere Gründe waren, die den Bewerber nicht zum Zuge kommen ließen. Zum anderen muß es sich der Bewerber in solchen Fällen aber auch in gewissem Umfang gefallen lassen, gerade wegen der in Frage stehenden Eigenschaft das Nachsehen zu haben, ohne deshalb den Vorwurf einer Persönlichkeitsrechtsverletzung erheben zu können. Denn ob der Auswahlberechtigte aufgrund der Körpergröße, der Physiognomie und der Stimmlage oder wegen der kulturellen Zugehörigkeit eines Bewerbers zu dem Ergebnis kommt, mit ihm „nicht zu können“, macht keinen Unterschied. Immer leidet der Betroffene hier an einer mit seiner Person untrennbar verbundenen Eigenschaft. Dies aber ist so lange rechtlich nicht zu beanstanden, wie der Rekurs auf die in Frage stehende persönliche Eigenschaft tatsächlich nur einer offen subjektiven Bewertung der Person im Hinblick auf die vertraglichen Zwecke dient. Denn in diesem Rahmen ist ihr allgemeiner sozialer Achtungsanspruch durch die Bewertung nicht berührt. Es wird hierüber von vornherein keine Aussage getroffen und damit auch die menschliche Ebenbürtigkeit und soziale Gleichwertigkeit des abgewiesenen Bewerbers nicht in Frage gestellt. cc) Aus der Perspektive des persönlichkeitsrechtlichen Integritätsschutzes erscheint damit aber die für sämtliche erfaßten Lebensbereiche unterschiedslos getroffene Beweislastregelung der Richtlinien und des AGG vielfach als unangemessen.
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Das gilt insbesondere für die Wohnraummiete und das Arbeitsrecht. Nicht nur muß der Auswählende hier häufig geradezu in eine Aporie geraten, weil das begehrte Gut lediglich in begrenzter Zahl vorhanden und eine diskriminierungsrechtlich unanstößige Entscheidung damit praktisch überhaupt nicht mehr zu treffen ist: Wählt man etwa, um über jeden Verdacht erhaben zu sein, als Vermieter bewußt den farbigen Bewerber, diskriminiert man zwangsläufig den abgewiesenen weißen. Entscheidet man angesichts dieser „Diskriminierungsfalle“ allein nach der Höhe des Verdienstes, droht hier noch immer der Vorwurf einer mittelbaren Diskriminierung. Bleibt also nur, die Entscheidung völlig aus der Hand zu geben und fernab von jeder Rationalität – und hier selbst Humanität! – allein den zeitlichen Eingang der Bewerbungen oder gar die Würfel entscheiden zu lassen124. 124 Die Vermeidung solcher Aporien dürfte u. a. auch hinter dem vielfach vertretenen Vorschlag stehen, den Begriff des „der Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Gutes“ oder auch des „Wohnraums“ äußerst restriktiv dahingehend zu interpretieren, daß nur öffentliche Verkehrsmittel, Warenhäuser und Hotels gemeint sind (s. etwa Gregor Thüsing, Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Geltung von EG-Richtlinien im Anti-Diskriminierungsrecht, in: NJW 2003, S. 3343; auch Reichold [N 29], S. 389; Franzen [N 31], S. 54 ff.). Mit derartig pointilistischen, rein buchstabengestützten und teleologisch unabgesicherten Lösungsversuchen ist dem an dieser Stelle hervortretenden Grundproblem allerdings kaum Herr zu werden (s. deutlich nur etwa Picker, (N 8), S. 108 ff.). Das AGG entzieht solchen Ansätzen nunmehr ohnehin die Grundlage, wenn es in § 19 Abs. 3, 5 spezielle Ausnahmen gerade für die Wohnungsmiete statuiert. Denn hieraus kann man ja nur schließen, daß jedenfalls der deutsche Gesetzgeber gerade auch Mietwohnungen unter den Begriff der Wohnraummiete als eines der Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Gutes versteht (zur Fragwürdigkeit der in § 19 Abs. 3 AGG getroffenen Ausnahme s. Eduard Picker, Antidiskriminierung im Zivil- und Arbeitsrecht, in: ZfA 2005, S. 167 [184 ff.]). Wenig überzeugend ist in diesem Zusammenhang auch der Vorschlag von Dammann (N 11), S. 348, 361, von einem „Massengeschäft“ iSv. § 19 Abs. 1 AGG immer nur dann auszugehen, „wenn die diskriminierende Partei Verträge dieser Art zu gleichartigen Bedingungen in mindestens drei Fällen abschließt und wenn das Merkmal, aufgrund dessen im konkreten Fall diskriminiert wird, beim Abschluß von Verträgen dieser Art in der Rechtsgemeinschaft typischerweise keine Rolle spielt.“ Denn das würde ja etwa bedeuten, daß das Gesetz zwar den Familienvater, der, weil
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Es kommt entscheidend hinzu, daß auf den genannten Feldern die bloße Zugehörigkeit eines abgewiesenen Bewerbers zu einer der geschützten Gruppen nur in besonderen, die Rechtswirklichkeit keineswegs prägenden Konstellationen als Indiz für eine persönlichkeitsrechtsverletzende Diskriminierung taugen kann. Im Arbeitsrecht mag dies etwa der Fall sein, wenn es um eine Stelle geht, deren Profil praktisch kaum persönlichen Umgang mit dem Arbeitgeber, mit Kollegen oder auch mit Kunden erfordert und ein nach den objektiven Leistungsmerkmalen gleich qualifizierter türkischer Bewerber nicht einmal zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird125. Für die Wohnraummiete läßt sich eine entsprechende Indizwirkung schließlich dort vertreten, wo es um die Vermietung die ganze Kleinfamilie neu ausgestattet werden soll, auf einem Ski-Bazar drei Paar Ski verkaufen möchte, mit seinen Diskriminierungsverboten belegt, nicht aber auch den am Nachbarstand stehenden Single, der – notgedrungen – nur ein Paar Ski feilhält. Dieser würde allenfalls erfaßt, wenn er bereits zum dritten Mal als Anbieter auf dem Bazar auftritt oder doch wenigstens plant, auch in den nächsten Jahren dort seine gebrauchten Skier wieder an den Mann oder die Frau zu bringen. Ein Gesetz, das tatsächlich derart groteske Unterscheidungen träfe, würde ganz offensichtlich aber nicht mehr Recht, sondern allein noch Willkür setzen. An der Grenze zur Willkür bewegt sich auch der in letzter Minute noch in das Gesetz aufgenommene § 19 Abs. 5 AGG, wonach die nicht nur vorübergehende Vermietung von Wohnraum kein „Massengeschäft“ i. S. v. § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG sein soll, sobald der Vermieter nicht mehr als 50 Wohnungen vermietet. Denn es besteht bei den genannten Geschäften kein innerer Zusammenhang zwischen der Zahl der Vermietungen und der Bedeutsamkeit der Person des Mieters. Letztere ergibt sich allein aus den Besonderheiten des in Frage stehenden Geschäftstyps. Sie ist deshalb auch im Fall von insgesamt mehr als 50 Vermietungen bei jedem einzelnen Geschäft in grundsätzlich gleicher Weise gegeben, weil ja auch in diesem Fall der dauerhaft ungestörte Vollzug des Mietverhältnisses entscheidend von der Vertrauenswürdigkeit und der sozialen Passfähigkeit des Mieters abhängt. Allenfalls kann man sagen, dass im Fall von mehr als 50 Vermietungen der relative Schaden für den Vermieter geringer ist, wenn er wegen der beschränkten Auswahlfreiheit in einzelnen Fällen Störungen des Mietverhältnisses hinnehmen muss. Mit gleichem Recht könnte man dann allerdings auch den Vermieter einer einzelnen Wohnung dem Diskriminierungsverbot unterwerfen, wenn nur sein übriges Vermögen so groß ist, dass sich der hierdurch angerichtete Schaden in der Relation in Grenzen halten würde!
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von Ferienwohnungen oder Hotelzimmern in großen Bettenburgen oder Holidayparks durch gewerbliche Reiseveranstalter geht. In der überwiegenden Zahl der Fälle kommt jedoch der Person des Vertragspartners und ihrer subjektiven Einschätzung in den genannten Bereichen maßgebliche Bedeutung zu. Hier kann deshalb die Abweisung eines den geschützten Gruppen angehörenden Bewerbers aus den genannten Gründen nicht schon per se den Verdacht einer persönlichkeitsrechtsverletzenden Diskriminierung begründen. Dementsprechend taugt die Beweislastregelung, wie sie die Richtlinien vorsehen, unter dem Blickwinkel des Integritätsschutzes nicht als Pauschalregel. Sie schießt in weitem Umfang über dieses Ziel hinaus. II. Verteilungs- und integrationspolitisch motivierte Diskriminierungsverbote 1. Die grundsätzliche Systemwidrigkeit zivilrechtlicher Diskriminierungsverbote mit verteilungsund integrationspolitischer Zielsetzung Konstituiert sich eine Gesellschaft im Sinne einer freiheitlichen Privatrechtsgesellschaft, so hat das, wie einleitend bereits angedeutet, auch für die Frage grundlegende Bedeutung, wer in der so verfaßten Ordnung für die Herstellung materieller Gleichheit und wer damit insbesondere auch für die Realisierung verteilungs- und integrationspolitischer Ziele zuständig ist126. Weil dem in seinen eigenen Angelegenheiten an 125 Kommt trotz grundsätzlich gleicher beruflicher Qualifikation statt einer Frau oder einem Schwerbehinderten ein Mann bzw. ein NichtBehinderter zum Zuge, mag es ebenfalls eine erhöhte Wahrscheinlichkeit dafür geben, daß die Auswahl gerade aufgrund des Geschlechts bzw. der Behinderung erfolgt ist. Allerdings indiziert das in solchen Fällen nicht zwangsläufig auch eine Persönlichkeitsrechtsverletzung. Zu vermuten sind dahinter zunächst immer noch durchaus marktrationale Gründe, wie u., u. II. 3., S. 159 ff., noch näher zu zeigen sein wird. 126 S. o., u. A. II. 2. b), S. 114 ff. sowie jüngst auch Hahn / Heinrich / Reichold (N 109), S. 1272.
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das Gleichbehandlungsgebot gebundenen Privaten gerade die Freiheit wieder genommen wäre, die ihm systembedingt zukommen soll, kann es grundsätzlich nicht zu seiner Aufgabe gemacht werden, Verteilungsgerechtigkeit gleichsam aktiv herzustellen. Diese Aufgabe kommt vielmehr dem Gemeinwesen zu. Um die verfassungsrechtlichen Grundpostulate der Freiheit und der Gleichheit in ein sinnvolles und lebensfähiges, sich nicht ständig gegenseitig in Frage stellendes und bedrohendes Verhältnis zu bringen, müssen sich Freiheit und Gleichheit grundsätzlich in verschiedenen rechtlichen Subsystemen verwirklichen127: Im Subsystem des Privatrechts herrscht das Rechtsprinzip der Freiheit. Im Subsystem des öffentlichen Rechts herrscht dagegen das Rechtsprinzip der Gleichheit128. Nur dies entspricht im weiteren auch einem modernen vertragstheoretischen, auf dem Grundaxiom ursprünglich gleicher Freiheit der Einzelnen aufbauenden Staatsverständnis Locke’scher Prägung129. Denn wo nicht der Staat als Geschöpf der Verbindung ursprünglicher Freiheiten agiert, verbleibt den Einzelnen diese ursprüngliche Freiheit als nunmehr auch rechtlich gesicherte Freiheit130. Dagegen wirkt sich beim Handeln des Staates, das sich bei diesem Ausgangspunkt im Kern als ein Handeln aller in (gleichsam S. auch hierzu bereits o., u. A. II. 2. b), S. 114 ff. Vgl. auch Josef Isensee, Der Dualismus von Staat und Gesellschaft, in: Ernst Wolfgang Böckenförde (Hg.), Staat und Gesellschaft, 1976, S. 317 (320 f.). 129 S. John Locke, Two treatises on government, hg. von Peter Laslett, 2 1970; dazu, wie sich dieses Verständnis in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte v. 26. August 1789 wie auch zuvor schon in der für diese Erklärung vorbildlichen amerikanischen Unabhängigkeitserklärung v. 4. Juli 1776 niedergeschlagen hat, vgl. nur etwa Ernst Wolfgang Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft als Bedingung individueller Freiheit, in: RheinischWestfälische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Vorträge G 183, 1973, S. 7 (17 f.); Klaus Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: HStR, Bd. V, 22000 (11992), § 108 Rn. 10, 33; ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1988, Bd. III / 1, 1988, S. 78 f. 130 Vgl. jetzt auch Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozeßstruktur, Tübinger Habilitationsschrift 2005, Kap. 4 III 1. 127 128
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gesamthänderischer) Verbundenheit darstellt, folgerichtig der Umstand ursprünglich gleicher Freiheit aus: Wo Gleiche unter Überweisung eines je gleich großen Teils ihrer Freiheit eine Verbindung eingehen, erfolgt das mit Selbstverständlichkeit unter der Bedingung der Gleichbehandlung in dieser Verbindung und durch diese Verbindung131. Der Grundsatz, daß nur der Staat und nicht auch der Private dem Gleichbehandlungsgebot unterliegt, hat damit aber unter der Voraussetzung eines modernen freiheitlichen Staatsverständnisses immer auch schon vorpositive Richtigkeit. Dementsprechend kann bei Auswahlentscheidungen prinzipiell auch nur der Staat, nicht aber der Private einem Begründungs- und Rechtfertigungszwang unterliegen. Sind dem Privatrecht verteilungs- und integrationspolitisch motivierte Gleichbehandlungspflichten prinzipiell fremd, bleiben sie allenfalls dort noch als ultima ratio denkbar, wo es an den Grundbedingungen privatrechtlichen Handelns i. S. beiderseitig freien Handelns fehlt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Freiheit des einen Macht über die Existenzgrundlagen des anderen gewinnt, weil der Verzicht auf die in Frage stehende Leistung keine zumutbare Option und ein Ausweichen auf andere Anbieter oder andere Leistungen nicht möglich ist. Hierum handelt es sich insbesondere in den Fällen eines Kontrahierungszwangs für Anbieter existentiell bedeutsamer Güter mit Monopolstellung132. Die zur Umsetzung anstehenden Antidiskriminierungsrichtlinien gehen über solche Konstellationen allerdings weit hinaus und lassen sich deshalb auch nicht in diesen dogmatischen Kontext einordnen133. 131 Plastisch Art. 6 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte v. 26. August 1789: „Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken. Es muß für alle gleich sein, mag es beschützen oder bestrafen. Da alle Bürger vor ihm gleich sind, sind sie alle gleichermaßen, ihren Fähigkeiten entsprechend und ohne einen anderen Unterschied als den ihrer Eigenschaften und Begabungen, zu allen öffentlichen Würden, Ämtern und Stellungen zugelassen.“ 132 Vgl. hierzu etwa Bydlinski (N 37), S. 35 ff.; sowie auch den umfassenden Überblick bei Busche (N 18), S. 162 ff.
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2. Die allgemeinen Systembedingungen einer zulässigen verteilungs- und integrationspolitischen Inanspruchnahme Privater a) Verteilungs- und integrationspolitisch motivierte Diskriminierungsverbote als abgabeähnliche Belastung Das alles bedeutet nicht etwa, daß Private zur Verwirklichung verteilungs- und integrationspolitischer Ziele überhaupt nicht in Anspruch genommen werden dürften. Als Mitglieder des Gemeinwesens haben sie selbstverständlich ihren Beitrag zur Realisierung von Gemeinwohlbelangen zu leisten – und dies auch in der Form des Opfers zivilrechtlich geschützter Güter. So ist insbesondere die Berechtigung des Staates zur Erhebung von Steuern und Abgaben auch in einer als Privatrechtsgesellschaft verfaßten Ordnung nicht in Frage zu stellen. Unter diesem speziellen Blickwinkel kann man deshalb durchaus auch an Eingriffe in die rechtsgeschäftliche Privatautonomie denken. Denn die hierdurch bewirkten Belastungen lassen sich auf abstrakter Ebene als eine Art Abgabe begreifen. Vermögen ist nichts anderes als materialisierte Freiheit. Und so wie der Einzelne mit jeder Steuer und Abgabe immer auch ein Freiheitsopfer erbringt, erbringt er dieses, nur gleichsam unvermittelt, auch hier. b) Der rechtliche Bewertungsmaßstab für die Zulässigkeit entsprechender Belastungen Die Beschreibung eines im Gemeininteresse erfolgenden gesetzgeberischen Eingriffs in die Privatautonomie als – untechnische – Abgabe belegt freilich nicht nur die grundsätzliche „Denkbarkeit“ solcher Eingriffe. Sie gibt zugleich auch 133 Klar gesehen schon von Bydlinski (N 37), S. 33; Busche (N 18), S. 195; s. ferner im speziellen Zusammenhang der aktuellen Antidiskriminierungsdebatten auch v. Koppenfels (N 37), S. 1492; Armbrüster (N 109), S. 43; auch Möllers (N 29), S. 199; anders aber offenbar Reichold (N 29), S. 392; Franzen (N 31), S. 66.
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die Bedingungen für die Rechtmäßigkeit entsprechender Eingriffe vor134. Denn der Gesetzgeber ist insoweit bekanntlich keineswegs frei, sondern hat nur einen eingeschränkten Gestaltungsspielraum135. Das bedeutet zunächst, daß mit solchen Eingriffen immer nur dem Allgemeinwohl dienende Ziele verfolgt werden dürfen und der Eingriff zur Erreichung dieses Ziels nicht nur geeignet, sondern darüber hinaus auch erforderlich und angemessen sein muß. Dabei ist hier nun insbesondere auch der Gleichheitssatz in seinem ursprünglichen Anwendungsbereich zu beachten. Wie gerade aus dem Steuer- und Abgabenrecht hinlänglich bekannt, darf der Eingriff nicht zu einem Sonderopfer Einzelner oder einzelner Gruppen führen, wenn sie für die Verwirklichung des Gemeinwohlbelangs nicht in höherem Maße verantwortlich sind als alle anderen Mitglieder des Gemeinwesens auch. Fehlt es an einer spezifischen Gruppennützigkeit des mit der Selektivbelastung verfolgten Ziels, gilt der Satz, daß Gemeinschaftsaufgaben grundsätzlich von der Gemeinschaft zu schultern und nicht willkürlich auf einzelne abzuwälzen sind136. Nur im Hinblick auf Sozialversicherungsbeiträge läßt das BVerfG dabei gewisse, in der Sache allerdings durchaus zweifelhafte Ausnahmen zu137.
134 S. diesen Ansatz auch bei Picker (N 8), S. 82 ff.; sowie in anderem Zusammenhang bei Thomas Lobinger, Das individualrechtliche Fundament des Rechts der Betriebsänderung, in: ZfA 2006, S. 173 (189 f.); vgl. im hier verfolgten Zusammenhang ferner auch Säcker (N 32) S. 18. 135 S. nur etwa BVerfGE 55, 274 (298 ff.); 67, 256 (275 ff.); 81, 156 (179 ff.); sowie aus der Literatur Ferdinand Kirchhof, Sozialversicherungsbeitrag und Finanzverfassung, in: NZS 1999, S. 161 (163 f.). 136 S. außer den Nachw. in N 135 etwa noch Josef Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 62; sowie speziell für den hier verfolgten Zusammenhang Picker (N 8), S. 82 ff.; in Andeutungen auch bei Säcker (N 32) S. 18. 137 S. BVerfGE 75, 108 (147); 78, 249 (267); 81, 156 (186); 89, 132 (144); 109, 64 (88).
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c) Verteilungs- und integrationspolitisch motivierte Diskriminierungsverbote als grundsätzlich unzulässige Sonderopfer aa) Mißt man verteilungs- und integrationspolitisch motivierte Diskriminierungsverbote für Private an diesen Vorgaben, so fällt die Beurteilung grundsätzlich negativ aus. Ein auch nur mittelbarer Zwang zum Kontrakt mit Angehörigen benachteiligter Gruppen ist regelmäßig schon kein verhältnismäßiges Mittel, um das verteilungspolitische Ziel, die Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe dieser Gruppen, zu gewährleisten. Gründen die Marktnachteile des betroffenen Personenkreises bei näherem Hinsehen v. a. in einem schlechteren Ausbildungsniveau, einer schlechteren Vermögenslage oder ähnlichen gruppentypischen Umständen, ist das Ansinnen gegenüber einzelnen Privaten, diese Nachteile für den guten Zweck der Integration in Kauf zu nehmen, bereits deshalb unverhältnismäßig, weil mit geringeren Eingriffen verbundene gleich geeignete staatliche Maßnahmen bereit stehen. Das Gemeinwesen kann entsprechende Marktnachteile durch Verbesserung der Bildung, durch finanzielle Unterstützung sowie auch die Schaffung von Anreizsystemen beseitigen. Freiheitslimitierende Eingriffe in das Privatrecht sind deshalb von vornherein nicht erforderlich. Der Staat kommt hier mit seinen ureigenen öffentlichrechtlichen Mitteln ohne weiteres aus. Zivilrechtliche Maßnahmen wären demgegenüber vielfach sogar ungeeignet, weil entsprechende Belastungen für private Investoren erfahrungsgemäß abschreckend wirken und damit geradezu inverse Effekte auslösen. Musterbeispiel hierfür ist der Wohnungsmarkt. Sinkt die Renditeerwartung infolge höherer Ausfall- und Prozeßrisiken, wechseln die Investoren in andere, renditeträchtigere Anlageformen und es nimmt folglich gerade entgegengesetzt zum verteilungspolitischen Ziel die Gesamtversorgung ab138. bb) Schwieriger liegen die Dinge, wenn die Marktnachteile vornehmlich in Vorurteilen der Ressourceninhaber gründen, 138 S. hierzu Picker (N 8), S. 72, 81 m. w. Nachw.; Barbara DaunerLieb, Diskussionsbeitrag (N 8), S. 181.
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ohne daß deren Ablehnung im konkreten Fall jedoch auch schon eine persönlichkeitsrechtsverletzende Diskriminierung darstellen müßte. Zwar stehen dem Staat auch hier privatrechtsneutrale Mittel der Abhilfe zur Verfügung. Er kann Aufklärungskampagnen durchführen, Lehrpläne ändern, Pilotprojekte starten und auch materielle Anreize für Integrationsleistungen schaffen. Der Erfolg solcher Maßnahmen ist allerdings kaum je garantiert. Aus dieser Ernüchterung allein kann jedoch nicht auch schon die Verhältnismäßigkeit einer zwangsweisen Inanspruchnahme einzelner Privater resultieren. Denn mehr noch als bei den genannten staatlichen Maßnahmen muß die Erfolgsträchtigkeit des Mittels bezweifelt werden, wenn bestehende Vorurteile dadurch abgebaut werden sollen, daß man den Vorurteilsbelasteten einseitig in ein Rechtsverhältnis mit dem Opfer seiner Vorurteile zwingt. Seine Offenheit gegenüber dem anderen wird dadurch eher ab- denn zunehmen. Er wird nach der erstbesten Gelegenheit suchen, um das Verhältnis wieder beenden zu können oder sich so verhalten, daß der andere sich schon bald selbst nach einer solchen Lösung sehnt139. Jedenfalls wird er den als Vergewaltigung empfundenen Rechtszwang dem Opfer seiner Vorurteile zurechnen und sich so in diesen Vorurteilen eher noch bestärkt sehen, sollten sie sich nicht ohnehin schon durch die Erfahrungen beim Vollzug des Zwangsvertrags fatalerweise auch noch tatsächlich bestätigt haben. Rechtszwang, wird er auch nur mittelbar über Sanktionen ausgeübt, ist deshalb unter keinen Umständen ein geeignetes Mittel zum Abbau vorurteilsbedingter Marktnachteile. Nicht umsonst wird man deshalb ja auch im Strafrecht zu dem ebenfalls auf Integration zielenden Täter-Opfer-Ausgleich nicht etwa verurteilt, sondern immer nur durch Anreize gelockt140. 139 Vgl. nur Bydlinski (N 37), S. 45 Fn. 69; Picker (N 8), S. 64; sowie in anderem, gleichwohl verwandtem Zusammenhang auch schon Lobinger (N 3), S. 59 f. 140 S. § 46 a StGB.
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cc) Fehlt es damit durchgängig bereits an der Verhältnismäßigkeit verteilungs- und integrationspolitisch motivierter Beschneidungen der Privatautonomie, kommt als entscheidender Einwand schließlich noch hinzu: Solche Rechtsänderungen verletzen regelmäßig den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz, weil sie den vom Diskriminierungsverbot Betroffenen ein nicht zu rechtfertigendes Sonderopfer abverlangen. Der Abbau gruppenspezifischer Teilhabedefizite ist Gemeinwohlbelang und damit originäre Gemeinschaftsaufgabe. Jedes Mitglied der Gesellschaft ist für die Realisierung dieses Ziels in gleicher Weise verantwortlich. Es gibt keine Sonderverantwortlichkeit einzelner oder auch nur einzelner Gruppen. Eine solche Sonderverantwortlichkeit besteht insbesondere nicht bei Arbeitgebern und Anbietern auf Güter- und Dienstleistungsmärkten. Zwar sind sie in einer Privatwirtschaft gleichsam der Schlüssel zur Teilhabe an den materiellen Ressourcen der Gesellschaft. Solange sie auf bestimmte gruppenspezifische Merkmale jedoch lediglich marktrational reagieren, also Gewinne sichern und Verluste verhindern wollen, gibt es prinzipiell keinen Grund, sie hierin zu beschränken und so mit finanziellen Nachteilen zu belasten, die andere Mitglieder der Gesellschaft nicht auch in gleicher Weise zu tragen haben, im Gegenteil. Denn nur sie sorgen ja überhaupt dafür, daß das offensichtlich zu knappe Gut in einem bestimmten Umfang angeboten und hierdurch gerade auch der Staat in seiner Verantwortung für die Daseinsvorsorge in dem betroffenen Bereich entlastet wird141. Jedenfalls dort, wo die Marktnachteile der „diskriminierten“ Gruppen durch öffentlich finanzierte und damit auch von allen gemeinschaftlich getragene Maßnahmen zu beseitigen sind, erweist sich deshalb ein verteilungsoder integrationsmotiviertes Diskriminierungsverbot als Sonderopfer, dessen Zulässigkeit am Gleichheitsgrundsatz scheitert142. S. hierzu auch Picker (N 8), S. 81. Trotz grundsätzlich richtiger Analyse hegt demgegenüber etwa Eberhard Eichenhofer, Die sozialpolitische Inpflichtnahme von Privatrecht, in: JuS 1996, S. 857 (864), keine solchen grundsätzlichen Bedenken 141 142
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3. Arbeitsrechtliche Sonderlagen a) Mit diesen Grundeinsichten öffnet sich zugleich das Fenster für eine eng begrenzte spezielle Zulässigkeit von verteilungs- und integrationspolitisch motivierten Gleichbehandlungsgeboten im Arbeitsrecht, wie sie – wohl wegen ihrer sogleich näher darzustellenden Besonderheit im Hinblick auf die soeben beschriebene Problematik – auch bereits seit langem anerkannt sind143. Gemeint sind die arbeitsrechtlichen Unterscheidungsverbote wegen des Geschlechts und wegen einer (Schwer-)Behinderung. Im Unterschied zu allen anderen in der aktuellen Antidiskriminierungsgesetzgebung angesprochenen Unterscheidungsmerkmalen sind die Nachteile, die sich auf dem Arbeitsmarkt infolge des Geschlechts sowie auch wegen einer Behinderung ergeben, selbst durch einen erfolgreichen Abbau von Vorurteilen und staatliche Unterstützungs-, Ausgleichs- und Anreizsysteme kaum je vollständig zu kompensieren. Dies gilt insbesondere für die Geschlechterdiskriminierung: Solange sich die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht derart grundlegend geändert hat, daß Frauen entweder überhaupt keine Kinder mehr bekommen oder – das sollte als gesellschaftspolitisches Ziel gegenüber der genannten Alternative allerdings unbedingte Präferenz haben – Männer für Arbeitgeber mit dem prozentual gleichen erziehungsbedingten Ausund sieht deshalb im Hinblick auf verteilungs- und integrationspolitische Zielsetzungen auch keinen Vorrang originär sozialrechtlicher Maßnahmen vor einer (gleichheitswidrigen) Instrumentalisierung des Privatrechts. Von vornherein ausgeschlossen ist im Zusammenhang von Diskriminierungsverboten ein Rückgriff auf die – sachlich zudem äußerst fragwürdige – Rechtfertigung fremdnütziger Sonderlasten, wie sie das BVerfG weitergehend im Sozialversicherungsrecht zuläßt (s. hierfür nur etwa BVerfGE 75, 108 [147]; 78, 249 [267]; 81, 156 [186]; 89, 132 [144]; sowie auch den Überblick bei F. Kirchhof [N 135], S. 161 ff.). Denn das Gericht stellt dort für die Legitimation der besonderen Belastung maßgeblich auf ein gewachsenes und auf längere Dauer angelegtes Rechtsverhältnis zwischen Belasteten und Nutznießern ab, wie es insbesondere bei einem Arbeitsverhältnis vorliegt (s. nur BVerfGE 75, 108 [147]). Bei Diskriminierungsverboten besteht ein solches Verhältnis aber in der Regel noch nicht. Es geht vielmehr gerade erst um dessen Begründung. 143 S. früher §§ 611 a, 611 b, 612 Abs. 3 BGB, 81 a SGB IX.
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fallrisiko belastet sind wie Frauen, tragen letztere eine Hypothek, die der Staat auch mit Gehaltszuschüssen, Vertretungszahlungen und massiv verbesserten Kinderbetreuungsmöglichkeiten nicht abtragen könnte und die deshalb die Chancengleichheit von Frauen auf dem Arbeitsmarkt strukturell beeinträchtigen muß144: Sie drohen, wenn sich Nachwuchs einstellt, nicht nur infolge des Mutterschutzes, sondern darüber hinaus auch wegen Erziehungszeiten, kranken Kindern und ähnlichen Gründen weit häufiger auszufallen als Männer. Weil die Mitarbeiterin bei einem entsprechenden Stellenprofil für die in Frage stehende Zeit möglicherweise überhaupt nicht zu ersetzen ist, jedenfalls aber erheblicher betrieblicher Organisationsaufwand und umstellungsbedingte Reibungsverluste entstehen, läßt sich dieses Manko durch staatliche Maßnahmen in der Tat nie vollständig ausgleichen. Schließlich bleibt als Folge für spätere Jahre stets noch die durch Erziehungszeiten bedingte geringere Berufserfahrung. Auf all dies reagiert der Arbeitgeber aber immer nur rein marktrational, wenn er es bei seiner Einstellungsentscheidung berücksichtigt145. Es ist deshalb eine umfassende Lösung auch nicht etwa über den integritätswahrenden Diskriminierungsschutz möglich. b) Ganz ähnliche Probleme ergeben sich auf dem Arbeitsmarkt auch für Behinderte. Und dabei geht es noch nicht einmal um das Problem einer möglicherweise geringeren (quantitativen) Leistungsfähigkeit im Hinblick auf die geforderte Tätigkeit oder die Notwendigkeit besonders ausgestatteter Arbeitsplätze, was ja jeweils noch durch Ausgleichszahlungen weitgehend neutralisiert werden könnte. Denn unabhängig hiervon sind auch sie wegen einer erhöhten Erforderlichkeit von Arztbesuchen, größerer gesundheitlicher Anfälligkeit und Ähnlichem mit merklich höheren Ausfallrisiken belastet als Nichtbehinderte. Das muß auch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt selbst bei grundsätzlich gleicher Qualifikation immer schon strukturell beeinträchtigen146. 144 145
Vgl. auch BVerfGE 109, 64 (90). S. auch Picker (N 8), S. 94.
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c) Vermag der Staat die Teilhabebarrieren, die den Betroffenen gerade aus einem rein marktrationalen Verhalten der Arbeitgeber erwachsen, mit seinen ureigenen öffentlichrechtlichen Mitteln nicht vollständig zu überwinden, weil diese Mittel vor verbleibenden strukturellen Marktnachteilen versagen, geraten nunmehr aber auch die Arbeitgeber in eine begrenzte Sonderverantwortlichkeit. Ohne ihr spezielles Zutun sind die von der staatlichen Gemeinschaft verfolgten verteilungs- und integrationspolitischen Ziele nicht zu realisieren. Angesichts der höchsten rechtlichen Wertigkeit dieser Ziele wie auch ihrer existentiellen Bedeutung für das Gemeinwesen muß es deshalb aber – im Kern nicht anders als bei der Rationierung von Gütern in krisenhaften Knappheitslagen – jedenfalls als ultima ratio und im Sinne eines Transitoriums für zulässig erachtet werden, die Freiheit der Arbeitgeber zur Gefolgschaft gegenüber der reinen Marktrationalität im Interesse der genannten strukturell benachteiligten Gruppen einzuschränken147. Der rationierende Charakter solcher Maßnahmen macht allerdings zugleich deutlich, daß dies immer nur in engsten 146 Vgl. nur BVerfGE 109, 64 (94 f.). Nicht vergleichbar mit der Lage von Frauen und Behinderten ist die Lage von Älteren auf dem Arbeitsmarkt, so daß in dieser Beziehung eine unter den sogleich näher zu entwickelnden Voraussetzungen erfolgende Rechtfertigung verteilungs- und integrationspolitisch motivierter Diskriminierungsverbote ausscheiden muß. Das Risiko altersbedingter Beeinträchtigungen der Arbeitsmarktchancen trifft alle Mitglieder der Gesellschaft in gleicher Weise. Die vielfach schlechteren Chancen im Alter sind gleichsam nur der Preis für bessere Chancen in jüngeren Jahren. Aufs Ganze gesehen gibt es damit aber keine Ungleichbehandlung wegen Alters. Es wird unter diesem Aspekt nicht der eine schlechter als der andere behandelt. Vielmehr wird jeder zu einer Zeit besser und zur anderen schlechter behandelt. Die „Teilhabebilanz“ ist damit für alle Mitglieder der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt Alter prinzipiell gleich. Ganz anders als bei Frauen und Behinderten gibt es insoweit keine signifikant divergierenden Lebenschancen einzelner Gruppen der Gesellschaft (vgl. auch Angelika Nussberger, Altersgrenzen als Problem des Verfassungsrechts, in: JZ 2002, S. 524; Neuner [N 19], S. 62; Hahn / Heinrich / Reichold [N 109], S. 1275). 147 Vgl. auch Picker (N 37), S. 544; sowie – allerdings mit strikteren Schlußfolgerungen – ders. (N 8), S. 86 ff., 95 ff.
11 Isensee (Hrsg.)
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Grenzen denkbar sein kann. So muß es sich insbesondere um den Zugang zu einem existentiell bedeutsamen Gut handeln, was in Bezug auf Arbeitsplätze allerdings unproblematisch der Fall ist. Ferner ist auch hier wieder in besonderem Maße der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Das bedeutet v.a., daß die extraordinäre Inanspruchnahme Privater zur Verwirklichung der erstrebten Chancengleichheit immer nur insoweit erfolgen darf, wie sie hierfür auch tatsächlich unverzichtbar ist. Vorrangig hat der Staat also mit seinen ureigenen öffentlichrechtlichen Mitteln zu versuchen, die Wettbewerbsfähigkeit der strukturell benachteiligten Gruppen zu verbessern, um so den Eingriff in die Privatautonomie möglichst gering halten zu können. Dazu gehört insbesondere, daß er sämtliche selbstgesetzten Diskriminierungsanreize abbaut. Denn es paßt ersichtlich nicht zusammen, wenn die Einstellung von Frauen zunächst mit prohibitiv wirkenden Kostenrisiken verknüpft wird – Stichwort: Mutterschutz, Zuschuß zum Mutterschaftsgeld etc. –, um anschließend unter solchen erschwerten Bedingungen auch noch die gute soziale Tat vom Arbeitgeber zu verlangen. Hier potenziert sich das Sonderopfer, was nicht nur mit Blick auf den Gleichheitssatz erneut prekär erscheinen muß148. Zweifelhaft werden damit auch die Geeignetheit und die Erforderlichkeit des verteilungspolitisch motivierten Eingriffs in das Privatrecht. Denn je höher die Folgekosten der sozialen Tat, um so vehementer wird der Arbeitgeber nach Mitteln und Wegen suchen, sie vermeiden zu können149. Szenarien, nach denen der Anzeigenmarkt für Stellenangebote weitgehend zusammenbrechen und durch ein anonymes Headhunter-System ersetzt werden wird, um diskriminierungsanfällige Auswahl- und Bewerbungssituationen von vornherein zu vermeiden150, sind sicherlich übertrieben. Insoweit kaum überzeugend jüngst wieder BVerfGE 109, 64 (87 f.). S. hierzu nur Picker (N 37), S. 543; ders. (N 8), S. 73. 150 So etwa Kusch (N 111), S. 48; vgl. ferner Klaus Adomeit, Diskriminierung – Inflation eines Begriffs, in: NJW 2002, S. 1622 (1623), der treffend auf die aus solchen Ausweichstrategien resultierenden ökonomischen Gefahren hinweist. Wird man durch rechtliche Rahmenbedingungen dazu 148 149
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Sie zeigen gleichwohl, daß die Wirkung privatrechtlicher Diskriminierungsverbote in der Praxis weitgehend verpufft und somit auch deren Geeignetheit in Frage stellen muß, solange der Staat selbst erhebliche Anreize für die Ungleichbehandlung setzt. Diesen Sachzusammenhang hat auch das BVerfG in seiner jüngsten Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit des Arbeitgeberzuschusses zum Mutterschaftsgeld gem. § 14 Abs. 1 MuSchG klar erkannt151. Denn das Urteil der Verfassungswidrigkeit wurde ja maßgeblich auf die diskriminierenden Folgewirkungen der Arbeitgeberbelastung gestützt, ohne daß das Gericht dabei auch nur in Erwägung gezogen hätte, das bestehende privatrechtliche Diskriminierungsverbot als hinreichend wirksames Gegenmittel ins Feld zu führen. „Geeignetheit“ hat es diesen Verboten vielmehr nur im Hinblick auf die hier als „strukturell“ bezeichneten Marktnachteile (insbes. höheres Ausfallrisiko) attestiert152. Demgegenüber sollen die durch finanzielle Belastungen der Arbeitgeber vom Gesetzgeber selbst gesetzten Diskriminierungsanlässe stets durch ein entsprechendes Modell der Lastenverteilung aufgefangen werden153. In jedem Fall aber mangelt es privatrechtlichen Diskriminierungsverboten damit an der Erforderlichkeit, soweit die Marktnachteile für Frauen (und auch für Behinderte) mittels Abbaus der vom Gesetzgeber selbst geschaffenen prohibitiv wirkenden Sonderlasten abzumildern wären. Selbst wenn dies alles geschieht, bleibt die staatliche Gemeinschaft allerdings noch immer in der Pflicht. Denn gering halten läßt sich der systemwidrige Eingriff in das Privatrecht gedrängt, vollständige Marktsondierungen durch offene Ausschreibungen zu unterlassen und dadurch die Bestenauswahl von vornherein extrem zu begrenzen, muß das zwangsläufig Folgen für die Qualität der nachgefragten Arbeit und im weiteren dann auch für die Wettbewerbsfähigkeit haben. 151 S. BVerfGE 109, 64 ff.; s. ferner den deutlichen Hinweis auf den Abbau staatlich geschaffener Diskriminierungsanreize als milderes Mittel gegenüber privatrechtlichen Diskriminierungsverboten jetzt auch bei Dammann (N 11), S. 104. 152 S. BVerfGE 109, 64 (90, 95). 153 S. BVerfGE 109, 64 (90 ff., 95). 11*
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nicht nur durch den Abbau kontraproduktiver Sonderlasten. Hinzu kommen müssen im Rahmen des Möglichen auch positive Maßnahmen zum Abbau struktureller Marktnachteile. Es sind Anreize dafür zu schaffen, daß die Gesellschaft von sich aus die für die Annäherung der Teilhabechancen auf dem Arbeitsmarkt notwendigen Wandlungen vollzieht. Das gerade eingeführte zusätzliche Elterngeld bei einer Inanspruchnahme von Elternzeit154 durch beide Elternteile setzt deshalb durchaus richtig an. Es packt das Übel gleichsam an der Wurzel. Denn es zielt darauf, das Risiko erziehungsbedingter Ausfälle eines Arbeitnehmers als Hauptgrund der Geschlechterdiskriminierung seiner spezifischen Beziehung zu einem Geschlecht zu berauben. Und es trägt so dazu bei, den in privatrechtlichen Diskriminierungsverboten liegenden systemwidrigen rechtlichen Zwang zunehmend überflüssig zu machen. III. Sozial- und moralpädagogisch motivierte Diskriminierungsverbote 1. Die Unvereinbarkeit sozial- und moralpädagogisch motivierter Diskriminierungsverbote mit den Grundlagen einer freiheitlichen Ordnung Auf die Frage, ob in einer als Privatrechtsgesellschaft verfaßten freiheitlichen Ordnung Diskriminierungsverbote zulässig sein können, die in erster Linie eine neue Sozialmoral schaffen und damit die Bevölkerung gleichsam zum Guten hin umerziehen wollen, fällt die Antwort ohne jede Differenzierung eindeutig aus: Derart motivierte Diskriminierungsverbote sind ausnahmslos unzulässig. Sie zielen unmittelbar auf den Kern jeder freiheitlichen Verfassung. Es geht ihnen um die Auflösung des Privaten als solchen: Der Einzelne soll auch in seinen eigenen Angelegenheiten stets der obrigkeitlich vorgegebenen Moral entsprechend handeln. Es bemächtigt sich hier154
S. hierzu § 4 Abs. 2 und 3 BEEG.
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nach der Staat über den Kopf der Akteure deren privater Sphäre. Er verleibt sie sich ein und läßt sie vom unabhängigen Gegenüber zum bloßen Repräsentanten seiner selbst mutieren. Der grundlegende freiheitssichernde Antagonismus zwischen Staat und Gesellschaft155 wird aufgelöst156. Was bisher privat war, ist fortan „politisch“157. Das freiheitliche Prinzip der Selbstbestimmung weicht in sämtlichen Lebensbereichen dem demokratischen Prinzip der bloßen Mitbestimmung. Wo die aktuellen Antidiskriminierungsprogramme vornehmlich sozialpädagogische Ziele verfolgen, ist ihnen deshalb auch völlig zu Recht eine mit den Grundfesten freiheitlicher Ordnungen unvereinbare jakobinische Attitüde und ein totalitäres Staatsverständnis attestiert worden158.
2. Das Fehlen besonderer Rechtfertigungsmöglichkeiten Nur zu erinnern ist in diesem Zusammenhang daran, daß sich die bezweckte Umerziehung auch nicht als Instrument an sich legitimer verteilungspolitischer Ziele rechtfertigen läßt. Für den Abbau von Vorurteilen, die einer gerechteren Güterdistribution möglicherweise im Wege stehen, ist selbst ein nur mittelbar bewirkter Zwang zum Vertrag kein geeignetes, sondern vielmehr ein kontraproduktives Mittel159. Deshalb verzichtet der Staat klugerweise selbst im Strafrecht, wo Erziehung durch zwangsweise Zusammenführung noch am nächsten läge, auf einen solchen extremen Paternalismus160. 155 S. hierzu nur Böckenförde (N 129), S. 31 ff.; sowie mit speziellen Bezügen zum Privatrecht auch Bydlinski (N 8), S. 342 ff. 156 Klar und mit Wohlwollen gesehen von Nickel (N 25), S. 50. 157 S. zur Wiederkehr bekannter Wiethölter’scher Lehren in solchen Programmen nur Pfeiffer (N 24), S. 165; Picker (N 8), S. 47 f. Fn. 81; vgl. auch Reichold (N 29), S. 390; s. zu diesen Lehren selbst auch schon Lobinger (N 3), S. 102 ff. 158 S. nur die Nachw. o. N 40. 159 S. hierzu o., u. II. 2. c) bb), S. 156 f. 160 S. auch hierzu bereits o., u. II. 2. c) bb), S. 156 f.
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Damit ist es der staatlichen Gemeinschaft in einer freiheitlichen Ordnung nicht etwa überhaupt verwehrt, auch außerhalb der Bereiche rechtsverletzenden Verhaltens erzieherisch zu wirken und auf die gesellschaftlichen Realitäten Einfluß zu nehmen. Begrenzt ist er nur in der Wahl seiner Mittel. Er kann über Bildungseinrichtungen, Anreizsysteme, Pilotprojekte, Appelle u. ä. tätig werden, um auf diese Weise zu erreichen, daß die für moralisch richtig und politisch korrekt gehaltene Entscheidung von den Bürgern schließlich in Freiheit getroffen wird. Nicht kann er dagegen kurzerhand diese Freiheit selbst beseitigen, nur weil sie nicht im Sinne seiner Politik ausgeübt wird. 3. Die Ungeeignetheit und Willkürlichkeit speziell der aktuellen „Erziehungsprogramme“ Speziell für die aktuell zur Debatte stehenden Regelungen und Regelungsvorschläge kommt unter dem Erziehungsaspekt schließlich noch hinzu: Selbst wenn man sozial- und moralpädagogisch motivierten zivilrechtlichen Verhaltensgeboten offener begegnen wollte, wäre das mit den z. Zt. vorliegenden Regelungen verfolgte Erziehungsprogramm in hohem Maße lückenhaft. Denn es würde die größten und für den moralischen Gesamtzustand der Gesellschaft zweifellos bedeutendsten weißen Flecken „richtiger“ innerer Einstellung gänzlich unberührt lassen. Es erwiese sich damit aber bereits nach seiner eigenen Zielsetzung als weitgehend ungeeignet und willkürlich. So ist bereits darauf hingewiesen worden, daß weder die Richtlinien noch das deutsche AGG auf die Moral der Verbraucher und der Arbeitnehmer nennenswerten Einfluß zu nehmen versuchen. Sie richten sich allein an Arbeitgeber und Anbieter auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten, in der Regel also an Unternehmer161. Damit aber kann just in der Tiefe der Gesellschaft der „falsche“ moralische Geist weiter161
S. hierzu auch schon o., u. I. 3. b), S. 145 ff.
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hin ungestört wehen! Hier, wo erfahrungsgemäß die schlimmsten und hartnäckigsten Vorurteile und Ressentiments verwurzelt sind, sieht man offenbar keinerlei Handlungsbedarf. Daß man auf diese Weise aber gerade auch nach der eigenen Zielsetzung am Kern des Problems weitgehend vorbeireguliert, ist nicht zu übersehen. Denn die verpönten Selektionen auf Arbeitgeber- und Anbieterseite haben ihre eigentliche Ursache ja vielfach nicht in eigenen Ressentiments und Vorurteilen, sondern stellen in erster Linie eine opportunistische Marktreaktion auf entsprechende Haltungen bei Kunden, Kollegen oder auch Nachbarn dar: Man „diskriminiert“, nicht weil man selbst etwas gegen die Betroffenen hätte, sondern weil man sich Ärger, Kundenverluste oder auch Kündigungen ersparen will162. Erziehungsprogramme, die sich weitgehend darin erschöpfen, konfliktscheue Schwächlinge zu sozialen Helden umzuerziehen, ohne zugleich die Horden derer ins Visier zu nehmen, die das soziale Heldentum vielfach überhaupt erst erforderlich machen, sind jedoch weder sinnvoll noch gerecht. Ihr Erfolg steht in den Sternen. Und sie belasten wiederum rein selektiv eine Gruppe, die für die Verbreitung der „richtigen“ Moral in der Gesellschaft nicht mehr oder weniger verantwortlich ist als jede andere Gruppe auch.
C. Konsequenzen I. Die Notwendigkeit einer umfassenden rechtlichen Überprüfung der Richtlinien 1. Bei dem zuletzt „erfolgreichen“ Anlauf zur Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien hätte man, das dürfte bereits deutlich geworden sein, klugerweise nicht wieder auf den alten ADG-Entwurf zurückgreifen sollen163. S. nur auch Picker (N 8), S. 75 f.; Dammann (N 11), S. 105 f., 260 ff. Selbst hinter der Gesetzesinitiative von Bündnis 90 / Die Grünen (s. BT-Drucks. 16 / 297) dürften sich v. a. taktische Überlegungen verborgen haben. 162 163
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Auch ein bloßes Abspecken dieses Entwurfs etwa bei den überschießend geregelten Diskriminierungsmerkmalen hätte kaum genügen können. Erforderlich gewesen wäre vielmehr eine grundlegende rechtliche Überprüfung der Richtlinien am Maßstab höherrangigen Rechts. Dabei hätte man zunächst noch einmal genauer examinieren müssen, ob sich die Richtlinieninhalte, soweit sie das allgemeine Zivilrecht betreffen, überhaupt noch im Rahmen der Ermächtigungsnorm des Art. 13 EGV bewegen. Denn die Vorschrift schafft eine Grundlage für Antidiskriminierungsmaßnahmen allein „im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten“. Ob die hierdurch gesteckten Grenzen durchgehend eingehalten sind, wird jedoch zu Recht vielfach bezweifelt164. 2. Angesichts des Gefährdungspotentials des AGG für wesentliche deutsche Grundrechtsgarantien ist, soweit es um die materielle Überprüfung seiner Inhalte geht, auf der Basis von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG und der sog. Solange-Rechtsprechung des BVerfG165 auch heute noch an eine Überprüfung am Maßstab des deutschen Verfassungsrechts zu denken166. Allerdings könnte dies immer nur der zweite Schritt sein. Denn eine solche Überprüfung ist bekanntlich erst dann gefordert und auch eröffnet, wenn das europäische Recht einen im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz nicht gewährleistet167. Maßgebliche Bedeutung muß deshalb der Frage zukommen, ob die Richtlinieninhalte dem Maßstab des materiellen euro164 S. etwa Möllers (N 29), S. 192 f.; Riesenhuber / Franck (N 19), S. 530; Wernsmann (N 19), S. 229 f.; Kusch (N 111), S. 47; vgl. auch Waldhoff (N 29), S. 982 f.; a. A. aber etwa Eberhard Eichenhofer, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, in: DVBl. 2004, S. 1078 (1080). Zu sehen gilt es, daß die Kombination aus Einstimmigkeitserfordernis und sachlicher Begrenzung in Art. 13 Abs. 1 EGV richtigerweise auch eine Sperrwirkung für die Auffangermächtigung des Art. 308 EGV entfalten muß. 165 S. BVerfGE 37, 271; 73, 339; 102, 147. 166 S. hierfür nur etwa Picker (N 8), S. 102, 105. 167 BVerfGE 73, 339 (387); s. ferner nur Schöbener / Stork (N 5), S. 48; Wernsmann (N 19), S. 225.
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päischen Primärrechts, zu dem auch die bislang weitgehend richterrechtlich zur Geltung gebrachten europäischen Grundrechte zählen, Stand halten können. 3. Geht man diese Frage an, sollte man sich allerdings nicht etwa nur devot an bisherigen praktischen Erfahrungen mit dem EuGH orientieren und so gleichsam auf einen reinen Rechtsprechungspositivismus verfallen168. Der EuGH ist – nicht grundsätzlich anders als jedes deutsche Gericht – Organ der Rechtserkenntnis und nicht der Rechtsetzung. Zudem bestehen angesichts eines immer weitergehend auch die Grundprinzipien jeder Rechtsordnung berührenden Sekundärrechts durchaus neue Herausforderungen bei der Anwendung und Überprüfung von Richtlinien mit privatrechtlichen Inhalten. Diese lassen sich immer weniger isoliert und ohne scharfen Blick auf ihr Verhältnis zu fundamentalen Systemprinzipien betrachten. Vielmehr erfordern sie gerade wegen ihrer Bedeutung für diese Prinzipien zunehmend auch eine vertiefte vorgeschaltete Vergewisserung über die grundlegenden und strukturbildenden Rechtssätze und Prinzipien des europäischen Rechts, um eben hieran schließlich auch die Richtlinieninhalte messen zu können169.
168 Dafür, daß vom EuGH in den angesprochenen Grundsatzfragen jedenfalls nach momentanem Stand wenig Sensibilität zu erwarten ist, zeugt die Entscheidung zur Gemeinschaftsrechtswidrigkeit von § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG (EuGH, Urt. v. 22. November 2005 – Rs. C-144 / 04 [= NJW 2005, S. 3695 = NZA 2005, S. 1345 = BB 2005, S. 2748], s. hierzu auch schon o., u. A. III. 1. c) cc), S. 135 f.). 169 Vgl. hierzu etwa Müller-Graff (N 5), S. 23; Tobias Tröger, Zum Systemdenken im Europäischen Schuldvertragsrecht – Probleme der Rechtsangleichung durch Richtlinien am Beispiel der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie, in: ZEuP 2003, S. 525 (539 f.); Thomas Lobinger, Die Grenzen rechtsgeschäftlicher Leistungspflichten, 2004, S. 359 f. Fn. 363; Picker (N 8), S. 106 f.
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II. Die primärrechtliche Relevanz der aufgezeigten Systembedingungen für eine zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetzgebung Hält man sich an das zuvor Gesagte, sind die maßgeblichen Systemvorgaben des europäischen Rechts für eine Überprüfung der Richtlinieninhalte bereits benannt. Denn mit dem grundlegenden primärrechtlichen Bekenntnis zum Prinzip der Freiheit in Art. 6 Abs. 1 EUV und den oben näher belegten grundrechtlichen Garantien der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit170 haben sich Union und Gemeinschaft im Sinne einer freiheitlichen Privatrechtsgesellschaft verfaßt, zu deren Strukturmerkmalen es nicht nur vor dem Hintergrund der langen und wirkungsvollen vertragstheoretischen Tradition in der europäischen Staats- und Verfassungslehre, sondern vor allem auch im ganz konkreten Interesse einer konsistenten, die gewollte Freiheit wirksam sichernden Ordnung geradezu gehören muß, die Rechtsprinzipien der Freiheit und der Gleichheit verschiedenen rechtlichen Subsystemen zuzuordnen171. Folglich ist auch „in Europa“ das Privatrecht als der geborene Ort der Freiheit und das öffentliche Recht als der geborene Ort der Gleichheit zu betrachten, mag diese Einsicht das rechtliche und gesetzgeberische Alltagsdenken heute auch noch kaum in dem von den normativen Rahmenbedingungen geforderten Maß bestimmen172. Dieser Grundeinsicht stehen S. o., u. A. I. 3., S. 110 ff. Vgl. hierzu o., u. B. II. 1., S. 151 ff. 172 Beispielhaft für diesen Mangel steht insbes. die weitgehende Anerkennung einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten wie auch von Art. 141 EGV durch den EuGH (s. zu ersterem zuletzt nur EuGH, Urt. v. 6. 6. 2000 – Rs. C-281 / 98, Slg. 2000, I-4139 – Agonese; krit. insoweit etwa Wulf-Henning Roth, Drittwirkung der Grundfreiheiten?, in: Festschrift für Ulrich Everling, Bd. 2, 1995, S. 1231 [1233 ff.]; Claus Weber, Anmerkung zu Agonese, in: RdA 2001, S. 183 ff.; Streinz / Leible, EuZW 2000, S. 459 ff.; auch Katja Langenbucher, in: dies. [Hg.], Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2005, § 1 Rn. 37 ff.; zu letzterem s. nur EuGH, Urt. v. 8. 4. 1976 – Rs. 43 / 75, Slg. 1976, 455 [476] – Defrenne II; krit. insoweit Rolf Birk, in: Reinhard Richardi / Otfried Wlotzke [Hg.], Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 1, 22000, § 19 Rn. 312); 170 171
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in unserem speziellen Zusammenhang auch nicht etwa die primärrechtlichen Antidiskriminierungsregelungen entgegen, wie sie sich insbesondere in Art. 13 EGV und Art. 6 EUV i. V. m. Art. 14 EMRK sowie als Spiegel anerkannten Grundrechtsschutzes auch in Art. 21 der EU-Grundrechtscharta finden. Denn alle diese Regelungen sind von ihrer Wortlautfassung her offen für ein allein die öffentliche Gewalt bindendes Verständnis173. Und sie verlören durch eine solche, die Konsistenz der Gesamtordnung sichernde Lesart auch nicht ihren Sinn174. Die oben näher skizzierten Systembedingungen für eine zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetzgebung175 lassen sich mithin gerade auch als europäische Systembedingungen begreifen.
dazu, daß der EuGH in seiner Entscheidung zur Gemeinschaftsrechtswidrigkeit von § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG (EuGH, Urt. v. 22. November 2005 – Rs. C-144 / 04 – Mangold [= NJW 2005, S. 3695 = NZA 2005, S. 1345 = BB 2005, S. 2748]; vgl. hierzu auch schon o., u. A. III. 1. c) cc), S. 135 f.) nunmehr sogar eine unmittelbare Drittwirkung des primärrechtlichen Gleichheitssatzes praktiziert hat, s. mit berechtigter Kritik nur Bauer / Arnold (N 57), S. 10; s. ferner als Beleg für den genannten Mangel die Begründung des Kommissionsentwurfs zur heutigen Gleichbehandlungsrichtlinie 2004 / 113 / EG, KOM (2003) 657 endg., S. 9, nach der die privaten Versicherer ohne weiteres an die Grundrechte der Versicherten gebunden sein sollen (dazu auch bereits o., u. A. II. 3. c) bb), S. 122 ff.). Ohne jede krit. Überprüfung oder auch nur Reflexion meint Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit (N 24), S. 336, aus solchen Erkenntnissen die fehlende Unterscheidung zwischen öffentlichem und Privatrecht mit der weiteren Folge einer Bindung der Vertragsfreiheit an objektive Prinzipien sogar als „Prinzip des EG-Rechts“ ableiten zu können. Dazu, daß das alles andere als zwingend ist, s. außer den hier genannten krit. Stimmen nur auch noch die Nachw. o. N 29. 173 S. hierzu auch bereits die Nachw. o. in N 29. 174 Vgl. auch bereits o., u. A. II. 2. b), S. 113 ff., bes. 118. 175 S. o., u. B., S. 141 ff.
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III. Die wichtigsten Folgerungen im einzelnen 1. Die alleinige Maßgeblichkeit der integritätsschutzrechtlichen Programmatik als Ausgangspunkt Was aus all dem für die konkrete juristische Arbeit folgt, kann hier nurmehr im Sinne grober Leitlinien skizziert werden. Dabei besteht die wichtigste und für jede Detailarbeit maßgebliche Einsicht darin, daß das neue Gesetz und auch die Richtlinien im Rahmen des methodisch Möglichen soweit zurückgeschnitten werden müssen, wie sie mit einer integritätsschutzrechtlichen, auf die Sicherung des Persönlichkeitsrechts zielenden Programmatik noch vereinbar sind. Überschießende Lesarten, die zu verteilungspolitisch oder auch sozial- und moralpädagogisch motivierten Eingriffen in das Zivilrecht führen würden, sind strikt zu vermeiden. Dabei darf unter dem verteilungspolitischen Gesichtspunkt allerdings eine Ausnahme für die Geschlechter- und die Behindertendiskriminierung im Arbeitsrecht gemacht werden. Die sachlichen Regelungen der früheren §§ 611a, 612 Abs. 3 BGB sowie auch des § 81a Abs. 2 SGB IX stehen folglich bei entsprechender öffentlichrechtlicher Flankierung176 jedenfalls für eine weitere Übergangszeit nicht in Frage. § 81a Abs. 2 SGB IX wird man in seinem Anwendungsbereich wohl sogar noch auf sämtliche Behinderungen im europarechtlichen Sinn ausdehnen müssen177. 2. Die Konsequenzen für die Lesart der Diskriminierungsverbote Für die konkrete Einbettung der neuen Regelungen in den als solchen längst bestehenden zivilrechtlichen Schutz des PerS. hierzu o., u. B. II. 3. c), S. 161 ff. Vgl. hierzu nur auch ArbG Berlin, NZA-RR 2005, S. 608 (610); Wendeling-Schröder (N 25), S. 275 f.; Schiek, Gleichbehandlungsrichtlinien (N 24), S. 881; Hahn / Heinrich / Reichold (N 109), S. 1275 Fn. 45; s. zum europarechtlichen Behinderungsbegriff jüngst EuGH, Urt. v. 11. Juli 2006, Rs. C-13 / 05, Rn. 43 ff. 176 177
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sönlichkeitsrechts läßt sich damit an dieser Stelle immerhin so viel vorgeben: Angesichts der evident lückenhaften Auswahl potentiell diskriminierender Unterscheidungsmerkmale178 wie auch relevanter Diskriminierungshandlungen179 hätte man die Umsetzung der Richtlinieninhalte an sich nur im Rahmen einer Generalklausel vornehmen dürfen. Die Offenheit der Problematik verbietet eine geschlossene Regelung. Die neuen Normen sind deshalb allenfalls als Regelbeispiele zur Veranschaulichung unerlaubter Persönlichkeitsrechtsverletzungen innerhalb des allgemeinen deliktsrechtlichen Schutzes zu verstehen180. Berücksichtigt man dabei immer auch schon die Beweislastregelung, wie sie sich durchgehend im Gesetz und in den Richtlinien findet, ist bei der konkreten Auslegungsarbeit allerdings strikt darauf zu achten, daß in den umschriebenen Fällen bereits nach allgemeinen beweisrechtlichen Grundsätzen mindestens prima facie von einer unerlaubten Herabwürdigung des Betroffenen auszugehen sein müßte. Im Arbeitsrecht wird es deshalb zu den Hauptaufgaben gehören, für die neu hinzugetretenen Diskriminierungsverbote (Rasse, ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Alter, sexuelle Orientierung) eine gegenüber den klassischen Beschränkungen (Geschlecht, Behinderung) durchaus eigenständige Dogmatik zu entwickeln, die den unterschiedlichen legitimatorischen Grundlagen und Grenzen beider Arten von Diskriminierungsverboten181 gerecht wird und diese auch in der konkreten Rechtsanwendung sichtbar macht. Zu den wichtigsten „Baustellen“ im allgemeinen Zivilrecht werden daneben zweifellos die Regelungen über die Wohnraummiete gehören. Hier gilt es Wege zu finden, um auch jenseits der weitgehend willkürlichen Grenze von 50 Vermietungen (§ 19 Abs. 5 AGG) S. hierzu o., u. B. I. 3. a), S. 143 ff. S. hierzu o., u. B. I. 3. b), S. 145 ff. 180 In diese Richtung auch v. Koppenfels (N 37), S. 1495 f.; vgl. ferner Picker (N 37), S. 544 f.; ders. (N 8), S. 40, 57 ff.; Säcker (N 32) S. 17. 181 S. hierzu o., u. B. II. 3., S. 159 ff. 178 179
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und unabhängig von der maßgeblich öffentlichrechtlich inspirierten Ausnahme des § 19 Abs. 3 AGG182 die Beweislastregelung des § 22 AGG auf Fallgruppen beschränken zu können, in denen schon nach allgemeinen beweisrechtlichen Regeln mindestens der Anscheinsbeweis für eine Persönlichkeitsrechtsverletzung bestünde. Eine weitere Aufgabe für Wissenschaft und Praxis wird schließlich darin bestehen, auch den Begriff der mittelbaren Diskriminierung so auszufüllen, daß er sich in die Teleologie rein integritätsschützender Diskriminierungsverbote einpaßt. 3. Die Konsequenzen für die Sanktionsregelungen Was die Sanktionen betrifft, sind die Regelungen des AGG im Grundsatz nicht zu beanstanden183. Denn zu einer Einbettung der Richtlinienvorgaben in den allgemeinen persönlichkeitsrechtlichen Integritätsschutz paßt allein der Rückgriff auf das allgemeine zivilrechtliche Sanktionensystem. Dabei sollte man sich auch von den Vorgaben des EuGH betreffend das schadensersatzrechtliche Verschuldensprinzip bei der Geschlechterdiskriminierung im Arbeitsrecht184 nicht schrecken lassen. Denn wie erkannt, steht hinter dieser bereits seit langem geltenden Regelung eine spezielle verteilungspolitische Zielsetzung, die angesichts der für Frauen auf dem Arbeitsmarkt bestehenden strukturellen Nachteile ausnahmsweise auch mit zivilrechtlichen Mitteln verfolgt werden darf185. Mit S. hierzu o., u. B. I. 3. c) cc), S. 149 mit N 124. S. o., u. A. III. 2. b), c), S. 137 ff. Dazu, daß auch ein schadensersatzrechtlich begründeter Kontrahierungszwang, wie er trotz der Streichung von § 19 Abs. 2 ADG-E noch immer denkbar ist, vielfach kein geeignetes Mittel zur Restitution der in der Verweigerung eines Vertragsschlusses liegenden Persönlichkeitsrechtsverletzung wäre, s. nur etwa Bydlinski (N 37), S. 45 Fn. 69; Picker (N 8), S. 63; Armbrüster (N 109), S. 43; vgl. auch Canaris (N 29), S. 243; Franzen (N 31), S. 67. 184 S. EuGH, Urt. v. 22. April 1997 – Rs. C-180 / 95, Slg. 1997, S. I2195 ff. – Draehmpaehl. 185 S. hierzu o., u. B. II. 3., S. 159 ff. 182 183
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dieser Ratio aber läßt sich auch eine extraordinäre verschuldensunabhängige Haftung durchaus noch versöhnen, weil ihr ja allein eine Orientierung am bezweckten Erfolg und nicht an der Qualität der Handlung entspricht186. Dieser besondere Grund für eine Suspendierung des für das deutsche Haftungsrecht so grundlegenden Verschuldensprinzips entfällt jedoch, soweit es von vornherein nicht um verteilungspolitische Zielsetzungen, sondern ausschließlich um die Sanktion unerlaubter Handlungen gehen darf. Daß sich hiervon auch der EuGH überzeugen lassen und ggf. Korrekturen allein für die Geschlechter- und Behindertendiskriminierung fordern könnte, sollte man nicht von vornherein ausschließen. Denn es ist kaum anzunehmen, daß die Richter, um nur ein Beispiel zu nennen, selbst den Gastwirt noch wegen einer unerlaubten Diskriminierung verurteilt sehen wollten, der seit langem zahlreiche türkische Gäste zu seiner Stammkundschaft zählt, und dem gerade deswegen ausländerfeindliche Gesellen eines Abends ganz unbemerkt ein Schild mit der Aufschrift „Kein Zutritt für Türken!“ an die Eingangstür hängen, so daß sich der Wirt an diesem Abend über das Ausbleiben der Kundschaft und am nächsten Morgen über deren Klagen wundert. D. Schlußbetrachtung Daß die jüngsten Diskussionen um zivilrechtliche Antidiskriminierungsprogramme nicht auf Juristenkreise beschränkt 186 Vgl. auch Picker (N 8), S. 74, und s. ferner die übereinstimmenden Folgerungen aus dem verteilungspolitischen Charakter der genannten Regelungen bei Neuner (N 19), S. 64. Den extraordinären Charakter des früheren § 611 a BGB als Grund für dessen ebenso extraordinäre Ausgestaltung sieht auch Gerhard Wagner, Diskussionsbeitrag (N 8), S. 161. Nicht zu folgen ist ihm aus den im Text genannten Gründen allerdings in seiner Empfehlung, das Regelungsmodell der Vorschrift auch auf das allgemeine Antidiskriminierungsrecht zu erstrecken (so früh auch schon Mager [N 29], S. 173; s. dagegen die berechtigte Warnung vor einer solchen Erstreckung etwa bei Rolf Wank, Diskriminierung in Europa – Die Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien aus deutscher Sicht, in: NZA 2004, Sonderbeilage zu Heft 22, S. 16 [25 f.]).
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blieben, sondern ihren Weg bis in die Tagesschau und das heute-journal hinein fanden, ist wenig verwunderlich. Da diese Programme z. T. aus rein verteilungspolitischen und volkspädagogischen Gründen tief in private Bereiche vordringen, wurde auch der einfache Bürger aufgeschreckt. Ihm wurden die Freiheitsverluste, die mit der Politisierung und Verstaatlichung herkömmlich „eigener“ Angelegenheiten verbunden sind, unmittelbar vor Augen geführt. Die Vorstellung, beim privaten Verkauf des gebrauchten Wagens oder auch der Vermietung einer mühsam als Altersvorsorge erworbenen Wohnung den Vertragspartner nicht mehr nach eigenen Vorstellungen auswählen zu können, mußte ebenso verstören wie umgekehrt die Perspektive, etwa als mehrköpfige Familie bei der Wohnungssuche in den ohnehin zumeist schon wenig berauschenden Chancen zusätzlich noch dadurch beeinträchtigt zu werden, daß selbst sozial aufgeschlossene Vermieter in der Definition dessen, was sozial ist, nicht mehr frei, sondern gleichsam an einen Kriterienkatalog gebunden sein sollen, der Familienförderung nicht vorsieht187. Indes sind die zivilrechtlichen Antidiskriminierungsprogramme mit ihrer freiheitsbeschneidenden Zielrichtung nur die Spitze eines Eisbergs. Sie sind der am deutlichsten sichtbare Auswuchs einer umfassenderen, nicht nur die Gesetzgebung, sondern seit langem auch schon Praxis und Doktrin erfassenden „Veröffentlichrechtlichung des Privatrechts“188. Eher noch unscheinbar vollzieht sich dieser Vorgang auch jenseits programmatischer Ausführungen189, wenn man das Vgl. hierzu auch Braun, JuS 2002, S. 424; Reichold (N 29), S. 389. S. auch Picker (N 8), S. 19 f.; Reichold (N 29), S. 389. 189 S. hierfür beispielhaft Rudolf Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, S. 179 ff.; Ludwig Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, 1971, S. 27 ff.; Franz Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, in: ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974, S. 18 ff.; ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 21967, S. 621 ff.; auch Konrad Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 33 f.; vgl. aus jüngerer Zeit auch Eichenhofer (N 142), S. 860 ff. 187 188
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Privatrecht nicht mehr primär als eine Ordnung subjektiver Rechte, sondern als eine Ordnung der Verhaltenssteuerung begreift190. Deutlicher schon tritt diese Entwicklung dagegen in Erscheinung, wenn Verträge nicht mehr deshalb Geltung erlangen sollen, weil sie gewollt sind, sondern weil die Rechtsordnung mit ihnen „vernünftige“ und „angemessene“ Regelungen wirksam werden lassen will191. Vollends sichtbar wird die zunehmende Adaption öffentlichrechtlicher Kategorien im privatrechtlichen Denken schließlich dort, wo man mit einer dominierenden Dogmatik sowie auch jüngsten, von ihr ersonnenen Schuldrechtsnovellierungen die Grenzen vertraglicher Leistungspflichten nicht mehr primär anhand des Parteiwillens, sondern anhand von Verhältnismäßigkeitsprüfungen, Zumutbarkeitserwägungen und Interessenabwägungen vornehmen will und dabei auch ohne weitere Bedenken bereit ist, privatautonom getroffene Regelungen im Rahmen von Anpassungslösungen durch richterlicherseits für angemessen befundene Regelungen zu ersetzen192. Die Freiheitsverluste, 190 Grundlegend die sog. Imperativentheorie, s. August Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, Neudruck der Ausgabe 1878, 1964, S. 108 ff., 131 ff.; zu den verheerenden Folgen für die rechtsgeschäftliche Privatautonomie s. S. 358 ff.; s. für unsere Zeit nur Wolfgang Münzberg, Verhalten und Erfolg als Grundlagen der Rechtswidrigkeit und Haftung, 1966, S. 47 ff.; zu den Konsequenzen unter dem Gesichtspunkt der „Veröffentlichrechtlichung“ privatrechtlichen Denkens s. Münzberg, a. a. O., S. 141 ff., bes. S. 266 ff. 191 S. heute etwa Hans-Martin Pawlowski, Rechtsgeschäftliche Folgen nichtiger Willenserklärungen, 1966, S. 232 ff.; sowie jüngst auch wieder Gregor Thüsing, Angemessenheit durch Konsens – zu den Grenzen der Richtigkeitsgewähr arbeitsvertraglicher Vereinbarungen, in: RdA 2005, S. 257 (258 f.); die entsprechenden Ausführungen Schmidt-Rimplers, Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, in: AcP 147 (1941), S. 130 (155 f., 157), dürften weitgehend als zeitbedingte Konzession zu lesen sein (vgl. auch Thüsing, a. a. O., S. 258 Fn. 14). Gerade dieser Umstand belegt dann aber auch in aller Deutlichkeit die Freiheitsfeindlichkeit solcher Sichtweisen! S. die Anknüpfung an entsprechende Lehren speziell zur Begründung eines weitgehenden Diskriminierungsschutzes etwa bei Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit (N 24), S. 305 ff., 349 ff.; vgl. ferner auch Eichenhofer (N 164), S. 1985 f. 192 S. hierfür nur etwa die §§ 275 Abs. 2, Abs. 3, 313 BGB und dazu ausführlich Lobinger, Grenzen (N 169), passim.
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die an all diesen jenseits der öffentlichen Wahrnehmung stehenden Stellen zu verzeichnen sind, wiegen in ihrer Summe kaum geringer als diejenigen, die uns die derzeit zur Debatte stehenden Antidiskriminierungsprogramme zu bescheren drohen. Die Freiheit des Individuums ist heute deshalb nicht nur gegenüber einem Gesetzgeber zu verteidigen, der sich anschickt, die Gesellschaft als Synonym des Privaten dem Staat einzuverleiben. Sie ist gleichermaßen gegenüber einer Wissenschaft zu verteidigen, die solchen Entwicklungen willfährig folgt oder sie mit ihren eigenen Mitteln sogar noch vorantreibt.
Thesenartige Zusammenfassung 1. Privatautonomie und Vertragsfreiheit gehören zu den Wesensmerkmalen moderner, rechtszuweisender Privatrechtsordnungen. Zum Kern der Vertragsfreiheit zählt dabei auch die freie Wahl des Vertragspartners nach selbst gesetzten Kriterien und Präferenzen193. Die vor- und außerrechtliche Basis einer solchen freiheitlichen Ordnung ist maßgeblich in ihrer Humanität, in ihrer ökonomischen Erfolgsträchtigkeit wie auch in ihrem unverzichtbaren Beitrag zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit zu erblicken194. Positivrechtlich sind Privatautonomie und Vertragsfreiheit heute nicht nur im deutschen Verfassungsrecht, sondern auch im europäischen Primärrecht abgesichert195. 2. Privatrechtliche Diskriminierungsverbote wollen Freiheit bewußt verkürzen. Sie suchen ihre verfassungs- und primärrechtliche Absicherung in allgemeinen wie auch in besonderen Gleichheitssätzen196. Diese Fundierung muß jedoch von vornherein Bedenken begegnen, weil Freiheit und Gleichheit in ein lebensfähiges Verhältnis, das zugleich die innere Kon193 194 195 196
S. hierzu o., u. A. I. 1., S. 102 ff. S. hierzu o., u. A. I. 2., S. 104 ff. S. hierzu o., u. A. I. 3., S. 110 ff. S. hierzu o., u. A. II. 2. a), S. 104 ff.
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sistenz der Rechtsordnung sichert, nur dadurch zu bringen sind, daß man Freiheit und Gleichheit unterschiedlichen rechtlichen Subsystemen zuordnet, namentlich dem Privatrecht einerseits und dem öffentlichen Recht andererseits197. 3. Hinter den aktuellen zivilrechtlichen Antidiskriminierungsprogrammen steht keine einheitliche Programmatik. Im Sinne einer Typologie lassen sich integritätsschützende, verteilungs- und integrationspolitisch motivierte sowie sozialund moralpädagogisch motivierte Diskriminierungsverbote unterscheiden198. Die Unterschiede in den Zielrichtungen beeinflussen die Zulässigkeit des Mittels bei der Implementierung rechtlicher Antidiskriminierungsmaßnahmen maßgeblich. 4. Gemessen an den allgemeinen Systembedingungen freiheitlicher Privatrechtsgesellschaften erweisen sich integritätsschützende Diskriminierungsverbote im Privatrecht als gänzlich unproblematisch199. Es werden diesem Schutzziel allerdings weder die europäischen Richtlinien noch das deutsche AGG gerecht, weil beide insoweit z. T. unter erheblichen Defiziten leiden (Diskriminierungsmerkmale, Diskriminierungshandlungen), z. T. aber auch erheblich über das Ziel hinausschießen (Beweislastregelung)200. Grundsätzlich unzulässig sind demgegenüber von vornherein verteilungs- und integrationspolitisch motivierte Diskriminierungsverbote201, wobei allerdings eng begrenzte Ausnahmen für die Geschlechterdiskriminierung und die Behindertendiskriminierung im Arbeitsrecht in Betracht kommen202. Ausnahmslos unzulässig sind sozial- und moralpädagogisch motivierte privatrechtliche Antidiskriminierungsprogramme203. 197 198 199 200 201 202 203
12*
S. hierzu o., u. A. II. 2. b), S. 105 ff.; B. II. 1., S. 141 ff. S. hierzu o., u. A. II. 3., S. 119 ff. S. hierzu o., u. B. I. 1., S. 141 ff. S. hierzu o., u. B. I. 3., S. 143 ff. S. hierzu o., u. B. II. 1., S. 151 ff. S. hierzu o., u. B. II. 3., S. 159 ff. S. hierzu o., u. B. III., S. 164 ff.
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5. Die aufgezeigten Systembedingungen für privatrechtliche Antidiskriminierungsprogramme haben auch primärrechtliche Relevanz und sind folglich bei der Anwendung des AGG und der Richtlinien zu beachten204. Das bedeutet vor allem, daß die Diskriminierungsverbote im Rahmen des methodisch Möglichen nur insoweit zu realisieren sind, wie sie sich in den allgemeinen zivilrechtlichen Schutz des Persönlichkeitsrechts einfügen lassen205. Als durch Sonderlagen legitimierte arbeitsrechtliche Ausnahme steht der weitergehende sachliche Regelungsgehalt der früheren §§ 611a, 611b, 612 Abs. 3 BGB sowie des § 81a SGB IX gleichwohl nicht in Frage, soweit der Schutz der betroffenen Gruppen durch öffentlichrechtliche Fördermaßnahmen flankiert wird und vom Gesetzgeber selbst geschaffene Diskriminierungsanreize abgebaut werden206. Im Hinblick auf die Beweislastverteilung ist i. Ü. strikt darauf zu achten, daß in den einschlägigen Fällen immer auch schon nach allgemeinen beweisrechtlichen Grundsätzen zumindest prima facie eine unerlaubte Herabwürdigung des Betroffenen vorliegen müsste207. 6. Die derzeit diskutierten Antidiskriminierungsprogramme sind nur der deutlichste Ausdruck einer umfassenden „Veröffentlichrechtlichung des Privatrechts“. Diese freiheitsbedrohende Entwicklung ist allerdings nicht auf die Gesetzgebung beschränkt. Sie hat seit langem auch schon die Dogmatik erfaßt. Die Freiheit des Individuums ist deshalb nicht nur gegenüber einem Gesetzgeber zu verteidigen, der sich anschickt, die Gesellschaft als Synonym des Privaten dem Staat gänzlich einzuverleiben. Sie ist gleichermaßen gegenüber einer Rechtswissenschaft zu verteidigen, die solchen Entwicklungen willfährig folgt oder ihnen sogar noch Vorschub leistet208.
204 205 206 207 208
S. hierzu o., u. C. II., S. 170 ff. S. hierzu o., u. C. III. 1., S. 172 ff. S. hierzu o., u. C. III. 1., S. 172 ff. S. hierzu o., u. C. III. 2., S. 174 ff. S. hierzu o., u. D., S. 175 ff.
Kirche und Diskriminierungsverbot Von Ansgar Hense, Bonn
Inhalt A. Ausgangspunkt: das europäische Antidiskriminierungsrecht . . . . . 182 B. Das arbeitsrechtliche Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 I. Die Leitlinien des kirchlichen Arbeitsrechts nach deutschem Staatskirchenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Leitbild: christliche Dienstgemeinschaft / Loyalitätsobliegenheiten, -pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Rechtliche Schranken kirchlichen Arbeitsrechts . . . . . . . . . . 193 II. Zwischenfazit: Dienstgemeinschaft und nicht nur Tendenzschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 C. Die Kirchen und das europäische arbeitsrechtliche Benachteiligungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 I. Europarechtliche Vorgaben: Primärrechtliche „Wurzelnorm“ Art. 13 EGV und das arbeitsrechtliche Diskriminierungsverbot nach der Richtlinie 2000 / 78 / EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 II. Die europarechtliche Invasion in das deutsche Kirchenarbeitsrecht – Gefährdungslagen durch die Richtlinie 2000 /78 / EG im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 III. Grund und Grenzen einer europarechtlichen Korrektur der schneidigen Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1. Die Ausnahmebestimmung des Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG und ihre Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2. Europarechtliche Absicherung der Kirchenautonomie . . . 204 a) Kollektive Religionsfreiheit – kirchliches Selbstbestimmungsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 b) Kirchenerklärung von Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
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Ansgar Hense 3. Rechtliche Bedeutung des Erwägungsgrundes Nr. 24 zur Richtlinie 2000 / 78 / EG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 IV. Auswirkungen der Differenzierungsoption nach Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Kirchenzugehörigkeit als Einstellungsvoraussetzung . . . . . 217 2. Kirchliche Berechtigung zur Festlegung von Verhaltensanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 3. Die Diskriminierung aus anderen Gründen und das kirchliche Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 a) Benachteiligung wegen der Religion und andere Diskriminierungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 b) Loyalitätsobliegenheiten und die Bestimmungen der Richtlinie 2000 / 78 / EG im übrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4. Zwischenrésumé: Europarechtlicher Mindeststandard durch Richtlinie 2000 / 78 / EG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 V. Starre Kontinuität: Vom § 9 ADG-E 2005 zum § 9 AGG . . . . 228
D. Kirche und zivilrechtliches Benachteiligungsverbot nach §§ 19, 20 AGG: eine überobligationsmäßige Richtlinienumsetzung? . . . . 232 E. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
A. Ausgangspunkt: das europäische Antidiskriminierungsrecht Die Frage danach, ob das europäische Antidiskriminierungsrecht das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als „bereichsspezifische Bastion der Privatautonomie“1 gefährdet2, wird aktuell heftig diskutiert3. Der Abbau von Benachteili1 Zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht als „Reservat der Privatautonomie“ grundlegend Josef Isensee, Kirchliche Loyalität im Rahmen des staatlichen Arbeitsrechts: Verfassungsrechtliche Aspekte des kirchlichen Arbeitsverhältnisses, in: FS Obermayer (1986), S. 203 (205). 2 Zum Gefährdungspotential siehe nur Christoph Link, Antidiskriminierung und kirchliches Arbeitsrecht, in: ZevKR 50 (2005), S. 403 (418). 3 Pars pro toto seien bei den Monographien benannt: Detlef Kehlen, Europäische Antidiskriminierung und kirchliches Selbstbestimmungs-
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gungen stand seit jeher auf der europäischen Agenda. Benachteiligungen von Mann und Frau sollen ebenso beseitigt werden wie Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit in einem zusammenwachsenden Europa. Mit der Einfügung des Art. 13 EGV durch den Amsterdamer Vertrag sind Antidiskriminierungsmaßnahmen zum europäischen Globalziel geworden. Auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments wird der Rat ermächtigt, allgemeine Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. Seit dem Jahre 2000 sind, gestützt auf Art. 13 EGV, diverse Richtlinien erlasrecht: Zur Auslegung von Art. 13 EGV und Art. 4 der Richtlinie 2000 / 78 / EG, 2003; Heidi Reichegger, Die Auswirkungen der Richtlinie 2000 / 78 / EG auf das kirchliche Arbeitsrecht unter Berücksichtigung von Gemeinschaftsgrundrechten als Auslegungsmaxime, 2005; Matthias Triebel, Das europäische Religionsrecht am Beispiel der arbeitsrechtlichen Antidiskriminierungsrichtlinie 2000 / 78 / EG, 2005. Siehe auch Peter Hanau /Gregor Thüsing, Europarecht und kirchliches Arbeitsrecht: Bestandsaufnahme und Perspektiven, 2001. Aus der Literaturgattung Aufsätze: Wolfgang Rüfner, Die Richtlinie 2000 / 78 / EG und das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland, in: FS Krause, i. E.; Christian Waldhoff, Kirchliche Selbstbestimmung und Europarecht, in: JZ 2003, S. 978; Michael Germann / Heinrich de Wall, Kirchliche Dienstgemeinschaft und Europarecht, in: GS W. Blomeyer (2004), S. 549; Christoph Link, Antidiskriminierung und kirchliches Arbeitsrecht, ebd., S. 675; Christoph Grabenwarter, Die Kirchen in der Europäischen Union – am Beispiel von Diskriminierungsverboten in Beschäftigung und Beruf, in: ders. / Norbert Lüdecke (Hrsg.), Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht, 2002, S. 60; Hans Michael Heinig, Art. 13 EGV und die korporative Religionsfreiheit nach dem Grundgesetz, in: Andreas Haratsch u. a. (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 215; Jacob Joussen, Die Folgen der europäischen Diskriminierungsverbote für das kirchliche Arbeitsrecht, in: RdA 2003, S. 32; Gregor Thüsing, Religion und Kirche in einem neuen Anti-Diskriminierungsrecht, in: JZ 2004, S. 172; Petra Budde, Kirchenaustritt als Kündigungsgrund? – Diskriminierung durch kirchliche Arbeitgeber vor dem Hintergrund der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000 / 78 / EG, in: AuR 2005, S. 353; Harald Schliemann, Europa und das deutsche kirchliche Arbeitsrecht, in: NZA 2003, S. 407; Hermann Reichold, Europa und das deutsche kirchliche Arbeitsrecht, in: NZA 2001, S. 1054. Siehe auch Thomas Schüller, Europa und seine Folgen: Das Antidiskriminierungsgesetz fordert die Kirchen heraus, in: Herder-Korrespondenz 59 (2005), S. 616.
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sen worden, die auf verschiedene Weise die Kirchen tangieren können. Es sind dies die Richtlinie 2000 / 78 / EG, neben die die Gleichbehandlungsrichtlinie 2002 / 73 / EG4 tritt, und die Richtlinie 2000 / 43 / EG zur zivilrechtlichen Gleichbehandlung ohne Unterschied von Rasse oder ethnischer Herkunft5. Nicht ohne Grund werden die Antidiskriminierungsrichtlinien als Produkt arbeits- und zivilrechtlicher „political correctness“ bezeichnet, deren Ziel eine „anständige Gesellschaft“ sei6. Gerade dieser moralische Impetus des europäischen Antidiskriminierungsrechts provoziert die kritische Nachfrage, ob europarechtlich nicht die Gewichte zwischen Freiheit und Gleichheit einseitig zugunsten der Gleichheit verschoben werden, Antidiskriminierung selbst zur Diskriminierung mutiert7, gemäß dem Motto, daß die Extreme sich berühren. Es stellt sich die Frage: Gefährdet Antidiskriminierung die Privatautonomie8? Die Anfrage richtet sich aber nicht nur an den europäischen Richtliniengeber, sondern auch an den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber, der die Richtlinien umzusetzen hat. Das europäische Antidiskriminierungsrecht ist ein Einfallstor für die Europäisierung des Staatskirchenrechts9. Diese Richtlinie änderte 2002 die ältere Richtlinie 76 / 2007 / EWG. Zu nennen ist schließlich noch die Richtlinie 2004 / 113 / EG zur Gleichbehandlung von Mann und Frau beim Zugang zu öffentlich angebotenen Gütern und Dienstleistungen des Massengeschäfts sowie privatrechtlichen Versicherungen, deren Regelungsgehalt aber kirchliche Interessen weniger berührt. 6 Näher Eberhard Eichenhofer, Umsetzung der Richtlinie gegen Diskriminierung wegen der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Alters, der Behinderung und der sexuellen Ausrichtung, in: ZESAR 2003, S. 349 (349 f., 354); ders., Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, in: DVBl. 2004, S. 1078 (1084). 7 Z. B. aus der Masse des Schrifttums Stefan Braun, Antidiskriminierung bis zur Diskriminierung, in: ZTR 2005, S. 244 (248). 8 Neben den Beiträgen von Tilman Repgen und Thomas Lobinger in diesem Band siehe die Berichte von Matthias Jestaedt und Gabriele Britz, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, in: VVDStRL 64 (2005), S. 298 ff., 355 ff. 9 Ebenso grundlegend wie umfassend dazu die Freiburger Habilitationsschrift von Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 4 5
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Es ist exemplarisch für die ebenso komplexe wie komplizierte Mehrebenenstruktur der EU, die Verflechtungsfallen aufstellt und die Gefahr der Nivellierung zeitigt10. Das deutsche Antidiskriminierungsgesetz 2005 (ADG-E 2005) ist durch die vorzeitige Bundestagsauflösung gescheitert11. Nicht zuletzt deshalb, weil der Entwurf inhaltlich und regelungstechnisch ein überzogenes Umsetzungskonzept verfolgte12. Der Entwurf wurde aber kein Relikt juristischer Zeitgeschichte. Eine modifizierte Fassung beschloß der 16. Deutsche Bundestag – im Schatten der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland – unter der gesellschaftspolitisch weniger ambitionierten Bezeichnung „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG) am 29. Juni 2006; der Bundesrat billigte sie am 7. Juli 2006. Trotz der in der Mutation des ADG zu einem AGG liegenden terminologischen Mohrenwäsche basiert das neue Gesetz doch in wesentlichen Teilen auf dem ADG-E 2005, enthält aber auch einige Modifikationen und Entschärfungen, die quasi in letzter Minute erfolgten13. Das AGG gilt weder als eines der großen politischen Reformvorhaben des 16. Deutschen Bundestages noch als ein gesetzgebungstechnisch geglücktes Werk14; es werden im Gegenteil erhebliche 2005; ders., Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, 2002. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang auch die Beiträge in: Martin Dabrowski / Judith Wolf (Hrsg.), Europa und das deutsche kirchliche Arbeitsrecht: Konfliktpunkte – Reformbedarf – Zukunftsperspektiven, 2003. 10 Zu diesem Phänomen näher Fritz W. Scharpf, Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, 1994, S. 11 ff. und passim. 11 Vgl. Steffen Klumpp, Diskontinuität und ihre Folgen für das Antidiskriminierungsrecht, in: NZA 2005, S. 848 ff. 12 Hermann Reichold u. a., Neuer Anlauf zur Umsetzung der Antidiskriminierungs-Richtlinien: Plädoyer für ein Artikelgesetz, in: NZA 2005, S. 1270 (1271, passim). 13 Kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes drang die Meldung an die Öffentlichkeit, daß die „großkoalitionären“ Verhandlungsrunden vereinbart hätten, die Kirchenklausel gegen das Klagerecht von Gewerkschaften abzutauschen. Vgl. zu diesem Gesetzgebungspoker die Meldungen in: FAZ – Nr. 144 – vom 24. Juni 2006, S. 1 und 12. 14 Zur gesellschaftspolitischen Ambivalenz siehe etwa Alexander Foitzik, Gleichbehandlung per Gesetz?, in: Herder-Korrespondenz 60 (2006),
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handwerkliche Mängel moniert. Der Bundespräsident verzögerte das Inkrafttreten des AGG noch einmal15, unterzeichnete es aber doch, so daß das AGG schließlich zum 18. August 2006 in Kraft getreten ist16. Nachfolgend soll das europarechtlich infizierte nationale Antidiskriminierungsrecht nur unter einem bereichsspezifisch sehr begrenzten Fokus betracht werden, wobei den die Kirchen betreffenden arbeitsrechtlichen Fragen ein besonderes Augenmerk dienen soll.
B. Das arbeitsrechtliche Diskriminierungsverbot I. Die Leitlinien des kirchlichen Arbeitsrechts nach deutschem Staatskirchenrecht 1. Leitbild: christliche Dienstgemeinschaft / Loyalitätsobliegenheiten, -pflichten Den kirchlichen Dienst- und Arbeitsverhältnissen kommt im deutschen Arbeitsrecht eine besondere Stellung zu17, die durch maßgebliche Entscheidungen des BundesverfassungsS. 379 ff. Aus der Tagespresse siehe etwa Eduard Picker, Eingriff in die Privatautonomie, in: FAZ – Nr. 147 – vom 28. Juni 2006, S. 12; Klaus Adomeit, Auf Biegen oder Brechen, in: FAZ – Nr. 151 – vom 3. Juli 2006, S. 10. 15 Vgl. dazu den Bericht „Gleichbehandlungsgesetz überraschend verzögert“, in: FAZ – Nr. 176 – vom 1. August 2006, S. 11; siehe auch den kurzen Artikel von Reinhard Müller, Was prüft der Präsident?, in: FAZ – Nr. 177 – vom 2. August 2006, S. 4. 16 BGBl. I 2006, S. 1897 ff. 17 Umfassend dazu Reinhard Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche: Staatliches Arbeitsrecht und kirchliches Dienstrecht, 42003; Heinrich Gehring / Christoph Thiele, § 630 Anhang: Kirchenarbeitsrecht, in: Harald Schliemann (Hrsg.), Das Arbeitsrecht im BGB: Kommentar, 22002, Rn. 1 ff. (= S. 978 ff.); Wolfgang Rüfner, Das kirchliche rezipierte und adaptierte Dienst- und Arbeitsrecht der übrigen kirchlichen Bediensteten, in: HdbStKirchR, Bd. II (1995), S. 877 ff.; ders., Individualrechtliche Aspekte des kirchlichen Dienst- und Arbeitsrechts, ebd., S. 901 ff.; ders., Arbeitsverhältnisse im kirchlichen Dienst, in: FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln (1988), S. 797 ff.
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gerichts abgesichert ist18. Die Kirchen sind zwar an das staatliche Individualarbeitsrecht gebunden, doch ist zwischen weltlichen und kirchlichen Anteilen zu unterscheiden, die die Arbeitsrechtsverhältnisse im kirchlichen Bereich dirigieren und institutionenadäquat ausprägen können19. Die nähere rechtliche Ausprägung kirchlicher Dienst- und Arbeitsverhältnisse ist nicht staatliche, sondern eigene Angelegenheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften20. Besondere Bedeutung erhält das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG / 137 Abs. 3 WRV deshalb, weil das sozialstaatlich überformte Arbeitsrecht – mit seinen Kündigungsschutzbestimmungen u. a. – so starr und schwerfällig ist, daß es sich bereichspezifischen Differenzierungen und Ausprägungen von institutionell-organisatorischen Eigenarten widersetzt21. Dieser Differenzierung bedürfen kirchliche Dienst- und Arbeitsverhältnisse aber, weil die Kirche nicht nur wie ein beliebiger gesellschaftlicher Akteur soziale Dienstleistungen o. ä. anbieten will, sondern mit ihren Leistungen ihrem Verständnis und ihrer Sendung nach ein religiöses Zeugnis ablegen will22. Die Kirchen sind dabei nicht auf kultische, missionierende Handlungen beschränkt. Karitativ-diakonische Tätigkeiten gehören ebenso zur „Lebens- und Wesensäußerung“ der Kirchen23 und führen zu Ferner Axel von Campenhausen / Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, 4 2006, S. 179 ff. Siehe auch Gregor Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, 2006. 18 Instruktive Rechtsprechungsübersicht bei Joseph Listl, Die Arbeitsverhältnisse der kirchlichen Dienstnehmer in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 27 (1986), S. 131 m. w. N. 19 Vgl. BVerfGE 70, 138 (151). Siehe auch Schliemann (N 3), S. 408. 20 BVerfGE 70, 138 (165). Näher Richardi (N 17), § 6 Rn. 1 ff. m. w. N.; Axel von Campenhausen, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. III, 52005, Art. 140 GG / 137 WRV Rn. 101 ff. 21 Zu diesem Punkt Isensee (N 1), S. 205. 22 Vgl. Rüfner (N 17), in: HdbStKirchR, Bd. II (1995), S. 901 (904). 23 Grundlegend dazu Josef Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat, in: HdbStKirchR, Bd. II (1995), S. 665 (665 ff. m. w. N.).
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Beschäftigungsverhältnissen mit einer sehr großen Anzahl von Dienstnehmern. Bei der Wahrnehmung dieser und anderer kirchlicher Aufträge ist es notwendig, daß die Tätigkeit in kirchlichen Einrichtungen auf religiöser Vitalität basiert und durch die geistlich-kirchliche Loyalität der Mitarbeiter getragen wird24. Religiös-kirchliche Prägungen müssen nach innen handlungsleitend sein und nach außen hin als Proprium wahrnehmbar werden. Das ist nur dann der Fall, wenn die einzelnen Dienstnehmer einer kirchlichen Einrichtung in ihrer Gesamtheit eine christliche Dienstgemeinschaft bilden. Obwohl in unterschiedlichen Funktionen tätig, wird jeder einzelne unabhängig von seinem konkreten Tätigkeitsbereich persönlich gleichwertig an der religiösen Zielsetzung beteiligt und unterschiedslos zur Verwirklichung des Heils- und Verkündungsauftrags aufgerufen25. Dies setzt voraus, daß kirchliche Einrichtungen ihr Personal nach der Religions- und Konfessionszugehörigkeit auswählen und dazu verpflichten können, bei der Lebensführung kirchlich-religiöse Ordnungsvorstellungen zu respektieren. Die verhaltensbezogene Inpflichtnahme beschränkt sich dabei nicht nur auf die vertragsgemäße Erfüllung von Dienstpflichten26. Sie erstreckt sich auch auf außerdienstliches Verhalten, ohne den einzelnen Dienstnehmer „total“ in Anspruch nehmen zu können und damit die kirchlichen Arbeitsverhältnisse zu klerikalisieren und in säkulare Ersatzformen für Ordensgemeinschaften oder andere Gesellschaften apostolischen Lebens zu überführen27. Von kirchlichen Dienstnehmern wird aber zumindest erwartet, daß sie die tragenden Grundsätze kirchlicher Glaubens- und Sittenlehre auch in ihrer privaten Sphäre beachten28. Diese Grundsätze können je Näher Isensee (N 23), S. 681 ff. Wolfgang Rüfner, Artikel „Dienstgemeinschaft“, in: LThK Bd. 3 (1995), Sp. 215. 26 Rüfner, Arbeitsverhältnisse (N 17), S. 797 (802). 27 Vgl. BVerfGE 70, 138 (166, 168); Rüfner (N 17), in: HdbStKirchR, Bd. II (1995), S. 901 (904). 28 Vgl. BVerfGE 70, 138 (165 f.). 24 25
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nach Religionsgemeinschaft unterschiedlich ausfallen. Es muß um des Leitbildes der christlichen Dienstgemeinschaft29 und deren Einheitlichkeit30 willen den Kirchen von Verfassung wegen grundsätzlich erlaubt sein, nur Kirchenangehörige einzustellen oder von konfessionsfremden oder nichtchristlichen Mitarbeitern zumindest zu verlangen, daß sie nicht dem konfessionellen Charakter der Einrichtung und deren Dienstgemeinschaft zuwiderhandeln. Kirchliche Dienstgeber können zwar nicht die Einhaltung besonderer Loyalitätspflichten bei ihren Dienstnehmern rechtlich durchsetzen, aber ein Verstoß gegen diese Pflichten berechtigt zu Reaktionen, die vom klärenden Gespräch31 bis hin zur fristlosen Kündigung – als ultima ratio – reichen können32. Es wäre aber eine Verkürzung des Leitbildes Dienstgemeinschaft, wenn sie lediglich als zweckrationale Disziplinargemeinschaft aufgefaßt würde33. Dienstnehmer wie Dienstgeber sind in gleichem Maße verpflichtet, im Geiste der Dienstgemeinschaft zu wirken und den damit verbundenen religiösen Auftrag zu erfüllen. Das nach Art. 140 GG / Art. 137 Abs. 3 WRV verbürgte Selbstbestimmungsrecht ermöglicht es den Kirchen und Religionsgemeinschaften, das Recht kirchlicher Dienst- und Arbeitsverhältnisse selbstständig zu ordnen; diese Befugnis erstreckt sich sowohl auf das kollektive Arbeitsrecht als auch 29 BVerfGE 70, 138 (165). Zur Begriffsgeschichte vgl. etwa Gehring / Thiele (N 17), Rn. 48 Fn. 90 m. w. N.; siehe auch Andreas Weiß, Die kirchliche Dienstgemeinschaft: Beobachtungen zu ihrer Entwicklung im Individualarbeitsrecht der katholischen Kirche Deutschlands, in: DPM 8 / I (2001), S. 523 (524 ff. m. w. N.). 30 Siehe dazu nur Gehring / Thiele (N 17), Rn. 50 m. w. N. 31 Zur Bedeutung des klärenden Gesprächs als selbst aufgestellte Verfahrensregel für die Sozialrechtswidrigkeit einer Kündigung siehe Reichold (N 3), S. 1060 (unter Hinweis auf BAG, NZA 2000, S. 208 [210]). 32 Es spricht deshalb einiges dafür, eher von Loyalitätsobliegenheiten zu sprechen. 33 Kritisch zu dieser Verkürzung, mit bemerkenswerten rechtstheologisch fundierten Gegenüberlegungen zu einem Dienstgemeinschaftsverständnis Germann / de Wall (N 3), S. 562 ff., 565 ff. m. w. N.
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das Individualarbeitsrecht34. Sie umfaßt – wie gesagt – die Befugnis, von den einzelnen Dienstnehmern die inner- und außerdienstliche Beachtung der tragenden Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre zu verlangen35. Diesen Freiraum zur Gestaltung arbeitsrechtlicher Grund- und Ordnungsvorstellungen haben etwa die evangelische und katholische Kirche genutzt. Beide Kirchen haben Grundordnungen geschaffen36, die wesentliche Aspekte der kirchlichen Dienstverhältnisse – insbesondere die Anforderungen bei Beginn und während des Dienstverhältnisses – näher regeln. Eine Bindung des einzelnen Arbeitnehmers – der i. d. R. als Dienstnehmer bezeichnet wird – an die nach kirchlichen Ordnungsvorstellungen konzipierte Dienstverfassung erfolgt durch den einzelnen Arbeitsvertrag37, so daß das Zusammenspiel von Selbstbestimmungsrecht und Vertragsfreiheit es den Kirchen – wie auch allen anderen Religionsgemeinschaften – ermöglicht, das kirchliche Dienstverhältnis nach ihrem jeweiligen Selbstverständnis zu ordnen38. Diese Befugnis erstreckt sich nicht nur auf amtskirchliche Organisationsstrukturen, sondern betrifft auch das Arbeitsrecht sog. kirchlicher Satelliten (vor allem im karitativ34 Statt vieler von Campenhausen (N 20), Art. 140 GG / Art. 137 WRV Rn. 87 ff., 101 ff. 35 Instruktiv zum evangelischen Bereich Konstantin von Notz, Lebensführungspflichten im evangelischen Kirchenrecht, 2003. 36 Für den katholischen Bereich ist dies die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ von 1993, die von den einzelnen Diözesanbischöfen als kirchliches Gesetz umgesetzt wurde. Zur Genese näher Reinhard Richardi, Die Entstehung der Grundordnung für die Arbeitsverhältnisse in der katholischen Kirche, in: FS Link (2003), S. 143 ff. m. w. N. Die EKD hat (erstmals) in einer Richtlinie des Rates vom 1. Juli 2005 nähere Regelungen „über die Anforderungen der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Diakonischen Werkes der EKD“ getroffen (Abl. EKD 2005, S. 413). Dazu näher Detlef Fey, Richtlinie über die Anforderungen der beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie, AuR 2005, S. 349 ff. m. w. N. Zur Lage vor der EKD-einheitlichen Regelung der Loyalitätsobliegenheiten siehe Richardi (N 17), § 6 Rn. 35 ff. 37 Statt vieler Germann / de Wall (N 3), S. 552. 38 Vgl. Rüfner, Arbeitsverhältnisse (N 17), S. 797 (799).
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diakonischen Bereich), da sie der Kirche zugeordnet sind und sich an der Verwirklichung des kirchlichen Auftrages beteiligen39. Die konkrete Rechtsform der kirchlichen Satelliten ist dabei staatskirchenrechtlich ohne Bedeutung40. Von Relevanz für den Dienst in kirchlichen Einrichtungen ist insbesondere die konfessionelle Gebundenheit der einzelnen Mitarbeiter. Die Beschäftigung von konfessionsfremden Dienstnehmern oder Mitarbeitern ohne Religionszugehörigkeit kann ein Problem darstellen. Es kann beispielsweise in bestimmten Regionen Deutschlands schon praktisch unmöglich sein, eine konfessionshomogene Mitarbeiterschaft zusammenzustellen41; ebenso können konfessionsübergreifende, also ökumenische Arrangements, etwa um eine soziale Einrichtung zu betreiben, nicht a priori ausgeschlossen werden42. Da eine Institution „an sich“ allein nicht den konfessionellen Charakter abbilden und sichern kann, muß um ihrer Konfessionalität bzw. Kirchlichkeit und deren Konsistenz willen ein möglichst großer Teil der Beschäftigten kirchlich gebunden sein, weil die kirchliche Dienstgemeinschaft vor allem personenbezogen ist43. Es ist für kirchliche Dienstgeber bei der Personalauswahl 39 Aus der Rechtsprechung siehe BVerfGE 46, 73 (85 ff.); 53, 366 (391 ff.); 57, 220 (242 ff.); 70, 138 (162 ff.). Siehe näher dazu und zu aktuellen Entwicklungen, Umstrukturierungen und deren Bedeutung AnneRuth Glawatz, Die Zuordnung privatrechtlich organisierter Diakonie zur evangelischen Kirche, 2003. 40 Instruktiv zu den rechtlichen Organisationsoptionen Georg Ludemann / Werner Negwer, Rechtsformen kirchlich-caritativer Einrichtungen: Verein – Stiftung – GmbH, 2000. 41 Siehe Rüfner (N 3), unter III. 1. 42 Vgl. Rüfner, Arbeitsverhältnisse (N 17), S. 797 (806). Zu denkbaren Grundsätzen und Zielen eines „ökumenischen Arbeitsrechts“ näher Gregor Thüsing, Dienstgemeinschaft trotz konfessioneller Verschiedenheit: zu den arbeitsrechtlichen Konsequenzen ökumenischer Trägerschaften im karitativen und diakonischen Bereich, in: Recht in Kirche und Staat: Joseph Listl zum 75. Geburtstag, hrsg. von Wilhelm Rees, 2004, S. 811 ff. m. w. N.; ders. (N 17), S. 77 ff. 43 Vgl. Germann / de Wall (N 3), S. 570. Ob deren Differenzierung der im kirchlichen Dienst Tätigen in eine kirchliche Dienstgemeinschaft, die per definitionem nur Getaufte umfassen kann, und einen Bereich Nicht-
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unerläßlich, mögliche Dienstnehmer danach unterscheiden zu können, ob sie getauft sind oder nicht44. Das Getauftsein ist ein „unaufgebbares persönliches Eignungsmerkmal“ für den kirchlichen Dienst45. Es ist für die Kirchlichkeit einer Einrichtung weiterhin – erst einmal – von sehr großer Bedeutung, daß die Zahl der Kirchenangehörigen in allen Positionen, d. h. ohne Ansehen des jeweiligen Tätigkeitsbereiches, so groß wie möglich ist, damit die konfessionelle Gebundenheit und Ausrichtung der Einrichtung sich nach außen hin glaubwürdig manifestieren kann und erkennbar wird46. Die Anforderungen an die Kirchlichkeit sind aber nicht nur personen-, sondern auch verhaltensbezogen. Die nähere Ausprägung der Loyalitätsobliegenheiten erfolgt nicht ausschließlich im genuinen (kirchlichen) Arbeitsrecht, sondern verweist auf ethische bzw. moralische Vorstellungen und Verhaltensanforderungen, die für die jeweilige Kirche von Bedeutung sind47. Hierbei gibt es zwischen den Kirchen Unterschiede, die sich etwa in dem diskriminierungsrechtlich besonders bedeutsamen Fall praktizierter Homosexualität zeigen48, der dienstrechtlich nicht erst etwa bei Eintragung in das getaufter im kirchlichen Dienst zutrifft, kann an dieser Stelle offen bleiben (ebd., S. 570 ff.), zumal die nach dem Selbstbestimmungsrecht konstituierte Dienstgemeinschaft auch für sie durch die Beschäftigung von Nichtgetauften nicht inkonsequent wird. 44 Siehe Germann / de Wall (N 3), S. 571. Die durch die Taufe begründete Kirchenmitgliedschaft ist dabei während des gesamten Dienstverhältnisses relevant. Mit dem Kirchenaustritt kündigt der Dienstnehmer die Dienstgemeinschaft. 45 So Germann / de Wall (N 3), S. 571. 46 In diesem Sinne zu Recht Rüfner (N 3), unter III. 1. Siehe auch Germann / de Wall (N 3), S. 570 ff. 47 Zu den Loyalitätsobliegenheiten näher Richardi (N 17), § 6 Rn. 13 ff. m. w. N. 48 Zum Fall homosexueller Orientierung und Tätigkeit in kirchlichen Einrichtungen aus der Rechtsprechung: Arbeitsgericht Lörrach, AuR 1993, S. 151; LAG Baden-Württemberg, NZA 1994, S. 416; siehe auch BAG, NJW 1984, S. 1917. Näher zu den kirchlichen Standpunkten und Unterschieden Kämper, Eingetragene Lebenspartnerschaft und kirchlicher Dienst, in: FS Rüfner (2003), S. 401 (410 ff. m. w. N.). Näher zum evange-
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Lebenspartnerschaftsregister relevant wird49. Der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz hat 2002 – aus Gründen der Klarstellung – eine Ergänzung der arbeitsrechtlichen Grundordnung vorgenommen und die Unvereinbarkeit von Lebenspartnerschaften mit den Loyalitätsobliegenheiten festgestellt50. Andere Probleme betreffen beispielsweise den Verstoß gegen kirchliche Ehevorstellungen51, konfessionsfremde Eheschließungen oder Kindertaufen bei Mitarbeitern des pastoralen Dienstes52. 2. Rechtliche Schranken kirchlichen Arbeitsrechts Die kirchenautonomen Anteile bei den kirchlichen Beschäftigungsverhältnissen sind keineswegs schrankenlos53. Jedoch erfüllt nicht jede arbeitsrechtliche Norm die Voraussetzungen des Art. 140 GG / 137 Abs. 3 WRV. Das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) als ein für alle geltendes Gesetz im Sinne der verfassungsrechtlichen Schrankenklausel muß im Hinblick lischen Verständnis in diesem Bereich: Mit Spannungen leben: Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema „Homosexualität und Kirche“, hrsg. vom Kirchenamt der EKD, EKD-Texte 57, Hannover 1996. Für die katholische Beurteilung siehe Katechismus der Katholischen Kirche (Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina) 2005, Tz. 2357 – 2359; näher zu den gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, (dt. Ausgabe) 2006, Tz. 228. 49 Zu letzterem Kämper (N 48), S. 401 ff. m. w. N.; siehe auch Richardi (N 17), § 7 Rn. 31, 53 ff. 50 Wie die Grundordnung wurde diese Regelung in diözesanes Recht umgesetzt, siehe etwa KirchlABl. Münster 2002, S. 170 (Art. 180); weitere Drucknachweise bei Thüsing, Religion und Kirche (N 3), S. 179 Fn. 40. 51 Neben der eingetragenen Lebenspartnerschaft betrifft dies auch den Fall geschiedener wiederverheirateter Arbeitnehmer. 52 Dazu näher Christian Huber, Untragbar im pastoralen Dienst? Konfessionsverschiedene Eheschließung und nichtkatholische Kindertaufe bei pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus arbeitsrechtlicher Sicht, in: DPM 8 / I (2001), S. 199 ff. m. w. N. 53 Nähere Darstellung bei Rüfner (N 17), in: HdbStKirchR, Bd. II (1995), S. 901 (903 ff.); Richardi (N 17), § 7 Rn. 1 ff. 13 Isensee (Hrsg.)
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auf kirchliche Dienst- und Arbeitsverhältnisse so ausgelegt werden, daß eine verhältnismäßige Zuordnung von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck erfolgt54. Damit staatliche Kündigungsschutzbestimmungen oder andere Normen nicht arbeitsrechtliche Besonderheiten kirchlicher Tätigkeiten nivellieren, sollen sie dergestalt modifiziert angewandt werden, daß den kirchlichen oder religionsgemeinschaftlichen Ordnungsvorstellungen hinreichend Rechnung getragen wird. Wo genau die Grenzen bei der schwebend dialektischen Formel zur Auslegung der Schrankenklausel Art. 140 GG / 137 Abs. 3 WRV verläuft, kann nicht allgemeingültig festgestellt werden. Personenbedingte Eignungsmerkmale und verhaltenssteuernde Loyalitätspflichten sind durch die jeweilige Kirche zu konkretisieren55. Deren Selbstverständnis ist zwar nicht schrankenlos, kann staatlicherseits aber nur in den allgemeinen Grenzen einer Abwägung nachgeprüft werden, weil dem Staat angesichts seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität die korrekten Beurteilungsmaßstäbe für eine eindringliche Überprüfung fehlen. Staatliche Gerichte können arbeitsrechtliche Maßnahmen der Kirchen und Religionsgemeinschaften daraufhin überprüfen, ob Mindestanforderungen staatlicher Gemeinwohlanforderung eingehalten sind und dem einzelnen Arbeitnehmer bei den Loyalitätspflichten keine unannehmbaren Verpflichtungen auferlegt werden56. Zu diesen arbeitsrechtlichen Mindestanforderungen und damit zu den Grenzen 54 Zur Abwägungslehre bei der Schrankenklausel allgemein BVerfGE 53, 366 (400 f.) sowie grundlegend Konrad Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR, Bd. I (1994), S. 521 (552 ff.); Stefan Magen, in: Dieter C. Umbach / Thomas Clemens (Hrsg.), Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar, Bd. II (2002), Art. 140 GG Rn. 74 ff. 55 Maßgeblich sind hier natürlich nur die zuständigen kirchlichen Autoritäten, nicht etwa kirchenpolitische Privatmeinungen einzelner Kirchenmitglieder. Vgl. BVerfGE 70, 138 (166); siehe auch Rüfner, Arbeitsverhältnisse (N 17), S. 797 (800). 56 Zu den darin liegenden Schwierigkeiten bei der Überprüfung siehe Isensee (N 1), S. 213; weiter Rüfner, Arbeitsverhältnisse (N 17), S. 801. Siehe auch von Notz (N 35), S. 102 ff. m. w. N.
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des religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrechts gehören das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG), die guten Sitten im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB und der ordre public (Art. 6 EGBGB). Der Staat ist auf die Überprüfung dieses äußeren Rahmens beschränkt und kann keineswegs eine in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen für notwendig erachtete Einschränkung des kirchlichen Arbeitsrechts exekutieren57. „Der Staat kann die Kirche nicht zwingen, im Widerspruch zum Kirchenrecht zu leben, ihr proprium preiszugeben und die innere Säkularisierung des Arbeitsverhältnisses hinzunehmen“58. Prima facie besteht demnach ein relativer Vorrang für die Kirchenfreiheit. Den kirchlichen Dienstgebern kann nicht von außen vorgegeben werden, ob die Loyalitätsobliegenheiten je nach Tätigkeitsbereich zu differenzieren sind oder lediglich für bestimmte Positionen die Kirchenzugehörigkeit ein Eignungsmerkmal sein dürfen59. Stufungen der Loyalitätspflicht, wie sie etwa in den Grundordnungen der beiden Kirchen angelegt sind, liegen im Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und sind nicht einer inhaltlichen Ausgestaltungs- oder Überprüfungsbefugnis des Staates unterworfen60. Wenngleich die Kirche ihren Spielraum bis an die „Grenze des Mißbrauchs“ wahrnehmen darf61, so werden diese Grenzen jedoch in den Fällen übertreten, in denen die Kirche praktisch die von ihr vertretenen Kriterien nicht konsistent vertritt und selbst einhält62. Die kirchlichen Arbeitgeber sind verpflichtet, sich selbst 57 Im Kündigungsschutzprozeß ist das kirchliche Selbstverständnis nicht nur bei der Feststellung eines Verstoßes gegen die Loyalitätsobliegenheit o. ä. heranzuziehen, sondern auch bei der Prüfung, ob diese Verletzung die Kündigung des kirchlichen Dienstverhältnisses rechtfertige. Zu diesem Punkt und Gegenansichten statt vieler Richardi (N 17), § 7 Rn. 28, sowie Isensee (N 1), S. 214 ff. 58 Treffend so Isensee (N 1), S. 215. 59 Dies intendiert – unterstützt durch eine einseitige Auslegung des Europarechts – aber etwa Budde (N 3), S. 353 ff. 60 Rüfner, Arbeitsverhältnisse (N 17), S. 803 f. 61 Vgl. Rüfner (N 3), unter III. 1. 62 Zu dieser Anforderung siehe etwa Claus Dieter Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 151 ff.;
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konsequent und folgerichtig zu verhalten63. Dies setzt beispielsweise voraus, daß hinreichend präzise kirchliche Regelungen existieren, die nicht nur der Selbstvergewisserung, sondern auch der Selbstbindung dienen. Die kirchlichen Regelungen zu den Individualdienstverhältnissen dirigieren die Praxis und stecken damit den Rahmen ab, den die Verfassung den Kirchen und Religionsgemeinschaften zur autonomen Ausgestaltung überlassen hat. Es wäre für das kirchliche Arbeitsrecht kontraproduktiv, wenn mehr oder minder wahllos Religions- und Konfessionsfremde neben Kirchenangehörigen beschäftigt würden und im einzelnen nicht begründbar wäre, weshalb die Religions- oder Konfessionszugehörigkeit wesentlich ist bzw. weshalb auf sie ausnahmsweise im Einzelfall verzichtet werden kann64. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften sind damit auch selbst Hüter ihrer je eigenen Dienstgemeinschaft und müssen, wenn sie diese nicht hegen, mit für sie nachteiligen Konsequenzen rechnen.
II. Zwischenfazit: Dienstgemeinschaft und nicht nur Tendenzschutz Die Rechte der Kirchen bei der Gestaltung der Dienstverhältnisse ihrer Mitarbeiter gehen deutlich über die ansonsten bestehenden arbeitsrechtlichen Möglichkeiten hinaus. Kirchliche Dienstgeber unterscheiden sich von den sog. Tendenzbetrieben65. Die kirchliche Dienstgemeinschaft geht über den Tendenzschutz hinaus, bei dem es nur auf die funktionsspezifische Wahrung der Eigenart eines Unternehmens oder Betriebs ankommt. Hier besteht keine Gemeinschaft von einzustimmend zu diesem Konsequenzgebot etwa in seiner Rezension dieses Buches Michael Germann, in: Der Staat 43 (2004), S. 491 (496). 63 Dazu und zum Folgenden Germann / de Wall (N 3), S. 571, 576 f.; ihnen folgend Rüfner (N 3), unter III.1. 64 So der mahnende Hinweis bei Germann / de Wall (N 3), S. 577. 65 Rüfner (N 17), in: HdbStKirchR, Bd. II (1995), S. 901 (905); Germann / de Wall (N 3), S. 555; ferner von Notz (N 35), S. 48 ff.
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heitlich verpflichteten Dienstnehmern unter dem Leitbild der Dienstgemeinschaft, sondern es wird zwischen Tendenzträgern und Nichttendenzträgern unterschieden; letzteren ist es etwa arbeitsrechtlich nur aufgegeben, sich nicht aktiv gegen die Tendenz des Betriebs aufzulehnen und diese ggfs. öffentlich zu diskreditieren. Aspekte privater Lebensführung sind für Tendenzbetriebe arbeitsrechtlich unerheblich. Trotz dieser Unterschiede gibt es immer wieder Bestrebungen, die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Dienstgeber auf das Niveau von Tendenzbetrieben herabzustufen66. Die kirchliche Dienstgemeinschaft wäre falsch verstanden, wenn sie auf das Bild einer zweckrationalen Disziplinargemeinschaft reduziert würde bzw. werden könnte67. Ebenso reicht es nicht, die Kirchlichkeit nur im Namen einer Einrichtung und in der Ausstaffierung mit kirchlichen Symbolen zu dokumentieren68. Hier lauern Selbstgefährdungen, die schlimmstenfalls in Selbstsäkularisierungen69 münden können, die die Besonderheiten des kirchlichen Arbeitsrechtes delegitimieren. Die Kirchen haben „selbst einiges dazu beizutragen, daß ihre Dienstgemeinschaft ernstgenommen wird“70. 66 Vor dem Hintergrund des Kollektiven Arbeitsrechts (§ 118 BetrVG) etwa jüngst Classen (N 62); ders., Arbeitnehmerbeteiligung in religiösen Betrieben, in: FS Badura (2004), S. 671 ff. 67 Zu den Gefahren der Verkürzung in dieser Hinsicht näher Germann / de Wall (N 3), S. 562 ff. 68 Zu diesem Problem etwa im karitativ-diakonischen Sektor eindrücklich Isensee (N 23), S. 685 ff. Mit salopp plakativen Titel Erhard Schleitzer, Halleluja reicht nicht: Die Kirche als besonderer Arbeitgeber, in: Dr. med. Mabuse – Zeitschrift für das Gesundheitswesen 128 (November / Dezember 2000), S. 30 ff. Instruktiv aus (organisations-)soziologischer Sicht z. B. Thomas Rauschenbach u. a. (Hrsg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen: Jugend- und Wohlfahrtsverbände im Umbruch, 1996. Aus staatskirchenrechtlicher Perspektive weiterhin: Axel von Campenhausen, Zur Grenzziehung zwischen Staat und Kirche im sozialen Bereich, in: FS Zacher (1998), S. 95 ff. 69 Zu diesem Terminus und darüber hinausgehend sehr anregend der Beitrag von Rüdiger Altmann, Abschied von den Kirchen (1970), in: ders., Abschied vom Staat: Politische Essays, 1998, S. 237 (239 f.). 70 So zu Recht Germann (N 62), S. 496.
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Gefahren lauern auch von äußeren Faktoren wie dem Europarecht mit seinen im Arbeitsrecht weit ausgreifenden Regulierungstendenzen, die das kirchliche Arbeitsrecht vor zusätzliche Herausforderungen stellen. Nicht wenige sehen in den europäischen Einflüssen ein „Abschleifen“71 deutschen Staatskirchenrechts: Aus der christlichen Dienstgemeinschaft soll ein Tendenzbetrieb werden72.
C. Die Kirchen und das europäische arbeitsrechtliche Benachteiligungsverbot I. Europarechtliche Vorgaben: Primärrechtliche „Wurzelnorm“ Art. 13 EGV und das arbeitsrechtliche Diskriminierungsverbot nach der Richtlinie 2000 / 78 / EG Primärrechtlicher Grund für die allgemeine europäische Antidiskriminierungsrechtsetzung ist Art. 13 EGV73. Art. 13 EGV bezieht sich nicht nur auf das Arbeitsrecht wie etwa das aus Art. 141 EGV abgeleitete Gebot des gleichen Arbeitsentgelts für Männer und Frauen, sondern ist eine umfassende Programmnorm. Anders als Art. 21 Grundrechtecharta wird Art. 13 EGV nicht als gemeinschaftsrechtliches Diskriminierungsverbot qualifiziert, sondern in ihm lediglich eine Rechtsgrundlage gesehen, um mittels Sekundärrechtsakten Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. Art. 13 EGV vermittelt aus diesem Grunde keine allgemeine gemeinschaftsrechtliche Kompetenz zur Bekämpfung diskriminierender Zustände, sondern nur eine Kompe71 Hermann Weber, Geltungsbereiche des primären und sekundären Europarechts für die Kirchen, in: ZevkR 47 (2002), S. 221 (240). 72 Dieses Ergebnis prognostiziert insbesondere Schliemann (N 3), S. 407 ff. 73 Umfassend zu Art. 13 EGV Kehlen (N 3), S. 9 – 139.
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tenz im Rahmen bestehender Zuständigkeiten74. Das arbeitsrechtliche Mandat der EGV wird den Art. 136 – 140, 142, 143 EGV entnommen75. Die Antidiskriminierungsrichtlinie 2000 / 78 / EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf konkretisiert die in Art. 13 EGV aufgeführten Diskriminierungstatbestände hinsichtlich des Berufszugangs, der Berufsbildung, der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen sowie der Mitgliedschaft und Mitwirkung in berufsbezogenen Organisationen. Die Richtlinie ist nicht auf den öffentlichen Sektor beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf den privaten Bereich (Art. 3 Abs. 1).
II. Die europarechtliche Invasion in das deutsche Kirchenarbeitsrecht – Gefährdungslagen durch die Richtlinie 2000 / 78 / EG im Überblick Daß das europäische Antidiskriminierungsrecht unmittelbar und tief in das kirchliche Selbstbestimmungsrecht eingreifen kann76 und damit ernstere Probleme schafft77, wird zu Recht immer wieder hervorgehoben. Es gibt aber unterschiedliche Gefährdungslagen. Die vielzitierte „Priesterin kraft europäischen Rechts“ dürfte – Gender Mainstreaming innerhalb und außerhalb der Kirchen hin oder her – keine reale gemeinschaftsrechtliche Gefährdung sein. Ebenso sind „schwule Priester“ kein Thema des europäischen Arbeitsrechts78. GeistNäher dazu Waldhoff (N 3), S. 982 f. Siehe Schliemann (N 3), S. 407; ders., Europa und das deutsche kirchliche Arbeitsrecht: Kooperation oder Konfrontation?, in: Dabrowski / Wolf (N 9), S. 19 ff. (19). 76 Heinrich de Wall, Europäisches Staatskirchenrecht, in: ZevKR 45 (2000), S. 157 (169). 77 Link (N 2), S. 411. 78 Siehe vielmehr Kongregation für das katholische Bildungswesen, Instruktion über Kriterien zur Berufungsklärung von Personen mit homo74 75
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liche Ämter lassen sich nicht unter die funktionale, wirtschaftszentrierte Logik des europäischen Rechts zwingen und liegen außerhalb des gemeinschaftsrechtlichen Regelungsbereiches, selbst wenn dem Europarecht ein weiter Arbeitnehmerbegriff zugrundeliegt79. Aus diesem Grunde sind auch binnenrechtliche Anforderungen der Religionsgemeinschaften an ihr geistliches Personal (Altersregelungen u. ä. m.) wohl nicht vom Regelungsgehalt des europäischen Antidiskriminierungsrechts erfaßbar80. Diskriminierungen wegen des Alters oder wegen einer Behinderung sind im übrigen mit dem kirchlich-religiösen Selbstverständnis nicht vereinbar und werfen praktisch insgesamt keine Probleme auf81. Praktisch relevant für das kirchliche Arbeitsrecht sind die Diskriminierungsmerkmale wegen der Religion oder Weltanschauung, der sexuellen Ausrichtung sowie die Möglichkeit zur Festsetzung verhaltensbezogener Loyalitätspflichten und deren Reichweite in kirchlichen Dienst- und Arbeitsverhältnissen. Die einzelnen Diskriminierungsmerkmale besitzen bei den verschiedenen Kirchen oder Religionsgemeinschaften durchaus unterschiedliche Wertigkeit. Die praktizierte Homosexualität wird von den meisten evangelischen Kirchen weit weniger entschieden abgelehnt als von der katholischen Kirche82, die sexuellen Tendenzen im Hinblick auf ihre Zulassung für das Priesterseminar und zu den heiligen Weihen, vom 4. November 2005 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 170). Bemerkenswert dazu Otto Kallscheuer, Keuschheit und Berufung, FAS – Nr. 47 – vom 27. November 2005, S. 15. 79 Näher Mückl, Europäisierung (N 9), S. 505 ff. m. w. N.; ders., Religions- und Weltanschauungsfreiheit (N 9), S. 30 f.; a. A. Reichegger (N 3), S. 225 f. 80 Anders – neben Reichegger, ebd. – wohl auch Kehlen (N 3), S. 162. 81 Vgl. Rüfner (N 3), unter II. 2.; Link (N 2), S. 412. Pars pro toto siehe das kirchliche Dokument „unBehindert Leben und Glauben teilen: Wort der deutschen Bischöfe zur Situation der Menschen mit Behinderungen“ vom 12. März 2003 (Die deutschen Bischöfe, 70). 82 Vgl. Link (N 2), S. 415 unter Hinweis auf die „Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema Homosexualität und Kirche: Mit Spannungen leben“ (N 49).
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europaweit die Religionsgemeinschaft mit der größten Mitgliederzahl ist83. Das Problem ließe sich dadurch entschärfen, daß das Diskriminierungsmerkmal auf die sexuelle Orientierung und nicht deren Praxis begrifflich beschränkt würde84. Wegen einer homosexuellen Veranlagung allein können Kirchen nicht kündigen; kündigungsrechtlich relevant wäre aber das homosexuelle Verhalten85. Es ist allerdings fragwürdig, ob diese Unterscheidung zwischen homosexueller Orientierung und homosexuellem Verhalten dem Regelungsgehalt der Richtlinie entspricht86. Sowohl für die evangelischen Kirchen als auch die katholische Kirche als Dienstgeber ist insbesondere die Kirchenangehörigkeit wegen ihrer wegweisenden Bedeutung für die christliche Dienstgemeinschaft von allergrößter Bedeutung. Würde die Bevorzugung von Kirchenangehörigen durch das Europarecht unzumutbar erschwert oder unmöglich gemacht, so wäre dies ein tiefer Einschnitt in die Autonomie der Kirchen und Religionsgemeinschaften. III. Grund und Grenzen einer europarechtlichen Korrektur der schneidigen Diskriminierungsverbote Der Gefahr eines unzumutbaren Eingriffs in kirchenautonome Strukturen durch „schneidige“ Diskriminierungsverbote sucht die Richtlinie durch eine Ausnahmebestimmung zu begegnen. Darauf weist hin Waldhoff (N 3), S. 986. So Jochen Mohr, Schutz vor Diskriminierungen im Europäischen Arbeitsrecht, 2004, S. 199; siehe auch Hanau / Thüsing (N 3), S. 34 f. 85 Hanau / Thüsing (N 3), S. 35 unter Hinweis auf den Katechismus der Katholischen Kirche, wonach nicht die homosexuelle Veranlagung, sondern allein das Verhalten eine offenkundig schwere Sünde sei. Siehe zur praktischen Relevanz dieser Differenzierung etwa der Fall nichtpraktizierter Homosexualität bei LAG Stuttgart, NZA 1994, S. 416 = ZMV 1993, S. 271 f. 86 Zweifelnd Joussen (N 3), S. 38; Reichegger (N 3), S. 217; Link (N 2), S. 415 Fn. 36. 83 84
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1. Die Ausnahmebestimmung des Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG und ihre Genese Die Richtlinie 2000 / 78 / EG sieht für berufliche Anforderungen in Art. 4 Abs. 1 eine allgemeine Tendenzschutzklausel vor. Bei dieser Norm handelt es sich um einen allgemein gefaßten Ausnahmetatbestand hinsichtlich wesentlicher und entscheidender Anforderungen an die berufliche Tätigkeit. Die Kirchenmitgliedschaft hätte nach dieser Bestimmung nur sehr eingeschränkt zur Einstellungsvoraussetzung gemacht werden dürfen. Sie wäre vielleicht nur bei leitenden Mitarbeitern zulässig gewesen87. Da eine allgemeine Tendenzschutzklausel als unzureichend erkannt worden ist, wurde sie durch eine besondere „Kirchenklausel“ ergänzt. Der Regelungsgehalt des Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG ist dabei das Produkt einer wechselvollen Entstehungsgeschichte und das Ergebnis eines Kompromisses, der nicht unerhebliche Auslegungsprobleme zur Folge hat. Eine Bestimmung, die den Anforderungen des kirchlichen Dienstes im Sinn der deutschen Staatskirchenrechtslage ausdrücklich Rechnung trägt, war in den ersten Entwürfen nicht vorgesehen88. Später war lediglich an eine an die europäische Betriebsrichtlinie angelehnte Tendenzschutzklausel gedacht89. Anstatt den kirchlichen Erfordernissen zu entsprechen, führte diese Klausel aber zu einer weiteren Einschränkung kirchlicher Befugnisse bei der Ausgestaltung ihrer Dienstverhältnisse, da der Tendenzschutz nur auf spezielle berufliche Tätigkeiten beschränkt war, die unmittelbar und überwiegend den kirchlichen Zwecken dienen. Es wurde noch nicht einmal das Niveau eines allgemeinen Tendenzschutzes für sämtliche 87 Grabenwarter (N 3), S. 73 geht sogar davon aus, daß Differenzierungen wegen der Religion regelmäßig nach Art. 4 Abs. 1 RiLi nicht zu rechtfertigen seien. 88 Näher zur Entstehungsgeschichte Kehlen (N 3), S. 181 ff. m. w. N.; Reichegger (N 3), 192 ff. Siehe auch Heinig (N 3), S. 236 ff. 89 Hanau / Thüsing (N 3), S. 29.
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Tätigkeiten im kirchlichen Bereich erreicht90; nicht zuletzt blieb der beschäftigungsintensive karitativ-diakonische Bereich völlig unberücksichtigt91. Die spezielle Regelung hätte zu dem paradoxen Ergebnis geführt, daß sie die Kirchen und Religionsgemeinschaften gegenüber anderen Organisationen schlechter stellt. Später wurde der Regelungsgehalt der Klausel auch auf karitativ-diakonische Einrichtungen als einem religiösen Ethos verpflichtete „Umfeldorganisationen“92 ausgedehnt und die Begrenzung auf bestimmte Tätigkeitsbereiche aufgegeben. Doch blieben Unklarheiten, die „in letzter Minute“93 zu weiteren Änderungen führten. Insbesondere die Interventionen Irlands und kirchliche Initiativen gaben hierzu den Anstoß94 und führten zu der heutigen, a priori vielleicht nicht kirchenunfreundlichen Fassung des Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG95. Die heutige Fassung der Regelung in Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG ist wenig übersichtlich und in ihrer Normstruktur überaus kompliziert. Die in ihr getroffenen Ausnahmebestimmungen enthalten zum ersten in Art. 4 Abs. 2 Unterabsatz 1 RiLi 2000 / 78 / EG einen gesteigerten Tendenzschutz96 (!), der sich auf die Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung bezieht, und zum zweiten wird Vgl. Reichegger (N 3), S. 193. Vgl. Reichold (N 3), S. 1055; Jörg Winter, Das Verhältnis von Staat und Kirche als Ausdruck der kulturellen Identität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: FS Hollerbach (2001), S. 893 (897). 92 Heinig (N 3), S. 239. 93 Hanau / Thüsing (N 3), S. 31. 94 Statt vieler Reichegger (N 3), S. 196 f. m. w. N. 95 Skeptischer Heinrich de Wall, Staat und Religionsgemeinschaften zwischen nationaler Rechtskultur und europäischer Integration, in: Über das Verhältnis von Kultur und Religion, 2004, S. 97 (108): „Für die deutschen Kirchen und das deutsche Staatskirchenrecht ist dieser Erfolg allerdings mit einem kräftigen Schuß Wermuth versetzt. Die Formulierung der Richtlinie läßt es nämlich durchaus zweifelhaft erscheinen, ob damit das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften nach deutschem Verständnis in vollem Umfang gewährleistet ist“. 96 Vgl. etwa Mückl, Europäisierung (N 9), S. 509 ff. 90 91
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den Kirchen und übrigen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften das Recht garantiert, verhaltensbezogene Loyalitätspflichten festzulegen (Art. 4 Abs. 2 Unterabsatz 2). Die mit Art. 4 Abs. 2 gefundene Regelung ist für Kirchen und Religionsgemeinschaften erfreulich, begegnen diese doch auf europäischer Ebene nicht selten einem kirchenindifferenten Normgeber97, dem nicht zu Unrecht „Staatskirchenrechtsblindheit“98 attestiert wird. Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG ist eine Regelung, die sich mitgliedstaatlichen Besonderheiten gegenüber öffnet99 und vielleicht auch eine „bemerkenswerte Annäherung an die deutsche Rechtslage“100 darstellt. 2. Europarechtliche Absicherung der Kirchenautonomie Dem starken Antidiskriminierungskonzept der Richtlinie 2000 / 78 / EG wird durch Art. 4 Abs. 2 eine positivrechtliche Relativierung beigegeben101. Bevor im einzelnen auf den Regelungsgehalt des Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG mit Blick auf kirchenarbeitsrechtliche Anforderungen und Problemlagen einzugehen ist, sind die europarechtlichen Faktoren zu ermitteln, die den auf Art. 13 EGV basierenden Diskriminierungsverboten möglicherweise ein europarechtliches Widerlager zum Schutz kirchlicher Selbstbestimmung bieten können. Der Höchsterreichbarkeit europäischer AntidiskriminieWaldhoff (N 3), S. 980. Gerhard Robbers, Europarecht und Kirchen, in: HdbStKirchR, Bd. I (1994), S. 315 (318). 99 Hinter dieser Referenz auf die Mitgliedsstaaten und ihre sehr subjektive Sichtweise verbirgt sich, daß die einzelnen Mitgliedsstaaten von sehr unterschiedlichen Motiven bewegt wurden, die zu der endgültigen Fassung von Art. 4 Abs. 2 RiLi führten. Vgl. Kehlen (N 3), S. 184. 100 So Reichold (N 3), S. 1055. 101 Allgemein zu diesen positivrechtlichen Relativierungen des „starken“ Antidiskriminierungskonzepts Jestaedt (N 8), S. 317 f. m. w. N. Zum Problem kirchliches Arbeitsrecht, insbesondere Antidiskriminierungsrecht, und Europarecht konzise von Campenhausen / de Wall (N 17), S. 363 f. 97 98
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rungspolitik entgegenwirken können insbesondere die Religionsfreiheit und die Amsterdamer Kirchenerklärung. a) Kollektive Religionsfreiheit – kirchliches Selbstbestimmungsrecht? Eine dem Art. 140 GG / 137 Abs. 3 WRV entsprechende ausdrückliche Gewährleistung eines religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrechts gibt es im Europarecht nicht; eine von der KEK102 und der COMECE103 vorgeschlagene Regelung zur Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften für einen künftigen europäischen Verfassungsvertrag wurde – ebenso wie die Forderung nach einem Gottesbezug in der Präambel – nicht berücksichtigt. Ausgangspunkt eines Selbstbestimmungsrechts von Kirchen und Religionsgemeinschaften kann damit nur die Religionsfreiheit sein, wie sie in Art. 9 EMRK geregelt ist und nach Art. 6 Abs. 2 EUV von der Union zu achten ist104. Als Gemeinschaftsgrundrecht105 ist die Religionsfreiheit in der Rechtsprechung anerkannt und seit dem Amsterdamer Vertrag auch primärrechtlich verankert. Inwieweit sie gegenständlich dem Selbstbestimmungsrecht entspricht, ist gerade hinsichtlich des europäischen Antidiskriminierungsrechts keine bloß theoretische Frage. Maßstabsbildend ist die Rechtsprechung der früheren europäischen Menschenrechtskommission und des heutigen Europäischen Menschengerichtshofes. Die Rechtsprechung zu Art. 9 EMRK betrifft zwar vorrangig die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht, doch hat sich zunehmend gezeigt, daß Art. 9 EMRK nicht rein individualistisch zu erfassen ist, sondern auch Religionsgemeinschaften eine Rechtsposition vermittelt106. Dabei war es zuerst offen, ob den ReligionsgemeinKonferenz der Europäischen Kirchen. Kommission der Europäischen Bischofskonferenzen. 104 In Form einer Rechtserkenntnisquelle siehe Mückl, Religions- und Weltanschauungsfreiheit (N 9), S. 32 ff. m. w. N. 105 Seit EuGH Slg. 1976, 1589 – Vivien Prais. 102 103
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schaften lediglich eine Art Prozeßstandschaft für die Rechte ihrer Mitglieder eingeräumt werde107 oder eigene Rechte. Mittlerweile beseitigen zwei Urteile des EGMR bestehende Unklarheiten und Zweifel insoweit, als die Religionsfreiheit von den Religionsgemeinschaften selbst gerichtlich geltend gemacht werden kann. In seiner neueren Judikatur anerkennt der EGMR die selbstbestimmte bzw. autonome Existenz von Religionsgemeinschaften als Kernbestand des Art. 9 EMRK, bindet sie aber wiederum an die Individualpositionen zurück, indem er darauf hinweist, daß der religionsfreiheitliche Schutz nicht nur die Organisation der Korporation als solche betreffe, sondern auch der Religionsfreiheit ihrer Mitglieder diene108. Ohne diese – aus der deutschen Verfassungsgeschichte nicht unbekannte109 – Spannungslage zwischen eigenständigem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und deren Funktion als Grundrechtsagenten ihrer Mitglieder völlig auflösen zu können, ist Art. 9 EMRK in der neueren Rechtsprechung als korporatives Recht jedenfalls dem Grunde nach anerkannt. Damit stellt sich im nächsten Schritt die Frage nach der genauen Gewährleistungsreichweite dieser Rechtsposition. 106 Zu diesem Schwenk in der Rechtsprechung, die nunmehr auch Religionsgemeinschaften als Beschwerdeführer zuläßt, und der prozeßrechtlichen Bedeutung des Art. 25 Abs. 1 Satz 1 EMRK a. F. / Art. 34 EMRK siehe Heinrich de Wall, Von der individuellen zur kooperativen Religionsfreiheit – die Rechtsprechung zu Art. 9 EMRK, in: Joachim Renzikowski (Hrsg.), Die EMRK im Privat-, Straf- und Öffentlichen Recht, 2004, S. 237 (245 f.). Siehe auch von Campenhausen / de Wall (N 17), S. 364 ff. 107 In diesem Sinn etwa Christian Hillgruber, Staat und Religion, in: DVBl. 1999, S. 1155 (1177); siehe auch Hans-Tjabert Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 1998, S. 342 ff., aber auch 386. 108 de Wall, Religionsfreiheit (N 106), S. 247; vgl. auch Hans-Michael Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften: Studien zur Rechtsstellung der nach Art. 137 Abs. 5 WRV korporierten Religionsgesellschaften in Deutschland und in der Europäischen Union, 2003, S. 431 m. w. N. aus Rspr. und Lit. in Fn. 211. 109 Näher dazu Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche: Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, 1985, S. 486 f.
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Mangels einer größeren Anzahl an Judikaten zu Art. 9 EMRK läßt sich der korporative Schutzgehalt nicht einfach oder abschließend ermitteln. Grundsätzlich werden die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften wie deren Verfassung, Organisationsstrukturen – einschließlich der Ämterautonomie110, kirchlicher Disziplinargewalt u. ä. – durch Art. 9 EMRK geschützt. Die Reichweite korporativer Religionsfreiheit wird problematisch, wo sie über den inneren Lebensund Organisationsbereich der Religionsgemeinschaften hinausgreift, aber noch – in deutscher staatskirchenrechtlicher Terminologie – als ihre eigene Angelegenheit zu qualifizieren ist, wie es insbesondere beim kirchlichen Dienst- und Arbeitsrecht der Fall ist. Die europarechtliche Anerkennung von Rechten der Religionsgemeinschaften ist demnach nur eine begrenzte und nicht identisch mit der Reichweite deutscher Verfassungsgewährleistungen. Es ist europarechtlich keineswegs sicher, daß kirchliche Satelliten, von denen es viele im karitativ-diakonischen Bereich in Deutschland gibt und die ein Stück kirchlichen Auftrags in der Welt verwirklichen, ohne weiteres vom Schutzbereich des Art. 9 EMRK umfaßt werden111. Eine solide Basis112 für das kirchliche Selbstbestimmungsrecht bietet Art. 9 EMRK allenfalls für einen „Kern“ kirchlicher Selbstbestimmung. Ein solcher Kernbereich ist aber ein Rechtsbegriff ohne Schale; egal ob intensiv oder extensiv ausgelegt, bleibt die Reichweite des Rechtsschutzes dem Halbdunkel der Einzelfalljudikatur überantwortet113. Umfang und Schutzniveau eines europarechtlichen Selbstbestimmungs110 Dazu, daß die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK traditionell staatskirchlichen Systemen nicht entgegensteht, de Wall, Religionsfreiheit (N 106), S. 249 f. 111 Vgl. Wolfgang Rüfner, Religion und Kirchen vor der Europäischen Verfassung, in: FS Ress (2005), S. 757 (761 f.). 112 de Wall, Religionsfreiheit (N 106), S. 255. 113 In Anlehnung an grundsätzliche Ausführungen zum Problem einer „Kernbereichsbestimmung“ von Josef Isensee, Die verfassungsrechtliche Verankerung der Tarifautonomie, in: Die Zukunft der sozialen Partnerschaft (Veröffentlichen der Walter-Raymond-Stiftung, Bd. 24), 1986, S. 159 (172 ff.).
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rechtes der Kirchen und Religionsgemeinschaften aus Art. 9 EMRK sind demnach alles andere als geklärt114. Ein wirkliches Widerlager zum europäischen Antidiskriminierungsrecht ist Art. 9 EMRK (noch) nicht. Es ist aber – vielleicht und hoffentlich – auf dem Weg dorthin. Für einen arbeitsrechtlichen Fall hat die EKMR in ihrer Entscheidung vom 6. September 1989 im Fall Rommelfanger115, ohne dies aber auf Art. 9 EMRK oder das kirchliche Selbstbestimmungsrecht zu stützen, zumindest die kirchliche Eigenart und Eigenständigkeit im Rahmen eines Tendenzschutzes maßgeblich berücksichtigt116. Damit wurde wenigstens dem Grunde nach für das kirchliche Arbeitsrecht die Bedeutung des kirchlichen Selbstverständnisses und darauf basierender Loyalitätsobliegenheiten anerkannt. Wenn die Prognose zutrifft, daß europarechtlich der Schutz des kirchlichen Selbstbestimmungsrechtes hinter dem Schutzniveau de deutschen Staatskirchenrechts wohl zurückbleiben werde, verdient die Rommelfanger-Entscheidung umso mehr Beachtung. Sie ist jedenfalls ein nicht unerhebliches Indiz dafür, daß europarechtlich das Ob kirchlichen Tendenzschutzes gesichert ist117. Ebenso läßt sich aus der gemeinsamen Grundrechtsüberlieferung hinsichtlich des religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrechts kein anderes Ergebnis gewinnen118.
So de Wall (N 95), S. 111. EMRK, DR 62, 151. Ausgangsfall BVerfGE 70, 138. 116 Vgl. Mückl, Europäisierung (N 9), 435. Kritisch dazu, daß die Kommission auf den Tendenzschutz ausweicht und nicht zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht Stellung nimmt, Gerd Müller-Volbehr, Europa und das Arbeitsrecht der Kirchen, 1999, S. 106 ff., insbes. 108. 117 So Waldhoff (N 3), S. 986. 118 Näher dazu Mückl, Religions- und Weltanschauungsfreiheit (N 9), S. 44 ff. m. w. N. 114 115
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b) Kirchenerklärung von Amsterdam Größere Bedeutung als Widerlager zu Art. 13 EGV besitzt die Amsterdamer Kirchenerklärung119. Europäische Rechtsakte können in Positionen eingreifen, die den Kirchen und Religionsgemeinschaften durch mitgliedsstaatliches Verfassungsrecht verbürgt und gegen deren übermäßige Reduzierung sie dort geschützt sind. Die Erklärung Nr. 11 zum Amsterdamer Vertrag soll – vorläufig – das Problem lösen, den mitgliedsstaatlichen Status von Religionsgemeinschaften und Kirchen zu sichern, nachdem die Aufnahme einer Bereichsausnahme zu deren Gunsten in den Vertragstext selbst gescheitert war120. Nach dem Text der Kirchenerklärung achtet die EU „den Status, den Kirchen, religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Vorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht“121. Beim Themenkreis europäisches Antidiskrimimierungsrecht könnte die Kirchenerklärung dazu führen, daß bei der Umsetzung der Richtlinie 2000 / 78 / EG letztlich das kirchliche Selbstbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung der kirchlichen Arbeitsverhältnisse entsprechend der bisherigen Rechtslage nicht tangiert werden dürfte. Dies setzte aber voraus, daß die Kirchenerklärung, die – anders als etwa ein Protokoll122 – nicht Vertragsbestandteil ist, normative Wirkung besitzt123. Die außerhalb des Vertrages stehende Kirchenerklärung muß schon deshalb kein vertragsrechtliches Nullum sein, weil sie 119 Grundlegend dazu und zum Folgenden Bernd Grzeszick, Die Kirchenerklärung zur Schlußakte des Vertrags von Amsterdam: Europäischer Text, völkerrechtliche Verbindlichkeit, staatskirchenrechtlicher Inhalt, in: ZevKR 48 (2003), S. 284 ff. m. w. N.; ferner Waldhoff (N 3), S. 984 f. 120 Hinweise zur Genese der Kirchenerklärung bei Marcel Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, 2000, S. 125 ff. m. w. N. 121 Der Schutz wird – paritätisch – im Satz 2 der Kirchenerklärung auf die weltanschaulichen Gemeinschaften erweitert. 122 Vgl. Art. 311 EGV. 123 Näher Mückl, Europäisierung (N 9), S. 454 ff. m. w. N.
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als normative Erläuterung der Vertragsbestimmung des Art. 6 Abs. 3 EUV aufgefaßt werden kann. Sie ist eine rechtliche Konkretisierung dessen, was in einem besonderem Lebensund Regelungsbereich als nationale Identität von Mitgliedsstaaten zu verstehen ist, die die EU zu achten hat. Es gibt keine gemeinschaftsrechtliche Kompetenz zur Einebnung der staatskirchenrechtlichen Systeme in den Mitgliedsstaaten, vielmehr ist die EU gehalten, die staatskirchenrechtlichen Besonderheiten der Mitgliedsstaaten zu respektieren und deren Verschiedenheit zu bewahren. Die Kirchenerklärung wirkt einer Vergemeinschaftung des mitgliedsstaatlichen Staatskirchenrechts entgegen und sichert die bestehenden nationalstaatlichen Systeme des Verhältnisses von Staat-Kirche-Religion, ohne einen eigenen europarechtlichen Status von Kirchen und Religionsgemeinschaften auszuprägen. Neben die struktursichernde Funktion stellt Mückl die interpretationsverstärkende Wirkung der Kirchenerklärung, die sich besonders hinsichtlich einer originären Anerkennung der korporativ-institutionellen Seite der Religionsfreiheit in Form eines religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrechtes entfalte124. Soweit die Amsterdamer Kirchenerklärung ein Erfolg auf dem Weg ist, das funktional orientierte Europarecht für institutionelle religionsverfassungsrechtliche Ordnungsstrukturen zu öffnen125, so wären die Kirchen und Religionsgemeinschaften „die größten Sorgen los“126, wenn der Regelungsgehalt der Kirchenerklärung auch primärrechtlich aufgenommen wäre. Dies ist kein „frommer Wunsch“ oder bloße Interessenpolitik, sondern in dem Verfassungsentwurf Art. I-51 Abs. 1 bereits so vorgesehen. Wenngleich wegen des stockenden europäischen Konstitutionalisierungsprozesses dem Art. I-51 Abs. 1 EUVerf-Entwurf keine normative Vorwirkung zukommen kann, Vgl. Mückl, Europäisierung (N 9), S. 456 f. Plastisch Waldhoff (N 3), S. 982: „Das überkommene deutsche Staatskirchenrecht ist institutionell, die Europäischen Gemeinschaften sind funktionell ausgerichtet“. 126 Rüfner (N 111), S. 770. 124 125
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so bringt er doch bereits jetzt eine gemeineuropäische Rechtsauffassung zum Ausdruck, die die Bedeutung der Amsterdamer Kirchenerklärung für ein europäisches Religionsverfassungsrecht unterstreicht, das nicht dem Leitbild harmonisierter Uniformität verpflichtet ist, sondern von einer Einheit in Unterschiedenheit ausgeht127 und diese nicht durch nivellierendes Gemeinschaftsrecht abschleifen soll128. Schon jetzt kann die Kirchenerklärung in ihrem Zusammenspiel mit EUV / EGV eine korrigierende Wirkung hinsichtlich der Auslegung von Art. 13 EGV entfalten, wenn die besondere Stellung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nicht hinreichend beachtet wird; Maßnahmen, die etwa der Kirche Loyalitätsstufungen von außen oktroyieren, könnten als primärrechtswidrig qualifiziert werden129. 3. Rechtliche Bedeutung des Erwägungsgrundes Nr. 24 zur Richtlinie 2000 / 78 / EG? Die bisher bedeutendste (sekundärrechtliche) Rezeption der Amsterdamer Kirchenerklärung findet sich aber im Erwägungsgrund Nr. 24, der der Richtlinie 2000 / 78 / EG vorangestellt ist130. Der Erwägungsgrund lautet: „Die Europäische Union hat in ihrer der Schlußakte zum Vertrag von Amsterdam beigefügten Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften ausdrücklich anerkannt, dass sie den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und nicht beeinträchtigt und dass dies in gleicher Weise für den Status der 127 In Anlehnung an den Topos von der „Einheit in Unterschiedenheit“ bei Erik Wolf, Ordnung der Kirche: Lehr- und Handbuch des Kirchenrechts auf ökumenischer Basis, 1961, S. 69 f. 128 Vgl. Rüfner (N 111), S. 771; Mückl, Europäisierung (N 9), S. 458. 129 So dezidiert Waldhoff (N 3), S. 985 f. 130 Der Kirchenerklärung wird trotz ihrer geringen normativen Bedeutung attestiert, daß sie faktisch ihre erste Bewährungsprobe bestanden habe. Siehe etwa Mückl, Europäisierung (N 9), S. 454 f. m. w. N.
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weltanschaulichen Gemeinschaften gilt. Die Mitgliedsstaaten können in dieser Hinsicht spezifische Bestimmungen über die wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderungen beibehalten oder vorsehen, die Voraussetzung für die Ausübung einer diesbezüglichen beruflichen Tätigkeit sein können“. Angesichts der etwas vagen Absicherung der Kirchenautonomie im Europarecht stellt sich nunmehr die Frage, welche rechtliche Bedeutung dem Erwägungsgrund – allgemein, wie für den Erwägungsgrund Nr. 24 speziell – zukommt131; hierbei ist auch in den Blick zu nehmen, daß der Erwägungsgrund 23 eine Ungleichbehandlung wegen der Diskriminierungsmerkmale der Richtlinie 2000 / 78 / EG nur „unter sehr begrenzten Bedingungen“ für gerechtfertigt hält. Nach Art. 253 EGV ist primärrechtlich eine Begründungspflicht für Richtlinien vorgeschrieben. Bei den Erwägungsgründen handelt es sich um eine Form der Begründung132. Es stellt sich die Frage, ob es sich bei den Erwägungsgründen, die der Richtlinie wegen Art. 253 EGV beizugeben sind, lediglich um eine rechtsnorminterne Begründung handelt, die an die Stelle der ansonsten üblichen rechtsnormexternen tritt, oder ob ihr als Teil des Richtlinientextes eine darüber hinausgehende Funktion zukommt. So kennt etwa das deutsche Recht mit Präambeln und normativen Umschreibungen von Gesetzeszwecken (Leitvorschriften)133 auch das Phänomen „gesetzesinterner Begründungen“134. 131 Eine solche Berücksichtigung erfolgt vielfach nicht hinreichend. Nicht selten wird der Text des Erwägungsgrundes lediglich referiert, so z. B. bei Schliemann (N 3), S. 410. 132 Marcus Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, S. 593 (600). 133 Zu Präambeln und Leitvorschriften in der einfachen Gesetzgebung Hans Schneider, Gesetzgebung: Ein Lehr- und Handbuch, 32002, Rn. 324 ff., 327 ff. Zur Präambel im europäischen Primärrecht siehe ausführlich Arnd-Christian Kulow, Inhalte und Funktionen der Präambel des EG-Vertrages, 1997. 134 Vgl. Jörg Ennuschat, Wege zu besserer Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgenabschätzung und Wirkungskontrolle, DVBl. 2004, S. 986 (991).
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Auf eine elaborierte Dogmatik der Erwägungsgründe läßt sich bei der Beantwortung dieser Frage nicht zurückgreifen; bemerkenswerterweise fehlen bis jetzt, obwohl jeder Richtlinie Erwägungsgründe beizugeben sind, eingehende Untersuchungen zu deren Rechtsqualität. Soweit Erwägungsgründe Gegenstand rechtswissenschaftlicher Untersuchungen sind, werden sie vorrangig im Rahmen der Auslegung untersucht und als Ausprägung der historischen Auslegung behandelt135. Vielfach wird der historisch-genetischen Auslegung eine eher geringe Bedeutung zugemessen, doch ist diese Geringschätzung als Rechtserkenntnisquelle nicht unbestritten, und nicht wenige plädieren für eine Stärkung der historisch-genetischen Interpretation als gegenstandsadäquater Rechtserkenntnis136. Die Bedeutung der historisch-genetischen Auslegung bei der Anwendung des Europarechts wird von der europäischen Judikatur ziemlich gering veranschlagt; offizielle oder offiziöse Materialien zur Entstehungsgeschichte besitzen in der Regel keinen besonderen Aussagewert. Entgegen dieser Geringachtung erfahren die Erwägungsgründe in der Judikatur aber eine hohe Wertschätzung; viele EuGH-Urteile nehmen immer wieder Bezug auf sie137. Den Erwägungsgründen wird bei der Auslegung europäischer Rechtsakte eine herausgehobene Stellung zugemessen138. Vor allem, um Sinn und Zweck einer 135 Vgl. Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 147 f.; Mariele Dederichs, Die Methodik des EuGH: Häufigkeit und Bedeutung methodischer Argumente in den Begründungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2004, S. 30 f., 115 f., 122 f. 136 Eindrücklich – ohne diesen Ansatz hier auswerten zu können – Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz: Studien zur Interdependenz von Grundrechtsdogmatik und Rechtsgewinnungstheorie, 1999, S. 328 ff., insbes. 349 ff. m. w. N. Zur Bedeutung im Verfassungsrecht siehe auch Hans-Peter Schneider, Der Wille des Verfassungsgebers: Zur Bedeutung genetischer und historischer Argumente für die Verfassungsinterpretation, in: FS Stern (1997), S. 903 ff. 137 Einige Nachweise zur Rechtsprechung bei Jestaedt (N 8), S. 319 in Fn. 88. 138 Buck (N 135), S. 148. Siehe auch speziell zu RiLi 2000 / 78 / EG Mohr (N 84), S. 75 ff.
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Norm zu erschließen, kommt den Erwägungsgründen besondere Bedeutung zu. Erwägungsgründe sind demnach nicht nur ein Aspekt historisch-genetischer Auslegung, sondern gleichzeitig eine Brücke zur teleologischen Auslegung von Sekundärrechtsakten139. Mit der Verabschiedung einer Richtlinie werden die Erwägungsgründe deren integraler normativer Bestandteil140. Erwägungsgründe werden nicht zu Unrecht mit Präambeln deutscher Gesetze verglichen, aus denen sich Wille und Gesetzesintentionen des Gesetzgebers ergeben141. „Das macht sie zu einem Auslegungsmittel von besonderem Rang hinsichtlich der Beweggründe, die zum Erlaß der Richtlinie geführt haben, als auch hinsichtlich der mit ihr verfolgten Ziele“142. Mit der formalen Bedeutung der Erwägungsgründe als eines Bestandteiles der Richtlinie ist noch keine Feststellung verbunden, welche rechtliche Bedeutung und Wirkmächtigkeit den einzelnen Gründen zukommt bzw. zukommen kann. Sind sie nur Auslegungsinstrument oder selbst Rechtsquelle? Wie bei einer Präambel wird sich dies nicht zwangsläufig einheitlich feststellen lassen143. Nicht jedem Erwägungsgrund muß Rechtsatzqualität zukommen. Genausowenig läßt sich a priori jedem Erwägungsgrund die rechtliche Bedeutung absprechen. Im nicht immer übersichtlichen Gehege der Erwägungsgründe werden sich normative Hierarchien, Wertigkeiten und Abstufungen ermitteln lassen. Der rechtliche Gehalt muß im Einzelfall ermittelt werden. Erwägungsgründe können rechtliche Feststellungen genauso enthalten wie Rechtswahrungen oder andere rechtliche Be139 Nicht ohne Grund wird der Erwägungsgrund Nr. 24 im Rahmen der teleologischen Auslegung von Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG herangezogen von Joussen (N 3), S. 37. 140 Dederichs (N 135), S. 115; Lutter (N 132), S. 600. 141 Siehe nur Dederichs, ebd. 142 So Lutter (N 132), S. 600. 143 So zur Präambel des Grundgesetzes Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 97.
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wertungen. Den Erwägungsgründen wird gerade hinsichtlich des europäischen Antidiskriminierungsrechts eine nicht unerhebliche positivrechtliche Relativierungs- bzw. Relationierungsfunktion zugesprochen144. Ohne an dieser Stelle abschließend entscheiden zu müssen, ob dem Erwägungsgrund Nr. 24 der Richtlinie 2000 / 78 / EG selbst Rechtssatzqualität zukommt, kann doch festgehalten werden, daß der Richtliniengeber sich nicht über das Staatskirchenrecht europäischer Mitgliedsstaaten erheben wollte, sondern diesbezüglich eine Selbstbindung formulierte. Dieser kann auch bei Auslegungsproblemen von Richtlinienbestimmungen dirigierende Kraft zukommen145. Nicht nur bei der Auslegung der Richtlinie 2000 / 78 / EG ist der Erwägungsgrund 24 von Bedeutung, sondern er ist Grund dafür, daß eine Ausnahmebestimmung wie Art. 4 Abs. 2 RiLi vorgesehen ist. Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG wird weniger als aktiv-gestaltend qualifiziert, denn als passivbewahrend146. Bestehende nationale staatskirchenrechtliche Besonderheiten des kirchlichen Arbeitsrechts werden im Grundsatz für berücksichtigungsfähig erklärt, und ihnen soll europarechtlich eine Bestandsoption vermittelt werden. Darin kommt die relativierende bzw. relationierende Kraft des Erwägungsgrundes Nr. 24 zum Ausdruck. Diesen ErwägungsJestaedt (N 8), S. 317 ff. m. w. N. Problematische Argumentation etwa bei Kehlen (N 3), S. 186 ff., der einerseits zu dem Ergebnis kommt, daß bei Umsetzung und Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe in Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG eine möglichst „kirchenschonende“ Auslegung zu erfolgen habe: „Im Zweifel dürfte deshalb im Rahmen von Abs. 2 pro Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung aus Gründen der Religion oder Weltanschauung zu entscheiden sein, sofern andernfalls eine nicht unerhebliche oder nachhaltige Beeinträchtigung des Status der jeweiligen Organisation zu befürchten ist“ (S. 188; Hervorhebungen im Original). Im weiteren versucht Kehlen andererseits die Bedeutung der Kirchenerklärung wieder zu relativieren und die kirchenschonende Auslegung auf die Tätigkeiten zu beschränken, in denen Religion oder Weltanschauung tatsächlich vorausgesetzt würde. 146 In diesem Sinn Triebel (N 3), S. 140 f. 144 145
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grund bloß als erläuternde Gesetzesmaterialie zu behandeln, hieße den normativen Gehalt dieses Erwägungsgrundes zu verkennen. Ebensowenig ist die Annahme haltbar, daß Ausnahmebestimmungen eng auszulegen seien147. Ausnahmevorschriften sind nicht einfachhin eng auszulegen, sondern entsprechend ihrer Funktion. Dazu gibt der Erwägungsgrund Nr. 24 für das kirchliche Arbeitsrecht rechtserhebliche Fingerzeige, die bei der Auslegung der Richtlinie und ihrer mitgliedstaatlichen Umsetzung zu beachten sind.
IV. Auswirkungen der Differenzierungsoption nach Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG Vermittelt der Erwägungsgrund Nr. 24 nach hier vertretener Auffassung bestehenden arbeitsrechtlichen Besonderheiten der Kirchen eine Bestandsoption, so ist im einzelnen zu prüfen, ob und inwieweit sich dies auch im Richtlinientext widerspiegelt oder wo ggfs. der Normtext im Lichte des Erwägungsgrundes relativierend auszulegen ist. Eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung stellt nach Art. 4 Abs. 2 erster Unterabschnitt Satz 1 RiLi 2000 / 78 / EG für Kirchen und andere öffentliche oder private Organisationen, deren Ethos auf religiösen oder weltanschaulichen Grundlagen beruht, nur dann keine Diskriminierung dar, wenn die Religion oder Weltanschauung dieser bediensteten Person nach der Art ihrer Tätigkeit oder der Umstände deren Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt, die durch das Ethos dieser Organisation gefordert ist.
147 Zur Problematik Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessensjurisprudenz, abgedruckt in: Das Problem der Rechtsgewinnung – Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz – Begriffsbildung und Interessensjurisprudenz, redigiert von R. Dubischar, 1968, S. 46 (113 f.).
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1. Kirchenzugehörigkeit als Einstellungsvoraussetzung Für die Kirche wie die ihr zuzurechnenden Organisationen („kirchliche Satelliten“) ist es prinzipiell von großem Interesse, bei der Einstellung von Beschäftigten nach deren Religionszugehörigkeit zu differenzieren und Kirchenangehörige zu bevorzugen. Bei rein wirtschaftlichen kirchlichen Unternehmungen wie etwa Klosterbrauereien oder aus kirchlichen Krankenhäusern ausgegliederten „Service-GmbHs“ kommt aber schon jetzt kirchliches Arbeitsrecht nicht zum Tragen, da bei diesen Unternehmungen der kommerzielle Charakter im Vordergrund steht und nicht das kirchliche Proprium148. In diesen Fällen kann der europarechtliche Antidiskriminierungsschutz durchgreifen, ohne daß die kirchliche Trägerschaft des wirtschaftsorientierten Unternehmens von Bedeutung wäre. Ebenso soll die Ausnahmeregelung des Art. 4 Abs. 2 nicht die Bereiche der beruflichen Aus- und Weiterbildung umfassen149, ein Aspekt, der etwa bei der Auswahl von Auszubildenden im Bereich der Altenpflege von Bedeutung sein kann150, da es gerade in diesem Sektor eine große Anzahl kirchlich-karitativer Einrichtungen gibt151. Im übrigen gelten die europarechtlichen Anforderungen an eine Ungleichbehandlung wegen der Religion als Zugangsund Beschäftigungsbedingung als sehr hoch152. Die Differenzierung nach der Religionszugehörigkeit bei der Einstellung sei nur dann gerechtfertigt, wenn sie angesichts des Organisationsethos nach Art der Tätigkeit und der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte Vgl. Reichold (N 3), S. 1050. Vgl. Triebel (N 3), S. 137; Kehlen (N 3), S. 164 f., 174 ff. 150 Nach § 13 Abs. 1 BAltPflG schließt der Schüler mit dem Träger der praktischen Ausbildung – also den Altenheimen oder ambulanten Diensten (§ 4 Abs. 3 BAltPflG) – einen Ausbildungsvertrag. Wirksam wird der Ausbildungsvertrag, wenn die Altenpflegeschule ihre Zustimmung erteilt (§ 13 Abs. 6 BAltPflG). 151 Ebenso fallen nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie die Aufnahme in kirchliche Kindergärten und Schulen; vgl. nur Kehlen (N 3), S. 168. 152 Schliemann, Kooperation oder Konfrontation (N 75), S. 32. 148 149
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Anforderung darstellt. Was hierunter genau zu verstehen ist und wer ggfs. darüber entscheidet, ist die Frage. Die inhaltliche Trias einer wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten Anforderung sowie die Bezugnahme auf die Art der Tätigkeit und die Umstände ihrer Ausübung provoziert die Vermutung, daß die Ausnahme des Art. 4 Abs. 2 so eng wie möglich auszulegen und dem Antidiskriminierungskonzept demgegenüber zur höchsten Erreichbarkeit zu verhelfen sei153. Dies könnte dann zur Folge haben, daß die Kirchenzugehörigkeit nur bei bestimmten Laien154, die etwa als Mesner / Küster oder Religionslehrer im kirchlichen Dienst stehen, verlangt werden könnte, weil sie unmittelbar in der Verkündigung des Glaubens oder an der Feier des Gottesdienstes mitwirken. Lehrer mit anderer Fächerkombination, die Sekretärin in einem Pfarrbüro oder die Pflegekraft in einer kirchlichen Sozialeinrichtung unterfielen nicht Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG, weil ihre Tätigkeiten ebensogut von Menschen ausgeübt werden können, die kirchlich ungebunden sind. Für Nichtkirchenangehörige unzugänglich wären wohl die wenigsten Tätigkeitsbereiche, zumal dann, wenn die Geistlichen aus dem Anwendungsbereich der Antidiskriminierungsrichtlinie völlig herausgenommen werden. Eine derart enge Umschreibung des Anwendungsbereiches würde Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG ins Leere laufen lassen, weil die meisten Tätigkeiten im kirchlichen Bereich – insbesondere im beschäftigungsintensiven karitativ-diakonischen Bereich – so beschaffen sind, daß sie auch ohne kirchliche oder mit anderer religiöser Zugehörigkeit ausgeübt werden könnten. Eine solche Auslegung würde der rechtlichen Bedeutung des Erwägungsgrundes Nr. 24 nicht gerecht155. 153 Tendenziell in diese Richtung etwa Kehlen (N 3), S. 179 f., der davon spricht, daß Art. 4 Abs. 2 keine „Generalabsolution“ (179) für das religionsgemeinschaftliche Selbstverständnis erteilen wolle. Ihm folgend Triebel (N 3), S. 144, 157. 154 Zu den Klerikern (Priester, aber auch Ständige Diakone) für den katholischen Bereich siehe oben unter C. II. 155 Vgl. Joussen (N 3), S. 37.
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Problematisch ist ebenfalls die Auffassung, daß die kirchlichen Einrichtungen immer gehalten sind, für die gleiche (oder eine vergleichbare) Tätigkeit Konfessionsangehörige als Beschäftigte einzustellen, und daß sie niemals auf Angehörige anderer Konfessionen oder Religionen zurückgreifen dürfen. Nichtkirchenangehörige vom kirchlichen Dienst auszuschließen ist genauso lebensfremd wie die Aufstellung eines Grundsatzes, daß die Besetzung einer Stelle mit einem Konfessionsfremden oder einem Nichtchristen innerhalb einer Einrichtung zwangsläufig dazu führen müsse, daß bei sämtlichen anderen Stellen mit gleicher oder vergleichbarer Funktion die Religionszugehörigkeit nicht mehr zu einem Einstellungskriterium gemacht werden könne156. Ähnliche Probleme sind mit den Ansichten verbunden, die versuchen, für die Religion als Differenzierungskriterium typisierende Tätigkeitsgruppen zu bilden, und etwa darauf abstellen, ob die konkreten Tätigkeiten im Bereich der Ethosvermittlung liegen oder ihre „Auskunftsfähigkeit in religiösen Fragen“ nicht von untergeordneter Bedeutung ist157. Eine solche Typisierung mag heuristische Funktion besitzen und nicht gänzlich inadäquat sein. Sie trägt aber Klassifikationen von außen an den kirchlichen Bereich heran, die das organisatorische Eigenverständnis gefährden könnten. Dem steht sogar der Wortlaut des Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG entgegen, der die Wesentlichkeit der Ungleichbehandlung wegen der Religion davon abhängig machen will, daß sie für die Einrichtung notwendig und nicht bloß nützlich ist158. Ein Umstand, der sich letztlich nicht objektiv, von außen her ermitteln läßt, sondern sich nur aus dem Organisationsverständnis der konkreten Einrichtung und der „hinter“ ihr stehenden Kirche Dies intendiert wohl Budde (N 3), S. 358. Leitfrage wäre: „Gibt es einen kirchlichen Dienst, der nicht durch das religiöse Ethos geprägt ist?“ So Hanau / Thüsing (N 3), S. 33; ihnen folgend Joussen (N 3), S. 36. 158 So die Interpretation der „Wesentlichkeit“ bei Triebel (N 3), S. 146, 161. Demgegenüber will etwa Schliemann eine Bestimmungskompetenz Dritter hierüber nicht a priori ausschließen, ders. (N 3), S. 411. 156 157
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ergibt. In diesem Sinne mag dann das Ethos der Organisation als Bezugspunkt sämtlicher in Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG genannten Aspekte nicht nur als unklar und rechtlich zusammenhangslos159 interpretiert werden, sondern als normativer Anker dafür, daß iudex omnium das Selbstverständnis der jeweiligen kirchlichen Einrichtung ist160. Die zuständigen kirchlichen Autoritäten haben darüber zu befinden, ob es Aufgabe und Zweck eines konkreten Funktions- oder Tätigkeitsbereichs ist, ein Stück des kirchlichen Auftrags in der Welt wahrzunehmen und zu erfüllen161. In der Konsequenz bedeutet dies, daß die Richtlinie 2000 / 78 / EG das Leitbild der christlichen Dienstgemeinschaft zuläßt. Da dieses Leitbild die Gesamtheit aller Mitarbeiter umfaßt, ist eine Ungleichbehandlung wegen der Religion nicht nur bei leitenden Tätigkeiten oder Funktionen zulässig, die unmittelbar oder überwiegend religiösen Zwecken dienen162. Dies läßt sich von außen weder objektiv bestimmen noch nach Rand- und Kernbereichen differenzieren163. Welche Tätigkeiten zum kirchlichen Auftrag gehören und ob die Einrichtungen ggfs. hinsichtlich der Kirchen- oder Religionszugehörigkeit differenzieren dürfen, kann sich nur aus dem kirchlichen Selbstverständnis ergeben. Kirchliche Einrichtungen werden in der Regel Kirchenangehörige einstellen wollen, um ihr institutionell-religiöses Proprium zu wahren, personal abzubilden und das Leitbild der christlichen Dienstgemeinschaft nicht allein als decorum nobile institutionellen Bestandschutzes zu betrachten164. Vgl. Triebel (N 3), S. 161. Dazu näher Germann / de Wall (N 3), S. 575; ebenso Rüfner (N 3), unter III.1.; siehe auch Triebel (N 3), S. 162; Reichold (N 3), S. 1060. 161 So die Formulierung in BVerfGE 70, 138 (162). 162 So der einschränkende Text des Richtlinienentwurfs der Kommission vom 25. November 1999; zur Entstehungsgeschichte in diesem Punkt siehe etwa Triebel (N 3), S. 164 f. 163 Anders aber Triebel (N 3), S. 168, der das Organisationsethos hinter der Zielsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie zurücktreten lassen will, wenn die Tätigkeit als neutral, untergeordnet oder zum Randbereich zählend angesehen werden kann. 159 160
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Soweit sie sich aber nicht a priori der Option begeben können (und wollen), in besonderen Situationen Angehörige anderer Kirchen oder Religionen einstellen zu dürfen, müssen die Kirchen bzw. ihre Einrichtungen – wie gesagt – der Gefahr begegnen, bei bestimmten Tätigkeiten „wahllos“ Religionsund Konfessionsfremde neben Konfessionsangehörigen zu beschäftigen165. Ohne eine institutionelle Selbstvergewisserung und gewisse Selbstbindung – wie sie etwa in den Grundordnungen der evangelischen und katholischen Kirche getroffen worden ist – kann sonst nicht mehr dargestellt werden, daß und wann eine Religionszugehörigkeit dem Ethos einer Einrichtung nach für eine bestimmte Tätigkeit wesentlich ist166. 2. Kirchliche Berechtigung zur Festlegung von Verhaltensanforderungen Art. 4 Abs. 2 zweiter Unterabschnitt RiLi 2000 / 78 / EG gibt den Kirchen und Religionsgemeinschaften das Recht, dienstliche und außerdienstliche Verhaltensanforderungen festzulegen. Es kann von den Mitarbeitern verlangt werden, daß sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten. Europarechtlich wird dabei keine Abstufung nach der funktionellen Nähe oder Ferne zu einem kirchlichen bzw. religionsgemeinschaftlichen Auftrag gefordert. Eine Differenzierung zwischen einzelnen Gruppen von Dienstnehmern ist nicht ausgeschlossen, wenn diese von den Kirchen getroffen wird, europarechtlich geboten ist sie aber nicht. Diese allgemein gehaltene Regelung scheint die für die Bundesrepublik Deutschland anerkannten besonderen Loyalitätsobliegenheiten im kirchlichen Dienst abzudecken. Das durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannte Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, an Zu Recht mahnende Worte dazu bei Schliemann (N 3), S. 413, 414 f. Auf diese Gefahr weisen hin Germann / de Wall (N 3), S. 577; ihnen folgend Rüfner (N 3), III.1. 166 Germann / de Wall, ebd. 164 165
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das dienstliche und außerdienstliche Verhalten ihrer Dienstnehmer besondere Anforderungen zu stellen, wird als mitgliedstaatliches Recht ausdrücklich in Art. 4 Abs. 2 zweiter Unterabschnitt RiLi 2000 / 78 / EG transportiert und deklaratorisch festgeschrieben. Katholische wie evangelische Kirche haben im einzelnen rechtliche Regelungen zu den Anforderungen an die Loyalitätspflichten erlassen, aus denen sich die konkreten Verhaltensanforderungen ergeben. Den Kirchen und Religionsgemeinschaften kommt nach innerstaatlichem Recht, das durch das Europäische Recht anerkannt wird, eine Befugnis zu, die anderen Arbeitgebern nicht zugestanden wird. Die von der Kirche einforderbaren Loyalitätspflichten gehen über den herkömmlichen Tendenzschutz hinaus. Da es letztlich um die Glaubwürdigkeit einer kirchlichen Einrichtung geht, die auf der Dienstgemeinschaft aller Beschäftigten beruht, läßt sich das Ethos einer Organisation nicht schlechterdings mit einem sog. Tendenzbetrieb gleichsetzen167. Loyalitätsabstufungen können nicht von außen den kirchlichen Dienstgebern auferlegt werden. Bis an die Grenze des Mißbrauchs können die kirchlichen Dienstgeber autonom darüber disponieren. In diesem weiten Rahmen sind sie aber gehalten, sich konsistent und folgerichtig zu verhalten. Für diese Konsistenz und Konsequenz der Praxis haben die innerkirchlichen Bestimmungen über die Verhaltensanforderungen Sorge zu tragen. 3. Die Diskriminierung aus anderen Gründen und das kirchliche Arbeitsrecht Die Ungleichbehandlung wegen der Religion nach Art. 4 Abs. 2 erster Unterabschnitt und die Möglichkeit, besondere Loyalitätsobliegenheiten zu schaffen, werden durch zwei „etwas dunkle Klauseln“168 in der Richtlinie 2000 / 78 / EG 167 Vgl. Link (N 3), S. 688; im Ergebnis wohl auch Kehlen (N 3), S. 198; siehe weiter Triebel (N 3), S. 173. 168 Rüfner (N 3), unter Pkt. IV.
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wieder eingeschränkt. Die Ungleichbehandlung wegen der Religion rechtfertigt danach keine Diskriminierung aus einem anderen Grund, und die Festlegungsoption besonderer Loyalitätsanforderungen ist davon abhängig, daß die Regelungen der Richtlinie im übrigen eingehalten werden. a) Benachteiligung wegen der Religion und andere Diskriminierungstatbestände Die Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung rechtfertigt nicht eine Diskriminierung aus anderen in der RiLi 2000 / 78 / EG genannten Gründen. Während Benachteiligungen wegen der Rasse, des Alters oder der Behinderung für kirchliche Institutionen eher unproblematisch sind169, könnte dies hinsichtlich des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung ein größeres Problem bedeuten. Dies könnte zur Folge haben, daß die Diskriminierung wegen des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung entweder selbständig gerechtfertigt werden müßte170 – etwa über Art. 4 Abs. 1 RiLi 2000 / 78 / EG171 – oder daß danach differenziert wird, ob die Ungleichbehandlung einen religiös motivierten Bezug aufweist oder nicht172. Eine nicht religiös begründbare und motivierte Ungleichbehandlung wäre sicherlich nur unter den sehr eingeschränkten Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 1 RiLi 2000 / 78 / EG zulässig. Wie sieht es in den Fällen aus, in denen z. B. einem homosexuellen Pastoralreferenten, Küster oder Hausmeister gekündigt werden soll, wenn es sich jeweils um einen Katholiken handelt173? Die Fälle ließen sich unter Art. 4 Abs. 2 erster Vgl. Hanau / Thüsing (N 3), S. 34. In diesem Sinne wohl Rüfner (N 3), IV. 1. unter Hinweis auf Hanau / Thüsing (N 3), S. 35. 171 Dafür anscheinend Link (N 2), S. 415 f. 172 Auf die religiöse Motivation abstellend etwa Reichegger (N 3), S. 210 ff. 173 In Anlehnung an die drei Fallgestaltungen bei Reichegger (N 3), S. 213, wobei die von ihr gewählte Fallgestaltung eines homosexuellen 169 170
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Unterabschnitt RiLi 2000 / 78 / EG subsumieren, wenn man – wie etwa Mückl174 – die Ungleichbehandlung wegen der Religion weit auffaßt und wenn Religion nicht lediglich auf die Religionszugehörigkeit reduziert würde, sondern sich auch auf religionsbedingte Anforderungen jenseits der Mitgliedschaft erstreckte175. Dies hätte zur Folge, daß die Diskriminierung aus anderen Gründen teleologisch reduzierend ausgelegt würde und in den drei genannten Fällen eine Kündigung diskriminierungsrechtlich legitimierbar wäre. Selbst die Auffassung, die die Ungleichbehandlung wegen der Religion auf die Religionszugehörigkeit beschränkt, kommt in bemerkenswerter Weise zu dem gleichen Ergebnis, weil auch sie anerkennt, daß ein absoluter Vorrang des EU-Antidiskriminierungsrechts im Hinblick auf die anderen Diskriminierungsgründe Alter, Behinderung und sexuelle Identität keineswegs zwingend ist176. Die Unzulässigkeit einer Diskriminierung aus anderen Gründen hätte bei diesem für das kirchliche Arbeitsrecht bedeutsamen Punkt die Konsequenz, daß eine Kündigung wegen der sexuellen Orientierung – die immer auch ein Verstoß gegen die Loyalitätsobliegenheiten ist, weshalb sie genauso gut unter Art. 4 Abs. 2 zweiter Unterabschnitt RiLi 2000 / 78 / EG subsumierbar ist – aufgrund des EURechts letztlich nie zum Tragen käme und damit eine bis jetzt nach deutschem Recht zulässige Kündigung europarechtlich ausgehebelt würde177. Dieser Richtlinienwertung steht entgegen, daß sowohl die Ausnahmebestimmung des Art. 4 Abs. 2 katholischen Pfarrers oben abgewandelt wurde. Nach hier vertretener Auffassung unterfällt er nicht zwangsläufig unter den weiten Arbeitnehmerbegriff, siehe oben Fn. C. II. 174 Mückl, Europäisierung (N 9), S. 511 f. Als Möglichkeit ebenfalls angedeutet bei Joussen (N 3), S. 37, 38, da jede Verhaltensanforderung „mittelbar“ religiös sei. Siehe auch Kehlen (N 3), S. 195. 175 Das Merkmal der Ungleichbehandlung wegen der Religion auf die Religionszugehörigkeit beschränkend aber Reichegger (N 3), S. 213 f. 176 Reichegger (N 3), S. 214 ff. 177 Budde (N 3), S. 359, die sogar ein Ausweichen auf Art. 4 Abs. 1 RiLi 2000 / 78 / EG abschneiden will, weil die Religion den Hintergrund der Diskriminierung bilde.
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RiLi 2000 / 78 / EG als auch die einzelnen in der Richtlinie zum Ausdruck gelangenden normativen Wertungen nicht dazu führen sollen, die religiös bestimmten Ordnungsvorstellungen von Religionsgemeinschaften oder ihren Satelliten zu unterlaufen oder auszuhebeln. Ob dies dann im Wege einer Analogie zu Art. 4 Abs. 2 erster Unterabschnitt Satz 2 RiLi 2000 / 78 / EG rechtlich konstruiert wird oder durch eine „erwägungsgrundkonforme“ Auslegung des Art. 4 Abs. 1 RiLi 2000 / 78 / EG178, macht im Ergebnis keinen Unterschied. Ein weiteres Problem könnte beim Berufszugang u. a. das Differenzierungsmerkmal Geschlecht darstellen, das zwar nicht vom Regelungsgehalt der RiLi 2000 / 78 / EG umfaßt wird, aber doch in der RiLi 2002 / 73 / EG, die die Richtlinie 76 / 207 / EWG ändert, zum Ausdruck gelangt. Da nach Art. 4 Abs. 2 zweiter Unterabschnitt RiLi 2000 / 78 / EG nur allgemein auf die Diskriminierung aus einem anderen Grund abgestellt wird, könnte die Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts auch für kirchliche Dienstverhältnisse relevant werden. Mag das Verhältnis von Mann und Frau in der katholischen Kirche als besonderes Problem empfunden werden179, so ist es doch jenseits des Geistlichen Standes eine Scheinthematik, da Frauen schon seit längerem und zunehmend auch in führende kirchliche Positionen aufrücken, die von Laien wahrgenommen werden können. Der Ausschluß von Frauen vom katholischen (wie orthodoxen) Priesteramt ließe sich sachlich rechtfertigen und würde, schriebe die EU die Priesterin kraft europäischen Rechts vor, tief Dafür Reichegger (N 3), S. 215 f. Vgl. etwa die Beiträge in Theodor Schneider (Hrsg.), Mann und Frau – Grundproblem theologischer Anthropologie, 1989; insbes. Ilona Riedel-Spangenberger, Zwischen Rechtsschutz und Diskriminierung? Kanonistische Aspekte zur Rechtsstellung der Frau in der Kirche, ebd., S. 124 ff. m. w. N. Aus neuerer Zeit siehe nur Norbert Lüdecke, Recta collaboratio per veram aequalitatem: Kanonistische Bemerkungen zum Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, in: INTAMS review 10 (2004), S. 232 ff. m. w. N. 178 179
15 Isensee (Hrsg.)
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in den Gewährleistungsbereich korporativer Religionsfreiheit eingreifen180, da hier grundlegende religiös-theologische Lehren – eine Petitesse dabei, daß Frauen nach katholischem Kirchenrecht gar nicht gültig geweiht werden könnten! – tangiert wären181. b) Loyalitätsobliegenheiten und die Bestimmungen der Richtlinie 2000 / 78 / EG im übrigen Es könnte problematisch sein, daß Religionsgemeinschaften und ihre „Satelliten“ einerseits zwar besondere Verhaltensobliegenheiten gemäß ihres institutionellen Ethos verlangen, andererseits aber deren Einhaltung unter Umständen nicht einfordern können, weil Art. 4 Abs. 2 zweiter Unterabschnitt RiLi 2000 / 78 / EG all die Loyalitätsobliegenheiten wieder herausfiltert182, die Diskriminierungstatbestände sein können. Die Kündigung von Geschiedenen, die wieder heiraten, fällt beispielsweise aus dem Raster des europäischen Antidiskriminierungsrechts183, weil sie sich keiner Kategorie von Diskriminierungsverboten (Behinderung, Alter, sexueller Orientierung) zuordnen läßt. Es ist der unklaren Regelungsstruktur des Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG geschuldet, daß die sexuelle Orientierung der Beschäftigten von Kirchen wiederum bei der Verhaltensklausel184 des Art. 4 Abs. 2 zweiter Unterabschnitt von Bedeutung sein kann und nicht nur bei Art. 4 Abs. 2 erster Unterabschnitt. Anders als bei dem ersten Unterabschnitt geht es aber hier um die rechtliche Bedeutung dessen, was Vgl. Rüfner (N 3), IV.1. Zu den kirchenrechtlichen Aspekten siehe umfassend Norbert Lüdecke, Also doch ein Dogma? Fragen zum Verbindlichkeitsanspruch der Lehre über die Unmöglichkeit der Priesterweihe für Frauen aus kanonistischer Perspektive: eine Nachlese, in: Wolfgang Bock / Wolfgang Lienemann (Hrsg.), Frauenordination: Studien zu Kirchenrecht und Theologie, Bd. III, 2000, S. 41 ff. 182 Vgl. dazu Kehlen (N 3), S. 198. 183 Joussen (N 3), S. 38. 184 Reichegger (N 3), S. 216. 180 181
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unter der Einhaltung der Richtlinie „im übrigen“ verstanden wird185. Auch hier könnte es dazu kommen, daß die Verhaltensklausel nur insoweit zum Tragen kommt, als die Diskriminierungsverbote der Richtlinie im übrigen beachtet werden. Die sexuelle Orientierung käme bei der Anwendung des Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG nicht zum Zuge, sie würde aus dem Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie „herausgefiltert“ und müßte ggfs. über Art. 4 Abs. 1 gerechtfertigt werden186. Die Bestimmung könnte aber auch so ausgelegt werden, daß die Diskriminierungsverbote nur insoweit („im übrigen“) berücksichtigt werden müssen, als das Ethos der Religionsgemeinschaften nicht betroffen ist187. Kirchen und Religionsgemeinschaft könnten dann von ihren Mitarbeitern die Einhaltung besonderer Verhaltenspflichten fordern, die auf ihrem religiös-institutionellen Ethos beruhen, ohne daß dies durch andere Wertungen der Richtlinie unterlaufen werden könnte. Das „Richtlinien-Ethos“ würde demnach relativiert. Kirchliche Ordnungsvorstellungen über das Anforderungsprofil an ihre Mitarbeiter könnten sich auch dann durchsetzen, wenn es etwa um die sexuelle Orientierung ihrer Dienstnehmer geht. Dem institutionellen Ethos von Religionsgemeinschaften käme Vorrang vor den Richtlinienwertungen im übrigen zu. Hierfür spricht wiederum die Amsterdamer Kirchenerklärung, auf die im Erwägungsgrund Nr. 24 der RL 2000 / 78 / EG ausdrücklich Bezug genommen wird und die die Auslegung so dirigiert, daß überkommene nationale Regelungen des Verhältnisses von Staat und Kirche weitgehend unberührt bleiben sollen. Funktional soll Art. 4 Abs. 2 zweiter Unterabschnitt RiLi 2000 / 78 / EG gerade das am religiösen Selbst185 Dazu näher Rüfner (N 3), IV.2.; siehe weiterhin Reichegger (N 3), S. 216 ff. 186 Kehlen (N 3), S. 198; ebenso Heinig (N 108), S. 474 f. 187 Dafür vor allem Rüfner (N 3), IV.2. Siehe auch Reichegger (N 3), S. 221 f., die davon ausgeht, daß das Recht der Religionsgemeinschaften, von ihren Mitarbeitern loyales und aufrichtiges Verhalten fordern zu können, nur durch die dem Arbeitsnehmer zustehenden Gemeinschaftsgrundrechte beschränkt werde.
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verständnis einer Religionsgemeinschaft orientierte, verhaltensbedingte Arbeitsrecht ermöglichen188. Diese Option würde konterkariert, wenn in allen Fällen des Diskriminierungsrechts Moralvorstellungen von EU-Organen ein solches institutionelles Ethos von Religionsgemeinschaften unmöglich machen könnten. 4. Zwischenrésumé: Europarechtlicher Mindeststandard durch Richtlinie 2000 / 78 / EG? Soweit die Regelung des Art. 4 Abs. 2 RiLi 2000 / 78 / EG so gelesen wird, daß sie einen europäischen Mindeststandard189 oder eine Obergrenze190 umschreibt, so trifft dies nach der gewonnenen Auslegung und der hier vertretenen Auffassung nicht zu. Vielmehr muß die RiLi 2000 / 78 / EG kirchliche Besonderheiten nicht durch europarechtliche Nadelstiche zum Platzen bringen, sondern kann das bestehende Profil kirchlicher Arbeitgeber mit ihren spezifischen Anforderungen in ein europäisches Konzept integrieren. Daß dies die Zielsetzung ist, kommt nicht zuletzt im Erwägungsgrund Nr. 24 der Richtlinie zum Ausdruck.
V. Starre Kontinuität: Vom § 9 ADG-E 2005 zum § 9 AGG Wie Art. 4 Abs. 2 RL 2000 / 78 / EG normierte § 9 ADG-E eine Klausel für die unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung191. Sie ist mit einer nicht unwesentlichen Modifikation in den § 9 AGG übernommen Germann / de Wall (N 3), S. 576. Heinig (N 108), S. 475. 190 In diesem Sinne wohl Kehlen (N 3), S. 189. 191 Erste Einschätzungen dieser Norm bei Detlev Fey, Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes, in: ZMV 2005, S. 61 ff.; Schüller (N 3), S. 619 f. 188 189
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worden. Eine allgemeine Tendenzschutzklausel normiert § 8 AGG. Der deutsche Gesetzgeber wollte sich regelungstechnisch damit von Art. 4 RL 2000 / 78 / EG absetzen und zwei getrennte Normen schaffen. Wie schon die Bestimmung des § 9 ADG-E im Laufe der parlamentarischen Beratung Veränderungen erfuhr192, so akzentuiert § 9 Abs. 1 AGG das kirchliche Selbstbestimmungsrecht mehr als es noch im § 9 Abs. 1 ADG-E 2005193 geschah. All diese Veränderungen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens dienten der Verdeutlichung und sollten die Rechte der Religionsgemeinschaften und Kirchen klarer zum Ausdruck bringen194. Wie § 9 Abs. 2 RL 2000 / 78 / EG normiert § 9 AGG zwei Regelungskomplexe. § 9 Abs. 1 AGG regelt die unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften. Eine gerechtfertigte berufliche Anforderung bei einer Religionsgemeinschaft oder ihren Tochter- bzw. Enkeleinrichtungen unabhängig von deren Rechtsform stellt die Religionsangehörigkeit dann dar195, wenn sie nach der Art der Tätigkeit erforderlich ist. Die Erforderlichkeit ist unter Beachtung196 Dokumentiert in der Synopse in BT-Drs. 15 / 5717, S. 8. Die Bestimmung hat den Wortlaut: „Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung nach Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt“. Vgl. BT-Drs. 15 /5717, S. 8; BR-Drs. 445 / 05, S. 3. 194 Vgl. BT-Drs. 15 / 5717, S. 36. Weiter BT-Drs. 16 / 1780, S. 35. 195 Die Erstreckung auch auf die sog. kirchlichen Satelliten war in dem ursprünglichen Gesetzentwurf zum ADG in der 15. Wahlperiode ebenfalls nicht hinreichend vorgesehen und wurde erst in der letzten Fassung klargestellt. 196 In dem ursprünglichen Entwurf des ADG – BT-Drs. 15 / 4583 – hieß es noch nicht unter Beachtung des Selbstverständnisses, sondern lediglich „angesichts des Selbstverständnisses“. 192 193
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des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht197 zu ermitteln. Das Beachten wäre mißverstanden, wenn der Gesetzgeber oder staatliche Gerichte ihre Einschätzungen an die Stelle des Selbstverständnisses von Kirchen oder Religionsgemeinschaften setzen könnten, da dies dem Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität zuwiderliefe. Der Gesetzestext spricht nämlich nicht von einem bloßen Berücksichtigen198, sondern ordnet mit dem Terminus „beachten“ den Interpretationsprimat der betroffenen Kirche oder Religionsgemeinschaft an. Bereits die Klausel nach § 9 Abs. 1 ADG-E sollte verdeutlichen, „dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum kirchlichen Arbeitsrecht zur Differenzierung aufgrund der Religionszugehörigkeit durch das Gesetz nicht berührt wird“199. Daß diese die nationalstaatlichen Besonderheiten des Verhältnisses von Staat und Kirche berücksichtigende Umsetzungsoption gerade durch den Erwägungsgrund 24 zur RL 2000 / 78 / EG europarechtlich im oben genannten Sinne200 abgesichert wird, wird in der Gesetzesbegründung zum AGG deutlicher hervorgehoben als in den Begründungen zum ADG-E201. Die europarechtlich ermöglichte und gesetzlich eingeräumte Differenzierungsoption des § 9 Abs. 1 AGG bedeutet nicht, daß die Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit völlig in das religionsgemeinschaftliche Belieben gestellt würde. Wie bisher ist sie aber zulässig und kann nur im Rahmen der staatlichen Rechtsschutzverantwortung auf bestimmte Mindestanforde197 Dieser – präzisierende – Zusatz erfolgte erst im AGG; vgl. BT-Drs. 16 / 1780, S. 35. 198 So aber § 1 Abs. 6 Ziff. 6 BauGB. Zu dessen verfassungsrechtlichen Implikationen und der Reichweite dieses autonomen Bedarffeststellungsrechts näher Werner Hoppe, Das bauplanungsrechtliche Kirchenprivileg – ein Regelungsmodell?, in: Festschrift zum 65. Geburtstag und zur Emeritierung von Professor Dr. Hans Kiefner, 1994, S. 159 ff. 199 BT-Drs. 15 / 5717, S. 36. 200 C. II. , III und IV., insbes. C. IV. 3. 201 Vgl. BT-Drs. 16 / 1780, S. 35.
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rungen wie dem Willkürverbot, den guten Sitten und dem ordre public hin überprüft werden, wobei auch dies immer wieder im Lichte des kirchlichen Selbstbestimmungsrechtes zu erfolgen hat, was § 9 Abs. 1 AGG deutlicher als § 9 Abs. 1 ADG-E 2005 klarstellt. Eine wertende Stufung kann den Kirchen oder Religionsgemeinschaften nicht von außen oktroyiert werden; sie können aber im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts bis zu den genannten Mißbrauchsgrenzen darüber disponieren und eigene Wertigkeitsentscheidungen treffen. § 9 Abs. 2 AGG verbürgt die Möglichkeit, für den Dienst bei Religionsgemeinschaften oder den ihnen zugeordneten Einrichtungen von den Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne des religionsgemeinschaftlichen Selbstverständnisses zu verlangen. Der deutsche Gesetzgeber ersetzte die europarechtliche Formulierung „im Sinne des Ethos der Organisation“ durch die dem deutschen Staatskirchenrecht und kirchlichen Selbstbestimmungsrecht mehr entsprechende Formel vom Selbstverständnis. Die Bestimmung § 9 AGG wiederholt nicht einfach den Richtlinientext, sondern adaptiert ihn auf die deutsche staatskirchenrechtliche Lage und nimmt deutlicher Bezug auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht202. § 9 AGG bewegt sich in den bewährten Bahnen und nutzt den durch die RL 2000 / 78 / EG eingeräumten Spielraum, dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht bei der Umsetzung des arbeitsrechtlichen Diskriminierungsverbots zur Wirksamkeit zu verhelfen.
202 Vgl. zu diesem Monitum und Petitum hinsichtlich des ADG-E etwa Rüfner (N 3), V. Im Ergebnis so auch die in N 191 genannten Stellungnahmen.
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D. Kirche und zivilrechtliches Benachteiligungsverbot nach §§ 19, 20 AGG: eine überobligationsmäßige Richtlinienumsetzung? Der ADG-E 2005 beabsichtigte eine umfassende Regelung zu einem zivilrechtlichen Diskriminierungsverbot, das über die Verpflichtungen der Richtlinie 2000 / 43 / EG weit hinausgeht. Dieser Intention folgt auch das AGG. Das AGG sieht in seinem dritten Abschnitt Regelungen zum Schutz vor Benachteiligung im Zivilrecht vor, die neben die Diskriminierungsverbote des BGB treten203. Letztlich ist im zivilrechtlichen Teil des AGG keine uneingeschränkte Regelung erfolgt, die bei sämtlichen Schuldverhältnissen ein Benachteiligungsverbot wegen der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität installiert. Das AGG verfolgt wie schon der ADG-E 2005 einen differenzierten Ansatz204, der familien- und erbrechtliche Fragen ebenso aus seinem Anwendungsbereich herausnimmt205 wie die Sachverhalte, die auf einem besonderen Nähe- oder Vertrauensverhältnis der Parteien oder deren Angehörigen beruhen206. Der Entwurf beschränkt sich zivilrechtlich zudem nur auf sog. Massengeschäfte und Schuldverhältnisse, die eine privatrechtliche Versicherung zum Gegenstand haben. Lediglich bei der Diskriminierung wegen der Rasse oder ethnischen Herkunft besitzt er einen über § 19 Abs. 1 hinausgehenden Anwendungsbereich. Das Gesetz geht über 203 Näher Jens C. Dammann, Die Grenzen zulässiger Diskriminierung im allgemeinen Zivilrecht, 2005, S. 22 f., 344. 204 Dammann (N 203), S. 345. 205 § 19 Abs. 4 AGG: „Die Vorschriften finden keine Anwendung auf familien- und erbrechtliche Schuldverhältnisse“. 206 § 19 Abs. 5 AGG: „Die Vorschriften dieses Abschnitts finden keine Anwendung auf zivilrechtliche Schuldverhältnisse, bei denen ein besonderes Nähe- oder Vertrauensverhältnis der Parteien oder ihrer Angehörigen begründet wird. Bei Mietverhältnissen kann dies insbesondere der Fall sein, wenn die Parteien oder ihre Angehörigen Wohnraum auf demselben Grundstück nutzen“.
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die Vorgaben des Europarechts hinaus, weil europarechtlich für das Zivilrecht lediglich eine Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft zu verhindern oder zu beseitigen ist. Ein zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz wegen der Religion, des Alters, einer Behinderung und der sexuellen Identität bei sog. Massengeschäften u.ä. ist europarechtlich nicht vorgegeben. Bemerkenswert ist, daß der Gesetzgeber zuletzt noch die Benachteiligung wegen der Weltanschauung aus § 19 Abs. 1 AGG gestrichen hat207. Der dritte Abschnitt des AGG könnte kirchliche Interessen in verschiedener Hinsicht berühren. Es könnte ein nationales Antidiskriminierungsrecht bzw. Gleichbehandlungsrecht entstehen, das kirchlichen Trägern von Liegenschaften (z. B. kirchlichen Siedlungswerken, Kirchengemeinden) untersagt, nach kirchenspezifischen Zielsetzungen Wohnungen, Grundstücke oder Erbbaurechte zu vergeben, weil beispielsweise eine Bevorzugung konfessionseigener Familien eine Diskriminierung wegen der Religion darstellte. Voraussetzung dafür wäre, das sich um ein Massengeschäft handelte und gesetzlich keine Ausnahme zugelassen würde, die die Bevorzugung Konfessionsangehöriger legitimiert. Ebenso sind Ungleichbehandlungen denkbar, die nicht an die Religion eines Vertragspartners anknüpfen, aber doch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht tangieren. Es ist für eine katholische Kirchengemeinde beispielsweise ein Problem, das Pfarrheim für die Feier zur Begründung einer Lebenspartnerschaft zur Verfügung zu stellen208. Das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot des AGG trifft die Kirchen als Anbieter209 von Leistungen nur, wenn es sich Vgl. BR-Drs. 466 / 06, S. 2. Eine solche Fallkonstellation lag dem Urteil des AG Neuss, NJW 2003, S. 3785 ff., zugrunde. Zu dieser i. E. problematischen Entscheidung siehe die zu Recht kritische Würdigung von Stephan Liermann, Die Begriffe „Ehe“, „Heirat“, „Hochzeit“ und „Vermählung“ im Vertragsrecht des täglichen Lebens, in: NJW 2003, S. 3741 ff. 209 Zur Person des „Diskriminierers“ näher Dammann (N 203), S. 349. 207 208
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um ein sog. Massengeschäft handelt210. Weder bei der Vermietung von Wohnungen durch ein kirchliches Siedlungswerk noch bei der Pfarrsaalvermietung einer Kirchengemeinde zu Feierzwecken ist es völlig ausgeschlossen, daß es sich um ein Massengeschäft i. S. des § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG handelt, da für eine Vielzahl von Fällen im Sinne dieser Vorschrift schon drei bis fünf Fälle genügen sollen211. Gegen ein Massengeschäft könnte sprechen, daß z. B. die Vermietung eines Pfarrsaales oder einer Wohnung innerhalb einer kirchlichen Liegenschaft nie ohne Ansehen der Person zustande kommt. Normativer Bezugspunkt ist aber nicht die konkrete Vermietung eines bestimmten – kirchlichen – Anbieters, sondern der typische Vermieter von Wohnungen oder Sälen für Festivitäten bzw. das diesen zugrundeliegende typische Schuldrechtsverhältnis. Letzte Klarheit zu den einzelnen Aspekten des Massengeschäfts ließ sich schon zum ADG-E 2005 nicht finden. Für das AGG gilt momentan noch entsprechendes. Es ist jedenfalls eine Vielzahl von Fällen denkbar, die zivilrechtliche Geschäfte von Kirchen und Religionsgemeinschaften tangieren könnten. Bei der Vermietung von Wohnraum gestattet § 19 Abs. 3 AGG die unterschiedliche Behandlung aber im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohner- und ausgewogener Siedlungsstrukturen sowie ausgeglichener sozialer und kultureller Verhältnisse212. Diese von Gesetzes wegen eröffnete Differenzierungsoption könnte auch kirchlichen Anbietern zugute kommen, ohne aber im engeren Sinne kirchliche Spezifika in besonderer Weise abzusichern. Dies erfolgt gesetzgebungstechnisch auf andere Weise. Eine Ungleichbehandlung sieht § 20 Abs. 1 AGG bei den Massengeschäften als zulässig an, wenn ein sachlicher Grund Ausführlich dazu Dammann (N 203), S. 346 ff. m. w. N. So die Interpretation von Dammann (N 203), S. 348, der hierbei auf die Rspr. zu § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB zurückgreift. 212 Während § 19 Abs. 3 AGG-E in der Fassung vom Juni 2006 hier noch – wie die entsprechende Bestimmung im ADG-E 2005 – lediglich als Kann-Bestimmung konzipiert war, regelt § 19 Abs. 3 AGG jetzt, daß eine Benachteiligung unter den genannten Voraussetzungen zulässig ist. 210 211
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gegeben ist. In § 20 AGG werden regelbeispielhaft einige Konstellationen besonders hervorgehoben. § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AGG sieht eine besondere Klausel für den Sachbereich Religion vor213. Danach ist eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt, die „an die Religion eines Menschen anknüpft und im Hinblick auf die Ausübung der Religionsfreiheit oder auf das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, der ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform sowie der Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion zur Aufgabe machen, unter Beachtung des jeweiligen Selbstverständnisses gerechtfertigt ist“. Zwischen den Regelungsgedanken in § 20 Satz 1 und in Satz 2 Nr. 4 AGG besteht ein Konflikt. Während § 20 Abs. 1 Satz 1 AGG für sämtliche214 Diskriminierungstatbestände des Gesetzes bei zivilrechtlichen Konstellationen die Option für eine sachlich gerechtfertigte Ungleichbehandlung legt, wird mit § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AGG anscheinend eine Reduktion sachlicher Rechtfertigung im Sachbereich Religion vorgenommen. Zulässig ist nur eine Ungleichbehandlung, die an die Religion anknüpft. Im Fall des kirchlichen Siedlungswerkes oder einer Altenpflegeeinrichtung könnte eine Bevorzugung von Kirchenangehörigen nach dieser Norm gerechtfertigt werden, zumal die Neufassung in § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AGG sich – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – auch auf die „kirchlichen Satelliten“ (unabhängig von ihrer Rechtsform) erstreckt, die insbe213 Der Sachbereich Weltanschauung ist nunmehr herausgenommen worden, nicht zuletzt deshalb, um weltanschaulich problematischen Gruppierungen kein besonderes, zusätzliches Instrumentarium zur Verfolgung ihrer Ziele an die Hand zu geben. Ein Aspekt, der die ganze Ambivalenz des Antidiskriminierungs- bzw. Gleichbehandlungsrechts einmal mehr verdeutlicht. 214 In der Eile des Gesetzgebungsverfahrens wurde sogar die Streichung des Merkmals Weltanschauung in § 20 Abs. 1 Satz 1 AGG vergessen; eine erste Änderung zur Beseitigung dieser und anderer Unstimmigkeiten ist aber schon zeitnah in Aussicht gestellt worden. Vgl. unter dem Titel „Redaktionelle Ungenauigkeiten“ den Bericht in: FAZ – Nr. 178 – vom 3. August 2006, S. 1.
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sondere im karitativ-diakonischen Bereich tätig sind. Problematisch wäre aber der Fall, daß ein Pfarrsaal nicht zur Feier einer Lebenspartnerschaft zur Verfügung gestellt wird. Hier wird nicht zwangsläufig an die Religion oder Weltanschauung angeknüpft, sondern an die sexuelle Identität der potentiellen Nutzer der kirchlichen Einrichtung. Vorausgesetzt, es handelte sich hierbei um ein Massengeschäft im Sinne des AGG, wäre die Kirchengemeinde unter Umständen dem diskriminierungsrechtlichen Sanktionsregime nach § 21 AGG ausgesetzt mit der möglichen Folge eines Vertragsschlusses als Naturalrestitution o. ä. Dies wäre ein erheblicher Eingriff nicht nur in die Vertragsschlußfreiheit der Kirche, sondern hätte auch wegen des Anlasses staatskirchenrechtliche Bedeutung. Korrigiert werden könnte dies ggfs. durch eine verfassungskonforme Auslegung der Bestimmung, die den rechtlichen Wertungen der Religionsfreiheit und des kirchlichen Selbstbestimmungsrechtes Rechnung trägt und auch in den genannten Fällen eine unterschiedliche Behandlung zuläßt215. Mit den Regelungen des AGG zum allgemeinen zivilrechtlichen Benachteiligungsverbot hat der Gesetzgeber im wesentlichen den durch den ADG-E 2005 vorgezeichneten Weg eines gesellschaftspolitisch motivierten, diskriminierungsrechtlichen „Rundumschlags“ beibehalten. Die Alternative, sich bei der Umsetzung des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots auf die Vorgaben der Richtlinie 2000 / 43 / EG zu konzentrieren, setzte sich nicht durch. Während anfängliche Zeitungsmeldungen dies noch als möglich erscheinen ließen216, siegte letztlich doch der sozialpflegerische Impetus des Gleichbehandlungsgesetzgebers.
Näher dazu Thüsing (N 3), S. 172 ff. m. w. N. Vgl. den Bericht „Kompromiß zur Gleichbehandlung in Aussicht“ in: FAZ – Nr. 51 – vom 1. März 2006, S. 13. Als Kompromiß deutete sich zuerst an, daß die Merkmale Benachteiligung wegen Alter und Behinderung neben die von der RL 2000 / 43 / EG vorgegebenen hätten treten können, während Religion und sexuelle Orientierung als Kriterien hätten entfallen können. 215 216
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E. Ausblick Sowohl die Ebene des europäischen Antidiskriminierungsrechts als auch die mitgliedsstaatliche Umsetzung der Richtlinien muß die Kirchen nicht zwangsläufig in ihrem Selbstbestimmungsrecht und ihren, insbesondere arbeitsrechtlichen, Besonderheiten gefährden, wenngleich Gefahren durchaus bestehen. Die genaue Analyse der Normtexte und -zusammenhänge erfordert aber vom Interpreten, der die Richtlinien auslegt oder umsetzt, ein besonderes Ethos217. Das Antidiskriminierungsrecht ist nicht frei vom Moralisieren und dem Impetus, bestimmte ethisch-moralische Vorstellungen – vor allem im Bereich sexueller Identität – durch gesetzgeberischen Akt umzusetzen und gleichsam öffentlich verpflichtend zu machen. Dies als freiheitlich zu verkaufen, ist ein Etikettenschwindel, da autonome Bereiche anderer Akteure – wie z. B. der Kirchen – erheblich tangiert werden können und nicht jede Unterscheidung oder unterschiedliche Behandlung als Diskriminierung gewertet werden kann und soll. Daß es aber – bei allen zutreffenden Vorbehalten gegen die Möglichkeit, Diskriminierung bzw. Gleichbehandlung völlig zu verrechtlichen – durchaus zu sachbereichsspezifischen, adäquaten Regelungen kommen kann, ließ sich am Thema Kirche und Diskriminierungsverbot zeigen.
217 Grundlegende Überlegungen zu dem Problem bei Josef Isensee, Vom Ethos des Interpreten: Das subjektive Element der Normauslegung und seine Einbindung in den Verfassungsstaat, in: FS Winkler (1997), S. 367 ff.
Nachwort Privatautonomie: Freiheit zur Diskriminierung? – Verfassungsrechtliche Vorgaben Von Josef Isensee, Bonn
Inhalt I. Vertragsfreiheit in Turbulenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1. Gesetz wider Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 2. Rekurs auf die Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 II. Grundrechtliche Gewähr der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 1. Textbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 2. Negative Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 3. Gleiches Freiheitsrecht – ungleiches Machtverhältnis . . . . . . . . 253 4. Vertragsfreiheit nach Maßgabe des Privatrechts und Vorrang der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 5. Bindung der Privatautonomie an die Grundrechte . . . . . . . . . . . 259 III. Inhaltskontrolle von Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Gestörte Parität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 2. Grundrechtseingriff unter Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . 265 3. Keine grundrechtliche Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4. Unbegrenzte Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 IV. Gleichbehandlungspflicht als Freiheitseingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 V. Zug zum Totalitären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
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I. Vertragsfreiheit in Turbulenzen 1. Gesetz wider Diskriminierung Die Privatautonomie, in ihr die Vertragsfreiheit, ist das primum principium der Privatrechtsordnung und der sich auf ihr konstituierenden Privatrechtsgesellschaft, deren ökonomische Dimension die Marktwirtschaft ist. Als Idee genießt die Privatautonomie höchste Anerkennung. Sie stößt heute auf keinen grundsätzlichen Widerspruch. Doch die Idee als solche erweist sich als ohnmächtig, das Rechtsleben zu steuern. Sie bricht sich an dem Trend der Gesetzgebung wie der Rechtsinterpretation zu immer dichterer Regulierung und zur Schwächung der liberalen Substanz durch sozialstaatliche Zutaten. 120 Jahre, nachdem Otto von Gierke gefordert hatte, dem reinen Wasser des Liberalismus, mit dem nach den ersten Plänen das Bürgerliche Gesetzbuch getauft werden sollte, einen „Tropfen sozialistischen Öls“1 beizumengen, fließt dieses Öl nicht bloß tropfenweise, sondern tankladungsweise. Es geht aber auch nicht mehr um die Taufe des freiheitlichen Privatrechts, sondern, wenn man besorgten Zivilisten glauben darf, um die letzte Ölung. Anlaß zur Sorge ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das seinerseits vier europäische Richtlinien umsetzt.2 Erklärtes Ziel der Regulierung ist es, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.3 Die Regulierung erstreckt Otto von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889, S. 12 f. Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14. August 2006, Art. 1; erste Änderungen finden sich in Art. 8 des Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes und anderer Gesetze, BGBl. 2006 I, S. 2742 (2745 f.). Analysen in diesem Band: Tilman Repgen, Antidiskriminierung – die Totenglocke des Privatrechts läutet, S. 11 ff.; Thomas Lobinger, Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbot, S. 99 ff. 3 § 1 AGG. 1 2
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sich vornehmlich auf die Auswahl- und Einstellungskriterien zu unselbständiger wie selbständiger Erwerbstätigkeit, auf die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen mitsamt Arbeitsentgelt, auf Berufsbildung und Bildung allgemein, auf Sozialschutz und soziale Vergünstigungen, auf die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich Wohnraum.4 Wenn im Streitfall eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, daß kein Rechtsverstoß vorgelegen hat5 – ein Negativbeweis, der überaus schwer zu führen ist.6 Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot tritt zwar kein Kontrahierungszwang ein. Doch hat der Benachteiligte privatrechtliche Ansprüche auf Beseitigung, Unterlassung und Schadensersatz.7 Zur Durchsetzung des Gesetzes und zur Unterstützung derer, die sich benachteiligt fühlen, also zur Überwachung der Gesellschaft, richtet der Bund eine Antidiskriminierungsstelle mit der „notwendigen Personal- und Sachausstattung“ ein.8 Der Kern der Regelungen besteht darin, daß eine Vertragspartei dem Gebot der Gleichbehandlung bei Abschluß wie bei Ausgestaltung von Verträgen unterstellt wird, also einem Gleichheitsregime ähnlich dem, das schon von Verfassungs wegen für die öffentliche Gewalt gilt. Soweit das Gleichheitsregime reicht, besteht keine Vertragsfreiheit. Der Rechtfertigungszwang, dem an sich nur der Staat unterliegt, dehnt sich aus auf den Privaten, jedenfalls auf den „sozial Stärkeren“ in seiner Beziehung zum „sozial Schwächeren“. Dieses diffuse § 2 AGG. § 22 AGG. 6 Dazu die nur scheinbar überzogene Kritik von Jürgen Kohler, Achtung, Ihnen wird platziert! – oder: Unterwegs zum Berliner Integrationskatalog, in: JZ 2006, S. 1057 ff. Vgl. auch Repgen (N 2), S. 37 ff.; Lobinger (N 2), S. 147 ff. 7 Dazu Repgen (N 2), S. 36 ff.; Gerhard Wagner / Nicolas Potsch, Haftung für Diskriminierungsschäden nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, in: JZ 2006, S. 1085 ff. 8 §§ 25 – 30 AGG. 4 5
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Begriffspaar gewinnt schnell klare Züge dadurch, daß es identifiziert wird mit dem Verhältnis des Arbeitgebers zum Arbeitnehmer, des Vermieters zum Mieter, des Unternehmers zum Verbraucher. Die Macht der Bewerber und Verbraucher zum diskriminierenden Boykott („Kauft nicht bei Juden!“) ist kein Thema. Kein anderes Gesetz des letzten Jahrzehnts drängt die Vertragsfreiheit so weit zurück wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz im Jahre 2006. Gleichwohl reagiert die Öffentlichkeit nahezu gleichmütig. Die an der Gesetzgebung mitwirkenden politischen Parteien schätzen die Bedeutung nicht sonderlich hoch ein.9 Auch die Zivilrechtslehre nimmt die Neuerung weitgehend gelassen auf. Kein Vergleich zu dem Aufsehen, das die eher rechtstechnische Reform des Schuldrechts wenige Jahre zuvor erregt, und den Kontroversen, die sie ausgelöst hatte. Doch unüberhörbar haben immerhin einzelne Zivilisten Alarm geschlagen und vor dem Angriff auf die Fundamente der Privatrechtsordnung gewarnt.10 In moralischer Hinsicht dürften die meisten die Intention des Gesetzgebers löblich finden, eine Diskriminierung nach den gesetzlich verpönten Merkmalen zu vermeiden und zu verhindern, daß Außenseitern der Zugang zum Markt und die 9 Die niedrige Einschätzung läßt sich sogar quantifizieren. Denn die CDU / CSU, nunmehr Teilhaberin der großen Koalition, ließ sich die Zustimmung zu dem von der Vorgängerregierung erstellten, nur marginal veränderten Gesetzentwurf, den sie zuvor abgelehnt hatte, abkaufen durch das Zugeständnis des Koalitionspartners SPD, die Umsatzsteuerpauschale für Landwirte um 0,2 % zu senken. 10 Eduard Picker, Antidiskriminierungsgesetz – Der Anfang vom Ende der Privatautonomie?, in: JZ 2002, S. 880 ff.; Katharina von Koppenfels, Das Ende der Vertragsfreiheit, in: WM 2002, S. 1489 ff.; Klaus Adomeit, Auf Biegen und Brechen, in: FAZ v. 3. 7. 2006, Nr. 151, S. 10; Repgen (N 2), S. 11 ff.; Lobinger (N 2), S. 99 ff. Apologien der Antidiskriminierungsgesetzgebung: Eberhard Eichenhofer, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, in: DVBl. 2004, S. 1078 ff.; Susanne Baer, Ende der Privatautonomie oder grundrechtlich fundierte Rechtsetzung?, in: ZRP 2002, S. 290 ff.; Gabriele Britz, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, in: VVDStRL 64 (2005), S. 355 (360 ff.).
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Teilhabe an seinen Gütern erschwert wird. So begrüßen die Kirchen in ökumenischer Eintracht die Ziele des Gesetzes: sie äußern ihre Genugtuung über den Zwang zur Moral unter Berufung auf die Gottebenbildlichkeit, Würde und Gleichheit aller Menschen, auf das christliche Menschenbild und die Menschenrechte. Sie fordern sogar die Ausweitung des Diskriminierungsverbotes auf politische Anschauungen. Zugleich fordern sie aber für sich selbst die Freistellung von den Verboten, die sie den anderen gönnen. Sie beanspruchen, weiterhin die Angehörigen ihres Glaubens bevorzugen zu dürfen, und führen dafür die Religionsfreiheit und das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ins Feld.11 Die Antidiskriminierungsmoral scheint also nicht ganz verallgemeinerungsfähig und nicht völlig konsistent zu sein. Wesentlich ist jedoch, daß die Frage der moralisch richtigen Ausübung der Vertragsfreiheit, die bisher die jeweiligen Vertragspartner für sich selber beantwortet haben, nunmehr vorab durch den Gesetzgeber entschieden wird, der sich zum „Präzeptor einer neuen Sozialmoral“ erhebt.12 Die Moral – genauer: eine bestimmte Sicht der Moral – wird verrechtlicht.13 Die Unterscheidung von Recht und Moral wird hier aufgehoben. In der Tat strebt der Gesetzgeber danach, auf die Gesinnung der Rechtsgenossen einzuwirken, jedermann eine Moralität der Gleichheit zu implantieren und eine „Kultur der Antidiskriminierung“ heraufzuführen.14 11 Stellungnahme des Kommissariats der deutschen Bischöfe, des Bevollmächtigen der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, des Deutschen Caritasverbandes, des Diakonischen Werkes der EKD zum Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien vom 4. März 2005. – Der politische Vorstoß der Kirchen in eigener Sache hatte am Ende Erfolg, wie die Sondervorschrift für Religionsgemeinschaften (§ 9 AGG) beweist. Dazu oben Ansgar Hense, Kirche und Diskriminierungsverbot, S. 181 ff. 12 Eichenhofer (N 10), S. 1084. 13 Kritik: Eduard Picker, Antidiskriminierung als Zivilrechtsprogramm, in: JZ 2003, S. 540 ff.; Lobinger (N 2), S. 164 ff. 14 Projektgruppe EuRi des BMFSFJ, S. 34 (zitiert nach Matthias Jestaedt, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, in: VVDStRL 64 [2005], S. 298, S. 350 Fn. 217).
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Das vielbeschworene Bild des mündigen Bürgers wird abgelöst durch das des erziehungsbedürftigen Bürgers, genauer: durch Bilder zweier Menschenklassen, des betreuungsbedürftigen, noch nicht selbstbestimmungsfähigen Prekariats, und der fremdbestimmungsaktiven, domestizierungsbedürftigen Oberschicht. Das Klassenmodell des Marxismus schimmert durch, desgleichen sein zwangspädagogischer Impetus. Verfassungshistorisch gesehen, bahnt sich hier eine Wende an, vergleichbar jener der französischen Revolution von der Frühphase, die dem offenen, negativen Freiheitsideal folgte, zur Jakobinerphase: dem Terror der Tugend im Namen der Gleichheit. 2. Rekurs auf die Verfassung Die Mutation des Privatrechts ist auch ein Problem der Verfassung. Auf sie richten sich Hoffnungen derer, die um die liberale Substanz des Privatrechts fürchten. In der Tat gewährleistet das Grundgesetz die Privatautonomie und die Vertragsfreiheit. Doch gewährleistet es auch die Prinzipien der Gleichheit und des Sozialstaats, auf die sich die Befürworter der Antidiskriminierungsmaßnahmen berufen. Die Grundrechte, wie sie sich im Lichte der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts darstellen, bieten keine von vornherein klare Lösung der Frage, wieviel an Privatautonomie die Verfassung effektiv absichert. Diese Frage verdient, unabhängig von dem aktuellen Problem, eine grundsätzliche Untersuchung. Deren Sinnhaftigkeit wird nicht durch europarechtliche Vorgaben in Frage gestellt, wie sie in den Antidiskriminierungsrichtlinien bestehen.15 Diesen kommt zwar der Anwendungsvorrang zu vor dem nationalen Recht mit Einschluß des Verfassungsrechts. Doch dieser Vorrang steht unter nationalem Grundrechtsvorbehalt. Deutschland fügt sich dem Ge15 Zu diesen Jestaedt (N 14), S. 305 ff.; Lobinger (N 2), S. 125 ff.; von Koppenfels (N 10), S. 1489 ff.; Gerhard Wagner, Prävention und Verhaltenssteuerung durch Privatrecht – Anmaßung oder legitime Aufgabe?, in: AcP 206 (2006), S. 352 (389 ff.).
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meinschaftsrecht nur, soweit es den Wesensgehalt der Grundrechte des Grundgesetzes wahrt.16 Im übrigen determinieren die europäischen Richtlinien das nationale Recht nur in bestimmten Sachbereichen und nur in bestimmter Hinsicht.17 Die anstehenden Betrachtungen halten sich im Horizont der Verfassung und blenden den supranationalen Bereich aus.
II. Grundrechtliche Gewähr der Vertragsfreiheit 1. Textbefund Ein Blick auf die Textlage: Die Weimarer Reichsverfassung enthält in ihrem Grundrechtsteil, Abschnitt „Das Wirtschaftsleben“, den Artikel 152 Abs. 1: „Im Wirtschaftsverkehr gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze.“ Nach dem Schock des Rätesystems und unter dem Eindruck sozialistischer Programmatik errichtete die Verfassung hier eine Garantie dieses privatrechtlichen Instituts neben jener des Privateigentums und des Erbrechts, allesamt „Grundpfeiler der individualistischen Rechts-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, welche die Revolution wohl erschüttert, nicht aber umgestürzt hatte“ (so Gerhard Anschütz).18 Dagegen deutete Gustav Radbruch die Verfassungslage anders: „Wie das Eigentum, so wird auch die Vertragsfreiheit in die Grenzen des Gesetzes und damit das Individualinteresse in die Grenzen des Sozialinteresses verwiesen.“19 Im Ergebnis also doch nur einer der dilatorischen Formelkompromisse, an denen der Weimarer 16 BVerfGE 89, 155 (175). Dazu Josef Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 1239 (1242 ff., 1257 ff.). 17 Näher Jestaedt (N 14), S. 327 ff. 18 Zitat: Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 141933 (Nachdruck 1965), Vorbemerkung zum Fünften Abschnitt, S. 698. Vgl. auch Carl Schmitt, Grundrechte und Grundpflichten, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2. Bd., 1932, S. 572 (584). 19 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 51956, S. 247.
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Verfassungstext so reich war?20 Das Grundgesetz übernimmt zwar die Institutsgarantien von Eigentum und Erbrecht wie auch die der Ehe und Familie, nicht aber die der Vertragsfreiheit. Jedenfalls nicht expressis verbis. Dagegen enthalten die Verfassungen dreier Länder, Bayern, Rheinland-Pfalz und das Saarland, eine Gewähr der Vertragsfreiheit. Doch sie stellen diese unter das Damoklesschwert der Rechte des Nächsten, der Erfordernisse des Gemeinwohls21 sowie des Verbots des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung.22 Die meisten Verfassungen aber hüllen sich über die Vertragsfreiheit als solche in Schweigen, was sie nicht hindert, sich beredt über deren Schranken zu äußern und, wo sie nicht grundrechtliche Freiheit thematisieren, wenigstens die Regulierung der Freiheit durch Staatsaufgaben und Unternehmerpflichten unter der Rubrik Grundrechte zu traktieren.23 Die rechtspraktischen Folgen sind allerdings gering, weil das Privatrecht heute im wesentlichen Sache des Bundes ist. Doch die Länder halten sich hier nicht aus kompetenzrechtlichen Skrupeln zurück, wie sie auch sonst in ihren Verfassungen über ihre Kompetenzgrenzen hinausgreifen, um, wo sie nichts regeln können, wenigstens Zeichen zu setzen. Zurückhaltung in Sachen Vertragsfreiheit üben auch die neuen Bundesländer. Das fällt auf, weil die Vertragsfreiheit in der letzten Phase der DDR zu förmlichem Verfassungsrang gelangt war, und zwar durch den Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen den beiden deutschen Staaten. Zur Gewährleistung der in diesem Vertrag oder in Ausführung dieses Vertrags begründeten Rechte garantierten die Vertragsparteien insbesondere die Vertragsfreiheit, Ge20 Zu den dilatorischen Formelkompromissen Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 31 ff. 21 Art. 52 Abs. 2 S. 1 Rh-PfVerf; ähnlich Art. 151 Abs. 2 S. 3 BayVerf. 22 Art. 44 S. 2 SaarlVerf; Art. 52 Abs. 2 S. 2 Rh-PfVerf. Vgl. auch Art. 151 Abs. 2 S. 4 BayVerf. 23 Exponiert die Verfassung des Landes Hessen im Abschnitt über „soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten“ (Art. 27 – 47).
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werbe-, Niederlassungs- und Berufsfreiheit, die Freizügigkeit von Deutschen in dem gesamten Währungsgebiet, die Koalitionsfreiheit sowie das Eigentum privater Investoren an Grund und Boden sowie an Produktionsmitteln.24 Kurz: dieser Staats- und Verfassungsvertrag nannte die Elemente einer Privatrechtsgesellschaft, deren nationalökonomische Kehrseite die Marktwirtschaft ist, und das in einer Deutlichkeit, die in der deutschen Verfassungsgeschichte ohne Vorbild war. Die Deutlichkeit war notwendig, weil mit dem Vertrag das Gegenbild des sozialistischen Wirtschaftssystems zu zeichnen war, das in der DDR geherrscht und zu ihrem Ruin beigetragen hatte. Der DDR-Sozialismus hatte die Privatautonomie planmäßig unterdrückt. Hatte er auch das bürgerliche Recht nicht förmlich abgeschafft, so ihm doch das reale Substrat entzogen; es kümmerte nur noch in einzelnen Nischen dahin, so im Mietrecht und im Ehescheidungsrecht. Der Staatsvertrag enthielt die Grundentscheidung für die Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft wider das sozialistische Rechts- und Wirtschaftswesen. Darin legte er das verfassungsrechtliche Fundament für die bevorstehende staatliche Einheit.25 Ein blasser Abglanz dieser Gewährleistung findet sich in der Staatszielbestimmung der Verfassung Thüringens, daß die Ordnung des Wirtschaftslebens den Grundsätzen einer sozialen und der Ökologie verpflichteten Marktwirtschaft zu entsprechen habe.26 Doch sie überläßt es ihren Kommentatoren herauszufinden, auf welchen privatrechtlichen und grundrechtlichen Prinzipien die Marktwirtschaft gründet. 24 Art. 2 Abs. 1 S. 2 Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Staatsvertrag) vom 18. Mai 1990. Art. 2 Abs. 2 des Staatsvertrages statuiert den Anwendungsvorrang vor entgegenstehenden Vorschriften der DDR-Verfassung. 25 In der Begrifflichkeit Carl Schmitts handelte es sich um die „positive“ Verfassung: Verfassung als Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit (Verfassungslehre, 11928, S. 20 ff.). 26 Art. 38 ThürVerf.
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Wenn das Grundgesetz auch Vertragsfreiheit und Privatautonomie nicht ausdrücklich nennt, so verbürgt es sie doch einschlußweise. Das ist unangefochten herrschende Meinung.27 Als sedes materiae gilt das unspezifizierte Grundrecht der Allgemeinen Handlungsfreiheit, das im Schutzbereich weiteste der Freiheitsrechte, freilich auch das mit der geringsten Resistenz gegen gesetzliche Einschränkungen. Die These bedarf allerdings der Modifikation. Die Allgemeine Handlungsfreiheit ist sedes materiae nur, soweit nicht ein spezielles Freiheitsrecht eingreift: die Freiheit der Berufsausübung für Verträge des wirtschaftlichen Verkehrs, die Eigentumsgarantie für sachenrechtliche Verträge, die Garantie der Ehe für den Ehevertrag, das Erbrecht für den Erbvertrag, die Koalitionsfreiheit für den Tarifvertrag.28 Das ist freilich weiter nichts als der Textbefund, also noch keine substantielle Aussage. Substantiell aber genießt die Vertragsfreiheit Verfassungsrang. Das Bundesverfassungsgericht legt ein deutliches Bekenntnis zur Vertragsfreiheit ab, und zwar im Kontext der Berufsfreiheit. „Auf der Grundlage der Privatautonomie, die Strukturelement einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung ist, gestalten die Vertragspartner ihre Rechtsbeziehungen eigenverantwortlich. Sie bestimmen selbst, wie ihre gegenläufigen Interessen angemessen auszugleichen sind, und verfügen damit zugleich über ihre grundrechtlich geschützten Positionen ohne staatlichen Zwang. Der Staat hat die im Rahmen der Privatautonomie getroffenen Regelungen 27 BVerfGE 8, 274 (328); 12, 341 (347); 65, 196 (210 f.); 70, 115 (123); 74, 129 (151 f.); Günter Dürig, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, 1958, Art. 2 Abs. 1 Rn. 53 ff.; Hans-Uwe Erichsen, Allgemeine Handlungsfreiheit, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Bd. VI, 11989, § 152 Rn. 56 ff.; Wolfram Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 6 ff.; Wolfram Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 469 ff.; Matthias Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 165 ff. 28 Zur grundrechtlichen Verortung der Vertragsfreiheit Höfling (N 27), S. 11 ff.; Matthias Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 288 ff. (Nachw.); Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV / 1, 2006, S. 901 ff. (Nachw.).
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grundsätzlich zu respektieren.“29 Diese markigen Sprüche schreibt das Gericht der deutschen Gesellschaft ins grundrechtliche Stammbuch. Die Frage regt sich aber, ob es sich um mehr handelt als eine Stammbuchsentenz, ob sich der Schreiber juristisch beim Wort nehmen lassen will. 2. Negative Freiheit Privatautonomie ist Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den Einzelnen nach eigenem Willen.30 Sie umschließt die Vertragsfreiheit als Freiheit, sich selbst durch Vertrag zu binden. Diese Freiheit umfaßt die Entscheidung des Einzelnen darüber, ob er überhaupt eine vertragliche Bindung eingeht (Abschlußfreiheit), die Auswahl des Vertragspartners (Auswahlfreiheit) und die inhaltliche Ausgestaltung des Vertrages (Inhaltsfreiheit). Die Freiheit des Privaten ist negativ zu verstehen: als Unabhängigkeit von fremder Willensmacht. Die Selbstbestimmung schließt Fremdbestimmung aus, von welcher Seite, öffentlicher oder privater, sie auch droht. Die grundrechtliche Gewährleistung der Vertragsfreiheit richtet sich allerdings nur an die Staatsgewalt. Sie bietet Schutz vor hoheitlicher Regulierung. Insoweit bedeutet Privatautonomie Abwesenheit von staatlicher Heteronomie. Negative Freiheit ist Subjektivität, die sich selbst das Gesetz gibt, ein Gesetz nach eigener Fasson, die nicht notwendig mit den objektiven Normen von Recht, Ethos, Konvention, political correctness übereinstimmt. Daraus folgt für die Vertragsfreiheit: sie ist ihrem Wesen nach legitime Willkür. Stat pro ratione voluntas.31 Sie entbindet legitimen Eigennutz und BVerfGE 81, 242 (254) – Handelsvertreter. Werner Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860 – 1960, Bd. I, S. 135 (136). 31 Dezidiert: Flume (N 30), S. 140. 29 30
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sie entbindet legitime Diskriminierung.32 Der Private darf paktieren mit wem er will, und er braucht sich nur auf vertragliche Regelungen einzulassen, die er für richtig hält. Er muß sich nicht dafür rechtfertigen, daß und warum er einen anderen als Vertragspartner ablehnt und auf bestimmten Vertragsklauseln beharrt, die aus der objektiven Sicht Dritter unmoralisch erscheinen. Dagegen hat sich der Staat dafür zu rechtfertigen, daß er diese grundrechtliche Freiheit einschränkt, um sittlichen oder gesellschaftspolitischen Geboten Geltung zu verschaffen. Der Staat handelt nach allgemeinen Gesetzen, die sein Gegenüber nach abstrakten Merkmalen definieren. Dagegen paktiert der Private nicht mit einem abstrakt-allgemeinen Wesen, sondern mit einem bestimmten Individuum seiner Wahl. Zu Recht wird in der Zivilistik die Privatautonomie als „Selbstherrlichkeit“ gedeutet.33 Das Wort trifft die Sache in seiner doppelsinnigen Bedeutung: daß der Private Herr seiner selbst im privatrechtlichen Verkehr ist, aber auch, daß ihm die Möglichkeit des rücksichtslosen, sozialethisch verwerflichen Freiheitsgebrauchs offensteht. Freiheit wird negativ bestimmt: als Fehlen von staatlichem Zwang. Sie ist nicht von vornherein determiniert und auf ihren moralischen, sozialverträglichen, gemeindienlichen Gebrauch beschränkt, was ihren Inhaber nicht hindert, sie von sich aus gut, gemeinnützig, generös und menschenfreundlich auszuüben. Recht und Moral werden also streng unterschieden, auch wenn sie sich nicht völlig trennen lassen. Recht ist das ethische Minimum (Georg Jellinek) und das ethische Maximum (Gustav Schmoller). Minimum hinsichtlich seines Inhalts, Maximum hinsichtlich der Erzwingbarkeit durch den Staat.34 Erzwingbar aber ist allein das äußere Verhalten des Rechtsgewissens, nicht die Gesinnung. Der Rechtsstaat for32 Zutreffend Matthias Jestaedt, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, in: VVDStRL 64 (2005), S. 298 (333 f.). 33 Flume (N 30), S. 146. 34 Kritisch dazu Radbruch (N 19), S. 138.
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dert Legalität, nicht aber Moralität. Das heißt nicht, daß Moralität für ihn belanglos wäre. Letztlich baut er darauf, daß die Bürger im Großen und Ganzen von sich aus das Rechte tun und daß sie die Macht, die ihnen die grundrechtliche Freiheit bietet, nicht mißbrauchen. Das aber ist lediglich eine Erwartung, die durch keinen Rechtszwang bewehrt ist.35 In der Dogmatik des Zivilrechts geistert allerdings die Theorie Schmidt-Rimplers, daß die Vertragsfreiheit, insbesondere die Tarifautonomie, die materiale Richtigkeitsgewähr in sich trage und der Vertrag, sofern seine Voraussetzungen erfüllt seien, als Mechanismus die „richtige“ Lösung herbeiführe.36 Das voluntaristische Konzept der Privatautonomie schließt von vornherein aus, daß ihre Erzeugnisse ein inhaltliches Gütesiegel tragen. Sie legitimieren sich aus dem Willen des Privaten, nicht aus Kriterien objektiver Richtigkeit, etwa den Ideen der iustitia commutativa oder des bonum commune. Insofern spiegelt sich die hobbesianische Legitimation des Gesetzes, „auctoritas, non veritas“, in der Legitimation des privaten Rechtsgeschäfts. Die grundrechtliche Gewähr der Vertragsfreiheit bedeutet nicht Isolierung des Individuums. Im Gegenteil: sie verwirklicht sich in den Beziehungen zwischen den Individuen, und sie erfüllt sich in der wechselseitigen Selbstbindung. Privatautonomie ermöglicht, jenseits von staatlichem Zwang und staatlicher Behinderung, Zuwendung zum Nächsten, Verhandlung und Verständigung, gesellschaftlichen Verkehr und Rechtsverkehr. Die vertragliche Selbstbindung ist keine Ein35 Näher Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, § 115 Rn. 163 ff., 232. 36 Vater der Theorie Walter Schmidt-Rimpler, Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, in: AcP n. F. 27 (1941), S. 130 ff.; ders., Zum Problem der Geschäftsgrundlage, in: Festschrift für Hans Carl Nipperdey, 1955, S. 1 (4 ff.). Vgl. auch Franz Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 284 ff.; BAGE 22, 144 (181); 38, 118 (129). – Kritik Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 31979, S. 8; ders. (N 30), S. 142 f.
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schränkung der grundrechtlichen Freiheit, sondern ihre Verwirklichung. Der Vertragspartner, der eine Pflicht übernimmt, erleidet keine Grundrechtseinbuße und der, der eine Sache übereignet, betätigt keinen Grundrechtsverzicht. Der Vertrag ist das Werk der Freiheit. Grundrechte sind auch und wesentlich Rechtstitel zu autonomer Koordinierung der Grundrechtsträger. In ihnen verkörpert sich das Prinzip der Subsidiarität: daß die rechtliche Ordnung des Gemeinwesens sich von unten nach oben entwickelt und die privatautonome Gestaltung der Lebensverhältnisse Vorrang hat vor staatlicher Heteronomie, daß diese überhaupt nur zum Zuge kommt, wenn und soweit jene versagt und nicht den Erfordernissen des Gemeinwohls genügt.37 Auf der horizontalen Ebene des Privatrechts stehen die Individuen als Inhaber gleicher Freiheit einander gegenüber. Ihre Freiheitssphären sind nach verallgemeinerungsfähigen Kriterien voneinander abgegrenzt, kantianisch formuliert: dergestalt, daß die Freiheit des einen neben der Freiheit des anderen nach einem allgemeinen Gesetz bestehen kann. Freiheit gibt ihrem Inhaber nur Selbstbestimmung, nicht aber das Recht zum Übergriff in den Rechtskreis des anderen, mithin zu Fremdbestimmung. Darin liegt das Gebot des neminem laedere, zugleich, staatsrechtlich gesehen, die Begründung des Gewaltverbots für Private und des Gewaltmonopols für den Staat. Dieser hat kraft seiner grundrechtlichen Schutzpflicht zu gewährleisten, daß die Träger der Grundrechte sich der Übergriffe auf die Rechtsgüter des anderen enthalten, also auf absolute Rechte wie Leben, Gesundheit, Eigentum, räumliche Bewegungsfreiheit, Ehre.38
37 Dazu Josef Isensee, Staatsaufgaben, in: HStR IV, 32006, § 71 Rn. 67 ff. (Nachw.). 38 Zu den grundrechtlichen Schutzpflichten im Privatrecht: Ruffert (N 28), S. 141 ff. Allgemeine Begründung und Inhalt der Schutzpflicht Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983; ders., Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR V, 11992 (22001), § 111 Rn. 1 ff., 77 ff.
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3. Gleiches Freiheitsrecht – ungleiches Machtverhältnis Die Chance, daß die Vertragspartner ihre zumeist gegenläufigen Interessen zum fairen Ausgleich bringen, besteht nur, wenn ein jeder über ein Mindestmaß an effektiver Unabhängigkeit gegenüber dem anderen verfügt, um seinen Willen zur Geltung zu bringen, und nicht unausweichlich darauf angewiesen ist, sich dem Vertragsdiktat des anderen zu fügen. Was im rechtlichen Sinn als Freiheit gilt, stellt sich in der Realität als Macht dar. Macht und Ohnmacht sind aber ungleich verteilt. Die Ausübung der Vertragsfreiheit setzt voraus, daß ein Mindestmaß gleicher Verhandlungsmacht auf allen Seiten besteht. Doch die grundrechtlich gewährleistete Freiheit ist von ihrer realen Voraussetzung zu unterscheiden.39 Das bürgerliche Recht koppelt die Gültigkeit des Vertrages ab von der realen Machtlage. Es stellt allein ab auf den Vertragswillen, falls dieser ohne physischen Zwang, ohne Täuschung, Drohung oder Irrtum zustande gekommen ist. Der physische Zwang schließt den Vertragswillen aus, nicht jedoch der soziale Druck. Wem in der Not seiner persönlichen Umstände, in wirtschaftlicher Bedrängnis, nichts übrig bleibt, als Ja und Amen zu den Bedingungen der Gegenseite zu sagen, gibt nach herkömmlicher, liberaler Ansicht gleichwohl eine wirksame Willenserklärung ab: coactus tamen voluit. Hier greift die Fundamentalkritik des Sozialismus ein. Sie deutet das (im zwiefachen Sinne) bürgerliche Recht als Funktion der gesellschaftlichen Widersprüche, „entlarvt“ den Vertrag als Machtinstrument der herrschenden Klasse und läßt das Prinzip der Vertragsfreiheit scheitern an der Realität der sozialen Ungleichheit. Fichte nimmt die sozialistische Fundamentalkritik und deren Konsequenzen vorweg, indem er für staatliche Regulierung des Güterverkehrs im „geschlossenen“ Handelsstaat eintritt und die Vertragsfreiheit suspendieren will, solange 39 Isensee (N 35), § 115 Rn. 1 ff., 150, 158 ff. Zum Faktor der privaten Macht: Wilhelm Krelle, Macht in der Wirtschaft, in: Innovatio 3 / 4, 1989, S. 18 ff.
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nicht alle Bürger die gleichen, wesentlich auf Eigentum gegründeten Ausgangschancen hätten; zunächst müsse der Staat das Eigentum unter alle gleichmäßig verteilen, ehe er es in seiner Ausübung schützen könne.40 Der weiland „real existierende“ Sozialismus übernimmt zwar die Menschenrechtssemantik von Freiheit und Gleichheit, doch er weigert sich, sie hier und heute zu verwirklichen, weil ihre realen Voraussetzungen noch nicht gegeben seien, und vertagt ihre Einführung auf die Endzeit, in der die Klassenspaltung überwunden sein werde. Einer analogen Vertagungsstrategie bedient sich der Feminismus, der die grundrechtliche Gleichheit der Rechtsetzung und der Rechtsanwendung derzeit durch Frauenquoten und Bevorzugung der Frauen („positive Diskriminierung“) durchbrechen möchte, solange die überkommene reale Disparität der Geschlechter noch nicht abgebaut sei. Die Kritik am liberalen Konzept formaler Vertragsfreiheit gewinnt Einfluß auf alle politischen Lager und führt zu vielfältigen gesetzlichen Vorkehrungen privat- wie öffentlichrechtlicher Natur, die wirklicher oder unterstellter, genereller oder individueller Disparität der Vertragspartner begegnen sollen: Arbeitnehmer- und Mieterschutz, Kontrolle der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Wettbewerbsregulierung, Kreditaufsicht und sozialrechtlicher Ausgleich. Die Kompensation gestörter Vertragsparität ist Ziel der unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen. Doch die gemeinsame ratio legis ergibt keine allgemeine lex dahin, daß jedwede Störung der Vertragsbalance die inhaltliche Korrektur des Vertrages oder gar die Entpflichtung des „Schwächeren“ nach sich ziehen müsse. Das ungleichartige Gesetzesmaterial zeigt, daß die Tatbestände differenzierender Fassung bedürfen und daß sie keine pauschale Rechtsfolge vertragen.41 Diese Regulierungen 40 Johann Gottlieb Fichte, Der geschlossene Handelsstaat (1800), in: ders., Ausgewählte Werke (hg. von Fritz Medicus), 3. Bd., 1962, S. 417 (429 ff.). 41 Vgl. Günther Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982, S. 109 ff., 253 ff.
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der Vertragsfreiheit bilden auch ein Thema der Verfassung. Das wird später zu behandeln sein. 4. Vertragsfreiheit nach Maßgabe des Privatrechts und Vorrang der Verfassung Die Privatautonomie hängt ab vom staatlichen Gesetz. Die effektive Bedeutung der Grundrechtsgarantie bestimmt sich danach, ob und wieweit sie das Gesetz zu steuern vermag. Das Verhältnis des Gesetzes zur Vertragsfreiheit ist umstritten. Seit der Frühzeit des Grundgesetzes stehen in der Dogmatik zwei konträre Sichtweisen einander gegenüber, die bis heute offen oder unterschwellig fortwirken. Der einen, die Günter Dürig repräsentiert,42 erscheint die Vertragsfreiheit als Grundrecht, das jedweder gesetzlichen Regelung vorausliegt; der anderen, für die Werner Flume steht,43 als integraler Bestandteil der Rechtsordnung, die ihrerseits den Grundrechten vorausliegt und sie umschließt. Nach der zweiten Auffassung ist die grundrechtliche Gewährleistung der Vertragsfreiheit entbehrlich. Sie füge ihr nichts an normativer Substanz hinzu, ein Gesetzesvorbehalt könne ihr auch nichts nehmen. Eine besondere Statuierung der Vertragsfreiheit als Grundrecht gegenüber der Rechtsordnung besage nichts und führe nur dazu, die eigentümliche Verschränkung der Vertragsfreiheit mit der Rechtsordnung zu verdecken. Die Rechtsordnung bilde begrifflich das Korrelat der Vertragsfreiheit. Der Gesetzesvorbehalt sei insofern selbstverständlich, als die Vertragsfreiheit sich nur im Recht betätigen könne. Die privatautonome Gestaltung von Rechtsverhältnissen sei also nach Form und möglichem Inhalt durch die Rechtsordnung bestimmt. Der Einzelne könne zwar bestimmen, ob und welche Rechtsverhältnisse er betreffs welcher Gegenstände oder Personen gestalten wolle. Er könne 42 43
Dürig (N 27), Art. 2 Abs. 1 Rn. 53 ff. Flume (N 30), S. 136 ff.
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aber nur in den Akten rechtsgestaltend handeln, welche ihm die Rechtsordnung dafür zur Verfügung stelle, und er könne nur solche Rechtsverhältnisse und diese nur in der Weise gestalten, wie es von der Rechtsordnung anerkannt werde. Verfassungsrechtlich bestünden keine Bedenken, das eheliche Güterrecht der Privatautonomie völlig zu entziehen, Erbverträge nicht zuzulassen, die Rechtsfiguren des Sachenrechts zu verringern, das Schuldrecht sehr viel mehr als derzeit der Fall mit ius cogens statt mit ius dispositivum zu erfüllen, wenn das Gesetz nur den Einzelnen als Person achte und seine Selbstbestimmung grundsätzlich respektiere. Diese Vorgaben aber ergäben sich bereits aus der Rechtsidee und bedürften nicht der Begründung aus Art. 2 GG.44 In dieser Sicht folgt die Vertragsfreiheit ihren eigenen Gesetzen. Die Verfassungsgewähr läuft leer. Der Gegenauffassung gilt die Vertragsfreiheit wie andere Grundrechte des status negativus, etwa der Meinungsfreiheit oder dem Habeas-corpus-Grundrecht. Sie schirmt einen Bereich vorstaatlicher Freiheit ab gegenüber staatlichen Beschränkungen. Als solche gelten alle zwingenden Vorschriften. Sie alle stehen unter Rechtfertigungszwang vor der Vertragsfreiheit als Abwehrrecht und müssen, soweit sie das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG berühren, sich seinem dreifachen Schrankenregime fügen, also den Rechten Dritter, die Vereinbarungen zu Lasten Dritter ausschließen, dem Sittengesetz, das sich in den Generalklauseln des bürgerlichen Rechts zur Geltung bringt, vollends der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung, die das „traditionelle Ordnungsgefüge unseres Zivilrechts“ mit seinen Vorschriften über Geschäftsfähigkeit, Form- und Publizitätszwang, Typenvorgaben grundsätzlich abdeckt und der auch die Maßnahmen des Sozial- und Interventionsstaats wie Mieterschutz und Preisregulierungen zu genügen haben.45 Dieser grundrechtlichen Sicht liegt das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip zugrunde.46 Die Freiheit 44 45 46
Flume (N 30), S. 137 ff. Dürig (N 27), Art. 2 Rn. 54 ff. Kategorie von Schmitt (N 18), S. 126.
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des Individuums wird als ursprunghaft und genuin unbegrenzt gedacht, die Staatsgewalt also als notwendig begrenzt, rechtlich gebunden und der Rechtfertigung bedürftig. Dagegen bedarf die Freiheit keiner Rechtfertigung. Einer solchen bedarf vielmehr ihre Beschränkung durch den Staat, die den formellen Kriterien wie dem Vorbehalt des Gesetzes und den materiellen wie dem legitimen Interesse des Gemeinwohls und dem Übermaßverbot zu genügen hat. Um der Freiheit des Individuums willen hat der Staat nicht teil an der Freiheit. Auf dieser Unterscheidung bauen die Grundrechte: auf der einen Seite das Individuum als Träger, auf der anderen die Staatsgewalt als Adressatin der Grundrechte. Hier die grundrechtsgebundene Staatsgewalt, dort die Gesellschaft als der Raum grundrechtlicher Freiheit. Diese abwehrrechtliche Sicht greift zu kurz, weil sie das staatliche Recht, zumal das Privatrecht, ausschließlich als Schranke der Vertragsfreiheit begreift und nicht auch und wesentlich als deren Inhalt und deren Voraussetzung. Insoweit trifft die Grundsatzkritik Flumes zu.47 Vertragsfreiheit ist nicht „natürliche“ Freiheit in einem fiktiven status naturalis, sondern eine durch die staatliche Rechtsordnung bedingte und von ihr ausgestaltete Freiheit.48 Die Verträge und sonstigen Rechtsgeschäfte verdanken ihre rechtliche Verbindlichkeit nicht einem naturrechtlichen Gebot, sondern dem staatlichen Normbefehl. Der Satz „pacta sunt servanda“ steht nicht in der Verfassung. Vielmehr wird er von ihr vorausgesetzt. Der Rechtstheorie Kelsens bedeutet die Privatautonomie nichts anderes als „eine Delegation des Gesetzes an die vertragschließenden Parteien, den Inhalt der individuellen Rechtsnormen selbst zu bestimmen, d. h. den Prozeß der Rechtserzeugung fortzusetzen“.49 Das abstrakte Prinzip der Privatautonomie nimmt in der Privatrechtsordnung konkrete Gestalt an. In Flume (N 30), S. 136 ff. Zutreffend Wagner (N 15), S. 432. Vgl. auch Cornils (N 27), S. 196 f., 215 ff. 49 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 153. 47 48
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dieser bewährt sich der Zweck des Rechtsstaats, jeden Menschen als Person zu achten und zu schützen, ihm die Entfaltung seiner Persönlichkeit in seiner Privatsphäre und in Verbindung mit anderen zu ermöglichen und ganz allgemein die rechtlichen Rahmenbedingungen des Zusammenlebens freier Personen zu schaffen und zu gewährleisten. Er grenzt deren Rechtssphären voneinander ab nach generellen Kriterien, löst deren Kollisionen auf und stellt die bürgerlich-rechtliche Ordnung her. Zu ihr gehören die Normen, welche die Fähigkeit zu vertraglicher Selbstbindung (Geschäftsfähigkeit) und die Bedingungen der Wirksamkeit von Willenserklärungen wie die Folgen fehlerhafter Willenserklärungen festlegen.50 Die Vertragstypen enthalten Optionen für die Vertragsfreiheit. Das dispositive Recht entlastet ihre Ausübung und stellt die für den Normalfall angemessenen, ausgewogenen Lösungen bereit. Als Koordinator der bürgerlichen Freiheit sorgt der Rechtsstaat dafür, daß Privatautonomie nicht zu Heteronomie des Privaten entartet, daß der eine sich dem Vertragsdiktat des anderen nicht beugen und Übergriffe auf seine Rechtsgüter nicht hinnehmen muß. Er schützt das Vertrauen im Rechtsverkehr. In hoheitlicher Distanz zu den privaten Belangen garantiert er die allgemeinen rechtlichen Spielregeln der Privatautonomie und bietet im Streitfall gerichtlichen Rechtsschutz. Er sorgt für das notwendige Maß an Rechtssicherheit in den privatrechtlichen Beziehungen.51 Grundrechtlich gesehen, leistet das Gesetz hier mehr Ausgestaltung denn Beschränkung der Vertragsfreiheit.52 Doch liegt es nicht im Belieben des Gesetzgebers, wie er die Vertragsfreiheit ausgestaltet, ob und wieweit er sie beschränkt. Die Lehre ihrer Bedingtheit durch die Rechtsordnung ver50 In Widerspruch zu seiner Prämisse, daß das traditionelle Ordnungsgefüge des Zivilrechts Beschränkung der Vertragsfreiheit sei, räumt Dürig ein, daß die Vertragsfreiheit „von vornherein naturgemäß“ in diese eingebaut sei und nur nach deren Maßgabe gelte (N 27, Art. 2 Abs. 1 Rn. 59) – insofern also Konvergenz mit Flumes Position. 51 Dazu Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 126 ff. 52 Dazu Ruffert (N 28), S. 104 ff.; Cornils (N 27), S. 165 ff.
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nachlässigt den Vorrang der Verfassung und erliegt zivilistischer Einseitigkeit. Sie macht den gegenteiligen Fehler, welcher der Lehre vom apriorischen Grundrechtscharakter und der bloßen Abwehrfunktion unterläuft, weil sie die relative Eigenständigkeit des Privatrechts ausblendet. Die Grenzen der Regelungsmacht des Gesetzgebers liegen nicht allein im bloßen „Richtigkeitsgedanken“,53 einer metarechtlichen Leitidee der Dogmatik, sondern auch im positiven Recht selbst, und zwar auf der höchsten Stufe seiner Normenhierarchie. Den wesenhaften Zusammenhang erfaßte bereits in der Weimarer Verfassungsära Carl Schmitt in der Rechtsfigur der Institutsgarantie. Diese bezieht sich nicht auf ein Reservat „natürlicher“ Freiheit, sondern auf einen „typischen, traditionell feststehenden Normkomplex“ des Privatrechts.54 Dieser wird nicht verfassungsrechtlich fossiliert, sondern nur in seinen Grundstrukturen festgeschrieben, die als das Beharrende im Fluß der rechtspolitischen Entwicklung verbleiben. Die Verfassung erlangt Direktivkraft gegenüber der Gesetzgebung und kann ihren Vorrang behaupten, ohne daß die relative Eigenständigkeit der Privatrechtsordnung Schaden nimmt; im Gegenteil: sie wird von Verfassungs wegen geschützt. Die Institutsgarantie hat objektiven Charakter. Freilich leiten sich aus ihr subjektive Rechte der Individuen ab, die sie gegen Gesetz oder Richterspruch verteidigen können. 5. Bindung der Privatautonomie an die Grundrechte Die Grundrechte binden die Staatsgewalt, nicht aber die Privaten. Was in der vertikalen Achse des rechtlichen Koordinatensystems gilt, läßt sich nicht auf die horizontale übertragen. Auf dieser stehen sich Inhaber gleicher Freiheit gegenüber. Die Grundrechte gewährleisten in ihrer AbwehrfunkFlume (N 30), S. 139. Carl Schmitt, Inhalt der Bedeutung des zweiten Haupttitels der Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 1932, S. 572 (596). 53 54
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tion den freien Ausgleich privater Belange gegenüber staatlicher Ingerenz und in ihrer Schutzfunktion die Unversehrtheit der privaten Rechtsgüter gegenüber den Übergriffen anderer.55 Das Grundrecht der Wohnungsfreiheit bietet in seiner Abwehrfunktion Schutz vor Durchsuchungsmaßnahmen der Polizei und der Zwangsvollstreckung, in ihrer Schutzfunktion vor Besitzstörung durch Hausbesetzer. Doch schützt sie nicht den Mieter vor der vertragsgemäßen Kündigung. Die Grundrechte, die das Verhältnis der Privaten zur Staatsgewalt regeln, überlassen diesen selbst, ihre Beziehung untereinander zu regeln, und gewährleisten so einem jeden die Vertragsfreiheit zu gleichen Bedingungen. Der Staat ist daher grundrechtlich gehalten, privatautonome Akte zu respektieren. Das herrschende Grundrechtsverständnis wird in Frage gestellt durch ein rechtslogisches Argument: daß Privatautonomie auf dem staatlichen Gesetz gründe, das ihren Akten die rechtliche Geltung zuspreche (pacta sunt servanda), daß das Gesetz aber gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden sei, daß folglich auch auf den gesetzlich ermöglichten privatautonomen Regelungen die Grundrechtsbindung laste. Das privatautonome Vertragsrecht wird grundrechtlich gleichgestellt den Gesetzen, in deren Rahmen es zustande kommt. Die rechtstheoretische Erkenntnis, daß die privatautonome Rechtsetzungsbefugnis sich aus staatlichen Normen ableitet und identischen Rechtssystemen angehört wie die staatlichen Normen,56 soll die rechtspraktische Konsequenz begründen, daß der Private zu behandeln sei wie ein beliehener Unternehmer, ihm also der gleiche Pflichtenstatus zukommt wie einer staatlichen Organisationseinheit. Im Ergebnis sollen sie denn alle gleichermaßen Grundrechtsadressaten sein, die Staatsorgane wie ihre privaten Delegierten.57 55 Zu den beiden Grundrechtsfunktionen Ruffert (N 28), S. 88 ff., 141 ff. 56 Vgl. Kelsen (N 49), S. 153. 57 Auf dieser Linie Jürgen Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 62 ff.; ders., Grundrechte und Privatrecht, in: AcP
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Freilich sind alle Gesetze den Grundrechten verpflichtet, gleich, ob sie dem öffentlichen Recht oder dem Privatrecht angehören, gleich, ob sie ius cogens enthalten oder ius dispositivum. In ihnen manifestiert sich Staatsgewalt ebenso wie in den verfahrensleitenden Entscheidungen der Gerichte. Das aber gilt gerade nicht für die Manifestationen der Privatautonomie. Die normologische Deduktion vernachlässigt die grundrechtliche Fundamentalunterscheidung zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Rechtserzeugung. Allein die erstere unterliegt der Grundrechtsbindung nach Art. 1 Abs. 3 GG. Die Grundrechtsbindung erfaßt nicht alles Handeln, das die staatlichen Normen ermöglichen, sondern allein das Handeln der Staatsgewalt, während das der Privaten gerade den Schutz der Grundrechte genießt. Dagegen läßt sich nicht einwenden, daß die Privatautonomie bedingt sei durch das staatliche Normensystem. In der Tat ist grundrechtliche Freiheit in weitem Maße angewiesen auf die staatliche Rechtsordnung, welche die Voraussetzungen ihrer Ausübbarkeit bereitstellt. Doch die Abhängigkeit von Voraussetzungen stellt die Existenz der grundrechtlichen Freiheit nicht in Frage, auch nicht den normativen Vorrang der Grundrechtsnormen vor den einfachrechtlichen Normen, die ihre Voraussetzungen enthalten. Überhaupt ist der rechtsstaatlichen Verfassung die unmittelbare Inpflichtnahme des Privaten fremd. Sie erkennt ihm zwar unmittelbar geltende Grundrechte zu (Art. 1 Abs. 3 GG), doch keine unmittelbar geltenden Pflichten. Doch wenn die Grundrechte dieselbe Person in derselben Hinsicht gleichermaßen berechtigen und verpflichten, heben sie sich in ihrer Wirkung auf. In dieses rechtsstaatliche Konzept paßt keine Drittwirkung der Grundrechte. Eine vereinzelte Bestimmung des Grundgesetzes, die private Beschränkungen der Koali185 (1985, S. 1 ff.; Dietrich Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 62 ff.; Michael Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 1997, S. 251 ff. Kritik: Claus-Wilhelm Canaris, Grundrechte und Privatrecht, in: AcP 184 (1984), S. 201 (217 ff.); ders., Erwiderung, in: AcP 185 (1985), S. 9 ff.; Isensee (N 38), § 111 Rn. 118 f.
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tionsfreiheit verbietet (Art. 9 Abs. 3 S. 2), läßt keine Analogie zu. Die von Hans Carl Nipperdey inaugurierte Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte, daß der Private, insbesondere der Arbeitgeber, obwohl Träger der Grundrechte, auch ihr Adressat sei, hat sich aus gutem Grund erledigt.58 Nicht erledigt hat sich allerdings die mittelbare Drittwirkung, wie sie das Bundesverfassungsgericht seit dem LüthUrteil handhabt: die Einwirkung der Grundrechte in ihrer Geltungsform als objektive Werte auf privatautonomes Handeln, vermittelt durch die zivilrechtlichen Generalklauseln. Zumal das Blankett der „guten Sitten“ in §§ 138, 826 BGB fungiert als „Einbruchstelle“ der Grundrechte in die Privatrechtsordnung.59 In dieser Judikatur regt sich der Trend, den grundrechtlichen Unterschied zwischen der prinzipiellen Freiheit des Privaten und der notwendigen Gebundenheit der Staatsgewalt einzuebnen, die Vertragsfreiheit zugunsten (sozialer) Gleichheit einzuschränken, Subjektivität objektiven, allgemeinen Regeln zu unterwerfen und individuelle Willkür in verfassungsrechtlich domestiziertes Ermessen zu überführen, wie es in der öffentlichen Verwaltung zu Hause ist. Im Lüth-Urteil liegt die Selbstermächtigung des Bundesverfassungsgerichts, am Vorbehalt des Gesetzes vorbei privatautonome Akte zu regulieren und seiner Kuratel zu unterstellen. Das Gericht beansprucht und praktiziert heute die Inhaltskontrolle von Verträgen am Maßstab der dafür eigens umgedeuteten und umgewidmeten Grundrechte. III. Inhaltskontrolle von Verträgen 1. Gestörte Parität Repräsentativ für die verfassungsrechtliche Inhaltskontrolle von Verträgen ist der Bürgschaftsbeschluß des BundesverDazu Wolfgang Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: HStR V, 11992 ( 2000), § 115 Rn. 136 ff. 59 BVerfGE 7, 198 (204 ff.). 58
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fassungsgerichts. Dieser verpflichtet die Zivilgerichte, Bürgschaftsverträge mit Banken einer verfassungsrechtlichen Inhaltskontrolle zu unterziehen, soweit einkommens- und vermögenslose Angehörige von Kreditnehmern als Bürgen hohe Haftungsrisiken übernehmen. Der Beschluß hebt ein Urteil des Bundesgerichtshofs auf, weil er, in Verkennung der Privatautonomie, nicht geprüft habe, ob und wieweit in dem betreffenden Fall die Bürgin tatsächlich frei habe entscheiden können.60 Die Privatautonomie, die sich in Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlich verkörpert, erfährt hier eine bemerkenswerte Metamorphose: aus einem Freiheitsrecht in eine Freiheitsschranke, aus der Garantie für beide Vertragspartner zu einer Schutzgarantie für den einen, den „unterlegenen“, auf Kosten des „überlegenen“ anderen. Das grundrechtliche Argument der Privatautonomie dient nicht der Legitimation des Vertrags, sondern seiner Delegitimation und damit praktisch seiner Aufhebung. Es bezieht sich nicht auf die Freiheit der Privatrechtssubjekte von staatlichem Zwang, sondern auf deren reale Voraussetzungen. Das Abwehrrecht mutiert zur Gleichheitsgarantie: zum Korrektiv etwaiger Disparität. Das Bundesverfassungsgericht sieht im konkreten Fall der Bürgschaft die Vertragsfreiheit gestört, weil die Bürgin der Bank „strukturell unterlegen“ gewesen sei.61 Hier könnte das Bundesverfassungsgericht anknüpfen an die Erkenntnis der zivilistischen Dogmatik von der Voraussetzung der Vertragsfreiheit: „daß die Einzelnen sich mit der Macht zur Selbstbestimmung gegenüberstehen und nicht durch die Macht des einen statt der beiderseitigen Selbstbestimmung eine einseitige Fremdbestimmung eintritt“. Es sei aber das ewige Dilemma der Privatautonomie, daß sie immer wieder durch ungleiche Machtverteilung in Frage gestellt werde.62 Doch auf ein ewiBVerfGE 89, 214 ff. BVerfGE 89, 214 (232 f.). Analog BVerfGE 81, 242 (254 f.) – Handelsvertreter. 62 Flume (N 30), S. 143. Kritik Wolfgang Zöllner, Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht, in: AcP 196 (1996), S. 1 (25). 60 61
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ges Dilemma läßt sich schwerlich das bürgerliche Vertragsrecht bauen. Es vertrüge nicht die Turbulenzen, die sich ergäben, wenn es sich „immer wieder“ mit rechtspraktischer Wirkung in Frage stellen lassen müßte, weil seine Voraussetzungen mehr oder weniger brüchig waren und ein Vertragspartner geltend machen könnte, er habe nicht „auf gleicher Augenhöhe“ verhandelt, sei „über den Tisch gezogen“ worden und hätte eigentlich, wäre seine Verhandlungsposition nicht so schwach gewesen, die vereinbarten Bedingungen nicht akzeptiert. Die Parität ist zwar keine rechtliche Voraussetzung der Geltung eines Vertrages, sondern eine reale Voraussetzung ihrer optimalen Ausübung.63 Als solche hat sie keine juristische Relevanz, sondern rechtspolitische, moralische, nicht zuletzt rechtstheoretische. Der Rechtstheorie mag sie als Erklärungsmuster dienen, als Idealtypus der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Vertragsfreiheit sich günstig entfaltet. Die Wirklichkeit der Marktgesellschaft entspricht dem Idealtypus nicht. Nähme man die Formel vom strukturellen (Un-)Gleichgewicht juristisch ernst, so würden die meisten Verträge am Ungleichgewicht der Partner zunichte. Der private Kunde könnte sich leicht dem Unternehmer als unterlegen ausweisen, der Patient dem Arzt, der Mandant dem Rechtsanwalt, der kleine Handwerker dem Großauftraggeber. Zu fragen wäre aber, ob mit dem Überangebot an Ärzten und Anwälten die Dominanz auf den Nachfrager überginge. Der Tante-Emma-Laden und der am Rande der Insolvenz dahinsiechende Malerbetrieb jedenfalls sind ihren Kunden unterlegen. Wem kommt übrigens der überlegene Part zu, wenn ein amtierender Ministerpräsident als Kunde einer Filiale des Ikea-Imperiums um den Kaufpreis feilscht und einen Rabatt für sich herausholen möchte? Die Rechtssicherheit im Vertragswesen bräche zusammen, wenn der Indikator der ungestörten Parität das individuelle Aushandeln der Vertragsbedingungen sein sollte: allen Realien 63 Unterschied zwischen Geltungs- und Ausübungsvoraussetzungen: Isensee (N 35), § 115 Rn. 16 ff.
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zum Trotz, ungeachtet der vorgestanzten Geschäftsbedingungen, der ehernen Tarife für Dienstleistungen, der mitteleuropäischen Kultur der festen Ladenpreise, die sich hochmütig vom verhandlungsseligen, auf keinerlei Zeitökonomie bedachten Händlerwesen der Levante absetzt. Eine solche Vorstellung von Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit wäre „nichts als eine ridiküle Chimäre, die für einen Bazar passen mag, nicht aber für eine moderne Markt- und Wettbewerbsgesellschaft“.64 Unter den Auspizien der Gleichgewichtsdogmen ist es für jede Vertragspartei ratsam, sich selbst als die unterlegene auszugeben, die andere als die mächtigere, um das Unterlegenheitsprivileg zu ergattern. Wenn aber beide Seiten sich dieser Methode bedienen und gleichermaßen geschickt argumentieren, drehen sich die Zivilprozesse im Kreise. 2. Grundrechtseingriff unter Gesetzesvorbehalt Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob der Gesetzgeber das (wirkliche oder vermeintliche) Vorliegen struktureller Disparität als Grund nimmt, um eine typisierende Anordnung zum Schutz des Schwächeren zu treffen, oder ob der Richter kraft eigener Deutung der gesellschaftlichen Lage sich auf eine Disparität beruft und ohne Ermächtigung durch Gesetz eine Sanktion verhängt. Die Formel des strukturellen Ungleichgewichts läßt sich beliebig handhaben.65 Sie ist Wachs in den Händen ihres Anwenders. Mit ihrer Hilfe erhebt sich das Gericht an Gesetzen und Gewaltenteilung vorbei zum sozialpolitischen Zensor der Verträge, der seine eigenen Vorstellungen von Vertragsgerechtigkeit exekutiert. Die windige Ideologie der gestörten Vertragsparität erlangt nicht 64 Claus-Wilhelm Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 49 f. 65 Geradezu groteske Züge nimmt die Inhaltskontrolle der Erbverträge des Hauses Hohenzollern an und die Kritik der Ebenbürtigkeitsklausel, BVerfG, Kammerbeschluß v. 22. 3. 2004, in: DNotZ 2004, S. 798 ff. Dazu Josef Isensee, Inhaltskontrolle des Bundesverfassungsgerichts über Verfügungen von Todes wegen, ebd. S. 754 ff.
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dadurch normative Konsistenz und Brauchbarkeit, daß das Bundesverfassungsgericht sie in den Bereich der Verfassung transponiert. Aus den abstrakten Kriterien der Grundrechte kann sie nicht Rechtsklarheit ziehen, sie kann diese aber mit Unklarheit infizieren. Die realen Voraussetzungen für die Ausübung grundrechtlicher Freiheit sind nicht Thema der Grundrechte selbst und gehören nicht zu deren Schutzbereich. Vielmehr sind sie Thema des sozialen Verfassungsziels.66 Auf dieses stützen sich gesetzliche Vorkehrungen, die eine sozialtypische Verhandlungsschwäche ausgleichen sollen, wie die des Arbeitnehmer-, des Mieter- oder des Verbraucherschutzes. Doch auch zur Vermittlung und Umsetzung des Verfassungsziels ist ein formelles Gesetz unerläßlich. Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip und der Vorbehalt des Gesetzes werden von der Sozialstaatsklausel nicht beiseitegeschoben. Daher begründet diese aus sich heraus keine Rechtspflicht für die Vertragspartner. Sie ergibt auch keinen selbständigen rechtlichen Maßstab für ein Gericht, um über die Gültigkeit eines Vertrages zu entscheiden. Die gerichtliche Inhaltskontrolle findet ohne gesetzliche Vermittlung im sozialen Verfassungsziel keine hinreichende Grundlage.67 3. Keine grundrechtliche Schutzpflicht Das Bundesverfassungsgericht beruft sich auf seine grundrechtliche Schutzpflicht.68 Doch handelt es sich nicht um die allseits anerkannte Aufgabe des Staates, die grundrechtlichen Güter wie Leben, Eigentum, Ehre vor dem Übergriff eines privaten Störers zu schützen, eine Pflicht, die den bürgerlichrechtlichen Regelungen der unerlaubten Handlung sowie der Besitz- und Eigentumsstörung korrespondiert.69 Vielmehr Dazu Isensee (N 35), § 115 Rn. 158. Anders BVerfGE 81, 242 (255); 89, 214 (232). 68 BVerfGE 81, 242 (256); 89, 214 (232). In diesem Sinne auch Canaris (N 57), S. 201 (232 ff.). 69 S. o. N 38. 66 67
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wird diese Rechtsfigur auf die von Grund auf verschiedene Konstellation des Vertrags übertragen. So wird die Ablehnung eines Stellenbewerbers, mithin die Auswahl des Vertragspartners, am Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG gemessen oder die Zusage eines geschiedenen Ehegatten, den Wohnsitz zu verlegen, am Grundrecht der Freizügigkeit. Die Erfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten wird kraft grundrechtlicher Deduktion unter den Vorbehalt gestellt, daß sie nicht religiöse Überzeugungen und Bedürfnisse beeinträchtige und nicht unzumutbar in die Religionsfreiheit eingreife. Ergibt sich ein Widerspruch zwischen Vertragsrecht und Grundrecht, so werden als Rechtsfolgen genannt: Unwirksamkeit der Vertragsnorm oder Entpflichtung von ihr, Schadensersatz, Ausschluß der Vollstreckung.70 Das Bundesverfassungsgericht apostrophiert die grundrechtliche Schutzpflicht ausdrücklich bei Arbeitsverträgen hinsichtlich der gesundheitsschädlichen Folgen der Nachtarbeit,71 beim Kündigungsschutz des Arbeitnehmers,72 bei der Ablehnung, ein Arbeitsverhältnis zu begründen, hinsichtlich der Benachteiligung wegen des Geschlechts,73 einschlußweise auch als „Schutzauftrag“ der Verfassung zugunsten des Handelsvertreters bei einer Wettbewerbsabrede.74 Die Inhaltskontrolle des Bürgschaftsvertrages scheint sich dieser Kasuistik einzureihen und als Anwendungsfall der Schutzpflichtjudikatur zu erweisen.75 Doch gegen die Ausweitung der staatlichen Schutzpflicht auf den rechtsgeschäftlichen Bereich erheben sich generelle Bedenken.76 Es fehlt die grundrechtstypische Gefahrenlage, auf welche die reguläre Schutzpflicht antwortet, die VerletCanaris (N 57), S. 232 ff. BVerfGE 85, 191 (212 f.). 72 BVerfGE 84, 133 (147); 92, 140 (150); B. v. 27. 1. 1998, in: NZA 1998, S. 470 (471) – zu § 23 KSchG a.F. 73 BVerfGE 89, 276 (285 ff.). 74 BVerfGE 81, 242 (256). 75 BVerfGE 89, 214 (232). 76 Isensee (N 38), § 111 Rn. 128 ff. 70 71
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zung eines Rechtsgutes. Im Bürgschaftsfall läßt sich der Bank nicht Betrug oder Erpressung vorwerfen; sie hat die Bürgschaftserklärung nicht durch arglistige Täuschung, nicht durch Drohung, auch nicht durch Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche oder auf eine sonstige Weise erlangt, welche die Willensfreiheit der Bürgin in Frage stellen könnte. Die Bank ist nicht Störer, die Bürgin nicht Opfer eines Übergriffs. Wenn hier überhaupt von Gefahr gesprochen werden kann, dann handelt es sich um eine Gefahr, die von der Bürgin selbst ausgeht und die sich gegen sie selbst richtet: daß sie nämlich dem Risiko der Vertragsfreiheit, die ihr aufgrund ihrer Geschäftsfähigkeit zukommt, nicht gewachsen ist. Sinn der grundrechtlichen Schutzpflicht ist es aber nicht, dem Grundrechtsträger Schutz vor sich selbst zu geben und das Rechtsprinzip „volenti non fit inuria“ auszuhebeln.77 Es gibt, wie der Bürgschaftsfall zeigt, gute Gründe dafür, daß der Gesetzgeber in Vertragsbeziehungen der vorliegenden Art interveniert. Doch statuieren die Grundrechte keine Verpflichtung zur Intervention. Die eigenmächtige Entlastung der Bürgin von ihrer selbst übernommenen Vertragspflicht durch das Bundesverfassungsgericht bedeutet einen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Position der Bank. Als solcher hat er sich vor den Grundrechten zu rechtfertigen. Überdies bedarf er der gesetzlichen Grundlage. Die vom Bundesverfassungsgericht pro forma zitierten Generalklauseln in §§ 138, 242 BGB78 genügen dem Erfordernis nicht, weil sie im Blick auf den Eingriff zu unbestimmt sind und auch nicht die vom Gericht genannten inhaltlichen Kriterien der Vertragskontrolle erkennen lassen.
77 Christian Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 147 ff., 153 ff. 78 BVerfGE 89, 214 (233).
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4. Unbegrenzte Abwägung In der Inhaltskontrolle des Bundesverfassungsgerichts wandeln sich die vertragsrechtlichen zu grundrechtlichen Positionen. Als solche werden sie einer Abwägungsprozedur unterzogen: „Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.“79 Ziel dieser vertrackten Dialektik ist die Herstellung praktischer Konkordanz der einander widerstrebenden Belange. Doch dazu bedarf es nicht der gerichtlichen Bemühung, weil die Parteien durch ihren Vertrag die Konkordanz bereits erreicht haben. Das Gericht geht aber so vor, als gäbe es noch keine Übereinkunft, und simuliert Diskonkordanz, die es sodann, wie beschrieben, im Wechselwirkungsverfahren überwindet. Mit der Unterstellung einer Kollision der Grundrechtspositionen erzeugt das Gericht das Bedürfnis, dem es durch Güterabwägung abzuhelfen bestrebt ist. Die Pointe der Inhaltskontrolle besteht gerade darin, daß eine verfassungsrechtliche Umwertung der vertraglichen Werte stattfindet. Das Gericht legt vertragsfremde Zugaben an Gerechtigkeitssubstanz auf die eine oder auf die andere Waagschale, im Bürgschaftsfall also ein kompensatorisches Gewicht auf die Waagschale der „strukturell unterlegenen“ Bürgin, in Mietsachen auf die Waagschale des als schwächer zu behandelnden Mieters. Hier mögen sozialpolitisch sinnvolle und sozialethisch hochwertige Motive am Werk sein, doch um verfassungsrechtliche Maßstäbe handelt es sich nicht. Die Verfassung gründet den Vertrag auf Individualgrundrechte der Freiheit und Gleichheit. Der Vertragsinhalt ist grundrechtlich legitim (falls die Einigung unter fairen Bedingungen zustande gekommen ist), doch nicht deshalb, weil er einem Konzept von materialer Gerechtigkeit entspräche (etwa der objektiven Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung), sondern deshalb, weil die Parteien ihn so gewollt haben, wie er lautet. 79
BVerfGE 89, 214 (232).
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IV. Gleichbehandlungspflicht als Freiheitseingriff Zurück zu den gesetzlichen Diskriminierungsverboten! Auch sie greifen einseitig in die grundrechtlich geschützte Vertragsfreiheit ein.80 In erster Linie treffen sie die Abschlußfreiheit, die freie Wahl des Vertragspartners. Sie zielen darauf ab, eine Vertragsbindung herbeizuführen, während die Inhaltskontrolle, die das Bundesverfassungsgericht übt, eine Vertragsbindung aufzuheben versucht.81 Im Gegensatz zur Inhaltskontrolle erfolgen sie durch Gesetz, genügen also dem Vorbehalt des Gesetzes, über den sich das Bundesverfassungsgericht in eigener Sache hinwegsetzt. Das Raster ist hier wie dort die Scheidung der (potentiellen) Vertragspartner in zwei Klassen, die überlegene, also rechtlich zu bindende Klasse und die unterlegene, also rechtlich zu schützende Klasse, analog also der sozialistischen Dichotomie von Kapitaleignern und Kapitalabhängigen. In der zweiten Klasse aber zeichnet sich die praktische Untergliederung ab in die Diskriminierungsbedrohten (Frauen, Behinderte, Alte, Homosexuelle, Muslime, Türken etc.) und die Nichtgefährdeten (Männer, Gesunde mittleren Lebensalters, Heterosexuelle, Christen, Deutsche ohne Migrationshintergrund etc.); dabei muß erstere Gruppe nicht der Zahl nach in der Minderheit sein, wie die Beispiele der Frauen oder angesichts der demographischen Regression die Alten und angesichts der religiösen Regression die Nichtchristen zeigen. Die Verfassung statuiert hier, wie gezeigt, keine Schutzpflicht für den Staat, vertragliche Ungleichheit zu bekämpfen. Der Verfassungsauftrag des Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen zu ordnen, das soziale Verfassungsziel82 oder die ungeschriebene Staatsaufgabe zur Integration mögen Impuls für 80 Übereinstimmend Jestaedt (N 14), S. 330 ff., 347 ff.; Britz (N 10), S. 365 ff.; Repgen (N 2), S. 69 ff.; Lobinger (N 2), S. 112 ff. 81 Zutreffend Jestaedt (N 14), S. 339 ff. 82 Dazu differenzierend Britz (N 10), S. 384 ff.
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den Gesetzgeber gewesen sein. Doch entheben sie diesen nicht von seiner grundrechtlichen Rechtfertigungslast dafür, daß er Private mit der Gleichbehandlungspflicht belastet und so ihre Abschlußfreiheit beschränkt. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz überzieht den privaten Anbieter mit Pflichten, wie sie der Staatsgewalt schon von Verfassungs wegen obliegen. Ihm sind nunmehr Unterscheidungen verwehrt, die ihm an sich die grundrechtliche Vertragsfreiheit offen hält. Er muß sich für seine Auswahlentscheidung vor den Bewerbern rechtfertigen und seine Motive offenlegen. Die Lage ist unvergleichbar der des Staates. Wenn dieser kraft Art. 33 Abs. 2 und 3 GG gezwungen ist, Stellen des öffentlichen Dienstes ausschließlich nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung zu besetzen und sich amtsfremder, etwa religiöser Auswahlkriterien zu enthalten, so entspricht das seiner ausschließlichen Gemeinwohlorientierung, dem treuhänderischen Charakter des öffentlichen Amtes, der demokratischen Egalität und der rechtsstaatlichen Rationalität, nicht zuletzt der generellen Grundrechtsgebundenheit.83 Der Staat als Monopolist hat eine Rechtsnorm nötig, die ihn auf die Auslese nach fachlicher Eignung festlegt. Für Unternehmen, die sich im Marktwettbewerb behaupten müssen, ist es dagegen schon Gebot betriebswirtschaftlicher Vernunft, das tüchtigste Personal zu gewinnen. Generell wirkt die Marktgesetzlichkeit darauf hin, daß der Anbieter nach ökonomischem Kalkül, also diskriminierungsfrei, entscheidet. Im Einzelfall kann es aber betrieblich optimal sein, nach „Ansehen der Person“, nicht nach abstrakten Regeln vorzugehen, etwa auf Geschlecht, Alter, Erscheinungsbild abzustellen, auf irrationale Momente wie Ausstrahlung, Sympathiewirksamkeit, Attraktivität für Kunden, darauf, daß er in ein Team paßt und sich vom esprit de corps anstecken läßt, kurz: daß „die Chemie stimmt“. Die Vielfalt und die Dezentralisation der 83 Näher Josef Isensee, Öffentlicher Dienst, in: Ernst Benda / Werner Maihofer / Hans-Jochen Vogel (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2 1994, S. 1527 (1542 ff.).
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Entscheidungskompetenzen auf dem Markt gleichen grundsätzlich die Diskriminierung durch einen Anbieter bei anderen aus. Grenzfälle des Monopolmißbrauchs oder der Kollektivbeleidigung werden ohnehin mit den hergebrachten Instrumentarien des bürgerlichen Rechts bewältigt.84 An der Notwendigkeit der flächendeckenden Grundrechtsbeschränkung bestehen Zweifel. Bedenken richten sich auch gegen die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Der Anbieter wird von Gesetzes wegen gezwungen, sich gegenüber jeder Nachfrage zu rechtfertigen und seine Motive aufzudecken. Das kann bereits zu einer quantitativen Überlast führen, wenn der Arzt, der die Stelle einer Sprechstundenhilfe ausschreibt und 150 Bewerbungen erhält, alle diskriminierungskontrollfest prüfen und beantworten soll, so daß er darüber sein Sprechzimmer für seine Patienten über Wochen schließen muß. Die Sozialmoral der Gleichheit, die das Gesetz erzwingen will, wird Denunziantentum, Schnüffelei, Erpressertum auslösen, ein Sozialinquisitorenwesen, das die Interna der Unternehmen und die innere Motivation der Unternehmer durchleuchtet, den Datenschutz zunichte macht. Die bedrohte Seite wird nach Auswegen suchen und legale Ausreden finden, sich in Manipulationen, in vorgestanzte Begründungen, typisierte Pseudorechtfertigungen retten. Der Zwang zur Tugend führt nicht die Kultur der Gleichheit herbei, sondern die Hochkultur der Heuchelei. Die letzte Zuflucht der gepeinigten Vertragsfreiheit wird die Lüge sein. Damit erheben sich auch Zweifel an der Zwecktauglichkeit der Antidiskriminierungsmaßnahmen.85 Das Antidiskriminierungsrecht erzeugt einen neuen Typus des Abzockers, der den Miethai, das Produkt des Mieterschutzrechts, um vieles überbieten wird. Der clevere Pseudobewerber braucht sich nur in provokativer Weise in einer der 84 Zu diesen von Koppenfels (N 10), S. 1492 ff.; Lobinger (N 2), S. 119 f., 142 f. 85 These der realen Folgenlosigkeit der Diskriminierungsverbote: Britz (N 10), S. 395 f.
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diskriminierungsresistenten Eigenschaften zu präsentieren, etwa als Roma, als Schwuler, als Transvestit, gleich, ob echt oder vorgetäuscht. Er stürzt den Arbeitgeber, der ihn allein seiner Aufdringlichkeit wegen für ungeeignet hält, in Beweisnot und in die Verlegenheit, sich zu rechtfertigen – mit der Folge, daß der (Schein-)Bewerber Schadenersatz, also arbeitloses Einkommen kassieren kann; die unerwünschte Situation, Arbeit leisten zu müssen, erspart ihm das Gesetz, weil es den Kontrahierungszwang ausschließt. Winkeladvokaten haben einen neuen Markt entdeckt, wenn sie Inserate der Zeitungen nach diskriminierungsverdächtigen Formulierungen (Stelle für eine „Sekretärin“) durchsuchen oder sich verängstigten Unternehmen als diskriminierungsvermeidungskompetente Rechtsberater andienen. Die Versicherungsbranche sieht ihren Weizen blühen und macht für das neue Unternehmensrisiko prämienträchtige Offerten.86
V. Zug zum Totalitären Ein Apologet der Antidiskriminierungsmaßnahmen beruft sich auf die Diskriminierungspolitik der NS- und der DDRDiktatur und folgert, daß Diskriminierungen die Herrschaftsinstrumente totalitärer Regime seien. Diesen sei „die offene Gesellschaft entgegenzusetzen, in der alle Menschen als Freie und Gleiche einander begegnen und miteinander zusammenwirken sollen“.87 Die verwerfliche Diskriminierung durch Staatsgewalt und Staatsparteigewalt bildet das Argument, um Diskriminierung durch Private rechtlich zu verbieten. Bizarre Logik! Was für den Staat unrecht war, soll künftig auch für den Bürger unrecht sein. Da der totalitäre Staat die bürgerliche Gesellschaft gleichschaltete und ruinierte, um sie seinen schlimmen Zwecken gefügig zu machen, soll der Rechtsstaat künftig die bürgerliche Gesellschaft seinen guten Zwecken ge86 87
Bericht: FAZ v. 16. 11. 2006, S. 4. Eichenhofer (N 10), S. 1081. Ähnlich auch Baer (N 10), S. 292.
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fügig machen und insoweit partiell gleichschalten. Das Opfer der Privatautonomie, das der totalitäre Staat einforderte, will nun auch der Rechtsstaat erzwingen. Wiederum wird das Recht instrumentalisiert, um politische Moral (freilich mit geänderten Vorzeichen) aufzurichten und die Gesellschaft umzuerziehen. Der Trend geht dahin, das negative Freiheitsverständnis der Privatautonomie durch ein positives zu ersetzen, Vertragsfreiheit auf ihre „richtige“, diskriminierungsfreie, politisch korrekte Ausübung zu reduzieren.88 Das positive Verständnis findet klassischen Ausdruck in Goethes „Egmont“: „Freiheit? Ein schönes Wort, wenn’s recht verstanden. Was wollen Sie für Freiheit? Was ist des Freiesten Freiheit? Recht zu tun. Und daran wird der König sie nicht hindern.“ Der das in Goethes Drama sagt, ist allerdings der Herzog von Alba; dieser führt der Despotie das Wort. In der deutschen Literatur findet sich freilich auch eine andere Sicht des positiven, nach staatlichen Rechtskriterien vordefinierten Freiheitsbegriffs: „Es ist aber gleich willkürlich, ob man den Leuten sagt: ihr sollt nicht frei sein oder: ihr sollt und müßt gerade auf diese und keine andere Weise frei sein.“ Der Satz stammt von Eichendorff.89 Er klingt so, als bezöge er sich auf die heutige Lage der Vertragsfreiheit.
Typisch etwa Baer (N 10), S. 292. Joseph von Eichendorff, Preußen und die Konstitutionen, 1832, in: ders., Werke Bd. V, 1988 S. 95 (128). 88 89