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German Pages 141 Year 1993
P. Kirchhof . H. Schäfer . H. Tietmeyer
Europa als politische Idee und als rechtliche Form
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 19
PAUL KIRCHHOF HERMANN SCHÄFER . HANS TIETMEYER
Europa als politische Idee und als rechtliche Form herausgegeben von
JOSEF ISENSEE
Zweite, unveränderte Auflage
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Europa als politische Idee und als rechtliche Form / Paul Kirchhof; Hermann Schäfer; Hans Tietmeyer. Hrsg. von Josef Isensee. - 2., unveränd. Auf!. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte: Bd. 19) ISBN 3-428-07968-X NE: Kirchhof, Paul; Schäfer, Hermann; Tietmeyer, Hans; Isensee, Josef [Hrsg.J; GT
Zweite, unveränderte Auflage der 1993 erschienenen ersten Auflage Alle Rechte vorbehalten
© 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Satz: Fotosatz Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gennany ISSN 0935-5200 ISBN 3-428-07968-X
Inhalt Vorwort zur zweiten Auflage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort zur ersten Auflage ................................
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Europas Einheit: Herkunft, Ziel, Form Von Prof. Dr. Hermann Schäfer, Direktor des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg i.Br./ Bonn.................................................
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Probleme einer europäischen Währungsunion und Notenbank Von Dr. Hans Tietmeyer, Präsident der Deutschen Bundesbank, Frankfurt a. M. ........................................
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Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland Von Prof. Dr. Paul Kirchhof, Richter am Bundesverfassungsgericht, Heidelbergl Karlsruhe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nachwort. Europa - die politische Erfindung eines Erdteils Von Prof. Dr.Josef Isensee, Bonn ......................... 103
Vorwort zur zweiten Auflage Europa unter Begründungszwang - das ist die Lage des Jahres 1993, in dem die Europäische Union nach der Zangengeburt des Maastrichter Vertragswerkes das Licht einer unfreudig skeptischen Welt erblickt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 12. Oktober 1993 den Einigungsplan auf die Waage des deutschen Verfassungsrechts gelegt, gewägt, gewogen und nur deshalb nicht für zu leicht befunden, weil es von sich aus dem supranationalen Projekt Gewichte gemeineuropäisch-deutscher Verfassungsrationalität hinzugetan hat. Ein Rationalitätsschub wie dieser kann der europäischen Sache nur hilfreich sein. Doch zielen die Fragen der Gegenwart über das positive Europa- und Staatsrecht hinaus auf die geistige Einheit, die der organisationstechnischen Einheit vorausliegt, auf den Sinn und auf die legitime Reichweite eines nicht mehr als selbstzweckhaft akzeptierten Integrationsprozesses. Die neue, nüchterne Aufmerksamkeit für Europa erklärt vielleicht, daß dieses Büchlein, wenige Monate nach seinem Erscheinen, seine zweite Auflage erlebt. Bonn, im November 1993
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Vorwort zur ersten Auflage Der Prozeß der europäischen Einigung, der Jahrzehnte hindurch still und unaufhaltsam voranging, ist unversehens in die Krise geraten. Die politische Großwetterlage ist jäh gestürzt. N ach Begeisterung und Hoffnung der Aufbruchzeit, nach zuversichtlichem Pragmatismus der Aufbaujahre und wohlwollender Apathie in der Phase der Stabilisierung der europäischen Institutionen brechen nun Zwietracht, Sorge, Angst und Widerspruch auf. Die gängigen Antworten der politischen Klasse, die über Länder- und Parteien grenzen die europäische Einigung in Gang halten will, verfangen nicht mehr, nicht Durchhalteappelle, nicht supranationaler Utilitarismus, nicht Integrationstechnologie. Damit ist die Zeit gekommen, vertieft über die geistigen Grundlagen Europas nachzudenken, die rechtliche Form im Lichte der politischen Idee zu betrachten und den gegenwärtigen Stand und die Zukunftspläne sachlich zu analysieren. Dieser Aufgabe stellen sich die drei Abhandlungen dieses Bandes, jeweils aus besonderer Perspektive. Das geschichtliche Werden Europas als geistiger Einheit, ihre Umsetzung in Institutionen, die Sichtbarmachung der europäischen Idee in Symbolen: das ist das Thema des Freiburger Historikers Professor Dr. Hermann Schäfer, des Direktors des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu Bonn. Die zweite Abhandlung widmet sich dem Kernstück des Vertragswerks zu Maastricht, an dem sich die politischen wie die fachlichen Geister scheiden, der europäischen Währungsunion, die nicht von vornherein eingebeftet werden soll in eine politische Union. Autor ist Dr. Hans Tietmeyer, der Vizepräsident der Deutschen Bundesbank zu Frankfurt. Die Perspektive der dritten Abhandlung ist die des deutschen Staatsrechts: Grundlagen und Grenzen der europäi-
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sehen Integration in der Staatsverfassung der Bundesrepublik Deutschland. Prüfstein ist, ob das Grundgesetz in seiner aktuellen Fassung - oder jedenfalls in einer durch zulässige Revision möglichen Fassung - die Eingliederung Deutschlands in einen europäischen Bundesstaat gestattet oder ob ein originärer Neuanfang außerhalb der Verfassung gesucht werden muß. Autor ist der Heidelberger Staatsrechtslehrer Professor Dr. Paul Kirchhof, Richter am Bundesverfassungsgericht. Die drei Abhandlungen sind hervorgegangen aus Vorträgen vor der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft der GörresGesellschaft aus Anlaß ihrer Generalversammlung in Würz burg am 28. September 1992. Das Rahmenthema der Sektionsveranstaltung gibt diesem Buch den Titel: Europa als politische Idee und als rechtliche Form. Bonn, im November 1992
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Europas Einheit: Herkunft, Ziel, Form 1 Von Hermann Schäfer, Freiburg i. Br./Bonn "In ganz Europa gehen die Lichter aus", soll der britische Außenminister Edward Grey am Abend des 3. August 1914 gesagt und hinzugefügt haben: "Wir werden nicht erleben, daß sie wieder angezündet werden ,,2. Grey starb 1933, von Zweifeln geplagt über seine Politik, die England im Sommer 1914 an der Seite Frankreichs in den Krieg gegen Deutschland führte. Bedenken wir Folgen und Begleiterscheinungen des Ersten Weltkrieges - das Ende des alten Europa, die Oktoberrevolution, den Zweiten Weltkrieg und den Ost-West-Konflikt - so hat Grey Recht behalten. Es dauerte mehr als zwei Generationen, bis in unsere Tage, bis in Europa - in ganz Europa - die Lichter wieder anzugehen begannen. Wie steht es heute um Europa? Ohne Zweifel strahlen die Sterne des Kontinents - trotz aller Probleme, die sich mit der politischen Union verbinden - so hell wie selten. Zwölf leuchtende Sterne stehen für Europa, sie bilden im Kreis angeordnet auf blauem Grund die uns allen bekannte Europafahne. Wie gut kennen wir dieses Symbol aber wirklich? Wie nahe ist uns Europa eigentlich? Könnten Sie die Europafahne in ihrer Symbolik erklären? Ich stelle diese scheinbar bedeutungslose Frage nicht
1 Leicht überarbeitete und um Anmerkungen ergänzte Fassung des Vortrages in Würzburg am 28.9.1992. Für seine Unterstützung danke ich herzlich Herrn Joachim Gödde M.A. 2 Zit. nach Her/ried Münkler, Das Trennende und das Verbindende. Gibt es eine neue europäische Identität?, in: "Die Zeit" vom 9. November 1990.
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ohne Grund - sie hat einen Hintergedanken - doch dazu später mehr. I. Europa heute - eine Bestandsaufnahme Trotz einiger schwarzer und bedrückender Schatten, die vor allem vom ehemaligen Jugoslawien aus auf Europa fallen, läßt sich heute eine überwiegend positive Bilanz ziehen: Die "großartige Chance für Europa", von der Helmut Schmidt unlängst sprach3, sie zeigt sich in vielerlei Hinsicht: Die Angst vor einem großen Krieg zwischen Ost und West ist fast ganz geschwunden, gegenseitiges Mißtrauen und Haß sind auf den tiefsten Stand seit über einem halben Jahrhundert gesunken, in Ost und West gibt es eine früher ungeahnte Bereitschaft zum Dialog und zur Kooperation. "Die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration", so hat Werner Weidenfeld kürzlich bilanziert, "entfaltet ihre Sogwirkung für den ganzen Kontinent: Souveränitätstransfer im Westen, Beitrittsbemühungen im Norden, Osten und Südosten, weltweiter Wunsch nach privilegierten Beziehungen zur europäischen Gemeinschaft. Der Traum der Gründungsväter könnte nicht hochfliegender sein,,4. Wir sehen die Flaggen längst untergegangener Republiken plötzlich wieder auf den Dächern ihrer Hauptstädte. Der Blick des Westeuropäers fällt in einen Raum, der für ihn bislang weithin terra incognita war. Ins Bewußtsein der Europäer treten die Namen von Völkern, Ländern, Regionen und Städten, die 40 Jahre lang aus dem Horizont der Gegenwart herausgetreten waren. Unter der zerrissenen Decke des zweigeteilten Europa wird wieder ein reich gegliederter Kontinent sichtbar, mit Natio3 Helmut Schmidt, Eine großartige Chance für Europa, in: "Die Zeit" vom 31. Januar 1992, S. 3. 4 Wemer Weidenfeld, Die Bilanz der europäischen Integration 1990/91, in: ders. / Wolfgang WesseIs (Hg.), Jahrbuch der europäischen Integration 1990/91, 1992, S. 13.
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nen, Kulturen und Sprachen, die zu ignorieren man sich bisher leisten konnte 5• Was auf den ersten Blick wie ein grandioser Erfolg des Westens und der Europaidee aussieht, ist zugleich eine enorme Herausforderung. Es brechen Widerspruche auf, die für überwunden, und Probleme, die für erledigt gehalten wurden. Während im Westen der Nationalstaat mehr und mehr zugunsten supranationaler Strukturen preisgegeben wird, knüpfen sich für Esten, Letten, Litauer, Tschechen oder Slowaken die Hoffnungen an eine Wiederbelebung ihrer alten nationalen Traditionen und Identitäten. An die Stelle der alten Grenzen aus Stacheldraht und Beton sind Wohlstands grenzen getreten. Während wir uns nun wirklich frei begegnen und menschlich näherkommen könnten, wird die Entfremdung der Menschen in Ost und West immer größer. Jahrhundertealte ethnische Friktionen und Animositäten brechen sich an den östlichen und südöstlichen Rändern Europas in kriegerischen Auseinandersetzungen Bahn, wie sie für das Europa im Zeitalter des nuklearen Patts undenkbar schienen. Europa geht dem Ende der Nachkriegszeit entgegen, und es ist doch keine Idylle. Schließlich der Prozeß der europäischen Integration selbst: Die Entscheidungen über die Vollendung der politischen Union, die Übertragung weiterer Souveränitätsrechte von der nationalen auf die supranationale Ebene stehen an. Die Haltung vieler Europäer zur politischen Union wird gespeist aus einer merkwürdigen Gemengelage aus Unwissenheit und Verantwortung, aus Zukunftserwartungen und Identitätspsychosen, aus europäischen Hoffnungen und nationalen Ängsten. Der Bürger hat eine Ahnung von der historischen Tragweite der Entscheidungen, kaum aber fundierte Kenntnisse. Um so größer sind seine Ratlosigkeit und Zweifel über die Ziele des Einigungsprozesses. Die Kluft zwischen einer immer undurchschaubarer werdenden 5 Karl Schlägel, Der dramatische Übergang zur neuen Normalität, m: "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 7. Oktober 1989.
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politischen Eigendynamik und einer zunehmend wachsenden Skepsis im europäischen Bewußtsein ist offenbar. Wer würde sich wirklich darüber wundern? Der Abschied vom Nationalstaat muß in Zeiten besonders schwer fallen, in denen sich eben dieser Nationalstaat im gesamteuropäischen Kontext als einziger verläßlicher und Orientierung bietender Rahmen erweist. Nach der Auflösung der sozialistischen Systeme haben die Staaten OstEuropas nur ein Auffangnetz gefunden: Die Nation, die zum politischen Rahmen der neugewonnenen Freiheit wird. Aber wir wissen, daß hier nicht die Zukunft des Kontinents im Zeitalter des beschleunigten zivilisatorischen Fortschritts liegen kann. Die zunehmende Differenzierung der Wissensgebiete und vor allem ihre Internationalisierung verlangt internationale Zusammenarbeit und übernationale Strukturen. Wirtschaftliche Verflechtung, technologische Entwicklung, Umweltschutz, Informationsaustausch, militärische Sicherheit, finanzpolitische Stabilität - alle diese Themen entziehen sich weitgehend einem isolierten nationalstaatlichen Zugriff. Neue Problemstrukturen verlangen nach neuen Integrationsstrukturen. Die derzeitigen Netzwerke grenzüberschreitender europäischer Infrastruktur sind den zu erwartenden Entwicklungen nicht mehr gewachsen. Die Vollendung des europäischen Binnenmarktes, die Schaffung der politischen Union und der Wirtschafts- und Währungsunion werden als Ziel und Lösung angesehen, als Antwort Europas auf die globalen Herausforderungen. Der Weg dahin wird Konflikte mit sich bringen. Der Binnenmarkt wird nicht nur einen Wachs turns schub auslösen, sondern er wird auch eine Fülle angestammter Besitzstände in Frage stellen. Der Umgang mit diesen und vielen anderen Konflikten - so prophezeien Politikwissenschaftler heute -wird sich mit den vorhandenen Entscheidungsstrukturen auf europäischer Ebene ebensowenig gewährleisten lassen, wie der explosionsartig steigende Entscheidungsbedarf: 80 % der marktrelevanten Gesetzgebung wird sich Schätzungen zufolge zukünftig auf europäi-
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scher Ebene vollziehen6• Dies wiederum hat Folgen für Transparenz, Effektivität und Ansehen der europäischen Institutionen. Der Integrationsprozeß wird sich also in den nächsten Jahren eher beschleunigen als verlangsamen, und das, obwohl die Akzeptanz Europas bei den Bürgern deutliche Fragezeichen setzt. Nach neuesten Umfragen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften glaubt nur jeder zweite EG-Bürger, daß die politische Union zum Vorteil für sein Land sein würde, nur jeder Dritte rechnet mit positiven Auswirkungen für sich persönlich. Ebenso unterstützt nur jeder Dritte vorbehaltlos Maßnahmen zum weiteren Ausbau Europas, Tendenz fallend. 50% zweifeln überhaupt am Wert der EG-Mitgliedschaft ihres Landes. Mehr als die Hälfte der Europäer kann sich zu einer europäischen Identität nicht bekennen, 86 % gar glauben nicht, daß die europäische Identität die nationale in absehbarer Zeit wird ablösen können 7•
11. "Europa als Lernprozeß" Wo liegen die Ursachen für dieses eklatante Auseinanderklaffen von offensichtlichen politischen Notwendigkeiten und politischem Bewußtsein? Natürlich sind die Defizite in der Vermittlung des Europagedankens erheblich, wenn die Bürger so nachhaltig Zweifel am Einigungsprozeß haben. Das allerdings ist keine neue Erkenntnis. Die Passivität der Menschen gegenüber Europa wurde schon in den siebziger Jahren heftig beklagt. Nicht ohne Grund stand darum 1978 die XVI. Hochschulwoche für politische Bildung unter dem Motto "Europa als Lernziel". Der damalige nordrhein-westfälische Kultusminister Jürgen Girgensohn beklagte auf dieser Veranstaltung den fehlenden direkten Bezug zwischen dem politischen Geschehen und den Bürgern als Vgl. Weiden/eid (Fn. 4), S. 14. Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Hg.), Eurobarometer Nr. 37, Juni 1992. 6
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Wählern und folgerte: "So erklärt sich die Passivität der europäischen Bürger wenigstens zum Teil"s. Daran hat sich bis heute leider nichts geändert. Nachdem die Europaeuphorie der 50er Jahre längst verpufft ist, fehlen der europäischen Integration spätestens seit den 70er Jahren positive Symbole. An Klagen hierüber hat es nicht gemangelt. Nicht erst seit "Maastricht" weiß man, daß sich Identitätsdefizite hemmend auf den Integrationsprozeß auswirken können. Es spricht jedoch für die ganze Hilflosigkeit der eingefahrenen Strukturen, wenn der Europäische Rat 1984 glaubte, ausgerechnet durch die Einsetzung eines Ausschusses - des sogenannten "Adonnino-Ausschusses" - der europäischen Identitätsprobleme Herr zu werden. Europa ist also tatsächlich ein Lernprozeß, nicht eine Aufgabe, die Brüssel und Straßburg zu lösen im Stande wären. Es ist ein Prozeß, in den die ganze Gesellschaft mit allen ihren Bildungsund Kultureinrichtungen eingreifen muß, die Medien ebenso wie die Schulen und Hochschulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung in gleicher Weise wie die Bibliotheken, Theater oder Museen.
III. Europa-Symbolik "Museen" - dies ist ein Stichwort, auf das ich näher eingehen möchte, auch weil hier das Europathema vielleicht weniger vermutet wird. Im Frühjahr 1994 wird in Bonn das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seine Pforten öffnen. Als Museum für Zeitgeschichte in Deutschland seit 1945 - unter Einschluß der Vor- und Entstehungsgeschichte, "schwarzer" und "weißer" Traditionslinien - bietet das Haus der Geschichte dann erstmals die Möglichkeit, die politische Geschichte, die WirtS }ürgen Girgensohn, Eröffnung der XVI. Hochschulwoche für politische Bildung, in: Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen (Hg.), Europa als Lernziel, 1978, S. 9.
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schafts- und Sozialgeschichte, die Gesellschaftsgeschichte sowie Aspekte der Alltagsgeschichte in einem Ausstellungsrundgang nachzuerleben 9 • So nationalstaatlich wie der Name der Einrichtung vielleicht suggeriert, ist die Konzeption des Hauses der Geschichte jedoch beileibe nicht. Schon im wissenschaftlichen Gutachten aus dem Jahre 1984, verfaßt von namhaften Historikern und Museumsfachleuten lO und Endergebnis einer breiten gesellschaftlichen Diskussion, wurde die Notwendigkeit zur perspektivischen Einbindung der deutschen Nachkriegsgeschichte in einen größeren europäischen und atlantischen Zusammenhang benannt. Im Zuge der Umsetzung dieses Konzeptes in den Zusammenhang der künftigen Dauerausstellung werden Ereignisse und Entwicklungen der deutschen Geschichte daher verknüpft mit internationalen und europäischen Zusammenhängen: Die demokratischen Traditionen der Bundesrepublik sind letztlich nicht denkbar ohne die Französische Revolution, die zum Beispiel durch das Exponat einer Jakobiner-Mütze symbolisiert werden kann; der Wandel im Osten und die Wiedervereinigung sind nicht erklärbar, ohne zugleich die Rolle von KSZE und Europäischer Gemeinschaft zu erläutern, die durch eine Vielzahl von Objekten visualisiert werden. Auch in seinem Wechselausstellungsprogramm wird das Haus der Geschichte europäischen Aspekten und Fragen der Beziehungen zwischen Deutschland und seinen Nachbarn zentrale Bedeutung einräumen. Allerdings - und damit komme ich zugleich zurück auf die Frage nach der europäischen Identität - zeigt sich gerade in Ausstellungs- und Museumsarbeit, wie schwierig es ist, Europa auf eingängige Symbole zu bringen und es damit anschaulich zu 9 Vgl. "Erlebnis, Geschichte", hg. vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1991. 10 Lothar Gall / Klaus Hildebrand / Horst Möller / Ulrieh Löber, Überlegungen und Vorschläge zur Errichtung eines Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, 1984.
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machen. Europa, das ist für eine Mehrheit gleichbedeutend mit Europäischer Gemeinschaft, mit Krisen und Reformen, mit Agrarpreisen und Gipfeltreffen. Die Menschen hören von "Lastkraftwagen-Besteuerungsharmonisierung" oder von den Vorzügen und Nachteilen eines "Pool-Währungsverbundes". Wenige denken neben den wirtschaftlichen Interessen an politische und geographische Zusammenhänge. Wer aber denkt an historische oder geistes geschichtliche Symbole? Sie alle kennen das Finalthema aus Beethovens 9. Symphonie, auf das Schillers Hymne "Freude schöner Götterfunken" angestimmt wird. Diese Hymne ist ein musikalisches Kultobjekt ersten Ranges und pompöser Ausdruck feierlicher Hochstimmung bei unterschiedlichen Anlässen: Wilhelm Furtwängler stimmte sie zur Feier deutscher Schlachterfolge im Zweiten Weltkrieg an. Nur zwanzig Jahre später, 1964, diente sie als Ersatznationalhymne der gesamtdeutschen Olympiamannschaft und wurde bald auch von der Musikindustrie als Klassik-Pop-Epos "Song of joy" vermarktet. Leonard Bernstein dirigierte sie bei Feiern anläßlich des Falls der Berliner Mauer, und in den USA wurde ein Werbespot prämiert, in dem die Ereignisse der Nacht vom 9. November 1989 an der Berliner Mauer dargestellt wurden, unterlegt mit Beethovens "Neunter" und der Aufforderung "Trinkt Coca-Cola". Wer aber weiß schon, daß seit 1986 die "Ode an die Freude" auch die offizielle Europahymne ist? Beethovens 9. Symphonie, völkerverbindend, parteipolitisch neutral, vereinnahmt für den Europagedanken. Musik als gemeinsamer Nenner - ein "kleiner" Nenner und doch von pompöser Wirkung. Zu unspezifisch allerdings, um Europa den Menschen wirklich näher zu bringen!!. Beethovens Musik wird heute eine größere Breitenwirkung zugetraut als der griechischen Mythologie. Früher war das anders: Der Raub der Europa durch Zeus, der sich ihr in Gestalt !! Stärkung des Bildes und der Identität der Gemeinschaft, in: Bulletin der EG, Nr. 41/1986, S. 54; vgl. allgemein: Stefan Eisel, Politik und Musik, 1990.
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eines Stieres genähert und sie über das Meer in ein fremdes Land entführt hatte, das fortan ihren Namen trug, wurde in der bildenden Kunst häufig dargestellt. Wer aber verbindet heute mit Europa noch Mythologisches? Gelegentlich stoßen Künstler, die heute das Thema variieren, auf heftigen Protest, so vor wenigen Jahren in Bremen und Bonn ein Ausstellungsplakat nach einem Motiv Roland Topors, in dem die Hörner des Stieres als hübsche Frauenbeine dargestellt waren l2 • Viel profaner ist ein anderes Symbol: Das grüne, schrägstehende "E" auf weißem Grund. Man steckt es sich hinter die Windschutzscheibe, um unbehelligt von Zollformalitäten in europäische Nachbarländer einzureisen. Aber wer weiß schon, daß das "E" gar kein offizielles Europasymbol ist, sondern das Zeichen der Europäischen Bewegung, eines politischen Interessenverbandes von Bürgern? Wer von Ihnen andere Europasymbole wie das "Europäische Umweltzeichen" oder das "Öko-AuditZeichen" kennt, will ich erst gar nicht fragen. Europa besitzt nur wenige Symbole, und diese sind kaum mehr als relativ inhaltslose Hülsen. Wo Begriffe und Bilder derart hinter den realen Entwicklungen zurückbleiben, macht es besonderen Sinn, sich auf den Kern der Frage zu konzentrieren: "Europa - aber wo liegt es?" IV. Was ist Europa? - Integrierende Momente Die Antwort auf diese Frage ist seit langem, ja seit jeher höchst umstritten. Daß eine rein geographische Definition nicht ausreichend ist, liegt auf der Hand, und so wird man auch kaum Paul Valery zustimmen können, wenn er in "La Crise de l'Esprit" vermutet, Europa sei lediglich eine Art "Vorsprung" der alten 12 Mythos Europa, Europa und der Stier im Zeitalter der industriellen Revolution, Ausstellungskatalog, hg. von Siegfried Salzmann, 1988.
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Welt, ein westliches Anhängsel Asiens 13 • Doch immerhin führt eine geographische Betrachtung zu der Einsicht, daß Europa in drei Vorfelder eingespannt ist, in ein eurasisches, in ein atlantisches und in mittelmeerisch-afrikanisches. Im eurasischen Vorfeld schwankten die Grenzen vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart zwischen EIbe und U ral. Legt man die russische Siedlungs- und Machtexpansion zugrunde, muß man bis Sibirien und Turkistan ausgreifen. Im Süden beherrschten die Araber jahrhundertelang nicht nur die afrikanische Gegenküste, sondern zeitweise auch Sizilien und Teile der iberischen Halbinsel. Das atlantische Vorfeld schließlich definiert sich durch das Gewicht und den Einfluß, den die Vereinigten Staaten seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in Europa ausüben. 1. "Kultureuropa " "Europa" ist aber kein "Entwurf der Geographie", sondern vielmehr die "Geographie einer Kultur", wie die portugiesische Europapolitikerin Maria Teresa Gouveia kürzlich formulierte 14 • Schon die Entstehungsgeschichte des Begriffs weist auf die Verbindung mit anderen Elementen: kulturellen, religiösen, politischen hin. Muß man darum Karl Jaspers zustimmen, wenn er schreibt: "Europa - das ist die Bibel und die Antike"15? Oder Heinrich Mann, der das nationale Gemeinschaftsgefühl der Europäer als reine Erfindung der Dichter beschrieben hae 6 ? Sicherlich nicht, denn obwohl Europa nie ein mit sich selbst identischer Begriff gewesen ist, obwohl seine innere Substanz wie auch seine räumliche Ausdehnung ständigen Wandlungen unterlagen, gibt 13 Zit. n. Theodor Schieder, Probleme der europäischen Geschichte, in: O. Franz (Hg.), Am Wendepunkt der europäischen Geschichte, 1981, S. 10. 14 Maria Teresa Gouveia, in: Ingrid von Kruse, Europa beim Wort genommen, 1992, S. 54. 15 KarlJaspers, Vom europäischen Geist, 1947, S. 9. 16 Zit. n. EG-Magazin 8/1983.
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es eine ganze Reihe von historischen Entwicklungslinien, die sich unter dem Oberbegriff "Europa" verstehen lassen. Die "Europäisierung" des Kontinents und zugleich des gesamten Abendlandes ist ein Prozeß, der mit der weltweiten Ausbreitung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation infolge der Emanzipation des Bürgertums und des Aufstiegs des frühmodernen Staates seit dem 17. Jahrhundert einhergeht. Die Überlegenheit des mathematisch-mechanistischen Weltbildes und der politischen Organisationsfähigkeit der Europäer führen dazu, daß sich Europa seit dem Zeitalter der Entdeckungen gegenüber anderen Weltkulturen durchsetzt und zugleich zu einem eigenen Kulturbewußtsein findet. Aber "Europa" ist schon früher das "Gespräch seiner Völker". "Die Griechen der Antike beginnen mit der Entzauberung der Welt. Wissenschaftliches Denken, der Drang nach neuer systematisch begründeter Erkenntnis gewinnt die Oberhand über den Mythos. Dieser Grundzug europäischen Denkens wird von den Römern ins Praktische übersetzt. Institutionen und Ämter, Armee und Rechtsordnung, Steuersystem und Geldwirtschaft"17 viele soziale, kulturelle und politische Einrichtungen der Spätantike erhalten sich - bei gleichzeitig vorhandener Diskontinuität - bis in die europäische Geschichte des frühen Mittelalters und verschmelzen mit neuen Entwicklungen und Errungenschaften. Karl der Große, der sich "ehrwürdiger Leuchtturm Europas" und "pater europae" nennen läßt, schafft ein fränkisches Großreich, dem großzügigerweise der Name des Kontinents gegeben wird, freilich ohne daß es bereits zu einer inhaltlich besetzten Europa-Idee käme. Trotz der mit der Teilung des Frankenreichs beginnenden Partikularisierung und Differenzierung der politischen Geschichte Europas wird dieses zum Ausgangspunkt einer 17 Werner Weidenfeid, Europa - aber wo liegt es?, in: ders. (Hg.), Die Identität Europas, 1985, S. 17.
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gesamteuropäischen, christlich geprägten Kultur, die im universellen Sacerdotium ihren Ausdruck findet. Die theologische Integration wird zur Grundlage Europas. Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit dokumentiert sich in dynastisch-aristokratischen Verbindungen, in den staatsbürgerlichen Konzepten, in der Gründung von Universitäten und dem europäischen Austausch unter den Wissenschaften. Zusammengehörigkeit manifestiert sich in der Gemeinsamkeit und Gleichzeitigkeit von Stilphasen: Malerei und Dichtung, Musik und Architektur lassen sich zu keinem Zeitpunkt regional eingrenzen. Auch die großen Auseinandersetzungen der Geistesgeschichte kennzeichnen die Identität Europas. Mit der Rezeption des Aristoteles entsteht die Spannung zwischen griechischer und römischer Klassik, der Gegensatz von Staat und Kirche prägt das Selbstbewußtsein der Menschen. Ebenso wie die Herausforderungen von außen: die Feindschaft zwischen Rom und Byzanz, die Türkengefahr und schließlich der Einbruch des Islam, der bis in die frühe Neuzeit hinein zum mächtigen Gegenspieler Europas wird. Europa wird elementar betroffen von der Spaltung der Christenheit und von damit verbundenen geistigen und politischen Konflikten. Die Säkularisierung setzt eine revolutionäre Wandlung von gesamteuropäischer Dimension in Gang: In Humanismus und Renaissance werden Bibel und kirchliche Traditionen als geistige Autoritäten entmachtet, der Rationalismus tritt an ihre Stelle. In der Aufklärung gerät sodann das Europabewußtsein in eine innere Spannung zwischen national definierten Interessen und übergeordneter europäischer Orientierung, die bis in unsere Tage eine Konstante des europäischen Geistes bleibt. Was hier nur sehr grob skizziert werden kann, sind gemeinsame Entwicklungslinien, Strukturen und Universalien einer europäischen Geschichte. Was aber sind die treibenden Kräfte, was aber ist der Kern dieses "Kultureuropa" , das es deutlich von anderen Regionen der Welt unterscheidet? Es ist - um mit den Klassikern dieser Fragestellung, mit Max Weber oder Ernst
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Troeltsch zu argumentieren - in erster Linie der "Rationalismus des Okzidents"18. Die Geburt der europäischen Wissenschaft und der aus ihr hervorgegangenen technischen Zivilisation ist ein Prozeß, dessen Anfänge bis ins ausgehende Mittelalter und in die frühe Neuzeit zurückzuverfolgen sind. Ein Prozeß, der das Leben der Menschen grundlegend verändert hat. Auch der Kapitalismus als zentrale Schubkraft der industriellen Entwicklung ist nur denkbar in der Konsequenz des Descartes'schen Rationalismus, wenngleich die ursprünglich religiöse Motivation kapitalistischen Gewinnstrebens zeigt, daß der Rationalismus seinen Ursprung nicht in der Ablehnung, sondern in der Voraussetzung der christlichen Weltanschauung hat. Als durchaus offen hingegen kann die Frage gewertet werden, inwieweit die Demokratie als eine ausschließlich von Europa hervorgebrachte Staats- und Lebensform gelten kann. Gewiß ist die moderne Demokratie mit ihren verschiedenen verfassungsund gesellschaftspolitischen Varianten ein Ergebnis der europäischen Geschichte, wesentliche Impulse für ihre Ausbreitung sind aber zweifellos von Amerika ausgegangen, wie Alexis de Tocquevilles berühmtes Buch über die Demokratie in Amerika belegt. 2. Europa als Konstante der Geistesgeschichte Man mag all dies zwar für plausibel halten, aber insgesamt doch für zu abstrakt, zu strukturell, zu abgehoben für den Horizont des einzelnen, und einwenden, daß man der Frage "Europa - aber wo liegt es?" damit doch wieder nicht näher komme. Dies ist nur auf den ersten Blick richtig. Denn über die Möglichkeit eines politisch geeinten Europa ist in allen Jahrhunderten europäischer Geschichte nachgesonnen worden, und zwar von den bedeutendsten Denkern unserer Kulturgeschichte. 19 18 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft; 51952; Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 41925.
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Dante Alighieri zum Beispiel hat in seiner "Monarchia" von 1308 den Reichsgedanken, der damals mit gesamteuropäischer Integration gleichbedeutend war, mit Vehemenz gegen den aufkommenden Territorial- und Nationalstaat verteidigt. Die Notwendigkeit der Weltherrschaft des Imperiums wird bei ihm vom Endzweck der gesamten menschlichen Kultur historisch, philosophisch und theologisch abgeleitet. Dante übersieht die "trennenden Eigentümlichkeiten" der einzelnen Völker keineswegs, jedoch müsse das Menschengeschlecht entsprechend seiner Gemeinsamkeiten und durch ein gemeinsames Maß zum Frieden gelenkt werden. Was bei Dante die universale Legitimation einer übergeordneten Herrschaft, ist im 16. Jahrhundert bei Maximilien Duc de Sully bewußte Verquickung gesamteuropäischer und nationalstaatlicher Interessen. Sully war Vertrauter und Minister König Heinrichs IV. von Frankreich, der sich nach den Bürger- und Glaubenskriegen zwischen Katholiken und Hugenotten zu einer Neuordnung Europas berufen fühlte: Unter französischer Ägide sollten 15 etwa gleichstarke Staaten eine Konföderation bilden, deren ständiges Organ, ein Europarat, Steuern erheben und eine internationale Armee zum Schutze der Christenheit aufstellen sollte. Dieser christliche Friedensbund setzt eine Gleichberechtigung aller Konfessionen voraus, ein Gesichtspunkt, der diesem Einigungsprojekt im Zeitalter der Glaubenskriege besonderen Respekt zollen läßt. Ein schmales Buch des Pariser Magisters Emeric Cruce von
1623, gewidmet den "durchlauchtigsten, großmächtigsten und
unüberwindlichsten Monarchen" seiner Zeit, geht noch weiter. Cruce entwirft die Skizze eines Völkerbundes als friedensbewahrender Macht auf dem alten Kontinent. In einem ständigen Kongreß sollen in Venedig die Gesandten aller europäischen Monar19 Folgender Überblick nach Hansgeorg Loebel, Europa, das große Gespräch seiner Völker, 1979.
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chen zusammenkommen. Neben der Schlichtung internationaler Streitigkeiten und der Durchsetzung allgemeiner Sicherheit und Gerechtigkeit sieht der Verfasser die Aufgabe einer solchen Konföderation vor allem im sozialen Bereich, denn "unter den Menschen waltet ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Zuneigung, welches sich auf ihre gemeinsame Natur und Bildung gründet". Als William Penn 1693 seinen "Essay zum gegenwärtigen und zukünftigen Frieden von Europa durch Schaffung eines europäischen Reichstages, Parlaments- oder Staatenhauses" veröffentlicht, kann er auf umfangreiche politische Erfahrungen zurückblicken, die er mit der Gründung seines freiheitlichen Kolonialstaates am Delaware gesammelt hatte. Penn plädiert für einen umfassenden europäischen Parlamentarismus, dessen Vorteile er in erster Linie in der Vermeidung von Kriegen, aber auch in der Gewährung von Freizügigkeit, Handelsfreiheit und öffentlicher Sicherheit erblickt. Mit dem Parlamentarismus, so Penn, werde man die Vorzüge der universellen Monarchie genießen, ohne ihre Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Anknüpfend an die Ideen des Abbe Castel de Saint Pierre hat auch Jean-Jacques Rousseau den Plan einer überstaatlichen europäischen Ordnung entworfen. Rousseau teilt den Gedanken eines christlichen Friedensbundes, eines Kongresses, der auch über die militärische Exekutive verfügt, weil er glaubt, daß "alle Mächte Europas durch eine Art von System, durch ein und dieselbe Religion, durch ein übereinstimmendes Völkerrecht, durch die Wissenschaft, durch den Handel, durch eine Art von Gleichgewicht miteinander verbunden" seien. Wie der einzelne in der "Volonte Generale" des Staates seine Freiheit nicht preisgebe, so büßten die Einzelstaaten ihre Souveränität nicht ein, wenn sie sich einem Völkerbund beugten, der das europäische Gesamtinteresse repräsentiere. Immanuel Kant kommt in seiner 1795 erschienenen Schrift "Zum ewigen Frieden" - vor dem Hintergrund eines völlig
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anderen philosophischen Systems - zu der Überzeugung, daß eine moralische Grundlegung der Politik nur bedeuten kann, das Völkerrecht auf einen Föderalismus freier Staaten zu gründen. Wie das Individuum die gesetzlose Freiheit überwinden müsse, so Kant, indem es sich einem gesetzlichen Zwang unterwerfe, so seien auch die gesitteten Völker aufgerufen, aus einem gesetzlosen Zustand untereinander herauszukommen. Auch im 19. Jahrhundert setzten sich führende Männer in Wissenschaft und Politik mit dem Problem der politischen Vergemeinschaftung der europäischen Staaten auseinander. Für Giuseppe Mazzini - einen der Vorkämpfer des nationalen Italien verbindet sich das Bekenntnis zur republikanischen Verfassung seines Vaterlandes mit der Überzeugung, daß den nationalen demokratischen Staaten der Zusammenschluß zu einem einigen Europa gelingen werde. Victor Hugo, der "Lyriker des europäischen Gedankens", war ein eifriger Verfechter der Idee der "Vereinigten Staaten von E uropa", die er als logische Konseq uenz der Französischen Revolution und der republikanischen Verfassung ansah. Konstantin Frantz, Pierre Joseph Proudhon und viele andere kommen hinzu, die aus jeweils unterschiedlichen Motiven und in unterschiedlichen weltanschaulichen Zusammenhängen die Idee eines geeinten Europa formulierten.
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Was ist Europa? - Differenzierende Momente
So grob diese Skizze des Europagedankens in unserer Geistesgeschichte sein mag, so deutlich wird zugleich, wie eng integrierende und differenzierende Momente, Licht und Schatten beieinanderliegen. Europa ist nie politisch geeint gewesen, nie haben die Europäer unter dem Dach einer gemeinsamen Sprache gelebt. Nirgendwo sonst in der Welt prallt politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle, auch ethnische Vielfalt auf so engem Raum aufeinander20 • Die Geschichte Europas, so formulierte Sebastian 20
Weidenfeld (Fn. 17), S. 21.
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Haffner, "ist wie ein Sonatensatz aus zwei Themen komponiert, dem alten römischen Einheitsthema und dem neue ren Thema der Nationalstaatlichkeit"21. 1. Das nationale Prinzip So sind neben den integrierenden geistesgeschichtlichen auch die differenzierenden Kräfte der europäischen Geschichte maßgeblich, und es wird niemanden überraschen, daß hier das Prinzip der Nation im Mittelpunkt steht. Ohne Zweifel hat der Nationalgedanke die gleiche prägende Kraft für das europäische Selbstverständnis wie z. B. Humanismus und Rationalismus. Mit der Entwicklung von Nationalkulturen und Nationalstaaten seit dem späten Mittelalter verbindet sich jedoch seit Jahrhunderten ein Differenzierungsprozeß, der das kulturelle Identitätsgefühl der Europäer in Frage stellt. Die Entwicklung nationaler Volkssprachen zu Kultursprachen, wie sie in der humanistischen Literatur Italiens begann, führte zur bewußten Pflege staatlich sanktionierter Hochsprachen, wie im Frankreich Richelieus und Ludwigs XlV. Die nationale Sprache wurde zum Motiv der nationalpolitischen Bewegung bis ins 19. Jahrhundert hinein. In der Entwicklung des Menschen zu sich selbst - so Johann Gottfried Herder in seinen "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" - helfe ihm die Sprache voran, denn der Mensch sei als "freidenkendes, tätiges Wesen ein Geschöpf der Sprache". Jedes Volk habe die Welt für sich nachgeschaffen in seiner Sprache. Daher sei jedes Volk in seinem nationalen Gehäuse der Urgrund, in dem der einzelne verwurzelt ist, aus dem ihm die Ideen zustreben, mit denen er seine Welt deutet. Die übersteigerte Wertschätzung der eigenen Nation, das Gefühl der Überlegenheit und Einzigartigkeit wurden im 19. Jahr21 Sebastian Haffner, in: Ingrid von Kruse, Europa beim Wort genommen (Fn. 14), S. 104.
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hundert schnell zum Nährboden für das Sendungsbewußtsein einzelner Völker und für nationale Vorurteile aller Art. Auch vor der Sprache machten diese Vorurteile nicht halt: "Die Chinesen und fast alle Asiaten singen, die Deutschen röcheln, die Spanier deklamieren, die Italiener seufzen, die Engländer zischen. Richtig besehen, sprechen nur die Franzosen" - dies jedenfalls glaubte der Jesuit Dominique Bouhours schon vor 300 Jahren22 • Heute stehen wir am Ende eines vom Nationalismus geprägten Zeitalters und sehen deutlicher als vielleicht jemals zuvor, daß das nationale Prinzip der Idee eines universellen Europa entgegensteht. Wie folgerichtig ist denn die Forderung nach der "Überwindung der Nationen", wie sie im Zuge des Einigungsprozesses immer wieder erhoben worden ist? Wer die nationale Idee nicht als Ausbruch aus der europäischen Geschichte, sondern als einen ihrer integralen Bestandteile versteht, wird einsehen, daß Europa keine vergrößerte Nation im gleichen Sinne sein wird, wie es die einzelnen europäischen Nationen sind oder waren. Die Gemeinschaft an Kultur, Erinnerung und Geschichte, die wir heute in den einzelnen Staaten haben, ist eine andere als jene, die die europäischen Völker insgesamt haben. Die integrative Kraft der Nationen kann der integrativen Kraft Europas daher lange zur Seite stehen. Ja, vielleicht ist das Festhalten an den Nationen geradezu Voraussetzung für die Einigung Europas. "Je treu er der Nationalstaat des Abendlandes seinem wahren Wesen bleibt" so schrieb der spanische Philosoph Ortega y Gasset schon vor über 50 Jahren -, "um so geradliniger wird es sich zu einem gewaltigen Kontinent-Staat entwickeln"23.
22 Zit. n. EG-Nachrichten, hg. von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 35, 7.9.1992, S. 1 f. 23 Zit. n. Michael Stürmer, Der Philosoph auf dem Marktplatz, Erinnerung an Ortega y Gasset, in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 18. Juni 1988.
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2. Regionalismus Was aber ist mit dem Regionalismus, der sich heute überall in Europa erhebt? Stellt ,er nicht eine noch viel größere Gefahr der Partikularisierung, der Aufsplitterung des europäischen Kulturund Geisteserbes dar? Sicherlich nicht! Denn jeder Mensch hat Anspruch darauf, nach Sprache und Volkszugehörigkeit, nach Landschaft und Lebenskultur, nach Herkunftsprägung und kollektivem Gedächtnis anders zu sein als sein Nachbar. Ein solcher Anspruch auf regionale Besonderheit richtet sich ja keineswegs gegen das, was die Menschen über solche Unterschiede hinweg verbindet. Der zentrale Impuls des Regionalismus - so hat vor allem Hermann Lübbe herausgearbeitet24 - ist nicht die Abkehr von der kulturellen Identität Europas, sondern der Erhalt herkunftsgeprägter kultureller Vielfalt so weit wie möglich. VI. Auf dem Weg zur Integration: »Mächteeuropa" Jenseits des Begriffes von Kultureuropa hat der Gedanke eines europäischen Zusammenwachsens auf praktischer Ebene immer etwas Spekulatives gehabt. Europa insgesamt hat bis in die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts kaum politische Institutionen von Dauer entwickelt. Dies gilt auch für das Römisch-Deutsche Reich selbst in den Zeiten seiner größten Machtentfaltung. Das europäische Staatensystem des 18. und 19. Jahrhunderts, verbunden durch eine gemeinsame aristokratische Führungsschicht und ein gemeinsames "Jus publicum europaeum", wie es in der Völkerrechtsliteratur genannt wird, ließe sich in gewisser Weise als Beispiel einer europäischen Konvenienz anführen, da es das Gleichgewicht der Mächte im Sinne einer Kollektivhegemonie mit sozialkonservativen Zügen ausübte. Dieses "Mächteeuropa" , 24 Hermann Lübbe, Die große und die kleine Welt, Regionalismus als Europäische Bewegung, in: W. Weidenfeld (Hg.), Die Identität Europas (Fn. 17), S. 191ff.
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wie Theodor Schieder es genannt hae 5, konnte seine völkerrechtlichen Regularien zwar bis zum Ersten Weltkrieg aufrechterhalten, sein universaler weltpolitischer Anspruch aber war seit der Monroe-Doktrin von 1823 in Frage gestellt. Der Berliner Kongreß von 1878 muß als die letzte rein europäische Beratung über weltpolitische Fragen angesehen werden. Auch zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg hat es an europapolitischen Vorstößen nicht gefehlt, erinnert sei hier nur an das Europamemorandum Briands von 1930 oder die Paneuropaunion des Grafen Coudenhove Kalergi. Als zukunftsweisendes Ergebnis von 1918/19 wurde jedoch weniger die Tatsache der Zerstörung des traditionellen Staatensystems und damit der Zwang zur Neuorientierung als vielmehr der Sieg des nationalen Selbstbestimmungsrechts angesehen. So bedurfte es erst der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, ehe der Gedanke der übernationalen Integration neue Schubkraft erhielt. VII. "Wirtschaftseuropa": die Integration seit dem Zweiten Weltkrieg
Die Forderung nach einer föderativen Neuordnung Europas entstand schon während des Krieges, vor allem in den verschiedenen nationalen Widerstandsbewegungen. Politisch bedeutsam wurde sie, als Winston Churchill in seiner berühmten Züricher Rede vom 19. September 1946 ein uneingeschränktes Plädoyer für die "Vereinigten Staaten von Europa" hielt und als ersten Schritt in diese Richtung die Bildung eines Europarates bezeichnete. Die Schaffung eines institutionalisierten Europa, die mit der Bildung des Europarates im Mai 1949 ihren Anfang nahm, basierte auf einer Reihe von Motiven: Neben dem Wunsch nach Sicherheit und Frieden, nach Freiheit und Mobilität trieb die Menschen die Hoffnung an auf steigenden Wohlstand und auf die 25
S.o. Fn. 13.
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politische Rekonstruktion des Kontinents. Die Gründungsväter der Integration sahen im "Ja" zu Europa ein "Ja" zur politischen Organisation der Freiheit. Nicht die nationalistische Verengung sollte die Antwort auf die Kriegserfahrung sein, sondern eine supranationale Organisation zur Absicherung des gemeinsamen Friedens- und Freiheitswillens26 • Dabei war die Ausgangsposition der Europäischen Gemeinschaft durchaus paradox: Dem politischen Willen der Rekonstruktion Europas auf föderativer Basis - die noch dazu Vorbildcharakter für andere Erdteile haben sollte - entsprach auf der anderen Seite die völlige machtpolitische Abhängigkeit von der atlantischen Großmacht USA und damit zugleich das Eingebundensein in den heraufziehenden Ost-West-Gegensatz27 • Trotz oder gerade wegen - dieses Eingebundenseins in die übergeordnete bipolare Weltpolitik verstanden die Gründungsväter der Gemeinschaft das Geschaffene nur als einen Torso von Europa, der zwar inhaltlich die Gesamtidee repräsentieren, in seiner äußeren Form jedoch auf das Hinzutreten der Staaten Mittel- und Osteuropas angewiesen sein sollte. Das Bild von Europa als praktisch-wirtschaftlichem Zweckverband hat den Europagedanken am nachhaltigsten geprägt. Dabei wurde die politische Bedeutung des Europarates bei weitem von den Europäischen Gemeinschaften überflügelt. Aus mehreren Vorstufen erwuchs durch die Römischen Verträge von 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zunächst der Staaten der Sechsergemeinschaft, die zehn Jahre später mit Euratom und Montanunion zur Organisation der Europäischen Gemeinschaften zusammengefaßt wurde und der seit 1973 die bisherigen EFTA-Staaten Großbritannien, Dänemark und Irland, seit 1981 Griechenland sowie seit 1986 Portugal und Spanien angehören. Die Probleme der EG, wie z. B. die ständige Finanz26 Wilfried Loth, Der Weg nach Europa, Geschichte der europäischen Integration 1939 bis 1957, 1990. 27 Walter Laqueur, Europa auf dem Weg zur Weltmacht 1945 bis 1992, 1992.
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misere, agrarpolitische Verwerfungen, institutionelle Krisen und außenpolitische Defizite, sind uns allen bekannt und können hier ausgespart bleiben28 •
VIII. Von der wirtschaftlichen zur politischen Einigung Der Übergang von Kultureuropa über ein Mächteeuropa zum heutigen Wirtschaftseuropa, so sind sich alle einig, kann nicht das letzte Wort sein. Die " graduelle Supranationalisierung staatlicher Einzelfunktionen" - so würde es der Politikwissenschaftler formulieren - ist bislang ohne staatliche Neuformierung geblieben. Daher ist der Auftrag zur Schaffung einer politischen Union, ergangen vom Stuttgarter Gipfel im Juni 1983 und angenommen vom Europäischen Parlament im Februar 1984, ein ebenso folgerichtiger wie konsequenter Schritt zur Überwindung bestehender Provisorien. Indes, der Übergang von der Zollunion zur politischen Union - vergleichbar etwa der Entwicklung vom Deutschen Zollverein zum Deutschen Reich - unterliegt keinem Automatismus, sondern erfordert grundlegende politische, ja moralische Entscheidungen. Sind die Europäer hierauf wirklich vorbereitet? Zweifel regen sich, wie jüngste Abstimmungs- und Umfrageergebnisse ins Bewußtsein rufen. Der Grundkonsens der Europäischen Gemeinschaft, ursprünglich erwachsen aus einem allgemeinen Willen zur Einigung über die Schlachtfelder hinweg, aus einem gemeinsamen Bekenntnis zu Antinationalismus wie zu Antikommunismus, dieser Konsens hat sich angesichts andauernder Probleme und Krisen spürbar reduziert. Europa ist beileibe keine Attraktion sui generis mehr. Alte Freund-Feind-Schemata haben an Brisanz verloren, nationale Egoismen brechen sich erneut zunehmend Bahn. Die Klarheit und Eindeutigkeit des Europabekenntnisses der Anfangsjahre - von Spaak bis de Gasperi - ist heute 28 Vgl. Werner Weiden/eid, Europäische Integration im historischen Überblick, in: ders. / Wolfgang Wessels (Hg.), Europa von A - Z, 1991, S. 9ff.
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wieder utopisch. "Europa muß man schon als Bundesstaat wollen, wenn man ein wirkliches Europa will!,,29 Wer würde diesem Wort Carlo Schmids von 1949 heute vorbehaltlos zustimmen? Statt dessen wird der Begriff des "Monstrum von Maastricht" in die Debatte geworfen - so kürzlich von Johannes Gross 30 . Gewissermaßen in Erinnerung an Samuel von Pufendorffs beißende Kritik am Zustand des Deutschen Reiches in der Mitte des 17. Jahrhunderts wird damit heute unterstellt, eine politische Union werde politikunfähig sein, lähmende Prozeduren der Verrechtlichung und die Zersplitterung des Währungs- und Wirtschafts gebietes aufweisen und sich durch ein lächerliches Zeremonialwesen unmöglich machen. Abgesehen davon, ob das alte Deutsche Reich überhaupt in irgendeiner Weise einen Maßstab für eine politische Union Europas abgeben kann, werden Ängste und Befürchtungen geweckt vor einer Entdifferenzierung europäischer Nationalkulturen, vor einer allgemeinen Nivellierung fruchtbarer Vielfalt. "Die Europäer opfern" - so unterstellte schon Jakob Burckhardt - "wenn es sein muß, alle ihre speziellen Literaturen und Kulturen gegen durchgehende Nachtzüge auf,,3!. Es wird jedoch die gewachsene europäische Identität sein, die selbst vor einer solchen Entwicklung bewahrt. "Politik, die nur die Ökonomie sieht und die kulturelle Dimension vernachlässigt" - so hat Bundeskanzler Helmut Kohl erläutert -, "erreicht die Menschen nicht! Das vereinte Europa kann und darf deshalb 29 Carlo Schmid anläßlich der konstituierenden Sitzung des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung am 13. Juni 1949, in: Deutschland und der Europäische Rat, Schriftenreihe des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung, Nr. 1, 1949, S. 14. 30 Johannes Grass, "Das Monstrum von Maastricht", in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 25. Juli 1992; vgl. die Replik von Michael Stolleis, "Vom Monstrum lernen", in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 24. August 1992. 3! Zit. n. Wolf Lepenies, Europa als geistige Lebensform, in: "Die Zeit" vom 24. Oktober 1989, S. 43.
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kein Schmelztiegel sein. Es soll vielmehr die nationale Identität, Kultur und Lebensweise eines jeden Volkes und Landes schützen. Wir wollen keinen europäischen Leviathan, sondern Einheit in Vielfalt"32. IX. Forderungen an ein künftiges Europa
Die konkrete Ausgestaltung dieser "Einheit in Vielfalt" bleibt der politischen und schöpferischen Kraft der Akteure überlassen, die Ingredienzen sind schon heute klar: Das vereinigte Europa wird mit hierarchisch geordneten Rechtsformen, mit Gewaltenteilung, Grundrechtsgarantien, gerichtlicher Kontrolle ausgestattet sein, es wird die Idee det Volkssouveränität mit einer gerichtlich kontrollierten Verfassung verknüpfen, und es wird schließlich den Facettenreichtum föderativer Gliederung nutzen, um die Völker unter einem Dach zu vereinen. Das künftige Europa wird daher gewachsene Institutionen nicht leugnen und schon gar nicht aus der europäischen Geschichte auszusteigen versuchen; es wird vielmehr konsequent in diesen Traditionen verankert sein und damit die europäische Geschichte fortsetzen. Der Kreis der Nationen und Völker, die - mutatis mutandisdas künftige Europa bilden werden, ist relativ eindeutig. Es gibt niemanden, der ernsthaft bezweifelt, daß die Länder Mittel- und Osteuropas auf lange Sicht hinzuzurechnen sind, auch wenn sie heute noch mit erheblichen Schwierigkeiten des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie, von der Plan- zur Marktwirtschaft zu kämpfen haben. Eindeutige politische Signale der EG in Richtung Osten können den dortigen Transformationsprozeß im übrigen wesentlich erleichtern, ähnlich wie Signale im Fall Spaniens, Portugals und Griechenlands. Schwierig werden und an den Kern der Frage "Was ist Europa?" gehen, dürfte allerdings die Frage, ob Länder wie die Türkei oder Bulgarien ernsthaft zum Kreis der Europaaspiranten zu rechnen sind. 32
Zit. n. EG-Nachrichten 35/1992, S. 1.
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Wie werden Europas Sterne leuchten, wenn neue Länder der Gemeinschaft beitreten? Wir wissen es nicht. Auf die Europafahne bezogen - und damit sei angeknüpft an die eingangs aufgeworfene Frage - ist jedenfalls festzuhalten, daß künftige N eumitglieder der Europäischen Gemeinschaft keine Chance haben, durch zusätzliche Sterne auf der Europaflagge berücksichtigt zu werden. Denn diese Europa-Sterne haben gar nichts mit der Zahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu tun. Die Fahne wurde nämlich schon 1955 für den Europarat geschaffen und besaß ursprünglich 15 Sterne, entsprechend der Zahl der Europaratsmitglieder. Da Deutschland jedoch die Zahl 15 ablehnte - ein Stern stand für das Saarland -, Frankreich die Zahl 14 aus entgegengesetztem Grund wie Deutschland ebenfalls ablehnte, und die Zahl 13 nicht in Frage kam, einigte man sich auf die Zahl 12. Ein europäischer Komprorniß! Erst 1986 übernahm die EG die Flagge, als sie eher zufällig mit der Zahl der Mitgliedstaaten übereinstimmte. Aber immerhin: 80% der EG-Bürger haben die Fahne schon einmal gesehen, 86 % von ihnen assoziieren damit Europa. Nur jeder Zweite glaubt allerdings, daß die Europafahne etwas mit ihm persönlich zu tun habe33 • Die Zeit der Weltmachtstellung Europas ist vorbei, ebenso die einer europäischen Weltgeschichte. Und doch hat dieser Kontinent, dessen Geschichte - wie gelegentlich geschrieben wurde zu Ende zu sein schien, seine Eigenständigkeit und seine Attraktivität gewahrt. Seine Rolle geht bei weitem über das hinaus, was auf dem Tiefpunkt von 1945 auch nur geahnt werden konnte, als Karl Jaspers ihm nur noch die "Pflege der heiligen Stätten des Abendlandes" zugestehen wollte. Wirtschaftliche Interessenvereinigung und die Besinnung auf historische Gemeinsamkeiten dürften jedoch kaum ausreichen, wenn die Europäer für die Herausforderungen einer beschleunigten Modernisierung gewappnet sein wollen. Die europäische Einheit - in welcher Form auch immer - muß in diesem Jahrzehnt entstehen, wenn Europa 33
Euro-Barometer Nr. 37 (Fn. 7), S. 7.
3 Isensee (Hg.)
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nicht den Weg ins weltpolitische Abseits gehen will. Oder - um noch einmal Ortega y Gasset zu zitieren: "Wird sich Europa von den Überresten der Vergangenheit befreien können oder für immer ihr Gefangener bleiben? Denn es ist schon einmal geschehen, daß eine große Zivilisation starb, weil sie ihre überlieferte Staats idee nicht aufgeben konnte ... .'