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German Pages 172 Year 2014
Stefan Kühl Der Sudoku-Effekt
Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und arbeitet als Organisationsberater für Unternehmen, Verwaltungen, Ministerien und staatliche Entwicklungshilfeorganisationen.
Stefan Kühl
Der Sudoku-Effekt Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie. Eine Streitschrift
Für Diskussionen der Thesen danke ich einer Vielzahl von Kollegen, besonders jedoch Friedrich Stratmann, Bernd Kleimann, Christine Schwarz und Thomas Schröder am HIS in Hannover und Stefanie Haacke, Andrea Frank und Birgit Grunschel an der Universität Bielefeld. Meine Sekretärin Christel Vinke-Pitt hat dieses Buch in der ihr eigenen Perfektion Korrektur gelesen. Tilo Anschütz (www.sudoku.anschuetz-web.de) danke ich für die Überlassung von einer Reihe von Sudokus, auf deren Basis ich verschiedene StudiengangsSudokus entwickeln konnte.
Ein ausführlicher Anmerkungsapparat zu diesem Buch kann unter http://www.transcript-verlag.de/sudoku-effekt heruntergeladen werden. Weitere kürzere Essays zu Hochschulen erscheinen unregelmäßig auf meiner Website http://www.uni-bielefeld.de/soz/forschung/orgsoz/Stefan_Kuehl/index.html
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Ein Bachelor-Studiengangs-Sudoku zum Selberlösen Um die Argumentation dieses Buches nachvollziehen zu können, müssen Sie in Ihrem Leben wenigstens einmal selbst ein Sudoku-Rätsel gelöst haben. Weil die Leidenschaft für das Lösen von Sudoku-Rätseln angeblich negativ mit der Höhe der wissenschaftlichen Qualifikation korreliert, ist hier – besonders für die Promovierten unter den Lesern – ein Sudoku zur selbstständigen Lösung abgebildet. Ziel eines Sudokus ist es, die Zahlen Eins bis Neun in das Sudoku einzutragen. Dabei darf jedoch jede Zahl nur ein einziges Mal in jedem Neunerblock, jeder Zeile und jeder Spalte vorkommen. Bei einer Sudoku-Normalbegabung brauchen Sie ungefähr zehn bis fünfzehn Minuten für die Lösung. Bei dem hier abgebildeten Studiengangs-Sudoku wird – wie an einigen Universitäten bereits üblich – von einem dreijährigen Bachelorstudiengang mit neun Trimestern von je drei Monaten mit jeweils fünfundvierzig Leistungspunkten ausgegangen (dargestellt durch die Zeilen). Das Studiengangs-Sudoku besteht aus neun Modulen mit jeweils fünfundvierzig Leistungspunkten (die Neunerblöcke). Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass eine sinnvolle Mischung aus verschiedenen Veranstaltungs- und Prüfungsformen über das ganze Studium erreicht werden muss (dargestellt durch die Spalten).
Inhalt
1.
Komplexitätssteigerung als Folge einer Hochschulreform – eine Einleitung | 9
2.
Kleine Punkte, große Wirkung – Zur Einführung einer neuen Kunstwährung | 25
2.1 ECTS-Punkte – das zentrale Element zum Verständnis der Hochschulreform | 31 2.2 Zum Management einer Kunstwährung – die Rolle von Akkreditierung, Qualitätssicherung und Evaluation | 40 2.3 Was kann man mit einer Kunstwährung machen? Die „Aufladung“ mit zusätzlichen Eigenschaften | 45 3.
Der Sudoku-Effekt – Zur Arithmetik des Studiums | 49
3.1 Von Sudokus, Samurai-Sudokus und Monster-Sudokus | 51 3.2 Die Entstehung des Sudoku-Effekts – Zur ungewöhnlichen Wirkweise der Kunstwährung ECTS | 58 3.3 Die Sudoku-Haltung: Hauptsache, es geht irgendwie auf | 62 4.
Verschulung wider Willen – Die ungewollten Nebenfolgen einer Hochschulreform | 67
4.1 Frontalunterricht, Prüfungsinflation und reduzierte Wahlmöglichkeiten – Zur Dynamik der Verschulung | 69 4.2 Effekte einer ungewollten Nebenfolge | 77 4.3 Die vergeblichen Versuche der Eindämmung ungewollter Nebenfolgen | 81 Die Flucht in die Regelabweichungen | 85 5.1 Informelle Rettungsstrategien | 88 5.2 Unterhalb des Radars – Die Pflege der Fiktion der Vergleichbarkeit | 98 5.3 Fazit – Je stärker die Orientierung an den hehren Zielen, desto größer die Notwendigkeit für Regelverstöße | 102 5.
6.
Der bürokratische Teufelskreis – die Verschärfung des Sudoku-Effekts durch Dauerreformen | 105
6.1 Regelabweichungen als Risiko für die Hochschulen | 107 6.2 Die Reformen der Reformen – Zur Produktion neuer Regeln | 110 6.3 Der Circulus Vitiosus der Bürokratisierung | 112 7.
Die ergebnislose Suche nach „Schuldigen“ – Weswegen sich niemand für die Effekte der Bologna-Reform verantwortlich fühlen muss | 115
7.1 Die „Vernebelung“ von Verantwortlichkeiten | 117 7.2 Erklärungen jenseits der Idee eines hochschulpolitischen Masterplans | 124 7.3 Von der Nützlichkeit des „Blame Games“ für den Bologna-Prozess | 134 8.
Was tun? Zum Umgang mit den Nebenwirkungen der Bologna-Reform | 137
Anhang – Zu den Schwierigkeiten eines soziologischen Zugangs zur hochschulpolitischen Praxis | 147 Literatur | 155
1.
Komplexitätssteigerung als Folge einer Hochschulreform – eine Einleitung „Du wirst sehen, es ist alles sehr kompliziert auf der Welt. Es sieht alles einfach aus, aber es ist sehr kompliziert. Alles ist kompliziert.“ DER ALTE SCHAUSPIELER IN DEM THEATERSTÜCK „EINFACH KOMPLIZIERT“ VON THOMAS BERNHARD
Wenn Wissenschaftler in dreißig oder vierzig Jahren mit dem Begriff „Bologna“ konfrontiert werden, dann werden sie vermutlich wieder an eine kleine italienische Stadt mit einem sehenswerten Stadtzentrum denken, an Spaghetti, an Sauce bolognese oder an einen mehr oder minder guten Vino rosso, vielleicht auch noch daran, dass in dieser Stadt am Anfang des zwölften Jahrhunderts die erste Universität der Welt gegründet wurde. Zurzeit ist Bologna jedoch, so der Philosoph Konrad Paul Liessmann (2009: 7), ein „Synonym für eine radikale und flächendeckende Umstrukturierung des europäischen Hochschulwesens“ geworden, „ein wichtiger Schritt in die moderne Wissensgesellschaft für deren Befürworter, der Ruin der Universität für deren Gegner.“1 Wenn man die Abschlusserklärung der Bildungsminister liest, die sie auf ihrer Konferenz in Bologna kurz vor der Wende zum 21. Jahrhundert verkündeten, fühlt man sich fast an einen religiösen Text erinnert, wenn
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Ich paraphrasiere im ersten Satz Liessmann (2009: 7), der sich noch wehmütig an die Zeiten erinnert, als man mit Bologna „nichts anderes assoziierte als eine italienische Stadt mit historischem Zentrum und kulinarischen Genüssen“ wie „Tortellini“, „Sugo Bolognese“ und „Vino Rosso“ und „die Stadt, in der im Jahre 1088 die erste Universität Europas gegründet wurde“.
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beispielsweise unter dem Titel „Europäischer Hochschulraum“ nicht weniger als ein „Europa des Wissens“ versprochen wird, in dem den „Bürgern die notwendigen Kompetenzen für die Herausforderungen des neuen Jahrtausends“ vermittelt werden sollen (Bologna-Erklärung 1999: 1f.; zum religiösen Charakter siehe Maeße 2010: 183ff.). Auf den Folgekonferenzen der Bildungsminister wird dieses Bekenntnis in immer neuen Formulierungen wiederholt und dabei ein „inspirierendes Arbeits- und Lernumfeld“ in Aussicht gestellt, das im Sinne eines „studierendenzentrierten Lernens“ Studentinnen und Studenten „die besten Lösungen für nachhaltige und flexible Lernwege“ bietet (Budapest-Wien-Erklärung 2010: 2). Die Kritik an der Bologna-Reform erscheint angesichts dieser Versprechen fast als Blasphemie. Mit Formulierungen wie ein „Studieren alla bolognese“ machen sich die Kritiker über eine Reform lustig, die ihrer Meinung nach Studierende zu Wissensmarionetten verkommen lässt. Wenn man von den „Bildungs-Taliban“ hört, die im Namen von Bologna die Universitäten systematisch zerstören, die Diagnosen von „Humboldts Albtraum“ liest und sieht, wie der unaufhaltsame „Niedergang der Universität“ an die Wand gemalt wird, kann man fast den Eindruck gewinnen, dass die durch die europäischen Bildungsminister angestoßenen Veränderungen an den Hochschulen als ähnlich gefährlich eingeschätzt werden wie eine Übernahme der Hochschulen durch islamische oder christliche Fundamentalisten. In dieser sich verschärfenden Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Kritikern interessieren nicht mehr die detaillierten Auswirkungen irgendwelcher „Rahmenvorgaben für die Einführung von Leistungspunktsystemen“ in irgendwelchen „Ländergemeinsamen Strukturvorgaben“ von irgendwelchen Bildungsministern, sondern es werden eher pauschal Bekenntnisse für oder gegen die Hochschulreform abgegeben und eingefordert. Eine Kollegin, die die Auswirkungen solcher „Strukturvorgaben“ analysiert und Vorschläge dazu macht, wie sie sich umgehen lassen, steht bei den Bologna-Kritikern unter dem Verdacht, eine „Reformerin“ zu sein – ungefähr das schlimmste Schimpfwort, das die Kritiker angesichts der heißlaufenden Reformmaschinerie zur Verfügung zu haben scheinen –, während sie sich von den Befürwortern der Bologna-Reform fragen lassen muss, ob sie denn jetzt grundsätzlich „für“ oder „gegen“ Bologna sei.
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Die Versprechen der Bologna-Reform Auf den ersten Blick überraschen diese Kontroversen, denn die Ziele der Studienreform alla Bologna sind so formuliert, dass niemand dagegen sein kann. Studierenden soll, so das Versprechen, durch die Schaffung eines einheitlichen „Europäischen Hochschulraumes“ ein höheres Maß an „Mobilität“ ermöglicht werden – zwischen Fachbereichen ihrer eigenen Hochschule, zwischen Hochschulen ihres Heimatlandes und ganz besonders zwischen Hochschulen in verschiedenen europäischen Staaten (BolognaErklärung 1999: 4; siehe auch Prager Erklärung 2001: 5). Dafür sollten die Studiengänge aller Universitäten gerade nicht im Sinne eines „europäischen Einheitsstudiums“ angepasst werden, sondern es sollten lediglich alle Studienleistungen, die an einer Universität im „Europäischen Hochschulraum“ erbracht werden, mit den Studienleistungen, die an anderen europäischen Universitäten eingefordert werden, kompatibel gemacht werden. Nicht Harmonisierung, so die Bildungsminister, sei das Ziel, sondern die systematische Ermöglichung eines Vergleichs aller an Universitäten erbrachten Studienleistungen durch die Bestimmung des zeitlichen Aufwandes jeder Studienleistung. Entgegen den Befürchtungen geht es also nicht um eine „McDonaldisierung“ der Studienangebote, in dessen Rahmen an allen Hochschulen die gleichen Module angeboten werden, sondern eher darum, dass der Fettgehalt der Geistesnahrung vergleichbar wird. Weil die Anforderungen in den Studiengängen aller Universitäten im europäischen Hochschulraum durch die Bologna-Reform vergleichbar gemacht werden, würden, so die Hoffnung, Studierende unterschiedliche Veranstaltungsblöcke an verschiedenen Universitäten miteinander kombinieren können. Sie hätten so die Möglichkeit, zwischen Universitäten hin und her zu wechseln, ohne Schwierigkeiten zu haben, ihre an unterschiedlichen Orten erbrachten Leistungen am Ende an einer der besuchten Universitäten gegen einen Studienabschluss eintauschen zu können. Die Studierenden bekämen, so das Versprechen in einer durch Mittel der Europäischen Union geförderten Handreichung, im Vergleich zu Studiengängen in der PräBologna-Ära größere Wahlmöglichkeiten in Bezug auf „Inhalt, Form, Geschwindigkeit und Ort des Lernens“ (European Communities 2009: 9 und 13).
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Weil die Universitäten lediglich sicherstellen müssten, dass die in ihren Fachbereichen erbrachten Studienleistungen mit denen anderer Universitäten vergleichbar sind, sie gleichzeitig aber alle Freiheiten zur Ausbildung eigener Profile hätten, würde sich – so die Hoffnung der Bildungsplaner – der Wettbewerb zwischen den Universitäten um gute und motivierte Studierende verstärken. Da die Möglichkeiten der Ministerien, über Rahmenstudienordnungen auf die Gestaltung von Studiengängen Einfluss zu nehmen, stark reduziert werden, könnten sich die Universitäten ohne aufwendige staatliche Genehmigungsformen mit attraktiven Studiengängen dem Wettbewerb um Studierende nicht nur aus Europa, sondern gerade auch von außerhalb des europäischen Hochschulraums stellen. Diejenigen Hochschulen, die ihre Studiengänge am konsequentesten umbauen, würden, so das pathetische Versprechen, „langfristig im Wettbewerb um die ‚besten Köpfe‘ gewinnen“ (Maassen 2004: 42). Das Mittel der Wahl zur Herstellung der Vergleichbarkeit ist – neben einem zweigliedrigen Aufbau des Hochschulstudiums in ein grundständiges Bachelorstudium und ein aufbauendes Masterstudium – besonders die verpflichtende Einführung eines Punktesystems, mit dem der Zeitaufwand der Studierenden für jede Veranstaltung, jede Prüfung, jede Laborphase, jedes Praktikum im Voraus genau kalkuliert werden soll. Dieses System mit dem etwas umständlichen Namen „European Credit Transfer and Accumulation System“ – kurz ECTS – soll es ermöglichen, Studienleistungen, die beispielsweise an der Université Paris-X-Nanterre erbracht wurden, problemlos mit Studienleistungen an der Universität Bielefeld und der Oxford University vergleichen – und weitergehend dann auch gegenseitig verrechnen zu können. Die überraschenden Folgen der Bologna-Reform Ob die hehren Ziele der Bologna-Reform erreicht werden, ist heftig umstritten und wird vermutlich noch längere Zeit umstritten sein. Während Kritiker darauf verweisen, dass die angestrebte Mobilität der Studierenden zwischen Hochschulen eher gesunken als gestiegen ist, wird von Befürwortern hervorgehoben, dass – jedenfalls nach ihren Berechnungen – immer mehr Studierende die Möglichkeit nutzen, im Ausland zu studieren. Während Kritiker mithilfe quantitativer Studien darauf verweisen, dass die Quote der Studienabbrecher nicht gesunken, sondern in einigen Fällen drastisch
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gestiegen ist, heben Befürworter hervor, dass im Rahmen der BolognaReform ein Studium lediglich früher abgebrochen wird und insgesamt am Ende mehr Studierende zu einem Abschluss geführt werden. Jede irgendwie verfügbare Zahl, jede Umfrage unter Studierenden wird – andere mögliche Ursachen missachtend – irgendwie auf Bologna zugerechnet, sodass sowohl die Befürworter als auch die Gegner der Bologna-Reform sich ihre nötigen Evidenzen zurechtlegen können.2 Einen Effekt hat die Bologna-Reform jedoch sowohl aus Sicht der Verfechter als auch der Kritiker auf alle Fälle hervorgerufen – eine bis dahin nicht dagewesene Steigerung der Komplexität. Die Komplexität der Studiengangsplanung wird inzwischen von Beobachtern mit der sozialistischen Planwirtschaft verglichen. „Wie weiland in der staatlich gesteuerten Ökonomie des Ostblocks“ vergeblich versucht wurde, „die Karotten- und Stahlträgerernte der nächsten fünf Jahre bis auf die einzelne Wurzel und bis auf die konkrete Tonne Stahl“ vorauszuberechnen, werde jetzt, so Armin Nassehi (2009), vergeblich versucht, für alle Studiengänge einen „vollständig durchgeplanten Studienverlauf“ zu erstellen. Trotz dieser Diagnosen hatte es in den ersten Jahren der BolognaReform kaum Studien über die durch die Hochschulreform ausgelöste Komplexitätssteigerung gegeben. Fast alle Aspekte der Bologna-Reform sind inzwischen mit großzügiger Förderung durch die Europäische Union, nationale Bildungsministerien oder Stiftungen ausführlich erforscht worden – mit Ausnahme des Aspekts, welche Komplexitätseffekte durch die Bologna-Reform produziert werden. Aber vermutlich braucht man auch keine ausgefeilte Methodik, um die Komplexitätseffekte der Bologna-Reform zu bestimmen. Eine – zugegebenermaßen willkürliche – Anschauungsempirie wird in den meisten Fällen ausreichen. Erstens: Bologna stellt ganz neue Anforderungen an das „Studierendenverwaltungswesen“. Die Effekte der Komplexitätssteigerung könnte man messen, indem man an den einzelnen Universitäten die Zunahme von Stellen im Bereich der Prüfungsämter, der Studiengangsverwaltung oder der
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Es würde sich lohnen, die häufig auf simplen Kausalitätsannahmen beruhende Zurechnung von quantitativ erhobenen Daten auf politische Entscheidungen näher zu untersuchen. Ausgangspunkt könnte sein, wie beispielsweise solche durch anwendungsnahe Forschungsinstitute erhobenen Daten vor und nach Studierendenprotesten durch Bildungsministerinnen und Bildungsminister interpretiert werden (vgl. die theoretische Grundlage bei Luhmann/Schorr 1982: 18ff.).
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Justiziariate erfasst. Aber häufig reicht der sogenannte „Schlangentest“ aus. Schon bei dem Gang durch ein Institut oder eine Fakultät kann man anhand der Schlangen vor den Türen mit einem Blick erkennen, wo die Engpässe in der Betreuung von Studierenden liegen. Die längsten Schlangen von Studierenden bildeten sich bisher vor den Türen derjenigen Professoren, die entweder besonders populär sind oder wegen ihrer Präsenz auf Fachkongressen, auf Gutachterreisen oder in Massenmedien so selten anwesend ist, dass sie in ihren wenigen Präsenzzeiten an der Uni eine große Menge von Studierenden abfertigen müssen. Der Bologna-Prozess scheint in vielen Universitäten jetzt jedoch dazu geführt zu haben, dass sich die längsten Schlangen nicht mehr vor den Türen des Lehrpersonals bilden, sondern vor den Türen des Prüfungsamtes. Wer es nicht glaubt, möge einfach einmal selbst den Test an seiner Universität machen. Zweitens: Studierende sind für Lehrende „Black Boxes“. Man weiß nicht genau, was in ihren Köpfen vor sich geht, womit sie sich gerade beschäftigen, was sie umtreibt. Jedoch können die Fragen, die sie an die Lehrenden richten, als grober Indikator für das dienen, was sie gerade beschäftigt. Den Komplexitätsgrad eines Studiengangs kann man deshalb daran erkennen, mit welchen Fragen Studierende gerade zu Beginn eines Seminars, einer Vorlesung oder einer Übung auf den Lehrenden zukommen. Man könnte dabei den Eindruck gewinnen, dass sich durch die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge die Fragen zu einem nicht unerheblichen Teil von inhaltlichen Aspekten der Veranstaltung zu Fragen der Anrechenbarkeit verschoben haben. Nicht selten scheinen sich Lehrende ganze Sitzungen lang mit Fragen der Art zu beschäftigen, ob man in dieser Veranstaltung auch zwei Leistungspunkte mehr erwerben kann, ob statt einer Hausarbeit auch noch das durch die Studienordnung verlangte Referat gehalten werden darf oder an wie vielen Sitzungen man teilnehmen muss, um die aktive Teilnahme bestätigt zu bekommen. Drittens: Den Komplexitätsgrad kann man auch daran ausmachen, wie gut Lehrende ihre Studiengänge kennen. Die Regelungs- und Vernetzungsdichte der sich vervielfältigenden Bologna-Studiengänge scheint inzwischen so hoch zu sein, dass Lehrende häufig selbst die eigenen Studiengänge nicht mehr verstehen. Angesichts der Komplexität der Studiengänge können Fragen nach Kreditpunkten, nach der Verrechenbarkeit von Modulen oder nach zu belegenden Veranstaltungen im Rahmen eines Studiengangs von den Professoren häufig selbst nicht mehr beantwortet werden.
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Wenn überhaupt, durchschauen nur noch die Spezialisten in der Studienberatung und in den Prüfungsämtern die Besonderheiten der jeweiligen Studiengänge. Wer dies einmal überprüfen will, muss einfach nur versuchen, sich von einem beliebigen Lehrenden den Bachelor- oder Masterstudiengang erklären zu lassen, in dem er oder sie regelmäßig unterrichtet. Wie ist es zu dieser Komplexitätssteigerung im Zuge der Bologna-Reform gekommen? Die Ursachen der Komplexitätssteigerung Komplexität wächst nicht – wie in der frühen Komplexitätsforschung noch angenommen – allein durch eine pure Zunahme von gleichartigen, eindeutig miteinander in Verbindung stehenden Elementen. Eine Vervielfachung von Veranstaltungen erhöht zwar die Wahlmöglichkeiten der Studierenden, verkompliziert auch die Auswahl von Veranstaltungen, macht aber allein die Studiengänge noch nicht wesentlich komplexer. Komplexitätssteigerung entsteht vielmehr dadurch, dass plötzlich ganz andersartige Elemente – beispielsweise neben den Veranstaltungen auch ECTS-Punkte oder Module – bei Entscheidungen zusätzlich mit in Betracht gezogen werden müssen und diese Elemente auch noch auf ganz verschiedene Art und Weise miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen (Luhmann 1980: 1064ff.). Wir wissen aus der neueren Forschung, dass Komplexität allein durch das Zusammenspiel einiger weniger Elemente entstehen kann – und zwar dann, wenn die Beziehungen zwischen den Elementen nicht genau determiniert sind. Komplexität entsteht also nicht, wenn die Verknüpfung von einem Element, beispielsweise einer Vorlesung Statistik, mit genau einem anderen Element, beispielsweise einem Tutorium zur Datenerhebung, zugelassen wird. Und auch wenn alle Elemente mit allen anderen beliebig kombiniert werden können – also beispielsweise alle Veranstaltungen einer Universität miteinander kombiniert werden können –, liegt bestenfalls eine einem „Urnebel“ ähnelnde unstrukturierte Komplexität vor (Luhmann 1972: 7). Erst die Ungewissheit, mit welchen anderen Elementen ein Element verknüpft wird, schafft eine hohe strukturierte Komplexität (Luhmann 1997: 137ff.).
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Die Komplexitätseffekte, die durch die Kombination einiger weniger Elemente erzeugt werden, kann man sich an einem Spiel verdeutlichen, das mit einigen wenigen Elementen und Regeln hochkomplexe Spielverläufe hervorbringt: Schach. Obwohl (oder besser weil) Schach mit einer geringen Anzahl von Elementen – König, Dame, Turm, Springer, Läufer und Bauern – auskommt, wird Schach nach nur wenigen Zügen zu einem so komplexen Spiel, dass selbst Schachgroßmeister und leistungsstarke Computer nur ansatzweise Entwicklungen voraussagen können (vgl. Waldrop 1992: 151f.). Die Komplexitätssteigerung im Bologna-Prozess wurde dadurch erzeugt, dass die in ECTS-Punkten berechneten Seminare, Übungen, Vorlesungen, Klausuren, Hausarbeiten und mündlichen Prüfungen in „thematischen Containern“ – sogenannten Modulen – zusammengefasst werden und alle diese verschiedenartigen Elemente auf vielfältige Art und Weise miteinander kombiniert werden können, ohne jedoch beliebige Kombinationsmöglichkeiten zuzulassen. Im Sinne einer „flexiblen Studiengangsgestaltung“ sollen Module nicht jeweils nur mit einem anderen Modul kombiniert werden, weil ein Modul im Idealfall in verschiedenen Studiengängen verwendet werden soll. Aber auch die Kombination von jedem Modul mit jedem anderen Modul – im Prinzip eine stark komplexitätsreduzierende Maßnahme – wird untersagt, weil es wenig Sinn macht, Studierenden im Rahmen eines Studiengangs die beliebige Kombination so unterschiedlicher Module wie „Probleme des Genitivs und Dativs“, „Anwendungen der Integralrechnung“, „Geschichte des Nationalstaates“ und „Enzymbildung“ zu ermöglichen. Die Bürokratisierung komplexer Beziehungsmöglichkeiten Jetzt gehört es zu den faszinierenden Entdeckungen der Komplexitätsforschung, dass viele Systeme auf Komplexitätsexplosion erfolgreich mit Mechanismen der Selbstorganisation reagieren. Wenn man Personen mit Instabilität, mit überraschend auftauchenden und verschwindenden Zuständen, mit intelligenten Feindseligkeiten und mangelhafter Kommunikation konfrontiert, dann fangen sie an, eigene Strukturen auszubilden. Personen, die sich dem Chaos scheinbar willkürlich miteinander verknüpfter Elemente gegenübersehen, entwickeln überraschende Fähigkeiten, passende Wege durch das Chaos zu finden (vgl. Baecker 1992: 59f.). Wenn man Studierende mit einem vielfältigen Angebot von Veranstaltungen konfrontiert, dann
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bilden sie durch die Übernahme etablierter Studiermuster älterer Kommilitonen, durch Gespräche mit anderen Studierenden oder durch Beratungen mit ihren Lehrenden ihre jeweils eigenen Studierstrategien aus. Die Komplexitätssteigerung durch die Einführung von in ECTS-Punkten berechneten und in Modulen zusammengefassten Veranstaltungen und Prüfungen wäre also kein Problem, wenn sie entsprechende Mechanismen der Selbstorganisation auslösen würde. Aber genau diese Mechanismen der Selbstorganisation scheinen sich im Rahmen der Bologna-Reform nicht auszubilden. Die Ursache dafür ist, dass die Kombination von Lerneinheiten nicht den Selbstorganisationsfähigkeiten von Studierenden überlassen werden kann. Schließlich kann man, so die nachvollziehbare Logik, es den Studierenden ja nicht selbst anheimstellen, wie sie die verschiedenen an einer Universität angebotenen Veranstaltungen und Prüfungen miteinander kombinieren, sondern man muss in Studien- und Prüfungsordnungen, in fächerspezifischen Bestimmungen und in Modulhandbüchern genau definieren, wie die jeweils mit Zeitstunden hinterlegten Module – und die in sie eingebetteten Veranstaltungen und Prüfungen – miteinander kombiniert werden dürfen und wie nicht. Statt curricularem Laisser-faire, wo Studierende alles mit allem kombinieren könnten, müssten, so die Argumentation, den Studierenden die Wahlmöglichkeiten durch „Ordnungen“ genau vorgegeben werden. Diese verbindliche Festlegung von Kombinationsmöglichkeiten, auf deren Anerkennung man sich nicht nur innerhalb der Universität, sondern auch außerhalb der Universität verlassen kann, hat einen Namen: Bürokratie. Diese Bürokratie ist mit ihren Prinzipien der Gleichbehandlung aller nach vorgeschriebenen Regeln, der Schriftlichkeit aller Vorgänge und der eindeutigen Zuweisung von Kompetenzen ein, so schon die Einsicht Max Webers (1976: 551ff.), zentraler Schutz gegen Willkür. Erst die Fixierung aller erlaubten Kombinationsmöglichkeiten von Veranstaltungen in formalen Ordnungen bietet Studierenden die Sicherheit, dass die erforderlichen Veranstaltungen angeboten werden, solange sie studieren. In letzter Konsequenz haben sie die Möglichkeit, sich auf diese Ordnungen notfalls vor Gericht zu beziehen, sodass sie sicher sein können, dass sie für die von ihnen besuchten Vorlesungen und absolvierten Prüfungen am Ende auch einen Hochschulabschluss bekommen. Die Herausforderung in Bezug auf das Management der Komplexität besteht darin, dass die sich mit der Bologna-Reform vervielfältigenden
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Kombinationsmöglichkeiten von Veranstaltungen und Prüfungen, deren Zeitaufwand jeweils in der neuen Berechnungseinheit „ECTS-Punkte“ ausgedrückt und in Modulen zusammengefasst wird, in den Ordnungen rechtssicher fixiert werden müssen. Wer sich die Dimension eines solchen Unterfangens vor Augen führen will, muss nur die im Rahmen der BolognaReform in Form von Studien- und Prüfungsordnungen, fächerspezifischen Bestimmungen und Modulhandbüchern festgehaltenen diesbezüglichen Regelungen einer einzigen Hochschule in ihrer Papierfassung auf einen Stapel legen und diesen dann mit den Studien- und Prüfungsordnungen aus der Zeit vor Bologna vergleichen. Angesichts der Vervielfältigung von rechtssicher fixierten Regelungen wird die Bologna-Reform häufig als massive Bürokratisierung der Universitäten wahrgenommen. Ein „starrer Schematismus“ mit „aufgeblähten Verwaltungen“, „exzessiven Modularisierungen“, „überflüssigen Akkreditierungen“, „vervielfachten Graduierungen, „unnötigen Evaluierungen“, „verwirrenden Zertifizierungen“ und „zahllosen Reglementierungen“ überziehe, so die Klage, „wie ein Schimmelpilz die europäischen Universitäten“ (Liessmann 2009: 7). Die Zurechnung von Leistungspunkten für jeden Handgriff der Studierenden verlange von Universitäten inzwischen nicht nur eine „hochkomplexe Logistik“, sondern auch „ausgeprägte bürokratische Fähigkeiten“ von Studierenden und Lehrenden (Steinert 2010: 311). Angesichts des „Bürokratismus“ an den Hochschulen wird es häufig nur noch als Hohn wahrgenommen, dass die Bologna-Reform – mit ihrer Reduzierung der staatlichen Vorgaben – immer noch als eine Entscheidung gegen die Bürokratisierung der Hochschulen verkauft wird (vgl. Gaston 2010: 37). Aber wie ist es im Rahmen der Bologna-Reform zu dieser Bürokratisierung in den Hochschulen gekommen? Weswegen hat die Zurücknahme detaillierter staatlicher Regulierungen nicht zu einer Abnahme, sondern zu einer Zunahme von Verregelungen geführt? Jenseits der Suche nach den üblichen Verdächtigen Schnell könnte man die „üblichen Verdächtigen“ für diese Regelungswut und alle ihre Folgeerscheinungen verantwortlich machen: Als Schuldige lassen sich – wie in fast jeder Diskussion über Hochschulen – schnell die „neoliberalen Verschwörer“ heranziehen, die aus einer an Humboldt orien-
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tierten Universität eine „unternehmerische Universität“ machen wollen, in der Bildung zu einer Ware unter anderen wird und die Studierenden zu Kunden degenerieren. Eine transnational organisierte Wissenselite – gruppiert um die McKinseys dieser Welt – zerstöre, so das Argument, in Kooperation mit einigen wenigen, am Modell des Neoliberalismus orientierten lokalen Eliten bewährte Lehr- und Lernmodelle an den Universitäten (vgl. Münch 2009). Vorbereitet durch die „Lyrikwerkstatt zu Gütersloh“ (Kieserling 2009: 27) und andere überwiegend öffentlich finanzierte Zentren für Hochschulentwicklung würde, so die Beobachtung, ein „autoritär-neoliberaler Umbau der Hochschulen“ auf breiter Front einsetzen (Kapfinger/Sablowski 2010: 260). Genauso wie am Markt orientierte Großunternehmen Musterfälle von bürokratischen Wucherungen geworden seien, würden auch die Universitäten unter dem Deckmantel einer „neoliberalen Politik“ mit einem undurchschaubaren Netzwerk von Regelungen überzogen. An den Hochschulen würden so lediglich Bürokratisierungsprozesse nachvollzogen, die man bei privatisierten Wasserversorgern in Frankreich, Kolumbien und Südafrika oder bei zu Privatunternehmen umgewandelten Bahnbetreibern beobachten könne (vgl. nur beispielhaft Lieb 2009: 89ff. oder Oelze 2010: 179ff.). Die Verfechter einer „unternehmerischen Universität“ würden paradoxerweise, so der Verdacht, durch die Harmonisierungspromotoren auf der Ebene der Europäischen Union unterstützt. Was kann man, so die suggestive Frage der Kritiker, von einer durch die EU-Bürokratie vorgedachten Bildungspolitik anderes erwarten als eine Bürokratisierung von Bildung? Kann eine Behörde, die sich den Begriff „Europäisches Leistungspunktetransfersystem“ oder noch besser auf Englisch „European Credit Transfer and Accumulation System“ ausdenkt, etwas anderes initiieren als ein mit Regelungswut überzogenes Netz aus Studiengängen? Nachdem die EUBürokratie die vermeintlich notwendigen Krümmungsvorgaben für Bananen, die Aufbewahrungspflicht für Gartenfackeln im Waffenschrank und die Größe der Warnhinweise auf Zigarettenschachteln festgelegt hätte, würden jetzt eben auch die Universitäten im Rahmen eines neoliberalen Umbaus zu einem Bürokratie-Moloch mit ausgefeilten Kontrolltechniken umgestaltet. Der Vorwurf des Neoliberalismus hat es gerade den überzeugten Anhängern der Bologna-Reform leicht gemacht. Der Vorwurf, dass die Universitäten zu durchbürokratisierten Lernmaschinerien umgebaut werden
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sollen, um der Wirtschaft angepasste und anpassungsfähige Absolventen zur Verfügung zu stellen, prallt an ihnen ab, weil sie die Reform als Mittel zur Bildung von kritikfähigen Bürgern verstehen, die ihre in den Universitäten erworbenen Fähigkeiten in so unterschiedlichen Feldern wie Politik, Wirtschaft, Massenmedien, Recht oder Wissenschaft zum Wohle der Gesellschaft einbringen. Die europäischen Bildungsminister, die Assoziation europäischer Hochschulen und der Dachverband der nationalen Studierendenvertretungen in Europa, die alle die Grundprinzipien der BolognaReform unterstützen, fühlen sich durch den Vorwurf, dass der BolognaProzess von einem „ökonomistisch“ verengten Konzept von Bildung ausgehe, schlichtweg nicht angesprochen, weil sie die Bologna-Reform als ein breites Bildungskonzept verstehen, in dem es darum geht, Studierende in ganz unterschiedlichen Feldern zu fördern und zu fordern. Sicherlich: Die Rolle, die die Anlehnung an Wirtschaftslogiken in der Umgestaltung des Hochschulwesens zurzeit spielt, darf nicht unterschätzt werden. Viele Hochschulleitungen übernehmen – mehr oder minder gedrängt durch die Bildungsministerien – aus der Wirtschaft Managementkonzepte wie Leistungsvereinbarungen, Qualitätssicherung oder Controlling – in der Regel, ohne sich vorher über die paradoxen Effekte, die diese Managementkonzepte in den Unternehmen produziert haben, zu informieren. Die Einrichtung von mit Externen besetzten „Aufsichtsräten“ an Universitäten in verschiedenen europäischen Ländern führt wegen der in der Regel fehlenden Detailkenntnisse der Räte, der seltenen Ratssitzungen und der Abhängigkeit von der Zuarbeit der Stabsstellen der Hochschulen erst einmal nur zur erheblichen Stärkung der Hochschulleitung, aber vermutlich sickert die eine oder andere Formulierung von einem aus einem Unternehmen oder einer Gewerkschaft stammenden Hochschulrat schon einmal in die Strategieentscheidung eines Rektorats ein. Und auch der Würgereiz, den manche Universitätsangehörige angesichts von teilweise aus der Wirtschaft übernommenen Begriffen wie „Employabilität“, „Kompetenzorientierung“ und „Kundenzentrierung“ oder anderen zusammengesetzten Sprachblasen-Collagen bekommen, ist nachvollziehbar.3
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Der Würgereiz scheint in Österreich besonders groß zu sein, weil dort aus dem Unternehmensbereich kommende Konzepte besonders früh und ungehemmt übernommen wurden (vgl. nur beispielsweise Liessmann 2008: 168ff. mit seinen amüsant zu lesenden Bemerkungen zu seiner „University of Vienna“). Es
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Aber eines darf nicht übersehen werden: Geplant und verabschiedet werden die Regelungen für Studiengänge zu allererst auf der Ebene der einzelnen Institute, Fachbereiche und Fakultäten. Zwar müssen diese sich an die Bologna-Vorgaben zur Ersetzung der Diplom-, Magister- und Staatsexamensstudiengänge durch Bachelor- und Masterstudiengänge und die damit verbundenen Regelungen zur Modularisierung von Studiengängen und zur Verrechnung aller Anforderungen in Leistungspunkte halten, aber in der Erfindung und Ausgestaltung der Studiengänge haben sie durch die Bologna-Reform eine bis dahin nie dagewesene Entscheidungsautonomie bekommen. Der primäre Ansprechpartner für die Bürokratisierungstendenzen der neuen Studiengänge sind also die Institute, Fachbereiche und Fakultäten, aus denen häufig die lautesten Klagen über die Entwicklungen an den Hochschulen zu kommen scheinen. Aber weswegen kommt es zu solchen Bürokratisierungseffekten, obwohl doch die Institute, Fachbereiche und Fakultäten daran kein Interesse haben dürften? Wie kommt es, dass einige Institute inzwischen schon in der vierten oder fünften Reformschleife ihres Bachelor- oder Masterstudiengangs sind und dabei das Regelungswerk immer komplexer wird? Woher kommt die Unzufriedenheit mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses, die Studierende im Jahreszyklus immer pünktlich zu Beginn des Wintersemesters aus den Seminarveranstaltungen und auf die Straße treibt? Die These von den ungewollten Nebenfolgen Es ist nachvollziehbar, dass man versucht, die Probleme bei der Umsetzung von Hochschulreformen auf die Intentionen – oder mindestens auf die Ungeschicklichkeit – von Beteiligten zuzurechnen. Man findet so eine Adresse für Kritik, kann die Hoffnung pflegen, dass die Kritisierten dazulernen, und, wenn das nicht hilft, darauf setzen, dass es beim Auswechseln der Personen besser wird. Gerade Bildungspolitiker und Hochschulmanager mögen sich an diesen Strohhalm der personellen Zurechnung der Verantwor-
wird von Universitätsangehörigen berichtet, die einmal als Gastprofessor die Abstrusitäten der „Planungs-“, „Qualitätssicherungs-“ und „Controllingkonzepte“ österreichischer Universitäten beobachten durften und die dann mit einer gewissen Milde gegenüber ihrer eigenen Universitätsleitung nach Deutschland, Frankreich oder Spanien zurückkehrten.
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tung für Effekte der Bologna-Reform klammern, dies geht aber grundlegend an der Sache vorbei. Die Komplexitätsexplosion an den Hochschulen, die damit verbundene Bürokratisierung des Studiums und auch die in den meisten Fällen damit einhergehende Verschulung kann, so die These, nicht vorrangig auf die Intentionen oder auch nur Ungeschicklichkeiten einzelner Personen zurückgeführt werden. Kaum ein Studiengangsplaner setzt sich hin und überlegt, wie er die Wahlmöglichkeiten für Studierende zum Beispiel in einem Masterstudiengang möglichst auf null reduzieren kann. Keine Arbeitsgruppe zur Studienreform entwickelt bewusst Strategien, um Studierenden im Rahmen ihres Studiums möglichst viele Kontakte zum Prüfungsamt zu ermöglichen. Kein Dekan bringt bewusst eine Kurzbeschreibung eines Studienganges in die Fakultätskonferenz ein, die so kompliziert ist, dass die Details nur noch von den Spezialisten in der Studienberatung verstanden werden können. Die Komplexitätssteigerung mit einer damit einhergehenden Bürokratisierung der Studiengänge kann vielmehr – ein Konzept des Soziologen Robert Merton verwendend – als „ungewollte Nebenfolge“ der Einführung eines neuen Instruments der Studiengangsplanung und -steuerung identifiziert werden: der Einführung der ECTS-Punkte als einer Art Kunstwährung zur Bestimmung des Arbeitsaufwandes von Studierenden. Diese ursprünglich lediglich für den Vergleich und Transfer von Studienleistungen zwischen zwei Universitäten geschaffene Kunstwährung wurde im Rahmen des Bologna-Prozesses mit immer mehr zusätzlichen Eigenschaften aufgeladen. Die ECTS-Punkte können von Studierenden in kleinen, bei den Prüfungsämtern angesiedelten elektronischen Schließfächern gesammelt werden, sie können – Stichwort „lebenslanges Lernen“ – auch über einen längeren Zeitraum gespeichert werden, um sie später einmal als Element für Qualifikationen nutzen zu können. Sie können transferiert werden, um sich Leistungen, die man an einer Universität erworben hat, an einer anderen Universität anrechnen zu lassen. Und sie können gegen ein definiertes Produkt – einen Bachelor- oder Masterabschluss – getauscht werden. Das ECTS-Konzept im Rahmen des Bologna-Prozesses kommt teilweise so unscheinbar daher, dass sich einige in Bologna-Studiengängen tätige Professoren mit den Details bisher selbst nicht auseinandersetzen mussten, wenn sie über einigermaßen bürokratiebegabte Assistenten verfügten. In der Berichterstattung der Massenmedien über die Probleme an den Hoch-
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schulen wird diese Kunstwährung häufig gar nicht erwähnt, weil man davon ausgeht, dass man einem fünfzig- oder sechzigjährigen Leser, der für die Zulassung zu seiner Diplom- oder Magisterprüfung früher einfach nur sechs Scheine vorweisen musste, nur schwer vermitteln kann, wie ein System funktioniert, in dem jede Arbeitsstunde eines Durchschnittsstudierenden drei oder zwei Jahre im Voraus geplant werden muss. Und auch als Teil eines Slogans auf Plakaten bei Massendemonstrationen eignet sich ein „Wir wollen keine ECTS-Punkte“ deutlich schlechter als die Kritik an einem „von der Wirtschaft gesteuerten neoliberalen Umbau der Universität“. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Umstellung auf ein zweigliedriges Studium, die Zusammenfassung von Veranstaltungen und Prüfungen in Modulen, die Ersetzung von Abschlussprüfungen durch studienbegleitende Prüfungen und die Definition von kompetenzorientierten Lernzielen – sogenannte „learning outcomes“ – jeweils eigene Herausforderungen für die Hochschulen mit sich bringen. Aber die Schwierigkeiten der Hochschulen mit diesen neuen Elementen sind erst in Kombination mit der Einführung von ECTS-Punkten als einer neuen Kunstwährung zu verstehen.
2.
Kleine Punkte, große Wirkung – Zur Einführung einer neuen Kunstwährung „Dozenten müssen den Lehrstoff für ihren Unterricht so auswählen, dass er von den Studierenden innerhalb der im Modulhandbuch angegebenen Zeit bearbeitbar ist. Das heißt hier: die Fachtexte aus den Seminarplänen müssen innerhalb der vorgegebenen zwei oder vier Stunden von allen gelesen und verstanden werden können. Dabei ergibt sich für die Dozenten das Problem, Texte auswählen zu müssen, die diese Bedingung erfüllen, denn nicht alle Studierenden lesen gleich schnell. ... Man könnte die Angaben im Modulhandbuch auch so auffassen, dass man zum Beispiel vier Stunden lang einen Text liest und dann aufhört, egal ob man bis zum Ende gekommen ist oder irgendetwas verstanden hat. Das wurde jedoch in keiner von mir besuchten Veranstaltung jemals gefordert.“ VERSUCH EINES BACHELOR-STUDENTEN, DIE LEISTUNGSPUNKTANGABEN DES FÜR IHN RELEVANTEN
MODULHANDBUCHS WÖRTLICH ZU NEHMEN
(SCHUFT 2011: 12)
Eigentlich ist alles ganz einfach: Lehrende denken bei der Planung und Durchführung von Studiengängen in „Veranstaltungen“. Sie überlegen, welche Seminare, Vorlesungen oder Übungen Pflicht sein sollen, welche wahlweise belegt werden können und welche Veranstaltungen freiwillig dazu gewählt werden dürfen. Dabei erwägen sie, wie viele Veranstaltungen Studierende in einem Jahr mit einem Leistungsnachweis abschließen sollten. Die Studiengangsplaner schätzen ungefähr, wie viel Zeit Studierende beim Belegen eines Seminars für die Vorbereitung der Sitzung, die Erarbei-
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tung von Referaten oder das Erstellen von Hausarbeiten brauchen. Per Versuch-Irrtum-Verfahren bildet sich dann so ein einigermaßen realistisches „Auslastungsprofil“ für Studierende heraus. Auch die Studierenden richten sich notgedrungen bei der Kalkulation ihres Arbeitsaufwandes nach diesen „Kontaktzeiten“ mit ihren Lehrenden. Studierende wissen zwar bei einem solchermaßen konzipierten Studiengang nicht genau, wie viel Zeit sie für jede einzelne Lektüre, jede einzelne Referatsvorbereitung brauchen werden, aber sie entwickeln im Laufe ihres Studiums ein Gefühl dafür, wie viel Zeit sie in Vorlesungen, Seminaren und Übungen verbringen werden und wie viel Zeit sie benötigen, um Prüfungen erfolgreich ablegen zu können. So können sie – ihre eigene Lerngeschwindigkeit mit in Betracht ziehend – den nötigen Gesamtaufwand für ihr Studium abschätzen. Diese Vorgehensweise bei der Studiengangsplanung hat eine lange Tradition. Schon bei der Entstehung der ersten Universitäten war die Basiseinheit, in der die Vermittlung von Wissen stattgefunden hat, das nicht selten sehr einseitige Gespräch zwischen Lehrenden und Studierenden. Die sich ab dem siebzehnten Jahrhundert an den Universitäten ausbildenden verschiedenen Typen von Lehrveranstaltungen – seien es nun Vorlesungen, Seminare oder Übungen – waren ein Versuch, diesen Gesprächen zwischen Lehrenden und Studierenden einen klar definierbaren zeitlichen (wann findet es statt), sachlichen (worum soll es gehen) und sozialen (wer nimmt daran teil) Rahmen zu geben. Dieses relativ einfache Schema zur Planung von Studiengängen ist durch die Bologna-Reform um ein zusätzliches Element ergänzt worden, mit dem Lehrende, Studierende und besonders die Mitarbeiter der häufig personell erheblich aufgestockten Prüfungsämter zukünftig verpflichtend rechnen müssen. Seit der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen muss jede einzelne Stunde, die ein Studierender für Veranstaltungen, für deren Vor- und Nachbereitung, für Prüfungen und für Praktika aufwendet, über sogenannte ECTS-Punkte – auch „Leistungspunkte“, „Credits“, „Kreditpunkte“ oder „Bonuspunkte“ genannt – berechnet werden. Um die ECTS-Punkte anrechnen zu können, werden an den Universitäten in den meisten europäischen Staaten alle Seminare, Vorlesungen oder Übungen zu einem Themenbereich in „Containern“ – in sogenannten Modulen, Lernblöcken, Kurseinheiten oder Bausteinen – zusammengefasst, die es ermög-
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lichen, das in den verschiedenen Veranstaltungen erworbene Wissen auch abzuprüfen. Struktur eines Studiengangs vor Bologna Profile (Vertiefungsmöglichkeiten innerhalb eines Studiengangs)
Veranstaltungen (in Form von Seminaren, Vorlesungen, Übungen etc.)
Struktur eines Studiengangs nach Bologna Profile (Vertiefungsmöglichkeiten innerhalb eines Studiengangs) Module (werden durch die Zusammenfassung von verschiedenen Veranstaltungen gebildet) Veranstaltungen (in Form von Seminaren, Vorlesungen, Übungen etc.) Leistungspunkte (auf der Basis von Zeitstunden, die für Veranstaltungen und deren Vor- und Nachbereitung sowie für Prüfungen und deren Vorbereitung aufgewandt werden müssen)
Mit diesen ECTS-Punkten wurde – übrigens zeitlich fast parallel zur Einführung des Euros als gemeinsame europäische Währung – nach der Beobachtung von Bildungsforschern an den Universitäten eine eigene Form von „Kunstwährung“ verpflichtend eingeführt. Mit der Bezeichnung der ECTSPunkte als eine „Art von internationaler Währung“ (Erhardt 2000: ix), als „Gemeinsame Währung“ (Keller 2005: 73; Adelmann 2009), als „Bildungswährung“ (Roscher 2000: 50) oder als „Hochschulbildungswährung“ (Winter 2009: 22) wollten die Bildungsforscher besonders auf die durch die ECTS-Punkte geschaffene Möglichkeit der Vergleichbarkeit von Studienleistungen abzielen. Genauso wie eine „Brieftasche mit Euros“ das grenzüberschreitende Reisen leichter macht als ein Portemonnaie mit vielen lokalen Währungen, so würde auch die Währung ECTS zum Reisen über „Erziehungsgrenzen“ hinweg motivieren. Während früher – so das Bild – an den Universitäten eine primitive Sammel- und Tauschwirtschaft herrschte, in der jede Universität ihre eigenen „Scheine“ produzieren konnte, die
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nur an ihrer eigenen Universität gegen einen Studienabschluss eingetauscht werden konnten, würde jetzt eine einheitliche Kunstwährung geschaffen, mit der Studienleistungen im Prinzip weltweit verglichen und damit auch transferiert werden könnten (vgl. Adelmann 2009). ECTS-Punkte „sind“, so die Formulierung im typischen Bürokratendeutsch – oder sollte man Bürokrateneuropäisch sagen – „ein quantitatives Maß für die Gesamtbelastung des Studierenden“ (KMK 2004: 3). Schon bei dieser technokratisch klingenden Definition setzte bei einigen Lehrenden, denen es nur um die Abhaltung eines guten Unterrichts für ihre Studierenden geht, das Interesse am Verstehen und Nachvollziehen dieser Kunstwährung aus. Es dauerte deswegen einige Zeit, bis alle Lehrenden und Studierenden mühsam erlernt hatten, dass diese zur allgemeinen Verwirrung auch häufig Leistungspunkte genannten Einheiten keine beschönigende Bezeichnung für Noten darstellen, sondern dass mit ihnen die Zeitstunden gemessen werden, die ein „durchschnittlicher Student“ mit der Vorbereitung des Lehrstoffs, der Prüfungsvorbereitung, der Abfassung einer Hausarbeit, der Absolvierung eines Praktikums und der Anfertigung einer Abschlussarbeit verbringt. Die Einführung dieser für die meisten Universitäten neuen Zeitberechnungsform wurde begleitet von der häufig in dramatische Worte gekleideten Verkündigung eines „Paradigmenwechsels“ von einer „Lehrendenorientierung“ des Studiums zu einer „Studierendenorientierung“. In einem Ratgeber über „Uni-Angst und Uni-Bluff“, der ursprünglich einmal als Kompendium gegen das hochschulpolitische Establishment publiziert wurde, ist sogar von einer „kopernikanischen Wende“ die Rede, mit der nicht mehr die Lehrenden, sondern endlich die Studierenden im Mittelpunkt des universitären Universums stünden (Wagner 2007: 107). Während früher, so die Behauptung, die Studiengangsplanung immer von den „Kontaktzeiten der Lehrenden“ mit ihren Studierenden ausgegangen sei, würde mit der Einführung der neuen Kunstwährung systematisch von dem „gesamten Zeitaufwand der Studierenden“ aus gedacht werden. Auch wenn diese Verkündigung eines Wechsels von einer „Lehrendenorientierung“ zur „Studierendenorientierung“ nur begrenzt logisch erscheint, weil ja die „Kontaktzeiten der Lehrenden mit ihren Studierenden“ immer auch gleichzeitig die „Kontaktzeiten der Studierenden mit ihren Lehrenden“ sind, liefern die mächtigen Worte des „Paradigmenwechsels“ und der „kopernikanischen Wende“ doch die notwendige hochschuldidaktische Begleitmusik für die
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Einführung einer erst einmal dröge daherkommenden neuen Verrechnungseinheit. Durch die ECTS-Punkte soll es also – so jedenfalls die Vorstellung der Bildungsplanung – möglich sein, jede Stunde, die ein Studierender mit seinem Studium verbringt, im Voraus zu kalkulieren. Dabei wird – in der Regel, ohne systematisch empirische Erhebungen über faktisches Studierverhalten in verschiedenen Studiengängen herangezogen zu haben – davon ausgegangen, dass der Student Otto Normalverbraucher und die Studentin Erika Mustermann in Deutschland, Ungarn, Rumänien oder Belgien durchschnittlich im Semester 900 Stunden studieren (30 Leistungspunkte, wobei ein Leistungspunkt für 30 Stunden steht), während österreichische, spanische und kroatische Normalstudierende lediglich 750 Stunden pro Semester mit ihrem Studium verbringen (30 Leistungspunkte pro Semester, wobei ein Leistungspunkt für 25 Stunden steht). Die so errechneten Stunden pro Semester werden dann auf die Stunde genau auf die Anforderungen, die an einen Studierenden mit Unterricht, Unterrichtsvorbereitung, Prüfungsvorbereitung, Prüfung und Praktika in einem Semester gestellt werden, heruntergebrochen. Dass die Anzahl der Stunden, die ein Studierender zum Erwerb eines Leistungspunktes aufbringen muss, von Land zu Land variiert, ist ein auf die überhastete Einführung in den jeweiligen Ländern zuzurechnender Schönheitsfehler im System. Schließlich ist es nur schwer zu erklären, weswegen ein Studierender für den Erwerb eines Leistungspunktes in Deutschland, Rumänien oder auch der Schweiz 30 Stunden benötigt, in Portugal und Dänemark 28 Stunden, in Finnland 27 Stunden, in Estland 26 Stunden und in Österreich, Italien oder Spanien 25 Stunden. Auf den ersten Blick könnte man – wenigstens teilweise übereinstimmend mit den in Europa gepflegten nationalen Klischees – vermuten, dass Studierende in Deutschland, in der Schweiz und Rumänien eben besonders fleißig sind, weil sie pro Woche mehr Zeit für ihr Studium aufbringen als die Italiener, Spanier oder Österreicher. Weil aber nach den Vorstellungen der europäischen Bildungsminister ein beispielsweise in Deutschland in 30 Stunden erworbener ECTS-Punkt den gleichen Wissensstand repräsentiert wie ein in Finnland für 27 oder in Italien für 25 Stunden erworbener Leistungspunkt, läge jedoch die Schlussfolgerung näher, dass deutsche, Schweizer und rumänische Studierende einfach länger brauchen als ihre spanischen, italieni-
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schen oder österreichischen Kommilitonen, um sich den gleichen Wissensstand anzueignen. Die Sache wird noch faszinierender, wenn man beobachtet, wie sich nach dieser Berechnungsform auch das Studierverhalten von denjenigen Studierenden zu ändern schein, die an eine ausländische Universität wechseln. Wenn man der (Un-)Logik der ECTS-Punkte glaubt, hinter denen je nach Land unterschiedlich viel Stunden stehen, reduzieren Studierende bei einem Wechsel beispielsweise von einer deutschen an eine spanische Universität sofort ihr wöchentliches Arbeitspensum um einige Stunden. Ihnen stehen dann – glaubt man der Logik des Systems – beim Wechsel nach Spanien einige Stunden mehr Zeit für Fiesta, Siesta und Tapas-Bar zur Verfügung. Das ist aber aus studientechnischen Gründen nicht tragisch, weil diese Studierenden mit ihrem Wechsel nach Spanien ja automatisch einen Lerneffizienzschub erhalten und fünf Stunden weniger als ihre in Deutschland verbliebenen und offensichtlich im Lernen blockierten Kommilitonen brauchen, um einen ECTS-Punkt zu erwerben. Aber letztlich deuten solche Hinweise auf Irrationalitäten nur auf die Kleingeistigkeit derjenigen hin, die über diese Verrechnungsprobleme stolpern. In der Praxis scheint die Verrechnung zwischen den Universitäten einigermaßen zu funktionieren. Die kleinen Ungereimtheiten dieses Bildungswährungssystems einmal beiseite gelassen, ergibt sich durch die Einführung des Kreditpunktesystems für jede einzelne Universität die Möglichkeit, auf die Stunde genau zu bestimmen, wie viel Stunden ein „Normalstudent“ für ein Studium aufbringen muss. Man kann auf die Stunde genau errechnen, dass bei einem dreijährigen Bachelorstudium mit einem Umfang von 180 Leistungspunkten in Deutschland, Ungarn und Rumänien also 5 400 Stunden und in Österreich, Spanien und Italien 4 500 Stunden studiert werden sollen. Bei einem zweijährigen Master im Umfang von 120 Leistungspunkten muss man den Studiengang in Deutschland, Ungarn und Rumänien so planen, dass er in 3 600 Stunden studiert werden kann, in den Niederlanden mit ihren „28 Stunden pro Leistungspunkt“ in 3 360 Stunden und in Bosnien mit seinen „25 Stunden pro Leistungspunkt“ in 3 000 Stunden. Bei der Studiengangsplanung kann (und muss) jetzt für jede Veranstaltung, jedes Modul, jede Prüfung, jede Abschlussarbeit und jede Praktikumsstunde genau berechnet werden, wie hoch der Aufwand ist. Dabei kann von den Fakultäten, Fachbereichen und Instituten selbst festgelegt werden, ob es für ein Seminar drei, vier, fünf oder gar acht Leistungspunkte gibt. Sichergestellt werden muss nur,
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dass am Ende für den Studiengang genau diese – je nach Land und Studium unterschiedlichen – 120, 180 oder 240 Leistungspunkte herauskommen. Im Folgenden wird die Metapher von den ECTS-Punkten als „internationale Währung“, als „Gemeinsame Währung“ oder als „Hochschulbildungswährung“ aufgegriffen, um – im Vergleich zu anderen Kunstwährungen sowohl im Wirtschafts- als auch im Erziehungssystem – zu zeigen, welche Veränderungen durch die verpflichtende Berechnung aller erwarteten Studienleistungen in einer vorgegebenen Zeiteinheit an den Hochschulen bewirkt wurden. Auch auf die Gefahr hin, die Metapher von den ECTSPunkten als Kunstwährung zu weit zu treiben, lassen sich damit doch die meisten der mit den Bologna-Reformen verbundenen hochschulpolitischen Konzepte in ihrer konkreten Operationalisierung verstehen.
2.1 ECTS-P UNKTE – DAS ZENTRALE E LEMENT ZUM V ERSTÄNDNIS DER H OCHSCHULREFORM Kunstwährungen wie die ECTS-Punkte, die Miles-and-More-Punkte von Fluggesellschaften, die Sammelpunkte beim Kauf eines Schokoladenriegels oder auch die Stempelkarten beim Friseur, mit denen man den elften Haarschnitt umsonst bekommt, basieren immer auf irgendeiner Form von Zählung. Dabei sind die durch mehr oder weniger standardisierte Erhebungsmethoden produzierten Zahlen erst einmal nur quantifizierte Informationen, die sich zu einer spezifischen Beschreibung von Merkmalen eignen: die Anzahl der Studierenden an einer Universität, der verkauften Mittagessen in der Mensa oder die Anzahl der Busse zum Hauptgebäude. So nützlich quantitativ erhobene Informationen auch sein mögen, so gut sie auch mit anderen Zahlen kombiniert werden können und so gut sie sich auch miteinander vergleichen lassen – eine Zahl an sich ist noch lange keine Währung. Zu einer Kunstwährung werden diese Zahlen erst, wenn sie mit der Möglichkeit des Tausches „aufgeladen“ werden. Die Sammelpunkte, die man gerade vor großen Sportereignissen beim Kauf eines hochpreisigen Schokoriegels erhält, werden nur deswegen zur Kunstwährung, weil sie gegen einen Fußball, ein T-Shirt der Lieblingsmannschaft oder eine bunte Baseballmütze eingetauscht werden können. Die Smileys – um eine eher primitive Form von Kunstwährung aus dem Erziehungssystem zu nennen –, die man für braves Verhalten vom Grundschullehrer ins Heft gemalt be-
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kommt, lassen sich gegen Aufkleber mit verschiedenen Comic-Motiven oder andere kleine Geschenke tauschen. Miles-and-More-Punkte werden durch das Abfliegen von (nicht notwendigerweise selbst bezahlten) Flügen verdient, elektronisch bei den Fluggesellschaften gespeichert und dann als Kunstwährung gegen Freiflüge, Hotelübernachtungen oder VIP-Tickets für Klassikkonzerte getauscht. Wogegen kann man eine Kunstwährung eintauschen? Tausche Punkte gegen Studienabschluss Kunstwährungen unterscheiden sich von einer Geldwährung dadurch, dass ihre Möglichkeiten zum Tausch begrenzt sind. Während Geld im Prinzip zum Erwerb fast jeder Sache und jeder Leistung geeignet ist, können Kunstwährungen immer nur gegen wenige genau definierte Produkte und Leistungen eingetauscht werden. Mit meinen Miles-and-More-Punkten kann ich nicht im Supermarkt einkaufen gehen, mit Hanuta-Sammelpunkten kann man nicht ein Fahrrad, eine Krankenversicherung oder eine Prostituierte bezahlen, und die Smileys kann man noch nicht einmal gegen gute Noten eintauschen, sondern eben nur gegen bunte Aufkleber.1 Vor der Einführung der Bologna-Studiengänge bestand in vielen Ländern – wenn überhaupt – lediglich eine äußerst rudimentäre Form von Kunstwährung (vgl. für die frühen 1990er Jahre Commission of the European Communities 1993: Annex C). Durch die Studienordnung war genau vorgegeben, welche Leistungsnachweise in Form von besuchten Veranstaltungen oder abgelegten Prüfungen zu erbringen waren. Man ließ sich als Studierende den Besuch eines Seminars und die Abfassung einer Hausarbeit oder den Besuch einer Veranstaltung mit anschließendem Schreiben einer Klausur auf einem Schein bestätigen. Die Studierenden sammelten diese Scheine in einem Studienbuch, das sie möglichst nicht verlieren soll-
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Auch Geldwährungen sind natürlich immer nur Kunstwährungen, und selbstverständlich gibt es auch in einer durch Geldwährung geprägten Gesellschaft Grenzen der Käuflichkeit. „Geld“ mag Männer (oder zunehmend auch Frauen) „sexy“ machen, und es mag sehr wohl zum Liebesspiel gehören, dass einer der beiden Geschlechtspartner durch das Bezahlen von Essen, Kleidung oder Wohnung seine Großzügigkeit signalisiert, aber sowohl der Mann als auch die Frau achten normalerweise darauf, dass der Geschlechtsverkehr nicht als Tausch einer sexuellen Leistung gegen Geld missverstanden werden kann.
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ten, weil ihre erbrachten Leistungen nur dort dokumentiert waren. Dabei war die Art und Anzahl der erforderlichen Scheine von Studiengang zu Studiengang sehr verschieden. In einigen Studiengängen mussten siebzehn Scheine erworben werden, in anderen reichten fünf Scheine mit entsprechend nachgewiesenen Leistungen aus. Aber selbst wenn man alle durch die Studienordnung vorgeschriebenen Scheine zusammenhatte, konnte man sie nicht einfach gegen einen Abschluss in Physik, Sportwissenschaft oder Philosophie eintauschen, sondern nur gegen die Berechtigung, die Abschlussprüfungen ablegen zu dürfen. Den mit einer entsprechenden Note ausgestatteten Abschluss erhielt man erst im Tausch gegen die bestandenen Prüfungen. Erst mit Einführung der ECTS-Punkte wurde letztlich versucht, eine funktionierende Kunstwährung im Bereich der Erziehung zu schaffen. Studierende können durch die Kunstwährung an verschiedenen Universitäten ihre ECTS-Punkte sammeln, diese über einen längeren Zeitraum in ihren sogenannten Transcripten speichern und dann an ihre Heimatuniversität transferieren lassen. Wenn sie genug zu ihrem Studienfach passende ECTSPunkte gesammelt haben, können sie sie an ihrer Heimatuniversität gegen einen Studienabschluss eintauschen. In einem zentralen Aspekt unterscheidet sich die Kunstwährung „ECTS“ dabei von einer Reihe anderer Kunstwährungen und besonders von Geldwährungen: Der Erwerb, Besitz und Tausch der Währung ist an eine konkrete Person gebunden. Man kann einen ECTS-Punkt nicht einfach an eine Kommilitonin oder einen Kommilitonen weiterverschenken. Der Punkt hat nur für die Person, die ihn erworben hat, einen Tauschwert. Gerade diese Bindung an Personen schränkt die Möglichkeit des Tausches im Vergleich zu anderen Kunstwährungen wie Duplo-Sammelpunkte oder Friseur-Sammelpunkte stark ein. Während Duplo-Sammelpunkte oder Friseur-Sammelpunkte – jedenfalls im Prinzip – immer von Person zu Person weitergetauscht werden können und so die Tauschwährung mit einer hohen Geschwindigkeit umgeschlagen werden kann, können ECTS-Punkte nur von der Person, die sie erworben hat, ein einziges Mal bei der Universität gegen einen Studienabschluss eingetauscht werden. Sind die ECTSPunkte von Studierenden erst einmal gegen den Studienabschluss eingetauscht worden, werden sie letztlich in den Tiefen der EDV-Systeme der Universität vergraben.
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Wie wird die Kunstwährung erworben? Die Renaissance der Arbeitswerttheorie an den Hochschulen Für das Verständnis der Wirkweise einer Kunstwährung ist es zentral, zu begreifen, wie sie erworben werden kann. Die Sammelpunkte bekommt man parallel zum Kauf eines Duplos oder Hanutas. Die Bonuspunkte eines Vielfliegerprogramms erwirbt man durch das Abfliegen von Flügen (die häufig durch andere bezahlt wurden), durch die Nutzung einer Kreditkarte, das Ausfüllen eines Fragebogens oder auch nur durch die Bereitschaft, sich in kurzen Zeitabständen mit Werbeangeboten bombardieren zu lassen. Bei dem ECTS-System erwerben Studierende Punkte, die erst einmal nur die Zeit repräsentieren, die nach Einschätzung der Universität für die Vor- und Nachbereitung eines Seminars, für den Besuch einer Vorlesung oder das Abfassen einer Hausarbeit nötig ist, und tauschen diese Zeiteinheiten gegen einen Studienabschluss. Eine Umstellung, die die Kalkulationsweise an den Universitäten grundlegend verändert. Vor der Einführung des ECTS-Systems bestand das Interesse der Universitäten lediglich darin, sicherzustellen, dass Studierende eine vorgeschriebene Anzahl von Vorlesungen, Seminaren, Übungen, Hausarbeiten, Klausuren und mündlichen Prüfungen erfolgreich absolvierten. Gezählt wurde lediglich in der vermutlich für Außenstehende kompliziert klingenden Einheit der „Semesterwochenstunden“ – also den Stunden, die ein Studierender während des Semesters pro Woche in Veranstaltungen verbringt. Dieses alte Modell der Semesterwochenstunden ähnelte dem Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführten Kreditpunktesystem in den USA, in dem ein Kreditpunkt etwa einer Stunde wissenschaftlicher Arbeit im Seminarraum, in der Bibliothek oder im Labor entsprechen sollte, das Studium zu Hause, unmittelbares Arbeiten mit Dozenten oder anderen Studierenden oder Prüfungsvorbereitungen jedoch nicht im Kreditpunktesystem abgebildet wurden (vgl. zur sogenannten „Carnegie Unit“ in den USA Gerhard 1955: 647ff., Burn 1974: 115ff. und Hefferman 1973: 61ff.). Wie viel Zeit die Studierenden brauchten, um die erforderlichen Leistungsnachweise für diese Veranstaltungen zu erbringen, interessierte letztlich niemanden. Eine brillante Hausarbeit, die ein Studierender in vierzig Stunden erbracht hat, galt mehr als eine schäbige Ausarbeitung, für die ein Studierender zweihundert Stunden gebraucht hat. Ein bisschen erinnert dieses inzwischen
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weitgehend ausgesetzte System an die in der Marktwirtschaft praktizierten Kalkulationsformen. Für einen Käufer ist es in der Marktwirtschaft letztlich unerheblich, ob für die Produktion eines Wasserkochers insgesamt fünfundzwanzig oder siebzig Arbeitsstunden nötig gewesen sind, sein Kaufverhalten wird lediglich durch den Preis und die Qualität des Produktes beeinflusst. Wenn es einem Anbieter gelingt, einen qualitätsmäßig hochwertigen Wasserkocher zu einem günstigen Preis in fünfundzwanzig Stunden statt in siebzig Stunden zu produzieren – umso besser. Mit der Einführung des ECTS-Systems und der damit einhergehenden Verrechnung von Leistungen in Zeitstunden wurde jetzt – für Beteiligte, die ihr Studium in den 1970er Jahren absolviert haben, vermutlich bewusst, für die meisten Beteiligten jedoch unbewusst – eine alte volkswirtschaftliche Idee, die Arbeitswerttheorie, in die Praxis umgesetzt (vgl. dazu Keller 2008: 49f.; Liessmann 2008: 110). Nach der auf Karl Marx – und davor besonders auf den Nationalökonomen David Ricardo – zurückgehenden volkswirtschaftlichen Arbeitswerttheorie wird der Wert einer Ware nicht durch die auf dem Markt erzielbaren Preise bestimmt, sondern einzig und allein durch die Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung notwendig ist. Mit Karl Marx lässt sich die Idee hinter den ECTS so formulieren, dass der „Wert einer Ware“ – hier also einer Studienleistung – durch „die zu ihrer Herstellung erforderliche[n] Arbeitsmenge“ bestimmt wird. Deswegen müsse der „Wert der Arbeit“ – bei Marx der Arbeitslohn, beim ECTS die Bescheinigung von Studienleistungen – „gleichfalls durch die Arbeitsmenge bestimmt werden, die zu seiner Herstellung erforderlich ist“ (Marx 1953: 487). Genauso wie die Ökonomen, die die von Marx vorrangig analytisch gedachte Arbeitswertlehre in ein wirtschaftliches Steuerungsinstrument umsetzten, sich bewusst waren, dass sich nicht für jedes Produkt und jede Dienstleistung exakt sagen ließ, wie viel Zeit jeder einzelne Mensch für dessen bzw. deren Herstellung braucht, sind sich auch die Erfinder des European Credit Transfer and Accumulation System darüber im Klaren, dass sich nicht für jeden Studierenden genau sagen lässt, wie viel Zeit er für das Lesen eines Textes, die Nachbereitung einer Vorlesung oder das Abfassen einer Hausarbeit braucht. Genauso wie die sich auf die Marx’sche Arbeitswerttheorie berufenden Ökonomen bei der Kalkulation von Zeitanforderungen von einem „Durchschnittsarbeiter“ ausgehen, wird im Kreditpunkte-System von der Arbeitsbelastung für einen Studierenden ausgegan-
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gen, der entsprechend der „Zielgruppendefinition ein ‚normales‘ Profil“ aufweist (Gehmlich 2000: 61). Die Berechnungsgrundlage in der Arbeitswerttheorie ist also immer nur die durchschnittliche Arbeitszeit. Bei der Entwicklung der Arbeitswerttheorie als Instrument zur Steuerung innerhalb und zwischen Organisationen war man sich selbstverständlich bewusst, dass man eine in der vorgesehenen Durchschnittsarbeitszeit erbrachte Leistung unterschiedlich gut erbringen kann. Während in der sozialistischen Planwirtschaft die in der durchschnittlichen Arbeitszeit erbrachte hohe Qualität nur mit einem Lob für eine „Planübererfüllung“ oder bestenfalls mit Auszeichnungen wie „Held der Arbeit“, „Karl-LiebknechtMedaille“ oder „Ehrennadeln“ belohnt wurde, steht bei der Kunstwährung ECTS das aus dem alten System der Leistungsbewertung und Leistungsmotivation übernommene Konzept der Noten zur Verfügung, um zu markieren, wie gut oder schlecht die in der Durchschnittsarbeitszeit erbrachten Leistungen eines Studierenden gewesen sind (siehe zu der Motivation über Auszeichnungen beispielsweise in der DDR besonders reichhaltig bebildert Bartel 1979, zu der Kombination von ECTS und Noten beispielsweise – jedoch deutlich sparsamer bebildert – Karran 2004 oder Grosges/Barchiesi 2007). Die sich auf die Marx’sche Arbeitswerttheorie berufenden Ökonomen haben sich praktisch nur in wenigen Feldern des Wirtschaftssystems durchsetzen können. In der staatssozialistischen Planwirtschaft wird mit Verweis auf die Marx’sche Arbeitswerttheorie davon ausgegangen, dass der Wert der Arbeitsstunde eines Bergbauern, eines Straßenbauingenieurs und eines Polizisten gleich ist und dementsprechend auch gleich entlohnt werden sollte. In Tauschringen, lokale Zusammenschlüsse zum direkten Tausch von Gütern und Dienstleistungen, richten sich die Preise für so unterschiedliche Waren wie eine Massage, eine selbst getöpferte Teekanne und eine Existenzgründerberatung nicht nach Angebot und Nachfrage, sondern nach der Zeit, die für deren Herstellung notwendig ist. In den durch die Marktwirtschaft geprägten Denkwelten hat sich die Arbeitswerttheorie jedoch nicht etablieren können. Es würde – bei aller oberflächlichen Plausibilität der Arbeitswerttheorie – Irritationen auslösen, wenn ein Friseur mit Verweis auf die gleiche Arbeitszeit den gleichen Stundenlohn fordern würde wie ein Topmodel oder eine Universitätsprofessorin. Aber die ECTS-Punkte sind ein Beispiel dafür, dass sich eine von vielen Ökonomen als Erklärung für volkswirtschaftliche Prozesse für „tot“ erklärte Theorie, die sich als Grund-
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lage für die komplexe Steuerung von Wirtschaftsprozessen (jedenfalls bisher) nicht global durchsetzen konnte, sehr wohl zur Steuerung interner Prozesse in Organisationen oder auch zur Steuerung der Austauschprozesse zwischen Organisationen außerhalb der Wirtschaft verwenden lässt. In welchen Einheiten werden Leistungen erworben und getauscht? Zur Bedeutung der Module Kunstwährungen kann man auf unterschiedliche Art und Weise stückeln. Der Normalfall ist sicher, dass Kunstwährungen in einer beliebigen Einheit des Dezimalsystems erworben, kumuliert, gespeichert und getauscht werden können. Die Miles-and-More-, Hanuta- oder Smiley-Punkte werden beispielsweise in unterschiedlichen Einheiten des Dezimalsystems erworben, sie lassen sich aber zur Vorbereitung des Tausches beliebig miteinander addieren. In diesem Aspekt unterscheiden sie sich nicht von einer Geldwährung, bei der man ja auch selbstverständlich davon ausgeht, dass man alle Euro-Stücke und -Scheine beliebig miteinander kombinieren kann, unabhängig davon, in welchen Größenordnungen man diese ursprünglich erworben oder gespeichert hat (siehe jedoch für „multiple monies“ Zelizer 1994: 26ff.). Bei Kunstwährungen kann man aber auch festlegen, dass die Währungen erst dann einen Wert bekommen sollen, wenn sie in vorher definierten Modulen zusammengefasst wurden. Man kann beispielsweise den Erwerb eines Hauptpreises bei Schokoladensammelpunkten davon abhängig machen, dass der Sammler jeweils zehn Punkte für Hanutas und zehn für Duplos ins Sammelalbum geklebt hat. Man kann theoretisch die Vergabe der Miles-and-More-Prämien daran binden, dass eine genau definierte Anzahl von Bonusmeilen für das Abfliegen von Strecken, für die Nutzung von Kreditkarten und für das Anmieten von Leihwagen erworben wurde. Die Kunstwährung ECTS wurde in eine genauso eigenartige Form gebracht. Ein Studierender kann nicht einfach nur einzelne ECTS-Punkte sammeln, indem er nachweist, dass er dreißig Stunden mit irgendetwas Universitärem verbracht hat. Der Erwerb von ECTS-Punkten kann – so die Logik – nur im Rahmen von vorgeschriebenen Veranstaltungen und Prüfungen erfolgen, die wiederum in genau definierte Module zusammengefasst sind und am Ende abgeprüft werden können.
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Sicherlich: Auch vor Bologna hat eine solche Form der Zusammenfassung von Leistungen existiert. Man konnte ohne Probleme die Vergabe eines Scheins daran binden, dass eine Studentin zwei auf einander aufbauende Vorlesungen besuchte, eine Übung absolvierte und am Ende eine Hausarbeit schrieb. Wenn die Studentin eine dieser Leistungen nicht erbrachte, dann konnte ein Lehrender ihr den Schein verweigern. Einen Wert als Eintauschgut (für die Zulassung zur Abschlussprüfung) hatte eine einzelne Veranstaltung also nur dann, wenn gleichzeitig auch die anderen verlangten Veranstaltungen und Prüfungen wenigstens auf dem Papier belegt wurden. Diese verpflichtende Zusammenfassung von unterschiedlichen Leistungen schien aus didaktischen Gründen Sinn zu machen. Lehrende konnten sich überlegen, welche Veranstaltungen zusammenpassen, wie viel Zeit die Studierenden für die Vorbereitung und Nachbereitung der thematisch zusammenhängenden Veranstaltungen brauchen und mit welchen Prüfungsformen diese abgeschlossen wurden. Über die Bindung der Scheinvergabe an die Absolvierung aller dieser Leistungen konnte diese im didaktischen Sinne ersonnene Kombipackung den Studierenden aufoktroyiert werden. Durch die Einführung der Kunstwährung ECTS wird dieses System jedoch radikalisiert. Das Problem bei der Einführung von „ECTS-Punkten“ als neue Kunstwährung besteht darin, dass man sie nicht einfach nur für das Eintragen in Anwesenheitslisten in Vorlesungen, das Absitzen in Seminaren, das Nachweisen von am Schreibtisch verbrachten Lesezeiten oder das Abfassen von Papieren vergeben kann. Schließlich geht es in Universitäten auch nach der Post-Bologna-Logik nicht vorrangig um den Nachweis von Anwesenheiten, sondern um den Nachweis des Erlernten, Reflektierten und Angewendeten. Deswegen muss – so jedenfalls die Vorstellung der Bologna-Vordenker – noch mal abgeprüft werden, ob die in ECTS gemessene aufgewendete Zeit des Studierenden auch wirklich zum Wissenserwerb geführt hat. Über schriftliche Klausuren, Multiple-Choice-Klausuren, Referate, Arbeitsberichte, mündliche Prüfungen oder Hausarbeiten müsse, so die an den meisten Universitäten dominierende Vorstellung, von den Studierenden bewiesen werden, dass die mit dem Studium verbrachte Zeit „Effekte“ hat. Nur für einen solchen durch Prüfungen zertifizierten Wissenserwerb dürften dann letztlich ECTS-Punkte vergeben werden. Aus nachvollziehbaren Gründen ist es jedoch kompliziert, den mit jedem einzelnen ECTS-Punkt verbundenen Wissenserwerb abzuprüfen. Bei
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180 Leistungspunkten, die man für das Eintauschen gegen einen Studienabschluss in einem Bachelorprogramm braucht, würde das in drei Jahren 180 Einzelprüfungen bedeuten. Aber auch die Abprüfung jeder mit zwei, drei oder vier Leistungspunkten bemessenen Übung, Vorlesung oder Seminarveranstaltung würde bei einem Bachelor zu dreißig bis fünfzig Einzelprüfungen in drei Jahren führen. In einigen Universitäten mag das unter Bologna-Bedingungen inzwischen Realität geworden sein, aber an den meisten Universitäten wird dies gerade auch aufgrund der Belastung für das korrigierende Lehrpersonal als nicht machbar eingeschätzt. Allein durch die Verrechnung aller Studienleistungen in „ECTSPunkten“ und die Konditionierung der Vergabe von ECTS-Punkten an eine bestandene Prüfung ist eine Sogwirkung für die Einführung von Modulen entstanden, in denen thematisch ähnliche Vorlesungen, Seminare und Übungen zusammengefügt werden und das dort zu vermittelnde Wissen durch eine einzige Prüfung abgenommen werden kann (siehe dazu schon Rüttgers 1997: 3). Diese Module müssen, so die Vorgabe in den meisten Ländern, mit Inhalten und Qualifikationszielen, mit Lehrformen, mit Voraussetzungen für die Teilnahme, mit Verwendbarkeit des Moduls und mit den Voraussetzungen für die Vergabe von Leistungspunkten beschrieben werden. Es muss also bis ins Detail festgelegt werden, welche Vorlesungen, welche Seminare und welche Übungen im Rahmen des Moduls belegt werden müssen, welche Klausuren zu schreiben sind, welche Essays und Hausarbeiten abzufassen sind und wie viel Zeit die Studierenden für die Vorund Nachbereitung von Sitzungen verbringen sollen. Der Wert der Kunstwährung ECTS zeigt sich also erst, wenn das Lernpensum in Module gegossen ist.2 Auch wenn die ECTS-Punkte der Einführung von Modulen in einer Reihe von europäischen Staaten den Weg bereitet haben, darf nicht übersehen werden, dass sich hinter der Modularisierung ein seit längerer Zeit propagiertes hochschuldidaktisches Konzept verbirgt (vgl. dazu Huber 2001: 50ff.). Schon in den Reformdiskursen nach dem Zweiten Weltkrieg hat es
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Es gibt trotzdem keinen kausalen Nexus zwischen der Einführung einer Kunstwährung an den Hochschulen und der Modularisierung. Die „Logik eines Credit-Systems“, so Stefanie Schwarz und Meike Rehburg (2003: 148), erfordert keineswegs „unbedingt eine Modularisierung eines Studiums“. Interessant ist jedoch, dass es in den meisten Ländern des europäischen Hochschulraumes eine Tendenz zur Einführung von Modulen gibt.
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immer wieder die Forderung gegeben, unterschiedliche Veranstaltungstypen und Lernformen in thematisch orientierte Module zusammenzufassen (siehe nur die durch die Studentenbewegung in den späten 1968er Jahren inspirierten Überlegungen von Weizsäckers 1970). Aber während der Modulgedanke in vielen Ländern in der Nachkriegszeit lediglich ein Gedankenspiel war, das höchstens in Pilotprojekten von Reformuniversitäten einmal ausprobiert wurde, hat die Einführung der Kunstwährung ECTS dem Modularisierungsgedanken europaweit den entscheidenden Schub versetzt.
2.2 Z UM M ANAGEMENT EINER K UNSTWÄHRUNG – DIE R OLLE VON AKKREDITIERUNG , Q UALITÄTSSICHERUNG UND E VALUATION Wenn man von außen auf das neu eingeführte System der Bildungswährung schaut, dann ist ein ECTS-Punkt erst einmal nur eine Zahl, die in Kombination mit dem Namen eines Studenten oder einer Studentin auf einer Liste, in einer Excel-Datei einer Fakultät oder einer Datenbank einer Universität abgelegt wird. Die reine Tatsache, dass hinter dem Namen eines Studenten oder einer Studentin ein ECTS-Punkt vermerkt wird, bedeutet noch lange nicht, dass dieser Punkt auch kumuliert, gespeichert, transferiert und am Ende gegen einen Abschluss eingetauscht werden kann. Für die Analyse einer Kunstwährung ist jetzt interessant, wie die Objektivierung und Absicherung dieser Zahl vonstattengeht – ein Prozess, der in der Forschung über die soziale Konstruktion von Zahlen mit Begriffen wie „enactment“ (Radcliffe 1999), „upkeying“ (Vollmer 2006) oder „microproduction of macro-order“ (Pentland 1993) bezeichnet wird. Schließlich muss, damit Studierende sich auf das Sammeln von „ECTS-Punkten“ einlassen, diese Kunstwährung durch verschiedene Verfahren so abgesichert werden, dass die an einer Universität gesammelten ECTS-Punkte beim Vergleich, bei der Verrechnung und beim Tausch gegen einen Studienabschluss ähnlich unstrittig erscheinen wie die Sekunden bei der Zeitmessung eines Hundertmeterlaufs, der Dollar, mit dem man ein Auto mietet oder die Kilogramme oder Pfunde, mit denen man seine Gewichtszu- und -abnahme
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beobachten kann (vgl. dazu Heintz 2007: 75; Heintz 2010: 169).3 Im Rahmen des Bologna-Prozesses wurden mehrere Institutionen geschaffen, die diese Absicherung zu garantieren versuchen. Die Währungshüter – die Rolle von Ministerien, Akkreditierungsagenturen und Universitäten Wie bei jeder Währung muss auch bei den Leistungspunkten verhindert werden, dass die Tauscheinheit einfach von jedem selbst hergestellt wird. Dabei scheint das Risiko nicht so sehr darin zu bestehen, dass sich jeder Studierende in mühsamer Heimarbeit seine ECTS-Punkte selbst „bastelt“. Eine Gefahr wird vielmehr darin gesehen, dass Billiganbieter ihre eigenen ECTS-Punkte auf den Markt bringen. Schließlich braucht es ja lediglich eine Einrichtung, die Studierenden gegen entsprechende monetäre Entlohnung Leistungspunkte ausstellt, ohne dass für das Erreichen dieser Leistungspunkte ein entsprechender Aufwand aufgebracht werden musste. Die Rolle des Hüters einer Bildungswährung kann von verschiedenen Institutionen übernommen werden. Das am längsten erprobte Verfahren besteht darin, dass der Staat jeden Studiengang genehmigt und die Studierenden automatisch in diesen mit einem staatlichen Gütesiegel ausgestatteten Studiengängen ECTS-Punkte erwerben können. Eine andere mit der Etablierung des europäischen Hochschulraumes geschaffene Möglichkeit besteht darin, die Genehmigung von Studiengängen an halbstaatliche oder gar private Akkreditierungsagenturen auszulagern. ECTS-Punkte können in dem Fall nur dann zwischen Universitäten getauscht und am Ende gegen einen Studienabschluss eingelöst werden, wenn sie im Rahmen eines offi-
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Wir wissen aus der soziologischen Forschung, dass die Validität von Zahlen in sozialen Zusammenhängen unterschiedlich stark abgesichert wird. Es gibt allgemein akzeptierte mathematische Formeln wie das berühmte „2 + 2 = 4“, deren Gültigkeit nur von Grundschülern in der ersten Klasse oder besonders raffinierten Philosophen bezweifelt wird (vgl. Bloor 1994). Es gibt die Anzahl von verlegten Wasserleitungen in einer Stadt, über deren Anzahl unterschiedlichste Meinungen existieren mögen, deren Bestand aber im Rahmen eines Projektes objektiviert werden kann (vgl. Rottenburg 2001). Und es gibt Indikatoren wie den Korruptionsindex von Transparency International, bei dem die „soziale Konstruiertheit“ selbst in den Massenmedien diskutiert wird (vgl. Booysen 2002).
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ziell akkreditierten Studiengangs erworben wurden. Man kann aber auch – so die dritte Möglichkeit – die Genehmigung der Studiengänge in die Hand von Hochschulen geben, darauf vertrauend, dass gerade die staatlichen Universitäten schon kein Schindluder mit der Vergabe von ECTS-Punkten treiben werden. Diese Formen der Legitimierung von Studienleistungen hat es schon vor Bologna gegeben, schließlich musste auch damals schon die Akzeptanz der Studienabschlüsse außerhalb der Hochschulen sichergestellt werden. Neu mit der Einführung der Kunstwährung ist jedoch, dass jetzt für jeden dieser ECTS-Punkte überprüft werden muss, ob er in der vorgesehenen Zeit erworben werden kann, wie sein Erwerb mit dem Erwerb anderer ECTSPunkte zusammenpasst und in welcher Form der Erwerb dieser ECTSPunkte abgeprüft werden kann. Auch wenn diese Prüfung durch Ministerien, Akkreditierungsagenturen oder Universitäten in der Praxis selten auf der Ebene einzelner Punkte stattfindet, muss doch wenigstens durch eine staatliche Zertifizierung, offizielle Akkreditierung oder hochschulinterne Absegnung die Fiktion produziert werden, dass ein ECTS-Punkt den offiziellen Anforderungen entspricht – ansonsten gäbe es ja keine Berechtigung, diese ECTS-Punkte mit anderen Hochschulen zu verrechnen. Die Währungspolizei – Qualitätsmanagement zur Verhinderung von Währungsinflation und -deflation Die Genehmigung eines Studiengangs durch Bildungsministerien, Akkreditierungsagenturen oder Universitäten allein reicht aber nicht aus. Schließlich wird dadurch lediglich sichergestellt, dass die Planung eines Studiengangs inklusive der Berechnung der Arbeitsstunden der Studierenden den Bologna-Kriterien entspricht. Ob sich im alltäglichen Betrieb beispielsweise eine zu laxe Vergabe von ECTS-Punkten einschleicht, die Arbeitsbelastung in einzelnen Modulen durch überdimensionierte Anforderungen eines Lehrenden überdimensional anwächst oder der Erwerb von ECTS-Punkten in der Praxis nicht ausreichend durch Prüfungen abgesichert wird, kann nur durch eigene Sicherungsmechanismen der Universität kontrolliert werden. Die Etablierung einer Kunstwährung an den Universitäten wurde deswegen mit einer Diskussion über Mechanismen des „Qualitätsmanagements“ an Universitäten verquickt. Diese Diskussion darüber, wie Instrumente des Qualitätsmanagements aus Unternehmen auf Universitäten über-
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tragen werden können, hatte schon vor der Bologna-Reform eingesetzt. Es gab häufig zuerst nur theoretische Überlegungen, wie man die Hochschulen mit den DIN-Qualitätsnormen 9000ff. zertifizieren könnte, wie ein TotalQuality-Management an den Universitäten aussehen könnte und in welcher Form sogenanntes Benchmarking – Vergleiche zwischen mehreren Universitäten – zu einer Verbesserung der Qualität der Lehre beitragen könnte. Aber durch die Bologna-Reform bekam die Qualitätsdiskussion eine ganz neue Dynamik. Emphatisch wurde von den Bildungsministern betont, „dass die Qualität der Hochschulbildung der Dreh- und Angelpunkt für die Schaffung des Europäischen Hochschulraums ist“ und dass jede einzelne Universität entsprechende Maßnahmen treffen müsse, um diese Qualität sicherzustellen (Berliner Erklärung 2003: 3). Mit der Einrichtung von universitätsweiten Qualitätsmanagementsystemen, eigenen Prorektoraten für Qualitätssicherung und speziellen Abteilungen für Qualitätsentwicklung sah man sich aber schnell mit dem bekannten Problem konfrontiert, dass sich der eigentliche universitäre Kernprozess der Wissensvermittlung in den Seminaren, Vorlesungen und Übungen nur schwer durch die in Unternehmen erprobten Instrumente der Qualitätssicherung erfassen lässt. Es ist schwierig, die „Ergebnisqualität“ von Studierenden zum Beispiel in Form von Reflektionsfähigkeit, Kritikfähigkeit oder Wissensaneignungsfähigkeit zu messen (vgl. dazu Pasternack 2000: 41). Aber auch die „Prozessqualität“, also die Qualität von Lehrveranstaltungen, lässt sich nur schwer evaluieren, weil die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit von Studierenden mit einer Lehrveranstaltung häufig nichts über die Qualität einer Veranstaltung aussagt. Schließlich werden dabei häufig nur „Happy-Points“ vergeben, die nichts darüber aussagen, ob die Studierenden wirklich etwas gelernt haben. Aber auch die „Strukturqualität“, also die Art und Weise, wie Lehrveranstaltungen abgehalten werden, lässt sich kaum bestimmen, schließlich streiten sich selbst Lehrende darüber, ob der Einsatz von PowerPoint-Folien in Vorlesungen jetzt als Zeichen der Beherrschung neuester didaktischer Methoden gewertet werden kann oder nur Ausdruck der rhetorischen Unfähigkeit des Dozenten ist. Das Qualitätsmanagement an Universitäten kann sich deswegen – abgesehen von der Gewährleistung, dass überhaupt irgendeine Form von Evaluation in den Lehrveranstaltungen stattfindet – nur auf die Einhaltung formaler Standards konzentrieren. Somit sind durch die Europäische Union finanzierten Handreichungen auch voller Aussagen, dass durch ein universi-
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tätsweites Qualitätsmanagement sichergestellt werden muss, dass der Zeitaufwand für jeden ECTS-Punkt realistisch eingeschätzt wird, dass der benötigte Zeitaufwand der Studierenden regelmäßig überprüft wird und dass bei Diskrepanzen die kalkulierten ECTS-Punkte, die Lernziele oder die Lernmethoden angepasst werden müssen. Es wird zur „guten Praxis“ erklärt, dass alle Module eines Studiengangs mit „geeigneten Lernzielen“ beschrieben werden und für jede Komponente eines Moduls klare Informationen über die zu vergebenden Kreditpunkte verfügbar sind (European Communities 2009: 18 und 26). Mit diesem Verfahren wird zwar nicht sichergestellt, dass die Studierenden während ihres Studiums etwas lernen, aber es kann überzeugend nach außen signalisiert werden, dass die ECTSPunkte sich zur Verrechnung in diesem Studiengang oder mit anderen Studiengängen eignen. Die Banken – EDV-Systeme zur Speicherung, Kumulierung und zum Tausch von Leistungspunkten Ein weiteres Problem betrifft die Gewähr, dass die ECTS-Punkte verlässlich auf Studierende zugerechnet werden können. Auf den ersten Blick wäre das effizienteste Verfahren für die Sammlung und den Tausch der ECTSPunkte, den Studierenden Leistungspunkte in Form von Münzen und Scheinen auszuhändigen. Für jede Übung, jede Klausur oder jede Vorlesung erhielte ein Studierender von seinen Lehrern eine Münze im Wert von einem, zwei oder drei Leistungspunkten. Für größere Arbeitspakete wie Praktika, Seminare oder Hausarbeiten bekäme er dann Scheine mit einem Wert von vier, fünf oder sechs Leistungspunkten. Wenn der Studierende Münzen und Scheine im Wert von 180 oder 120 Leistungspunkten zusammenhat, würde er diese einfach beim Prüfungsamt gegen einen Bachelor- oder Masterabschluss eintauschen. Aber natürlich funktioniert dieses Verfahren nicht, weil Leistungspunkte ja nicht beliebig kombiniert werden können. Auf jeder Münze und jedem Schein müssten deshalb Zusatzinformationen vermerkt werden. Es muss genau markiert werden, für welche Leistung eine Münze oder ein Schein erworben wurde, durch wen diese Leistung erbracht wurde und wann diese erworbenen Leistungspunkte eventuell wieder verfallen. Erst wenn jeder dieser 180 oder 120 Leistungspunkte in einem vorher genau festgelegten Zusammenhang erworben wurde, können sie auch gegen einen spezifischen
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Bachelor oder Master in Politikwissenschaft, Logik oder Pflegekunde eingetauscht werden. Im System vor Bologna konnte das alles noch händisch erledigt werden. Ein Studierender ließ sich seine in einer Vorlesung oder in einem Seminar erbrachten Leistungen auf einem „Schein“ vom Dozenten oder der Dozentin bestätigen. Die notwendigen Kontextinformationen wie Name des Studierenden, Titel und Art der Veranstaltung, Form der Leistungserbringung und Datum wurden dann einfach auf dem Stück Papier vermerkt und mit einer Unterschrift zertifiziert. Die Studierenden sammelten diese Scheine in ihrem „Sparstrumpf“ – einer kleinen Mappe für die Scheine. Wenn die Studierenden die für einen Studienabschluss notwendigen sieben, acht oder zwölf Scheine gesammelt hatten, trugen sie sie zum Prüfungsamt und bekamen dafür in Kombination mit den Abschlussprüfungen ihr Zeugnis. Eine solche Low-Tech-Variante kann aber bei zu kalkulierenden Verrechnungseinheiten von 120, 180 oder 240 Leistungspunkten, bei der Erhebung von zusätzlichen Informationen über die möglichen Modulzuordnungen von Leistungspunkten und den komplexen Einschränkungen von Punktkombinationen nicht mehr funktionieren. Deswegen wurden an den Hochschulen mit der Einführung der Kunstwährung ECTS die bis dahin bestenfalls rudimentär vorhandenen IT-Systeme zur Prüfungs- und Veranstaltungsverwaltung erheblich ausgebaut. Keine Hochschule scheint heutzutage mehr ohne komplexe Modul-Planungs-Programme, elektronische Vorlesungsverzeichnisse oder Campus-Management-Systeme auszukommen. Das Sammeln von Scheinen in einem heimischen „Sparstrumpf“ wurde ersetzt durch ein System, in dem jede Leistung nur wahrnehmbar ist, wenn sie in einer „Studiengangs-Datenbank“ abgelegt ist.
2.3 W AS
KANN MAN MIT EINER K UNSTWÄHRUNG MACHEN ? D IE „AUFLADUNG “ MIT ZUSÄTZLICHEN E IGENSCHAFTEN
Kunstwährungen sind keine statischen Verrechnungseinheiten, sondern sie können sich entweder durch Entscheidungen der Währungshüter oder auch durch die Verwendung in der Praxis verändern. Die Vielfliegerprogramme beispielsweise waren ursprünglich relativ einfache Tauschsysteme, bei denen durch Flüge gesammelte Punkte gegen Freiflüge umgetauscht wer-
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den konnten. Schrittweise wurden diese Vielfliegerprogramme dann mit zusätzlichen Eigenschaften aufgeladen, sodass die Bonuspunkte auch zusätzlich direkt gegen Geldzahlungen erworben, an andere Personen übertragen und gegen eine Vielzahl von Produkten und Leistungen eingetauscht werden können. Das Interessante an der Kunstwährung ECTS ist die Art und Weise, wie sie über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten immer mehr mit den Eigenschaften des Speicherns, Sammelns, Transferierens und Tauschens aufgeladen wurde. Ursprünglich wurde ECTS in den späten achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts lediglich dafür entwickelt, die Leistungen von Studierenden, die ein oder zwei Semester an einer ausländischen Partneruniversität verbracht haben, mit Leistungen an der Heimatuniversität zu verrechnen. Durch die Einführung der ECTS-Punkte brachte eine Studentin bei ihrer Rückkehr dann nicht nur die Information mit, dass sie zwei Seminare belegt, eine mündliche Prüfung abgelegt und eine Hausarbeit geschrieben hat, sondern auch eine Schätzung, wie viel Zeit dafür nach Kalkulation ihrer Gastuniversität dafür aufgewendet werden musste. Die Leistungen wurden besser transferierbar. Deswegen auch die ursprüngliche Bezeichnung als European Credit Transfer System. Erst in den Jahren nach der Bologna-Erklärung zeichnete sich ab, dass das ECTS-System nicht nur ein Transfersystem für einzelne Leistungen sein soll, sondern auch dafür genutzt werden kann, alle Anforderungen in einem Studium in ECTS-Punkten zu be- und verrechnen. Durch die Abbildung aller erwarteten Leistungen in Form dieser Zeitwährung wurde es möglich, die Kunstwährung dafür zu nutzen, dass alle Studierenden – nicht nur diejenigen, die an mehreren Hochschulen studiert haben –, am Ende ihre Punkte gegen ein definiertes Endprodukt, einen Bachelor- oder Masterabschluss, tauschen konnten. Voraussetzung für diesen Tausch gegen einen Abschluss ist, dass diese ECTS-Punkte auch gesammelt werden können. Im Rahmen des BolognaProzesses wurde deswegen von vielen Universitäten die Möglichkeit eingeführt, dass die Studierenden ihre Punkte in kleinen, bei den Prüfungsämtern angesiedelten elektronischen Schließfächern sammeln konnten. Aus einem Transfer-System wurde so zusätzlich immer mehr auch ein AkkumulationsSystem, weswegen früh schon eine Umbenennung von ECTS – „European Credit Transfer System“ – in EUROCATS – „European Credit Accumulation and Transfer System“ gefordert wurde (vgl. z.B. Dalichow 1997: 44).
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Ursprünglich war es so, dass die ECTS-Punkte nur im Rahmen des angestrebten Studienabschlusses gesammelt werden konnten. Ähnlich wie bei einem Miles-and-More-Programm ging man davon aus, dass die Punkte verfallen, wenn sie über einen längeren Zeitraum nicht genutzt werden. Im Kontext mit einer auch im Rahmen der Bologna-Reformbestrebung aufgegriffenen Diskussion über „Lebenslanges Lernen“ sollten dann zusätzlich Möglichkeiten geschaffen werden, die Punkte auch über einen längeren Zeitraum speichern zu können, um sie sehr viel später einmal als Element für Qualifikationen nutzen zu können. Es bildeten sich so immer mehr die Konturen einer Kunstwährung heraus, die mit Eigenschaften des Transfers, Sammelns, Speicherns und Tauschens aufgeladen wurde. Gerade unter Planungsgesichtspunkten erhielt die Kunstwährung ECTS so eine hohe Attraktivität, weil plötzlich viele vorher eher im Dunkeln von Seminaren, Vorlesungen und Studierstuben ablaufenden Prozesse wenigstens von ihrem Zeitaufwand her berechen-, kontrollierund planbar erschienen. Das Ergebnis war jedoch eine bis dahin nicht gekannte Komplexitätssteigerung in der Konzeption und Durchführung von Studiengängen an den Universitäten, die sich mit dem Begriff des „SudokuEffekts“ am besten erfassen lässt.
3.
Der Sudoku-Effekt – Zur Arithmetik des Studiums „Sehr geehrter Herr Professor, ich muss Sie auf Schwierigkeiten zu Ihrem geplanten Seminar im Sommersemester hinweisen. Leider ist es mir nicht möglich, die Anforderungen des Seminars zu erfüllen. Diese Einschätzung bezieht sich schon auf die erwartete Leseleistung bis zur zweiten Sitzung, da ich in den Ferien zwei über zwanzig Seiten starke Hausarbeiten anfertigen muss. … Auch die hohen zeitlichen Anforderungen von acht bis zehn Stunden pro Sitzung, sind für mich, wenn ich innerhalb der Regelstudienzeit des Masters bleiben möchte, kaum erfüllbar, da ich schlicht mehrere Seminare abschließen muss. Die eigentliche Problematik entsteht dadurch, dass Ihr Seminar das einzige ist, welches ich überhaupt besuchen kann, denn im Modul werden insgesamt nur vier Seminare angeboten. Bei dem einen Seminar muss ich arbeiten, um mein Studium zu finanzieren, bei zwei anderen habe ich andere Pflichtseminare. Somit bleibt mir nur Ihr Seminar. Sollte ich dieses nicht unter weniger erschwerten Bedingungen belegen können, muss ich ein Semester länger studieren, was natürlich nicht hinnehmbar wäre, zumal damit persönliche und finanzielle Kosten verbunden sind. Wäre es möglich, mit dem Besuch des nur halben Seminars die mir noch zum Abschluss des Moduls fehlenden drei Credits für eine aktive Teilnahme zu bescheinigen? Birgit Meier E-MAIL EINER STUDENTIN EINES MASTERSTUDIENGANGS AN EINEN PROFESSOR
Die Schaffung der Kunstwährung „ECTS-Punkt“ wird von den Promotoren als wichtiger Beitrag zur „Erhöhung der Transparenz von Lehre und Stu-
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dium“ gepriesen, weil sich Lehrende und Studierende „frühzeitig und zielgerichtet einen klaren Überblick“ über die Studienplanung verschaffen könnten. Die Studiengänge würden insgesamt schlüssiger werden, weil die Lehrenden durch die neue Kunstwährung angehalten würden, „die Lerninhalte, die Lehrziele und die erwarteten Lehrergebnisse“ untereinander abzustimmen. Es komme insgesamt zu einer „Effizienzsteigerung“ in den Studiengängen an den Hochschulen, weil der „Ressourceneinsatz in den verschiedenen Studieneinheiten“ besser kalkulierbar werde (siehe beispielsweise Schwarz/Teichler 2000: 5f.; Erhardt 2000: xi; Roscher 2000: 45). Ein solches Kredit- und Leistungspunktesystem würde so ein „wichtiges Element“ in der „Verkürzung der Studienzeiten“, der „Verbesserung der Studien- und Prüfungsorganisation“, der „Verringerung der Studienabbrecherquote“ und der „Verbesserung der internationalen und nationalen Mobilität“ sein (Rüttgers 1997: 3). Die Zusammenfassung von „ECTS-Punkten“ in Modulen soll – so jedenfalls die Vorstellung der Promotoren der Bologna-Reform – Studierenden eine größere Wahlfreiheit ermöglichen (vgl. Wissenschaftsrat 2000). „Kleinere, flexibel miteinander zu verknüpfende Module“ ergäben, so das Versprechen, „für die Studierenden mehr Kombinationsmöglichkeiten“ als „umfangreiche Fächer“ (vgl. BLK 2002: 4 und 7). Schließlich könnten die Studiengangsplaner mit der Modulstruktur nicht mehr nur disziplinäre Studiengänge für Philosophie, Wirtschaftswissenschaft und Ethnologie entwickeln, sondern durch die Zusammenstückelung von philosophischen, wirtschaftswissenschaftlichen und ethnologischen Modulen beispielsweise einen Master in „interkultureller Wirtschaftsethik“ entwickeln. Durch die Modularisierung der Studiengänge werde den Studierenden „die individuelle Gestaltung des Studiums“ bei „gleichbleibender Inanspruchnahme der Kapazitäten“ ermöglicht und so eine „bessere Strukturierung des Studiums“ sichergestellt werden (KMK 2004: 1; siehe ähnlich auch Schwarz/Rehburg 2003: 148). Es wird suggeriert, dass Studiengänge nach einem einfachen „Baukastensystem“ zusammengestellt werden können, das es Studierenden ermöglicht, Module wie Legosteine miteinander zu kombinieren. Genauso wie Legosteine unterschiedlich viele Noppen haben können, könnten im europäischen Hochschulraum auch die Module – je nach Arbeitsaufwand – aus unterschiedlich vielen ECTS-Punkten bestehen, am Ende würden diese „Bausteine“ jedoch auf eine für alle nachvollziehbare Art und Weise viel-
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fältig kombinierbar sein. Genauso wie es bei Legosteinen möglich sei, blaue, gelbe und rote Steine je nach Geschmack zusammenzusetzen, könnten zukünftig auch in einem interdisziplinären Studiengang Module beispielsweise der Philosophie, der Wirtschaftswissenschaft, der Ethnologie, der Biologie, der Germanistik und der Sportwissenschaft miteinander kombiniert werden (siehe für eine frühe Kritik Weingart 1974: 96f.). Das aus Modulen bestehende Baukastensystem, das durch die neue Studienstruktur produziert wird, hat jedoch, wie im Folgenden gezeigt werden soll, nicht das Geringste mit diesem „Lego-Effekt“ – den flexiblen Kombinationsmöglichkeiten von Bausteinen – zu tun. Vielmehr ähnelt die Gestaltung, aber auch das Studieren von Studiengängen durch die Einführung der Kunstwährung ECTS immer mehr der Entwicklung und Lösung eines komplizierten Sudoku-Rätsels.
3.1 V ON S UDOKUS , S AMURAI -S UDOKUS UND M ONSTER -S UDOKUS Mit der Einführung der Kunstwährung haben sich die Hochschulen eine höchst komplexe Zahlenarithmetik eingehandelt. Die Module müssen mit ECTS-Punkten hinterlegt werden und geraten dabei – gerade wenn man versucht, den voraussichtlichen Arbeitsaufwand für Studierende genau zu kalkulieren –, schon innerhalb einzelner Studiengänge und besonders zwischen den Studiengängen unterschiedlich groß. Die Module umfassen häufig eine sehr unterschiedliche Anzahl an Vorlesungen, Übungen und Seminaren, aber auch Prüfungen in Form von Hausarbeiten, Klausuren und mündlichen Examen, für die – wenigstens für alle Module eines einzelnen Studiengangs – eine einheitliche Anzahl von Leistungspunkten festgelegt werden sollte. Die Herausforderung besteht darin, dass diese in ECTS-Punkten gemessenen, unterschiedlich großen Module, die ECTS-mäßig jeweils anders gewichteten Veranstaltungen und Prüfungen am Ende irgendwie zusammenpassen müssen. Wenn ein Modul mit sieben Punkten gewichtet wird, weil es nur in dieser Größenordnung in seinen Studiengang hineinpasst, dann kann dieses Modul für einen anderen Studiengang genau den einen Punkt zu wenig haben, da man beispielsweise in einem viersemestrigen Master am Ende nur auf insgesamt 119 Punkte kommt und eben nicht auf die er-
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forderlichen 120 Punkte. Wenn die Punkte für Veranstaltungen, Prüfungen und Module sehr unterschiedlich sind, kann das Problem entstehen, dass die bislang besuchten Module und die erworbenen ECTS-Punkte am Ende nicht die Punktzahl ergeben, die man gegen einen Studienabschluss eintauschen kann. Die Aufgabe, bei einer Gleichverteilung der zeitlichen Belastung über die Semester die in jeweils unterschiedlichen ECTS-Punkten ausgedrückten Veranstaltungsformen und Prüfungstypen in Modulen zu kombinieren, die selbst aber wiederum untereinander kombinierbar sein müssen, gleicht einem Sudoku-Rätsel. Abstrakt gesehen besteht ein Sudoku-Rätsel darin, dass Zahlen auf verschiedenen Ebenen – in der Horizontalen, in der Vertikalen und in den Blöcken – arithmetisch korrekt miteinander kombiniert werden müssen. Während anfangs noch ganz unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten vorstellbar sind, schränken sich die Kombinationsmöglichkeiten im Laufe der Füllung eines Sudoku-Rätsels immer weiter ein, sodass man am Ende froh ist, überhaupt eine Lösung gefunden zu haben. Man darf Metaphern nicht überstrapazieren, aber auf den ersten Blick sind die Parallelen zwischen der Gestaltung eines Sudokus und der Entwicklung eines Studiengangs frappierend. Genauso wie die Kästchen eines Sudokus nur mit den Zahlen von eins bis neun zu füllen sind, ist auch bei einem Bologna-Studiengang jede Vorlesung, jedes Seminar, jede Übung, jedes Praktikum, jede Hausarbeit, jede mündliche Prüfung, jede Phase des Selbststudiums mit Leistungspunkten mit einer zu standardisierenden Zeitgröße zu hinterlegen. Genauso wie beim Sudoku innerhalb eines Blocks insgesamt Zahlen mit der Summe von 45 – nämlich 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8 + 9 – untergebracht werden müssen, müssen auch die Vorlesungen, Seminare, Übungen, Klausuren und Hausarbeiten in Modulen mit an vielen Hochschulen vorgegebenen Größen untergebracht werden. Genauso wie bei einer Zeile des Sudokus die Zahlen Eins bis Neun untergebracht werden müssen, muss bei der Kalkulation eines Studiums in jedem Semester die gleiche Anzahl von Leistungspunkten – in der Regel dreißig ECTS-Punkte – erbracht werden. Einen Studiengang muss man dabei – ähnlich wie ein Sudoku-Rätsel – aus drei Perspektiven betrachten: Auf der Ebene der Universitätsleitungen geht es darum, Vorgaben zu erstellen, wie der Rahmen eines Studiengangs auszusehen hat. Auf der Ebene der Fakultäten, Fachbereiche oder Institute wird unter Berücksichtigung von zahlreichen vorgegebenen formalen, aber
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auch inhaltlichen Restriktionen versucht, sinnvolle und akkreditierungsfähige Studiengänge zusammenzubasteln. Auf der Ebene der Studierenden wird versucht, unter Berücksichtigung der mehr oder minder schlüssigen Studienpläne, des konkreten Lehrangebots und der zeitlichen Überschneidungen von Lehrveranstaltungen das Studium sinnvoll zu absolvieren. Je nachdem, welche dieser drei Ebenen man betrachtet, ergeben sich dabei unterschiedliche Probleme. Zu Vorgaben, Konzeption und Lösung eines Studiengangs-Sudokus Die Vorgaben, wie ein Studiengang zu modularisieren ist, welche Elemente in Modulen enthalten sein müssen und wie die Verrechnung in ECTSPunkte stattzufinden hat, werden von den Universitätsleitungen erstellt, die sich wiederum an die Richtlinien der Bildungsministerien zu halten haben. Während des Bologna-Prozesses haben sich einige Grundregeln für die Gestaltung eines Studiengangs herausgebildet. Von den Bildungsministerien der meisten Länder wird dabei vorgegeben, dass alle zeitlichen Anforderungen an Studierende in ECTS-Punkten ausgedrückt werden müssen, dass ein Studium durchgängig zu modularisieren ist und dass ein Studiengang einen in ECTS-Punkten genau festgelegten zeitlichen Umfang haben muss. In diesem Rahmen können die Universitäten zusätzliche Vorgaben machen, wie die Studiengangsentwickler ihr Studiengangs-Sudoku zu gestalten haben. Sie können beispielsweise Richtlinien darüber erlassen, wie sich die zeitlichen Anforderungen von Haupt- und Nebenfächern in ECTS-Punkten widerspiegeln müssen oder aus wie viel ECTS-Punkten ein Modul mindestens bestehen muss beziehungsweise maximal bestehen darf. Im Rahmen dieser Vorgaben können die Studiengangsentwickler – je nach Interesse – ein mehr oder minder kompliziertes Konzept entwickeln. Sicherlich: Bei der Konzeption eines Studiengangs kommt es erst einmal darauf an, sich zu überlegen, was Studierende inhaltlich lernen sollen, mit welchen Seminaren, Vorlesungen und Übungen sie diese Lernziele am besten erreichen können und wie man das Erreichen der Lernziele am besten überprüfen kann. Durch die Einführung der Kunstwährung ECTS stehen sie aber zusätzlich vor der mathematischen Herausforderung, die mit Zahlen hinterlegten Veranstaltungen, Prüfungen und Praktika so miteinander zu verknüpfen, dass am Ende für den gesamten Studiengang, aber auch für die
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einzelnen Semester und – an einzelnen Universitäten – auch für die einzelnen Module genau die vorgegebene Summe ECTS-Punkte herauskommt. Dafür verändern sie die Anzahl von Modulen, die Zuweisung von Prüfungen zu den Modulen, die Bewertung von Modulen, Veranstaltungen und Prüfungen mit Leistungspunkten so lange, bis am Ende je nach Vorgabe genau 60, 120, 180 oder 240 Leistungspunkte herauskommen. Wenn sie den Studierenden Wahlmöglichkeiten lassen wollen und sich bei der Konzeption des Studiengangs geschickt anstellen, lassen sie mehrere Lösungen ihres Studiengangs-Sudokus zu, sodass die Studierenden – vielleicht sogar noch mit Hilfestellung der Konzepteure – mehrere Lösungsstrategien einschlagen können. Auch bei dem Belegen eines Studiengangs mag für Studierende erst einmal im Vordergrund stehen, Wege zu finden, ihre fachliche Neugierde zu befriedigen, sich durch neue Fragen irritieren zu lassen und eigene Wege zur Beantwortung dieser Fragen zu finden. Aber diese Interessen müssen sie notgedrungen mit den Anforderungen der ECTS-Zahlen-Arithmetik der Studiengänge in Einklang bringen. Bei der Lösung ihres StudiengangsSudokus stehen die Studierenden vor der Herausforderung, die Module, Veranstaltungen und Prüfungen so miteinander zu verknüpfen, dass sie am Ende die geforderte Anzahl an ECTS-Punkten gesammelt haben. Das Punktesammeln muss zusätzlich noch mit anderen Restriktionen wie den häufig nur wenigen Veranstaltungen in einem Modul, der zeitlichen Überschneidung von Lehrveranstaltungen und der terminlichen Kollision mit Nebenjobs abgestimmt werden. Dabei kann es ihnen wie bei einem Sudoku-Rätsel passieren, dass sie zu Beginn durch das unbemerkte „Fehlbelegen“ von Veranstaltungen und Prüfungen auf eine falsche Spur geraten. Das stellen sie dann häufig erst am Ende fest, wenn ihr Studium jedenfalls „punktemäßig“ nicht aufgeht. Mühsam müssen dann Veranstaltungen neu zu Modulen zugerechnet werden, neue Zuordnungen von Prüfungen ausprobiert werden oder sogar Veranstaltungen oder Prüfungen nachgeholt werden. Im Gegensatz zu den Studiengangsentwicklern haben es die Studierenden jedoch bei der Lösung des Studiengangs-Sudokus in einem Punkt leichter: Mit dem Wahlbereich – je nach Hochschule auch „Optionsbereich“ oder „Individuelle Ergänzung“ genannt – wird ihnen in vielen Studiengängen ein „Restcontainer“ angeboten, in dem sie sich ECTS-Punkte aus Veranstaltungen, die nicht in das vorgeschriebene Schema passen, anrechnen lassen können. Wenn der Wahlbereich nicht, wie an einigen Hochschulen
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inzwischen üblich, mit Pflichtveranstaltungen zu „Schlüsselkompetenzen“ oder „wissenschaftlichem Arbeiten“ belegt werden muss, steht Studierenden gewissermaßen ein Feld in ihrem Studiengangs-Sudoku zur Verfügung, in das sie ohne innere Ordnungsanforderungen die in Seminaren, Vorlesungen oder Praktika erworbenen ECTS-Punkte ablegen können.1 Wenn sie trotz dieses „Restcontainers“ am Ende zwei oder drei ECTS-Punkte zu viel haben, müssen sie den Studiengang nicht noch einmal studieren. Keine Studentin, kein Student muss den Studiengang wiederholen, nur weil er oder sie aus Versehen 186 statt der benötigten 180 Leistungspunkte für einen Studiengang gesammelt hat. Vielmehr verfallen die zu viel erworbenen ECTS-Punkte einfach – vorausgesetzt natürlich, die Studierenden haben ansonsten alle Anforderungen des Studiengangs-Sudokus genau erfüllt. Der Sudoku-Effekt wird dadurch verschärft, dass die Ebenen der Vorgabe, der Konzeption und der Lösung des Studiengangs-Sudokus häufig nur unzureichend aufeinander abgestimmt werden können. Die Vorgaben der Universitätsleitung sind vorrangig darauf ausgerichtet, universitätsweite Konsistenzen herzustellen, können dadurch aber den spezifischen Anforderungen einzelner Fächer nicht gerecht werden. Die Studiengangsplaner entwickeln Sudokus, die die Studierenden nachher lösen müssen, und haben dabei eine Musterlösung im Kopf. Dabei können sie leicht die Illusion ausbilden, dass sie den idealen, in jeder Hinsicht und Dimension optimal durchgeplanten und einjustierten Studiengang entwickelt haben. Dass diese Musterlösung für die Studierenden aufgrund von Restriktionen durch zeitliche Überschneidungen von Veranstaltungen, wegen der Kollision mit Praktika und Nebenjobs oder wegen ausgeprägter individueller Interessen an spezifischen Veranstaltungen nicht anwendbar ist, ist den Studiengangsplanern häufig nicht bewusst (siehe allgemein dazu Nathan 2006: 139). Die Studiengangsplaner werden vielmehr derartig von den Schwierigkeiten der
1
Bei den „Wahlbereichen“ in den Studiengängen setzt sich an einigen Universitäten und Fachhochschulen die Tendenz durch, diesen Bereich durchzustrukturieren. An einigen Universitäten wird beispielsweise vorgeschrieben, dass man im Bereich Individuelle Ergänzung für zehn Leistungspunkte „Schlüsselkompetenzseminare“ in einem eigens gegründeten „Schlüsselkompetenzinstitut“ erwerben muss, zehn Leistungspunkte im Bereich wissenschaftlichen Arbeitens und zehn Leistungspunkte in frei zu wählenden Veranstaltungen außerhalb (!) der eigenen Fakultät. Damit steht der Wahlbereich als „Flexibilitäts-Container“ für die Studierenden faktisch nicht mehr zur Verfügung.
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Konzeption des Sudokus absorbiert, dass sie glücklich sind, wenn sie überhaupt irgendeine „aufgehende“ Lösung finden. Sie machen sich dabei nicht klar, dass die Studierenden häufig ganz anders studieren (müssen) als in der Musterlösung vorgesehen. Die Kombination von mehreren Studiengängen in einem Samurai-Sudoku Die Schaffung von Modulen hat viele Universitäten dazu verleitet, ihre Angebote von Bachelor- und Masterstudiengängen zu vervielfältigen. Es gibt an vielen Hochschulen inzwischen Bachelor- und Masterstudiengänge, die pro Jahr lediglich von vier, fünf Studierenden belegt werden. Die Angebote reichen inzwischen von Bachelor- und Masterstudiengängen für „Hospital Management“ oder „Hospitality Management“ über Abschlüsse für „Angewandte Ethik“, „Angewandte Humangeographie“ oder „Angewandte Sexualwissenschaft“ bis hin zu Studiengängen für „Change Management“, „Kreatives Marketing Management“ oder „Kompetenzmanagement“. Im Prinzip kann sich an den Hochschulen jeder einzelne Professor „seinen“ ganz eigenen Master zusammenbasteln, indem er seine Lehrkapazitäten weitgehend für diesen Master verwendet und sich den fehlenden Rest des Studiengangs mit von Kollegen bedienten – und eigentlich für andere Studiengänge gedachten – Modulen heranholt. In dieser Vervielfältigung von Studiengängen liegt der Reiz der Modulstruktur für die Hochschulen. Weil ein einzelnes Modul im Prinzip für ganz unterschiedliche Studiengänge verwendet werden kann, können selbst kleine Hochschulen mit nicht einmal hundert Professoren ihre Studiengänge vervielfachen und so den Eindruck eines vielfältigen Studienangebotes erwecken. „Polyvalenz“ der Modulverwendung ist das Zauberwort, mit dem diese Vervielfachung der Studiengänge bei gleichen oder sogar reduzierten Lehrkapazitäten erzielt wird (vgl. Lemke 2007: 286). Es stellt sich dann aber das Problem, dass die Module der verschiedenen Studiengänge aufeinander abgestimmt werden müssen. Die Konzeption eines Studiengangs im Rahmen eines solchen Geflechts von Bachelor- und Masterstudiengängen ähnelt teilweise den sogenannten Samurai-Sudokus, bei denen mehrere Standard-Sudokus ineinander verschlungen werden. Genauso wie bei einem Samurai-Sudoku, in dem die Neunerfelder des einen Sudokus genau mit den Neunerfeldern eines anderen Sudokus zusammen-
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passen müssen, müssen dann auch die Module eines Studienganges mit den Modulen anderer Studiengänge abgestimmt werden. Dabei muss natürlich auch noch auf die Konsistenz der in einem Studiengang gewählten Leistungspunktvarianten für Veranstaltungen und Prüfungen für das eine Modul mit den Varianten für andere Studiengänge geachtet werden. Die Komplexität der Verschachtelung der Module verschiedener Studiengänge ist häufig nur noch dadurch zu beherrschen, dass die Universitätsleitung die Vorgabe macht, dass alle Module der Universität eine einheitliche Größe von beispielsweise zehn Leistungspunkten haben oder dass bei der Konzeption der Module nur zwischen den Größen fünf, zehn oder fünfzehn Leistungspunkte gewählt werden kann. Dann müssen – inhaltliche Überlegungen hin oder her – alle Module zwar irgendwie auf die vorgegebene Leistungspunktgröße hin zurechtgerechnet werden, aber immerhin werden dann die Module innerhalb einer Universität einfacher miteinander kombinierbar. Effekte der Kombination von Studiengängen mehrerer Hochschulen in Monster-Sudokus Richtig kompliziert wird es, wenn man – wie im Fall eines gemeinsamen Masterstudiengangs verschiedener Universitäten – versucht, die ECTSKonzepte für die Veranstaltungen, Prüfungen und Module der verschiedenen Hochschulen aufeinander abzustimmen. Bei der Abstimmung zwischen mehreren Universitäten gibt es ja kaum Möglichkeiten, par ordre du mufti die ECTS-Größe von bestimmten Modulen, Veranstaltungen und Prüfungen zu standardisieren. Ein Studierender hat dann an seiner Gastuniversität ein Modul, das aus sieben Leistungspunkten besteht, das aber an seiner Heimatuniversität an einer Stelle verbucht werden muss, wo eigentlich ein Modul mit neun Leistungspunkten erforderlich ist. Oder es passiert, dass eine im Ausland belegte Veranstaltung mit drei Leistungspunkten nicht zur Vervollständigung seines Moduls an der Heimatuniversität passt, das eigentlich ein Seminar mit fünf Leistungspunkten verlangt. Würde man versuchen, die in ECTS-Punkten abgebildeten Studiengänge verschiedener Universitäten miteinander abzustimmen, hat das Ähnlichkeit mit einem sogenannten Monster-Sudoku. So nennt man Sudoku-Rätsel, bei denen acht, dreizehn oder mehr Sudokus miteinander verwoben sind und am Ende alle ineinander verwobenen Sudokus aufgehen müssen. Wenn
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man die Metapher auf die Studiengänge überträgt, müsste der Studierende natürlich nur eines dieser Sudokus lösen, aber in der Konzeption eines Studienganges müssten die Studiengangsentwickler die anderen sieben, zwölf oder noch mehr Studiengänge natürlich im Blick haben. Eine – wenn man es richtig machen will – kaum noch zu lösende Aufgabe.
3.2 D IE E NTSTEHUNG DES S UDOKU -E FFEKTS – Z UR UNGEWÖHNLICHEN W IRKWEISE DER K UNSTWÄHRUNG ECTS Dass die Einführung der Kunstwährung ECTS einen solchen Sudoku-Effekt produziert hat, überrascht erst einmal, weil wir es bei anderen Kunstwährungen nicht mit vergleichbaren Effekten zu tun hatten. Das Sammeln von Duplo- oder Hanuta-Punkten mit anschließendem Eintauschen der Punkte gegen Bälle, Trikots oder Baseballmützen ist so „kinderleicht“, dass man es selbst schon Sechs- oder Siebenjährigen zutraut. Das Sammeln, Speichern und Eintauschen von Meilenpunkten ist so zur Routine geworden, dass Vielflieger zwar ab und zu kalkulieren, welchen Flug sie noch buchen müssen, um noch rechtzeitig vor Urlaubsbeginn eine Flug- oder Hotelprämie einlösen zu können, aber in der Regel überfordert dies nicht ihre kognitiven Fähigkeiten. Auf den ersten Blick fällt auf, dass durch die Einführung der neuen Studienstruktur die Komplexität in mehreren Dimensionen gesteigert wird. Mit der Einführung von ECTS-Punkten für die Module wird die Zahl der Elemente erhöht, mit denen gerechnet werden muss. Zusätzlich wird die Anzahl der möglichen Beziehungen, die bei der Konzeption eines Studiums beachtet werden müssen, erheblich gesteigert – schließlich müssen Studierende im Blick haben, wie die ECTS-Punkte, Veranstaltungen, Prüfungen und Module miteinander kombiniert werden müssen. Zur Komplexitätssteigerung kommt hinzu, dass die Verschiedenartigkeit der Beziehungen mit ins Blickfeld genommen werden muss, schließlich hängen die ECTSPunkte, Veranstaltungen, Prüfungen und Module auf jeweils sehr spezifische Art und Weise zusammen (vgl. zu diesen drei unterschiedlichen Dimensionen von Komplexität Luhmann 1980: 1065f.). Diese Komplexitätsexplosion allein kann aber noch nicht den SudokuEffekt erklären – die sukzessive Einengung des Entscheidungsspielraumes
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für Studiengangsplaner und Studierende. Der Sudoku–Effekt entsteht dadurch, dass die zusätzlich in Betracht zu ziehenden Elemente, die zusätzlich zu betrachtenden Beziehungsmöglichkeiten und die Verschiedenartigkeit der Beziehungen durch das ECTS-System in ein ganz spezifisches Korsett gezwängt werden. Die Wirkung der Containerbildung Kunstwährungen werden meistens so eingerichtet, dass die Punkte weitgehend beliebig gesammelt werden können. Die Schokoladenriegelpunkte oder die Meilenpunkte werden einfach addiert. Man muss nicht erst genau zehn Hanuta-Punkte und acht Duplo-Punkte sammeln, um sein FußballShirt zu erhalten, und genauso wenig muss man zum Erreichen eines Freifluges nachweisen, dass man sich die insgesamt nötigen 10 000 Meilen in „Containern“ mit 6 000 Meilenpunkten für bezahlte Flüge, 3 000 Meilenpunkten für das Anmieten von Autos und 1 000 Meilenpunkten für die Nutzung einer Kreditkarte erworben hat. Bei der Kunstwährung ECTS müssen dagegen – wie gezeigt – die Punkte letztlich immer in solchen „Containern“ gesammelt, gespeichert, transferiert und getauscht werden. Ein Student oder eine Studentin kann mit einzelnen ECTS-Punkten für eine Übung nichts anfangen, sondern er oder sie muss immer die noch dazugehörigen Vorlesungen und Prüfungen nachweisen. Erst in der Zusammenfassung von verschiedenen Veranstaltungen und Prüfungen in einem vorgeschriebenen „Container“ erhalten die Punkte letztlich einen Wert und können dann mit anderen „Containern“ gegen einen Studienabschluss getauscht werden. Diese Container-Bildung produziert eine erste Ähnlichkeit mit Sudoku, weil dabei die Einsen, Zweien, Dreien, Vieren, Fünfen, Sechsen, Siebenen, Achten und Neunen gleichmäßig in die genau vorgeschriebenen neun quadratischen Felder verteilt werden müssen. Die Bildung von Containern, in denen Kunstwährungen gesammelt werden, führt allein aber noch nicht zu einem Sudoku-Effekt. Im Gegenteil: Der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Simon (1978: 96) hat darauf hingewiesen, dass häufig erst durch die Aufteilung von Elementen in verschiedene Container ein hohes Maß an Komplexität verarbeitet werden kann. Durch die Container-Bildung brauche keine Gesamtlösung entwickelt zu werden, sondern es werde auf der Ebene von Containern eine Vielzahl von Einzellösungen entwickelt. Diese in den Containern gespeicherten Lösun-
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gen können je nach Bedarf miteinander kombiniert werden. Wenn nötig, kann man auch einen Container für ganz andere Zwecke als ursprünglich geplant nutzen. Eine Verkomplizierung tritt erst dadurch ein, dass bei der Konzeption von Studiengängen die Verbindung zwischen den Containern im Voraus mit eingeplant werden muss. Die Wirkung der Vernetzungsregeln Die meisten Kunstwährungen unterliegen beim Sammeln nicht zusätzlichen Beschränkungen. Es wird nicht vorgeschrieben, dass jeden Monat eine bestimmte Anzahl von Miles-and-More-Punkten gesammelt werden muss oder dass für ähnliche Produkte – Flüge in gleiche Länder, Buchen eines Dreisterne-Hotels oder Anmietung eines Mittelklassewagens – immer genau die gleiche Anzahl von Punkten vergeben werden muss. Dadurch ist die Kunstwährung von den meisten Restriktionen befreit, die das Sammeln, Transferieren und Tauschen verkomplizieren könnten. Bei der Kunstwährung ECTS werden jedoch neben dem verpflichtenden Erwerb in Form von Modulen weitere Restriktionen eingeführt. Weil in der Studiengangsplanung nachgewiesen werden muss, dass in der Idealform die Studierenden pro Semester nicht weniger und nicht mehr als dreißig Leistungspunkte erwerben und gleichzeitig für die Seminare, Vorlesungen, Übungen und auch die Prüfungsformen möglichst immer die gleiche Anzahl von Leistungspunkten vorgesehen werden sollte, wird die Modulstruktur, die eigentlich Austauschbarkeit verspricht, unterlaufen. Man kann sich die Bedeutung dieser Vernetzungsregeln ganz einfach an dem Sudoku-Rätsel deutlich machen. Wenn die Anforderung bei einem Sudoku nur darin bestehen würde, die jeweils neun Felder mit den Zahlen Eins bis Neun zu füllen, ohne dass man auf Konsistenzen in den Horizontalen und Vertikalen zu achten braucht, wäre das Spiel einfach zu beherrschen und würde vermutlich nur bei kleinen Kindern ausreichend Spannung produzieren. Die Herausforderung entsteht erst dadurch, dass die einzelnen Elemente in den jeweiligen Feldern zusätzlich noch eindeutige Konsistenzanforderungen in den Horizontalen und Vertikalen erfüllen müssen. Die Wirkung, die dadurch – sowohl bei der Konzeption als auch bei der Lösung – produziert wird, lässt sich mit dem Mathematiker Claude E. Shannon (1951: 50ff.) als abnehmende Informationsentropie bezeichnen. Anfangs hat man bei der Konzeption noch alle Möglichkeiten. Man kann in
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ein Kästchen eine Eins, Zwei, Drei oder Acht setzen. Es gibt keinerlei Restriktionen. Je weiter man jetzt bei der Konzeption voranschreitet, desto mehr Restriktionen gibt es. Die Entropie nimmt immer mehr ab, bis sie am Ende gegen null geht. Die Wirkungen des Punktlandungsmodells Diese Vernetzungsregeln schränken die Kombinationsmöglichkeiten schon stark ein. Aber der „Sudoku-Effekt“ entsteht erst dadurch, dass das ECTSModell auf einem „Punktlandungsmodell“ und nicht auf einem „Steigerungsmodell“ beruht. Studierende müssen am Ende eines dreijährigen Bachelorstudiums schließlich genau die verlangten 180 Leistungspunkte, bei einem vierjährigen Bachelorstudium genau 240 und bei einem zweijährigen Masterstudium exakt 120 Punkte vorweisen. Bei der Schaffung des „Europäischen Hochschulraumes“ wäre – jedenfalls theoretisch – auch die Etablierung eines „Steigerungsmodells“ vorstellbar gewesen. Bei einem Steigerungsmodell geht es darum, so viele Punkte einer Kunstwährung anzusammeln wie möglich. Im Prinzip kann man nie genug bekommen. Je mehr Leistungspunkte, desto besser. Auf der Basis der erzielten Leistungspunkte können dann durch Vergleich mehrerer Personen (oder auch Organisationen oder Staaten) Rankings, Rangordnungen oder Tabellen gebildet werden. Übertragen auf die Kunstwährung ECTS hätte das bedeutet, dass die Studierenden beliebig viele Veranstaltungen, Prüfungen und Module ansammeln können, die sie dann in zertifizierter Form in ihrem Lebenslauf angeben würden. Wenn eine fünfundzwanzigjährige Studentin in ihrem Zeugnis 632 ECTS-Punkte ausweisen würde, würde sie – so die nicht ganz ernst gemeinte Fortführung des Modells – einem potenziellen Arbeitgeber signalisieren, dass sie Wissen im „Werte“ von genau 18 960 Stunden erworben hat. Beim „Punktlandungsmodell“ geht es dagegen darum, eine genau vorgeschriebene Punktzahl zu erreichen. Es geht jetzt nicht mehr darum, durch „Überbietung“ zu glänzen, sondern darum, die Punktlandung mit möglichst geringem Kraftaufwand zu realisieren. Man glänzt gegenüber den Kommilitonen nicht damit, dass man 193 statt der geforderten 180 Punkte in den drei Jahren erreicht hat, sondern dadurch, dass man diese Punktzahl besonders schnell, besonders gut oder mit einem besonders geringen Aufwand erreicht hat.
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Der Sudoku-Effekt entsteht jetzt dadurch, dass bei der Kombination von Übungen, Seminaren, Vorlesungen, Praktika, Abschlussarbeiten und Prüfungen am Ende immer die magischen 180 oder 120 Leistungspunkte stehen müssen. Wenn man versucht, die für einen Studiengang sinnvollen unterschiedlichen Veranstaltungs- und Prüfungstypen jeweils mit den gleichen Leistungspunktzahlen zu berechnen, kommt man am Ende häufig nicht genau auf die verlangten 180 oder 120 Leistungspunkte. Nicht selten sitzen dann Studiengangsplaner mit Taschenrechnern über einer Vielzahl von Tabellen und schauen, bei welcher Leistungspunktezurechnung für Übungen, Hausarbeiten oder Klausuren alles aufgeht. Und selbst den Verfechtern einer möglichst hohen Leistungspunkt-Gewichtung ihres Praktikumsmoduls oder ihrer Einführungsveranstaltung ist es letztlich gleichgültig, wie hoch „ihr Modul“ gewichtet wird, Hauptsache, man kommt am Ende irgendwie auf die verlangten 180 oder 120 Leistungspunkte für einen Studiengang.2
3.3 D IE S UDOKU -H ALTUNG: H AUPTSACHE , ES GEHT IRGENDWIE
AUF
Um Probleme bei der Lösung eines Studiengangs-Sudokus zu verhindern, kann man es den Studierenden relativ einfach machen – und zwar indem man ihnen den Lösungsweg direkt vorgibt. Man überlegt sich für einen einzigen Studiengang einer einzigen Universität, welche Module mit welchen Vorlesungen, Übungen und Seminaren die Studierenden sinnvollerweise studieren sollen, wie diese Module am besten abgeprüft werden können,
2
Mit dem Blick auf die Besonderheiten des ECTS-Systems wird deutlich, weswegen das an den US-amerikanischen Universitäten schon vor etlichen Jahrzehnten eingeführte Kreditpunktesystem nicht in der gleichen Form einen Sudoku-Effekt produziert wie sein neues europäisches Gegenstück (siehe jedoch für Komplexitätseffekte im US-amerikanischen Kreditsystem Rothblatt 1991: 137f.). Erstens gibt es keine Vorgabe, verpflichtend Kreditpunkte aus verschiedenen Veranstaltungen zusammenzufassen, sondern es können auch einzelne Veranstaltungen als Baustein genommen werden. Zweitens müssen das individuelle Studium zu Hause sowie Seminar- oder Prüfungsvorbereitungen nicht in Kreditpunkten kalkuliert werden (siehe die deutschsprachigen Schilderungen des US-amerikanischen Systems bei Altbach 2000: 82ff.; Richter 2005: 108ff.).
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und dann kalkuliert man, wie viel Leistungspunkte für jeden Veranstaltungstyp, jede Prüfungsform und jedes Modul notwendig sind. Man muss lediglich darauf achten, dass man bei der Addition am Ende bei einem Bachelorstudiengang auf 180 Leistungspunkte und bei einem Masterstudiengang auf 120 Leistungspunkte kommt. Den Studierenden gibt man dann genau vor, wie sie was in welchem Semester zu studieren haben. Dies ist der Grund, weswegen der Sudoku-Effekt bei verschulten Studiengängen wie Jura, Medizin, Betriebswirtschaftslehre oder den Ingenieurswissenschaften deutlich weniger zu beobachten ist als beispielsweise in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Die Studiengänge Jura, Medizin, Betriebswirtschaftslehre oder Ingenieurswissenschaften waren schon in ihrer Fassung als Diplom- oder Staatsexamensstudiengänge häufig so stark reguliert und verfügten über so wenig Berührungspunkte zu anderen Studiengängen, dass die Umrechnung jeder Arbeitsstunde in ECTS-Punkte nicht die gleichen Effekte zeigte wie bei den Geistes- und Sozialwissenschaften. Es gibt zwar bei der Konzeption eines Studiengangs nach wie vor einen Sudoku-Effekt, weil am Ende ja nach einem bestimmten Schema 120, 180 oder 240 Leistungspunkte herauskommen müssen, aber der Effekt wird von den Studierenden kaum bemerkt, weil den Studierenden ja die Lösung im Detail Schritt für Schritt vorgegeben wird, indem ihnen – wie früher auch schon – im Detail vorgeschrieben wird, wo sie an welchem Tag zu welcher Uhrzeit welche Veranstaltung zu belegen haben. Ihre Studiengänge ähneln einem Sudoku, bei dem den Rätsellösenden von oben Zeile für Zeile diktiert wird, mit welcher Zahl sie das jeweils nächste leere Kästchen zu füllen haben. Sobald man jedoch die Bologna-Rhetorik – Flexibilisierung der Studiumsgestaltung, Erhöhung der Mobilität und Schaffung von Wahlfreiheiten für Studierende – ernst nimmt und dieses Ziel in die Formalstruktur von Studiengängen umzusetzen versucht, wird es richtig kompliziert. Gerade bei der Verkopplung mehrerer Studiengänge sind die kognitiven Leistungsgrenzen der Studiengangsplaner und der Studierenden schnell erreicht. Als Fluchtpunkt bleibt dann sowohl für Studierende als auch für Lehrende häufig nur, dass eine sich in Leistungspunkten verlierende Lehrplan-Arithmetik die Debatten über die inhaltliche Ausrichtung von Studiengängen überlagert. Wenn man bei der Konzeption eines Studiengangs nur ausreichend verschiebt, modifiziert und neu berechnet, dann geht es am Ende irgendwie
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auf. Bloß: Genauso wie beim Sudoku-Rätsel die Anordnung der Zahlen zwischen eins und neun letztlich nur durch die notwendige Vernetzung mit anderen Zahlenreihen begründet ist, wird auch bei der Gestaltung eines Studiengangs die Anordnung von Modulen, Veranstaltungen und Prüfungen am Ende häufig nur noch von den Konsistenzanforderungen der Leistungspunktelogik getragen. Die durch die Bologna-Reform entstandenen Studiengänge sind am Ende oftmals nicht das Ergebnis eines Diskussionsprozesses darüber, was Absolventen eines Studiums beherrschen sollen, sondern eher das Ergebnis der permanenten Anpassung der ursprünglich einmal angedachten Veranstaltungen an die vorgegebenen starren Berechnungsschemata. Die Konzeption des Studiengangs wird am Ende durch die Perspektive auf die Leistungspunkte bestimmt. Aber auch die Einstellung der Studierenden zu ihrem Studium wird zunehmend durch eine solche Punkteperspektive geprägt. Die Diplom-, Magister- und Staatsexamensstudiengänge hatten zwar relativ einfache Studienordnungen, das Veranstaltungsangebot bot jedoch eher wenig Führung. Abgesehen von einigen Pflichtveranstaltungen mussten die Studierenden ihre Veranstaltungen unter vergleichsweise wenigen Restriktionen selbst zusammenstellen. Weil keine ECTS-Punkte und keine Modulzuordnungen zu beachten waren und die Studienordnungen wenig Vorgaben machten, mussten die Studierenden notgedrungen – neben den Zeitrestriktionen durch Erwerbstätigkeiten, den Zeitansprüchen der eigenen Kinder und der Orientierung an Wahlentscheidungen von Freunden – ein eigenes Interesse als Selektionsfaktor ausbilden. Fast automatisch mussten Studierende Kriterien wie „Was interessiert mich?“, „Welche Inhalte könnte ich später einmal gebrauchen?“ und „Bei welchen Lehrenden kann ich am meisten lernen?“ ausbilden, um überhaupt eine Auswahl aus dem Veranstaltungsangebot treffen zu können – und wir wissen, dass nicht wenige Studierende mit der Entwicklung dieser Kriterien überfordert gewesen und deswegen in ihrem Studium gescheitert sind. In den Bachelor- und Masterstudiengängen nimmt jetzt, wie gezeigt, die Verschiedenartigkeit der Elemente zu, die Studierende und Lehrende beachten müssen. Mit den ECTS-Punkten und den Modulen sind neue Elemente dazugekommen, die jeweils bei der Wahl von Veranstaltungen mit bedacht werden müssen, besonders deswegen, weil die Relationen zwischen den ECTS-Punkten, Veranstaltungen und Modulen nicht beliebig sind, sondern jeweils eigenen Vernetzungsregeln unterliegen. Zusätzlich
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müssen Studierende neu geschaffene enge Zeitschranken beachten, die dadurch entstehen, dass Module in zwei Semestern abgeschlossen werden sollten, dass nicht jeder vorgeschriebene Veranstaltungstyp jedes Semester angeboten wird und dass in diesem rigiden System auch noch Zeitfenster für Praktika und Auslandssemester geschaffen werden müssen. Dadurch droht das Muster der Aufmerksamkeitsverteilung der Studierenden zu kippen: Zum Primärkriterium bei der Wahl von Veranstaltungen wird statt des eigenen Interesses die Suche nach noch benötigten, noch möglichen oder noch verrechenbaren Veranstaltungen und Prüfungen. Dabei müssen sie mehr oder weniger bei jeder Wahl einer Veranstaltung oder Prüfung mit bedenken, wie dies die Wahl weiterer Veranstaltungen oder Prüfungen beschränkt. Die Beschränkungen und Interdependenzen, die dabei zu beachten sind, werden so komplex, dass die Aufmerksamkeit eines Studierenden weitgehend für die Planung des eigenen Studienverlaufs in Anspruch genommen wird und darüber die Studieninhalte in den Hintergrund geraten. Die sich ausbildende Haltung der Studierenden ist am Ende eine ähnliche wie die der Studiengangsentwickler: Hauptsache, das Studium geht punktemäßig irgendwie auf.
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Verschulung wider Willen – Die ungewollten Nebenfolgen einer Hochschulreform „Sehr geehrter Herr Professor, in unserer Gruppe gibt es Unsicherheit darüber, inwiefern wir eigene Gedanken in die Hausarbeit mit einbringen dürfen, und daher wollen wir uns bei Ihnen erkundigen, in welchem Ausmaß das erwünscht ist. Wolfgang Müller“ „Sehr geehrter Herr Müller, eigene Gedanken, das geht auf keinen Fall! Wo kämen wir hin, wenn Studierende trotz der Bologna-Reform ihre Ausbildung auch noch mit eigenen Gedanken störten? Außerdem würde dies, wenn es rauskommt, auf uns zurückfallen. An diesem Lehrstuhl, würde es heißen, darf man eigene Gedanken formulieren! Nicht auszudenken! Beste Grüße, Manfred Moldaschl“ ANTWORT EINES PROFESSORS FÜR BETRIEBSWIRTSCHAFTSLEHRE AUF DIE ANFRAGE EINES BACHELORSTUDENTEN.
Verschulung – das ist das „Schlagwort“, mit dem Befürworter und Kritiker über die Effekte der Bologna-Reform reden. An vielen Universitäten hat inzwischen der Begriff der „Freistunde“ Einzug gehalten, ein Wort, das eigentlich bisher nur in Schulen genutzt wurde, um die „Leerzeit“ zwischen zwei Unterrichtsstunden zu markieren. Es wird in Universitäten inzwischen von notwendigen „Pausen“ gesprochen, in denen sich Studierende von den Vorlesungen, Seminaren und Prüfungen „erholen“ können.
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Lehrende klagen über die „Bachelormonster“, die in einem „Punktefieber“ Lehrveranstaltungen abreißen. Man habe es, so die Klage, nur noch mit „Duracell-Häschen“ zu tun, die in Multiple-Choice-Klausuren auf Knopfdruck kurzfristig gespeichertes Wissen ausspucken würden. Zunehmend würden „Schmalspurstudierende“ die Universität bevölkern, die nur noch mithilfe von Anwesenheitskontrollen, wöchentlich abzuliefernden Arbeitspaketen und regelmäßigen Klausuren zur Teilnahme an Veranstaltungen zu bewegen seien. Das Studium sei für viele Studierende nur noch eine einzige „Schnäppchenjagd“ geworden, bei der sie versuchen, möglichst „billig“ Punkte zu bekommen. Studierende beklagen, dass sie vor lauter Seminaren, Prüfungen und Pflichtpraktika gar nicht mehr zum Lesen, geschweige denn zum Denken kommen. Studierende jammern über „Lernbulimie“, zu der sie durch Studiengänge gezwungen werden, in denen man Jahreszahlen, soziologische Grundbegriffe oder mathematische Formeln in sich hineinfrisst, um sie dann „auf Befehl“ wieder auszuspucken (Haunhorst 2010). Gerade weil sie nicht so desinteressiert, unmotiviert und dumm seien – wie ihnen mit der Überfrachtung mit Kontaktzeiten, Präsenzpflichten und Prüfungen unterstellt werde –, würden sie sich nur noch langweilen, „wenn sie vorgeschriebene Lehrveranstaltungen absitzen müssen, während sie andere interessantere nicht besuchen dürfen“ (Pfaller 2010: 47). Befürworter und Kritiker der Bologna-Reform zeigen sich gleichermaßen überrascht von diesen sich immer mehr verschärfenden Verschulungstendenzen an Universitäten, weil diese ja in den Erklärungen, Strategiepapieren und Zielkatalogen der Bologna-Reformer als Ziel nicht vorkommen. Sicherlich: Eine Verschulung hat es zwar auch schon in den letzten Jahrzehnten in einigen anwendungsorientierten Studiengängen wie Betriebswirtschaftslehre, Medizin, Jura und den Ingenieurswissenschaften gegeben, aber in den meisten geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen scheinen sich die Verschulungstendenzen erst seit der BolognaReform auszubilden. Wie ist es zu dieser Verschulung gekommen, obwohl doch in der Bologna-Reform immer wieder Werte wie „Wahlfreiheit“, „Eigenständigkeit“ und „Flexibilität“ betont werden? Wie konnte sich die Tendenz zur Verschulung ausbilden, obwohl sich die Verfechter der Bologna-Reform einig sind, dass ein Umbau von Universitäten zu Schulen sicherlich nicht ihr notwendiger Beitrag zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ist?
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4.1 F RONTALUNTERRICHT , P RÜFUNGSINFLATION UND REDUZIERTE W AHLMÖGLICHKEITEN – Z UR D YNAMIK DER V ERSCHULUNG „Verschulung“ stellt einen negativ besetzten Kampfbegriff dar – jedenfalls dann, wenn er außerhalb von Schulen verwendet wird, wo ja die Forderung nach einer Verschulung wenig überraschen würde. Mit dem Begriff der Verschulung wird zum Ausdruck gebracht, dass beispielsweise in Kindergärten, in Familien, in Ferienlagern oder in Universitäten Formen der Wissensvermittlung aus der Schule übernommen werden, häufig ohne zu prüfen, ob diese Formen der bisher nur in Schulen praktizierten Wissensvermittlung auch für andere Bereiche geeignet sind. Mit dem Etikett der Verschulung wird dabei eine Vielzahl von Phänomenen erfasst: „Fixe Stundenpläne“, „klassenorientierte Lehr- und Lernorganisation“, „Anleitung statt selbstorganisiertes Lernen“, „permanente Anwesenheitspflichten einhergehend mit einer hohen Kontrolldichte“, „Prüfungsinflation“, „wenig Wahlfreiheiten“ und „Vermittlung von kanonisiertem ‚Schul‘-Wissen“ (Staack 2005: 23; Winter 2009: 49). Um zu begreifen, wie sich Verschulungstendenzen an den Hochschulen – häufig entgegen der ursprünglichen Intention der Studiengangsplaner – ausbilden konnten, lohnt es sich, einige Felder genauer anzusehen. Die Renaissance des Frontalunterrichts an den Hochschulen Eine Forderung, die häufig mit der Bologna-Reform verbunden wird, besteht darin, die Lehre an den Universitäten stärker ins Blickfeld zu nehmen. Es komme darauf an – so die oben schon erwähnte Argumentation –, das Studium nicht so sehr aus der Perspektive der Lehrenden mit ihren nur an eigenen Forschungsinteressen und an der Förderung der besten Studierenden (ihren potenziellen wissenschaftlichen Nachfolgern) ausgerichteten Lehrveranstaltungen zu planen, sondern von den Anforderungen der Studierenden an die Lehre auszugehen. Statt einer Orientierung am „teaching“ der Lehrenden, so die häufig mit einem erheblichen Pathos auf den internationalen Konferenzen der Bildungsplaner vorgetragene Forderung, komme es auf eine Orientierung am „learning“ der Studierenden an.
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Angesichts dieses verkündeten Paradigmenwechsels von einer Lehrenden- zu einer Studierendenzentrierung wirken die über lange Jahre gepflegten Praktiken der Studiengangsplanung an den Hochschulen für viele Verfechter der Bologna-Reform „gestrig“. Die Studiengänge wurden in der Regel ausgehend von den Lehrkapazitäten der einzelnen Institute und Fachbereiche geplant. Die verfügbaren Deputate der Professoren, Assistenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter wurden möglichst gleichmäßig auf das Grund- und Hauptstudium eines Studiengangs aufgeteilt, wobei darauf geachtet wurde, dass möglichst alle Lehrenden sowohl einige von vielen Studierenden besuchten Grundlagenveranstaltungen als auch einige eher von weniger Studierenden belegten Vertiefungsseminare anbieten konnten. Gerade in den nicht so stark überlaufenen Fächern konnten sich Lehrende so einen nicht unerheblichen Teil ihres Lehrdeputates für Veranstaltungen reservieren, in denen sie mit einer kleineren Gruppe von Studierenden an ihren gerade aktuellen Forschungsthemen arbeiteten. Die Umstellung von einer Lehrenden- zu einer Studierendenzentrierung bedeutet jetzt, einen Studiengang konsequent aus der Perspektive der Studierenden zu planen: Was sollen die Studierenden am Ende ihres Studiums können? Welche Lernziele bestehen für die verschiedenen Studienabschnitte? Welche Lerninhalte sollten am besten in den durch die ECTSKunstwährung vorgegebenen 5 400 (bei 180 Leistungspunkten für Bachelorstudiengänge) oder 3 600 Stunden (bei 120 Leistungspunkten für Masterstudiengänge) vermittelt werden? Welche Form der Vermittlung der Inhalte sollte am besten gewählt werden? Anhand solcher Fragen sollen jetzt – immer ausgehend von der Perspektive der Studierenden – die übergeordneten Lernziele für einen Studiengang systematisch auf die einzelnen Module und dann schließlich auf jede einzelne Veranstaltung, jede einzelne Selbststudiumsphase und jede einzelne Prüfung innerhalb der Module heruntergebrochen werden. Diese Planung der Studiengänge ausgehend von den Lernzielen für Studierende hat einen überraschenden Effekt produziert, der selbst von vielen Promotoren in den Ministerien, Universitätsleitungen und bildungspolitischen Denkschmieden beklagt wird: die Vervielfältigung von Massenveranstaltungen, in denen große Gruppen von Studierenden von den Lehrenden mit PowerPoint-gestützten Foliengewittern überzogen werden. Man könnte – wenn man denn an eine verkündete Umstellung von einer Lehrenden- auf eine Studierendenorientierung glaubt – vermuten, dass die Stu-
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diengangsplaner bei dem Herunterbrechen der übergeordneten Lernziele auf die Ebene der Module und weitergehend auf die Ebene der Veranstaltung zu der Einsicht gekommen sind, dass die beste Form der Vermittlung von Inhalten eine Vielzahl von sich jedes Jahr wiederholenden Vorlesungen ist, in denen möglichst viele Studierende den Lehrenden lauschen. Wie ist es zu dieser fast magischen Vervielfältigung von Vorlesungen an den Universitäten gekommen ist, obwohl doch die Vorgaben von Bologna und auch die verschiedenen nationalen Konkretisierungen es völlig offenlassen, zu welchen Anteilen Studierende über Seminare, über Vorlesungen, über Übungen und Tutorien unterrichtet werden müssen? Dies liegt nicht an der mangelnden Studierendenzentrierung der Lehrplanung, sondern im Gegenteil daran, dass die Lehrenden die Aufforderung, einen Studiengang von den zur Verfügung stehenden 240, 180 oder 120 ECTS-Punkten aus zu planen, ernst nehmen. Lehrende überlegen, welche Inhalte im Rahmen eines Studiums vermittelt werden sollen, wie viele Veranstaltungen sie in den dreißig pro Semester zur Verfügung stehenden ECTS-Punkten unterbringen können, und erstellen daraus ein erstes Lehrtableau. Wenn sie dabei beispielsweise in einem Semester fünf Module mit je insgesamt sechs Leistungspunkten stricken, die aus zwei Veranstaltungen, einer Selbststudiumsphase von sechzig Stunden (zwei Leistungspunkte) und einer Abschlussprüfung bestehen, sehen sie sich natürlich vor die Herausforderung gestellt, diese Veranstaltungen auch mindestens jährlich anbieten zu müssen. Weil die Veranstaltungen – ganz „studierendenzentriert“ – aber nicht von den zur Verfügung stehenden Lehrkapazitäten, sondern von den für die Studierenden als sinnvoll erachteten Inhalten aus geplant wurden, müssen plötzlich mehr Veranstaltungen angeboten werden, als durch die Lehrkapazitäten abgedeckt werden können. Selbst einige sehr gut ausgestattete Institute, Fakultäten und Fachbereiche, die es an einigen europäischen Universitäten immer noch gibt und die vor den im Namen von Bologna vorgenommenen Reformen immer mit ihren Lehrkapazitäten ausgekommen sind, sollen es bei der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge geschafft haben, dass ihnen pro Semester die Lehrkapazitäten für zwanzig oder dreißig Veranstaltungen pro Studiengang fehlten. Man hatte jetzt zwar Studiengänge, die fast nach einem hochschuldidaktischen Idealtypus von allgemeinen Lernzielen auf Module und dann weiter auf Veranstaltungen heruntergebrochen waren, aber es
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fehlte einfach an Kapazitäten, mit denen die Veranstaltungen bedient werden konnten. Weil aber die Lehrkapazitäten mit der Bologna-Reform an den meisten Universitäten nicht erhöht, sondern eher reduziert wurden und auch über Studiengebühren nur begrenzt zusätzliche Lehrbeauftragte für besondere Aufgaben herangeschafft werden können, scheint es häufig nur eine Möglichkeit zu geben: Immer mehr Studierende müssen in die ja als inhaltlich sinnvoll erachteten Veranstaltungen hineingequetscht werden. Weil Übungen oder Seminare ab einer Teilnehmerzahl von fünfzig oder sechzig Studierenden keinen Sinn mehr machen, werden diese Übungen und Seminare aus der Not heraus in Vorlesungen umdefiniert – bestenfalls vielleicht noch begleitet von aus Studiengebühren finanzierten studentischen Tutorien. Und weil es in Vorlesungen zweitrangig ist, ob 70, 250 oder 700 Studierende den Ausführungen des Lehrenden lauschen, bietet es sich an, diese Vorlesungen mit Studierenden aus ganz unterschiedlichen Studiengängen zu füllen, deren Studiengangsplaner auch nicht wissen, welche Lehrenden die Veranstaltungen anbieten sollen, damit die Studierenden die notwendigen Leistungspunkte erreichen. Statt spezieller Seminare oder kleiner Vorlesungen, in denen jeweils getrennt Mathematik für Ingenieure, für Physiker und für Mathematiker angeboten wird, werden im Audimax Vorlesungen angeboten, in denen es den Einheitsüberblick für alle gibt. Anstelle von auf die unterschiedlichen Anforderungen von Psychologen, Biologen und Soziologen zugeschnittenen spezialisierten Einführungen in die Statistik mit jeweils konkreten Beispielen aus den konkreten Disziplinen gibt es dann die Standardvorlesung „Deskriptivstatistik“ für alle (vgl. dazu z.B. Hörisch 2006: 118; Pletl 2006: 4). Es ist sicherlich unbestreitbar, dass Vorlesungen an Universitäten Sinn machen. Gerade bei der Vermittlung von Grundlagenwissen ist es für Studierende ergiebiger, dem brillanten, in freier Rede gehaltenen einstündigen Vortrag einer Professorin zu lauschen, als den verzweifelt bemühten Wissensvermittlungsversuchen von sich an Folien festklammernden Kommilitonen zuzuhören, deren Referate aufgrund von fehlenden Grundkenntnissen häufig ein eher ermüdendes Gestammel sind. Eine Planung, die auf der Anzahl der zur Verfügung stehenden Leistungspunkte basiert, hat jedoch den Effekt, dass Vorlesungen nicht mehr nur da eingeführt werden, wo es didaktisch sinnvoll ist und die entsprechend rhetorisch begabten Lehrenden
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zur Verfügung stehen, sondern in allen Modulen, in denen man versucht, irgendwie die notwendigen Lehrkapazitäten zusammenzubekommen. Zur Entstehung der Prüfungsinflation in Bologna-Studiengängen Ein zentrales methodisches Konzept, das zwar nicht in der BolognaErklärung erwähnt wird, von Bildungsplanern aber erfolgreich an die Bologna-Reform „angekoppelt“ wurde, besteht darin, dass Studierende „kompetenzorientiert“ lernen sollen. Statt sie mit den von Lehrenden häufig beliebig gewählten Inhalten von Seminaren zu füttern, komme es darauf an, vorab genaue Lernziele – „learning outcomes“ – zu definieren und die Seminare, Übungen und Vorlesungen, aber auch die Selbstlernphasen systematisch auf diese Ziele auszurichten. Das Erreichen der Lernziele im Rahmen eines kompetenzorientierten Studiums könnte aber, so die Logik der Bildungsplaner, nur dann gewährleistet werden, wenn das Erreichen der Lernziele am Ende durch eine Prüfung sichergestellt wird. In der Bologna-Erklärung – und auch in den Konkretisierungen in den nationalen Richtlinien – wird jetzt in keiner Form vorgeschrieben, wie viele und welche Prüfungen ein Studierender im Laufe seines Studiums ablegen muss. Es gibt keine Rahmenvorgabe der europäischen Bildungsminister, dass zur Erlangung eines Bachelorabschlusses mindestens dreißig Klausuren geschrieben werden müssen, und auch in den nationalen Richtlinien der im europäischen Hochschulraum zusammengeschlossenen Staaten wird nicht festgelegt, wie viele Klausuren, mündliche Prüfungen und Hausarbeiten in einem Fach „abgelegt“ werden müssen, um einen Studienabschluss zu erhalten. Interessant ist jedoch, dass es trotz jeder fehlenden Regulierung des Prüfungswesens in der Wahrnehmung der meisten Beteiligten mit dem Bologna-Prozess zu einer erheblichen Erhöhung der Prüfungs- und damit auch Korrekturlast gekommen ist. Es gibt Universitäten, an denen Studierende neben den regelmäßig in den Veranstaltungen zu erbringenden Schreibund Präsentationsleistungen pro Semester mehr als sechs benotete und endnotenrelevante Prüfungen in Form von Klausuren, Hausarbeiten oder Literaturberichten erstellen müssen (vgl. dazu beispielsweise Draheim/Reitz 2005: 7).
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Diese Prüfungsinflation ist automatisch im Zuge der Einführung der Modulstruktur an den Universitäten entstanden. Die in einem Modul erworbenen ECTS-Punkte dürfen – so jedenfalls die Interpretation in den meisten Hochschulen – den Studierenden nur gutgeschrieben werden, wenn das Erreichen des Lernziels durch eine Prüfung nachgewiesen wurde. Eine „Kreditierung“ nur der „bloßen Teilnahme“ an einer Vorlesung, einem Praktikum oder einem Seminar soll, so der Tenor der Bologna-Experten, „ausdrücklich nicht möglich“ sein (Gehmlich 2000: 61). Durch die Anzahl der Module eines Studiengangs wird also quasi automatisch festgelegt, wie viele Prüfungen in diesem Studiengang absolviert werden müssen. Wenn in einem Bachelorstudiengang mit 180 Leistungspunkten die Module durchschnittlich aus fünf Leistungspunkten bestehen, kann man sich leicht erschließen, dass zur Absolvierung von sechs Modulen pro Semester auch verpflichtend sechs Prüfungen in irgendeiner Form abgelegt werden müssen. So muss man dann automatisch auf 36 – in der Regel endnotenrelevante – Prüfungen im Rahmen eines lediglich dreijährigen Studiums kommen.1 Durch die Vervielfältigung der Prüfungslasten wird letztlich auch die Prüfungsform bestimmt. So mag es aus didaktischen Gründen sinnvoll sein, von den Studierenden eines Studiengangs als zu erbringende Leistung eine Mischung aus mehreren Hausarbeiten, Referaten und mündlichen Prüfungen zu erwarten, aber durch die Vervielfältigung von Prüfungslasten ist dies häufig weder von den Studierenden noch von den mit der Korrektur beauftragten Lehrenden zu leisten. So wird also häufig für ein Modul nicht die didaktisch sinnvolle Prüfungsform gewählt, sondern die Prüfungsform, die vom vorhandenen Lehrpersonal mit einem zu vertretenden Aufwand
1
Die Rechnung beinhaltet, dass dreißig Leistungspunkte für das Bachelorarbeitsmodul im letzten Semester vergeben werden. Universitäten, die sich im Rahmen der Reform einer Reform auf eine einheitliche Leistungspunktgröße von fünf oder sechs Punkten pro Bachelormodul festgelegt haben, haben häufig gar nicht erkannt, dass damit ihre Studierenden automatisch zwei- oder dreimal so viele Prüfungen absolvieren müssen wie an Universitäten, die sich auf eine einheitliche Modulgröße von zehn oder fünfzehn Leistungspunkten geeinigt haben. Dass gerade von den Universitätsleitungen, die diese Mini-Module verpflichtend gemacht haben, die schärfste Kritik an der Vervielfältigung der Prüfungen als Ergebnis eines vermeintlichen Umsetzungsdefizits von Fachbereichen kommt, hat eine gewisse Ironie.
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überhaupt noch zu leisten ist. An einigen Universitäten sollen deshalb Lehrende selbst für Module wie „Geschichte des Nationalsozialismus“, „Logik in der Philosophie“ und „Soziologische Grundbegriffe“ bereits MultipleChoice-Klausuren entwickelt haben, die arbeitssparend nicht mehr durch das Lehrpersonal selbst, sondern durch die Sekretärinnen korrigiert werden können. Die überraschende Einschränkung der Wahlmöglichkeiten Die Erklärung der Bildungsminister auf der Bologna-Konferenz lässt es offen, wie viele Wahlmöglichkeiten Studierende im Rahmen ihres Studiums haben sollten. Die Umstellung der Studiengänge auf eine Modulstruktur führte bei den Bildungsplanern zu der Hoffnung, dass sich die Studierenden ihr Studium selbstständig aus einer Vielzahl von angebotenen Modulen zusammenstellen können (vgl. Gehmlich 2000: 71). Interessanterweise wird seit der Einführung neuer Studienstrukturen eher von einer Einschränkung der Wahlmöglichkeiten berichtet. Wie kommt es, dass eine Studienreform in Bezug auf die Wahlmöglichkeiten gegenteilige Effekte als die ursprünglich intendierten bewirkt? Wie gezeigt, führt der auch durch die unterschiedlichen ECTS-Größen der Module, Veranstaltungen und Prüfungen erzeugte Sudoku-Effekt innerhalb von Studiengängen, ganz besonders aber zwischen Studiengängen zu einer starken Einschränkung von Wahlmöglichkeiten. Die unterschiedliche Größe von Modulen, Veranstaltungen oder Prüfungen anderer Institute oder Fakultäten führt dann zu dem Ergebnis, dass sie – anders als vielleicht ursprünglich einmal gedacht – nicht in das individuelle Studienprofil eingepasst werden können. Gerade die mit den neuen Bachelor- und Masterstudiengängen eingeführte Modulstruktur scheint die Wählbarkeit von Veranstaltungen und Prüfungen erheblich zu verringern. Die eigentliche Einschränkung von Wahlmöglichkeiten findet jedoch nicht vorrangig – wie auch von den Bildungsplanern inzwischen erkannt – durch die unterschiedlichen Modulgrößen statt, sondern über ein anderes, auch mit der Zusammenfassung von ECTS-Punkten in Modulen zusammenhängendes Phänomen: Die Vervielfältigung der Module. Auf den ersten Blick suggerieren Tausende von Modulen an einer Universität erst einmal fantastische Wahlmöglichkeiten für die Studierenden. Die faktischen Wahlmöglichkeiten von Studierenden werden aber nicht
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vorrangig durch die Wählbarkeit von Modulen produziert, sondern durch die Wählbarkeit von Veranstaltungen innerhalb von Modulen. Je mehr Module eine Universität durch ihre kleingliedrige Modulstruktur anbieten muss, desto weniger Wahlmöglichkeiten bestehen bei gleichen Kapazitäten innerhalb der Module. Wenn durch die Lehrenden verpflichtend eine Vielzahl von Modulen angeboten werden muss, können sie innerhalb der Module häufig kaum noch alternativ verschiedene Seminare, Vorlesungen oder Übungen präsentieren. Der Grund dafür mag etwas kompliziert erscheinen, aber eigentlich ist es ganz einfach. Vor der Einführung der Bologna-Studiengänge konnten Studierende häufig aus einem breiten Spektrum von angebotenen Veranstaltungen frei wählen. Sie mussten beispielsweise in einem Vertiefungsgebiet lediglich von den zwölf in einem Jahr angebotenen Veranstaltungen zur Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, zur Soziologischen Theorie oder zur Botanik sechs Seminare auswählen. Selbst wenn man zeitliche Überschneidungen von Veranstaltungen mit einrechnet, hatten Studierende so viele Wahlmöglichkeiten, dass es für Mathematiker nicht einfach ist, die in die Tausende gehenden Kombinationsmöglichkeiten zu errechnen. Mit der Einführung der kleingliedrigen Modulstruktur wurden diese in einem Jahr angebotenen zwölf Veranstaltungen jetzt – nur um ein Beispiel zu nennen – auf drei jeweils mit genauen Lernzielen beschriebene Module verteilt. Statt eines großen Containers „Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts“ gibt es jetzt beispielsweise drei Module mit den Titeln „Geschichte der Industrialisierung“, „Geschichte totalitärer Regime“ und „Geschichte demokratischer Staaten“, die jeweils aus zwei Seminaren bestehen; statt eines umfassenden Vertiefungsgebiets „Soziologische Theorie“ werden jetzt drei Module mit jeweils zwei Seminaren angeboten, eines für „Gesellschaftstheorie“, eines für „Organisationstheorie“ und eines für „Interaktionstheorie“; das Vertiefungsgebiet „Botanik“ wird in die drei Module „Pflanzenmorphologie“, „Pflanzenphysiologie“ und „Pflanzensystematik zerlegt“. Wenn man jetzt – mit Verweis darauf, dass man die in einem Modul vermittelten Kompetenzen ja nur einmal zu erlangen braucht – verbietet, dass Studierende Module mehrfach belegen und stattdessen in diesem Vertiefungsgebiet das Belegen aller drei Module festschreibt, kann man sehen, wie die Wahlmöglichkeiten der Studierenden gegen null schrumpfen. Weil bei gleichen Lehrkapazitäten pro Modul in einem Jahr
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nur vier Seminare angeboten werden, können sich wegen der Kollision mit anderen Veranstaltungen die Wahlmöglichkeiten faktisch auf null reduzieren. Die Aufschlüsselung der Studiengänge in eine Vielzahl von kleingliedrigen, sehr genau definierten Modulen bedeutet für Studierende faktisch die „größtmögliche ungewollte Vernichtung aller Wahlmöglichkeiten“ (kurz „GUVAW“). Durch detaillierte Aufgliederung in manchmal auch noch unterschiedlich große Module kommt es ungewollt zu einer weitgehenden Vorbestimmung des Studienverlaufs, weil Studierende letztlich vielfach die Module, Veranstaltungen und Prüfungen wählen müssen, die irgendwie noch in die durch den Sudoku-Effekt geprägte komplexe Modulstruktur passen.
4.2 E FFEKTE
EINER UNGEWOLLTEN
N EBENFOLGE
Ein Punkt darf nicht übersehen werden: Es kann an den Fachhochschulen und Universitäten sehr gute Gründe geben, methodische und didaktische Konzepte aus Schulen zu übernehmen. Eine klassenorientierte Lernorganisation über mehrere Jahre kann auch an Universitäten zu einer engen Bindung zwischen Lehrenden und Lernenden führen. Durch die Führung einer Gruppe im Klassenverband kann es für die Lehrenden möglich werden, Lernfortschritte jedes einzelnen Lernenden (die man dann sogar häufig beim Namen nennen kann) sehr genau zu beobachten und so aufbauend auf einem kanonisierten Wissensbestand die Fähigkeiten einzelner Lernender zu fördern. Weil es durch den Klassenverband einen engen Personenbezug zwischen Lehrenden und Lernenden gibt, fällt am Ende die Zurechnung der Verantwortung – im Universitätsneudeutsch „accountability“ genannt – für Lernfort- und -rückschritte der Lernenden vergleichsweise leicht. Rudolf Stichweh weist darauf hin, dass neben den klassischerweise wenig verschulten und mit viel akademischen Freiheiten ausgestatteten disziplinären Studiengängen an den Universitäten auch ein stark verschultes System der Colleges und eine eher verschulte Ausbildung für Professionen wie die Medizin oder die Rechtswissenschaft bestanden hat. Das System der Colleges stellt sich für Studierende, so Stichweh, typischerweise als ein „package deal“ dar. Sie verzichten weitgehend auf Wahlfreiheiten, akzeptieren ein Höchstmaß an Prüfungen und erhalten dafür ähnlich wie an den
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klassischen Gymnasien ein eher in die Breite als in die Tiefe gehendes und mit dem Begriff der „liberal education“ geadeltes Studium. Die Ausbildung für Professionen ist nicht nur die Erziehung für die späteren fachlichen Tätigkeiten als Jurist oder Arzt, sondern besonders die Sozialisation in eine Berufsgruppe. Für diese Sozialisation in die Berufsgruppe lassen sich die Studierenden auf ein stark verschultes Studium ein und sind während der an die Universität angebundenen praxisbezogenen Ausbildung zu „weitreichenden Freiheitsverzichten“ bereit (Stichweh 1994: 355ff.; siehe dazu auch Parsons/Platt 1973: 163ff.). Aber genau diese Effekte scheinen bei der Verschulung alla Bologna – vielleicht mit Ausnahme von „Minimasterprogrammen“ mit einem Professor und vier, fünf Studierenden – nicht erzielt zu werden. Es gibt Studiengänge, in denen Lehrende zwar zu Beginn jeder Sitzung die körperliche Präsenz der Studierenden mit Anwesenheitslisten überprüfen, aber trotzdem den Großteil ihrer Studierenden nicht mit Namen ansprechen können, wenn sie ihnen in der Mensa begegnen. Trotz einer Erhöhung von „Kontaktzeiten“ mit Lehrenden haben Studierende am Ende eines drei- oder vierjährigen Studiums häufig mit keinem einzigen Dozenten und keiner einzigen Dozentin ein Gespräch über ihre individuellen Stärken und Schwächen geführt, geschweige denn mit ihnen ein zum Studiengang passendes individuelles Lernkonzept erarbeitet. Trotz Erhöhung des Prüfungsaufwandes für Studierende gibt es in vielen Universitäten immer weniger individuelle Rückmeldungen zu den von den Studierenden geschriebenen Essays, Hausarbeiten und Klausuren, weil die Lehrenden mit der Korrektur der in Massenveranstaltungen abgelegten Prüfungen kaum noch hinterherkommen. Zum Konzept der ungewollten Nebenfolgen Die durch die Einführung von ECTS-Punkten und die Schaffung von Modulen produzierten Effekte werden in der Soziologie als ungewollte Nebenfolgen von eigentlich mit besten Intentionen geplanten Maßnahmen bezeichnet. Robert Merton, der diesen Ansatz ausgearbeitet hat, macht darauf aufmerksam, dass sich diese ungewollten Nebenfolgen selbst bei bester Planung nicht vermeiden lassen, weil die Umstände, in denen Entscheidungen getroffen werden, so vielfältig sind, dass die Auswirkungen einer Entscheidung im Detail nicht zu überschauen sind. Man kann versuchen, die möglichen Nebenfolgen einer Entscheidung noch so systematisch zu erhe-
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ben – sie lassen sich aufgrund des Auftreffens einer Entscheidung auf eine Vielzahl von unterschiedlichen Kontexten nie auch nur ansatzweise vollständig voraussagen. Im Gegenteil: Je „planmäßiger der Mensch vorgeht“, so ein Bonmot Friedrich Dürrenmatts, „desto wirksamer vermag der Zufall ihn zu treffen.“ Ungewollte Nebenfolgen müssen nicht unbedingt negativ beurteilt werden. „Nicht gewünschte Wirkungen sind“, so Merton in der für ihn typischen Prägnanz, „nicht stets unerwünschte Wirkungen“ (Merton 1936: 895). Es ist sehr wohl auch vorstellbar, dass die Nebenfolgen sogar unerwartete positive Effekte haben. Als sich beispielsweise in den 1960er Jahren Lehrende noch teilweise aus den Hörergeldern der Studierenden finanzieren mussten und diese frühen Formen der Studiengebühren proportional nach Teilnehmerzahlen in den Veranstaltungen an die Lehrenden verteilt wurden, hatte dies die ungewollte Nebenfolge, dass die gut besuchten und damit finanziell lukrativen Einführungsvorlesungen für die Erstsemester von den erfahrenen Ordinarien abgehalten wurden, während die unter Geldgesichtspunkten weniger lukrativen Seminare mit Spezialthemen von den unerfahrenen Dozenten bedient werden mussten. Man könnte diese ungewollte Nebenfolge natürlich auch als unerwünscht bezeichnen (so Mayntz 1963: 143), aber es spricht aus heutiger Sicht viel dafür, dass diese an die Teilnehmerzahl gebundenen Hörergelder die Flucht der Professoren aus den Einführungsveranstaltungen hinein in die Fortgeschrittenen-Veranstaltungen, Excellence-Cluster und Selbstverwaltungsjobs verhindern würden. Wenn jedoch die ungewollten Nebenfolgen eindeutig den eigentlich durch eine Entscheidung intendierten Folgen entgegenstehen, kann man – jedenfalls aus der Perspektive der Entscheider – von negativen Nebenfolgen reden. Horst Siebert (2003) nennt als typisches Beispiel für eine solche Nebenfolge, die mit Blick auf die ursprünglich intendierten Ziele negativ zu beurteilen ist, den sogenannten Kobra-Effekt. Eine Kobra-Plage in Indien veranlasste den Gouverneur der britischen Kronkolonie zu der Entscheidung, eine Prämie für jeden abgelieferten Schlangenkopf auszuloben. Statt die frei lebenden Schlangen zu töten, gingen die Inder jedoch schon bald dazu über, Kobras zu züchten, weil sie so mit deutlich weniger Aufwand ihre Prämien kassieren konnten. Als der Gouverneur davon erfuhr, schaffte er das Kopfgeld ab, worauf die Kobras für die Züchter wertlos wurden und von ihnen in die Freiheit entlassen wurden (siehe dazu auch Scheve 2010: 65ff.).
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Die Gleichzeitigkeit von Befürwortung der ECTS-Punkte und Ablehnung der Verschulung Das Konzept der ungewollten Nebenfolgen kann erklären, weswegen es einerseits zu einer Verschulung von Studiengängen kommt, aber andererseits niemand identifiziert werden kann, der das eigentlich bezweckt hat. Problematischer noch – es spricht vieles dafür, dass, ähnlich wie bei dem Kobra-Effekt, die Verschulung auf die Initiativ derjenigen zurückgeht, die unter der Fahne der „Studierendenzentrierung“ die Einführung von ECTSPunkten und Modulen propagiert haben, dabei aber gar nicht wahrgenommen haben, dass diese – ganz anders als geplant – zu mehr Frontalunterricht, mehr standardisierten Prüfungen und weniger Wahlmöglichkeiten geführt haben. Weil sich „ungewollte Nebenfolgen“ deutlich schwerer als „gewollte Folgen“ auf Verantwortliche zuschreiben lassen, haben wir die Situation, dass sich Interessengruppen als Befürworter der Einführung von Leistungsund Kreditpunkten profilieren und gleichzeitig die Verschulungseffekte an den Hochschulen kritisieren. So fordern die nationalen und internationalen Zusammenschlüsse von Studierendenvertretungen, dass die von ihnen als sinnvoll erachteten Leistungspunkte sich überprüfbar an der „tatsächlichen Arbeitszeit“ der Studierenden orientieren müssen, und rufen gleichzeitig zu Protesten gegen die Verschulung an den Universitäten auf, wobei sich ihre Proteste besonders gegen eine Inflation von Prüfungen und die Einschränkung der Wahlmöglichkeiten richten.2 Und in seltener Einigkeit mit den Studierenden können die Zusammenschlüsse von Hochschulrektoren mehr oder minder im gleichen Atemzug das Leistungspunktesystem als „eines der zentralen Instrumente zur Erreichung der in der Bologna-Erklärung definierten Ziele“ loben und gleichzeitig propagieren, dass „‚gute‘ Lehre“ darin besteht, die Verschulung der Wissensvermittlung an den Hochschulen
2
Siehe hier beispielhaft den Beschluss der Mitgliederversammlung des Freien Zusammenschlusses von StudentInnenschaften im November 2002 (FZS 2002) mit der Forderung nach Einführung von Leistungspunkten und den Beschluss des Dachverbandes vom Februar 2008 (FZS 2008), in dem gegen die Verschulung besonders in Form von einer Prüfungsinflation protestiert wird.
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zurückzudrängen und das eigenständige Lernen der Studierenden zu ermöglichen und zu unterstützen“.3
4.3 D IE VERGEBLICHEN V ERSUCHE DER E INDÄMMUNG UNGEWOLLTER N EBENFOLGEN Die weitergehenden Effekte der ungewollten Verschulung lassen sich jetzt schon beobachten. Während es in den alten Magister- und Diplomstudiengängen durch ein hohes Maß an Wahlfreiheit möglich gewesen ist, dass sich Studierende auch ohne aufwendige, staatlich subventionierte Mentorenprogramme an einzelne Lehrende binden konnten, wird eben diese Bindung durch die ungewollte Verschulung in den Studiengängen jetzt unterbunden. Durch das detaillierte Vorschreiben einer Vielzahl von Pflichtmodulen und die Aufsplittung in kleingliedrige Module, in denen Studierende dann eben nicht mehr die Wahl zwischen verschiedenen Veranstaltungen haben, wird es für Studierende faktisch unmöglich, mehrere Semester hintereinander Veranstaltungen bei ein und derselben Professorin zu belegen.4 Aber auch das Belegen einer Veranstaltung bei einer interessanten schwedischen Gastprofessorin ist häufig nicht mehr möglich, weil Studierende das kleingliedrige Modul, in das die Veranstaltung der Gastprofessorin hineingezwängt wird, bereits schon einmal belegt haben. Die solchermaßen erschwerte Bindung von Studierenden an einzelne Lehrende hat den weitergehenden Effekt, dass der Wettbewerb zwischen den Lehrenden um „gute“ Schüler weitgehend unterbunden wird. Über3
4
Siehe auch hier nur beispielhaft den Beschluss der deutschen Hochschulrektorenkonferenz „ECTS als System zur Anrechnung, Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen“ vom 10.2.2004 (HRK 2004) und den Beschluss „Für eine Reform der Lehre in den Hochschulen“ auf der Mitgliederversammlung am 22.4.2008 (HRK 2008), in dem beispielsweise gefordert wird, „die Studierenden als selbständige, eigenverantwortliche Lerner anzusprechen und herauszufordern“. Die früher an manchen Instituten üblichen lehrstuhlbezogenen Alumni-Treffen, auf denen sich die ehemaligen Studierenden eines Professors oder einer Professorin treffen, haben kaum noch eine Basis, weil es den Studierenden durch die kleingliedrige Modulstruktur erschwert wird, über mehrere Semester bei einem Professor oder einer Professorin zu studieren. So können sich dann nur schwer Bindungen ausbilden, die über das Studium hinaus halten.
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spitzt ausgedrückt: Wenn es Lehrenden um die Gewinnung guter Studierender für die eigenen Seminare geht, lohnt es sich für sie nur noch begrenzt, sich in der Lehre anzustrengen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Student oder eine Studentin aufgrund eigener Wahlentscheidung auch noch im nächsten Semester wenigstens eine von den eigenen in strikte ECTSoder Modulstrukturen gezwängte Veranstaltungen belegen kann, ist so gering, dass die Gewinnung guter Studierender als Motivation für die Lehrenden ausscheidet. Weil die eigentlich an Hochschulen angelegten Motive für ein Engagement in der Lehre – Bindung guter Studierender, aber auch freie Wahl der Themen und des Veranstaltungsformats – durch die neuen Studienstrukturen erheblich reduziert werden und auch deswegen immer mehr Lehrende in Excellence-Cluster, Sonderforschungsbereiche und Graduiertenschulen fliehen, müssen Hochschulen durch die Schaffung von Lehrpreisen oder durch die Einrichtung von breit zu veröffentlichenden Lehrveranstaltungsevaluationen künstlich einen Wettbewerb um „gute Lehre“ stimulieren. Den sich mit der Bologna-Reform ausbildenden Verschulungstendenzen und den sich daraus wiederum ergebenden Effekten kann jetzt mit kurzfristigen Maßnahmen begegnet werden. Angesichts von Massenprotesten Studierender einigen sich Bildungsminister auf eilig einberufenen Konferenzen darauf, dass in einem Modul zukünftig nur noch eine einzige Prüfung durchgeführt werden darf, und werfen damit kurzerhand auch anderslautende Akkreditierungsbeschlüsse von dezentral entwickelten Studiengängen über den Haufen. Durch entsprechende Presseerklärungen begleitet, untersagen Universitäten das Führen von Anwesenheitslisten, um ein Zeichen gegen die Verschulung zu setzen. Hochschulleitungen beschließen, dass zur Erhöhung der Wahlmöglichkeiten Studierender zukünftig alle Module der Universität eine Einheitsgröße von beispielsweise sechs Leistungspunkten haben sollten und die Lehrenden deswegen bei der Kalkulation des Aufwandes nicht päpstlicher sein sollten als der Papst, damit sie bei einer realistischen Aufwandsschätzung nicht unversehens auf acht Leistungspunkte pro Modul kommen. Als Maßnahme gegen Verschulung erklären Fachbereiche das Abprüfen über Multiple-Choice-Klausuren als „nicht universitätsadäquat“ und lassen diese nur noch mit ausdrücklicher Genehmigung des Dekans zu. Hinter diesen kurzfristigen Veränderungsmaßnahmen steckt die Suggestion, dass sich die Verschulung nicht etwa – wie hier argumentiert – als
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ungewollte Nebenfolge der Einführung einer nur in Modulform zu erwerbenden Kunstwährung herausgebildet hat, sondern dass sie auf Rückstände in der Umsetzung zurückzuführen ist. So können die Leistungspunkte weiterhin als „ein großer Fortschritt“ gefeiert und die Probleme auf eine „mangelhafte Umsetzung“ zurückgeführt werden. Statt einer diagnostizierten zögerlichen und widerwilligen Umsetzung an den Hochschulen wird eine entschiedenere Umsetzung mit einer Orientierung an „learning outcomes“ bei einer „ehrlichen Schätzung des tatsächlichen Aufwandes für die Lehrveranstaltungen“ gefordert (so Brandl/Gunzer 2009: 168). Es wird signalisiert, dass die Vervielfältigung von Prüfungen, die Überlastung mit Vorlesungen und die Einschränkung der Wahlmöglichkeiten auf Ungeschicklichkeiten der Lehrenden bei der Studiengangsentwicklung zurückzuführen ist und man eine Reihe neuer Verordnungen braucht, um die Tendenz zur Verschulung zurückfahren zu können. Wir wissen jedoch aus der Forschung über ungewollte Nebenfolgen, dass gerade die Versuche, ihnen mit einer Reihe von Gegenmaßnahmen beizukommen, häufig sogar zu einer Verschärfung führen, wenn nicht gleichzeitig die Ursachen für diese Nebenfolgen abgestellt werden. Wenn durch ein Treffen von Bildungsministern verbindlich festgelegt wird, dass pro Modul nur eine einzige Prüfung abgelegt werden darf, weigern sich plötzlich Studierende, für ein interessantes Seminar kleine Präsentationen und schriftliche Ausarbeitungen anzufertigen, weil dies doch „Miniprüfungen“ seien. Bei der Einführung einer einheitlichen Modulgröße für alle Studiengänge der Universität müssen Institute auf die für ihre Studiengänge eigentlich sinnvollen Veranstaltungen verzichten, weil sie sich nur unter völliger Loslösung von jeder realistischen Aufwandsschätzung in das vorgegebene Schema von fünf oder acht Leistungspunkten bringen lassen. Die Multiple-Choice-Klausuren finden dann – jetzt aufwendig durch den Dekan genehmigt – weiterhin statt, weil auch der Dekan ja nicht die Mittel zur Verfügung stellen kann, um die 600 Hausarbeiten einer Einführungsvorlesung korrigieren zu lassen. Gerade die Versuche der Eindämmung von Nebenfolgen, das zeigen auch die Computersimulationen über Entscheidungsfindungen in der Entwicklungshilfe, in der Stadtplanung oder in der Energiewirtschaft (vgl. Dörner 1989: 32ff.), führen zur weiteren Zunahme der Probleme.
5.
Die Flucht in die Regelabweichungen „Dieses universitäre Kreditpunktesystem zwingt – jedenfalls in seiner normalen Anwendung – die besseren und ambitionierteren Studierenden in eine Art Gleichschritt. Es hält sie zurück, verschwendet ihre Zeit und lässt ihr Interesse dadurch abstumpfen, dass es sie in eine sich langsam bewegende Routine zwingt, die sie nicht brauchen.“ DER LANGJÄHRIGE PRÄSIDENT DES US-AMERIKANISCHEN SWARTHMORE COLLEGE FRANK AYDELOTTE IN DEN 1940ER JAHREN (MEINE ÜBERSETZUNG VON AYDELOTTE 1944: 14)
„Studierbarkeit“ – mit der Reform der Hochschulen hat dieser Begriff einen ungeahnten Siegeszug in der deutschen Sprache angetreten. Zwar lässt sich auch vor der Erklärung der Bildungsminister in Bologna vereinzelt eine Verwendung dieses Begriffs nachweisen, aber erst mit den breit umgesetzten Hochschulreformen hat sich dieses Wort in den aktiven Sprachschatz von Bildungspolitikern, Bildungsplanern und Studiengangsentwicklern eingeschlichen. Ganz selbstverständlich wird gefordert, dass bei Studiengängen, die von mehreren Instituten einer Universität angeboten werden, der „Nachweis der Studierbarkeit“ erforderlich sei (Lorenz 2008: 75). Akkreditierungsbehörden überarbeiten ihre Handreichungen so, dass zukünftig bei der Genehmigung von Studiengängen besonders auf deren „Studierbarkeit“ geachtet werden soll (vgl. Akkreditierungsrat 2009: 1). Abgeordnete stellen besorgt Anfragen an Bundes- und Landtage, inwiefern durch die neuen Bologna-konformen Hochschulgesetzte noch die „Studierbarkeit“ von Studiengängen gewährleistet werden könnte. Inzwischen gibt es sogar eine
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eigene Website „www.studierbarkeit.de“, die Hilfestellung bei der Gestaltung von Studiengängen anbietet.1 Bei der inzwischen selbstverständlichen Verwendung des Wortes „Studierbarkeit“ geht die Verwunderung über diese doch sehr ungewöhnliche Wortschöpfung verloren. Worauf haben Akkreditierungsbehörden denn geachtet, bevor sie in ihren Richtlinien die Studierbarkeit von Studiengängen als Kriterium für die Genehmigung von Studiengängen festgelegt haben? Wären wir nicht irritiert, wenn von der „Fahrbarkeit eines Fahrzeuges“ oder der „Essbarkeit eines Essens“ die Rede ist? Weswegen fällt diese Absurdität bei dem Postulat der „Studierbarkeit eines Studienganges“ gar nicht mehr auf? Was soll dieser Begriff der „Studierbarkeit“ überhaupt besagen, und wie konnte er eine solche Bedeutung erlangen? Schaut man sich die Verwendung des Begriffs „Studierbarkeit“ an, dann wird meistens damit markiert, dass die von Fakultäten, Fachbereichen und Instituten geplanten Studiengänge durch die Studierenden auch „abzustudieren“ sein müssen. Diese Einforderung einer eigentlichen Selbstverständlichkeit scheint damit zusammenzuhängen, dass gerade in Universitäten, die mit kleinen Modulgrößen, hohen Präsenzanforderungen und starker Vernetzung zwischen Studiengängen arbeiten, die Studierenden teilweise nicht mehr in der Lage sind, die in ECTS-Punkten berechneten Studiengänge in der Regelstudienzeit zu absolvieren. In Städten, an denen Seminare an weit über die Stadt verteilten Standorten belegt werden müssen und in denen wie in Berlin oder Potsdam die S-Bahn die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Nahverkehrs einer typischen Dritte-Welt-Metropole hat, verschicken die Universitätsleitungen dann schon mal Mails an die Studierenden, dass wegen der engen Taktung der Veranstaltungen und der regelmäßig ausfallenden S-Bahnen nicht mehr alle Vorlesungen besucht werden müssen, um so wenigstens noch die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass das Studienprogramm in der Regelstudienzeit zu absolvieren ist. In der Sprache der Organisationswissenschaft würde man sagen, dass mit dem Begriff der „Studierbarkeit“ die Diskrepanz zwischen der Planung
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Der Begriff der „Studierbarkeit“ lässt sich auf alle Fälle schon für die Wende zum 21. Jahrhundert, also die Phase vor der Durchsetzung der Hochschulreform, feststellen. Die Forderung war beispielsweise, dass sich Lehrende bei der Erstellung von Studiengängen auf die „Studierbarkeit“ ihres Lehrangebots „verbindlich zu einigen“ haben (Roscher 2000: 52). Eine genaue etymologische Untersuchung der Entstehung dieses Begriffes steht noch aus.
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eines Studiengangs und den Möglichkeiten seiner Ausführung bezeichnet wird. Die Planung wirkt dabei zunächst überzeugend. Die Regeln scheinen aufeinander abgestimmt, die Zeitplanung realistisch. Erst in der Ausführung zeigt sich, dass die Regeln sich widersprechen und der Zeitplan unmöglich einzuhalten ist. Wenn die Planung dann so realitätsfern ist, dass bei Befolgen der von den Planern erstellen Blaupausen die angestrebten Ziele unmöglich zu erreichen sind, spricht man von der Unmöglichkeit der „Ausführbarkeit“ – oder eben im Universitätskontext von der Unmöglichkeit der „Studierbarkeit“. Bei der Thematisierung von Studierbarkeit ist es so, als ob die Studiengangsentwickler ein Sudoku konzipieren würden, das am Ende nicht – oder nur unter erheblichem zusätzlichem Zeitaufwand – aufgeht. Studierende versuchen in ihrem Studiengangs-Sudoku, ihre Veranstaltungen und Prüfungen in Module einzupflegen und diese Module miteinander zu kombinieren, stellen dann aber am Ende fest, dass es irgendwie nicht funktioniert. Es schleicht sich bei ihnen die Befürchtung ein, dass sie ganz zu Anfang ihres Studiums irgendetwas falsch gemacht haben, sie beginnen, an ihren Fähigkeiten zu zweifeln, das Sudoku lösen zu können, und vielleicht bildet sich am Ende sogar der Verdacht aus, dass die Fehler bei den Entwicklern der Studiengänge liegen könnten. Wenn sie Glück haben, brauchen sie bei der Lösung nur länger als geplant, weil eine dringend benötigte Veranstaltung nicht angeboten wird, die zwei noch zu belegenden Veranstaltungen sich zeitlich überschneiden oder sie für die Bachelorarbeit verlangte Fähigkeiten noch nicht erworben haben. Oder sie werfen – wie gerade bei den schwierigen Sudoku-Rätseln üblich – ganz einfach hin. Aber ein Aspekt fällt ins Auge: Trotz des permanent geäußerten Zweifels an der „Studierbarkeit“ der Studiengänge scheinen doch nicht wenige Studierende am Ende einen Studienabschluss zu erhalten. Auch unter den Bedingungen von Bologna brechen nicht mehr Studierende ihr Studium ab als vorher. In einigen Fächern scheint die Quote der Studienabbrecher sogar zurückzugehen. Es ist wohl eine der faszinierendsten Erkenntnisse für Organisationswissenschaftler, dass es Großorganisationen wie Unternehmen, Krankenhäusern, Armeen oder Universitäten trotz der vielen ungewollten Effekte ihres komplexen Regelwerks am Ende einigermaßen erfolgreich gelingt, Personenkraftwagen vom Fließband laufen zu lassen, Kranke zu behandeln, Kriege zu führen oder Studierende zum Studienabschluss zu bringen (vgl. Springer 1999: 20ff.). Je genauer man sich als Wissenschaftler mit
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dem komplexen, häufig widersprüchlichen Regelwerk von Organisationen beschäftigt, desto mehr Bewunderung hat man letztlich dafür, dass am Ende des Tages eine nicht unerhebliche Anzahl von VW Golfs das Fließband verlassen, ein doch überzeugender Prozentsatz der Züge eines Verkehrsunternehmens ihren Zielbahnhof erreichen oder Studierende ein Studium so abschließen, dass die Lehrenden sogar manchmal das Gefühl haben, dass sie etwas gelernt haben. Wie machen Organisationen das? Weswegen gelingt es trotz des Sudoku-Effekts überhaupt noch, Studierende zu einem Abschluss zu führen?
5.1 I NFORMELLE R ETTUNGSSTRATEGIEN Wir wissen aus der Organisationsforschung, dass es die informellen Praktiken sind, die in Unternehmen, Krankenhäusern, Armeen, Verwaltungen und Unternehmen den Betrieb am Laufen halten. Es sind die kleinen, nicht durch die Formalstruktur abgesicherten Routinen, die systematischen Abweichungen vom offiziellen Regelwerk und manchmal auch die gut kaschierten Gesetzesverstöße, die den „Schmierstoff“ für eine bürokratische Maschinerie bilden. Schließlich weiß man spätestens seit den Bummelstreiks von Fluglotsen, dass „Dienst nach Vorschrift“ eine der effektivsten Streikformen ist. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich parallel zu den vielfältigen Verregelungen durch die Bologna-Studiengänge auf der Ebene von Instituten, Fachbereichen und Fakultäten eine Vielzahl von informellen Praktiken ausgebildet hat, mit denen dezentral versucht wird, Regelungsdefizite der neuen Bologna-Studiengänge auszugleichen. Bei diesen informellen Routinen, Abweichungen und Verstößen handelt es sich teilweise um Praktiken, die sich schon bei den alten Magister-, Diplom- und Staatsexamensstudiengängen bewährt haben; viele der informellen Umgehungen und Dehnungen wurden aber erst entwickelt, um die durch die neue Kunstwährung ECTS produzierten Nebenfolgen abzufedern.2
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Diese Regelabweichungen sind von der Bildungsforschung empirisch bisher kaum untersucht worden (siehe jedoch die auch methodisch innovativen Zeitlaststudien von Schulmeister/Metzger 2011). Die Bildungsforschung hat sich häufig nur auf die quantitativ messbare Spitze des Eisberges konzentriert und
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Der Trend zur unbesuchten Veranstaltung Die Einführung der ECTS-Punkte basiert auf einer zentralen Prämisse: Die komplette Zeit, die Otto Normalstudent und Erika Musterstudentin für ihr Studium aufwenden werden, lässt sich im Voraus in der Kunstwährung ECTS planen. Die zugrunde gelegte Gesamtstundenzahl von beispielsweise 5 400 Stunden für einen Bachelorstudiengang oder von 3 600 Stunden für einen Masterstudiengang soll die Stundenzahl widerspiegeln, die ein Student oder eine Studentin auf sein oder ihr Studium verwenden muss, und jede dieser Stunden wird auf einen Zeitblock für die Vorbereitung einer Vorlesung, die Anwesenheit in einem Seminar, die veranstaltungsbezogene Recherche in einem Seminar oder die Absolvierung einer Prüfung zugerechnet. Damit ist – jedenfalls der Theorie dieser Kunstwährung nach – jede einzelne Stunde, die ein Student oder eine Studentin für das Studium aufbringen kann, bereits spezifisch verplant. Wenn man das Bologna-Postulat der „Studierendenzentrierung“ ernst nimmt, dann ist der paradoxe Effekt dieser Verplanung jeder einzelnen Stunde, dass Studierende im Rahmen ihres Studiums faktisch keine Zeit haben, irgendetwas zu lernen, das nicht durch diesen Lehrplan vorausgedacht wurde. Es gibt bei der stundengenauen Durchplanung – jedenfalls theoretisch – keine Puffer, die es den Studierenden ermöglichen, neben dem Pensum, das die Studiengangsplaner festgelegt haben, noch andere studienrelevante Dinge zu tun. Für einen Vortrag eines Gastwissenschaftlers an der Universität, für einen wegen einer aktuellen wissenschaftlichen Kontroverse eingerichteten Arbeitskreis oder für die Lektüre eines zufällig in der Bibliothek gefundenen Buches dürfte aufgrund dieser Verplanung des gesamten Studiums keine Zeit mehr zur Verfügung stehen.3
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die unterhalb der Oberfläche ablaufenden Prozesse weitgehend ignoriert. So wird dann die durch die Studienordnungen, fächerspezifischen Bestimmungen und Modulhandbücher abgebildete Formalstruktur häufig als Grundlage für die Betrachtung des realen Studierverhaltens genommen – und das, obwohl jeder Studierende und jeder Lehrende sehen kann, wie alltäglich von diesen Rahmenvorgaben abgewichen wird. Es spricht für den sich in der Zwischenzeit bei einigen Lehrenden ausbildenden Zynismus, dass sie sich zwar daran erinnern, dass sie in ihrem Studium mit großer Begeisterung zu Gastvorträgen interessanter Wissenschaftler gegangen sind, mit Kommilitonen intensiv auch Themen jenseits der offiziellen Seminare dis-
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Aber Studierende lernen schnell, sich zu helfen. Sie schätzen schon nach wenigen Wochen ein, in welchen Vorlesungen, Seminaren und bei welchen Prüfungen sich „Stunden sparen“ lassen. Schnell spricht sich herum, welches die Vorlesungen sind, in denen bereits der „nachgewiesene teilnahmslose Besuch“ Leistungspunkte einbringt (vgl. zu dieser Formulierung Schuft 2011: 10). Man erkennt, welche Vorlesungen man regelmäßig ausfallen lassen kann, weil am Ende sowieso nur die immer gleiche Klausur geschrieben wird. Bei mehreren Seminaren in einem Modul wird nur das Seminar besucht, in dem man eine Hausarbeit zu schreiben plant, bei den anderen zeigt man sich nur sporadisch, um die Bestätigung für eine aktive Teilnahme „abzugreifen“. Einige Studierende melden sich inzwischen jedes Semester bei sieben, acht Vorlesungen zusätzlich an, nur weil sie darauf setzen, dass sie in irgendeiner dieser Veranstaltungen aufgrund der fehlenden Kontrolle „umsonst“ die Punkte für aktive Teilnahme abgreifen können.4 Statt ein Praktikum in der genau vorgeschriebenen Zeit zu absolvieren, lässt man sich von einem Bekannten seiner Eltern bescheinigen, dass man in eben dieser Zeit die nötigen formalen Anforderungen an einen Praxisbezug erfüllt hat. In der Theorie rationalen Verhaltens, die gerade von Soziologen und Ökonomen für die Analyse abweichenden Verhaltens genutzt wird, wird dieses durchaus rationale Verhalten als „shirking“ bezeichnet – das konsequente Zurückhalten von Leistungen, wo sie nicht durch entsprechende Kontrollen eingefordert werden (siehe Luhmann 1985 zu Möglichkeiten und Grenzen der Theorie bei der Analyse von Abweichungen). Lehrende können danach streben, diese Versuche zur Schaffung von Puffern auf Kosten ihrer Veranstaltungen systematisch zu unterbinden. Es
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kutiert haben und mehr als einmal ein in einer Zeitschrift besprochenes Buch – ganz unabhängig von einer Veranstaltung – gelesen haben, aber ihren Studierenden unterstellen, dass sie „Freizeit“ nur dazu nutzen würden, auf Partys zu gehen, Ego-Shooter-Spiele zu spielen oder einfach nur zu chillen. Es ist übrigens ein interessantes Experiment für Lehrende, in einer Vorlesung in der Mitte des Semesters anzukündigen, dass man die Leistungspunkte für aktive Teilnahme ohne Kontrolle über Anwesenheitslisten, Aufmerksamkeitsleistungen in Form von Übungen oder Abschlussprüfungen vergibt. Sofort steigen die Anmeldezahlen in der Veranstaltung an, weil sich unter Studierenden schnell herumspricht, dass man dort nur durch das Einschreiben im elektronischen Verzeichnis Punkte bekommen kann.
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werden Anwesenheitslisten in Vorlesungen eingeführt, was bei Studierenden aber häufig nur dazu führt, dass man nach wenigen Wochen bereits die Unterschriften mehrerer Kommilitonen kopieren kann, um diese bei ihrer Abwesenheit in die Listen einzutragen. In einigen Studiengängen existieren gut organisierte „Fälscherstaffeln“ (Schuft 2011: 13), bei denen – im wechselnden Turnus – immer nur ein Student oder eine Studentin zu einer Veranstaltung geht, um jeweils gleich für eine Reihe weiterer Kommilitonen zu unterschreiben. Lehrende können sich über die Existenz dieser „Fälscherstaffeln“ durch einen einfachen Test informieren. Sie müssen in der Diskussion nach einer Vorlesung einmal nicht die Studierenden zu Wort kommen lassen, die sich melden, sondern nach dem Zufallsprinzip drei, vier Namen auf der Anwesenheitsliste aufrufen und sehen, ob diese Namen auch mit anwesenden Körpern gekoppelt sind. Lehrende, die Namenslisten nicht zur Kontrolle der Anwesenheit herumgehen lassen, sondern um dadurch die Namen der Studierenden zu lernen, müssen den Studierenden mühsam beibringen, dass das Eintragen von Namen nicht Anwesender nicht nur unnötig ist, sondern dass dies dem Dozenten es auch erschwert, die Namen der Anwesenden zu lernen, weil er zusätzlich erraten muss, welches die nur auf der Liste vorhandenen Phantomstudenten sind. Wenn das Führen von Anwesenheitslisten an Universitäten – als deutliches Signal gegen Verschulung – untersagt wird, führen die Lehrenden dann eben die Pflicht zu Exzerpten für jede Sitzung ein, dem die Studierenden mit der Abgabe von aus dem Internet herauskopierten „Blindtexten“ begegnen, weil sie wissen, dass kaum ein Lehrender wegen der Überlastung die Exzerpte wirklich liest.5 Trotz einzelner Siege über besonders auffällige
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Lehrende berichten von großen Überraschungen, wenn sie in der zehnten oder elften Woche einmal die Arbeitsaufgaben lesen. Die Studierenden haben sich schon so darauf eingestellt, dass diese Arbeitsaufgaben nicht gelesen oder auch nicht kommentiert werden, dass sie sich auch keine Mühe mehr machen. Ausnahmen sind meistens neue Lehrbeauftragte, die noch alle Exzerpte und Arbeitsaufgaben von Studierenden lesen. Studierende stellen sich darauf aber schnell ein – entweder dadurch, dass sie Veranstaltungen bei den garantiert „überlasteten“ Professoren wählen oder dadurch, dass sie bei dem Lehrbeauftragten dann ausnahmsweise einmal nicht arbeitssparend einen „Guttenberg machen“.
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Drückeberger verlieren die Lehrenden – das zeigen schon die Erfahrungen aus den Schulen – letztlich fast immer diese Kontrollkämpfe. Auch deswegen schleicht sich vielerorts bei Lehrenden eine Haltung ein, den Studierenden in Konterkarierung der Studienordnungen vielfältige Puffer zu lassen, was den Studierenden Gelegenheit gibt, ihren eigenen Interessen nachzugehen. Es werden Phantomveranstaltungen in den Studienordnungen aufgeführt, bei denen es letztlich unerheblich ist, ob die Studierenden kommen oder nicht. Besonders bieten sich dafür Kolloquien oder Vorlesungen an, die häufig sowieso nur eingeführt wurden, weil man bei der Konzeption des Studiengangs-Sudokus noch dringend zwei Veranstaltungen brauchte, damit man genau auf die 180 Leistungspunkte kommt. Es wird akzeptiert, dass Studierende ein Seminar nur fiktiv belegen, wenn sie der Professorin in der Sprechstunde begründen können, welche – nicht in der Veranstaltung vorgesehenen – Fachtexte sie lesen möchten. Man akzeptiert, dass Studierende im „Wahlbereich“, der eigentlich dazu dient, Veranstaltungen frei nach Interesse zu wählen, nur sogenannte „Füllveranstaltungen“ wählen, also Vorlesungen, von denen bei Studierenden allgemein bekannt ist, dass man seine Leistungspunkte „geschenkt“ bekommt, ohne jemals ein einziges Mal anwesend gewesen zu sein. In einigen Universitäten soll es deswegen bereits Vorlesungen mit 600 angemeldeten Studierenden geben, in denen sich fünfzehn Studierende in den Weiten des Audimax verteilen, das wegen der hohen formalen Anmeldezahl von „Füllstudenten“ durch das Veranstaltungsmanagement zugewiesen wurde. Die wilde Vergabe von Leistungspunkten Die Idee der Kunstwährung der ECTS-Punkte basiert darauf, den Arbeitsaufwand der Studierenden für jede einzelne Veranstaltung, für jede einzelne Prüfung, für jedes Praktikum realistisch einzuschätzen. Was würde es auch für einen Sinn machen, wenn man ganze Studiengänge in Zeitstunden durchplant, den Arbeitsaufwand der Studierenden dann nicht aber einigermaßen präzise einschätzt? Diese Logik ernst nehmend, wird bei der Entwicklung eines ersten Bachelor- oder Masterstudiengangs in Instituten und Fakultäten häufig heftig darüber diskutiert, ob ein Studierender zur Vorund Nachbereitung einer Seminarveranstaltung dreißig (ein Leistungspunkt), sechzig (zwei Leistungspunkte) oder fünfundvierzig Stunden (eineinhalb Leistungspunkte) braucht, ob eine Hausarbeit den Umfang von
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neunzig Stunden (drei Leistungspunkte) oder hundertzwanzig Stunden (vier Leistungspunkte) haben sollte und ob ein Praktikum sechs Wochen (acht Leistungspunkte) oder acht Wochen (ungefähr elf Leistungspunkte) dauern sollte. Auch eine Zeitmessung des faktischen Studierverhaltens oder wenigstens eine Befragung von Studierenden, wie viel Zeit sie für jede einzelne Aufgabe vermutlich brauchen werden, wird bei einer ersten Entwicklung eines Bologna-Studiengangs manchmal herangezogen, um den Arbeitsaufwand bei der Planung eines Studiengangs möglichst realistisch einschätzen zu können. Bei diesen Versuchen, die Arbeitsbelastung von Studierenden möglichst präzise zu bestimmen, entsteht aber fast notgedrungen ein Flickenteppich aus Veranstaltungen, Prüfungen und Modulen mit einer jeweils unterschiedlichen Anzahl von Leistungspunkten. Der paradoxe Effekt ist aber, dass – wie gezeigt – durch diese möglichst genaue Bestimmung des Zeitaufwandes für Seminare, Vorlesungen, Prüfungen und ganze Module, die eigentlich die Mobilität zwischen Studiengängen, Universitäten und Ländern erhöhen soll, Mobilität systematisch verhindert wird, weil die Veranstaltungen und Prüfungen wegen der unterschiedlichen Leistungspunktzahlen nicht in die verschiedenen Studiengänge passen. Die möglichst präzise Bestimmung des Arbeitsaufwandes für jeden Studiengang hat den Effekt, dass Studierende in ein und demselben Seminar eine unterschiedliche Anzahl von Leistungspunkten erhalten müssen. Die Mathematiker erhalten dann in einem Seminar über Vektoren drei Leistungspunkte, Physiker im gleichen Seminar fünf und Ingenieure vier. Eine Studentin der Soziologie mit Nebenfach Politikwissenschaft bekommt in einem für beide Studiengänge anrechenbaren Seminar über Weltgesellschaft bei einem faktisch identischen Arbeitsaufwand zwei Leistungspunkte, wenn sie das Seminar als Hauptfachstudentin Soziologie belegt, und vier Leistungspunkte, wenn sie das gleiche Seminar als Nebenfachstudentin Politikwissenschaft besucht. Man könnte jetzt diese Differenz in der Zurechnung von Leistungspunkten, die ja eigentlich die faktische Arbeitsbelastung widerspiegeln sollen, damit begründen, dass ein Seminar über Vektorrechnung einen Mathematiker weniger fordert als einen Ingenieur (weswegen Ingenieure weniger Zeit zur Vorbereitung brauchen als Physiker, bleibt dann aber trotzdem unklar) und dass eine Studentin mit dem Hut „Soziologie Hauptfach“ die Seminarlektüre schneller bewältigt, als wenn sie die Texte mit dem Hut „Politikwissenschaft Nebenfach“ liest – aber insgesamt stechen die durch eine möglichst präzise Bestimmung der
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Arbeitsbelastung produzierten Inkonsistenzen jedem Lehrenden und Studierenden ins Auge, der sich mit den Details der Anwendung der Kunstwährung auseinandersetzt. Wenn irgendein Lehrender den kalkulierten Zeitaufwand für seine Veranstaltung ernst nehmen würde und sich die Mühe machte, ein Seminar oder eine Übung auf die durch die unterschiedlichen Studiengänge vorgesehenen Arbeitsaufwände auszurichten, müsste er für die Studierenden der unterschiedlichen Studiengänge, die ja für die Veranstaltung unterschiedliche ECTS-Punkte angerechnet bekommen, unterschiedliche Konzeptionen entwickeln. Motto – „Sie brauchen hier fünf Leistungspunkte, statt der von mir eigentlich vorgesehenen vier, dann müssen Sie noch drei Essays extra schreiben.“ Oder: „Ach, Sie brauchen nur drei, dann brauchen Sie natürlich immer nur die ersten drei Viertel eines Experiments durchzuführen.“ Wenn man den kalkulierten Zeitaufwand für jeden einzelnen Studiengang ernst nehmen würde, würde jede Veranstaltung, die mehrere Studiengänge bedient, durch die Definition von Zusatzaufgaben oder das Erlassen von Aufgaben ein so hohes Maß an Komplexität haben, dass es schwerfallen würde, sich überhaupt noch auf die Inhalte des Seminars zu konzentrieren. Deswegen wählen die Lehrenden eine pragmatische Vorgehensweise: Sie bieten ihre Veranstaltung für alle Studierenden in ein und derselben Form an – unabhängig davon, wie viele Leistungspunkte die Studierenden dafür erhalten. Die Essays, Arbeitsaufgaben und schriftlichen Ausarbeitungen werden von allen verlangt, auch wenn sie in der Kalkulation eines Studiengangs eigentlich nicht vorgesehen sind. Wo und wie eine Veranstaltung angerechnet wird, wird von den Lehrenden damit faktisch wie eine „Black Box“ behandelt und dem Geschick der Studierenden in der Verhandlung mit dem Prüfungsamt überlassen. Nur dadurch ist es möglich, unter Bologna-Bedingungen eine einigermaßen konsistente Veranstaltung durchzuführen. Aber mit einer Planung der Veranstaltung mit Blick auf die in den verschiedenen Studiengängen festgelegten Arbeitsaufwände hat dies natürlich nichts mehr zu tun. Das Prüfen jenseits der vorgeschriebenen Prüfungsformen Die Logik der ECTS-Punkte – und damit einhergehend der Modulstruktur – ist, dass in den in ECTS-Punkten gemessenen Seminaren, Übungen, Vorlesungen und Praktika erworbenes Wissen abgeprüft werden muss. Veran-
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staltungen würden nur ernst genommen, wenn das Wissen am Ende abgeprüft wird und – besser noch – wenn die Prüfungen benotet werden und diese Noten dann möglichst auch noch in die Endnote eingehen. Nur was geprüft und benotet wird, so die Logik, wird von Studierenden auch ernst genommen und stellt sicher, dass nicht nur Zeit abgesessen wird, sondern auch Wissenserwerb stattfindet. Weil die Inhalte von Modulen möglichst genau beschrieben werden sollen, müsse, so jedenfalls die eigentlich konsistente Schlussfolgerung, für jedes einzelne Modul die entsprechende Prüfungsform festgelegt werden. Dabei müsse, wenn man die Vorstellungen der Hochschulplaner ernst nimmt, aber auch noch darauf geachtet werden, dass in den verschiedenen Modulen eines Studiengangs die Leistungen von Studierenden durch verschiedene Prüfungsformen abgefragt werden. Erst wenn Studierende ihre Leistung durch so unterschiedliche Prüfungsformen wie Hausarbeiten, Essays, Klausuren, Referate und mündliche Prüfungen nachweisen würden, könnten sie die unterschiedlichen Fähigkeiten einüben, die später in der Berufswelt von ihnen verlangt werden (siehe so European Communities 2009: 35). Der paradoxe Effekt ist nun, dass Prüfungsformen für eine Veranstaltung nicht mehr aufgrund der Besonderheit eines Seminars oder einer Vorlesung, der didaktischen Überlegungen eines Lehrenden oder gar der besonderen Anforderungen eines spezifischen Studierenden entwickelt werden können, sondern durch die Studienordnungen vorgegeben werden. Weil die Anforderungen von Studiengang zu Studiengang verschieden sind, kann es in für mehrere Studiengänge geöffneten Veranstaltungen vorkommen, dass die Mehrzahl der Studierenden laut ihrer Studienordnung ein Referat halten muss, einige andere eine Hausarbeit abfassen sollen, andere wiederum eine Klausur schreiben müssen und eine kleine Minderheit von Studierenden nach Absolvieren von drei Veranstaltungen eine mündliche Modulabschlussprüfung absolvieren muss. Lehrende, die ihre Veranstaltungen für verschiedene Studiengänge öffnen, sind sich häufig gar nicht bewusst, was sie sich damit einhandeln, weil sie ja auch den Studierenden eigentlich garantieren müssen, die Prüfungen in den in ihren Studienordnungen vorgesehenen Prüfungsformen ablegen zu können. Weil die Berücksichtigung der Heterogenität von Prüfungsformen einen Rattenschwanz an vielfältigen Anforderungen nach sich zieht – in Form von Klausuraufgaben für lediglich zwei Studierende, Abhalten von mündli-
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chen Prüfungen für andere und Korrigieren von Hausarbeiten für wiederum andere und – schwerwiegender noch – weil die Koordination dieser unterschiedlichen Prüfungsformen jedes Seminar sprengen würde, müssen von den Lehrenden im Semesteralltag Lösungen gefunden werden. Am einfachsten wäre es natürlich für Lehrende, ihre Veranstaltungen einfach nicht für andere Studiengänge zu öffnen oder sich zwar zu einer Öffnung bereit zu erklären, sich dann aber zu weigern, die aus ihrer Perspektive nicht zur Veranstaltung passenden Prüfungen für dieses Modul abzunehmen. Weil dies Studierenden aber nicht zugemutet werden kann, wird häufig die Variante gewählt, eine Einheitsprüfung festzulegen – je nach Geschmack des Lehrenden eine Klausur, eine Hausarbeit oder ein Referat –, die dann aber als die jeweils geforderte Prüfungsform an das Prüfungsamt gemeldet wird. So wird aus einer vom Dozenten verlangten Hausarbeit durch einen magischen verwaltungstechnischen Transformationsprozess eine mündliche Abschlussprüfung und aus einem in einer Übung geschriebenen Essay im Transcript eine Klausur. Diese Vorgehensweise von Lehrenden birgt jedoch ein hohes Risiko, weil jede benotete Prüfung in die Abschlussnote eingeht und deswegen „gerichtsfest“ sein muss. Deswegen wird in den Modulbeschreibungen von Studiengängen vielfach die genaue Prüfungsform offengelassen. Bei dieser Variante steht in den Modulbeschreibungen dann – die eigentliche Notwendigkeit zur Spezifikation ignorierend – unter „Prüfungsformen“ lediglich „Hausarbeit, Referat oder Klausur“. Damit ist es dem Gutdünken der einzelnen Lehrenden überlassen, welche Prüfungsform für das jeweilige Modul zugelassen wird, und gleichzeitig ist die „Rechtssicherheit“ des Verfahrens sichergestellt. Das Problem ist jedoch, dass diese Freiheit bei der Wahl der Prüfungsformen zu „Drückebergereien“, also zum bewussten Zurückhalten von Leistungen durch Lehrende und Studierende, führen kann. Es ist für Lehrende häufig bequemer, eine Multiple-Choice-Klausur schreiben zu lassen, als Hunderte von Essays zu korrigieren, und das Abhalten von Referaten als Prüfungsform kostet weniger Zeit als das Betreuen und Korrigieren von Hausarbeiten. Wenn dann auch noch Studierende systematisch Veranstaltungen mit den auch für sie einfacheren Prüfungsformen von Multiple-Choice-Klausur und Referat wählen, dann können sie am Ende eines Bachelorstudiums das Absolvieren von fünfundzwanzig Modulabschlussprüfungen vermelden, ohne allerdings jemals eine einzige Hausarbeit geschrieben zu haben. Formal ist alles korrekt verlaufen, nur dass
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Bachelorabsolventen in Betriebswirtschaftslehre, Geschichtswissenschaft oder Philosophie in ihrem ganzen Studium keinen einzigen längeren Text verfasst haben. Auch dieses Phänomen wird natürlich irgendwann beobachtet. Um dieses „shirking“ von Studierenden und Lehrenden zu verhindern, wird deswegen häufig festgeschrieben, dass zwar für die einzelnen Module die genaue Prüfungsform nicht festgelegt wird, dass Studierende aber bis zum Ende ihres Studiums eine jeweils genau definierte Anzahl von Hausarbeiten, mündlichen Prüfungen und Klausuren bestanden haben müssen. So soll sichergestellt werden, dass zwar für jedes Modul eine Vielzahl von Prüfungsformen möglich ist, Studierende aber doch eine Mindestanzahl von unterschiedlichen Prüfungsformen im Rahmen ihres Studiums absolvieren. Der Effekt dieser auf den ersten Blick attraktiven Variante ist eine erneute Komplexitätsexplosion. Die Prüfungsämter müssen jetzt nicht nur erfassen, ob ein Student oder eine Studentin ein Modul bestanden hat, sondern auch noch, mit welcher Prüfungsform dieses Modul abgeschlossen werden muss. Lehrende müssen sich in ihren Veranstaltungen damit auseinandersetzen, dass Studierende auf unterschiedliche Weisen geprüft werden wollen, und im Extremfall müssen Studierende dann in ein und demselben Seminar ihre Leistung möglichst sowohl als Hausarbeit, als Klausur, als mündliche Prüfung und als Referat erbringen können. Studierende müssen also einen hohen Suchaufwand betreiben, um zu identifizieren, in welchen Veranstaltungen sie die ihnen noch fehlenden Leistungsnachweise überhaupt erbringen können. Faktisch werden durch Festschreibung einer genau bestimmten Anzahl von Hausarbeiten, Referaten, Klausuren und mündlichen Prüfungen die Wahlmöglichkeiten für Studierende wiederum eingeschränkt. Weil die Lehrenden aus verständlichen Gründen – notfalls auch bei Verstoß gegen die Studienordnung – durchsetzen, dass in ihren Veranstaltungen nur Referate oder nur Hausarbeiten als Leistungsnachweise akzeptiert werden, werden Studierende gerade am Ende ihres Studiums auf die Veranstaltungen festgelegt, in denen sie die ihnen noch fehlenden Leistungsnachweise erbringen können.
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5.2 U NTERHALB DES R ADARS – D IE P FLEGE DER F IKTION DER V ERGLEICHBARKEIT Die hier nur beispielhaft geschilderten alltäglichen kleinen Anpassungen müssen in der Regel mühsam unterhalb der Oberfläche gehalten werden. Selbst wenn in den Hochglanzbroschüren der Universitäten mit dem Begriff der „Studienkultur“ das Lernen und Lehren jenseits der formalen Vorgaben der Kunstwährung ECTS gepriesen wird, so wird doch weitgehend im Dunkeln gelassen, wie diese häufig auf umstrittenen Regelinterpretationen, gewagten Regeldehnungen oder auch offensichtlichen Regelmissachtungen basierende „Studienkultur“ im Einzelnen funktioniert. Schon die gerade eben noch zu vertretende Interpretation einer „ländergemeinsamen Strukturvorgabe“ wird möglichst verborgen gehalten, damit Justiziare, Qualitätsmanager oder Akkreditierer die Auslegung bei einer genauen Betrachtung nicht als zu gewagt einschätzen. Für die offensichtlichen Abweichungen von Studien- und Prüfungsordnungen ist es nicht selten erforderlich, Studierende, Kollegen und häufig auch die Stabsstellen der Universität, die diese Regelabweichungen dulden, auf Verschwiegenheit einzuschwören, weil ein Bekanntwerden dieser Abweichungen mit dem Verweis auf das offizielle Regelwerk ein sofortiges Abstellen erfordern würde. Und dies gilt erst recht, wenn nicht nur gegen die Regeln der Universität verstoßen wird, sondern auch gegen die Gesetzesvorgaben der Bildungsministerien. Weil diese Verstöße in letzter Konsequenz durch Verwaltungsgerichte geahndet werden können, müssen sie an den Universitäten besonders sorgfältig verborgen werden. Dieses verdeckte Ausnutzen von Regelungslücken, Regelabweichungen und Gesetzesverstößen gehört zur Normalität jeder Verwaltung, jeder Armee, jedes Krankenhauses und jeder Universität. Während ein Organisationsmitglied, das sich sklavisch an eine noch so schwachsinnig erscheinende formale Ordnung hält, sich nicht für die Regelbefolgung rechtfertigen muss, trägt ein Organisationsmitglied, das gegen eine Bestimmung verstößt, um das Arbeiten in der Organisation effizienter oder besser zu gestalten, die Beweislast. Es kann nur darauf hoffen, dass ein solcher Regelverstoß als „organisatorisch sinnvoll“ erachtet wird und – bei Aufdeckung – durch die Vorgesetzten deswegen gedeckt wird (siehe früh schon solche Überlegungen bei Dalton 1959: 237; Mintzberg 1979: 37). Weil aber Abweichungen von der formalen Ordnung in der Organisation fast immer auf
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einen Fehler des Abweichlers und nicht auf eine ungeeignete Regel zurückgeführt werden, werden solche Abweichungen verdeckt gehalten. Dieses für Beobachter häufig verborgen ablaufende Zusammenspiel zwischen formalen und informalen Ordnungen macht für Organisationen Sinn, weil die Verabschiedung von Regeln, an die sich alle Mitglieder halten müssen, auf der einen Seite ein hohes Maß an Beständigkeit erhält, über mehr oder minder stark kaschierte Abweichungen aber auf der anderen Seite die Möglichkeit zu Anpassungen offenhält. Für die Wirkweise der Kunstwährung ECTS bekommt das Kaschieren und Verbergen der Regelabweichungen jedoch noch eine zusätzliche Funktion, die weit über die bereits in der Organisationsforschung bekannten Funktionen von Informalität hinausweist. Die Funktion der Informalität für die Aufrechterhaltung der Fiktion von Vergleichbarkeit Erst durch das Verbergen der vielen kleinen Tricks, Abkürzungen und Abweichungen von den in ECTS ausgedrückten Studiengängen kann die Suggestion der Vergleichbarkeit von Veranstaltungen, Prüfungen, Modulen und Studiengängen ganz verschiedener Universitäten aufrechterhalten werden. Durch die Verrechnung aller Leistungen in ECTS-Punkten wird ja der Eindruck erweckt, dass sich Seminare, die man an der Universität in Madrid erworben hat, ohne große Probleme mit Veranstaltungen an der Universität in Split vergleichen – und deswegen auch verrechnen – lassen. Ein mit einer Klausur oder einer Hausarbeit abgeschlossenes Modul an der Universität von Bratislava wird dann – wenn es denn mit genauso vielen Leistungspunkten ausgestattet ist – mit einem Modul an der University of Oxford verrechenbar und so als Studienleistung transferierbar. Diese Vergleichbarkeit – und damit auch Verrechenbarkeit – funktioniert im Bologna-Prozess nur, weil die häufig hohe Beliebigkeit bei der Errechnung und Vergabe der Leistungspunkte verdeckt wird. Es bleibt im Verborgenen, dass der Aufwand für Veranstaltungen und Prüfungen zu einem Thema so „zurechtgerechnet“ wurde, dass sie in die von der Universitätsleitung vorgeschriebene Modulgröße von sechs, acht oder zehn ECTSPunkten passen. Es bleibt verdeckt, dass die Länge eines Praktikums zwar offiziell 240 Stunden – also sechs Wochen à vierzig Stunden – beträgt, weil am Ende des Studiengangs-Gestaltungs-Sudokus noch genau diese acht
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Leistungspunkte fehlten, um die 180 Leistungspunkte vollzumachen, man den Studierenden in der Studienberatung aber natürlich erzählt, dass Praktika erst ab acht Wochen Sinn machen und Studierende deswegen doch deutlich längere Praktika machen sollten als durch die Studienordnung anerkannt. Aber um so unterschiedliche Dinge wie ein Seminar mit zehn Studierenden an einer Eliteuniversität mit einem Seminar mit hundert Studierenden an einer Provinzuniversität durch eine Kunstwährung vergleichbar machen zu können, müssen Willkürlichkeiten bei der Verrechenbarkeit stillschweigend geduldet werden. Es muss bei der Verrechnung übersehen werden, dass man an einer griechischen Universität einen ECTS-Punkt offiziell bereits für fünfundzwanzig Stunden erhält, während Studierende dafür an deutschen Universitäten dreißig Stunden in Seminaren, in der Bibliothek oder am Schreibtisch absitzen müssen. Es muss selbst in offiziellen Handreichungen der Europäischen Union gefordert werden, dass Anerkennungen von Studienleistungen an anderen Universitäten großzügig verrechnet werden sollen, weil es zu aufwendig wäre, dass Studierende noch zwei ECTSPunkte durch Extraleistungen deswegen nachholen müssen, weil das an der Gastuniversität belegte Modul nur mit acht statt wie an der Heimatuniversität mit zehn Punkten belohnt wird. Das automatische Verschwinden der Sichtbarkeit der Willkürlichkeit bei der Punktevergabe Die Willkürlichkeit bei der Bestimmung des Wertes einer Kunstwährung muss gar nicht bewusst verborgen werden. Es bedarf gar keiner universitätsweiten Anweisung, dass man doch bitte nicht bekannt geben sollte, dass die den ECTS-Punkten zugrunde liegenden Arbeitsstunden für jede Veranstaltung, jedes Seminar oder jede Prüfung nicht mit der Stoppuhr erhoben worden sind. Es braucht auch keine landesweite Richtlinie, dass man bitte doch nicht bekannt werden lassen sollte, dass bei der Anrechnung von Leistungspunkten anderer Universitäten sehr „großzügig“ zu verfahren ist und man sich – im Interesse der Studierenden – nicht dafür interessiert, ob sie laut Studienordnung jetzt drei oder vier Wochen kürzer an einer Hausarbeit gesessen haben als von der eigenen Universität vorgegeben. Die Informationen darüber, wie willkürlich die ECTS-Punkte für einzelne Leistungen berechnet wurden und wie willkürlich Veranstaltungen
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mit ganz unterschiedlichen Leistungspunkten zwischen Studiengängen verrechnet werden, verschwinden quasi automatisch bei ihren „Wanderungen“ von Fakultät zu Fakultät, von Universität zu Universität. Durch die Zusammenfassung von Veranstaltungen in Modulform und die genaue Bestimmung der benötigten Stunden werden die notwendigen Kontextinformationen immer weiter reduziert. Am Ende des Prozesses steht nur eine einzige Kennzahl, die von ihren Entstehungs- und Kontextbedingungen so weitgehend entkleidet ist, dass sie als gegeben betrachtet werden muss (vgl. Rottenburg 2002: 223; siehe schon früher Porter 1995: ix). Nach dieser „Wanderung“ von Stelle zu Stelle, von Organisation zu Organisation können die Entstehungsbedingungen eines konkreten ECTSPunktes kaum noch rekonstruiert werden. Es wäre eine kognitive Überlastung eines jeden Prüfungsamtsmitarbeiters und eine organisationale Überlastung einer jeden Hochschule, wenn sie sich die Mühe machen würden, auch nur eine kleine Anzahl von ECTS-Punkten, die Studierende aus anderen Universitäten oder auch nur anderen Fakultäten mitbringen, aufzuschnüren und dabei eventuell festzustellen, auf welchen willkürlichen Bestimmungen, auf welchen gewagten Grundannahmen und auf welchen Umdefinitionen in der Praxis ein solcher ECTS-Punkt basiert. Man lässt sich so – von wenigen Ausnahmen abgesehen – faktisch keine andere Wahl, als einen einmal zertifizierten und verbuchten ECTS-Punkt so zu akzeptieren, wie er sich in seiner von fast allen Details seiner Entstehung befreiten Form präsentiert.6 Der Clou bei der Einführung der ECTS-Punkte besteht darin, dass sie das Ziel der Herstellung von Vergleichbarkeit von Studienleistungen auch dann erfüllen, wenn der Wert der Punkte der Kunstwährung nur sehr lose mit der Realität eines konkreten Studiums zu tun hat. Kunstwährungen geben – wie Zahlen generell – bei aller Konstruiertheit Sicherheit, weil auf ihrer Basis Entscheidungen gefällt werden können (vgl. Macintosh et al. 2000: 13 und 42). Die „Willkürlichkeit“ von Zahlen wird letztlich von allen
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Dahinter steckt ein alter Gedanke der Organisationsforschung, nämlich der, dass Organisationen nur funktionieren können, wenn Informationen beim Wandern von Abteilung zu Abteilung, von Referat zu Referat nicht mehr jedes Mal auf ihre Plausibilität hin überprüft werden müssen, weil ja die vorgeschalteten Instanzen die Verantwortung für die „Richtigkeit“ der Information übernommen haben (vgl. früh schon Luhmann 1961: 4ff. zu diesem Verantwortungsbegriff).
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Beteiligten in Kauf genommen, weil sie sich nur mit einem gepflegten Schein von Objektivität als Grundlage für Entscheidungen eignen.
5.3 F AZIT – J E
STÄRKER DIE O RIENTIERUNG AN DEN HEHREN Z IELEN , DESTO GRÖSSER DIE N OTWENDIGKEIT FÜR R EGELVERSTÖSSE
Eines ist sicherlich richtig: Abweichungen von den formalen Vorgaben hat es in Universitäten immer schon gegeben. Immer schon wurden Fristen „flexibel“ ausgelegt, gute Studierende aus dem Grundstudium in Veranstaltungen des Hauptstudiums aufgenommen, einem besonders begabten Studenten einmal ein Schein „geschenkt“, damit er möglichst schnell seine Diplomarbeit beginnen konnte, oder pauschal eine Tätigkeit im Frauen- und Lesbenreferat als Pflichtpraktikum anerkannt, damit eine wissenschaftlich begabte Studentin möglichst schnell mit ihrer Promotion beginnen konnte. In Sachen Regelabweichungen unterschieden sich Universitäten dabei nie maßgeblich von Entwicklungshilfeorganisationen, von Unternehmen des Flugzeugbaus oder von Gebäudemanagementfirmen, von denen wir aus wissenschaftlichen Studien wissen, dass sie nur existieren können, weil sie aus Effizienzgründen regelmäßig und mit einem hohen Maß an Professionalität von den offiziellen Regeln abweichen (vgl. hierzu nur Bensman/Gerver 1963; Rottenburg 2002; Kühl 2007). Durch die Notwendigkeit, alle Studienleistungen vorab in ECTSPunkten zu bestimmen, hat jedoch die Notwendigkeit zur Regelabweichung in Universitäten stark zugenommen. Weil inzwischen jede Veranstaltung, jede Prüfung, jedes Praktikum in einer sich vervielfältigenden Anzahl von Studiengängen detailliert beschrieben und vom Arbeitsaufwand her bestimmt werden muss, passen die Regelungen eines Studienganges häufig nicht mehr zu der Praxis des Studiums. Je mehr Veranstaltungen für mehrere Studiengänge geöffnet werden, desto mehr stehen die Lehrenden und Studierenden vor der Herausforderung, unterschiedliche Anforderungen irgendwie miteinander vereinbar zu machen. Häufig hilft da nur die Abweichung von den formalen Richtlinien, um trotz des Regelwerks das Studium studierbar zu machen. Sicherlich: Theoretisch könnte man sich auch unter Bologna-Bedingungen einen Studiengang vorstellen, der mit nur wenigen Regelabwei-
DIE FLUCHT IN DIE REGELABWEICHUNGEN | 103
chungen von Studierenden und Lehrenden auskommen würde. Dafür müsste man – wie bereits oben in den Überlegungen zum Sudoku-Effekt einmal als Gedankenspiel eingeführt – einen einzigen, in sich abgeschlossenen Studiengang konzipieren, in dem der Arbeitsaufwand für jedes Modul genau definiert wird. Für jedes dieser Module müsste man dann standardisierte Veranstaltungen und detailliert beschriebene Prüfungsformen festlegen. Wenn man jetzt die Lehrenden auf diesen einen Studiengang festlegt, noch genau die Fristen für jeden Arbeitsschritt definiert und Studierende nicht allzu sehr durch Zusatzangebote ablenkt, kann so ein Studiengang ohne große Regelabweichungen „studierbar“ gemacht werden. Aber genau eine solche Konzeption würde den Intentionen der Bologna-Reform grundsätzlich widersprechen. Durch die Verrechnung von Veranstaltungen und Prüfungen – und weitergehend von Modulen – in ECTSPunkten soll ja gerade sichergestellt werden, dass alle Angebote einer Universität für verschiedene Studiengänge verwendbar sind. Schließlich ist die problemlose Verrechenbarkeit von Studienleistungen zwischen unterschiedlichen Studiengängen innerhalb einer Universität und zwischen Universitäten ja der zentrale Grund, weswegen man die Kunstwährung ECTS überhaupt aus der Taufe gehoben hat. Die Situation scheint paradox zu sein: Je ernster Lehrende die im Rahmen der Hochschulreform produzierten schönen Worte wie „Studierendenzentrierung“ nehmen, desto stärker scheinen sie gegen das durch die Hochschulreform produzierte Regelwerk verstoßen zu müssen. Wenn Lehrende wirklich an den „besten Lösungen für nachhaltige und flexible Lernwege“ interessiert sind, wie es die Erklärung der Bildungsminister zehn Jahre nach Bologna in Budapest und Wien von ihnen fordert, dann bleibt ihnen scheinbar häufig nichts anderes übrig, als den Studierenden durch Verstöße gegen die im Namen von Bologna getroffenen strikten Vorgaben noch einige Wahlmöglichkeiten im Studium zu erhalten, die Anrechnung von in anderen Studiengängen oder Universitäten erbrachten Leistungen zu gewährleisten und ihnen somit wenigstens ein Minimum an eigenen Gestaltungsmöglichkeiten in Bezug auf ihr Studium zu lassen.
6.
Der bürokratische Teufelskreis – die Verschärfung des Sudoku-Effekts durch Dauerreformen „Das Prüfungspooling bietet den Vorteil, dass jede Prüfungsleistung systemisch nur einmalig angelegt werden muss und mit den PORG-Sätzen den jeweiligen Teilmodulen zugeordnet wird. … Das eigentliche Front-End der Prüfungsverwaltung für Fachrichtungsvertreter und Studierende bildet QISPOS, eine Webapplikation, die auf die POS-Datenbank zugreift und ein komplexes Rollen- und Rechtmanagement zulässt, jedoch nur ein eingeschränktes Funktionsspektrum bietet. … Die Einpflege der „Prüfer“ ist zwar theoretisch bereits möglich, jedoch muss die Anpassung der Rechte zunächst noch realisiert und ein genaues Konzept erarbeitet werden, welche Personen zu diesem Kreis gehören, da nicht alle Lehrbeauftragten systemisch eingepflegt werden können.“ HANDREICHUNG EINER UNIVERSITÄT, MIT DER LEHRENDEN UND DEREN SEKRETARIATEN DIE ORGANISATION VON PRÜFUNGEN IN BACHELOR- UND MASTERSTUDIENGÄNGEN ERLEICHTERT WERDEN SOLL (ZITIERT NACH „FORSCHUNG UND LEHRE“, H. 6/2009, S. 416).
Wenn man lediglich die Inkonsistenzen, Widersprüche und Unverständlichkeiten der in den einzelnen europäischen Staaten verabschiedeten Richtlinien und die Irrationalitäten der von den Institutsgremien und Fachbereichsräten oder Universitäten verabschiedeten Studiengänge betrachtet, könnte leicht ein karikaturelles Bild der Situation an den Hochschulen entstehen. An keiner Universität, so ein berechtigter Einwand, werde es bei der Anrechnung von Studienleistungen als Problem wahrgenommen, dass ein
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Leistungspunkt in Estland lediglich mit sechsundzwanzig Arbeitsstunden hinterlegt ist, in Deutschland jedoch mit dreißig. Keine Hochschule mache sich die Mühe, die Zeitstunden für einzelne Seminare, Prüfungen oder Phasen des Selbststudiums genau zu bestimmen. Ein Praktiker an der Hochschule könnte sich jetzt natürlich fragen, weswegen Bildungspolitiker Gesetze verabschieden, die so wenig praxistauglich sind, dass auf der Umsetzungsebene der Hochschulen permanente Regelverstöße erforderlich sind. Oder er könnte die Anfrage an Hochschulleitungen stellen, welchen Sinn Verordnungen haben, deren Verfasser selbst mitteilen, dass man sich doch in der Anwendung nicht allzu sklavisch daran halten sollte. Gerade bei Kritikern der Bologna-Reform scheint der legalistische Glaube vorzuherrschen, dass bildungspolitische Gesetze, Verordnungen und Richtlinien grundsätzlich so konzipiert werden sollten, dass diese auch eingehalten werden können (so zum Beispiel Pletl 2006: 4). In der Organisationsforschung ist es jedoch schon längere Zeit gesichertes Wissen, dass es für Organisationen sehr wohl funktional sein kann, formale Richtlinien aufzustellen, die von den Anwendern jedoch permanent gebrochen werden müssen, weil sie im Widerspruch zu den Anforderungen der alltäglichen Praxis stehen. Die Anwender werden durch die nur schwer einzuhaltenden Regeln in eine „Normenfalle“ gezwungen, weil sie fast notgedrungen von Regeln abweichen müssen und darauf angewiesen sind, dass andere Organisationsmitglieder diese Abweichungen tolerieren. Diejenigen, die diese Abweichungen dulden, haben dann ein Druckmittel in der Hand, um in anderen Bereichen konformes Verhalten der Abweichler einzuklagen (vgl. früh schon Treiber 1973: 51). Bei staatlichen Methadonprogrammen wird beispielsweise die Ausgabe des Heroin-Ersatzmittels stark reguliert. Jeder einzelne Behandlungsschritt muss genau dokumentiert werden. Die Ausgabe von Methadon darf nur in Arztpraxen erfolgen. Der Erhalt des Medikaments wird an die Bedingung geknüpft, dass sich der Drogenabhängige an einer begleitenden Psychotherapie beteiligt. Diese rigiden gesetzlichen Vorgaben sind jedoch kaum mit der ärztlichen Behandlung von „heavy usern“ in Einklang zu bringen. Die starke Verregelung der Methadon-Programme führt fast zwangsläufig dazu, dass Ärzte Regelverstöße, Ordnungswidrigkeiten und Straftaten begehen, um den Erfolg des Programms auch bei schwierig zu behandelnden Patienten gewährleisten zu können. Für die einzelnen Ärzte ist dies sicherlich eine unangenehme Situation, die staatlichen Stellen erhalten dadurch jedoch Durchgriffsmöglichkei-
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ten, die sie bei der sonstigen professionellen Selbststeuerung der Medizin kaum hätten (vgl. den Überblick bei Kühl 2011: 131ff.). Aber auch wenn die Produktion von „uneinhaltbaren“ Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien im Rahmen der Bologna-Reformen sehr wohl ihre eigenen Funktionalitäten mit sich bringt, muss man doch danach fragen, wie diese Regelabweichungen bearbeitet werden, wenn sie an die Oberfläche dringen. Wie wird auf das Bekanntwerden von Regelabweichungen reagiert? Wie wird die Fiktion der Vergleichbarkeit von Studienleistungen trotz des Bekanntwerdens breit praktizierter und häufig auch über lange Zeit geduldeter Regelabweichungen aufrechterhalten? 1
6.1 R EGELABWEICHUNGEN DIE H OCHSCHULEN
ALS
R ISIKO
FÜR
Das Problem der Hochschulen besteht darin, dass die vielfältigen Abweichungen, Abkürzungen und Tricks im Management von Studiengängen trotz sorgfältiger Kaschierung in der Regel doch nicht völlig unbeobachtet bleiben. Studierende nehmen die notwendigen Abweichungen von den fächerspezifischen Bestimmungen zum Anlass, um ihren allgemeinen Ärger über die Orientierungslosigkeit im Studium loszuwerden. Die Lehrenden stöhnen hörbar auf, weil sie häufig für einzelne Studierende Möglichkeiten finden müssen, um eine Veranstaltung an die besonderen Anforderungen ihrer Studiengänge anzupassen, und müssen sich dann mit dem Verweis,
1
In den unzähligen Forschungsprojekten über neue „Governance-Strukturen“ an den Hochschulen wird kaum untersucht, wie sich Einflussmöglichkeiten der Institute, Fachbereiche, Universitätsleitungen und Stabsstellen durch die Vervielfältigung von Regeln verändern (man verzeihe mir die Verwendung des Begriffs der „Governance-Strukturen“, den Uwe Pörksen [1988] wohl als typisches „Plastikwort“ bezeichnen würde). Das hängt damit zusammen, dass die Hochschulforschung bisher kaum mit einer begrifflich ausgearbeiteten Unterscheidung von Formal- und Informalstruktur arbeitet und deswegen – auch durch ihre Fixierung auf quantitative Methoden – häufig nur die Oberflächenstruktur von Universitäten erfassen kann. Eine noch näher zu überprüfende Hypothese wäre, dass der wachsende Einfluss von Hochschuljustiziariaten und Qualitätsmanagement-Stabsstellen nicht so sehr auf deren Regelsetzungskompetenzen beruht, sondern darauf, festlegen zu können, welche Regelabweichungen in einer Hochschule noch zulässig sind und welche nicht.
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den gerade geschaffenen Präzedenzfall mit den Anforderungen von anderen Studierenden in Einklang bringen zu müssen, auseinandersetzen. Die neu eingerichteten Qualitätsmanagementstellen oder die Akkreditierungsagenturen erlangen in der Regel zwar als Letzte Kenntnis von den Details der Regelabweichungen, aber wenn sie offiziell auf solche Regelabweichungen hingewiesen werden, müssen sie darauf reagieren. Zwischen Bestrafung des Regelabweichlers und Änderung der Regel Das in allen Organisationen bewährte Reaktionsmuster auf das Bekanntwerden von Regelverletzungen besteht darin, den Regelabweichler zur Rechenschaft zu ziehen. Wird eine Frist nicht eingehalten, ein Prüfungsbeisitzer nicht hinzugezogen oder ein ECTS-Punkt falsch verrechnet, wird der Verantwortliche identifiziert, auf den Fehler hingewiesen und eine Korrektur erwartet. Der Hinweis auf die fehlende Sinnhaftigkeit einer bestimmten Regelung schützt den Regelabweichler dabei nicht, weil irgendein Argument für den Sinn einer Regel immer mobilisiert werden kann. Diese Vorgehensweise in Organisationen ist nachvollziehbar. Der Vorteil einer formalen Ordnung – also die Schaffung eines für alle Organisationsmitglieder verbindlichen und letztlich über die Androhung von Entlassung durchsetzbaren Regelwerks – ist, dass damit die Zurechnung von Fehlern einfach ist. Den Fehler hat diejenige begangen, die gegen die formale Regel verstoßen hat, und zwar unabhängig davon, ob diese Regel aus der Sicht der meisten Beteiligten Sinn macht oder nicht. Durch die möglichst öffentliche Abstrafung des Regelabweichlers wird die Regel, von der abgewichen wurde, in dem konkreten Fall wieder reaktiviert und damit gleichzeitig auch eine Botschaft an andere Organisationsmitglieder geschickt, dass Regeln einzuhalten sind. Dieser Mechanismus der Regelbestätigung durch Bestrafung der Regelverletzer funktioniert jedoch nicht, wenn eine Regelabweichung in einer Organisation schon sehr lange und auf breiter Front praktiziert wird oder wenn lediglich ein diffuses Gefühl bei der Organisationsspitze vorhanden ist, dass das Regelwerk nur sehr lose mit den alltäglichen Praktiken gekoppelt ist. Organisationen reagieren dann häufig nicht (nur) mit der Bestrafung der Regelabweichler, sondern auch mit einer Veränderung des Regelwerks.
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Die mangelnde Autonomie der Hochschulen bei der Behandlung von Regelabweichungen Die Tragik der Hochschulen besteht darin, dass sie – jedenfalls im Vergleich zu Unternehmen, Kirchen oder Vereinen – wenig autonom darin sind, wie sie mit Regelabweichungen umgehen können. Organisationen gewinnen ein hohes Maß an Handlungsspielraum, wenn sie bei der Wahrnehmung von Regelabweichungen selbst darüber entscheiden können, ob sie diese auch „offiziell“ bemerken wollen oder ob sie sie lieber übersehen. Gerade aus der Forschung über Regelabweichungen in Unternehmen wissen wir, dass das Management häufig sehr genau über die Regelabweichungen informiert ist, aber mit guten Gründen darauf verzichtet, sie auch offiziell wahrzunehmen (vgl. speziell zu diesem Punkt des „involvements“ des Managements bei der Regelabweichung die oben zitierten Studien von Bensman/Gerver 1963, Rottenburg 2002 und Kühl 2007). In Hochschulen besteht jedoch aufgrund ihrer staatlichen Verankerung die Möglichkeit, dass eine Regelabweichung von außen – namentlich von den Studierenden – skandalisiert wird. Die Zulassung, Zertifizierung und Benotung von Studierenden begründet sich schließlich nicht auf einem zivilrechtlichen Vertragsverhältnis, sondern sie basiert auf der hoheitsstaatlichen Verankerung des Hochschulwesens. Eine Vielzahl von Entscheidungen der Hochschulen – von der Zulassung zum Studium über die Möglichkeit des Rücktritts von Prüfungen bis hin zum Prüfungsausschluss nach Täuschungen – kann als Verwaltungsakt interpretiert und deswegen als Anlass für Klagen vor den Verwaltungsgerichten genommen werden (vgl. dazu Quapp 2011: 665ff.). Wir wissen aus der Organisationsforschung, dass Regelabweichungen, die gegen Gesetze verstoßen, für Organisationen besonders prekär sind. Wird ein Gesetzesverstoß durch einen sogenannten „whistleblower“ – also einen Mitarbeiter, Kunden oder Kooperationspartner, der angesichts eines Gesetzesverstoßes laut in die Trillerpfeife bläst – aufgedeckt, gibt es jedenfalls für Organisationen in der westlichen Welt kaum noch Möglichkeiten, die dann einsetzende rechtliche Prüfung zu unterbinden (vgl. Kühl 2011: 121ff.). Solche Behandlungen von Regelabweichungen sind für Organisationen sehr aufwendig, weil die Entscheidungen über die Korrektheit des Verhaltens letztlich außerhalb der Organisation – nämlich von den Gerichten – getroffen werden.
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In Antizipation solcher Klagen scheint es gerade in Hochschulen zunehmend eine Tendenz zu geben, die potenziellen Konflikte zwischen Prüfern und Prüflingen zu reduzieren. Weil es angesichts der alltäglichen praktischen Anforderungen fast zwangsläufig zu Abweichungen von den Prüfungs- und Studienordnungen kommt, gibt es an einigen Universitäten eine Tendenz, gute Noten zu vergeben, weil dies wohl das effizienteste Mittel ist, um die Klagebereitschaft von Studierenden zu reduzieren.
6.2 D IE R EFORMEN DER R EFORMEN – Z UR P RODUKTION NEUER R EGELN Unabhängig davon, ob eine Regelunsicherheit durch eine Klage eines Studierenden offensichtlich wurde, ob für die Hochschulen Rahmenrichtlinien verändert wurden oder ob lediglich der Druck unzufriedener Studierender oder Lehrender zu groß geworden ist – wenn die Abstrafung von Abweichlern nicht zur Beruhigung beiträgt, müssen die Hochschulen mit Veränderungen reagieren. Motto: „Wir bringen das in Ordnung“. Häufig kann der Druck durch kleine permanente Anpassungen und Erweiterungen der Prüfungs- und Studienordnungen, der Modulhandbücher und fächerspezifischen Bestimmungen abgefangen werden. Nicht selten werden aber auch – angestoßen durch das Bekanntwerden der gleichen Probleme in mehreren Studiengängen, durch neue Gesetzesvorgaben oder durch das Eskalieren von Studierendenprotesten an einer Universität – von den Hochschulen umfassende Reformmaßnahmen angestoßen. Dabei werden die Studiengänge einer ganzen Universität zum Beispiel durch die Vorgabe einer einheitlichen Modulgröße neu konzipiert oder neue spezifische Anweisungen zum Beispiel über die Anzahl von Prüfungen oder Vorlesungen gegeben, die universitätsweit in allen Studiengängen umzusetzen sind. Eine grundlegend neue Studiengangskonzeption soll dann Probleme, Schwierigkeiten und Holprigkeiten der existierenden Studiengänge ausmerzen. Zur Attraktivität von Hochschulreformen Sowohl die kleinen Veränderungen als auch die grundlegenden Reformen der Studienstruktur erfüllen eine wichtige Funktion für die Aufrechterhaltung der Fiktion der Vergleichbarkeit, die der ECTS-Währung zugrunde
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liegt. Das Bekanntwerden von Ungereimtheiten bei der Abbildung von Studiengängen in ECTS-Punkten, die Gerüchte über die Unklarheiten bei der konkreten Anrechnung der ECTS-Punkte oder das Durchsickern von Informationen über die faktisch fast beliebige Verrechnung von Studienleistungen führt nicht zu einer Delegitimierung der Kunstwährung ECTS, weil mit einer Veränderung von Regeln der Eindruck erweckt wird, dass – nach der Umsetzung dieser Regelungen – die Anwendbarkeit der Kunstwährung gewährleistet ist. Mit der Reform wird zugestanden, dass es Probleme bei der Abbildung von Studienleistungen in ECTS-Punkten gegeben hat und deswegen die Vergleichbarkeit nicht immer gewährleistet war, aber gleichzeitig signalisiert man, dass man jetzt ein neues Modell hat, das diese Probleme behebt. Ein solches durch eine Reform angestoßenes neues Regelwerk hat erst einmal eine eigene Attraktivität. Im Vergleich zum alltäglichen, häufig zähen und für viele Studierende, Lehrende und Verwaltungsmitarbeiter frustrierenden Zusammenwirken im Rahmen der existierenden Studienstrukturen malt eine Reform erst einmal „schöne Bilder“ einer stromlinienförmigen und widerspruchsfreien Studienstruktur. Weil im Vergleich zu der als chaotisch wahrgenommenen Realität die Masterpläne für eine neue Studienstruktur attraktiver, einfacher und einleuchtender wirken, entsteht erst einmal die Plausibilität für die Umsetzung einer neuen Studienstruktur. Schließlich sind die Pläne in „ihren guten Absichten nur schwer zu widerlegen“, weil der „Härtetest ihrer Vorhaben“ noch aussteht (Luhmann 2000: 338). Die Abnutzung der Reformeuphorie In der Umsetzung aber verlieren solche Reformen ihre Attraktivität. Je konkreter ein Masterplan für eine neue Studienstruktur in die Realität umgesetzt wird, desto klarer wird, dass dieses Konzept ähnlich viele Widersprüchlichkeiten birgt wie alle anderen vorher bekannten Organisationskonzepte auch. Plötzlich wird deutlich, dass das als Wundermittel verkaufte Konzept der gleich großen Modulgrößen die Schwierigkeit birgt, auch aufwendige Veranstaltungen in das Korsett einzupassen. Auf diese Abnutzung einer Reformkonzeption wird wieder mit neuen Reformen reagiert, die selbstverständlich mit dem Versprechen höherer Konsistenz und Handhabbarkeit präsentiert werden. Diese Reform schafft
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aber wiederum neue Probleme, die zum Anlass genommen werden, die nächste Reform zu starten. Die Umsetzung der Bologna-Vorgaben ist deswegen an einigen Universitäten zu einer Art „Dauer-Reform“ geraten. Reformen, so Nils Brunsson und Johan P. Olsen (1993: 33f.), produzieren zuerst einmal wieder neue Reformen. Angesichts der durch die Aneinanderreihung von Reformen entstehenden „hektischen Betriebsamkeit“ befinden sich gerade die Fachbereiche, Fakultäten und Institute, die früh mit der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen begonnen haben, vielfach in einer Art Schockstarre (Hörisch 2006: 120). Jede Anpassung eines Studiengangs, jede Modifikation von Modulen oder jede Initiative zur Gründung eines neuen Masters wird inzwischen von dem mehr oder minder kollektiven Stoßseufzer „Nicht schon wieder“ begleitet. Angesichts der Probleme, die die Umstellung auf Bachelor und Master vielfach produziert hat, ist es in den Gremiensitzungen inzwischen en vogue, ein „Reformmoratorium“ zu fordern, weil keine Kräfte mehr für eine erneute Reform vorhanden sind.
6.3 D ER C IRCULUS V ITIOSUS DER B ÜROKRATISIERUNG Die hier beschriebene Form der Dauerreform an Hochschulen lässt sich als ein „bürokratischer Teufelskreis“ bezeichnen (Crozier 1963: 247ff.). Die Reaktion auf Regelverletzungen, Regelinkonsistenzen oder Regelirritationen ist nicht die Abschaffung der Regel, sondern vielmehr deren Ergänzung, Ausdifferenzierung oder Erweiterung. Schließlich wird von Bürokratien erwartet – und in ihrer Studienorganisation, ihrer Prüfungsverwaltung und in ihrem Zertifizierungswesen sind Hochschulen nichts anderes als Bürokratien –, dass sie „alles offizielle dienstliche Verhalten“ als formal abgesichertes Verhalten darstellen können (Luhmann 1988: 290). Kommt es zu Regelunklarheiten zum Beispiel in Veranstaltungen oder Prüfungen, dann sind letztlich alle Entscheidungen an Hochschulen immer noch weiter in eine Vielzahl von Einzelentscheidungen dekomponierbar. Bei der erfolgreichen Klage eines Studierenden gegen eine mündliche Prüfung wird beispielsweise durch Entscheidungen des Hochschulpräsidiums weiter spezifiziert, welche Qualifikation die Beisitzer haben müssen, in welcher Form die Prüfungen zu protokollieren sind und in welchen Fristen
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die Prüfungsergebnisse mitzuteilen sind. Dadurch, dass eine Entscheidung immer „weiter und weiter in Subentscheidungen“ zerlegt werden kann, können Hochschulen nahezu „beliebig nach innen wachsen“ (Luhmann 1988: 289; siehe auch Luhmann 1981: 344f.). Das Aufdecken einer Regelabweichung führt also im Normalfall nur zur Einführung weiterer Regelungen, die jedoch wiederum nur neue Formen von Regelabweichungen wahrscheinlich machen. Die Abstimmung zwischen den sich manchmal fast im Jahresturnus verändernden Studienund Prüfungsordnungen ein und desselben Studiengangs bedarf dann wiederum neuer Regelungen, die ihrerseits neue ungewollte Nebenfolgen produzieren. Die Schaffung von immer mehr Regeln führt in letzter Konsequenz also nicht nur zu Frustration, Distanzierung und Teilnahmslosigkeit bei den betroffenen Personen, sondern auch zu vielen wildwüchsigen lokalen Anpassungen. Auf diese reagiert die Organisationsspitze dann wiederum mit dem einzigen Mittel, das ihr zur Verfügung steht: mit dem Erlass neuer Regeln. Die Kassandra-Rufer unter den Bologna-Kritikern befürchten angesichts dieses bürokratischen Teufelskreises bereits eine neue „europaweite Bürokratie“ mit „ungeahnten Möglichkeiten für kleinliche Vorschriften“, deren „Einhaltung dann wieder von neuen Behörden überwacht werden muss“. Dafür würden immer wieder neue „Musterordnungen“ erstellt werden, die ihrerseits zu vielfältigen neuen „Entwürfen, Kompromissen, Übersetzungsproblemen“ führen würden. Am Ende könnte dann, so die ironische Bemerkung Heinz Steinerts (2008: 168), die Einführung von „europäischen Zentral-Prüfungen stehen“, die lokal durch die Einrichtung von „Prüfungs-Professuren“ begleitet wird. Aber man kann sicher sein, dass das von Reform zu Reform anwachsende, zunehmend widersprüchlicher und unübersichtlicher werdende Regelwerk irgendwann die Forderung nach einer Entbürokratisierung der Universitäten laut werden lässt. Diese Rufe nach kürzeren Modulbeschreibungen, nach der Reduzierung von Studiengängen und nach vereinfachten Genehmigungsverfahren werden sicherlich aus den Hochschulen kommen, in denen der Leidensdruck nach der vierten oder fünften Reform besonders groß ist. Es ist jetzt schon absehbar, dass die in Gütersloh und anderswo angesiedelten Denkwerkstätten der Hochschulplanung, die mit ihrer Forderung nach der Implementierung des ECTS-Systems maßgeblich zu einer bis dahin nicht dagewesenen Bürokratisierung der Hochschulen beigetragen
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haben, diese Klage über ein Zuviel an Bürokratie poetisch begleiten werden und sich als Entbürokratisierungsexperten anbieten werden. Die Tragik ist lediglich, dass – darauf deuten die organisationswissenschaftlichen Forschungen hin (siehe Luhmann 1988: 290) – auch diese Reformen zur Entbürokratisierung nur neue Regeln produzieren, die letztlich zu einer weiteren Bürokratisierung führen.
7.
Die ergebnislose Suche nach „Schuldigen“ – Weswegen sich niemand für die Effekte der Bologna-Reform verantwortlich fühlen muss „Liebe Institutsmitglieder, wie ich soeben informell … erfahren habe, sind unsere Modulbeschreibungen im Rektorat durchgefallen. Ich zitiere vorab aus dem Schreiben des Rektorats: „Die Modulbeschreibungen der Arbeitsgruppe Theorie entsprechen nicht den Exzellenzkriterien, welche die Hochschulrektorenkonferenz in ihrem Memorandum vom 1. April 2009 „Exzellente Lehre – Deutschlands Zukunft“ formuliert hat. Es mangelt an konkreten, dem berechtigten Praxisbedürfnis der Studierenden Rechnung tragenden Berufseinmündungsbezügen. Der Gleichstellungsauftrag der Universität wird verfehlt. Die Alleinstellungsmerkmale der Module im internationalen Kontext werden nicht sichtbar, wie überhaupt das internationale Profil nicht genügend geschärft ist. … Eine umgehende gründliche Neubearbeitung ist zwingend erforderlich.“ Weiterhin regt das Rektorat an, als Ausweis der Internationalität alle Lehrveranstaltungen zukünftig in Englisch abzuhalten, zur Förderung der Frauen in den Veranstaltungen „Theorie“ spezielle Kurse nur für Studentinnen, von Dozentinnen geleitet, anzubieten und alle Veranstaltungen wechselseitig zu besuchen und zu evaluieren. Es dürfen auch Evaluationspartnerschaften gebildet werden, längstens jedoch für zwei Semester. Aufgrund der desaströsen Kritik des Rektors hat der Dekan dem Institut einen ganztägigen „Power-Workshop“ zur Neubearbeitung der Module noch vor Semesterbeginn verordnet (Nichterscheinen nur bei Vorlage eines beglaubigten amtsärztlichen Attestes). Ein Kollege hat die Organisation be-
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reits in die Hand genommen und wird Ihnen in Kürze Termin und Tagesordnung mitteilen. Vorschläge sind wie immer herzlich willkommen. Viele Grüße und trotz allem frohe Ostern Alfons Wimmer P.S.: Sollte Ihnen bis heute 1.4., 24.00 Uhr, kein Schreiben des Rektors zugegangen sein, bitte die vorliegende Mail als gegenstandslos zu betrachten“ EINE SEIT EIN, ZWEI JAHREN UNTER PROFESSOREN KURSIERENDE E-MAIL. INTERESSANT IST, DASS – GLAUBT MAN JEDENFALLS DER BEGLEITGESCHICHTE
– NUR WENIGE DER BETROFFENEN KOLLEGEN DIE MAIL ALS
AMÜSANTE HATTEN.
UNTERHALTUNG IN DER VORÖSTERLICHEN ZEIT VERSTANDEN
ANGEBLICH WAR EIN PROTESTSCHREIBEN AN DAS REKTORAT
BEREITS FORMULIERT, ALS DER
AUTOR DIE MAIL SCHLIESSLICH ALS
APRILSCHERZ ENTTARNTE.
In Anbetracht der Verzweiflung der Lehrenden über die Bürokratisierung der Lehre im Rahmen der Bologna-Reformen, der alle zwei, drei Jahre im Wintersemester hochkochenden Proteste von Studierenden gegen die Verschulung des Studiums, und angesichts der Klagen der Fakultäts-, Fachbereichs- und Institutsmitarbeiter über Arbeitsüberlastung haben sich Wissenschaftsministerien, Kultusbehörden und Universitätsleitungen überraschend schnell auf eine Sprachregelung geeinigt: Die Zielrichtung der Hochschulreform sei gut, die Umsetzung jedoch mangelhaft. Es habe, so wird von Bildungsministern verkündet, bei der Umsetzung der Hochschulreform einfach zu viele „handwerkliche Fehler“ gegeben. Die Verschulung des Studiums, die Bürokratisierung der Studien- und Prüfungsverwaltung und die Einschränkung der Mobilität der Studierenden seien nicht per se im Bologna-Prozess vorgesehen gewesen, sondern nur das Ergebnis von „Ungeschicklichkeiten“ bei der Umsetzung der Reform. Aber wer – so die naheliegende Frage – soll für diese „handwerklichen Fehler“ verantwortlich sein? Bei wem können sich die Studierenden wegen der Unzulänglichkeiten der Reformen beschweren? Es gibt eine Personengruppe, die man sofort in Verdacht hat, um die Schwierigkeiten in den Studiengängen zu erklären – die Lehrenden. Weil die Professoren, die wissenschaftlichen Mitarbeiter und die Lehrbeauftragten ja jeden einzelnen Studiengang selbst entwickelt haben, ist es nahelie-
DIE ERGEBNISLOSE SUCHE NACH „SCHULDIGEN“ | 117
gend, die Verantwortung für die Probleme der Bologna-Reform bei ihnen zu suchen. Schließlich seien sie ja nicht gezwungen worden, die Studiengänge derartig mit Inhalten vollzupfropfen und die Studierenden mit Prüfungen zu überlasten. Die Lehrenden, so der Vorwurf der Wissenschaftsminister, Hochschulleitungen und Bildungsplaner, hätten selbst das bürokratische Frankensteinmonster geschaffen, über das sie jetzt klagen. Der Vorwurf wird von den Lehrenden gern an die Hochschulleitungen zurückgegeben. Schließlich – so die Reaktion – habe man die teilweise gut funktionierenden Diplom-, Magister- und Staatsexamensstudiengänge ja nur aufgrund des Drucks der Universitätsleitungen aufgegeben. Aber auch bei einer Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge sähe man sich in der Lage, einen guten Studiengang zu konzipieren, wenn man nicht durch die Universitätsjustiziariate, Bologna-Service-Stellen oder Stabsstellen für Studiengangsplanung in ein Korsett von Vorgaben, Richtlinien und Bestimmungen gezwungen würde. Aber auch die nationalen Bildungsminister, regionale Bildungsverwaltungen oder Konferenzen von Kultusministern bieten sich als Verantwortliche an. Besonders gern wird darauf verwiesen, dass die mit der BolognaReform verbundenen Ideen ja gut seien, aber leider auf eine typisch „nationale“ Weise umgesetzt würden (vgl. so beispielsweise Woolf 2008; Rubner 2009). Je nach Land wird darauf verwiesen, dass die Bildungspolitiker in Deutschland eine „typisch deutsche“, überaus detailgenaue Umsetzungsform gewählt hätten, die französischen Bildungsplaner zu einer für dieses Land charakteristischen „sehr bürokratischen“ Interpretation gegriffen hätten und die italienischen Bildungspolitiker wie üblich ein „technokratisches Monstrum“ geschaffen hätten, das nur mit dem in Italien üblichen Unterlaufen des Regelwerks beherrschbar sei. Wie lässt sich erklären, dass die Verantwortung für die Effekte der Bologna-Reform scheinbar so beliebig hin und hergeschoben werden kann?
7.1 D IE „V ERNEBELUNG “ VON V ERANTWORTLICHKEITEN Wenn man den Beschreibungen der Zentralen für politische Bildung über den Ablauf von Entscheidungsprozessen in der Politik glauben würde, dürfte die Zurechnung der Verantwortlichkeiten für die Hochschulreformen gar
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nicht so schwerfallen (vgl. Maeße 2008: 365). Die Bürgerinnen und Bürger eines Staates oder einer Region wählen die Partei, über die sie ihre politischen Vorstellungen am besten durchsetzen können. Die Parteien mit den meisten Wählerstimmen setzen in den Parlamenten ihre bildungspolitischen Vorstellungen in Gesetze um, und die von ihnen bestimmten Bildungsminister sorgen über die Verwaltungen ihrer Ministerien dafür, dass diese bildungspolitischen Gesetze an den Hochschulen auch entsprechend umgesetzt werden. Damit wird zwar den Hochschulen die Möglichkeit genommen, ihre Studiengänge selbst zu entwickeln, aber sowohl die Erstellung der Rahmenrichtlinien für die Studiengänge als auch deren Genehmigung lässt sich in letzter Konsequenz auf die durch Wahl legitimierten Politiker zurückführen. Die Universitäten exekutieren – quasi als untergeordnete Verwaltungseinheiten der Bildungsministerien – diese politisch legitimierten Studiengänge gegenüber denjenigen Bürgerinnen und Bürgern, die sich als Studierende eingeschrieben haben. Wenn man voraussetzt, dass die Hochschulen sich rechtlich im Rahmen der politisch legitimierten Vorgaben bewegen, dann haben die Studierenden die durch die Hochschulen umgesetzten Verwaltungsentscheidungen zu akzeptieren. Sie können aber natürlich versuchen, auf politischem Wege Änderungen der Rahmenrichtlinien zu erreichen, die dann nicht nur individuell für sie gelten würden, sondern auch für alle anderen. Jetzt wissen wir jedoch bereits aus der politischen Soziologie, dass neben diesem „offiziellen Machtkreislauf“ – die Bürgerinnen und Bürger wählen die Politiker, die Politiker steuern über Gesetze die Verwaltung, und Verwaltungen exekutieren die Entscheidungen gegenüber den Bürgern, die wiederum die Politiker wählen – auch ein gegenläufiger informeller Machtkreislauf existiert (Luhmann 1987: 148ff.; Luhmann 2002: 256ff., Luhmann 2010: 139ff.). Die Bürgerinnen und Bürger haben faktisch nur begrenzte Wahlmöglichkeiten, weil durch die Parteien sowohl die zu wählenden Personen als auch die politischen Programmpunkte vorselektiert werden. Gleichzeitig sind aber auch Gesetze, Verordnungen oder Strukturvorgaben nur begrenzt auf Initiativen von Politikern zuzurechnen, weil sie im Detail durch die Mitarbeiter der Verwaltungen vorbereitet werden und diese von den Verwaltungen erstellten Vorlagen durch die Politiker häufig nur noch absegnet werden. Aber auch die Verwaltung ist gerade bei komplexen Entscheidungen zum Beispiel über die Ansiedlung von Universitäten, die Umsetzung von Zielvereinbarungen in den Hochschulen oder die
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Vergabe von Zuschüssen darauf angewiesen, dass diese Entscheidungen durch die eigentlichen Entscheidungsempfänger vorbereitet werden. Erst durch dieses Zusammenspiel zwischen dem formalen, gesetzlich abgesicherten und dem informellen, häufig nicht ohne Weiteres offen kommunizierbaren Machtkreislauf sind Entscheidungsprozesse in der Politik überhaupt erklärbar. Aber auch wenn der gegenläufige informelle Machtkreislauf die politische Entscheidungsfindung in der Praxis häufig stärker beeinflussen mag als der formale, ist es am Ende über die offiziellen Entscheidungswege möglich, die Verantwortung für Entscheidungen zu bestimmen. Genauso wie man die Bürgerinnen und Bürger dafür verantwortlich machen kann, welche Partei in einem Staat oder einer Region das Sagen hat, kann man die in der Regierung befindlichen Politiker für die durch sie verabschiedeten (oder eben auch nicht verabschiedeten) Gesetze verantwortlich machen oder die Verwaltung notfalls vor dem Verwaltungsgericht für getroffene Entscheidungen zur Verantwortung ziehen. Im Falle der Bologna-Reform scheint diese Zuweisung von Verantwortung nicht mehr in der gleichen Art und Weise zu funktionieren, weil neue Entscheidungsträger in der bildungspolitischen Debatte dazugekommen sind, die Kompetenzen häufig nicht klar abgesteckt sind und dadurch die Verantwortung für die „Studierbarkeit“ oder „Nicht-Studierbarkeit“ einzelner Studiengänge vernebelt wird. Die wachsende Autonomie der Hochschulen bei der Einrichtung von Studiengängen Lange Zeit wurden die staatlichen Universitäten in vielen Ländern – jedenfalls in ihren verwaltungstechnischen Kernprozessen – nur als verlängerter Arm der staatlichen Hochschulverwaltung verstanden. Zwar konnten Besetzungen von Professuren, Neuzuschnitte von Fachbereichen und Instituten oder die Einrichtung von Studiengängen durch die Selbstverwaltungsgremien der Hochschulen vorbereitet werden, aber die Vorschläge mussten jeweils durch die Bildungsministerien genehmigt werden. Angesichts dieser eingeschränkten Möglichkeiten, über Personaleinstellung, Kommunikationswege und Programme selbst zu entscheiden, mussten die Hochschulen eines Landes häufig eher als regional verteilte Unterabteilungen eines Ministeriums denn als eigenständige Organisation verstanden werden.
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Die in vielen europäischen Staaten angestoßenen Verwaltungsreformen zielen aber darauf ab, die Hochschulen – genauso wie staatliche Schulen, Gefängnisse und Krankenhäuser – zu ganz „normalen Organisationen“ zu machen (Brunsson/Sahlin-Andersson 2000: 721ff.; siehe dazu auch Ahrne/Brunsson 2011: 83ff.). Auch wenn die meisten Hochschulen immer noch maßgeblich von finanziellen Zuweisungen des Staates abhängig sind und anders als Unternehmen ihre Autonomie nicht durch die Refinanzierung über den Verkauf von Produkten sichern können, haben sie doch aufgrund von Hochschulgesetzen weitergehende Rechte erhalten, im Rahmen der zugewiesenen Mittel über ihr Personal, ihre Kommunikationswege und ihre Programme selbst zu entscheiden. Die Detailsteuerung der Hochschulen durch die zuständigen Ministerien konzentriert sich häufig nur noch auf eine – nicht selten mit Mittelzuweisungen verbundene – Zielvereinbarung. Die schwindende Autonomie von Fachbereichen, Fakultäten und Instituten In der Forschung über die „Organisationswerdung“ von Hochschulen werden Universitäten und Fachhochschulen tendenziell als ein monolithischer Block betrachtet, der seine Formalstruktur aus sich global durchsetzenden Mustern „herauskopiert“ (vgl. Krücken/Meier 2006: 247ff.). Die Organisation „Hochschule“, so der Tenor, würde an Autonomie gewinnen, ohne dass aber beachtet werde, dass durch die Organisationsforschung bereits herausgearbeitet wurde, dass der Autonomiegewinn einer Position in der Organisation immer auch den Autonomieverlust einer anderen Position in der Organisation bedeuten kann (vgl. dazu Kühl 2002: 43ff.). Mit Blick auf die Reform von Studiengängen ist interessant, wie die „Organisationswerdung“ die internen Entscheidungsprozesse in den Hochschulen verändert. Zugespitzt ausgedrückt: Während früher die Entscheidungen über Studiengänge häufig direkt zwischen den Fachbereichen und den jeweiligen Fachreferenten in den Ministerien ausgehandelt wurden, scheinen – unterstützt durch ein Wachstum von Stabsstellen – zunehmend die Hochschulleitungen Entscheidungen über Studiengänge an sich zu ziehen (siehe für eine solche Entwicklung in Frankreich Musselin 2001: 43ff. und 142ff.). Die Transformation der Hochschulen zu „normalen Organisationen“ bedeutet aber vorrangig erst einmal, dass sich neue Konfliktlinien zwischen
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Hochschulleitungen und Fachbereichen über die Gestaltung der Studiengänge ausbilden. Auch wenn eine Hochschule nach außen – also beispielsweise gegenüber den Ministerien und gegenüber den Studierenden – als „eine Organisation“ auftritt, wird es durch die schwindende Autonomie von Fachbereichen, Fakultäten und Instituten jedoch faktisch schwieriger, zu erkennen, wem in der Organisation die Verantwortung für einen Studiengang zugerechnet werden kann. Die Akkreditierungsagenturen als Genehmigungsbehörden ohne Behördencharakter Parallel zur Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge haben in vielen europäischen Staaten die Bildungs- und Wissenschaftsministerien die Kompetenzen für die Genehmigung von Studiengängen – und damit wenigstens auch teilweise für das Erlassen von Richtlinien zur Gestaltung von Studiengängen – an private Akkreditierungsagenturen abgetreten (vgl. Westerheijden 2001; Saarinen/Ala-Vähälä 2007; siehe Überblick über nationale Besonderheiten bei Schwarz/Westerheijden 2004). Zwar müssen sich die Akkreditierungsagenturen an die gesetzlichen Vorgaben der Ministerien für die Gestaltung von Studiengängen halten, aber durch die Notwendigkeit, für die Begutachtung einzelner Studiengänge Orientierungspunkte zu geben, prägen die Akkreditierungsagenturen oder die halböffentlichen Koordinierungsgremien dieser Agenturen die Form und Inhalte der Studiengänge maßgeblich mit. Anders als die Genehmigung von Studiengängen durch Ministerien ist nicht nur die politische Legitimität, sondern auch die verfassungsrechtliche Absicherung der Entscheidungen von Akkreditierungsagenturen heftig umstritten (vgl. nur für Deutschland Martini 2008; Müller-Terpitz 2009). Zwar werden die Agenturen in der Regel durch Hochschulgesetze oder wenigstens Erlasse der Ministerien abgesichert, aber es ist immer noch nicht rechtlich geklärt, ob – und wenn ja, wie weitgehend – eine Aufgabe wie die Genehmigung von Studiengängen mit einem staatlich anerkannten Abschluss durch letztlich privatwirtschaftlich organisierte Agenturen vorgenommen werden darf (vgl. Lege 2005). Das Problem ist, dass die Bedeutung der von den übergeordneten Koordinierungsgremien dieser Agenturen erlassenen Richtlinien für die Studiengangsgestaltung der einzelnen Hochschulen nur schwer einzuschätzen ist.
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Anders als die Legislative und die Exekutive eines Landes, die in letzter Konsequenz durch Wahlen legitimiert sind, sind die Koordinierungsgremien der Akkreditierungsagenturen, die sich meistens aus wenigen Vertretern der Hochschulen, der Studierendenschaft, der Bildungsministerien und der Berufspraxis zusammensetzen, nur schwer für Entscheidungen bezüglich der Ausrichtung von Studiengängen verantwortlich zu machen. So herrscht also Unklarheit, welchen Verbindlichkeitsgrad die erlassenen Richtlinien dieser Koordinationsgremien für die Studiengangsgestaltung haben. Die eigentlich nur begrenzte Bedeutung von europäischen Institutionen Zur Diffusion der Verantwortung für die Schaffung neuer Studiengänge hat maßgeblich die Einigung der europäischen Bildungsminister beigetragen. Dabei haben Vereinbarungen von Bildungsministern auf europäischen Konferenzen keinerlei Rechtswirkung. Denn in den Grundlagenverträgen der Europäischen Union ist eindeutig geregelt, dass die Bildungspolitik allein in die Kompetenz der jeweiligen Nationalstaaten fällt und Vereinbarungen auf EU-Ebene zur Bildungspolitik unverbindlich sind (vgl. BülowSchramm 2005: 167; Wuggenig 2008: 127). Konkret bedeutet das, dass die Erklärung von Bologna – genauso wie die Folgeerklärungen der Bildungsminister – keinerlei rechtliche Verbindlichkeit für die Unterzeichnerstaaten hat. Nur wegen dieser fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit ist es überhaupt möglich gewesen, dass die meisten nationalen Bildungs- und Wissenschaftsminister die Bologna-Erklärung unterzeichnen durften. Schließlich liegt in einer Vielzahl von europäischen Staaten die Gesetzgebungskompetenz für die Bildungspolitik vorrangig bei den Parlamenten der Länder und der Regionen und nicht bei den jeweiligen nationalen Parlamenten. Aber trotzdem darf die Bedeutung der europäischen Erklärung nicht unterschätzt werden. Zwar ist eine „Entnationalisierung der Hochschulpolitik“ nicht abzusehen, aber die Referenz auf „internationale Vereinbarungen“ spielt gerade in der nationalen Hochschulpolitik eine zunehmend wichtigere Rolle. Mit einer „unsichtbaren Hand“ wirkten, so Jeroen Huisman und Marijk van der Wende (2004: 351), internationale Organisationen wie die Europäische Kommission auf Vereinbarungen der europäischen
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Bildungsminister ein und beeinflussten damit auch die Hochschulpolitik der jeweiligen Länder. Der Rückzug der Bildungs- und Wissenschaftsministerien Rechtlich verbleibt ein erheblicher Teil der Kompetenzen für die Hochschulpolitik bei den Parlamenten der Länder und Regionen der Nationalstaaten, teilweise auch bei den Parlamenten der Nationalstaaten selbst. Aber die Länder und Regionen scheinen sich in Bezug auf die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen und von Leistungspunktsystemen zunehmend abhängig von Entscheidungen auf europäischer Ebene zu sehen. Es zeichnet sich ein Trend ab, dass einzelne Landes- und Regionalministerien zwar noch für die für die Hochschulgesetze zuständigen Parlamente entsprechende Abstimmungsvorlagen vorbereiten, aber mit dem Verweis auf die „internationalen Vereinbarungen“ argumentieren, dass die Parlamente faktisch keine andere Möglichkeit hätten, als diese Vorlagen anzunehmen (vgl. Brunkhorst 2006). Bezüglich der Einrichtung konkreter Studiengänge haben die Länder und Regionen einen erheblichen Teil von Entscheidungskompetenzen an die Universitäten abgetreten. Zwar nehmen die Ministerien über Zielvereinbarungen immer noch Einfluss auf die Entscheidungen der Hochschulen, aber die Entscheidung über die Einrichtung und über die Ausgestaltung der Studiengänge liegt weitgehend bei den Hochschulen selbst. Weil sie die konkreten Entscheidungen über die Genehmigung der Studiengänge an Akkreditierungsagenturen abgetreten haben, bleibt den Ministerien häufig nur noch das Instrument der „Strukturvorgaben“, um die Studiengangsgestaltung zu beeinflussen. Zur Diffusion der Verantwortung Statt eines Modells, in dem die hochschulpolitischen Entscheidungen zurechenbar durch die zuständigen Parlamente getroffen werden und dann über die jeweiligen Bildungs- und Wissenschaftsministerien an den Universitäten umgesetzt werden, haben wir es in der Hochschulpolitik zunehmend mit einem Phänomen zu tun, das in der Politikwissenschaft als „Politikverflechtung“ bezeichnet wird (siehe Scharpf 1978, 1985). Die Verantwortung für die Gestaltung der Studiengänge wird zwischen europäischen Institutionen,
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nationalen Regierungen, Regionalregierungen, halbstaatlichen Akkreditierungsräten, privaten Akkreditierungsagenturen, Hochschulen sowie Fachbereichen, Fakultäten oder Instituten hin und hergeschoben. Ob eine solche Verteilung von Verantwortung auf sieben oder mehr verschiedene lokale, regionale, nationale und internationale Ebenen letztlich zu einer Steigerung der Qualität von Studiengängen beiträgt, ist in der hochschulpolitischen Debatte umstritten (siehe zum Beispiel eher bejahend Schade 2005; eher zweifelnd Kempen 2009). Sicher ist jedoch, dass die Zurechnung von Verantwortung nicht einfacher geworden ist. In der Forschung über Politikverflechtung, die sich mit so unterschiedlichen Themen wie Wohnungsbau, Agrarstrukturpolitik oder Wirtschaftsförderung beschäftigt hat, ist jedoch immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die Einbeziehung verschiedener Ebenen zu einer Blockade von Sachentscheidungen führen kann. Es komme deswegen, so eine Beobachtung, aufgrund der Zusammenwirkung verschiedener Ebenen zu einer Status-quo-Orientierung aller Beteiligten (vgl. dazu Benz 2003: 219ff.). Bei der BolognaReform fällt jetzt jedoch auf, dass es nicht zu einer solchen den Status quo stabilisierenden „Politikverflechtungsfalle“ gekommen ist, sondern dass sich vielmehr ein neues, seltsam rigides Rahmenkonzept für Studiengänge durchgesetzt hat. Wie ist es zu erklären, dass es zu der Entwicklung eines solch rigiden Rahmens gekommen ist?
7.2 E RKLÄRUNGEN
JENSEITS DER I DEE EINES HOCHSCHULPOLITISCHEN M ASTERPLANS
Es fällt auf, wie vage die Bologna-Erklärung und die entsprechenden Folgeerklärungen der europäischen Bildungsminister gehalten sind. Die Bologna-Erklärung ist auf den ersten Blick nur eine Sammlung schöner Worte. Es ist von einem „Europa des Wissens“ die Rede, das eine „unerlässliche Voraussetzung“ für „menschliche Entwicklung“ sei. Ein „Europäischer Hochschulraum“ könne, so die Erklärung, seinen „Bürgern die notwendigen Kompetenzen für die Herausforderungen des neuen Jahrtausends“ bieten. Aber nicht nur das: Ein „Europäischer Hochschulraum“ schaffe, so der Tenor der Erklärung, auch „ein Bewusstsein für gemeinsame Werte“ und
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darüber hinaus ein „Gefühl der Zugehörigkeit“ in einem gemeinsamen „kulturellen Raum“. Dies habe eine zentrale Bedeutung für die „Entwicklung und Stärkung stabiler, friedlicher und demokratischer Gesellschaften“ (Bologna-Erklärung 1999: 1f.).1 Auf den Folgekonferenzen, auf denen sich die Bildungsminister in unterschiedlichen Abständen treffen, wird die schon beeindruckende Werteliste der Bologna-Erklärung weiter ergänzt. Studierende werden als „gleichberechtigte Mitglieder der Hochschulgemeinschaft“ gepriesen und ihre stärkere Einbindung als „kompetente, aktive und konstruktive Partner“ bei der Entwicklung von Studiengängen gefordert (Prager Erklärung 2001: 3 und 7; siehe auch Berliner Erklärung 2003: 6). Es wird – einen in den 1990er Jahren einsetzenden internationalen Diskurs aufgreifend – betont, dass „Lebenslanges Lernen“ zentral für eine „wissensbasierte Gesellschaft“ sei (Prager Erklärung 2001: 7). In Weiterführung dieses Gedankens wird hervorgehoben, dass „auch außerhalb der Hochschule erworbene Kenntnisse“ – „das sogenannte informelle Lernen“ – eine wichtige Rolle spielen solle (Bergener Erklärung 2005: 4). Es wird unterstrichen, dass es bei der „Verwirklichung des Europäischen Hochschulraumes“ – wegen Verselbstständigung des Prozesses wird das Adjektiv „europäisch“ inzwischen großgeschrieben und der Begriff in den Verlautbarungen häufig nur noch mit „EHR“ abgekürzt – darauf ankomme, Studierende auf „ein Leben als aktive Bürger in einer demokratischen Gesellschaft“ vorzubereiten (Londoner Erklärung 2007: 1). Es wird herausgestellt, dass die Hochschulbildung durch
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Der Text liest sich als Ganzes noch schwülstiger, weil es in der Erklärung eine Tendenz gibt, Adjektive in nicht abgestimmter Form miteinander zu kombinieren. Es ist von den „geistigen, kulturellen, sozialen und wissenschaftlichtechnologischen Dimensionen“ die Rede, von einem „gemeinsamen sozialen und kulturellen Raum“, von Voraussetzungen für „gesellschaftliche und menschliche Entwicklung“. Ungeklärt bleibt dabei zum Beispiel, wie „gesellschaftlich“ und „menschlich“ zusammenhängt, ob der „kulturelle Raum“ nicht lediglich eine Unterkategorie des „sozialen Raums“ ist, was die „geistige Dimension“ Europas in Abgrenzung von einer „kulturellen Dimension“ sein soll und ob damit so etwas wie eine „Aura“ gemeint ist, die sich in Europa ausbreitet. Mir ist selbstverständlich klar, dass begriffliche Stringenz von Bildungspolitikern nicht erwartet werden kann, weil sich bei der Verabschiedung einer politischen Erklärung eine große Zahl von Ministern einigen müssen. Ich habe mir aber erlaubt, aus Lesbarkeitsgründen die weitgehend unkontrollierten Adjektivkombinationen der Erklärungen etwas zu entschlacken.
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die „Anhebung des Bildungsniveaus“ eine „bedeutende Rolle“ beim „Abbau von Ungleichheit“ spiele und „daher“ (sic) das „Potenzial der Einzelnen im Hinblick auf die persönliche Entwicklung“ auszuschöpfen sei (Londoner Erklärung 2007: 5). Alle Werte, die in der Bildungspolitik, so die Einschätzung von Barbara Kehm und Ulrich Teichler (2006: 57), gerade als „gut und wichtig“ betrachtet werden, werden durch die einfache „Aufnahme in einen Spiegelstrich“ des Communiqués heiliggesprochen. Ebenso wie die Einführung des Bachelors und Masters wird die Kunstwährung ECTS fast nur beiläufig in den Erklärungen erwähnt. In der Bologna-Erklärung ist lediglich die Rede von der „Einführung eines Leistungspunktesystems“, das die Anrechenbarkeit von an verschiedenen Universitäten erbrachten Studienleistungen vereinfachen soll. Lediglich zur Illustration wird erwähnt, dass es ein System „ähnlich dem ECTS“ sein soll, mit dem im Rahmen der frühen Mobilitätsförderungsprogramme experimentiert wurde (vgl. Bologna-Erklärung 1999: 4). Es wird in der Bologna-Erklärung also offengelassen, wie das Leistungspunktesystem heißen sollte, welche Zeiteinheiten – wenn überhaupt – diesem System zugrunde gelegt werden sollten, in welchen Einheiten – in Form von Veranstaltungen oder in Modulen – diese Punkte gesammelt werden sollen, und ob dieses System zur Anrechnung von Leistungen nur jener Studierender dienen soll, die von einer Uni zu einer anderen wechseln, oder es auch Studierende erfassen soll, die ihr ganzes Studium an nur einer einzigen Universität absolvieren. In den Folgekonferenzen wird zwar dann schon konkreter von „ECTS“ oder einem „ECTS-kompatiblen System“ gesprochen, das auch die „Kumulation“ von Leistungspunkten ermöglicht (vgl. Prager Erklärung 2001: 4), und es wird darauf hingewiesen, dass das European Credit Transfer System auch bei der „Entwicklung“ ganzer Studiengänge eine Rolle spielt (vgl. Berliner Erklärung 2003: 5); insgesamt bleiben die Konturen dieses zentralen Bausteins des „Europäischen Hochschulraums“ in den Erklärungen der Bildungsminister aber vage. Angesichts dieser nur sehr abstrakten Beschreibung dieses „Leistungspunktsystems“ ist es überraschend, wie rigide dieses System sich in einigen Ländern des Bologna-Raums darstellt. Inzwischen wird völlig selbstverständlich davon ausgegangen, dass die an anderen Universitäten erbrachten Leistungen in Zeitstunden verrechnet werden, dass alle Studierenden – nicht nur die auch an anderen Universitäten studierenden Studenten – der ECTS-Logik unterworfen werden sollen und dass nicht nur, wie in den
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USA, „Kontaktzeiten“ in Seminaren, Vorlesungen oder Übungen, sondern alle Zeiten, die ein Student oder eine Studentin mit seinem bzw. ihrem Studium zubringt, erfasst werden. In vielen, wenn auch nicht allen, Ländern des Bologna-Raumes wird inzwischen ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Kunstwährung nur in Modulen erworben, verrechnet und getauscht werden darf und dass verpflichtend über Prüfungen sichergestellt werden muss, dass die Zeit in den Modulen nicht nur abgesessen wurde, sondern auch erfolgreich zum Wissenserwerb genutzt worden ist. Wie konnte sich innerhalb von wenigen Jahren so deutlich der Charakter einer Kunstwährung ausbilden, der maßgeblich nicht nur zur Komplexitätsexplosion an den Hochschulen, sondern weitgehend auch zu den Verschulungstendenzen an den Hochschulen geführt hat? Der Stille-Post-Effekt – Wie sich Wissen über Bologna verbreitet Wegen der Abstraktheit der Absichtserklärung der europäischen Bildungsminister und der Unklarheit darüber, welche Richtlinien überhaupt zu beachten sind, herrschte bei den Studiengangsgestaltern große Unsicherheit darüber, was möglich ist und was nicht. Man wusste wegen der nebulösen Fassung der Erklärung gerade in den ersten Jahren einfach nicht, ob man die in ECTS-Punkten ausgedrückten Veranstaltungen und Prüfungen in Module zusammenfassen sollte oder nicht, wie groß oder klein die Module sein durften, wie genau die Modulbeschreibungen sein sollten und wie die Verrechnung mit ECTS-Punkten überhaupt aussehen kann. So bildeten sich auf nationalen, regionalen und lokalen Ebenen Gerüchte, welche Standards bei der Studiengangsgestaltung „durchgehen werden“ und welche nicht. Schon auf der Ebene der nationalen oder regionalen Bildungsministerien – im Gegensatz zur EU ja die einzige Ebene, auf der verbindliche Richtlinien für die Bildungspolitik erlassen werden können – wurde spekuliert, welche Form der Kunstwährung sich europaweit durchsetzen wird. Auf der Ebene der Universitätsleitungen wurde dann erwogen, wie die häufig auch eher nebulösen Rahmenrichtlinien der nationalen und regionalen Bildungsministerien wohl von den für die Genehmigung zuständigen Akkreditierungsstellen – und darauf aufbauend von den Gutachtern vor Ort – interpretiert werden würden. In den Fakultäten, Fachbereichen und Instituten, also auf der Ebene, die letztlich für die Entwicklung der
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Studiengänge zuständig ist, konnte dann wiederum gerätselt werden, welche der häufig sich widersprechenden Richtlinieninterpretationen sich auf Universitätsebene durchsetzen werden und wie viel Spielraum man innerhalb dieser Richtlinien hat. In der Organisationsforschung wird diese Veränderung von Informationen über mehrere „Interpretationsstellen“ als „Stille-Post-Effekt“ bezeichnet.2 Häufig werden die Informationen auf dem Weg durch verschiedene Organisationen immer wieder geändert und modifiziert (vgl. Luhmann 2010: 202). Jede Stelle, durch die die Information läuft, ergänzt, verändert oder kürzt, sodass die Information, die auf der operativen Ebene oder an der Spitze der Organisation ankommt, häufig wenig mit der ursprünglichen Information zu tun hat. Man braucht sich nur mal mit einer Sachbearbeiterin zu unterhalten, die durch Zufall einen Vermerk in die Hand bekommt, für den sie ursprünglich den ersten Entwurf geschrieben hat und den man aufgrund der Veränderungen durch die nächsthöheren Hierarchiestufen kaum noch wiedererkennt (vgl. Kühl 2011: 74ff.). Auffällig ist jedoch, dass der Stille-Post-Effekt der Bologna-Reform den vermeintlichen Spielraum für die Länder, für die Universitäten und für die Fakultäten, Fachbereiche und Institute, die letztlich für die Studiengänge verantwortlich sind, immer weiter eingeschränkt hat. Hauke Brunkhorst (2006) stellt fest, dass schon auf der nationalen Ebene die „in Wahrheit völlig unverbindlichen Empfehlungen einer Versammlung diverser Minister und Staatssekretäre“ so präsentiert wurden, als wenn ihnen „unbedingt Folge zu leisten wäre“, frei nach dem Motto „Höhere Wesen befahlen ...“. Auf der Ebene der Universitäten – und weitergehend auf der Ebene der Fakultäten, Fachbereiche und Institute – wird dieser Prozess fortgeführt, wenn sehr enge Regelungen mit vermeintlichen Vorgaben, Richtlinien und Präzedenzentscheidungen von staatlichen Genehmigungsbehörden oder Akkreditierungsagenturen begründet werden. Der Tenor ist: „Interessante Idee, aber das bekommen wir bei der Akkreditierung nicht durch“. Diese Tendenz einer immer engeren Auslegung der Informationen im Laufe der Weitergabe in der „Stille-Post-Kette“ lässt sich an verschiedenen
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Die Idee, das Konzept des für Organisationen allgemein bereits beschriebenen „Stille-Post-Effekts“ auf den Bologna-Prozess zu übertragen, stammt von Bernd Kleimann. Soweit ich weiß, hat er diesen Gedanken leider noch nicht in einer Publikation dargelegt.
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zentralen Aspekten des Reformprozesses belegen. Anfangs war bei den Treffen der Bildungsminister noch nicht einmal die Rede davon, dass Leistungspunkte nur in der Container-Form von Modulen erworben, verrechnet und umgetauscht werden müssen, dann wurde irgendwann in der Praxis der Studiengangsentwicklung bei den meisten Unis davon ausgegangen, dass jede einzelne Veranstaltung, jede einzelne Prüfung Teil eines solchen Moduls sein muss, und irgendwann kursierten Gerüchte, dass es nicht möglich sein dürfte, dass ein Modul aus einer einzigen Veranstaltung besteht. Ähnlich verhielt es sich mit den Auffassungen über Prüfungen. Weil Module als Konzept von den Bildungsministern auf der Bologna-Konferenz noch gar nicht erwähnt wurden, gab es natürlich auch keine Vorstellung darüber, ob und wie Module abgeprüft werden müssten. Irgendwann bildeten sich auf der Ebene von Hochschulen Gerüchte aus, dass jedes Modul notwendigerweise durch eine Prüfung abgeschlossen werden müsste, bis dann bei der Studiengangsplanung immer wieder auch Stimmen zu hören waren, dass solche Prüfungen zu benoten seien und diese Noten verpflichtend in die Endnote eines Studiums eingehen müssten. Ganz ähnlich auch bei der Formulierung von Lernzielen: Anfangs gab es lediglich unter Studiengangsplanern kursierende Informationen, dass in einem Modul „thematisch zusammenhängende Veranstaltungen und Prüfungen“ zusammengefasst werden sollten. Dann kamen Gerüchte auf, dass Module nur dann durch die Universitätsleitung, durch die Akkreditierungsbehörde, durch das Bildungsministerium, durch die europäischen Bildungsminister oder – in der interessantesten Form des Gerüchts – durch die Staatschefs der Europäischen Union genehmigt werden würden, wenn das Lernziel für jedes Modul ausführlich und trennscharf zu den anderen Modulen beschrieben werden würde, bis sich dann in einigen Universitäten die Interpretation durchsetzte, dass Studierende selbst bei permanent wechselnden inhaltlichen Veranstaltungen in einem Modul jedes Modul nur ein einziges Mal studieren dürften, weil man ja durch das Belegen eines aus zwei zweistündigen Seminaren bestehenden Moduls „Englische Literatur“, „Soziologische Theorie“ oder „Buddhismus“ alles gelernt haben muss, was man zu diesem Thema entsprechend der definierten Lernziele wissen muss.3
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Auch hier fehlt es an ausführlichen Mikrostudien, wie sich in den einzelnen Ländern bestimmte Interpretationen ausgebildet haben. Es ist nur zu hoffen,
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Aber – diese Frage liegt auf der Hand – weswegen führte der „StillePost-Effekt“ nicht zu einer großen Interpretationsfreiheit auf der Ebene der Institute, Fachbereiche und Fakultäten, sondern im Gegenteil in den meisten Fällen dazu, dass sich Interpretationen durchsetzten, die Handlungsspielräume als eher gering erscheinen ließen? Universitäten im Wettbewerb um die „Bologna-Reinheit“ Nach der Verkündigung der Bologna-Erklärung gab es kaum Vorstellungen darüber, wie die hehren Ziele vor Ort umgesetzt werden sollen (Reuter et al. 2003). Angesichts dieser Unklarheit hatten die Hochschulen eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Sie konnten abwarten, bis die vagen Formulierungen der europäischen Bildungsminister durch ihr zuständiges Bildungsministerium in verbindliche Richtlinien umgesetzt werden, oder sie konnten damit beginnen, im Rahmen von einigen nur sehr vagen Vorgaben der Bildungsministerien zu experimentieren. Interessant ist, dass ausgehend von den „Schlagwörtern“ der BolognaErklärung und einiger schon vor Bologna formulierten Reformpapiere sich viele Universitäten, so Jens Maeße, „selbstständig auf die Suche nach möglichen Bedeutungen“ begeben haben. Universitäten fingen an, Umsetzungsmöglichkeiten für die Proklamationen der Bologna-Reform zu suchen, Modell-Studiengänge zu entwickeln und eigene universitätsweite Richtlinien für die Einrichtung von zweigliedrigen Studiengängen und die Verrechnung von ECTS-Punkten zu erlassen. Jens Maeße (2010: 132) spricht hier von einem „kreativitätsstiftenden Charakter“ der BolognaReform, die „streng genommen keine Reform“, sondern eher „eine Aufforderung zur Reform“ gewesen sei. Aber weswegen ließen sich die Universitäten überhaupt auf solche Experimente ein? Weswegen warteten viele Universitäten nicht ab, welche übergreifenden Richtlinien sich ausbilden, welche Fehler andere machen, um dann möglichst gleich im ersten Wurf ein konsistentes und auf der Erfahrung anderer aufbauendes Studiengangskonzept umzusetzen?
dass es statt der immer gleichen Aufzählung der groben Ziele der BolognaReform in absehbarer Zeit solche Detailstudien über die Rigidisierungen (und auch Auflockerungen) einzelner Elemente der Hochschulreform geben wird.
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Auf der internationalen Ebene schien relativ schnell ein „Prestigekampf“ darum entstanden zu sein, zu den „schnellsten“ und „besten“ Mitgliedern bei „der Umsetzung der verabredeten Strategie“ zu gehören (Maeße 2010: 47). Vor den Folgekonferenzen wurden Fortschrittsberichte aus jedem Bologna-Land eingefordert, und es wurde verglichen, wie viel Prozent der Studiengänge auf eine Bachelor- und Masterstruktur umgestellt wurden, wie umfassend die Berechnung jeder Arbeitsstunde von Studierenden in ECTS-Stunden umgesetzt wurde und welche Modelle der Modularisierung entwickelt wurden. Länder, die auf diesen Konferenzen keine Erfolge vorzuweisen hatten, galten schnell als „Nachhinker“. Aus diesem Grund drängten die Bildungsministerien in den jeweiligen Staaten darauf, dass die Universitäten möglichst schnell „Bologna-konforme Studiengänge“ einführen, und nutzten dazu ein neues Steuerungsinstrument gegenüber den Universitäten: Seit dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts werden in verschiedenen europäischen Staaten immer öfter Leistungsvereinbarungen zwischen den zuständigen Bildungs- und Wissenschaftsministerien und den Universitäten abgeschlossen (vgl. König 2005, 2006; Kracht 2006). Dabei werden nicht nur quantitative Vorgaben wie Studierendenzahlen, Abschlussquoten oder Drittmittelquoten vereinbart, sondern auch Zeitpläne für die Umstellung von Forschungs- oder Studienstrukturen. Für Universitäten bestand damit nicht nur die Notwendigkeit, ihre in den Leistungsvereinbarungen verabredeten Studiengangsumstellungen einzuhalten, sondern es entstand auch die Möglichkeit, sich gegenüber den Ministerien durch eine besonders schnelle Einführung als „Planübererfüller“ zu profilieren. Dieser Prozess wurde durch die Europäische Union, die nationalen Bildungsministerien und die regionalen Bildungsverwaltungen durch das Auflegen von Förderprogrammen befördert. Es wurden Programme mit so wohlklingenden Namen wie „Tuning Educational Structure in Europe“ aufgelegt, durch die Universitäten sich eine Anschubfinanzierung für das Experimentieren mit „Bologna-konformen Studiengängen“ sichern konnten. Die Methode der Umsetzung über öffentlich bezuschusste Experimente, Evaluation der Erfahrungen, Austausch auf Konferenzen und Zusammenführung in Projekterfolgsberichten wird in der Politikwissenschaft als „Offene Koordinationsmethode“ – „Open Method of Coordination“ – bezeichnet (siehe zum Beispiel Amaral/Veiga 2006: 283ff. oder Walter 2006: 194).
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Diese Umstellung einzelner Studiengänge im Rahmen von Reformprozessen produzierte eine Sogwirkung für die Umstellung aller anderen Studiengänge einer Universität. Wenn ein Fachbereich einen einzelnen Studiengang, beispielsweise Politikwissenschaft, umstellte, dann war es begründungspflichtig, weswegen nicht gleichzeitig auch der Studiengang für Soziologie auf eine Bachelorstruktur umgestellt wurde, weil für den Studiengang Politikwissenschaft ja sowieso die Grundstrukturen des Nebenfaches Soziologie in ECTS-Punkten ausgedrückt werden mussten. Wenn eine Universität die Lehrerausbildung erst einmal nur für Englisch und Biologie auf Bachelor und Master umstellen will, können sich andere Lehramtsfächer wie Physik, Deutsch oder Geschichte der Umstellung nur noch schwer entziehen, weil ein Lehramtsstudium an einer Universität ja „aus einem Guss“ angeboten werden muss. Die Ratifizierung des Erprobten Angesichts dieser Entwicklung der Hochschulreform „von unten“ ist es erst einmal plausibel, wenn Jens Maeße feststellt, dass der Prozess der Hochschulreformen weder in Bologna noch an den Orten der Folgekonferenzen in Prag, Berlin, Bergen, London, Leuven, Wien oder Budapest begründet wurde, sondern „überall dort, wo sich Wissenschaftspolitiker, Hochschulangehörige und Bildungsexperten auf die Suche nach möglichen Bedeutungen und den naheliegenden Umsetzungsmöglichkeiten des BolognaProzesses gemacht haben“. Auffällig ist dabei auch, wie zurückhaltend – bewusst oder unbewusst – anfangs die Bildungspolitiker in den nationalen Hauptstädten Berlin, Paris oder London oder auch in den häufig sogar mächtigeren Bildungsministerien der jeweiligen Regionen damit gewesen sind, diese „Suche nach Bedeutungen und möglichen Umsetzungsmöglichkeiten“ durch zu verbindliche Rahmenrichtlinien zu beeinflussen (Maeße 2010: 132). Man fühlte sich ein bisschen an Mao Zedongs kurzzeitige Aufforderung an die chinesische Bevölkerung „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern“ erinnert, mit dem er einen Wettstreit um den richtigen Weg zu einer besseren Gesellschaft initiieren wollte (Teichler 2005: 307). Das hohe Maß an Heterogenität bei den Interpretationen vor Ort führte jedoch im Lauf des Prozesses dazu, dass der Druck zu einer Vereinheitlichung fast automatisch immer größer wurde. Schließlich war das Ziel des
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Bologna-Prozesses ja nicht ein Flickenteppich von lokalen Lösungen, sondern ein System, das die Vergleichbarkeit von Studienleistungen landes-, wenn nicht sogar europaweit sicherstellte. Mit Verweis auf die Notwendigkeit einheitlicher Interpretationen der Kunstwährung ECTS wenigstens innerhalb eines Nationalstaates verabschiedeten die Bildungspolitiker auf Nationalstaats- oder auf Regionalebene deswegen zunehmend für die Universitäten rechtlich verbindliche Verordnungen. Bei den Gesetzen oder Strukturvorgaben wurden dann – siehe der internationale Wettstreit um eine Vorreiterrolle im Bologna-Prozess – häufig in vielen Ländern die rigideren Deutungen und die am weitesten gehenden Umsetzungsversuche durch Verordnungen ratifiziert.4 In der Soziologie wird ein solches Vorschreiben von rigiden Strukturen, die sich eigentlich aber nur aufgrund von häufig sehr vagen oder gar falschen Annahmen über mögliche zukünftige Entscheidungen der höheren Instanzen ausgebildet haben, als „selbsterfüllende Prophezeiung“ beschrieben. Mit diesem Begriff bezeichnet Robert Merton (1995: 401ff.) das Phänomen, dass falsche oder unzureichende Vorhersagen, Interpretationen und Urteile einen sozialen Prozess so prägen können, dass dadurch, dass sich alle Akteure an diese ursprünglich falschen oder unzureichenden Annahmen anpassen, diese sich letztlich als richtig verfestigen. Man kennt den Effekt von Banken, die eigentlich über eine gute Liquidität verfügen, durch falsche Gerüchte über ihre mögliche Zahlungsunfähigkeit jedoch gezwungen werden, den sich nur aufgrund von Gerüchten an den Schaltern drängenden Kunden ihre Einlagen auszuzahlen und erst wegen dieses rapiden Mittelabflusses in die Insolvenz gezwungen werden (vgl. die Parabel von Merton 1995: 399ff.). Durch die Psychologie ist der sogenannte „PygmalionEffekt“ nachgewiesen, wonach die Leistungserwartungen, die Lehrende
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Wie stark selbst die Bildungspolitik von den Wirkungen ihrer eigenen rigiden Regelungen überrascht wurde, zeigt der Fall Deutschland: Die Bildungsminister mussten sich dazu verabreden, „die ländergemeinsamen Strukturvorgaben für die Bachelor- und Masterstudiengänge weitgehend zu flexibilisieren“ und „keine über die ländergemeinsamen Strukturvorgaben hinausgehenden spezifischen Länderregelungen zu treffen“ (Pressemitteilung der KMK vom 10.12.2009; siehe dazu Keller 2010: 202). Dass die neuen ländergemeinsamen Strukturvorgaben einige Monate später dann die Festschreibungen in Bezug auf ECTSPunkte, Modularisierung aller Studiengänge und verpflichtende Zweigliedrigkeit des Studiums bestätigten, ist sicherlich erklärungsbedürftig.
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ihren Schülern und Studenten entgegenbringen, deren faktische Leistungsfähigkeit bestimmen. Es ist experimentell nachgewiesen worden, dass, wenn man Lehrer von der Intelligenz eines Schülers überzeugt, der in Wirklichkeit lediglich per Zufall ausgewählt wurde, die Lehrer von ihm mehr erwarten als von seinen Mitschülern und am Ende dieser Schüler deswegen auch derjenige mit den höchsten Leistungssteigerungen ist (vgl. Rosenthal/Jacobson 1971: 115ff.). Und seit dem Bologna-Prozess können wir auch beobachten, wie häufig nur auf Spekulationen basierende restriktive Interpretationen und Annahmen über die Entscheidung von staatlichen Genehmigungsbehörden, Akkreditierungsagenturen oder Universitätsgremien dazu führen, dass diese ursprünglich überzogenen rigiden Interpretationen irgendwann in Gesetze und Verordnungen gegossen werden.
7.3 V ON
DER N ÜTZLICHKEIT DES „B LAME FÜR DEN B OLOGNA -P ROZESS
G AMES “
Diese Schilderung der Entscheidungsprozesse macht deutlich, weswegen die Suche nach Adressaten für eine Kritik an den Effekten der BolognaReform so schwierig ist. Das sehr eigene Geflecht von hochschulpolitischen Akteuren hat zu einer eigenen Form der „Vernebelung“ der Verantwortung für die Effekte der Bologna-Konferenz geführt (Maeße 2010: 44). Wir wissen jetzt aus der organisationswissenschaftlichen Forschung, dass es bei allen als problematisch eingeschätzten Entscheidungsprozessen eine Tendenz gibt, die Verantwortung für diese Entscheidungen diffundieren zu lassen, um nur dann Verantwortung für sich selbst zu reklamieren, wenn sich in der Wahrnehmung der Beteiligten eine Maßnahme als Erfolg herausgestellt hat (vgl. dazu Jackall 1988: 78ff.). Über dieses normale Phänomen der erfolgsabhängigen Verantwortungsablehnung oder -übernahme hinausgehend, gibt es jedoch für den Bologna-Prozess eine besondere Spezifik. Das „Bologna Blame Game“ kennt faktisch keine Grenzen, weil durch das Hinzukommen einer Vielzahl von neuen „Steuerungsakteuren“, wegen der oft nur vage formulierten Regelungen und der häufig nur auf Gerüchten basierenden Implementierung kaum mehr Verantwortliche benannt werden können. Ein vorschneller Reflex von Praktikern könnte es jetzt sein, automatisch die Einführung „klarer Verantwortlichkeiten“ für hochschulpolitische Ent-
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scheidungen zu fordern (vgl. nur beispielhaft Erhardt/Meyer-Guckel/Winde 2008: 16). Schließlich besteht aus der Perspektive von Praktikern eine gewisse Ironie darin, dass parallel zum Aufkommen eines inzwischen allgegenwärtigen Qualitätsdiskurses in der Hochschulpolitik die Zurechnung von Verantwortungen deutlich schwieriger wird. Diese Forderung von Praktikern nach „klareren Verantwortlichkeiten“ würde jedoch verkennen, dass das seit Jahren ablaufende „Blame Game“ für die Bologna-Reform eine wichtige Funktion erfüllt: Mit dem Hinweis auf die Verantwortlichkeit anderer wird – wie gezeigt – die Hoffnung aufrechterhalten, dass sich alles zum Guten wenden wird, sobald andere nur „bessere Entscheidungen“ treffen würden. Wenn denn doch, so die Klage der Universitätsleitungen, die Professoren endlich erkennen würden, dass sie für das „Herstellen von Studienplänen“ nicht ausgebildet sind und sich endlich entsprechend „nachschulen“ ließen (vgl. zum Beispiel Daxner 2009). Wenn doch, so die Entgegnung der Lehrenden, das Personal der Universitätsjustiziariate, Bologna-Service-Stellen und Studiengangs-Stabsstellen endlich einmal begreifen würde, dass ihre Richtlinien und Vorgaben für die Praxis von Studiengängen an ihrer Universität weitgehend ungeeignet sind. Und die Zurechnung auf die vermeintlich deutschen, französischen oder italienischen Unfähigkeiten in der Umsetzung ermöglichen es, die Hoffnung aufrechtzuerhalten, dass alles funktionieren würde, wenn man denn nur so fähige Bildungspolitiker wie in Großbritannien, USA oder Kasachstan hätte. Motto: Der Plan von Bologna ist gut, nur leider sind die anderen noch nicht weit genug, diesen auch entsprechend umzusetzen.
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Was tun? Zum Umgang mit den Nebenwirkungen der Bologna-Reform „Bei einem Zuviel an Ordnung entsteht Melancholie. Es mag also sein, daß man uns eine überorganisierte, melancholische Universität beschert.“ DER SOZIOLOGE NIKLAS LUHMANN (1979: 5) IN EINER STELLUNGNAHME ZUR EINFÜHRUNG NEUER INSTRUMENTE IN DER HOCHSCHULSTEUERUNG ENDE DER 1970ER JAHRE
„Unumkehrbar“, „Kein Zurück mehr“ oder der „Zug ist nicht zu stoppen“ – mit diesen Worten wird der Bologna-Prozess gern beschrieben. Johanna Witte (2006: 21), Mitarbeiterin einer durch öffentliche Mittel geförderten Promotionsagentur für die Bologna-Reform, stellt kurzerhand fest, dass der „Umsetzungsprozess“ von Bologna „unumkehrbar“ sei. Ins gleiche Horn stoßen Wolfgang Jäger und Uwe Dieter Steppuhn (2005: 7) von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, wenn sie deklarieren, dass „alle Beteiligten“ begreifen müssten, „dass der Bologna-Zug abgefahren ist und dass es keinen Weg zurück gibt.“ Diese Stellungnahmen erinnern ein bisschen an das in der Politik populäre Wort „alternativlos“, mit dem Kritik an einem Vorhaben abgewiesen wird. Es mag ja berechtigte Einwände geben, es wird sicherlich auch Probleme geben, aber, so der Grundtenor in der Alternativlosigkeitsphraseologie, wir können nicht mehr anders. Im Fall der Bologna-Reform wird die vermeintliche „Alternativlosigkeit“ damit begründet, dass man – bei allen berechtigten Zweifeln – als einzelner Staat und erst recht nicht mehr als einzelnes Bundesland, einzelner Kanton oder einzelne Region aus dem europäischen Konzert der Bildungspolitiker ausscheren kann. Zu viele Staaten, so das Argument, hätten sich
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bereits auf eine gemeinsame Vorgehensweise geeinigt. Schon bei der Bologna-Konferenz hätten sich ja bereits neunundzwanzig europäische Staaten auf eine gemeinsame Politik geeinigt (beziehungsweise sogar dreißig, wenn man Liechtenstein mitzählt, dessen Unterschrift bei der Bekanntgabe der Bologna-Erklärung ursprünglich übersehen wurde). Selbst Staaten wie Moldawien, Russland oder Kasachstan, die normalerweise nicht unbedingt zu den Kernstaaten der Europäischen Union gerechnet werden, würden sich inzwischen zu den Prinzipien eines gemeinsamen europäischen Hochschulraums bekennen. „Bolognaropa“ erstrecke sich, so die Argumentation, jetzt schon von Tromsø in Norwegen bis Nikosia auf Zypern, von Reykjavik in Island bis Wladiwostok in Russland (Keller 2005: 63), da gebe es bei aller berechtigten Kritik einfach keinen Weg mehr zurück. In der Organisationsforschung wird eine solche „Verriegelung“ von möglicherweise ineffizienten, teilweise auch kontraproduktiven Prozessen aufgrund einer sich weltweit durchsetzenden Standardisierung als „lock in“ bezeichnet. Das bekannteste Beispiel für ein solches „lock in“ ist das sogenannte QWERTY-Tastaturlayout. Die QWERTY-Tastatur, benannt nach den ersten sechs Buchstaben auf der obersten Reihe der US-amerikanischen Schreibmaschinentastaturen, dominiert heute – mit minimalen länderspezifischen Modifikationen – die Gestaltung von Schreibmaschinen und Computern. Das QWERTY-Layout, mit dem sich heute jeder mehr oder minder intensiv herumquält, ist jedoch ein ineffizientes und benutzerunfreundliches System, weil die am häufigsten benutzten Tasten vergleichsweise schwer zu erreichen sind. Der Grund für diese Benutzerunfreundlichkeit ist, dass das heute noch dominierende Tastaturlayout 1873 entwickelt wurde, um die Sekretärinnen in ihrer Tippgeschwindigkeit abzubremsen. Die Typenhebel der damals in Mode kommenden mechanischen Schreibmaschinen drohten sich zu verhaken, wenn die Schreibkräfte zu schnell wurden, und man brauchte deswegen eine Tastaturanordnung, die die Schreibgeschwindigkeit reduzierte. Als die Remington Sewing Machine Company in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit der Massenproduktion von Schreibmaschinen mit der QWERTY-Tastatur begann, eigneten sich aber immer mehr Schreibkräfte dieses System an. Andere Schreibmaschinenhersteller waren deswegen gezwungen, sich dem QWERTY-Modell anzupassen. Nach und nach verschwanden andere, höhere Tippgeschwindigkeiten zulassende Modelle vom Markt, und heute, da die technischen Möglichkeiten von Computern keine Begrenzung mehr für ein effektiveres System
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darstellen würden, ist aufgrund dieser Verriegelung durch Standardisierung die QWERTY-Tastatur wohl für immer Teil der westlichen Tippkultur geworden (vgl. dazu die grundlegende Studie von David 1985 und David 1986). Aber hinter der konstatierten „Unumkehrbarkeit“, den vermeintlich „verbauten Wegen zurück“ und den beobachteten abgefahrenen „BolognaZügen“ bleibt häufig verborgen, was denn genau „unumkehrbar“ ist. Sind schon die verbalen Bekenntnisse zu Bologna nicht mehr zurückzunehmen? Ist die zweigliedrige Studienstruktur unumkehrbar? Kann auf die ECTSPunkte nicht mehr verzichtet werden? Es lohnt sich, etwas genauer zu analysieren, welche Elemente in der Bologna-Reform verriegelt sind, wie diese Verriegelungen genau aussehen und welche Möglichkeiten zur Entriegelung von bestimmten Teilelementen bestehen. Dies soll abschließend – eine in der Hochschuldebatte verbreitete Metapher von der Bologna-Reform als Medikament aufgreifend – näher beleuchtet werden. Zur Entstehung eines Wirkstoffes Die Bologna-Reform wird gern als Medikament zum Kurieren von lange bekannten Missständen an den Hochschulen bezeichnet (vgl. Winter 2009: 83). Es wird die Hoffnung geäußert, dass durch die Zweigliedrigkeit der Studiengänge einerseits die Akademikerquote erhöht wird, weil ja bereits ein Bachelorabschluss als Studienabschluss gilt, gleichzeitig aber durch die Erfahrung des Bachelorstudiums eine „Abkühlung der Studierneigungen“ (Pasternack 2001: 101) stattfindet, weil nach so einem Studium deutlich weniger Studierende ein Interesse daran haben, ihr Studium fortzusetzen. Der Anteil der Studienabbrecher soll, so eine weitere Hoffnung, gesenkt werden, weil statt eines Versandens im Laufe eines langen Diplom-, Magister oder Staatsexamensstudiengangs die Studierenden mit dem Bachelor ein auch in der Praxis verwendbares „Studienabbruchzertifikat“ erhalten würden (Pasternack 2006: 329).1
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Die Rede vom Bachelorabschluss als „Studienabbruchzertifikat“ geht schon seit Anfang des 21. Jahrhunderts durch die Fachpresse. Meines Erachtens wird dabei jedoch verkannt, dass der Bachelorabschluss sich nicht nur als Studienabbruchzertifikat eignet, sondern besonders auch als „Studiengangswechselzertifikat“. Nachdem man als Student oder Studentin festgestellt hat, dass einem ein diszi-
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Wenn man die Medikamenten-Metapher aufgreifen will, müsste man bei der Bologna-Reform genauer von einem „Kombimedikament“ reden, in dem so unterschiedliche „Wirkstoffe“ wie Zweigliedrigkeit des Studiums, Einführung von Leistungspunkten und Etablierung einer Modulstruktur miteinander kombiniert wurden. Man hat den Eindruck, dass die Bildungspolitiker, die in Bologna zusammenkamen, zwar eine Vorstellung von den „Krankheiten“ ihres Bildungssystems hatten und ihre Universitäten deswegen aufforderten, die damals in einigen anderen Ländern verwendeten Wirkstoffe wie Zweigliedrigkeit, Leistungspunkte und Modulstruktur in eigenen Mischungsverhältnissen miteinander zu kombinieren, man sich aber damals über deren Wirkweise weder im Einzelnen noch in Kombination klar gewesen ist. Die ECTS-Punkte waren für die europäische Hochschulpolitik deswegen zentral, weil sie den eher vagen Reformvorstellungen in der BolognaErklärung den Anschein von Operationalisierbarkeit gaben. Im Rahmen des Erasmus- und des Socrates-Programms der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise der Europäischen Union hatte man an einer sehr begrenzten Zahl von Hochschulen mit einem europaweit ähnlichen Kreditpunktesystem experimentiert (vgl. Eckhardt 2005: 25 und 84). Weil diese lediglich in einigen Universitäten experimentell eingeführten ECTS-Punkte eines der ganz wenigen Instrumente war, die man europaweit überhaupt zur Verfügung hatte, fand das Leistungspunktesystem Eingang zuerst in die Sorbonne-Erklärung und dann in die Bologna-Erklärung – auch um zu zeigen, dass man nicht nur hehre Ziele hat, sondern auch wenigstens eine grobe Vorstellung davon, wie diese Ziele umgesetzt werden sollen (vgl. Corbett 2005: 196). Faszinierend ist dabei, wie sich – wie bereits in den Überlegungen zur Kunstwährung gezeigt – das Einsatzfeld des Wirkstoffes ECTS-Punkte erweiterte. Ging es anfangs lediglich um die „Einführung eines Leistungspunktesystems“, um Studierenden, die an mehreren Universitäten studieren wollen, die Anrechenbarkeit von Studienleistungen zu erleichtern, wurde es
plinärer Studiengang wie Soziologie, Physik oder Romanistik nicht gefällt, quält man sich trotzdem bis zum Bachelor, um dann in einen weiterbildenden, interdisziplinär angelegten Master zu wechseln. Dass auch die disziplinär ausgerichteten Master inzwischen mit Quereinsteigern zu kämpfen haben, die häufig aus ihren interdisziplinär ausgerichteten Bachelorstudiengängen nur Basiskenntnisse in der Disziplin mitbringen, ist eine andere Geschichte.
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dann zunehmend als Allheilmittel präsentiert, mit dem die Transparenz des Studiums erhöht, die Studienzeiten verkürzt und aufgrund der „Wertsicherungsfunktion“ von Leistungspunkten auch ein „Lebenslanges Lernen“ ermöglicht werden kann (vgl. Schwarz/Rehburg 2003: 141ff.). Auch dies erinnert stark an die Vorgehensweise der pharmazeutischen Industrie: Man entwickelt für eine bestimmte Erkrankung einen Wirkstoff, aber sobald man ihn auf dem Markt platziert hat, werden zusätzliche Anwendungsfelder entdeckt, in denen sich der Wirkstoff auch noch bewähren könnte. In der Organisationswissenschaft werden solche Formen der Entscheidungsfindung mit dem Bild des Mülleimers beschrieben. In einer vorsoziologischen Entscheidungstheorie wird von der auf den ersten Blick plausibel erscheinenden Annahme ausgegangen, dass in Entscheidungsprozessen die zuständigen Akteure Probleme identifizieren und dafür geeignete Lösungen suchen. Die Organisationswissenschaftler Michael Cohen, James March und Johan Olsen (1972) haben jedoch in ihren Forschungen über Universitäten herausgefunden, dass Entscheidungsprozesse besser als ein „Mülleimer“ konzipiert werden können, in denen ganz verschiedene Probleme, Lösungen und Akteure vorhanden sind, die sich mehr oder minder zufällig aneinander anlagern. Dabei kommt es häufig vor, dass sich eine Lösung wie beispielsweise die ECTS-Punkte bereits im Raum befindet und dass sich an diese Lösung eine Vielzahl von Problemen wie beispielsweise lange Studienzeiten oder fehlende Transparenz des Studiums anlagern. An diese sich eher zufällig etablierenden Kombinationen wiederum lagern sich Akteure an – im Fall der ECTS-Punkte beispielsweise aus der Hochschulforschung –, weil sie für sich selbst Profilierungsmöglichkeiten sehen. Die Ausweitung der Anwendungsfelder des Wirkstoffes Man kann jetzt schon beobachten, wie der Wirkstoff ECTS-Punkte Phantasien freisetzt, was man mit diesen Punkten noch alles machen könnte. Die Ausweitung der Anwendungsfelder der ECTS-Punkte wird dabei besonders durch deren numerische Form befördert. Hat man erst einmal ein auf Zeitstunden basierendes Transfersystem etabliert, dann kann es leicht für weitere Zwecke verwendet werden. Wenn man sowieso als Maßnahme der Mobilitätsförderung alle an einer Hochschule angebotenen Veranstaltungen in eine Kunstwährung umrechnen muss, dann kann man – so die Logik – auch
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gleich die gesamte Planung der Hochschule mit dieser Kunstwährung in Beziehung setzen. Diese Aufladung der ECTS-Punkte durch die Kombination mit anderen Zahlen betrifft erst einmal vorrangig die Steuerung von Studierenden. Ein Feld, in dem schon jetzt die Kunstwährung ECTS mit vielfältigen anderen Zahlen kombiniert wird, ist die Notengebung. Weil ECTS-Punkte nur den durchschnittlichen Arbeitsaufwand von Studierenden messen, müssen ja getrennt davon die Noten für Arbeitsleistungen erhoben werden. In vielen Hochschulen werden die Noten jetzt bereits schematisch nach der Anzahl der Leistungspunkte für ein Arbeitspaket gewichtet. Je mehr Leistungspunkte für ein Modul vergeben werden, desto wichtiger ist die Note für dieses Modul dann auch für die Endnote. Aber auch weitere Anwendungsfelder sind vorstellbar. Universitäten experimentieren jetzt schon damit, die Zulassung zu weiterführenden Studiengängen davon abhängig zu machen, wie viele Leistungspunkte während des Bachelorstudiums in den für den Masterstudiengang relevanten Modulen erworben wurden. Eine Zulassung zu einem Studiengang „Politische Kommunikation“ erhält man dann eben nur, wenn man während des Bachelorstudiums mindestens sechzig Leistungspunkte in Politikwissenschaft und sechzig Leistungspunkte in Kommunikationswissenschaft erworben hat. Ebenfalls ist jetzt schon abzusehen – basierend auf Erfahrungen in den USA –, dass auch die Studiengebühren mit erworbenen ECTS-Punkten kombiniert werden können. Studierende würden – so die Idee – dann nicht mehr einen Pauschalbetrag pro Semester bezahlen, sondern ihre Gebühren abhängig von den ihren Modulen zugerechneten ECTS-Punkten entrichten (vgl. zur Debatte in den USA früh Altbach 2000: 85). Wenn gleichzeitig an einigen Hochschulen erwogen wird, Tutoren für Grundlagenveranstaltungen nicht mehr mit schnödem Mammon, sondern mit vermeintlich „geldäquivalenten“ ECTS-Punkten zu entlohnen (vgl. Fleck 2011: 294), ist abzusehen, welche Diskussionen in den nächsten Jahren über die „Steuerung von Studierenden“ anstehen werden. Aber auch die Leistung von Lehrenden kann an die Kunstwährung ECTS gebunden werden. Bisher wird das Deputat der Lehrenden an den meisten Universitäten nach einem relativ einfachen und bürokratiearmen Schema berechnet. Ob ein Lehrender (eine Professorin, ein Assistent oder eine Lehrbeauftragte) nun ein Seminar, eine Vorlesung, eine Übung oder
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ein Kolloquium abhält – jede „Kontaktstunde“ mit den Studierenden wird als Lehrdeputatsstunde angerechnet. Durch die ECTS-Punkte hat man jetzt jedoch – jedenfalls theoretisch – die Möglichkeit, die Deputate von Lehrenden völlig neu zu bestimmen. Man kann beispielsweise vor- und nachbereitungsintensive Seminarveranstaltungen, in denen Studierende viele ECTS-Punkte erwerben können, bei der Deputatsberechnung für Lehrende höher gewichten als nur mit wenigen ECTS-Punkten gewichtete Übungen, weil man davon ausgehen könnte, dass Übungen nach Schema F abgehalten werden und von Lehrenden nicht intensiv vor- und nachbereitet werden müssen. Man kann jetzt schon beobachten, wie die eine oder andere hochschulpolitische Denkschmiede anfängt, neben dem „European Credit Transfer and Accumulation System“ auch ein „European Teaching Load and Accumulation System“ (ETLAS) mit einer neuen Kunstwährung „teaching point“ zu entwickeln. Die Vorstellung von „teaching points“ als einer „neuen Plangröße“ besteht dabei darin, die „Semesterwochenstunde als Recheneinheit aufzugeben“ und eine „Einheit zu entwickeln, die sich – wie der Credit für die Leistung der Studierenden – am tatsächlichen (sic!) Arbeitsaufwand (workload) der Lehrenden orientiert“ (Yorck 2005: 600).2 Aber auch die Leistungsmessung von Instituten, Fakultäten oder auch ganzer Hochschulen kann mit der Kunstwährung ECTS verbunden werden.
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Wie das Kreditpunktesystem für Studierende mag auch dieser Vorschlag in seinen Planungs-, Steuerungs- und Gerechtigkeitsversprechen erst einmal verlockend klingen. Er ignoriert aber, dass dafür eine ganz eigene Verrechnungs-, Genehmigungs- und Kontrollbürokratie aufgebaut werden muss, die – weil der eigentliche Prozess der Lehre in letzter Konsequenz wegen seines Technologiedefizits nicht zu kontrollieren ist – leicht unterlaufen werden kann (vgl. dazu Luhmann/Schorr 1982). Man kann nur hoffen, dass die Vertreter solcher Modelle sich einmal etwas genauer die bereits bestehenden kleinen Versuche zur Differenzierung von Lehrdeputaten anschauen (zum Beispiel wenn ein Kolloquium nur zur Hälfte als Lehrdeputatsstunde angerechnet wird). Neben einem enormen Planungsaufwand scheint dies nur dazu zu führen, dass bestimmte Veranstaltungen entweder gar nicht mehr oder nur in der kaschierten Form einer Veranstaltung mit vollem Lehrdeputat angeboten werden. Angesichts dieser Planungsund Steuerungsphantasien kann man – einen Buchtitel aus einer dieser Denkschmieden paraphrasierend – von einer von staatlicher Bürokratie „entfesselten Hochschule“ sprechen, die sich dann hoffnungslos in einem selbst gestrickten Knäuel von detaillierten Richtlinien für Lehre und Studium verheddert (vgl. Müller-Böling 2000: 20ff., 39ff.).
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Im Moment scheint es an vielen Hochschulen noch eine abstruse Vorstellung zu sein, dass die Gesamtzahl an ECTS-Punkten nicht nur für einzelne Studenten, sondern auch verallgemeinert für ganze Studiengänge einer Fakultät oder einer Universität erhoben werden. Bisher mag es für viele Hochschulangehörige kaum vorstellbar sein, dass ein Institut irgendwann einmal vermeldet, dass in den Veranstaltungen des Wintersemesters eines Jahres insgesamt 32 423 ECTS-Punkte von Studierenden erworben wurden, und dass Universitäten mit Bildungsministerien Leistungsvereinbarungen abschließen, dass ihre Studierenden in einem Semester mindestens 2,5 Mio. ECTS Punkte erlangen – durch die IT-Systeme ließen sich diese Zahlen in vielen Hochschulen jetzt schon innerhalb weniger Minuten generieren. Erfahrungen mit dem Kreditpunktesystem in den USA und auch erste Erprobungen in europäischen Staaten deuten darauf hin, dass es wohl nur eine Frage der Zeit ist, bis die Kunstwährung auch in die Gesamtsteuerung von Universitäten über Leistungsindikatoren eingebunden wird (siehe nur beispielhaft zu den Diskussionen in der Schweiz Dietrich 2009, in den Niederlanden Gerritsen 2009 und in Deutschland Jaeger/Sanders 2009). In der Soziologie wird die Produktion neuer Zahlen durch die Verkopplung einer Zahl mit anderen Zahlen als „Hyperrealität“ (Vollmer 2006) bezeichnet. Zwar mögen Beobachter Zweifel an der Logik bei der Verknüpfung zweier Zahlen äußern – zum Beispiel von ECTS-Punkten mit Studiengebühren oder von allen an einer Uni erworbenen ECTS-Punkten mit Mittelzuweisungen –; unbestritten ist jedoch: Fasst man bestimmte Phänomene in die Form von Zahlen, entsteht eine Sogwirkung, diese Zahlen mit anderen Zahlen in Beziehung zu setzen und zu verrechnen. Von den Möglichkeiten, einen Wirkstoff vom Markt zu nehmen Die Nützlichkeit des „Kombimedikaments“ Bologna-Reform mit so unterschiedlichen Wirkstoffen wie Zweigliedrigkeit des Studiums, Einführung von Leistungspunkten und Etablierung einer Modulstruktur muss sich erst noch herausstellen. Ob die Zahl der Studienabbrüche sich verringern wird und ob die Mobilität zwischen Universitäten und die Qualität der Lehre sich wirklich verbessern werden, ist den vielen öffentlich geförderten „Arzneimittelprüfungen“ zum Trotz nicht abzusehen. Gerade angesichts der Vielzahl nur schwer zu durchschauender und nur unter Schwierigkeiten über-
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haupt studierbarer Studiengänge kann man Zweifel haben, ob die Probleme lediglich auf fehlerhafte Anwendung des Medikaments oder nicht vielleicht doch eher auf die Wirkstoffe selbst zurückzuführen sind. Eines kann man mit Sicherheit jetzt schon sagen: Als schwerwiegende „Nebenwirkung“ muss „Komplexitätssteigerung“ auf dem „Beipackzettel“ der Bologna-Reform vermerkt werden. Allen Versprechen zum Trotz, dass die neuen Studienstrukturen „transparent“, „erwartungssicher“ und „aufwandsarm“ sind (vgl. Schwarz/Rehburg 2003: 145), kann man feststellen, dass die Nebenwirkung „Komplexitätssteigerung“ mit einer massiv ansteigenden Bürokratisierung der Universitäten einhergeht und auch vielfach andere ungewollte Nebenfolgen wie beispielsweise eine zunehmende Verschulung mit sich bringt. Bei der Häufigkeitsangabe zu diesen Nebenwirkungen ist sicherlich eher ein „sehr häufig“ denn „selten“ oder „eher selten“ anzugeben. Die Nebenwirkungen der ECTS-Punkte sind so heftig, dass die Universitäten nicht so bald zur Ruhe kommen werden und wir deswegen an vielen Universitäten in den nächsten Jahren Reformen der Reformen der bereits schon mehrmals reformierten Bachelor- und Masterstudiengänge erleben werden. Aber Nebenwirkungen – das muss hervorgehoben werden – sprechen nicht pauschal gegen ein Medikament. Schließlich wissen wir seit der Arbeit des deutschen Pharmakologen Gustav Kuschinsky, dass, wenn eine Arznei „keine Nebenwirkung zeigt“, „der dringende Verdacht“ bestehe, dass sie „auch keine Hauptwirkung hat.“ Der Vorteil ist, dass wir bei dem „Kombimedikament“ Bologna-Reform mit den ECTS-Punkten inzwischen die Hauptursache für die Nebenwirkung Komplexitätssteigerung kennen. Dieses wachsende Wissen über die Nebenwirkungen des Wirkstoffes ECTS sollte es aber ermöglichen, das Medikament „Bologna-Reform“ nicht nur über immer wieder neue Versuchs- und Irrtumsschleifen weiterzutreiben, sondern systematisch vorzugehen. Dabei sind – die Metapher vom Medikament Bologna weiterführend – verschiedene Wege vorstellbar. Ein teilweise schon beschrittener Weg besteht darin, das System der Kreditpunkte – gerade in Kenntnis der Nebenwirkungen – weiterzuentwickeln. Weil es im Bildungsbereich bisher wenig Erfahrungen mit der Wirkung von Kunstwährungen gibt, bietet es sich hier an, bei diesen Lernprozessen Erfahrungen aus anderen Feldern heranzuziehen, in denen mit auf „Zeit“ basierenden Steuerungsmodellen gearbeitet wird. Besonders lehrreich können hier sicherlich die umfangreichen und gut dokumentieren Er-
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fahrungen mit der Planwirtschaft in sozialistischen Staaten sein, weil dort über Jahrzehnte – je nach Einschätzung von Beobachtern mehr oder minder erfolgreich – mit komplizierten Planungs- und Verrechnungsmethoden in und zwischen Organisationen gearbeitet wurde (siehe als für die Bildungsplanung gut geeignete Einstiege in Theorie und Praxis sozialistischer Wirtschaftsplanung Bergson 1964; Bettelheim 1971 oder Dobias 1977). Die am deutlichsten zu beobachtende Entwicklung besteht darin, neue Medikamente zu entwickeln, durch deren Gabe die ungewollten Nebenwirkungen der Kunstwährung im Bildungsbereich reduziert werden können. Ähnlich wie in den sozialistischen Staaten wird dabei besonders viel Hoffnung in die Entwicklung von umfassenden IT-Systemen gesetzt, um die „Planwirtschaft“ in den Griff zu bekommen (vgl. für den frühen Einsatz von IT-Systemen im Staatssozialismus nur beispielhaft Hardt et al. 1967). Aber gerade die ersten Erfahrungen der Hochschulen mit Campus-Management-Systemen und die soziologische Forschung über die Einführung von IT-Systemen legen die Vermutung nahe, dass die Versuche, durch Einsatz von EDV-Programmen eine Komplexitätsreduktion zu erwirken, ganz neue Komplexitätsherausforderungen mit sich bringen (vgl. Pollock/Williams 2009). Es kann jedoch – und eine gewisse Hoffnung auf die Ausbildung dieses Weges soll nicht verschwiegen werden – auch dazu kommen, dass vielleicht nicht das ganze Medikament Bologna, aber der Wirkstoff ECTS in seiner jetzigen Form vom Markt genommen wird, weil die Nebenwirkungen dieses Wirkstoffs in keinem Verhältnis zu den erhofften Effekten stehen. Das Kombimedikament Bologna-Reform würde dafür in drei unterschiedliche Medikamente „Zweigliedriges Studium“, „Modularisierung“ und „ECTS-Punkte“ aufgespaltet werden, und je nach Bedarf würde der eine oder andere Wirkstoff den Universitäten verabreicht werden. Der Effekt könnte sein, dass von vielen Universitäten nur noch das Medikament „zweigliedriges Studium“ genutzt werden wird und die Wirkstoffe „Modularisierung“ und „ECTS-Punkte“ nur noch in seltenen Fällen – und dann vielleicht auch in geringeren Dosierungen – zugesetzt werden.
Anhang – Zu den Schwierigkeiten eines soziologischen Zugangs zur hochschulpolitischen Praxis „‚Hochschulreform‘. Dafür kann man sich ereifern. Darauf kann man sich spezialisieren. Ein sinnvolles, überlegtes Wirken in diesen Zusammenhängen erfordert jedoch den vollen Einsatz aller Kräfte und ein absorbierendes Maß an auf dem Laufenden zu haltenden Informationen und Kontakten. Mit seriöser theoretischer Arbeit ist ein solches Engagement praktisch unvereinbar. … Für den Praktiker der Theorie ergibt sich daraus der Rat, angesichts kommender Wellen die Schwellen der Indifferenz höher zu mauern und entweder keine Manifeste zu unterschreiben oder alle.“ NIKLAS LUHMANN (1969: 143F.) IN ÜBERLEGUNGEN ZUR „PRAXIS DER THEORIE“
Die Besonderheit der Soziologie ist, dass sie – jedenfalls wenn sie ihren eigenen Standards genügen will – distanzierte Beschreibungen von Organisationen anfertigt. Während anwendungsorientierte Disziplinen wie die Theologie, die Betriebswirtschaftslehre oder die Pädagogik Rücksicht auf die von ihr beschriebenen Kirchen, Unternehmen oder Schulen nehmen und häufig für schon identifizierte Probleme die entsprechenden Lösungen mitliefern, fertigt die Soziologie als „Wissenschaft des zweiten Blicks“ Fremdbeschreibungen an, die von den Beschriebenen häufig als „ketzerisch“ wahrgenommen werden (Kieserling 2000: 39ff.). Für wissenschaftlich arbeitende Soziologen ist diese Distanz zum Gegenstand an sich kein Problem, weil ihre Erkenntnisse nicht vorrangig für die Beschriebenen bestimmt sind, sondern für andere in der Wissen-
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schaft tätige Soziologen. Und in der Kommunikation mit den Letztgenannten ist gerade die Anfertigung von distanzierten Fremdbeschreibungen sozialer Phänomene der erwartete wissenschaftliche Standard, von dem man nicht abweichen darf. Jedenfalls löst es innerhalb der wissenschaftlichen Disziplin Misstrauen aus, wenn die Fremdbeschreibung der Soziologen allzu sehr mit der Selbstbeschreibung der analysierten Organisation übereinstimmt (Luhmann 1977: 19ff.). Kommunikationsprobleme treten für wissenschaftlich arbeitende Soziologen daher dann auf, wenn sie ihre Erkenntnisse nicht den Fachkollegen, sondern den Mitgliedern der beschriebenen Organisationen zu vermitteln versuchen (vgl. Kühl 2003: 71ff.). Bei diesem Zusammenfallen des „Themas der Untersuchung“ mit dem „Adressaten der Untersuchung“ steht in der Regel eine soziologische Fremdbeschreibung gegen eine Selbstbeschreibung der Organisation – und damit eine „mehr oder minder respektlose Sicht gegen eine mehr oder minder systemloyale“ (Kieserling 2000: 79f.). Zwar lassen sich Organisationen gern von Soziologen über ihre Umwelt aufklären – eine Kirche beispielsweise über die Folgen einer neuen Familiengesetzgebung oder die Universität über die sich verändernden Erwartungshaltungen von Studierenden –, aber soziologische Beschreibungen der Organisationen selbst werden von den beschriebenen Organisationen häufig als Provokation wahrgenommen (Kieserling 2004: 152ff.). Für Unternehmen, Verwaltungen, Kirchen oder eben Universitäten ist es – um nur ein Beispiel zu bringen – eine eher unangenehme Beschreibung, wenn Soziologen konstatieren, dass die Veränderung von Formalstrukturen im Rahmen von Reorganisationen zwar keine Effizienzgewinne bringt (häufig sogar Effizienzverluste), diese Maßnahme aber trotzdem funktional ist, weil die Organisation sich nach außen als dynamisch präsentieren kann und so Legitimation gewinnt. Für wissenschaftlich arbeitende Soziologen gibt es jedoch interaktionelle „Stützen“, mit deren Hilfe sie in der Praxis – also bei den von ihnen beschriebenen Organisationen – Akzeptanz für ihre Fremdbeschreibungen finden können. Soziologen gewinnen Akzeptanz dadurch, dass sie erst einmal als „nicht involviert“ betrachtet werden. Weil sie als Wissenschaftler keine Aktien im alltäglichen Spiel der Organisation haben, wird ihnen eine gewisse „Objektivität“ des Urteils zugeschrieben. Dazu kommt, dass wissenschaftliche Insignien wie Doktor- und Professorentitel trotz der inflatio-
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nären Vergabe solcher Titel an außeruniversitäre Praktiker immer noch in den meisten Organisationen Kompetenzvermutungen hervorrufen. Die Erkenntnisse des Soziologen oder der Soziologin mögen erst einmal für die betroffenen Organisationsmitglieder irritierend klingen, aber von einem Professor oder einer Professorin einer Universität erwartet man, dass sie vielleicht ein bisschen „unverständlich“ sprechen, ihre Beschreibungen aber nicht völlig „irrsinnig“ sind. Genau dieser Blick auf die interaktionellen Stützen kann erklären, weswegen es schwierig ist, wenn Soziologen nicht nur über Universitäten forschen, sondern ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse auch in die Universität selbst zurückspiegeln wollen. Überspitzt ausgedrückt: Während man in Unternehmen, Verwaltungen, Armeen oder Krankenhäusern meistens interessiert den manchmal ketzerischen Beschreibungen der Herren und Damen Professoren lauscht, scheinen die organisationswissenschaftlich distanzierten Beschreibungen am Management von Universitäten eher abzuprallen. Erstens bringen die Universitätsleitung, die Stabsstellen der Universität oder auch die eigenen Kollegen in den Fachbereichen einem wissenschaftlich orientierten Organisationssoziologen eben nicht die „Neutralitätsvermutung“ entgegen, weil er vielleicht gerechtfertigterweise nicht als „objektiv“ forschender Wissenschaftler, sondern eher als interessiertes Organisationsmitglied wahrgenommen wird. Und zweitens kann man den „Professoren-Joker“, der in vielen Unternehmen, Verwaltungen oder Kirchen ausreicht, um erst einmal eine grundsätzliche Lauschbereitschaft zu produzieren, in Universitäten eben nicht ziehen. Schließlich ist in dieser Organisation jeder Professor oder mindestens auf dem Weg dahin, einer zu werden. Als Soziologe, der den Anspruch hat, seine analytischen Beschreibungen nicht nur innerhalb der Soziologie zu vermitteln, sondern auch mit den beschriebenen Organisationen darüber ins Gespräch zu kommen, habe ich bisher aufgrund dieser spezifischen Probleme der Vermittlung von soziologischen Erkenntnissen in der Hochschule davon abgesehen, mich – außer in einigen kleineren Beiträgen für Tages-, Wochen- oder Monatszeitungen – intensiver mit Hochschulen zu beschäftigen. Dann hatte ich jedoch an meiner Fakultät ein kleines Erlebnis, das ich mir – jedenfalls in dem Moment – beim besten Willen nicht erklären konnte und das bei mir ausreichend Neugierde weckte, um meine Forschungsperspektive wenigstens für eine begrenzte Zeit von Unternehmen, Verwaltungen, Kirchen, Armeen, Polizei und Parteien auf Hochschulen zu verlagern.
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Bei der Reform der Reform eines Bachelorstudiengangs an meiner Universität waren „aus Versehen“ zwei inhaltsgleiche Veranstaltungen zum Thema „Praxisbezüge von Sozialwissenschaftlern“ als Pflichtveranstaltungen vorgesehen worden. Weil diese in unterschiedlichen Modulen – einmal im Praktikumsmodul und ein andermal in einem Praxisanalysemodul – untergebracht waren, wurde die Inhaltsgleichheit der Veranstaltungen anfangs weder von den Entscheidungsgremien der Fakultät noch von der Lehrkommission der Universität entdeckt. Mein Hinweis auf die inhaltliche Doppelung konnte nicht mehr berücksichtigt werden, weil der Studiengang bereits durch die Fakultätskonferenz und die Lehrkommission der Universität verabschiedet worden war und man das Paket so kurz vor dem geplanten Start des Studiengangs nicht mehr aufschnüren wollte. Ich wurde aber damit beruhigt, dass es seit Beginn der Bologna-Reformen sowieso permanente „Nachbesserungen“ der Studiengänge gebe und man in der nächsten Umstellung einfach eine dieser beiden Veranstaltungen streichen würde. Weil aber nach dem Kraftakt der Erstellung eines neuen Studiengangs alle Beteiligten erschöpft waren, wurde das damals schon identifizierte Problem schnell vergessen. Das Problem kam erst wieder an die Oberfläche, als die Studierenden erstmals gezwungen waren, beide Veranstaltungen parallel in einem Semester zu belegen und sie aus nachvollziehbaren Gründen dagegen protestierten, in zwei Veranstaltungen genau das Gleiche zu lernen. Für diese revoltierende Kohorte mussten dann aufwendig informelle Umwege gebaut werden, die lauten Proteste wurden dann aber schließlich zum Anlass genommen, die Studienordnung an diesem Punkt zu ändern. Mein Schlüsselerlebnis, aufgrund dessen letztlich dieses Buch entstanden ist, war, dass man aufgrund der ausgefeilten ECTS-Zahlenarithmetik nicht einfach eine dieser Veranstaltungen streichen konnte. Ich konnte mich zwar in meiner Eigenschaft als einer der betroffenen Modulbeauftragten sehr schnell mit der anderen Modulbeauftragten darauf einigen, was das didaktisch sinnvolle Konzept für die Herstellung eines Praxisbezugs sei und dachte naiverweise, dass man das jetzt einfach nur entsprechend in der Studienordnung umsetzen müsste. Das Problem war jedoch, dass mit dem Streichen einer Veranstaltung plötzlich zwei Leistungspunkte beim Studiengang Soziologie fehlten: Dieser umfasste jetzt plötzlich nur noch 178 statt der erforderlichen 180 Leistungspunkte.
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Mein Vorschlag, dann einfach die verbleibende Veranstaltung mit vier statt mit zwei Leistungspunkten auszustatten, funktionierte nicht, weil mit dieser Veranstaltung auch die Studiengänge Politikwissenschaft und Sozialwissenschaften bedient werden sollten. Weil man den Anspruch hatte, ein einheitliches Praxismodul zu haben, das alle Studiengänge bedient, hätte man dann in den anderen Studiengängen plötzlich 182 statt 180 Leistungspunkte gehabt. Über Monate wurden von verschiedenen Studiengangsplanern Leistungspunkte für alle möglichen Veranstaltungen zwischen den drei Studiengängen hin und hergeschoben, wurde die Länge der Praktika verändert, um irgendwo Leistungspunkte einzusparen oder zu gewinnen, und geschaut, ob man nicht in anderen Modulen irgendwo Leistungspunkte verstecken konnte. Irgendwie – so die zunehmend verzweifelte Hoffnung der Beteiligten – müsste man es doch schaffen, die überzählige Veranstaltung zu streichen und gleichzeitig sicherzustellen, dass alle drei Studiengänge exakt auf 180 Leistungspunkte hinauslaufen. Nachdem mehrere Beteiligte jeweils über hundert Stunden Arbeit hineinsteckten, die entstehenden Konflikte zunehmend personalisiert wurden und der Druck aufgrund der protestierenden Studierenden anwuchs, wurde die Idee aufgegeben, einheitliche Modulund Veranstaltungsbeschreibungen für die drei Studiengänge der Fakultät zu bauen, stattdessen wurden eigene Lösungen für jeden Studiengang entwickelt, die aber jeweils so komplex waren, dass weder die Modulbeauftragten noch die Studiengangsbeauftragten diese erklären konnten. Aber irgendwie scheint es am Ende mathematisch aufgegangen zu sein. Bei aller Frustration über diese „verlorenen Stunden“ für eine eigentlich simple Anpassung hatte dies die ungewollte Nebenfolge, dass meine Neugierde geweckt war. Wodurch entstehen diese kafkaesken Situationen an den Hochschulen? Wie kommt es, dass seit der Umsetzung der Studienreformen bei der Studiengangsplanung die Logik der sinnvollen Abfolge von Veranstaltungen immer mehr von mathematischen Fragen der Zuweisung von Leistungspunkten überdeckt wird? Was führt seit den durch die Bologna-Erklärung angestoßenen Reformen dazu, dass Studiengänge entstehen, die kaum ein Mitglied der Fakultät mehr erklären kann? Weswegen befinden sich die Fakultäten, Fachbereiche und Institute in einer Art Dauerreform ihrer Studiengänge? Dieses Buch ist meine Antwort auf diese Fragen. Mein Ziel ist es dabei, erst einmal lediglich eine durch die Organisationsforschung inspirierte und gestützte Erklärung für die Effekte der Bolo-
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gna-Reform anzubieten. Dabei kommt es mir nicht darauf an, die Leser durch eine systematische ethnologische Forschung in der Universität zu beeindrucken, wie sie beispielsweise in der immer noch unübertroffenen Studie über Studierverhalten an Hochschulen von Howard S. Becker, Blanche Geer und Everett C. Hughes (1995) vorgenommen wurde.1 Vielmehr ist es mein Ziel, durch die Thesen über den besonderen Charakter der Kunstwährung ECTS, den sich ausbildenden Sudoku-Effekt an den Hochschulen, die Entstehung von Verschulung als ungewollter Nebenfolge, die informellen Umgehungsstrategien, die entstehenden bürokratischen Teufelskreise, die fast magisch erscheinende Auflösung der Verantwortlichkeit für die Reformen und die Ausbildung von Verriegelungsphänomenen Forschungen aus neuen sozialwissenschaftlichen Blickwinkeln zu stimulieren. Dabei käme es nicht darauf an – wie vielfach jetzt dominierend –, mit quantitativen Untersuchungen die Oberflächenstrukturen der Hochschulen abzutasten, sondern mit qualitativ ausgerichteten Untersuchungen die Tiefenstrukturen der Umsetzung der Reformen in den Hochschulen zu erfassen. Mit diesem Buch erhebe ich den Anspruch, die Situation an den Hochschulen so zu beschreiben, wie sie ist. In der Auseinandersetzung, die ich führen will, geht es mir primär darum, festzustellen, ob die „Realität“ an den europäischen Hochschulen in diesem Buch in angemessener Komplexität wiedergegeben wird. Bei allem Streben nach einer wissenschaftlichen Beschreibung der unter dem Label „Bologna“ stattfindenden Reformen mag aber an der einen oder anderen Stelle des Textes durchschimmern, dass ich nicht nur distanzierter wissenschaftlicher Beobachter, sondern auch Mitglied einer Universität bin. Als Organisationsmitgliedern mag es auch uns Soziologen nicht immer gelingen, die beobachteten Skurrilitäten, die wahrgenommenen Irrationalitäten oder vermeintlich irrsinnigen Entscheidungen sofort von ihrer Funktionalität für die Organisation her zu begreifen. In den Beschreibungen dieses Buches mag deswegen manchmal auch eine Irritation darüber durchklingen, dass die Verhältnisse an den
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Zu erwähnen sind neben den aus den späten 1960er Jahren stammenden Arbeiten von Becker, Geer und Hughes auch die neueren Arbeiten von Michael Moffat (1989) über die Studienkultur an der Rutgers University und von Rebekah Nathan (beziehungsweise Cathy Small) (2006) über die an der Northern Arizona University. Es ist überraschend, wie wenig die ethnologisch angelegten Arbeiten in der europäischen Hochschulforschung rezipiert, geschweige denn zum Anlass für eigene ethnologisch ausgerichtete Forschungen genommen werden.
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Universitäten so sind, wie sie sind, und ich habe bewusst darauf verzichtet, diese Stellen herauszuredigieren.
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Ulrich Salaschek Der Mensch als neuronale Maschine? Zum Einfluss bildgebender Verfahren der Hirnforschung auf erziehungswissenschaftliche Diskurse Februar 2012, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2033-7
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Thomas Kailer Vermessung des Verbrechers Die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern, 1923-1945 2010, 440 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1614-9
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Myriam Spörri Reines und gemischtes Blut Zur Kulturgeschichte der Blutgruppenforschung, 1900-1933 August 2012, ca. 470 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1864-8
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