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German Pages 402 [397] Year 2019
Romanée Zander Der Stand der Dinge
Edition Moderne Postmoderne
Meinen Eltern
Romanée Zander (Dr. phil.), geb. 1983, lebt in London und arbeitet für eine internationale Kinderhilfsorganisation. Nach seinem Studium der Philosophie, Psychologie und Kunstgeschichte promovierte er in Philosophie und war 2013 Visiting Scholar und Gastwissenschaftler an der Columbia University in New York.
Romanée Zander
Der Stand der Dinge Über das Zusammenspiel von Sprache, Wahrnehmung und ästhetischer Bedeutung
Dissertation Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich 08 Philosophie und Geschichtswissenschaften, 06. Februar 2019. Titel der Dissertation: Der Stand der Dinge. Zum Spiel der Erkenntnis Sigelziffer D.30
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Inhalt
Vorwort ..................................................................................................7 1
Einstand ......................................................................................... 9
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Der Sinn des Verstehens...................................................................... 29 Hermeneutik und der Gegenstand des Verstehens................................................. 29 Die lebendige Erfahrung .................................................................................40 Historische Bedeutung .................................................................................... 49 Das Ereignis des Verstehens............................................................................ 58 Übersetzung und Erfahrungsgehalt.................................................................... 70
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Das Sein von Sinn ............................................................................. 83 Zeichen, Strukturen und Gehalt ........................................................................ 83 Empirische Gehalte und dynamische Strukturen ...................................................90 Bedeutung und Idealisierung ........................................................................... 94 Geltung und Gegenstand ................................................................................. 101 Bezugnahme und der Ort der Bedeutung ........................................................... 110 Perspektive und Situation ............................................................................... 118
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8
Wahrnehmung und Vorstellung ............................................................. 135 Vorstellungsgehalt und sprachliche Bedeutung .................................................. 135 Zwischenstand ............................................................................................ 141 Wahrheit, Situation und Anschauungsgehalt .......................................................148 Vorstellungs-Bild und Vorstellungswelt ..............................................................166 Vorstellungsgehalt und Überlegung .................................................................. 178 Vergegenwärtigung und Realisierung ................................................................190 Die Frage nach der sinnlichen Qualität.............................................................. 204 Wahrnehmungswelt und Wirkungsradius............................................................ 213
5 5.1
Der Zustand der Dinge .......................................................................225 Zustand, Position und Eigenschaft................................................................... 225
5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7
Realisierung, Ausmaß und Auswirkung ............................................................. 245 Manifestation, Befähigung und Umwelt ............................................................. 260 Die Dynamik des Sinnlichen............................................................................ 276 Leibliche Existenz ........................................................................................ 291 Geschmack, Gewohnheit und Kontrast .............................................................. 300 Die Bewegungsfreiheit der Existenz ................................................................. 307
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Die Gestaltung der Welt ...................................................................... 321 Kunst, Wahrheit und Humor............................................................................. 321 Kontinuität vs. Negativität ............................................................................. 333 Manifestation, Erscheinung und Darstellung ...................................................... 342 Simultaneität, Präsenz und Materialität ............................................................ 356 Endstand .................................................................................................... 371
Literatur ............................................................................................. 383 Abbildungen..........................................................................................397
Vorwort
Ein jedes Vorwort spricht für gewöhnlich aus, ohne wessen Unterstützung die nachfolgenden Seiten kaum möglich gewesen wären. Oder analytisch formuliert: es versucht die notwendigen Bedingungen hierfür zu benennen. Derer gab es auch für die vorliegende Arbeit unzählige: die Wahl des Studiums selbst, der Kaffee, der hierfür getrunken, die Bücher, die hierfür gelesen und die Zeit, die investiert werden musste. Doch ein Vorwort versucht nicht nur diese sachlichen Voraussetzungen aufzuzählen, sondern vor allem den Menschen zu danken, ohne deren Unterstützung diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Daher sind an dieser Stelle vor allem meine Eltern, mein Bruder und meine Freundin zu nennen, denen neben ihrer direkten und oft tatkräftigen Unterstützung mein Dank nicht zuletzt für ihre Geduld gilt, mit der sie über Jahre, Feiertage und etliche Wochenenden hinweg als Entgegnung auf eine Einladung oder gemeinsame Unternehmung die Auskunft akzeptiert haben, man müsse an »seiner Arbeit schreiben«. Das gleiche gilt nicht minder für meine Freunde, denen dieses Mantra noch heute in den Ohren nachklingen dürfte, sowie für meine Arbeitskollegen und Vorgesetzten, die stets jene zweite Lebenswirklichkeit eines Doktoranden nicht nur akzeptiert, sondern auch verständnisvoll respektiert haben. Meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Martin Seel und meinem Zweitgutachter, Herrn Dr. Jasper Liptow gebührt mein Dank nicht nur aufgrund der Betreuung und Begutachtung meiner Dissertation, ihrer unbeirrten Hilfe bei Formalitäten und ihren stets wertvollen Rückmeldungen im persönlichen Gespräch, sondern darüber hinaus durch den Grundstein, den sie durch ihr eigenes Philosophieren für die nachfolgende Untersuchung gelegt haben. Ob Seminare, Vorlesungen oder Kolloquien: die vorliegende Arbeit wäre ebenfalls kaum denkbar gewesen ohne die offene Geisteshaltung und Gesprächskultur, die Ermutigung zu eigenen Gedanken und der praktizierten Kunst, auch komplexe Zusammenhänge in nachvollziehbaren Worten auszudrücken, wie sie vor allem an diesem Lehrstuhl und bei seinen Mitarbeitern anzutreffen war. Gerade die Veranstaltungen von Herrn Prof. Dr. Martin Seel, Herrn Dr. Jasper Liptow und Herrn Dr. Stefan Deines sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Letzterem gilt ebenfalls mein Dank für seine fortwährende und selbstverständliche Hilfsbereitschaft, so wie Herrn Dr. Dietmar Köveker für seine Betreuung, seine Hilfe und seinen Einsatz in der An-
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Der Stand der Dinge
fangsphase meiner Dissertation. Herrn Prof. Taylor Carman möchte ich danken für seine Unterstützung vor und während meiner Zeit an der Columbia University. Da mit zunehmendem Alter das Bewusstsein für die kleinen und großen Gefälligkeiten steigt, die einem erwiesen werden und sich zugleich die Erkenntnis verfestigt, dass diese alles andere als selbstverständlich ist, wären an dieser Stelle sicherlich noch etliche weitere Personen anzuführen, die auch ohne namentliche Nennung sich meines Dankes gewiss sein dürfen.
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Einstand
Der Titel der Arbeit spricht vom »Stand der Dinge«, der Untertitel vom »Zusammenspiel von Sprache, Wahrnehmung und ästhetischer Bedeutung«. Ebenso gut hätte er auch vom »Zustand der Dinge« sprechen können und vom Verhältnis von Sprach-, Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und ästhetischem Gehalt. Mit dieser Wahl wäre sogar genauer umrissen gewesen, um was es auf den nachfolgenden Seiten gehen soll: nämlich um eine Verhältnisbestimmung dieser unterschiedlichen Dimensionen unserer Erkenntnisvermögen und ihrem jeweiligen Gegenstand, dem Objekt, das sie zum Inhalt haben. Dass der Titel sich dieser Alternativen verwehrt, verdankt sich letzten Endes selbst einer ästhetischen Entscheidung, die ihrerseits bewusst eine Mehrdeutigkeit in Kauf nimmt. Denn der Haupttitel zeigt zum einen das erwartbare »Ergebnis« und den Gegenstand der Untersuchung an und erlaubt sich zugleich, dieses Ergebnis als einen gewissen, qualitativ ausgezeichneten Wissens-Stand auszuweisen und damit als eine Antwort auf die Frage, wo wir bei unserer Diskussion um diese Dinge philosophisch stehen, also was der gegenwärtige Stand der Dinge aus inhaltlicher Sicht diesbezüglich sein könnte, wenn man die hier vorgeschlagene Zusammenschau als untereinander stimmig und in ihren Grundzügen als überzeugend akzeptiert. Doch eben nicht nur das. Denn mit der Formulierung vom (Zu-)Stand der Dinge ist bereits eine Antwort auf die Frage gegeben, was der gemeinsame Gehalt von Sprache, Wahrnehmung, Vorstellungskraft als auch ästhetischen Gestaltungen ist, d.h., was ihren »Inhalt« in einer möglichst allgemeinen Weise beschreibt und umreißt – so zumindest die hier vertretene These. Dass alle vier Dimensionen unserer Erkenntniskräfte oder unserer epistemischen Vermögen überhaupt einen derartigen Inhalt haben oder jeweils zu objektiver Erkenntnis befähigt sind, ist in der gegenwärtigen, philosophischen Theorielandschaft und andernorts alles andere als unumstritten. Von links nach rechts gelesen existiert nämlich eine Art epistemisches Gefälle, beginnend bei den Vermögen der Sprache und endend bei den vermeintlichen Unvermögen ästhetischer Gebilde. Während man Sprache in der Regel und teils alleinig die Fähigkeit zu erkenntnisrelevanten Inhalten zubilligt, muss sich unsere Wahrnehmung traditionell schon mit weniger begnügen; denn nach philosophischer Lehrmeinung und aus einer erkenntnistheoretischen Warte heraus täuschen uns unsere Sinnes-
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Der Stand der Dinge
eindrücke ja nicht selten in Hinsicht auf bestehende Sachverhalte oder gehen stillschweigend über diese hinweg. Entweder, wir nehmen etwas als solches erst gar nicht erst wahr oder wir nehmen es wahr, täuschen uns aber darin, was dieses etwas ist. Der Stock im Wasser erscheint uns vermeintlich als krumm, obwohl er »in Wahrheit« gerade ist und obwohl uns viele Dinge klar vor Augen stehen sollten, können wir sie oft trotzdem nicht sehen. Nichtsdestotrotz scheint auch unsere Wahrnehmungsfähigkeit sich auf etwas zu beziehen, das von unserem Dafürhalten unabhängig existiert, das also im eigentlichen Wortsinne »objektiv« ist und somit zur Erweiterung unseres Erkenntnisstandes beiträgt, was eine objektive, von uns unabhängige Welt anbelangt. So wie Sprache ebenfalls über etwas spricht, d.h. Aussagen trifft, die, wenn sie richtig sind, als Festellungen uns auf etwas verständigen, das unabhängig von dieser Aussage besteht, zumindest solange, wie sie sich augenscheinlich keine Meinung über rein fiktive Dinge bildet. Wesentlich schlechter ist es hingegen nunmehr um die Gehalte unserer Vorstellungskraft bestellt, denn diese scheinen jederzeit Gefahr zu laufen, in subjektive Willkür abzurutschen, ja, eigentlich sind sie per definitionem der Ausdruck eines subjektiven Beliebens. Meine Vorstellungen sind meine Vorstellungen, da ich sie als solche imaginierend hervorbringe und auch als einziges durch den privilegierten, epistemischen Blick der ersten Person Zugang zu ihnen habe. Während Wahrnehmung und Sprache sich durch ihre Gehalte auf eine »außerhalb« ihrer liegenden Welt beziehen und sie dadurch Umgang mit den »Fakten« dieser Welt haben, die von mehreren in ihrer Gültigkeit eingesehen werden können, weil wir in vielen Fällen dasselbe meinen und dasselbe sehen können, so scheint eine geteilte Vorstellung geradezu eine contradictio in adiecto – stellen wir uns augenscheinlich doch nie wirklich dasselbe unter etwas vor . Unsere Einbildungskraft hat es lediglich mit unseren persönlichen Imaginationen zu tun, also mit demjenigen, was wir uns jeweils individuell »ausmalen«, ohne dass diesen Vorstellungs-»Bildern« eine erkenntnisrelevante Funktion zukäme noch Intersubjektivität zugesprochen werden könnte, im Gegenteil: es sind genau diese Phantasieprodukte, die einer Korrektur durch unsere intersubjektive, sprachliche Verständigung und unsere wahrnehmende Erkundung der Welt bedürfen, damit wir uns ein angemessenes Bild vom Stand der Dinge machen können. Der Gehalt von ästhetischen Gebilden1 bleibt in den meisten Kunstphilosophien und 1 Unter denen hier nicht nur »Kunstwerke« verstanden werden sollen, sondern alle Arten von Bildern, Filmen, Videos, Musikvideos, Grafiken, Werbeeinspielern, Plakaten etc., d.h. sämtliche Arten von ästhetischer Gestaltung, denen gerade jene Weihe von Kunsthaftigkeit gerne vorenthalten wird. Es geht um ein zu erringendes Verständnis um das Ästhetische, sofern es gestaltet ist oder in »in Form gebracht«. Da Kunst ohnehin ein normativer Begriff ist und sich nicht analytisch entscheiden lässt, welchen Kriterien ein Kunstwerk vorab zu genügen hat, um als solches gelten zu können, ist es zielführender und aufschlussreicher, von vornherein das Augenmerk auf »ästhetische Objekte« zu lenken bzw. auf Objekte der ästhetischen Wahrnehmung, die eigens materi-
1 Einstand
Ästhetiken als letztes in dieser Aufzählung nun seinerseits meist völlig unterbestimmt. Nach Meinung vieler sollte man ihm generell sämtliche Sinnhaftigkeit im Wortsinne absprechen, denn hier haben wir es weder mit den Projektionen einer subjektiven Vorstellungswelt zu tun, noch mit benennbaren Inhalten einer intersubjektiv gesprochenen Sprache oder einer gemeinsam wahrgenommenen Welt, noch einer sonstigen Art von Objektivität, wie ja nicht zuletzt die Unbestimmbarkeit der »richtigen« Interpretationen eines ästhetischen Gebildes es zu bestätigen scheint. Die Unmöglichkeit, das »Was« eines darstellenden Gemäldes, eines Spielfilms oder eines Buchs (sprachlich) erschöpfend zu beschreiben, geschweige denn objektiv und verbindlich interpretieren zu können, scheint vielen ein Garant dafür zu sein, diesen Versuch erst gar nicht weiter zu wagen und die Rede von »Gehalten« des Ästhetischen als etwas unglücklichen Sprachgebrauch endgültig zu verabschieden oder ihn erst gar nicht aufkommen zu lassen. Denn, was immer ein Bild darstellt, es zeigt dies auf seine je spezifische Art und Weise, d.h., dessen Form und dessen Inhalt bleiben unlösbar miteinander verschränkt und machen nur zusammen das Ganze seines Gehaltes aus. Während nun sprachlicher Gehalt dem Inhalt einer Proposition, dass es sich so verhält, wie die Feststellung es aussagt, zu entsprechen scheint, mit dieser »korrespondiert«, wie es die klassische Definition von Wahrheit möchte, so verständigt uns unsere Wahrnehmung vor Ort vermeintlich darauf, wie es wirklich um gewisse Dinge steht und was unsere Sprache im Vorfeld nur ungefähr umreißen kann. Persönliche Vorstellungen sind nichts weiter als individuelle Fantasien ohne äußerlichen »Bezug« und Kunstwerke letzten Endes nicht selten völlig inhaltsleer. Nun spricht der Untertitel der Arbeit jedoch ebenfalls vom Zusammenspiel der Erkenntnis, was die eben angeführte Einteilung schon aufgrund dieser Formulierung fragwürdig erscheinen lässt. Denn weder operieren unsere unterschiedlichen Erkenntnisvermögen völlig getrennt voneinander, noch nehmen sie keine Kenntnis von den Ergebnissen ihrer Mitspieler. Im Gegenteil: die hier verfolgte Verhältnisbestimmung gilt genau jenem Zusammenspiel und damit jener Art und Weise, wie diese Dimensionen sich gegenseitig stützen, instruieren und informieren, d.h. wie sie sich ergänzen. Die hier verfolgte Verhältnisbestimmung gilt somit dem Ergänzungsverhältnis unserer Erkenntnisvermögen. Und sie gilt nicht nur irgendeinem Zusammenspiel, sondern einem auf Erfolg bedachten, ell für einen solchen Zweck hergestellt und ausgestellt werden, auch außerhalb der Mauern des white cube. Vgl. für eine Diskussion um den Kunstbegriff und mögliche Definitionsversuche u.a. Carroll, Noël: Theories of Art Today, Madison 2000; Stecker, Robert: Artworks: Definition, Meaning, Value, Pennsylvania 1997; Davies, Stephen: Definitions of Art, Ithaca 1991. Für eine, ästhetischen Bestimmungsversuch vgl. Beardsley, Monroe C.: Redefining Art, in: The Aesthetic Point of View, hg. v. M.J. Wreen and D.M. Callen, Ithaca 1982; Zangwill, Nick: The Creative Theory of Art, in: American Philosophical Quarterly 32 (1995), S. 307 – 323. Danto, Arthur C.: Beyond the Brillox Box. The Visual Arts in Post-Historical Perspective, Berkeley 1992.
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einem erfolgsorientierten Zusammenspiel, dessen (glückendes) Ergebnis Erkenntnis (für uns) ist. Dass es sich bei unseren Erkenntnisvermögen um Fähigkeiten handelt, liegt als Annahme in einer weiteren, methodischen Maxime der vorliegenden Arbeit begründet: denn diese ist durchgängig pragmatisch bzw. auf die Methode bezogen pramatistisch ausgerichtet. Ohne lange an dieser Stelle auf die Geschichte oder den Begriff des (philosophischen) Pragmatismus einzugehen,2 soll damit vor allem der Überzeugung Ausdruck verliehen werden, dass sowohl Sprache, Wahrnehmung, als auch unsere Vorstellungskraft, die Vermögen eines handelnden, mit seiner (Um-)Welt interagierenden Subjekts sind und einem endlichen Wesen wie dem Menschen in erster Linie dazu dienen, es zu orientieren und es auf den jeweils wechselnden Stand der Dinge zu ver‐ständigen, was sich wiederum in den Gehalten und Ergebnissen dieser Vermögen spiegelt. Denn als endliche Subjekte sind wir keine freischwebenden Geister, sondern in Situationen eingebettete, engagierte Subjekte, die als körperlich existierende einer dynamisch wechselnden Umwelt ausgesetzt bleiben, die sie versuchen, durch Anwendung eben dieser Fähigkeiten kontrollierbar zu halten oder eigens herzustellen. Wir wohnen dem Weltgeschehen nicht als distanzierte Zuschauer bei, sondern wir bleiben (bei mangelnder Möglichkeit zu einer ästhetischen »Partizipationspause«) involvierte Teilnehmer, Akteure in einer Welt, in der nicht nur wir selbst, sondern auch andere Dinge und Ereignisse für sich Raum und Zeit beanspruchen und damit unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten beeinflussen. In unserem »In‐der-Welt-Sein« bleiben wir ohne weitere sprachliche wie auch kulturelle Vorkehrungen der Offenheit weltlicher Verhältnisse ausgesetzt, auf die wir reagieren müssen und auf die wir uns einzustellen haben, wollen wir die Oberhand über diese behalten. Eine prekär bleibende Lage, die sich in den Bewältigungsstrategien unserer natürlichen Sprachen und deren Bedeutungen niederschlägt, die mit einer jeden ihrer möglichen Feststellungen unserem Handlungsspielraum eine Erweiterung gewähren oder diesen in Frage stellen. Ein Spielraum, der als ästhetisch inszenierter für uns eigens anschaulich her- und aus‐gestellt, d.h. dargestellt werden kann, in seiner Eigenart aber nicht verständlich wird, wenn er nicht sowohl in Kontrast als auch in Kontinuität zu derjenigen Welt beschrieben wird, die uns im Normalfall um‐stellt und viele unsrer Handlungsmöglichkeiten ver‐stellt. Als Abkömmlinge dieser Erkenntnisleistung(en) und trotz oder gerade aufgrund ihrer oft hervorgehobenen Selbstzweckhaftigkeit, so die These, sind auch ästhetische Gebilde ihrerseits weder inhaltsleer noch (völlig) unverständlich. Denn es ist nicht einfach bloß ein unverbindliches, ästhetisches Erscheinen und Wahrgenommenwerden, was den qualitativ ausgezeichne2 Eine gute Einführung gibt Hampe, Michael: Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus, Frankfurt a.M. 2006 sowie Martin Hartman, Jasper Liptow und Marcus Willaschek (Hg.): Die Gegenwart des Pragmatismus, Frankfurt a.M. 2013.
1 Einstand
ten Werken ästhetischer Gestaltung, die wir Kunstwerke nennen, zukommt. Denn sobald bspw. ein Bild mehr ist als nur ästhetische Zier, wenn es als Gemälde eine ganze Welt vor unseren Augen zu entfalten vermag, es einen Sinnzusammenhang ausstellt und eigens herzustellen weiß, so besitzt es eben genau dasjenige, was wir intuitiv als dessen Gehalt verstehen (sollten). »Die Philosophie der Kunst muss es sich deshalb zu ihrem Hauptgeschäft werden lassen, was dies Gehaltvolle und seine schöne Erscheinungsweise ist, denkend zu begreifen«3 , wie Hegel sich hierzu ausdrückte. Während ein prominenter Strang ästhetischer Theoriebildung ästhetischen Gestaltungen sämtliche Sinnhaftigkeit abspricht, so bescheinigen sogenannte »kognitivistische Theorien« des Ästhetischen Kunstwerken genau dies: eine Erkenntnisleistung.4 Nun ist ihr Gehalt jedoch weder rein sprachlich, noch rein sensitiv, sondern eine jeweils wechselnde Kombination aus beidem, bei der auch unsere Einbildungskraft beteiligt bleibt. In seiner sprachlich nicht einzufangenden und doch auf Sprache und unser Vorverständnis bezogenen Komplexität übermittelt uns das ein oder andere hochkarätige Kunstwerk nicht nur komplexe, nicht verbalisierbare »Informationen« die Verhältnisse der Welt betreffend, sondern es verrät uns noch etwas ganz anderes: nämlich etwas über uns selbst in dieser Welt, d.h. über uns und unser Verhältnis, unseren Stand in dieser Welt oder noch kürzer: über unseren Standpunkt, d.h. über die wechselnden Perspektiven, unter denen wir uns die Welt aneignen. Und gelegentlich verraten sie uns dabei mehr, als uns lieb ist. Wenn eine dieser Perspektiven nun für uns den Anspruch auf eine gewisse, objektive Geltung erhebt, die über das Meinen und Wollen eines Einzelnen hinausgeht, so müssen wir uns auch hier über das Zustandekommen dieser objektiven Geltung philosophisch Rechenschaft ablegen können. Denn Gehalt oder wie wir unter Berücksichtigung von dessen Objektivität nachfolgend ebenfalls sagen können: Bedeutungen können nach der so genannten linguistischen Wende, dem linguistic turn in der (Sprach-)Philosophie nicht mehr (alleine) als im Geist des Sprechers/Künstlers oder eines einzelnen Hörers/Rezipienten liegend gedacht werden.5 Denn dasjenige, was einen (geistigen) Gehalt gehaltvoll sein lässt, ist gerade seine Objektivität. Und diese erzielen wir per definitionem nicht damit, dass sie Gültigkeit nur für ein einzelnes Denken und dessen Meinungen und Überzeugungen besitzen kann. Nimmt man diese Voraussetzung der analytischen Philosophie ernst, die sich dem breiten Thema der (sprachlichen) Bedeutung ausführlich angenommen hat, dann gelangt man schnell zu der Schlussfolgerung, dass dasjenige, was unseren Gedanken ihre 3 Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik II, Frankfurt a.M. 1986, S. 242. 4 Vgl. Jäger, Christoph: Kunst, Kontext und Erkenntnis, in: Kunst und Erkenntnis hg. v. ders., Paderborn 2005. 5 Auch wenn individuellen »Vorstellungen« und Imaginationen eine entscheidende und vom linguistic turn vernachlässigte Rolle bei der Bedeutungsgenerierung zukommt, wie wir noch sehen werden.
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Objektivität verleiht, eben ihr Inhalt sein muss und dass wir, ohne einen solchen objektiven Inhalt zu denken, keinen Anspruch darauf erheben können (weder für uns, noch für andere) etwas über die Welt in Erfahrung gebracht zu haben, also zu Erkenntnissen vorgestoßen zu sein. Wenn nun Bedeutungen aber kein Privatbesitz sind, es keine Privatsprache geben kann, die jeweils im Alleingang ihre Bedeutungen generiert, dann wird Sprache zu einem sozialen Unterfangen, bei dem die verschiedenen Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft korrigierend und argumentierend auf den Umfang und die Reichweite von bedeutungsvollen Feststellungen und Aussagen Einfluss nehmen (können). Dadurch, dass wir nicht »mit« Sprache, sondern unweigerlich in Sprache denken, sind wir den Richtungsvorgaben einer intersubjektiv gesprochenen und konstituierten Sprache immer schon ausgeliefert, noch bevor wir unsere eigenen Denkwege innerhalb ihrer vorgezeichneten, aber nicht strikt vorgegebenen Bahnen zurücklegen. Als denkende und zur Sprache befähigte Subjekte sind wir von vornherein einer sprachlich erschlossenen Welt überantwortet, die durch semantisch abgefasste Feststellungen die Grundkoordinaten für unsere Orientierung abgesteckt. Wie der linguistic turn betont, ist es durchaus das Privileg der Sprache, unser Denken immer schon anzuleiten und auszurichten.6 Die Sprache »lenkt die Blicke unauffällig in relevante Richtungen, prägt Voreingenommenheiten und schafft so den unproblematischen Hintergrund oder Rahmen für mögliche Interpretationen des innerweltlichen Geschehens.«7 Doch was bleiben vor diesem Hintergrund unserer Wahrnehmung, unserer Vorstellungskraft und vor allem unseren ästhetischen Gebilden für Möglichkeiten, zu unserer Erkenntnis einer objektiven Welt beizutragen? Was bleiben diesen für Mittel und Wege, ihrerseits verständliche Bedeutungen zu generieren, die sich von rein sprachlichen Bedeutungen abheben lassen? Welchen Erkenntnisbeitrag leisten sie für unser Welt- und Selbstverständnis? Müssen sie nicht, wenn sie für uns erkenntnisrelevant sein sollen, verstanden werden? Und wenn sie verstanden werden können, ist das Wesentliche an ihnen dann nicht auch verbalisierbar? Und wenn es verbalisierbar sind, kann dann auf die Mittel seiner ästhetischen Darstellung nicht getrost verzichtet werden? Wenn es nun einen Allgemeinplatz in der überaus undurchsichtigen Theorielandschaft zur Ästhetik geben sollte, dann jedoch denjenigen, dass die Bedeutungen eines ästhetischen Gebildes gerade nicht ohne Verlust paraphrasiert werden können, d.h., dass sie sich nicht in die Alltagssprache übersetzen lassen, weil sie immer auch wahrgenommen, d.h. im sinnlichen Nachvollzug erfahren werden müssen. Eine Schwierigkeit, die sich jedoch nicht erst bei den Künsten, sondern bereits bei der Beschreibung eines jeden Wahrnehmungsgehaltes findet; denn könnten wir umstandslos und erschöpfend 6 Vgl. Dummett, Michael: Ursprünge der analytischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1988, S. 37. 7 Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a.M. 2004, S. 76.
1 Einstand
sprachlich das »Was« eines Wahrnehmungsgehaltes angeben, bräuchten wir ihn ja (trivialerweise) nicht mehr wahrzunehmen. Was immer uns ein Kunstwerk zu verstehen gibt, gibt auch dieses durch seine sinnliche Komponente uns nur auf seine je eigene Art und Weise zu verstehen, wobei die von ihm verwendete Präsentationsweise integraler Bestandteil seiner Bedeutung bleibt. Genuin ästhetische Bedeutung entspricht daher in einem ersten Anlauf demjenigen Anteil, den Max Imdahl in Rücksicht auf Bilder schon frühzeitig das »Ikonische«8 genannt hat. Also demjenigen Part, der sich nicht mit dem ikonographischen oder ikonologischen Anteil verrechnen lässt, den wir unter Zuhilfenahme von Quellenkunde und Interpretationen verbalisieren können. Gehaltvolle, ästhetische Bedeutung kommt in ästhetisch gestalteten Objekten nur durch das wahrgenommene Zusammenspiel der künstlerischen Mittel zustande, durch das Spiel seiner Erscheinungen, dem Innewerden der Prozessualität des von ihm angestoßenen Zeichenprozesses, dem Nachvollzug der Konfiguration seiner Elemente, der Verfolgung des internen Ausdruckszusammenhangs, der Erschließung seiner präsentativen Struktur. Eine Einschränkung, die von vielen Ästhetiken als besondere Stärke gesehen wird, da sie annehmen, dass es die künstlerische Darstellung im Gegensatz zu der auf Allgemeinheit zielenden Sprache mit Einzeldingen, mit dem Individuellen, dem Konkreten zu tun hat; denn bekanntlich gilt ja nach dem Ausspruch Goethes: individuum est ineffabile. Alle unsere Beschreibungen sind immer auch zugleich Beschreibungen von allgemeinen Zügen, die nicht nur dem Bezeichneten, sondern potenziell allen anderen Dingen zukommen, die wir als solche auffassen. Doch was und wie ist ein solcher Gehalt? Wie kann ein solchermaßen unaussprechlicher Sinn überhaupt einer theoretischen Betrachtung zugeführt werden? Ganz einfach und doch so schwer: indem für ästhetische Bedeutung, Wahrnehmungs- und Vorstellungsgehalte nichts anderes gilt als für alle anderen philosophischen Grundbegriffe auch, ob sie nun Freiheit, Wahrheit, Sein oder Bewusstsein heißen mögen. Alle diese Konzepte sind zumindest dahingehend beschreibbar, als dass sie in eine theoretische Konstellation gebracht werden können, in der sich ihre Bedeutung für unser Verständnis durch gezielte Abgrenzung abzuheben beginnt. Wobei auch hier gilt, was Wittgenstein der philosophischen Begriffsarbeit im Allgemeinen angeraten hat: Die Philosophie »soll das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen. Sie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt.«9 Das ist jedoch 8 Vgl. Imdahl, Max: Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1980, S. 97: »Während aber Ikonographie und Ikonologie dasjenige aus den Bildern erschließen, was ihnen als Wissensinhalte vorgegeben ist, was vom Beschauer gewusst werden muss und sich durch Wissensvermittlung mitteilen lässt, sucht die Ikonik eine Erkenntnis in den Blick zu rücken, die ausschließlich dem Medium des Bildes zugehört und grundsätzlich nur dort zu gewinnen ist […].« 9 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico‐philosophicus, Frankfurt a.M. 2013, § 4.114 & 4.115.
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nicht zu verstehen als »Utopie der Erkenntnis […], das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleich zu machen«10 , sondern durch die angestrebte Verhältnisbestimmung sollen unterschwellige Wahlverwandtschaften zwischen den unterschiedlichen Bereichen aufgedeckt werden, die auch ein Verständnis eröffnen sollen für die Beziehungen zwischen den zu Wort kommenden Teildisziplinen wie Wahrnehmungsphilosophie, Ästhetik, Hermeneutik, Sprachphilosophie und Pragmatismus. Nun muss (möchte man keinen neuzeitlichen Obskurantismus verteidigen) dort, wo von Bedeutung die Rede ist, in einem ersten Schritt von einem Verstehen ausgegangen werden, dem diese Bedeutung aufgeht. Und wo Verstehen eine entscheidende Größe ist, kommt auch die Vernunft zu ihrem Recht. Allerdings wird bei der Bestimmung der verschiedenen Facetten unserer Rationalität und unseres Daseins die Prämisse leitend bleiben, dass keiner dieser Seiten der absolute Vorzug, der Primat für unser Erkennen zu erteilen ist, obwohl die Einsichten des linguistic turns auch für die hier vorgetragenen Überlegungen den Einstiegspunkt abgeben werden. Daher wird, obwohl ihr nicht durchgängig der vom Sprachpragmatismus zugesprochene epistemische Vorzug gewährt wird, sprachlicher Bedeutung doch der methodische Primat dieser Untersuchung zufallen. Denn solange nicht geklärt ist, was und vor allem wie sprachliche Bedeutung »ist«, besteht kaum Hoffnung, eine unverzerrte Bestimmung der anderen Dimensionen unseres Erkennens und seiner Ergebnisse zu erreichen. Denn wahrnehmungsphilosophische als auch ästhetische Überlegungen zeichnen nicht selten ein Bild von Sprache, zu dem sie sich in Opposition aufgrund einer Verzeichnung sehen und aus dem sie ihre argumentative Energie beziehen. Da scheint es dann so, als wären Bedeutungen eine Art von Dingen, die nur noch übertragen werden müssten und die unser Denken durch ihren fixen Gehalt unwillkürlich und fremdbestimmt determinierten. Um dem entgegenzuwirken und der Unzulänglichkeit der Sprache Abhilfe zu verschaffen, wird dann oftmals von Seiten nicht‐hermeneutisch argumentierender Theoretiker ein Weltverhältnis anempfohlen, »das komplexer [ist] als die bloße weltbezogene Sinnzuschreibung […] oder komplexer als das Extrahieren von Bedeutungen aus der Welt.«11 Und ein solch komplexeres Weltverhältnis wird dann mit Vorliebe meist in den ästhetischen Praktiken und Werken der Kunst gesehen, die unseren Blick nicht derart verstellen wie unsere zu grob verfahrende Sprache, die mit ihren symbolischen Abstraktionen zwischen uns und die Realität tritt, diese (bloß) semiotisch vertritt, so dass die Realität nicht mehr genügend an uns herantritt. So wird dann bspw. und ausschließlich im Kino »wahrnehmbar – sichtbar und hörbar – […], was im 10 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1975, S. 21. 11 Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004, S. 71.
1 Einstand
sprachlichen Diskurs keinen Platz findet, nicht artikulierbar ist […]. Im Kino sieht sich das Sagbare den Ansprüchen einer konkurrierenden Ordnung ausgesetzt, und die Erfahrung öffnet sich für eine Dimension jenseits des sprachlich Vermittelten.«12 Doch dabei dürfte es sich genau umgekehrt verhalten: denn Bedeutungen dienen der Kommunikation und nicht die Kommunikation ihnen und ihrer bloßen Vermittlung im Sinne einer strikten Übermittlung bereits klar umgrenzter Einheiten, die mit ihrem Inhalt gleichgesetzt werden könnten. Ihre Funktion besteht darin, Kommunikation und die Sprache über etwas zu ermöglichen und zu eröffnen, nicht unsere anhebenden Kommunikationsversuche und das Worüber der Rede in seinem Umfang vorab festzulegen oder zu beschneiden.13 Bedeutungen rufen geteilte und (vorerst) nicht hinterfragte Hintergrundannahmen auf, die jeder Verständigung als Ausgangs- oder Einstiegspunkt dienen und dass wir uns über »etwas« verständigen können, wenn wir uns objektiv darüber austauschen, lässt unsere Perspektiven konvergieren und stellt sicher, dass wir nicht »aneinander vorbei« reden. Es bedeutet jedoch nicht, dass dieses Etwas seine eigene Ausdeutung bereits strikt vorgeben oder klar umreißen würde, weil es in einem »Rahmen des Symbolischen« verbliebe, der uns von der Wirklichkeit »entfernt«.14 In Folge der gezielten Abwendung vom linguistic turn ist es ein inzwischen weit verbreitetes Vorurteil in den Geistes- und Kulturwissenschaften zu glauben, die begrifflichen Fähigkeiten des Menschen schränkten diesen auf ebenso begrifflich festgelegte Inhalte ein und diese trügen dann auch die Schuld daran, dass er als einziges aus der Welt (wie in dem angeführten Zitat) (abstrakte) Bedeutungen zu »extrahieren« wüsste. Weswegen man glaubt, den liguistic turn durch einen pictorial turn, medial turn, spatial turn, iconic turn oder die Postulierung ähnlicher Kehrtwenden überwinden zu müssen. In dieser Blickrichtung wird Sprache dann schnell zum Gegenspieler einer unverstellten Wahrnehmung und deren Gehalte erklärt, die uns wieder mit der Fülle eines nicht verengten Weltverhältnisses durch einen »direkten« Kontakt aussöhnen soll, das uns durch die Konzentration auf sprachliche Erkenntnis abhandengekommen sei. Auch wenn dieses Verständnis unserer sprachlichen Fähigkeiten hier einer deutlichen Kritik unterzogen werden wird, bleibt Sprache und damit sprachliche Bedeutung ein eminent soziales Unterfangen, eine Praxis. Eine Praxis, die sich im Wesentlichen dadurch auszeichnet, dass sie durch die Vorprägung von Sinn, durch Einübung in eine sprachlich 12 Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films. Verkörperte Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung im Kino, München 2011, S. 77. 13 Vgl. Wellmer, Albrecht: Wie Sorte Sinn machen. Aufsätze zur Sprachphilosophie, Frankfurt a.M. 2007, S. 82f.: »Die wörtliche Bedeutung von Sätzen eröffnet zwar einen Spielraum möglicher Verwendung, sie determinieren aber, für sich genommen, nicht den Sinn konkreter Äußerungen.« 14 Vgl. Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films. Verkörperte Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung im Kino, a.a.O., S. 79.
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gedeutete Welt schon immer gewisse Stellungnahmen, Ansichten, Einschätzungen, Vorannahmen und Vor-Urteile über die Dinge dieser Welt nahelegt und bei mangelnder Reflexionstätigkeit auf Dauer durchaus fixiert. Oder wie Wittgenstein sagen würde: uns sprachlich »abrichtet«. Doch ist es eben eine Ab-Richtung, die einer gewissen Aus-Richtung entspricht und die nicht ein für alle Mal vorgibt, was wir unter den Dingen zu verstehen haben oder sinnvollerweise verstehen können, wie es die angeführte Kritik an unserem sprachlichen Weltzugang möchte – vorausgesetzt, wir lassen zu, dass Sinn und Bedeutung Korrekturen erlauben und Abweichungen zulassen, Veränderungen durchlaufen und vor allem Neuerungen unterliegen. D.h., dass Bedeutung sich am Ende als eine eminent dynamische Größe herausstellt und sich damit als offen für Beeinflussungen erweist, als ständig im Werden begriffen, um so mit der Adaptivität unseres Verstandes und den Möglichkeiten unseres Handelns Schritt halten zu können, anstatt dieses einzuschränken. Doch wo ist die Verbindung zur vielbeschworenen Autonomie des ästhetischen Objektes und dessen Bedeutungen, die gerade nicht in Kontinuität zu einer sprachlichen Praxis zu stehen scheinen? Auch wenn Darstellungsgehalt nicht automatisch Kommunikationsgehalt bedeutet, so greifen beide doch auf eine noch genauer zu beschreibende Weise ineinander, wie es u.a. Nelson Goodman (ein wenig zu rigide und die »ikonische Differenz«15 zwischen Bildsujet und Eigenleistung der bildlichen Darbietung übergehend) mit Blick auf bildliche Darstellungen hervorgehoben hat: »Von den zahllosen Eigenschaften, die ein Bild besitzt – die meisten von ihnen werden gewöhnlich ignoriert –, bringt es nur diejenigen metaphorisch zum Ausdruck, auf die es Bezug nimmt. Die Herstellung bezugnehmender Beziehungen ist eine Frage des Aussonderns bestimmter Eigenschaften, auf die sich die Aufmerksamkeit richtet, der Auswahl von Verknüpfungen mit bestimmten anderen Gegenständen. Der wortsprachliche Diskurs ist nicht der unbedeutendste unter den vielen Faktoren, die solche Verknüpfungen stiften und verstärken helfen […]. 15 Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2010, S. 211: »Die Logik der Bilder umfasst eine qualitative Transformation, die sich auf unterschiedlichen Ebenen beschreiben lässt. In ihr wandelt sich das Faktische ins Imaginäre, entsteht jener Überschuss an Sinn, der bloßes Material (Farbe Mörtel, Leinwand, Glas usw.) als eine bedeutungsvolle Ansicht erscheinen lässt. Diese Inversion ist das eigentlichte Zentrum des Bildes und seiner Theorie. Unbestimmtheit ist dafür unverzichtbar, denn sie schafft erst jene Spielräume und Potentialitäten, die das Faktische in die Lage versetzen, sich zu zeigen und etwas zu zeigen.« Während Goodman von einem Inklusions- und Unterordnungsverhältnis von bildlichem und sprachlichem Sinn ausgeht, reduziert Boehm seinerseits unsere sprachlichen Fähigkeiten auf die binäre Opposition von Aussagesätzen. Vgl. ebd.: »Bildsinn ist nicht‐prädikativ, deshalb auch nicht auf die Ja/Nein-Logik von Aussagesätzen zurückzuführen.« Vgl. zur ikonischen Differenz ebenfalls ders., Ikonische Differenz, in: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik, 1 (2011), S. 170 – 176 sowie Boehm, Gottfried (Hg.): Was ist ein Bild?, München 2001.
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Bilder sind gegen die formende Macht der Sprache nicht immuner als der Rest der Welt, auch wenn sie selbst als Symbole eine solche Macht auf die Welt einschließlich der Sprache ausüben. Reden erzeugt nicht die Welt oder gar Bilder, sondern Reden und Bilder haben daran teil, einander und die Welt, wie wir sie kennen, zu erzeugen.«16 Unter der hier verfolgten Zusammenschau und unter der Prämisse des Zusammenspiels unserer Erkenntnisvermögen sollten wir ästhetische Gestaltungen und Werke der Kunst daher mehr als eine »Sphäre betrachten, die nicht so sehr ihre eigene autonome Sprache hervorbringt, als vielmehr die verschiedensten semiotischen Mittel aus anderen Kultursphären in sich hineinzieht. In der Kunst werden diese Mittel ihres Werkzeugcharakters und ihrer gewöhnlichen Verwendung entzogen und verwandeln sich in Gegenstände einer ›Sonderbearbeitung‹, die neue Ausdrucksmöglichkeiten schafft […]. Man kann die räumlichen Künste auch als eine Sphäre der kunstvollen Anwendung und Umgestaltung solcher visuell‐räumlichen Kodes betrachten, die bereits in der außerkünstlerischen Sphäre aktiv sind oder sogar darin ihre natürliche Wurzel haben.«17 Die Eigenlogik ästhetischer Gebilde, so möchte ich im Verlauf der Arbeit erweisen, verdankt sich weniger ihrer Autonomie als vielmehr der Besonderheit ihres durchstrukturierten »Wirkungszusammenhanges«18 , der durch seine jeweilige räumliche Konstellation das Zusammenspiel der unterschiedlichen Einflussfaktoren unseres In‐der-Welt-Seins präsent hält, sodass sich die unterschiedlichen, an ihm ablesbaren Einwirkungen quasi nicht in der Zeit auseinanderlegen, sondern vielmehr simultan‐konstellativ in ihrer momentanen Gegenwärtigkeit eines ästhetischen Wahrnehmungszusammenhangs räumlich zusammenlegen. Die Besonderheit ästhetischer Gestaltungen liegt sozusagen darin begründet, dass diese die Quellen, aus der ihr Sinnzusammenhang seine Energien bezieht, für unsere Erfahrung und Anschauung »einsehbar« gestalten und diese eigens aus- und für unsere Wahrnehmung herstellen. Während bei der Operationalität unserer syntaktisch und diskursiv verfahrenden Sprachen ihre lebensweltliche Abstammung nicht mehr ohne weiteres an ihnen selbst abgelesen werden kann, so sind bei Objekten ästhetischer Gestaltung keine der Facetten unseres subjektiven Involviertseins in die Welt zugunsten semiotischer oder semantischer Dimensionen völlig aus- oder abgeblendet. Gefühlsqualitäten, Stimmungen, Leiblichkeit, Emotionen, Affekte und Imagination greifen je nach Situation in unterschiedlichem Ma16 Goodman, Nelson: Die Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M. 1997, S. 91. 17 Tschwertow, Leonid: Substanz und Form in räumlichen Ausdrucksmitteln, in : Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens, hg. v. Dieter Mersch, München 2003, S. 108f. 18 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang der Philosophie, a.a.O., S. 28.
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ße anschaulich ineinander, ohne dabei die anderen Dimensionen und vor allem ein sprachliches Verständnis völlig abzustreifen. Oder, um diesen Punkt selbst ein wenig ästhetisch (und bewusst plakativ) mit einer fiktiven Filmszene zu verdeutlichen: Der Revolverlauf, der sich silbrig‐glänzend aus dem verschatteten Winkel der engen Sackgasse schiebt, um ihm den Mörder aus der ersten Szene nachfolgen zu lassen, dessen vernarbtes Gesicht von der letzten Auseinandersetzung sich nun im Schein der Straßenlaterne zu erkennen gibt, während erst jetzt sein vom Regen durchnässter Mantel und seine Stiefel den vorentworfenen Rahmen der Bedrohung komplettieren, ist keine beliebige Reihenfolge und Konstellation an wahrnehmbaren »Eigenschaften«, die auch hätte anders ausfallen können, weil künstlerische Darstellungen vermeintlich jeglichen Sinns entbehren würden oder sprachliche Bedeutung keine Rolle bei ihrer Wahrnehmung spielen würde. Denn sie alle liegen vielmehr auf der Linie einer gemeinsamen »Sinnrichtung«, die den jeweils anderen ästhetischen Beiträgen ihren Stellenwert in dieser Konstellation zuweist. Das silbrige Glänzen des Pistolenlaufs entfaltet erst durch den Kontrast zu dem Pechschwarz seine ganze Kühle und Härte (und dadurch Kompromisslosigkeit), die er dadurch gesteigert wahrnehmbar ausspielen kann. Und auch eröffnet seinerseits durch die semantische Identifizierung als Pistole einen (ästhetisch ausgestellten) Raum, in den der Mörder aus dem Schatten kommend in aller bedrohlichen Seelenruhe »eintreten« kann, da alles, was von dem »Einzugsgebiet« der Waffe bedroht ist, zur Untätigkeit verdammt abwarten muss, wie es sich weiter mit diesem neuen, die volle Aufmerksamkeit einfordernden Bezugspunkt verhält, den diese lebensweltliche Situation gerade erhalten und ausgebildet hat. Ein wahrnehmbar festes Schuhwerk und damit ein »fester Stand« werden die Entschlossenheit der Absicht nur noch unterstreichen, genauso wie die Unbekümmertheit und die wahrnehmbare Reaktion gegenüber dem Regen, der in Strömen von Hutkrempe und Mantel des Mörders tropft, während dieser unbeirrt von diesen Widrigkeiten die Waffe auf sein Opfer gerichtet hält. All dies zusammengenommen ist es, was den Gehalt der Kunst ausmacht und was ich weiter unten einen Welt-Zustand nennen werde, der durch seine ästhetische Darstellung zu einem komplexen und kommunizierbaren Sinnbild gerinnt. Dass sich ästhetische Phänomene durch die zur Anwendung kommenden Mittel in diesem Sinne komplettieren, steigern, vervollständigen und stützen können, ist im Grunde schon erklärungsbedürftig genug und wird als Phänomen von AutonomieÄsthetiken gerne stiefmütterlich behandelt – verständlich. Denn wie sollten sie auch erklären können, wie es zu einem Zusammenschluss von Sinn kommen kann, wenn sie rigoros bestreiten (müssen), dass es jemals derartige, verstehbare Zusammenschlüsse in ästhetischen Kontexten überhaupt gibt? Sie haben selbst keinen Sinn dafür, dass die zum Einsatz kommenden Darstellungsmittel in ästhetischen Gebilden bereits bedeutungshaft »aufgeladen« sind, bevor das ästhetische Gebilde
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sie durch gezielte Re-Platzierung und Um-Gewichtung neu akzentuiert. Dass die sich aufbauende Sinnrichtung und Erwartungshaltung durchkreuzt werden kann, dem Lauf der Waffe nicht der Mörder, sondern der Nachbarsjunge folgt, der sie zufällig vom Boden aufgehoben hat, und dass der Entfaltungsraum der Dinge dadurch eine andere Richtung vorgezeichnet bekommt, die Waffe ihr Bedrohliches verliert und sich die Bedeutungsdimension der ästhetischen Szene entsprechend umstrukturiert, ist durch eine pure Sinnverweigerung oder Nonverbalität nicht zu erklären. Denn gerade semantisch identifizierbare Komponenten bleiben auch und gerade bei ästhetischen Gebilden die oftmals dominanten Merkmale und übernehmen die Führung durch dessen Binnenstruktur, einen anschaulichen Verweisungszusammenhang, auch wenn Stimmungen und körperliche Befindlichkeiten oder kombinierte, sich steigernde oder abschwächende formale Aspekte genauso zu ihrem Recht kommen. Daher gilt, dass es »für den Prozess der kunstbezogenen Wahrnehmung nicht entscheidend [ist], welche dieser Kräfte […] jeweils die Führung übernimmt; entscheidend ist vielmehr, dass sie auf die ein oder andere Weise zusammen und dabei über kurz oder lang in eine Bewegung kommen.«19 Wenn die Colourfield Painter einen »puren« und damit vermeintlich völlig nonverbalen und seiner Partikularität völlig einzigartigen Blaueindruck für unser Gesichtsfeld zur flächenfüllenden Omnipräsenz steigern, die unsere ganze subjektive Situiertheit auf eben jene sinnliche Wahrnehmung eines Blaus hin ausrichtet, dann macht sie das zu eben jenen »abstrakten Expressionisten«, als die sie die Kritik damaliger Tage tituliert hat. Sie abstrahieren eine sinnliche Impression, ein Blau und steigern es zur ausschließlichen Expression, d.h., sie übersteigern eine Quelle unserer lebensweltlichen Orientierung in einem geradezu absurden Maße, sodass wir bei der Rezeption des Werks von diesem Blau regelrecht umfangen und seiner Qualität ausgesetzt werden. Es hat eine Übergewichtung als orientierende Dimension erfahren, die ihm in dem lebensweltlichen Gefüge, dem es entstammt, normalerweise nicht zukommt. Nichtsdestoweniger bleibt es seinem ursprünglichen Kontext verhaftet und streift seine Herkunft und seine semantischen Verweisungen ja nicht völlig ab. Selbst oder gerade wegen dieser Überkonzentration auf ein »pures« Blau verschaffen sich ja u.a. Gefühlsqualitäten ihren Platz und melden sich erste Verbalisierungen zu Wort, die jenes überdimensionierte Blau auf seinen angestammten Platz in unserer Lebenswelt20 zurückgeführt sehen möchten, bei dem es für gewöhnlich als Qualität entweder an ähnlich unüberschaubaren Flächen wie dem Himmel oder dem Meer vorkommt. Die Autonomie der Kunst gleicht unter 19 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a.M. 2003, S. 138. 20 Für einen Überblick und eine Pluralisierung des Begriffs der »Lebenswelt« vgl. Waldenfels, Bernhard: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a.M. 1985.
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diesem Gesichtspunkt mehr einer geliehenen Autonomie und keiner Sphäre sui generis. Die rezeptive Navigation durch ihre Welten zehrt von eben denselben kognitiven und sinnlichen Kapazitäten, die auch außerhalb ihrer Sphäre zum Tragen kommen und durch ihre Gehalte besonders gefordert, irritiert und vielleicht auch reflexiv auf sich selbst zurückgeworfen werfen, ohne jedoch ihre Zuständigkeit (vollkommen) einzubüßen. Kantisch gesprochen kommt es bei der Begegnung mit Werken der Kunst nicht zu einem bloßen Spiel unserer Erkenntniskräfte, sondern vielmehr zu einem abgewandelten Zusammenspiel. Das Zur-ErscheinungBringen, ästhetische Gestaltung und Inszenierung ist die gezielte (Aus-)Nutzung desjenigen Spielraums, den unsere Erkenntniskräfte »haben«. Denn, dass diese Spiel haben, heißt nicht, dass sie nicht richtig »greifen« würden oder unzureichend auf die Welt eingestellt wären und nun bei der ästhetischen Wahrnehmung völlig aus der Spur springen würden und versagen. Ihre Möglichkeit zur Möglichkeit ist kein Fabrikationsfehler, sondern unter einem evolutionären Gesichtspunkt sicherlich eine der erfolgreichsten und wirkmächtisgten Anpassungen, die das Leben je hervorgebracht hat. Dass unsere Erkenntniskräfte »Spiel haben«, ist ihr größtes Verdienst, kein bedauerliches Defizit, so wie bei der Beschreibung eines Kugellagers, das Spiel hat. Denn gerade durch diesen Freiraum wird es in seinem Funktionieren gewährleistet und nicht jedes Fehlverhalten oder Abweichen von der Norm mit dessen Zusammenbruch bestraft. Denn im Gegenteil: hätte es kein Spiel wäre es nicht zur Genüge auf mögliche Unwägbarkeiten eingestellt und nur unzureichend an ein Terrain angepasst, auf das es (rein hypothetisch) stoßen könnte. Dass auch die Erkenntniskräfte des Menschen nach Jahrtausenden der selektiven Anpassung einen Spielraum zurückbehalten und ausgebildet haben, dürfte nicht zuletzt einer der Hauptgründe für unseren evolutionären Erfolg darstellen. Der »Möglichkeitsraum«, in dem wir uns durch (geistige) Vorstellungen bewegen, versetzt uns in die Lage, uns vom Stand der Dinge ein »Bild« machen zu können, bevor dieser als solcher real auf- und eintritt. Und im Gegensatz zum Tier ist das »nicht festgestellte Tier«21 Mensch »weltbildend« und reagiert nicht bloß auf Umwelteinflüsse durch ein starres Reiz-Reaktionsschema, wie der Behaviorismus noch lange bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts angenommen und postuliert hat. Der Mensch bewahrt trotz aller in letzter Zeit aufflammenden Plädoyers22 für die Direktheit der Wahrnehmung und eine direkte »Referenz« seiner sprachlichen Ausdrücke und seines Welt-Bezugs eine entschiedene Distanz und damit erst einen gewissen Freiraum gegenüber der Welt (zurück), was ihn zu all jenen gedanklichen Stellvertreter – Operationen bemächtigt, ohne die jene virtuelle Stellvertreterkultur, in der wir tagtäglich leben, wohl kaum angemessen erklärt werden könnte. Er 21 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, München 1999, S. 81. 22 Vgl. z.B. Hubert Dreyfus und Charles Taylor: Die Wiedergewinnung des Realismus, Berlin 2016.
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kann gewisse Konstellationen an möglichen Begebenheiten »durchspielen«, noch bevor diese eintreten oder jemals eintreten werden. »Vernunft ist ganz wesentlich ein Organ von Erwartungen und der Ausbildung von Erwartungshorizonten, ein Inbegriff präventiver Dispositionen und provisorisch‐antizipatorischer Einstellungen.«23 Dazu orientiert der Mensch sich in zeitlichen und räumlichen Verhältnissen, auf die seine Sprache und seine Wahrnehmung eingespielt sind und welche die Kunst immer wieder aufs Neue zerspielt; allerdings nur, um sie neu aufzustellen und damit für uns wahrnehmbar auszustellen, sie in ein neues Zusammenspiel zu bringen. Doch ein jedes Spiel hat Regeln. Und selbst, wenn diese im Falle der Kunst und ästhetischer Gestaltungen nicht offen zu Tage liegen oder vorab festgelegt sind, so bildet doch ein jedes ästhetisches Gebilde seine eigenen Spielregeln aus, die den Fortgang seiner eigenen Gestaltung, die Passung der »Teile« und die Platzierung seiner »Elemente« dirigiert. »Jenes Stadium, das sein [des Künstlers, R.Z.] Material erreicht hat, stellt Forderungen, die erfüllt werden müssen, und setzt einen Rahmen, der ein weiteres Vorgehen einschränkt,«24 wie John Dewey hierzu bemerkt. Vielleicht ist daher tatsächlich alle Kunst »Dichtung« im Sinne von Ver-Dichtung, wenn sie in einem eigens entworfenen, simultan erlebbaren und lediglich dargestellten Raum (einem Bild, einer Installation, einem Film etc.) Sinnbezüge auf sich versammelt, die lebensweltlich in ihrer Verbindung uns nicht klar vor Augen standen, aber trotz allem bereits in Ansätzen etabliert waren.25 Wenn sie uns etwas zu verstehen gibt, das einer Umstellung, einer Rekonfiguration unserer Sichtweise bedurfte, um als solches erscheinen zu können. Dass ästhetischer Sinn so verfährt und vor allem, dass er das kann, liegt nicht daran, dass er sich eines ominösen Sondermodus unseres Denkens und Wahrnehmens bedienen würde, über den sich nicht das Geringste sagen ließe und von dem wir nur ex negativo durch dessen Ergebnisse (die einzelnen ästhetischen Objekte) etwas wissen (können). Dass er das kann, liegt vielmehr daran, dass jede Art der Bedeutungsgenerierung (auch und gerade sprachliche Bedeutung) durch Vergleiche, Gewichtungen, Platzierungen und ein »materielles« Überlegen unserer Vorstellungskraft zustande kommt, wie es die ersten zwei Drittel der Arbeit versuchen, eigens herauszuarbeiten. Denn, dass Kunstwerke die (nicht verstehbare) »Materialität« der Dinge hervorkehren, ist neben der Autonomie des Kunstwerkes so etwas wie der zweite gro23 Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen, Frankfurt a.M. 2006, S. 561. Eine Tatsache, von der ein kollektiv geträumter Traum vermarktbarer Selbstbilder ja ebenfalls deutliches Zeugnis ablegt. 24 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, Frankfurt a.M. 1988, S. 147. 25 Vgl. Ferdinand Fellmans Bemerkung zur »allgemeinen Anschauung« in: ders., Phänomenologie als ästhetische Theorie, München 1989, S. 48: »Das Allgemeine im Besonderen resultiert aus der Komposition, die einzelne Aspekte des Dargestellten so kombiniert, wie sie in Wirklichkeit nie zusammengesehen werden.«
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ße Mythos der gegenwärtigen ästhetischen Theoriebildung. Doch ähnlich wie jene, zehrt auch diese Annahme von einem Missverständnis und einer Engführung unserer kognitiv‐sprachlichen Fähigkeiten. Denn diese operieren sehr wohl und durchgängig mit einem materiellen Verständnis der Dinge, wenn sie deren mögliche Aus- und Einwirkungen unter Einbezug unserer Einbildungskraft »überschlagen«. Da nun aber der Sprache die weiter oben angesprochene Vorreiterrolle in Bezug auf unsere basale Weltorientierung zukommt und sie für unsere grundlegenden Kognitionen Funktionen übernimmt, die aufgrund ihrer Arbeitsteilung und ihrer intersubjektiven Konstitution, ihrer spezifischen Notation und logischen Operationalität von keiner anderen unserer Fähigkeiten geleistet werden kann, müssen wir als erstes ein Hauptaugenmerk auf die von ihr gewährten Spielräume werfen, um daran anschließend die Spielräume unserer Wahrnehmung, unserer Vorstellungskraft und letztendlich ästhetischer Gestaltungen ausloten zu können. Denn auch in unserem Kontext ist es »wichtig zu klären, in welcher Weise die Bestimmtheit der Welt im Medium sprachlich artikulierter Gedanken zur Sprache kommen kann. Eine Klärung dieser Frage trägt maßgeblich zu einer Klärung der anderen bei, wie nicht‐sprachliche – oder angemessener: nicht nur sprachliche – Erkenntnis zu verstehen ist.«26 Wenn deutlich wird, wie Sprache und nicht dass Sprache im strengen Sinne nicht ausdeutet, sondern bis zu einem gewissen Grad immer nur andeutet, dass sie nicht ein für alle Mal bestimmt, sondern für weiterführendes Verständnis bestimmbar macht, kann gezeigt werden, was ihre Rolle im Konzert unserer übrigen Erkenntnisvermögen ist.27 Auf die Vorab-Kategorisierung der eigenen Position in geläufige Subgenres innerhalb der Philosophie wie etwa Realismus, Antirealismus, Repräsentationalismus, Konzeptualismus, Intentionalismus, Kohärentismus, Konstruktivismus, um nur einige zu nennen, werde ich bewusst verzichten, auch wenn die Namen an den gegebenen Stellen selbstredend fallen werden. Mag diese in der analytischen Philosophie häufig anzutreffende Praxis für einen kürzeren Aufsatz oder eine Einführung in zentrale Problembereiche durchaus ihre Vorzüge haben, so ruft sie andererseits nicht selten eingefahrene Vorurteile gegenüber den genannten Positionen auf, die man mit einer für diesen Fall erprobten Argumentationsstrategie anzuge-
26 Seel, Martin: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, a.a.O., S. 51. 27 Und dass sie die entscheidende Rolle spielt unter allen übrigen Einflussfaktoren, lässt sich nicht zuletzt daran ersehen, dass sie mit einer fast schon grandiosen Zuverlässigkeit garantiert, dem künstlerischen Laien durch seine Vorab-Kategorisierungen den Zugang zu den ästhetischen Qualitäten eines Werks zu verstellen.
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hen gedenkt, noch bevor man sich auf den vorgetragenen Gedankengang in seiner ganzen Weite wirklich einlassen konnte.28 Derjenige, der mit den hier angeführten Positionen vertraut ist, wird ohnehin ihre Kategorisierung für sich selbst vornehmen, demjenigen, dem die vorgetragenen Ideen noch fremd sind, wird eine vorab erbrachte Diskussion ohnehin nur wenig bringen. Denn, wie selbst noch weiter unten zu lesen sein wird, müssen Gedanken sich entwickeln, und gerade bei philosophischen Texten haben wir es ja nicht mit einzelnen Thesen im eigentlichen Sinne zu tun, sondern mit Gedankengängen, einem »Überblick«. Und dieser braucht nun einmal seine Zeit und den nötigen Raum, um sich entfalten zu können. Auch wäre es aus reinen Platzgründen schier unmöglich gewesen, sämtliche Teiltheorien gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen, indem man sie vorab einführend diskutiert, ihr Pro und Contra erwägt, noch bevor ich meinen eigenen Lösungsvorschlag, meinen »Stand der Dinge« seiner Unterbreitung zuführe. Vielmehr möchte ich meine Leser auf einen gewissen, pragmatistischen Denkstil einstimmen und eine Art Zusammenschau anbieten, die versucht, die einzelnen Theoriestränge um einige wenige, zentrale Thesen zur Funktion von Sprache, Wahrnehmung, Vorstellung und ästhetischer Gestaltung29 herum zu gruppieren, um auf diesem Weg einen roten Faden zu erhalten, der es dem Autor erlaubt hat und hoffentlich auch dem Leser erlauben wird, diejenigen Teilaspekte miteinander in Beziehung zu setzten, die eigens ausgewählt wurden in der festen Überzeugung, dass sie sich unweigerlich berühren und an vielen Stellen sinnvoll ergänzen. Die zahlreichen Kontroversen innerhalb der Philosophie um jeden einzelnen, veranschlagten Begriff macht m.E. ohnehin deutlich, was im Grunde das alleinige Geschäft der (heutigen) Philosophie sein kann und wahrscheinlich (verdeckt von einem falschen Selbstverständnis) ohnehin schon immer war: eine geschärfte, begriffliche Orientierung und Grundlagen-Reflexion und eine immer wieder neu 28 Alleine ein Wort wie »Anti-Realismus« muss zwangsläufig Antipathien wecken, scheint hier doch philosophisch etwas weg-»vernünftelt« zu werden, was als solches (eindeutig) »existiert«. Und tatsächlich ist diese Wortschöpfung unglücklich und verschafft alleine durch diese Einteilung den Vertretern eines »Realismus« einen klaren Argumentationsvorteil. Scheinen diese sich doch von vornherein für die »richtige Sache« einzusetzen. Dabei ist klarerweise jede Art von Philosophie ein »Realismus«, denn mit Sicherheit versucht jede Philosophie ihrerseits zu bestimmen, was das Reale ist, nur unterscheiden sie sich hierbei eben in der Frage, wie das Reale ist: ist es als solches nur unter Einbezug unseres Denkens, Wahrnehmens, Handelns etc. ? 29 Natürlich möchte ich keine »Funktionalisierung« der Kunst propagieren. Vielmehr lehnt sich mein Verständnis einer funktionalistischen Bestimmung der Kunst an, die derjenigen Robert Steckers nahekommt. Vgl. ders., in: Warum wir nach einer Definition der Kunst suchen sollten, a.a.O., S. 136f.: »Ein Funktionalist wird nicht automatisch Dingen Kunsthaftigkeit zuschreiben, denen der Status von Kunst eingeräumt wird […]. Er oder sie glaubt, daß es [das Kunstwerk, R.Z.] eine kunstspezifische Funktion erfüllt, daß es aber bei den fraglichen Werken oft schwer festzustellen ist, ob sie das tun.«
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ansetzende, kritische Distanznahme gegenüber eingespielten Vorannahmen und Grundbegrifflichkeiten, die den Blick für ein weiterführendes Verständnis durch allzu festgefahrene und für selbstverständlich erachtete Grundoppositionen verstellen. Nicht die abschließende Klärung oder quasi‐dogmatische Festlegung von Behauptungen, sondern vielmehr die immer wieder neue Zusammenführung unterschiedlicher Herangehensweisen vor dem Hintergrund einer geteilten Problemstellung. Denn »ein philosophisches Werk besteht wesentlich aus Erläuterungen. Das Resultat der Philosophie sind nicht ›philosophische Sätze‹, sondern das Klarwerden von Sätzen. Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen«30 . Damit soll aber keine bloße »Neubeschreibung«31 erzielt werden, denn ganz so bescheiden ist mein Anliegen dann auch wieder nicht (und wahrscheinlich das Anliegen keines Philosophen). Denn es geht mir um den Versuch einer konsistenten (Teil-)Vermittlung von vielleicht auf den ersten Blick nicht unmittelbar zusammenhängenden Problemfeldern, d.h. um das Explizieren wechselseitiger Bedingungsverhältnisse, von denen nicht immer von vornherein klar ist, zwischen welchen Gebieten diese bestehen. Daher sollte der »philosophische Streit […] weniger als ein Streit um die Wahrheit einzelner Sätze verstanden werden – obschon ein solcher Anspruch natürlich immer besteht –, sondern als der Versuch, die Angemessenheit grundsätzlicher Sichtweisen zu klären, indem er diese (relativ zu den erreichten methodischen Standards) auf die aktuellen Problembestände anwendet und sie so einer immer wieder zu erneuernden Bewährung aussetzt.«32 Denn nimmt man die Philosophie als nicht‐empirische Reflexionstätigkeit ernst, »so gehört es nicht zu ihren Aufgaben, Erklärungen in Bezug auf einzelne Phänomene (oder Klassen von Phänomenen) in der Welt zu liefern. Es ist vielmehr ihre Aufgabe, den Zusammenhang der Begriffe aufzuklären, mittels derer wir uns unser Welt-, Fremd- und Selbstverhältnis verständlich machen.«33
30 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico‐philosophicus, Frankfurt a.M. 2013, §4.112. Vgl. auch Hilmer, Brigitte: Kunst als Spiegel der Philosophie, in: Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Frankfurt a.M., 2002, S. 123f. 31 Vgl. zum anti‐essentialistischen Topos der »Neubeschreibung« insb. das Kapitel »Die Kontingenz der Sprache«, in: Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 2016, S. 21 – 52. 32 Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 2013, S. 60. 33 Betram, Georg W. et al.: In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus, Frankfurt a.M. 2008, S. 314.
1 Einstand
Es bleibt daher eine offene Frage und letzten Endes dem kritischen Leser überlassen, zu entscheiden, ob die referierte These auch wirklich noch zu Genüge derjenigen des angeführten Autors entspricht und ob eine auf den ersten Blick sehr eigentümliche Lesart vielleicht nicht gerade dadurch gerechtfertigt ist, dass sie die angestrebte Zusammenschau in einem Maße zu befördern hilft, wie es alternativ und mit einer abweichenden Argumentationsstrategie nicht hätte erzielt werden können. Dass bereits die Beschreibung von vermeintlich genuin abstrakten Vorgängen wie dem Verstehen von Sinn auffällig zurückverweist auf ein leiblich disponiertes Subjekt, das sich körperlich‐wahrnehmend und aktiv zu seiner Umwelt verhält, deutet seinerseits auf eine Einbettung von Sinn hin, die abseits von aller medial‐vermittelbaren Geltung in einem praktischen Handeln und einer lebensweltlich‐existenziellen, räumlichen Orientierung verankert bleibt,34 wie es meine Überlegungen zu unserer Wahrnehmungsfähigkeit herausstellen werden. Daraus ergibt sich (hoffentlich) gegen Ende der Arbeit eine Art (nicht‐reduktionistische) Naturalisierung oder De-Mystifizierung auch von ästhetischer Bedeutung, die allerdings nur über ein ungekürztes Verständnis unserer sprachlichen und sinnlichen Fähigkeiten zu gewinnen ist. »[And] if we can go no farther than this mental geography, or delineation of the distinct parts and powers of the mind, it is at least a satisfaction to go so far«.35
34 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, Frankfurt a.M. 2009, S. 25: »Der Raum spielt dagegen eine fundamentale Rolle, wenn es so ist, dass Leiblichkeit und Zwischenleiblichkeit die gesamte Erfahrung durchdringen und aller Sinn- und Selbstbildung einen räumlichen Akzent verleihen. 35 Hume, David: An Enquiry concerning Human Understanding, Oxford 2007, S. 9.
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2 Der Sinn des Verstehens
2.1
Hermeneutik und der Gegenstand des Verstehens
Warum die Hermeneutik im vorliegenden Zusammenhang ihre Zuständigkeit neben vermeintlich zeitgemäßeren Ansätzen wie Semiotik, Strukturalismus, PostStrukturalismus und Dekonstruktion beweist, wird uns in den nächsten Abschnitten beschäftigen. »Denn unter Ästhetikern gehört es heute zum guten Ton, der Hermeneutik nicht über den Weg zu trauen. Vielen gilt sie als ästhetisch naiv. Sie klammert sich – so geht die Kunde – an den Sinn und das Verstehen von Objekten, die gar nicht dazu da sind, in denkender Betrachtung gedeutet zu werden.«1 Danach werde ich mich der »Prägekraft« sprachlicher Praxis zuwenden, auch wenn mir mehr als bewusst ist, dass gerade Habermas eine »spannungsreiche Polarität [sieht, R.Z.] zwischen der poetisch‐welterschließenden Funktion der Sprache und den prosaisch innerweltlichen Sprachfunktionen […].«2 Was für ihn bedeutet, dass »der Raum der Fiktion, der sich mit dem Reflexivwerden der sprachlichen Ausdrucksformen öffnet, aus dem Unwirksamwerden der illokutionären Bindungskräfte und jener Idealisierungen [resultiert], die einen verständigungsorientierten Sprachgebrauch möglich machen – und damit eine über die intersubjektive Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche laufende Koordinierung von Handlungsplänen.«3 Eine Folgerung, der ich mich nicht anschließen werde, um die Kontinuität zur unserer Lebenswelt und ihren Sinnstrukturen bewahren zu können. Anstatt dem bekannten Credo zu huldigen, dass »kein Kunstwerk in Kategorien der Kommunikation zu beschreiben und zu erklären [ist],«4 möchte ich lieber annehmen, dass es nicht alleine in solchen Kategorien erklärbar ist bzw., dass hier ein falsches Verständnis von »Kommunikation« zugrunde gelegt wird. Und auch, 1 Seel, Martin: Ästhetik und Hermeneutik, in: ders., Die Macht des Erscheinens, Frankfurt a.M. 2007, S. 27. 2 Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1988, S. 240. 3 Ebd., S. 240. 4 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 167.
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dass »Gadamers Begriff der Erfahrung, der auf das kommunikative Sinn- und enger noch das auslegende Textverstehen zugeschnitten ist, hierbei nicht unbesehen übernommen werden«5 kann, bedeutet ja nicht, dass seinen Beschreibungen zum Prozess und der Phänomenalität des Verstehens im Allgemeinen nicht nach wie vor entscheidende Einsichten für die vorliegende Problemstellung abgewonnen werden können. Was also versteht die Hermeneutik unter »Sinn und Bedeutung« und wie stellt sie sich den Prozess der Sinngenerierung vor? Während die anderen Thesen aus Platz- und den oben angeführten Gründen ohne eine solche Einführung auskommen werden müssen, möchte ich hier zumindest einen kurzen, historischen Abriss anbieten, da die Kategorie der Bedeutung derart zentral für alle weiteren Betrachtungen der Arbeit sein wird und man nicht von Erkenntnis sprechen kann, ohne auf die Kategorie der Bedeutung zurückzukommen. Noch bevor die Hermeneutik im 20. Jahrhundert durch Hans-Georg Gadamer und dessen Hauptwerk »Wahrheit und Methode«6 als genuin philosophisches Projekt und erkenntnistheoretische Grundlagenreflexion prominent wurde und als umfassende Philosophie der Interpretation auch auf die Methodik anderer geisteswissenschaftlicher Disziplinen ausstrahlte, war sie im neunzehnten Jahrhundert noch dazu berufen, als Hilfswissenschaft in Auslegungsfragen zu dienen. »Im klassischen Sinn des Wortes bezeichnete ›Hermeneutik‹ einmal die Kunst, Texte richtig zu deuten«.7 In dieser Funktion war sie daran beteiligt u.a. an der Bibel-Exegese mitzuwirken, zu helfen, sakrale und kanonisierte Texte »richtig« zu deuten und damit als solche adäquat zu verstehen, die selbst für den Gläubigen und Fachmann trotz autorisierter Übersetzung interpretationsbedürftig blieben. Es ging der Hermeneutik hier um die »Befreiung der Auslegung vom Dogma.«8 Es war ihr Anspruch, »in beiden Überlieferungsbereichen, für die humanistische Literatur wie für die Bibel, den ursprünglichen Sinn der Texte durch kunstgerechtes Verfahren aufzuschließen […].«9 Das Anliegen einer so verstandenen, hilfswissenschaftlichen Hermeneutik war dabei durchaus normativ; denn sie wollte Regeln an die Hand geben, warum die eine der anderen Interpretation vorzuziehen sei und sie mehr Legitimität genießen sollte als ihre Konkurrentinnen. Sie war dazu berufen, der Beliebigkeit verschiedener Deutungen zuvorzukommen und für Objektivität in Interpretationsfragen zu sorgen, die Wahrheit ihres Untersuchungsgegenstandes ans Licht 5 Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung, a.a.O., S. 71f. 6 Georg-Gadamer, Hans: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 2010. 7 Grondin, Jean: Hermeneutik, Göttingen 2009, S. 9. 8 Wilhelm Dilthey, zitiert nach: Georg-Gadamer, Hans: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, a.a.O., S. 180. 9 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 2010, S. 178.
2 Der Sinn des Verstehens
zu bringen. Der Objektivitätsanspruch und die mathematisch verbürgte Präzision und der enorme Erfolg der naturwissenschaftlichen Methodik ließen selbstredend auch das Selbstverständnis derjenigen Wissenschaften nicht unberührt, die in ihrem Vorgehen zur Erkenntnisgenerierung vorwiegend auf ein interpretatives Vorgehen bei der Erforschung ihres Gegenstandsgebietes angewiesen bleiben: die Geistes- und Sozialwissenschaften. Deren vermeintlicher Subjektivismus sollte über kurz oder lang dem »kontrollierten« Vorgehen der Naturwissenschaften sich angleichen und das Objekt der hermeneutischen Bemühungen und die an ihm vollzogene Erkenntnis sollte seinerseits möglichst objektiv und verbindlich ausfallen. Die Regeln, von denen man glaubte, sie diesem Unternehmen an die Seite stellen zu können, waren der Hauptsache nach der antiken Rhetorik entlehnt, wie sie im Zuge des Triviums noch an mittelalterlichen Universitäten gelehrt wurden. »Diese Tradition, in der die Hermeneutik als normative Hilfswissenschaft für die auslegenden Wissenschaften verstanden wird, blieb bis hin zu Friedrich Schleiermacher (1768-1834) weitgehend unangefochten.«10 Auch deckt sich dieses Verständnis noch immer mit dem ursprünglich griechischen Verb hermēneúein, das so viel wie »erklären«, »auslegen« oder »übersetzen« bedeutet und mit dem späteren lateinischen Wort »Interpretation« zusammenfallen sollte. Diese Bezeichnung setzte sich aus zwei Hauptbedeutungen zusammen, von denen sich ausschließlich die letztere im heutigen Sprachgebrauch von Interpretation erhalten hat: nämlich sowohl den Ausdrucksvorgang (die Sprechweise, den Ausdruck und Vortrag) als auch den Erklärungsprozess (oder die Übersetzung).«11 D.h., von der antiken Philosophie wurde Interpretation noch in beide Richtungen gedacht: nicht nur muss die Bedeutung einer Aussage wieder entschlüsselt werden, also im heutigen Sinne (richtig) interpretiert, sondern sie muss vor allem zuerst angemessen in Sprache »übersetzt« werden, um überhaupt Eingang in das Reich der Worte und der gesprochenen Sprache finden zu können – was ebenfalls als interpretativer Vorgang verstanden wurde. Darüber hat die Rück-Übersetzung entsprechend von vornherein einen Objektivitätsmaßstab zur Hand; denn sie richtet sich an dem zugrunde gelegten Ausdrucks-Sinn aus, der ihr als Norm für die eigene Angemessenheit dient und ihr quasi auf umgekehrten Weg die Richtung weist für die eigenen Bemühungen zur Wiedergewinnung des ursprünglichen Sinnes. Aus dieser Warte gesehen, verfolgen erfolgreiche Interpretationen stringent zurück, was immer sich in einem Ausdruck eben aus‐gedrückt hat. »Das griechische Verständnis des Wortes ist deshalb erhellend, weil es uns einzusehen hilft, dass der Interpretationsvorgang nicht mehr und nicht weniger zu leisten hat als 10 Grondin, Jean: Hermeneutik, Göttingen 2009, S. 10. 11 Grondin, Jean: Hermeneutik, Göttingen 2009, S. 13.
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die Umkehrung des Redevorgangs selbst, der von der ›inneren Rede‹ (logos endiathos) zur ›äußeren Rede‹ (logos prophorikos) geht […].«12 Das antik‐mythologische Verständnis der Funktion Hermesʼ, des Götterboten, dürfte in diesem Zusammenhang wohl nicht von ungefähr kommen. Als Überbringer, Mittler und Vermittler der göttlichen Botschaft ist er zugleich deren privilegierter und maßgeblicher Interpret, der sie der Sprache der Sterblichen anschlussfähig zu gestalten weiß. Ohne seine unverzichtbare Übersetzungs- und Interpretationsleistung blieben die Botschaften der Götter dem Menschen entsprechend unverständlich. Auch einer der prominentesten Vertreter der späteren, romantischen Auffassung von Hermeneutik, der Philosoph und Philologe Friedrich Schleiermacher, macht sich dieses Verständnis des Interpretationsvorganges noch zu Eigen und soll mir innerhalb dieser gedrängten Übersicht als Illustration für die generelle Stoßrichtung der Hermeneutik in der Zeit von Romantik und Aufklärung dienen. Dieser schreibt: »jeder Akt des Verstehens [ist] die Umkehrung eines Aktes des Redens, indem das Bewusstsein kommen muss, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen.«13 Die Umkehrung des Aktes des Redens entspricht hier also noch immer der strikten Zurückverfolgung des im Ausdruck Ausgedrückten, jedoch unter Berücksichtigung der konstruktiven und transformierenden Leistung der Rede: »Die Umkehrung des Aktes des Redens [wird so zur, R.Z.] Nachkonstruktion einer Konstruktion«14 – sie wird bei einem geglückten Ausgang zur kongenialen Re‐konstruktion. Kongenial insofern, als dass bei Schleiermacher (gemäß Gadamers maßgeblicher Interpretation) ein subjektivistisches Paradigma vorherrschend bleibt, dass das zu interpretierende Gedankengebilde weniger auf seinen sachlichen Inhalt hin zu verstehen sucht, als es dem Wirken eines künstlerisch‐schöpferischen Aktes nachspürt und damit einer im Zweifelsfall ingeniösen und (wenn es sich um Künstler handelt in aller Regel auch) sehr »eigenen« Persönlichkeit entspricht. Ein »individuelles Denken, freie nicht durch das Sein gebundene Kombination[en]«15 geben hier die Richtung vor, die interpretativ zurückverfolgt werden muss. Bei dieser vordergründig überzogen wirkenden Subjektivierungstendenz sollte nicht vergessen werden, dass die Zeit der romantischen Philosophie tiefgreifend durch die erkenntnistheoretische Intervention der Kantischen Kritiken geprägt und die Hoffnung auf eine umfassende Welterkenntnis alleine durch den Gebrauch »reiner Vernunft« (nicht nur) für die Zeitgenossen Kants zerschlagen wurde. In deren Folge scheint die Hinwendung zur inneren Welt des Erkenntnissubjekts nur konsequent und sachgemäß, wie sie der Deutsche Idealismus rückblickend dann wiederum ein wenig zu enthusiastisch betrieben hat, indem dieser allmählich vom kritischen 12 13 14 15
Ebd., S. 14. Vgl. auch Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 192f. Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik, Frankfurt a.M. 1977, S. 78. Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 192. Ebd., S. 191. Nicht zufällig wird man in diesen Bestimmungen den Genie-Kult des 18. Jahrhunderts heraushören.
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zum absoluten Idealismus übergegangen ist, was neben den Schriften Schlegels, Schellings und Fichtes ohne Zweifel vor allem das Verdienst Hegels gewesen sein dürfte.16 Auch eine mittelalterliche Hermeneutik, die noch an einen von Gott verbürgten, universellen Zeichenzusammenhang glaubte, an einen »Kosmos« und seine Inskription in das »Buch der Natur«, kann unter diesen Vorzeichen nicht mehr überzeugen. Dies führt dazu, dass der Gegenstand der hermeneutischen Rekonstruktionsbemühungen nicht mehr »der psychische und kulturelle Innenraum historisch gewordener Verhältnisse, nicht mehr ein universaler, Welt und Mensch übergreifender Zeichenzusammenhang […]« ist, sondern das Verstehen einer »affektiv geprägten Individualität«17 und von dessen geistigem Ausdruck. Allerdings: »Je konkreter dann nach dem Subjekt dieses Phänomens gefragt wird, desto mehr verblasst die vage Rede vom Geist und macht der Suche nach der Individualität des Autors Platz […]. Der Akzent verlagert sich […] vom Verfahren der richtigen Auslegung zum Verstehen dessen, was Dilthey später ›Lebensäußerungen‹ […] [nennen wird, R.Z.].«18 D.h., dass sich die romantische Hermeneutik vor die Aufgabe gestellt sieht, die zu verstehenden, sprachlichen Äußerungen auf die Gedanken zurückzuführen, die sie hervorgebracht haben; ja, es geht einem solchen auf Individualität abzielenden Verstehens-Versuch regelrecht um die Rückgewinnung der ursprünglichen Gedankeninhalte und Gedankengänge, die genau zu diesem Ausdruck und keinem anderen Anlass gegeben haben.19 Auf den ersten Blick zeichnet sich daher zunehmend eine in höchstem Maße und im heutigen Sprachgebrauch intentionalistisch zu nennende, psychologisierende Auffassung des Verstehensvorgangs ab, bei der das erklärte Ziel identisch ist mit den maßgeblichen Gedankeninhalten eines einstigen Sprechers beziehungsweise Autors, d.h. seinen (nach geläufiger Meinung) Vorstellungs-Gehalten, die sich bei der Abfassung und Produktion eines Werkes eingestellt und dieses angeleitet haben. Nichts Geringeres als der Versuch soll unternommen werden (und bestenfalls auch glücken), sich erneut in das gedankliche Innenleben des Verfassers hineinzuversetzen und damit zusammen (wenn nötig) immer auch in den Kontext der Lebenswirklichkeit einer geschichtlichen Epoche, dem diese Innenwelt zum größten Teil ihre Konturen verdankt. Unter diesem Gesichtspunkt, der sozusagen das Ganze eines Innenlebens einer fremden Subjektivität anvisiert, wird das gebotene, hermeneutische Vorgehen geradezu ein »divinatorisches Verhalten, ein Sichversetzen in die ganze Verfassung des Schriftstellers, eine Auffassung des ›inneren Hergangs‹ der Abfassung eines Werkes, ein 16 17 18 19
Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Klassische und philosophische Hermeneutik, a.a.O., S. 99. Jung, Matthias: Hermeneutik, a.a.O., S. 59. Ebd., S. 60. [Mein Hervorhebung]. Vgl. hierzu Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 189.
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Nachbilden des schöpferischen Aktes. Verstehen also ist eine auf eine ursprüngliche Produktion bezogene Reproduktion, ein Erkennen des Erkannten […].«20 Was hier verstanden werden soll, ist gänzlich individuelle Gestaltung, eine subjektive Äußerung, ein (womöglich) hochgradig idiosynkratrisches Denken, das seine Gedankeninhalte ohne vorgegebene Regel frei kombiniert und (schriftlich) niedergelegt hat. Einer solch künstlerischen Produktion korrespondiert dann entsprechend auf Seiten des Rezipienten eine ebenso hochgradig individuelle Kunst des Verstehens und Hermeneutik geht allmählich von einer »Entscheidungslehre« in eine »Erwägungslehre«21 über, bei der als Zielpunkt ihres Gelingens »der Text als eine eigentümliche Lebensmanifestation seines Verfassers aufgeschlossen wird.«22 In dieser Stoßrichtung geht es letzten Endes um eine Art ebenbürtiges, gleichgesinntes »Einfühlen« in bedeutungshafte Gebilde, das den Interpreten an die Stelle des einstigen Verfassers versetzt um die Wieder-Holung eines Zugrundegelegten vollziehen zu können. Durch die radikal‐subjektive Formgebung und -gestaltung hindurch geht es um dasjenige, was der Äußernde tatsächlich gemeint hat, nur eben unter strengem Rückbezug auf das, was im heutigen philosophischen Diskurs etwas gemäßigter die »Autorenintention« genannt wird. Dabei kann und sollte der Kontext, von dem her das zu Interpretierende, das interpretandum, verstanden wird, gegebenenfalls immer weiter ausgedehnt werden, auch wenn es nur ein einzelner, undeutlicher Gedanke ist, der hierdurch der Verständlichkeit zugeführt wird und sich erhellt – was in der philologischen Zunft oft unter Zuhilfenahme eines ganzen Arsenals unterschiedlicher Quellen und Belege geschieht. Innerhalb der hermeneutischen Tradition gilt dieses Vorgehen schon lange »in selbstverständlicher Weise für das grammatische Verständnis jeden Satzes bis zu der Einordnung desselben in den Zusammenhang des Ganzen eines LiteraturWerks, ja, bis zum Ganzen der Literatur bzw. der betreffenden literarischen Gattung – Schleiermacher wendet ihn nun aber auf das psychologische Verständnis an, das ein jedes Gedankengebilde als einen Lebensmoment im Totalzusammenhang dieses Menschen verstehen muss.«23 Spätestens hier, wenn das Verstehen auf den »Totalzusammenhang« zielt, kommt auch in Schleiermachers Denken der für jedes hermeneutische Vorgehen grundle20 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 2010, S. 191. [Meine Hervorhebung] 21 Die Bergriffe sind Otto Pöggelers Überlegungen zum demokratischen Prozess der Meinungsbildung entnommen, bei dem versucht werden sollte, das dezisionistische Moment der realpolitischen Rationalität durch hermeneutisch aufgeklärtes Vorgehen in Zaum zu halten. Vgl. ders., Dialektik und Topik, in: Hermeneutik und Dialektik, Tübingen 1970, Bd. 2, S. 309f. 22 Ebd., S. 195. Vgl. auch Gadamer, Hans-Georg: Klassische und philosophische Hermeneutik, Tübingen 1993, S. 98. 23 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 194.
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gende, »hermeneutische Zirkel« zu seiner Anwendung. Dieser besagt bekanntlich, dass sich der Sinn des Einzelnen nur aus dem Ganzen ergibt und vice versa. Denn für die Hermeneutik besteht zwischen den einzelnen Bestandteilen eines geistigen Gebildes und seinem Gesamtsinn ein zirkelartiges Verhältnis und nur durch die Teile erschließt sich das Ganze und nur durch die Kenntnis des Ganzen erschließt sich wiederum der Sinn der einzelnen Bestandteile. »Im Hin und Her der kreisenden Bewegung zwischen Ganzem und einzelnem […]. Es ist immer diese Bewegung, in der man eine fremde Meinung, eine fremde Sprache oder eine fremde Vergangenheit verstehen lernt. Eine kreisende Bewegung hat auch deshalb statt, weil kein Auszulegendes auf einmal verstanden werden kann‹«.24 Immer wieder bedarf es der Nachkorrektur, immer wieder ist der tastende Ab- und Vergleich mit Vorannahmen erfordert, Verwerfungen und Anpassungen bleiben nicht aus und der Weg zur »richtigen« Interpretation wird einem nicht geschenkt, sondern ist mit harter Arbeit verbunden, die sich von ihrem Gegenstand leiten und das jeweils individuelle Vorgehen eingeben lässt. »Die Hermeneutik ist eben Kunst und nicht ein mechanisches Verfahren. So bringt sie ihr Werk, das Verständnis, selber wie ein Kunstwerk zur Vollendung.«25 Mit einem gewissen, schon differenzierten oder noch unausgebildeten Vorverständnis ausgestattet nähern wir uns dem zu Verstehenden, welches, wenn es sich denn wirklich um ein genuin Neues, noch nicht Bekanntes handelt, nicht einfach und reibungslos in das eigene Vorverständnis integriert werden kann und so immer wieder zur Teil-Revision gewisser Vorannahmen zwingt. Mit diesem modifizierten Vorverständnis ausgestattet beginnt die Zirkelbewegung von neuem und auch der Gegenstand der Auslegung erscheint seinerseits in verändertem Licht, ohne dass diese Bewegung zu einem endgültigen Abschluss gelangen könnte. »Ein Satz wird gehört oder gelesen und erzeugt damit einen provisorischen Kontext, eine Vermutung, in welchen Zusammenhang er gehören könnte. Indem weitere Sätze hinzukommen, konkretisiert sich dieser Zusammenhang so, dass er mit fortschreitender Bestimmung auch auf das Verständnis der ersten, noch kontextarmen Äußerungen zurückwirkt. Damit beginnt ein neuer Zirkel, der im Idealfall die wechselseitigen Implikationen von Sinneinheit und Sinnzusammenhang korrigierend noch besser herausarbeitet […].«26 Gadamer übt nun bekanntlich an dieser romantischen Auffassung des Verstehens und des Nachverfolgens eines fremden Gedankenganges nachhaltig Kritik, da sie 24 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 195. Eine theoretische Entsprechung ist mit Sicherheit die Einsicht in den Holismus sprachlicher Bedeutung, auf den wir weiter unten noch im Zuge sprachanalytischer Entwürfe zu sprechen kommen. 25 Ebd., S. 194. 26 Jung, Matthias: Hermeneutik, a.a.O., S. 69.
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den Gegenstand des Verstehens nicht richtig deutet. Zwar scheint es so, als schränke Schleiermacher selbst diese allzu psychologisierende Auffassung vom methodischen Vorgehen und dem erklärten Gegenstand der Hermeneutik an mehreren Stellen entschieden ein, wenn er betont, es sei immer auch die Aufgabe der Hermeneutik »die Rede zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber.«27 Folgt man jedoch Gadamers maßgeblicher Rekonstruktion, gibt Schleiermacher damit im Grunde nur zu verstehen, dass der Urheber eines Sinngebildes nicht auch gleichzeitig dessen privilegierter Interpret sein muss. Dem Autor können Aspekte seines eigenen Schaffens verborgen geblieben sein und auch weiterhin unbekannt bleiben wie beispielsweise durch Einübung erworbene, grammatikalische oder kompositionelle Regeln, die (unbewusst) zur Anwendung gelangt sind und einen Text prägen.28 Werden dieses dann rückblickend von einem Dritten eigens thematisch gemacht und in interpretativer Herangehensweise eigens abgehoben, kann in diesem Sinne von einem »besseren« Verstehen eines Textes die Rede sein, ohne jedoch (und das ist der entscheidende Punkt) dass für Schleiermacher dadurch der Gegenstand des Verständnisses berührt wäre. Es geht immer noch um subjektive Innerlichkeit, die sich ausdrückt und dabei ihren Weg über ein AusdrucksMedium nimmt.29 »Gegenstand des Verstehens sind konkrete Ausdrucksgestalten, in denen von allgemeinen Ausdrucksmitteln ein spezifischer Gebrauch gemacht worden ist, den es zu verstehen gilt.«30 Jedoch ist es nach wie vor ein Mehr des Gebildes, respektive des Textes und nicht etwa die Konkretisierung oder Ausdifferenzierung der dargestellten oder ausgedrückten »Sache«, auf die im Gegensatz dazu Gadamer verweisen wird. Trotz dieses Umwegs über das Material bleibt die Autorenintention für die romantische Hermeneutik der alleinige Maßstab in Auslegungsfragen. Was es zu analysieren gilt, ist ein individuelles Ausdrucksphänomen. Eine Insistenz, in der Gadamer (berechtigterweise) eine allzu starke Neigung hin zur kursierenden Genieästhetik der Zeit vermutet; denn die freie Schöpfung des Genies »ist nicht durch äußere oder stoffliche Bedingungen eingeschränkt und kann daher nur als ›innere Form‹ erfaßt werden.«31 Ausdruck verwirklicht sich in dieser Blickrichtung ausschließlich als Indienstnahme eines Materials und wird durch dieses nicht etwa ermöglicht; dem Material wird der Ausdruck vielmehr »aufgedrückt«, als dass er 27 Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik, Frankfurt a.M. 1977, S. 94. 28 Eine durchaus zutreffende Beobachtung, die generell auch für künstlerische Kontexte zutreffend ist, wie wir noch sehen werden, da es sich aus produktionsäshetischer Sicht doch in aller Regel bei den meisten (wenn nicht allen) ästhetischen Gestaltungen um ein »implizites« Wissen handelt, das handlungsleitend die Ausführung bestimmt und in den seltensten Fällen verbalisierbar ist oder eigens thematisch gemacht werden kann. 29 Vgl. Jung, Matthias: Hermeneutik, a.a.O., S. 65. 30 Ebd., S. 71. [Meine Hervorhebung] 31 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 197.
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ihm (wie es produktionsästhetisch angemessener beschrieben wäre) in aktiver, verstehender Auseinandersetzung »abgerungen« würde. Durch die Betonung der Produktion und des produzierten Ausdrucks geht es (nach einer Formulierung von August Boeckh, die im obigen Zitat von Gadamer bereits angeklungen war) der Hermeneutik zu diesem Zeitpunkt (und der auf sie angewiesenen Disziplinen wie der Philologie) letzten Endes um das »Erkennen des Erkannten«32 , so zusagen um eine geistige Vorgeformheit, eine innere Form, die der Autor individuell in seinem Gebilde niedergelegt und verwirklicht hat. Doch was ist nun nach dieser gerafften, historischen Übersicht die Beschränkung eines solchen Ansatzes – wo ist der blinde Fleck, den es bei unserer eigenen, systematischen (Re-)Lektüre zu berücksichtigen und bestenfalls zu vermeiden gilt? Gerade, da der referierte Entwurf doch auf originäre Ausdrucksphänomene abhebt und schon dadurch ein attraktiver Kandidat auch für eine ästhetische Theorie zu sein scheint? Es ist die problematische Annahme eines sich durchhaltenden »Ganzen« an Sinn, das durch die jeweils anvisierte, fremde Individualität vermeintlich verbürgt wird, für die etwas Sinn ergibt und deren Verständnis und Sicht der Dinge durch die hermeneutischen Bemühungen wiedergewonnen werden soll. Eine Vorstellung, die nicht zuletzt durch die einsetzende, methodische Grundlagenreflexion der Geschichtswissenschaften im 19. Jahrhundert vermehrt fragwürdig erscheint und in der Postmoderne endgültig zugunsten von dem Subjekt entzogenen Dynamiken verabschiedet werden wird, die dieses selbst in seiner Einheit in Frage stellen. Die Klärung historischer Erkenntnis wird damit unumgänglich. Diese kann sich nicht mehr auf apriorische Systementwürfe berufen, auf eine List der Vernunft, die letzten Endes doch noch ein unterschwelliges Telos aller Kontigenzen zum Trotz verwirklicht, noch auf eine individuelle Intentionalität, die diese in ihrer Vorstellungswelt zusammenhält. Eine Philosophie, die den Sinn historischer Begebenheiten erklären möchte, kann sich nicht länger auf die Suche nach universellen Ideen begeben, die den Verlauf der Geschichte prägen, noch ihre Bemühungen auf den Innenhorizont eines persönlichen Erlebens richten, das für Ordnung sorgt. Gesucht wird vielmehr eine Zwischenstellung, die es erlaubt, »die Fülle und Mannigfaltigkeit des Menschlichen [zu erklären, R.Z.], die sich in dem unendlichen Wechsel der menschlichen Geschicke zu steigender Wirklichkeit bringt.«33 Aber wenn kein Apriori und keine Notwendigkeit, keine (natürlichen) Gesetze, kein Telos und keine Finalität die Geschicke der Geschichte lenken, welche Erkenntnisse kann sich der Historiker und Philologe dann überhaupt noch und aufgrund welcher Beschaffenheit von seinem Forschungsgegenstand erwarten? Welcher Art ist dieser »Gegenstand«, wenn er zwar Subjekte betrifft, deren Handlungen mit in ihn eingehen, ihre Ereignisse und Verläufe aber nicht auf 32 S. Gadamer, Hans-Georg: Klassische und philosophische Hermeneutik, a.a.O., S. 99. 33 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 206.
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willentliche Entscheidungen von Akteuren (alleine) zurückführt werden können?34 Denn es ist ja »gar nicht die Wirklichkeit der Geschichte, derart ›gemeint‹ zu sein. Daher ist das wirkliche Wollen und Planen der handelnden Menschen gar nicht der eigentliche Gegenstand des historischen Verstehens. Die psychologische Interpretation der einzelnen Individuen kann die Sinndeutung der geschichtlichen Ereignisse selbst nicht erreichen.«35 Aber die korrekte Sinndeutung geschichtlicher »Gegenstände« ist nun einmal etwas, das auch diese Untersuchung ausdrücklich zu interessieren hat; denn der Gehalt von sämtlichen Sinngebilden, gerade auch der ästhetisch wahrzunehmenden, ist seinerseits weder bloß »gemeint« noch ein für alle Mal konstituiert oder endgültig in ihnen »niedergelegt«, obwohl sich durchaus Kritierien für deren Identität angeben lassen.36 Auch ästhetische Bedeutung verdankt ihr Zustandekommen und ihre Darstellbarkeit einem Formierungsund Rezeptionsprozess, in den kulturelle Kontexte, unsere historische Situiertheit und unser Vorwissen (über mögliche Bildsujets, Anspielungen, Zitate etc.) mit eingehen und die ihrerseits den Hintergrund bilden für an sie anschließende oder sich von ihnen absetzende Gestaltungen, die auf deren Ausdrucksmittel 34 Vgl. zur Rolle der Akteurs-Kausalität innerhalb geschichtlicher Zusammenhänge die klassische Bestimmung von »Wirkungszusammenhängen« bei Wilhelm Dilthey, in: ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M. 1981, S. 191ff. Vgl. für eine analytisch ausgerichtete Untersuchung dieses Problemzusammenhanges und damit einhergehend zur Fuktionsweise von »Narrativen« Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt a.M. 1980. 35 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 217. Vgl. auch Hans-Georg-Gadamer: Ästhetik und Hermeneutik, a.a.O., S. 7: »Die subjektiven Meinungen der im Prozess der Geschichte stehenden Menschen sind selten oder nie von der Art, dass eine spätere historische Würdigung der Ereignisse ihre Einschätzung durch die Zeitgenossen bestätigt. Die Bedeutung der Ereignisse, ihre Verflechtung und ihre Folgen, wie sie sich im geschichtlichen Rückblick darstellen, lassen die ›mens actoris‹ ebenso hinter sich, wie die Erfahrung des Kunstwerkes die ›mens auctoris‹ hinter sich lässt.« 36 Vgl. für eine Diskussion rund um die Relevanz der »Autoren-Intentionalität«, der »mens actoris« für den Gehalt von Kunstwerken u.a. Carrol, Noël: Art, Intention and Conversation, in: ders., Beyond Aesthetics. Philosophical Essays, Cambridge 2001, S. 157 – 180; Davies, Stephen: The Aesthetic Relevance of Authorsʼ and Paintersʼ Intentions, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 41, 1982, S. 65 – 76; Iseminger, Gary: An Intentional Demonstration?, in: ders. (Hg.), Intention and Interpretation, Philadelphia 1992, S. 76 – 96; Eco, Umberto: Überzogene Textinterpretation/Zwischen Autor und Text, in: ders., Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation, München 2004, S. 52 – 98; Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte, in: R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik, München 1979, S. 228 – 252; K. Wimastt, William & C. Beardsley, Monroe: Der intentionale Fehlschluss, in: F. Jannidis et al. (Hg.), Texte zur Theorie der Autoschaft, Stuttgart 2000, S. 84 -101; Levinson, Jerrold: Intention and Interpretation in Literature, in: ders., The Pleasures of Aesthetics. Philosophical Essays, Ithaca 1996. Vgl. bspw. die spätere Arbeit »Text und Interpretation« in: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Tübingen 1993, S. 342f. Danto, Arthur C.: Appreciation and Interpretation, a.a.O., S. 41 und insb. Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen, a.a.O., S. 193ff.
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zurückkommen oder sie bewusst überschreiten. »Nicht nur die Konturen der Kunstgeschichte müssen sich verändern, bevor solche [künstlerischen »Aussagen«, R.Z.] möglich sind, sondern man muss diese Geschichte auch in sich aufgenommen haben, um solche Aussagen machen zu können,«37 wie Danto sagt. Die Ausdrucksmöglichkeiten von Kunstschaffenden bleiben auf vorangegangene Werke und Problemstellungen bezogen und diese »antworten« ihrerseits zum Teil auf aufgeworfene Probleme, gehen über diese hinaus, indem sie sich teils implizit, teils explizit auf sie beziehen und über diesen Verarbeitungsprozess u.U. selbst neue Maßstäbe für neue Gestaltungsmöglichkeiten und Rezeptionsweisen schaffen.38 Daher ist auch sinnlicher Gehalt trotz und entgegen einem Großteil der ästhetischen Gegenwartsliteratur in einer ersten Annäherung durchaus mit Gadamers Konzept der »Horizontverschmelzung« explizierbar. Das Erscheinen ästhetischer Objekte, ihre Unmittelbarkeit und wahrgenommene Gegenwärtigkeit, mit der sie (für einen entsprechend disponierten Rezipienten) ihren Gehalt präsentieren und »ausspielen«, darf nicht über ihre Historizität hinwegtäuschen. »Es ist der Kunst […] wesentlich, sich zu entwickeln; das heißt, sich zu verändern und, wie Hegel sagt, ›in sich zurückzukehren‹, sich also in geschichtlicher Gestalt darzustellen.«39 Die Gleichzeitigkeit, die vergegenwärtigende Darstellung, die das Erscheinen des ästhetischen Objekts auszeichnet und in der es seine bedeutungshaften Sinnbezüge auf sich versammelt, darf nicht dazu verleiten, die Kunst und ihre Werke der Zuständigkeit einer hermeneutischen Reflexion zu entziehen. Nur weil ein Kunstwerk mehr als alle anderen Sinngebilde abgeschlossen erscheint und es die offensichtlichsten seiner Eigenschaften aufgrund deren sinnlicher und nicht rein semantischer Gestaltung auch dem unschuldigen Auge darzubieten versteht (sodass meist selbst das Kind »etwas« darauf oder darin sehen kann), heißt das nicht, »dass es [das Kunstwerk, R.Z.] nicht eine Aufgabe des Verstehens stellte und dass nicht auch seine geschichtliche Herkunft in ihm anzutreffen ist.«40 Es gilt letzten Endes, »diese Zeitlosigkeit [der Präsentationsweise, R.Z.] mit der Zeitlichkeit [des Gehalts, R.Z.] zusammenzudenken.«41 Denn sicherlich weisen die anspruchsvol37 Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, a.a.O., S. 88. Allerdings versteht Danto unter »Ausdruck« hier nur die von ihm veranschlagte »aboutness«, also die »Bezogenheit« von Kunstwerken, die er bereits für deren »Gehalt« erachtet und die sich seiner Meinung nach nicht notwedndigerweise in einem modifizierten, anschaulichen Erscheinen niederschlagen muss. Für eine Kritik vgl. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 156ff. 38 Vgl. Carroll, Noël: Art, Intention, and Conversation, in: ders., Beyond Aesthetics. Philosophical Essays, a.a.O., S. 176. 39 Merleau-Ponty, Maurice: Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, in: ders., Zeichen, Hamburg 2007, S. 95f. 40 Gadamer, Hans-Georg: Ästhetik und Hermeneutik, in: Kunst als Aussage, Tübingen 1993, S. 2. 41 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 126. Dass daraus eine explizite Spannung resultiert, aus der u.a. Christoph Menke die Konsequenz zieht, dass es zu keiner endgültigen und
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leren, ästhetischen Gebilde mehrere (Sinn-)Ebenen auf und die Forderung eines ästhetischen Formalismus oder Purismus, diese haben sich uns gefälligst auf den ersten Blick zu erschließen, kann letzten Endes nicht überzeugen.42
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Die lebendige Erfahrung
Im Anschluss an die romantische Schule erweitert sich der Gegenstandsbereich der Hermeneutik nunmehr eklatant, was gleichzeitig zu einer Universalisierung der hermeneutischen Methode an sich führt. Nicht mehr nur der Sinn von Texten und historischen Dokumenten ist fortan das erklärte Untersuchungsziel, sondern »alles kann von nun an Gegenstand hermeneutischer Auslegung werden.«43 Aktive Verstehens-Bemühungen und zu leistende Interpretationen seiner Umwelt stehen dem Menschen gemäß dieser Universalisierungstendenz nunmehr überall zu Gebote, ob es sich um artifizielle Gegenstände oder Symbole, sozial erzeugten Sinn oder kulturelle Praktiken, die Beherrschung einer Fremdsprache oder die richtige Einordnung des Minenspiels des Gegenübers in den eigenen Überzeugungshaushalt handelt.44 »Was immer ›Sinn‹ sonst noch sein mag, es ist jedenfalls ein Titel für menschliche Deutungen der Wirklichkeit. Sinnvoll oder sinnlos, mit einem spezifischen Sinn ausgestattet oder nicht, ist Realität nur als menschlich angeeignete, im Lichte humaner Interessen und ihrer Symbole gedeutete Realität […]. In jeder symbolischen Repräsentation [wird] Wirklichkeit nicht einfach wiedergespiegelt, sondern gedeutet […]. Sinnverstehen hat daher stets die elementare Struktur, dass etwas als etwas verstanden wird.«45 Als generalisierende Lehre vom Verstehen wird Hermeneutik letztlich zu »eine[r] methodologische[n] Grundlagenreflexion über den wissenschaftlichen Status der
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damit überhaupt keiner Ausbildung von Sinn in der ästhetischen Erfahrungssituation kommen kann, wird als Einwand ernst genommen und weiter unten ausführlicher diskutiert werden. Vgl. insb. ders., Die Souveränität der Kunst, a.a.O., S. 122ff. Vgl. für eine Diskussion z.B. Davies, Stephen: The Philosophy of Art, New Jersey 2011, S. 60ff. Grondin, Jean: Hermeneutik, a.a.O., S. 23. Oder in den (erbaulichen) Worten von Georg Misch, einer der bedeutensten Schüler Diltheys: »Denn von Auslegung redet man nicht bloß in bezug auf die von Menschen geschaffenen Werke, Schriftwerke, Kunstwerke überhaupt (schließlich auf Taten), sondern das menschliche Leben selber, dieses rätselhafte, von uns nicht gemachte, sondern uns umfangende, von uns gelebte Leben, ja auch die Welt, in der wir leben, ist Gegenstand der Auslegung, die das Mannigfaltig – Einzelne, das an uns herantritt, die Lebensäußerungen des Menschen, die Geschehnisse des Weltlaufs nach ihrem Sinn im Ganzen von Welt und Leben befragt […]«, in: ders.: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, München 1994, S. 567f. Jung, Matthias: Hermeneutik, a.a.O., S. 16.
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Geisteswissenschaften.«46 Wesentlicher Vertreter und theoretischer Wegbereiter ist hierbei vor allem Wilhelm Dilthey, der erstmals nachdrücklich den Begriff der Interpretation ausweitet, sodass diese als unser »Zugang zur Welt« überhaupt in den Blick rückt und interpretative Prozesse als die allseitige und spezifisch menschliche Realitätsaneignung erscheinen. Erst durch diese Bedeutungserweiterung und -verschiebung kann die Hermeneutik schließlich denjenigen Rang einnehmen, den sie u.a. für die Philosophie Martin Heideggers hat, der ihr innerhalb seines Theoriegebäudes eine explizit pragmatische Wendung verleiht.47 Nicht mehr Sinngebilde sondern die menschliche Existenz selbst wird bei Dilthey und später bei Heidegger in das Zentrum des Interesses rücken und einer expliziten, hermeneutischen Analyse unterworfen. Muss sich der Mensch doch unweigerlich interpretativ‐verstehend auf die Welt einlassen, möchte er überhaupt zu Erkenntnissen gelangen oder eine Welt »haben«.48 Die Interaktion von Mensch und Umwelt, der Zusammenhang von Verstehen und Handeln wird bei solch pragmatisch ausgerichteten Hermeneutiken eigens ins Zentrum gerückt und damit auch eine allererste Produktion von Sinn theoretisch behandelt, die einer Vermittlung von bereits herausgebildeten Sinn (wie in der bis dato vorherrschenden, philologischen Ausrichtung) zuvorkommt. Spätestens bei Heidegger wird »damit […] Hermeneutik in den Dienst der Existenzphilosophie gestellt«.49 Doch bevor wir uns einer »Hermeneutik der Faktizität« zuwenden (wenn auch nicht Heideggers gleichnamiger Vorlesung) und dem »Selbstentwurf« der menschlichen Existenz ein wenig mehr nachspüren, in dem »Selbstbezug, Weltbezug, Handeln und Interpretation zu einer hermeneutischen Konstellation gebracht [werden]«50 , sollten wir zuerst sehen, was Gadamer zu einer Bedeutung von Bedeutung zu sagen hat, die wieder dasjenige etabliert, was für einen 46 Grondin, Jean: Hermeneutik, S. 10. Vgl. auch Ricoeur, Paul: Existenz und Hermeneutik, in: ders., Der Konflikt der Interpretationen, München 2010, S. 24. 47 Vgl. Grondin, Jean: Hermeneutik, S. 11. 48 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Text und Interpretation, in: ders., Wahrheit und Methode. Ergänzungen, a.a.O., S. 339: »Interpretation ist es, was zwischen Mensch und Welt die niemals vollendbare Vermittlung leistet, und insofern ist es die einzige Unmittelbarkeit und Gegebenheit, dass wir etwas als etwas verstehen. Der Glaube an die Protokollsätze als Fundament aller Erkenntnis hat auch im Wienerkreis nicht lange gewährt. Die Begründung der Erkenntnis kann selbst im Bereich der Naturwissenschaften der hermeneutischen Konsequenz nicht ausweichen, dass das so genannte Gegebene von der Interpretation nicht ablösbar ist […]. So wurde im sogenannten Wahrnehmen selber das hermeneutische Etwas‐als-etwas-Verstehen aufgedeckt. Das aber heißt in letzter Konsequenz, dass Interpretation nicht eine zusätzliche Prozedur des Erkennens ist, sondern die ursprüngliche Struktur des ›In‐der-Welt-Seins‹ ausmacht. « 49 Ebd., S. 11. 50 Jung, Matthias: Hermeneutik, a.a.O, S. 103.
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Anspruch auf Erkenntnis im Grunde unabdingbar ist: nämlich einen »Wahrheitsbezug«. Erst wenn ein bestimmtes Wahrheits- und Bedeutungsverständnis vermieden werden kann, das aus beider Engführung resultiert, kann auch die Kapazität unserer restlichen epistemischen Vermögen: unserer Wahrnehmungs und unserer Vorstellungskraft unverfälscht ans Licht gelangen. Der Aufteilung der Arbeit entsprechend möchte ich mich noch ein wenig länger dem Verstehen eines »vorgegebenen« Sinnes widmen, bevor ich mich der sinnschöpferischen Seite unserer pragmatischen, innerweltlichen Orientierungsfähigkeiten selbst zuwende. Zudem stellt es eine durchaus zutreffende Einschätzung dar, dass Gadamers Konzeption von Hermeneutik die für meine Untersuchung entscheidenden existenzial‐pragmatischen Züge von Verstehensprozessen zugunsten einer regelrechten »Ent-Subjektvierung« vorschnell verabschiedet und diese als ein »wirkungsgeschichtliches Geschehen« konzipiert, in der die erste Person und ihre Perspektive und damit die Interaktion von Mensch und Umwelt keinen entscheidenden Platz mehr einnehmen. Doch wie jede Philosophie, die nicht (mehr) glaubt, »letzte Wahrheiten« auszusprechen, sondern (lediglich) für Klarheit in einem Themengebiet zu sorgen, so kann auch die Verbindung der zentralen Begriffe der Gadamerschen Analyse nicht immer streng »sachlogisch begründet werden [und] eine Hermeneutik nach Gadamer [steht] deshalb keineswegs vor der misslichen Alternative, seine Synthese als Ganze zu akzeptieren.«51 Auf ein grundlegendes Verständnis einiger zentraler Begriffe wie der »Horizontverschmelzung« oder unserem immer schon stattfindenden »Vorgriff auf Sinn« kann hingegen auch diese Untersuchung nicht verzichten. Die Antwort auf die Frage, was denn nun genau die spezifisch historische Erkenntnis und ihren Gegenstand nach Gadamer auszeichnet und »wie ein geschichtliches Wesen geschichtlich die Geschichte verstehen [kann],«52 wird uns mit einem weiteren Schlüsselbegriff für die nachfolgenden Analysen ausstatten, nämlich demjenigen der Erfahrung. Es geht der historischen Erkenntnis um Erfahrung im emphatischen Sinne, bei der sie (nach‐idealistisch und methodisch aufgeklärt) nicht mehr auf reine Vernunftkonstruktionen abhebt, sondern die Kontingenz ihres Gegenstandes vorbehaltslos anerkennt, was nur möglich ist, wenn sie ebenfalls die Geschichtlichkeit des erfahrenden Erkenntnis-Subjektes einräumt. Denn nur dieses versteht aufgrund seiner eigenen Zeitlichkeit und historischen Perspektive überhaupt das sich in jeder historischen Erkenntnis aussprechende Problem. Beide Punkte betont vor Gadamer bereits Wilhem Dilthey in aller Deutlichkeit, nur gelingt es ihm laut Gadamer nicht, die entscheidende Brücke zu schlagen zwischen der individuellen und der gesuchten, genuin geschichtlich‐kollektiven Erfahrungsweise. »Es ist das Problem des Übergangs von der psychologischen 51 Jung, Matthias: Hermeneutik, a.a.O, S. 135. 52 Ricoeur, Paul: Existenz und Hermeneutik, a.a.O., S. 26.
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zur hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, das hier den entscheidenden Punkt darstellt.«53 Dennoch erhält der Erfahrungsbegriff schon bei Dilthey maßgebliche Konturierungen, vor allem dadurch, dass er der naturwissenschaftlichen Erfahrungsweise entgegengesetzt wird, für die Erfahrung (stark verkürzt) die experimentelle Verifizierung oder Falsifizierung von theoretischen Vorannahmen bleiben muss, d.h. das Ansammeln von Feststellungen über einen Gegenstandsbereich, der es ihr ermöglicht, in der Folge über einen überschaubaren Bestand an naturwissenschaftlichen »Daten« zu verfügen.54 Diese vielgescholtene (und selbst oftmals etwas eindimensionale Kritik an der) Eindimensionalität der wissenschaftlich‐instrumentellen Vernunft sieht gezielt von der eigentümlich subjektiven Weise einer jeden Erfahrung ab, um sich umso mehr und ausschließlich an dem Ergebnis des Erfahrungshergangs interessiert zu zeigen, womit der Erfahrungsverlauf, der Vollzug der Erfahrung selbst herabsinkt zur bloßen Zulieferung für einen am Ende festgefügten Formelbestand. Dass dieser Erfahrungsbegriff nicht hinreichend ist für eine genuin historische Erkenntnis, scheint sich bei einem kritisch geschärften Methodenbewusstsein (nicht nur für Dilthey) von selbst zu verstehen; denn nicht bloß die vielfach bemängelte, notorisch‐naive Positivität naturwissenschaftlicher Erkenntnis scheint im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand ungenügend, sondern auch und vor allem die Verfehlung der inneren Geschichtlichkeit der Erfahrung selbst gilt es bei dieser Herangehensweise zu kritisieren. Durch den experimentellen Versuchsaufbau und das operative Vorgehen ist die empirisch verfahrende Naturwissenschaft ja nachgerade dazu angehalten, jegliche Erfahrung insofern zu »verobjektivieren«, als dass sie sämtliche geschichtlichen Momente ihres Gegenstandes tilgt. Sie kann ihrem Vorhaben (der Verifikation universeller Gesetzmäßigkeiten) alleine dadurch genügen, dass sie die Erfahrung auf Wiederholbarkeit hin anlegt und sie dadurch letzten Endes verflacht.55 Für ihre Unternehmungen zählt letzten Endes nur eine Art der Erfahrung, welche eine Antwort auf eine zuvor aufgeworfene und durch den Versuchsaufbau mitbedingte Frage enthält. Ein solchermaßen auf Gleichförmigkeit zugeschnittener empiristischer Erfahrungsbegriff dürfte einem eigens historischen Erfahrungsprozess schon nach dieser kurzen Skizzierung deutlich zuwi53 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 229. 54 Denn die (wissenschaftliche) Vernunft tritt ja nicht an die Natur heran »in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen lässt, was der Lehrer will, sondern [in Form, R.Z.] eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt«, wie es an einer berühmten Stelle in der Vorrede zur zweiten Auflage zur Kritik der reinen Vernunft heißt. Kant, KrV, B XIII. 55 Vgl. für eine gute Einführung und Übersicht Posner, Hans: Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2012 sowie Detel, Wolfgang: Grundkurs Philosophie. Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2007; Ebenso die Ausatzsammlung Texte zur Wissenschaftstheorie, hg. v. Jonas Pfister, Suttgart 2016.
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derlaufen. Denn die »innere Geschichtlichkeit« der historischen Erfahrung ist nicht etwa bloß den wechselnden Interpretationen ihrer (gleichbleibenden) Ergebnisse geschuldet, sondern verdankt sich dem Vorgang ihrer Sinn-Konstitution selbst, da sie im Wesentlichen »ein lebensweltlicher Vorgang [ist] und ihren Modellfall nicht im Feststellen von Tatsachen, sondern in jener eigentümlichen Verschmelzung von Erinnerung und Erwartung zu einem Ganzen [hat], die wir Erfahrung nennen und die man erwirbt, indem man Erfahrungen macht.«56 Ein derart vom individuellen Erleben aus konzipierter Erfahrungsbegriff ist nicht mit der Subsumption konkreter Einzelfälle unter Allgemeinbegriffe vergleichbar, deren (eindeutige) Bestätigung oder Widerlegung wir uns erhoffen. Eine subjektive Erfahrung im gesuchten Sinne ist vielmehr ein struktureller Zusammenhang des Verstehens, der von Dilthey anhand unseres eigenen Lebenszusammenhangs illustriert wird.57 Ein solcher umfassender Zusammenhang ist nicht etwas, das sich analog zu einem naturwissenschaftlichen UrsacheWirkungs-Komplex begreifen lässt, da sich hier nicht einzelne Ereignisse in einer zeitlichen Abfolge gegenseitig ablösen und deren Ursache hinter ihrem Ergebnis völlig zurücktreten würde. Ein durchstrukturierter Wirkungszusammenhang, wie ihn Dilthey im Auge hat, beruht vielmehr auf »inneren« Beziehungen, die in bestimmten Ausdrucksphänomenen kulminieren und ihr Auskommen haben. Daher wird diese Art von Zusammenhang auch sinnfällig am Beispiel des eignen Lebenszusammenhanges. Über die Jahre hinweg bilden sich ja nach und nach für das eigene, praktische Selbst- und Weltverständnis immer neue, bedeutungsvolle »Knotenpunkte« aus, die sich nicht ausschließlich, jedoch in prägnantem Maße besonderen Ereignissen und eigenen Lebens-Stationen verdanken und die fortan die Koordinaten der eigenen Überzeugungs- und Erfahrungsgehalte setzen und abstecken. »Der Zusammenhang des Lebens, wie er dem einzelnen aufgeht […] wird durch die Bedeutsamkeit bestimmter Erlebnisse gestiftet. Von ihnen aus, wie von einer organisierten Mitte her, bildet sich die Einheit eines Lebensverlaufs […].«58 Mehr noch: durch das Hineinleben des Individuums in seine Umwelt, durch die Entfaltung und Ausbildung seiner Individualität in Wechselwirkung mit den ihm begegnenden Umständen, artikuliert sich nach Dilthey das Leben und legt sich selbst aus, es »drückt sich aus« und ist aufgrund der angesprochenen Besonderheit des Strukturzusammenhangs in jedem seiner Momente mehr oder weniger 56 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O. S. 226. [Meine Hervorhebung]. 57 Vgl. ebd., S. 226. In der frühen Kogntitionspsychologie wird in den dreißiger Jahren des 20. Jhs. als einer der ersten Frederic Bartlett empirisch den Einfluss von bestimmten Schemata auf die »freie Erinnerung« nachweisen und den Einfluss narrativer Strukturen auf die eigene Biographie. Vgl. Bartlett, Frederic: Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology, Cambridge 2010. 58 Ebd., S. 227.
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präsent, da es eben seine Momente sind, die sich in ihm Geltung verschaffen und dem Lebewesen Orientierung verschaffen. Das Leben bildet so gesehen Ausdrucksgestalten aus, es »objektiviert« sich (mit nach wie vor idealistischem Gestus).59 Da das Verstehen für Dilthey in der historisch gewachsenen Welt es mit objektivierten »Lebensausdrücken« zu tun hat, auf die sich die Hermeneutik in ihrer jetzt universalisierten Form zu konzentrieren hat, verschiebt sich für ihn auch der Begriff der Bedeutung hin zu einer universellen Kategorie des Lebensprozesses selbst und ist nicht länger mit einer rein logischen Kategorie zu identifizieren. »Es ist das Leben selbst, das sich auf verständliche Einheiten hin ausfaltet und gestaltet, und es ist das einzelne Individuum, von dem diese Einheiten als solche verstanden werden.«60 Diese Ausdehnung des Gegenstandsbereichs, auf den sich unser Verstehen richtet, verdankt sich erheblich der grundlegenden Akzentverschiebung des Erfahrungsbegriffes durch Dilthey, der den Umstand reflektiert, dass wir uns als Menschen nicht rein kognitiv‐distanziert zur Welt verhalten, sondern primär in voluntativ‐praktischer Absicht mit dieser interagieren. Eine auf unsere Wünsche und Absichten reagierende Welt, die unsere Ambitionen immer wieder in die Schranken weist und ihnen nur ab und an mit Abstrichen stattgibt (wie ein jeder, der selbst über ein wenig Lebenserfahrung verfügt, bereitwillig zugestehen wird), erzeugt für ein planendes Lebewesen innerhalb dieser Inter-Aktion Sinnstrukturen, die in Hemmung und Gewährung ihre Geltung für jede weitere Orientierung besitzen. Die Zu- und Abträglichkeit der Dinge für ein interessegeleitetes Handeln sedimentiert sich in einem solchermaßen entstandenen Bedeutungszusammenhang, was nicht zuletzt aus evolutionärer Perspektive zweckdienlich sein dürfte, da unsere Planung eines erwünschten oder herbeizuführenden Zustandes dadurch auf mehr und mehr Einstellungen zurückgreifen kann, die es ermöglichen, als (zumindest für den Moment) »gesicherte« Annahmen die Basis für weiterführende Handlungen abzugeben. Erst wenn gewonnene Einstellungen sozusagen unhinterfragt (weil im Moment nicht weiter »fragwürdig«) und hintergründig eine neu erschlossene Situation für uns zugänglich machen und sie ihnen gemäß als eine bereits vorausgedeutete (aber nicht ausgedeutete) erschließen, werden Planungsoptionen freigesetzt und 59 Georg Misch, Schüler Diltheys, geht noch einen Schritt weiter und sieht selbst in der Reflexion über diese Selbstauslegung ihrerseits Selbstauslegung am Werk. Vgl. ders., in: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, a.a.O., S. 569: »Die Philosophie selber kann verstanden werden als eine solche Selbstauslegung des Lebens, in welcher das Leben durch das Medium eines großen Menschen zur Besinnung über sich selbst kommt. Dieser hermeneutische Zug der Philosophie muss auch in der Logik zur Geltung gebracht werden, der Logik im allgemeinsten Sinn, der Theorie des Wissens.« Diese vorbehaltslose Zurückführung der Geltungs- auf die Entstehungsebene, von »Geltung« auf »Genesis« wie sie recht typisch für die Lebensphilosophie insgesamt ist, begeht genau jene »genetic fallacy«, gegen die wir vorgewarnt bleiben sollten. 60 Ebd., S. 227.
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ein Handlungsspielraum eröffnet, der mit anderen Möglichkeiten rechnen kann, weil er (verbürgt durch die ins Spiel gebrachten Einstellungen) mit anderem rechnen darf.61 Auf diesen Sinnstrukturen und der ihnen vorausgegangenen lebensweltlichen Interaktion lastet Diltheys Hauptaugenmerk. Da es sich um ein praktisches Verständnis handelt, das uns in seinem Orientierungspotenzial und seiner handlungsleitenden Verbindlichkeit immer auch »angeht« und uns als wollende Subjekt mit einschließt, bilden auch »die beiden Fragen ›Was ist das?‹ und ›was bedeutet es für mich?‹ […] eine Einheit.«62 Denn Realität ist für uns im direkten Kontakt mit der Welt und im miterlebenden Vollzug unseres Handelns eben so zusagen noch nicht wissenschaftlich auf einen Nenner gebracht, sondern voluntative, emotionale, affektive und kognitive Aspekte spielen eine gleichberechtigte Rolle und erfahren eine je nach Situation unterschiedliche Gewichtung. »Weil Realität im lebensweltlichen – nicht aber im wissenschaftlichen – Erkennen zugleich gewollt und gefühlt wird, ist ihre Erkenntnis immer auch eine Deutung nach Maßgabe der sich im Fühlen und Wollen manifestierenden Lebensbedürfnisse.«63 Durch diese Neubestimmung des eigentlichen Erkenntnisobjektes wird auch ersichtlich, inwiefern wir es selbst auf dieser basalen Ebene unseres Welt-»Bezugs« mit Deutungen und Interpretationen der Dinge zu tun haben. Da Erkenntnisobjekte für uns sozusagen in der Lage sein müssen, diese vielseitigen Aspekte auch tatsächlich auf sich zu vereinen, diesen lebensweltlichen Sinn in sich zu »inkorporieren«, um ihn bei einer erneuten Begegnung für uns ausdrücken zu können, können sie auch nicht »Dinge« im eigentlichen Sinne sein, d.h. objektivistisch gedachte Gegenstände in einem wissenschaftlichen Verständnis.64 Bereits für Dilthey ist Verstehen so gesehen eminent holistisch verfasst, wie es von der Philosophie des 20. Jahrhunderts insbesondere für semantische Bedeutungen hervorgehoben wird. Nur bleibt die grundlegende Frage bestehen »nach der Beziehung zwischen Kraft und Sinn, zwischen dem Leben, das Bedeutungen in sich enthält, und dem Geist, der imstande ist, diese in einer kohärenten Folge zu verknüpfen.«65 Für Dilthey ergibt sich die Antwort hierauf, indem er annimmt, dass auch wir beim Verstehen von historisch gewachsenen Sinnstrukturen unseren 61 Vgl. Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung, a.a.O., S. 79: »Eine Erfahrung machen heißt nicht einfach, eine Ansicht und Absicht revidieren und gewinnen, sondern bedeutet, einen veränderten praktischen Bezug erhalten zu dem neu oder erstmals Angesehenen und Vorgenommenen.« 62 Jung, Matthias: Hermeneutik, a.a.O, S. 77. 63 Ebd., S. 79. 64 Ein Punkt, der uns noch einmal im zweiten Teil der Arbeit intensiv beschäftigen wird und auf den wir im Zuge der Rekonstruktion von Merleau-Pontys Wahrnehmungs- und Bewusstseinsphilosophie zu sprechen kommen werden sowie bei der Unterscheidung von »Existenz« und »Innerweltlichem«. 65 Ricoeur, Paul: Existenz und Hermeneutik, a.a.O., S. 26.
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eigenen Lebenszusammenhang ins Spiel bringen, der durch seine vorstrukturierende Leistung maßgeblich die Bedeutung des zu Erfahrenden mitgestaltet. Die dabei auffällig vitalistisch klingende Kategorie des »Lebens« ist für ihn im Grunde jedoch nichts anderes als eine Bezeichnung des umfassenden Bereichs, in dem sich die zu verstehende Bedeutung allererst »formiert« – was auch weniger ominös mit dem später von Husserl eingeführten Begriff der Lebenswelt, dem »Universum des Selbstverständlichen«66 beschrieben werden kann, das die Gesamtheit unserer (unhinterfragten) Praktiken und Hintergrundannahmen umschreibt. Es ist unser handelnder Weltzugang, der hier den Boden für sämtlichen Sinn bereitet und in dem sich Sinnstrukturen zu konkreten Ausdrucksgestalten zusammenschließen, die wir interpretierend verstehen und dann wiederum aus der Innenperspektive unseres Erlebens heraus nachvollziehen können. In einer solch universalisierten und pragmatistischen Perspektive wird Verstehen zu einem regelrechten Können, zu einem knowing how, wie es später Gilbert Ryle vom knowing that abgrenzt.67 Allerdings versucht Dilthey die Lücke zwischen Genesis und Geltung, zwischen einem Entstehen von Sinn und seiner Fixierung, seiner semantischen, intersubjektiven Geltung, die für mehrere Subjekte dieselbe sein kann, vorschnell zu schließen. Denn es ist die Differenz zwischen einem reproduktiv‐sekundärem Verstehen und einem produktiv‐primären, das Dilthey schlichtweg miteinander identifiziert. Es ist der Versuch, das Verstehen von historischen Sinngehalten durch die gemeinsame Lebenseinheit zu begründen, die uns allen gemeinsam scheint, weil auch wir »Leben« sind und nachvollziehen können, wie Sinnentstehung sich jeweils für uns abspielt. Glaubt man mit Dilthey, man könne nun entsprechend Ausdrucksgestalten verstehen, indem man sie in den eigenen Lebenszusammenhang zurückübersetzt, wird die eigentümliche Geschichtlichkeit des Erkenntnisobjektes, sprich seine Fremdheit aber letzten Endes verfehlt. Dass es sich nicht um die Lebenseinheit eines konkreten Subjekts handelt (die von der romantischen Hermeneutik anvisierte Individualität und Subjektivität) scheint zwar auch ihm bewusst, denn er gesteht durchaus zu, dass die »Einzelindividuen nur je mit einem Teil ihres Wesens dabei [sind],«68 wenn es um geschichtliche Zusammenhänge geht – doch entgeht auch er letzten Endes nicht einem psychologistischen Fehlschluss. Denn es bleibt das Problem des oben angesprochenen Übergangs von der psychologischen zur historischen Ebene, das mit der Konzentrierung auf eine solche »Innenansicht« des Gegenstands der Erkenntnis nicht gelöst werden kann; denn die Inhalte des historischen Bewusstseins scheinen in dieser Perspektive keine bestimmbare Limitation aufzuweisen. 66 Blumenberg, Hans: Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010, S. 80. 67 Vgl. Ryle, Gilbert: The Concept of Mind, New York 2000, S. 26ff. 68 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 228.
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Denn sobald es wirklich zum erkennenden Nachvollzug kommt, wird der Gegenstand der Erkenntnis als vergeistigter Lebensausdruck oder eben »Objektivation« in Diltheys Konzeption quasi von innen her auf geschlossen, wobei nicht ersichtlich wird, was ihm dabei verschlossen bleiben sollte – da es sich doch bei seinen Gehalten durch und durch sozusagen um »seinesgleichen« handelt. Diltheys methodische Maxime »Leben erfasst Leben«69 distanziert sich am Ende nicht entschieden genug von Hegels Geist versteht Geist und auch die Konsequenz klingt verdächtig nach Selbsterkenntnis im Anderssein. Das ist nun einmal jedoch nicht die Art und Weise von »Durchsichtigkeit«, die historische Zusammenhänge für uns haben oder gewinnen können. Das Fremdheitsmoment in Diltheys Ausdrucksgestalten, die Faktizität und Kontingenz bleiben noch immer zu sehr unterrepräsentiert, um der Eigentümlichkeit von historischer Bedeutung gerecht werden zu können. Die Bestimmung des historischen Bewusstseins tendiert hier dazu, so der Vorwurf Gadamers, entgegen der eigenen Zielsetzung eine völlige Transparenz seiner selbst anzunehmen, wie es ja programmatisch sämtliche idealistischen Systementwürfe kennzeichnet, von denen sich das historische Erkennen gezielt absetzten möchte. Nun findet sich die Limitation sämtlichen Verstehens aber nicht nur auf Seiten der lebensweltlichen Interaktion und des produktiv‐primären Verstehens eines Subjekts, das bei der Verwirklichung seiner praktischen Zielsetzungen von den »harten Wänden der Realität« in die Schranken gewiesen wird, sondern eben auch beim reproduktiv‐sekundären Verstehen von bereits sedimentiertem, bereits niedergelegtem Sinn, der einer aktualisierenden Vermittlung bedarf. Bei einer kritischen und sich dieser Voraussetzung bewussten Selbsteinschätzung erfährt sich das historische Bewusstsein bei einem jeden seiner Verstehenszugriffe nämlich von seiner historischen Situiertheit her und gewahrt sich als eingelassen in einen historischen Kontext, der den Interpreten auf einen alles andere als absoluten Standpunkt verweist. Immer schon sind wir ja Teil einer bestimmten KommunikationsGemeinschaft, hantieren mit tradierten Vorverständnissen und Sichtweisen oder sind schlicht die sprichwörtlichen Kinder unserer Zeit. Sofern man aber (wie Dilthey) die sinnhaften Gestalten als »Objektivationen« einer geistigen (ahistorischen) »Lebendigkeit« versteht, die es gilt, wieder zurückzuübersetzen in das Milieu, dem sie entstammen (in den aktiven Lebensvollzug samt primär‐produktiven Verstehens eines Subjektes), ist nicht verständlich zu machen, inwiefern es hier zu einem historischen Anderssein, einem Abstand kommen soll, der sich darüber hinaus als solcher produktiv Geltung verschafft. Eher schon ist man geneigt, in dieser Denkfigur eine Variante der von der Romantik propagierten Reproduktion einer vormaligen Produktion zu erblicken, bei der es 69 Vgl. auch Jonas, Hans: Das Prinzip Leben, Frankfurt a.M. 1997, S. 169: »Leben kann nur von Leben erkannt werden.«
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am Ende eben strenggenommen zu einer bloßen Begegnung des Subjekts mit einem anderen Subjekt kommt, einer Bewegung »von einem psychischen Leben zu einem anderen psychischen Leben.«70 Zwar hat der Geist dabei einen notwendigen Umweg über die »Entäußerung« in Ausdrucksgestalten genommen, aber nur (so scheint es), um sich durch kongeniale Einfühlung (aufgrund seiner Wesensgleichheit mit dem Erkenntnisgegenstand) diese mühe- und vorbehaltslos aufschlüsseln zu können, sodass »alles Fremde und Befremdende des Textes zur Auflösung [gebracht ist].«71 Dann geraten wir aber in diesem Zusammenschluss in die Fahrwasser eines Sinn-Ganzen, dem ein konstitutives Fremdheitsmoment nicht mehr zu integrieren ist und womit letztlich für Dilthey das »Bewusstsein der Endlichkeit keine Verendlichung des Bewusstseins und keine Beschränkung [bedeutet].«72 Wie für Hegel ist es nur »eine Form der Selbsterkenntnis des Geistes, in der nichts Fremdes und uneinlösbares, keine Kontingenz des Wirklichen, keine Unverständlichkeit des nur Gegebenen auftritt«73 – doch genau darauf käme es an.
2.3
Historische Bedeutung
Die Rede von einer »Verendlichung des Bewusstseins« birgt in sich ganz wesentliche Konsequenzen. Zum einen ist damit eine Absage an jegliche Reflexionsphilosophie erteilt, welche die Bewusstseinsimmanenz der uns erscheinenden Welt zum Anlass nimmt, nicht nur das Fundament der Erkenntnis, sondern darüber hinaus sämtliche Inhalte der Erkenntnis alleine der Seite eines erkennenden Subjekts zuzuschlagen. Eine Weichenstellung, die trotz Lyotards Mahnungen, wir sollten eingespielten Narrativen nicht ohne weiteres über den Weg trauen,74 mit der häufig anzutreffenden Metaerzählung konform geht, die besagt, dass mit der theoretischen Scheidung von res cogitans und res extensa durch Descartes und dem damit einhergehenden Dualismus von Geist und Welt der Grundstein gelegt wurde für eine immer weiter fortschreitende Ver-Subjektivierung sämtlicher Erkenntnisleistungen und damit letzten Endes auch sämtlicher Erkenntnisinhalte – weiter befördert durch Kants Kopernikanische Wende und ein letztes Mal versucht zu einem Abschluss zu bringen durch die transzendentalphilosophischen Letztbegründungsversuche Husserls. Auch, wenn ein naiver, erkenntnistheoretischer Realismus75 heute nicht mehr ernsthaft zu verteidigen ist, weil wir als Erkenntnissubjek70 71 72 73 74 75
Ricoeur, Paul: Existenz und Hermeneutik, a.a.O., S. 26. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 298. Ebd., S. 236. Gadamer, Hans-Georg: Ästhetik und Hermeneutik, a.a.O., S. 1. Lyotard, Jean-Francois: The Postmodern Condition. A Report on Knowledge, Manchester 1986, S. 20f. Ein solcher wurde als »metaphysischer Realismus« durch Putnam wie folgt definiert: »The world consists of some fixed totality of mind‐independent objects. There is exactly one true complete
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te schon immer aktiv an der Gestaltung der von uns wahrgenommenen (Um-)Welt beteiligt sind, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind,76 so darf uns das nicht dazu verleiten, zu glauben, das Ich sei »Herr im eigenen Haus.«77 Auch in der Immanenz des Bewusstseinslebens kommt es zu allerlei Irritations- und Fremdheitsmomenten; auch das Bewusstsein ist sich nicht gänzlich transparent, sich selbst völlig durchsichtig und erfährt bereits tagtäglich und nicht erst in der philosophischen Reflexion seine Begrenzungen. Was nicht bedeutet, der allseits beliebten, postmodernen De-Zentrierung des Subjekts das Wort zu reden, sondern unsere lebensweltliche Ausgangsposition in das richtige Licht zu rücken. Die Gehalte unseres Bewusstseins werden uns weder von den Dingen bloß widerstandlos eingegeben (wie es ein naiver und angeblich von niemandem vertretener, empirisch argumentierender Realismus möchte), noch sind sie bloß subjektive Interpretationen, die selbsterzeugt den Dingen untergeschoben würden, ohne Einspruch von Gegenstandsseite aus zu erfahren. Selbstredend gibt es eine Faktizität unserer Bewusstseinsgehalte, die wir zwar durch die ständige Selbstüberschreitung respektive -übersteigung mittels der dem Bewusstsein eigentümlichen Selbstreflexivität (der berüchtigten Transzendenz) hinter uns lassen können, aber nur in dem Maße, dass wir sie aufrichtigerweise noch »vor uns haben« – wir sie so zusagen weiterhin im Kalkül haben sollten, wenn sie uns nicht durch ihren unberücksichtigt gelassenen Wirklichkeitsgehalt in den Rücken fallen sollen. Etwas, das auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass wir gelegentlich sagen, dass wir uns einer bestimmten Situation »fügen« (oder etwas pathetischer gar »unserem Schicksal«), bei der es einfach »keinen Sinn mehr macht«, sich ihren Einflussfaktoren weiter entziehen zu wollen. Als historisch und lebensweltlich situierte Wesen orientieren wir uns nicht im luftleeren Raum, sondern entwerfen uns auf unsere eigenen Möglichkeiten hin und das bedeutet nun einmal, eine vorherrschende Ausgangs- und Faktenlage nicht unberücksichtigt zu lassen; faktische Umstände antizipierend in unseren Selbstentwurf mit einzubeziehen und vorgreifend den Rahmen aufzuspannen, innerhalb dessen zukünftiges Handeln gemäß unserer Interessen und Vorhaben möglich ist und auch bleiben soll. Denn Möglichkeiten sind für uns nur Möglichkeiten, wenn sie auch potenziell verwirklicht werden können und uns nicht unsere zukünftigen Handlungs- und vor allem Lebensoptionen nehmen. Wir mögen nach dem berühmten Wort Sartres description of what the world is‹. Truth involves some sort of correspondence relation between words or thought‐signs and external things and set of things«. Putnam, Hilary: Reason, Truth, History, Cambridge 1981, S. 49. 76 Kant, KrV A 158, B 197. 77 Vgl. Freud, Siegmund: Gesammelte Werke, Bd. XII. London 1940, S. 11.
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zwar sehr wohl zur Freiheit verurteilt sein, ohne dass wir jedoch von den Ansprüchen einer zu berücksichtigenden (Um-)Welt und ihren kontigenten Situationsfaktoren absehen können.78 Denn »Situation heißt eine nicht nur naturgesetzliche, vielmehr sinnbezogene Wirklichkeit, die weder psychisch noch physisch, sondern beides zugleich als die konkrete Wirklichkeit ist, die für mein Dasein Vorteil oder Schaden, Chance oder Schranke bedeutet«.79 Denn auch, wenn wir uns selbst schon immer »vorweg« sind, so entwerfen wir uns ja nicht völlig beliebig, sondern aus einer konkreten Situation heraus, in der wir uns zuallererst vorfinden, von der wir umgeben sind und die bei unseren weiteren Entwürfen Berücksichtigung von uns einfordert. »Die Möglichkeit als Existenzial bedeutet nicht das freischwebende Seinkönnen im Sinne der ›Gleichgültigkeit der Willkür‹ […].«80 Kurz, wir wissen sehr wohl aus eigener Erfahrung und aus der vermeintlichen Immanenz unseres Bewusstseinslebens um eine ganze Menge an faktischen, in unseren Selbstentwurf mit hineingenommenen Limitationen, die uns bestimmen, da wir sie bestimmen, für uns bestimmend zu werden.81 Und das nicht in dem Sinne einer uns entfallenen Abfahrtszeit der S-Bahn, die wir uns auch mit noch so viel Anstrengung nicht ins Gedächtnis zurückrufen können und die uns dazu bringt (aber eben nicht bestimmt) einmal mehr als nötig auf dem Weg nach Hause umzusteigen, sondern in dem Sinne einer Begrenzung von »innen heraus«, von uns ausgehend oder (wie es sich in Kantischer Manier in der philosophischen Literatur eingebürgert hat zu sagen): aus Spontaneität und damit aufgrund unserer (Willens-)Freiheit.82 Schon in den alltäglichen Situationen un78 Zumindest so lange wir nicht lebensmüde gar keine zukünftigen Optionen mehr zurückbehalten möchten; doch selbst eine ordentliche Resignation mit einhergehender Selbstaufgabe bedürfte wohl noch ihrer bestätigenden Anhaltspunkte zu ihrer weiteren, destruktiven Orientierung. 79 Jaspers, Karl: Philosophie II. Existenzerhellung, Berlin 2008, S. 202. 80 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 2006, S. 144. 81 Die Handlungspsychologie hat inzwischen unter der Ägide der »kognitiven Wende« eine breite Basis an empirischen Untersuchungen vorzuweisen, die an den Aspekt der willentlichen Selbstverpflichtung und aktiven Bewertungsvorgängen in motivationaler und volitionaler Hinsicht anschließen. Zu nennen wäre u.a. das Rubikon-Modell zu den verschiedenen Handlungsphasen, das Valenz-Instrumentalitäts-Erwartungsmodell sowie die Untersuchungen zu Zielkonflikten, Ziel-Hierarchien und der aktiven Handlungskontrolle. Einen guten Überblick gibt bspw. Heckhausen, H. und Heckhausen, J.: Motivation und Handeln, Berlin 2010. 82 Kant argumentiert bekanntlich, dass es neben einer naturnotwendigen Kausalität auch einen »ersten Anfang« geben müsse, der sich nicht aus vorhergegangenen Ursachen erklären lässt, sondern bei uns selbst, d.h. durch unsere transzendentale Freiheit verwirklicht wird, unsere »absolute Spontaneität«. Vgl. Kant, Krv, A 444, B 472ff.: »Diesemnach muss eine Kausalität angenommen werden, durch welche etwas geschieht, ohne dass die Ursache davon weiter, durch eine andere vorhergehende Ursache, nach notwendigen Gesetzen, bestimmt sei, d.i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit […]. Wenn ich jetzt (zum Beispiel) von
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seres Verstehens und Handelns erfahren wir uns unzweifelhaft in dieser Weise als durch und durch zeitliche und das bedeutet eben: geschichtliche Wesen, die ihre Vorhaben in einen Zeit-Horizont integrieren müssen, der den rechten Moment und die rechte Zeit für die Realisierung eines Vorhabens abzupassen hat und sich von den eigenen, vorangegangen Fehltritten belehren lassen muss und sich niemals völlig auf den einmal erreichten status quo und den einmal begriffenen Stand der Dinge verlassen kann. Diese Übernahme von Faktizität und das Berücksichtigen einer situativ‐erschlossenen Ausgangslage im Hinblick auf zukünftige, noch zu verwirklichende Möglichkeiten und Absichten auf eine bestimmte Weise zu existieren und zu handeln entspricht der von Heidegger herausgestellten »Geworfenheit« unserer Existenz, die in jedem weiteren Entwurf ihre Berücksichtigung einfordert und der Konzeption eines rein theoretisch reflektierenden Subjekts (trotz seiner Autonomie) zuwiderläuft. Erst aus dieser Warte heraus wird ersichtlich, wie die gesuchte Seinsart des geschichtlichen Gegenstandes angemessen bestimmt werden kann. Denn »durch Heideggers transzendentale Interpretation des Verstehens gewinnt das Problem der Hermeneutik einen universalen Umriß, ja den Zuwachs einer neuen Dimension. Die Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstand, die in der Reflexion der historischen Schule keinen rechte Legitimation zu finden vermochte, erhält nun einen konkret aufweisbaren Sinn […].«83 Denn die allgemeine Struktur des Verstehens respektive der Seinsvollzug des Verstehens selbst, »die ursprüngliche Vollzugsform des Daseins, das In‐derWeltsein […]«84 wirkt sich auf die Seinsart des gesuchten Gegenstandes aus; denn der historische Gegenstand konstituiert sich erst durch die zeitliche Struktur unseres Verstehens immer wieder aufs Neue und ist nicht bloß positivistisch und als in der Zeit mit sich selbst identisch vorhanden. Doch haben wir es hierbei nicht mit der von Dilthey vorgeschlagenen Wesensgleichheit zu tun, die dafür sorgt, dass wir uns in Sinngebilde »hineinleben« können, denn »in Wahrheit ist die Anmessung alles Erkennenden an das Erkannte nicht darauf gegründet, dass sie von der gleichen Seinsart sind, sondern empfängt ihren Sinn durch die Besonderheit der meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit, samt deren natürlichen Folgen ins Unendliche, eine neue Reihe schlechthin an […]. Denn diese Entschließung und Tat liegt gar nicht in der Abfolge bloßer Naturwirkungen, und ist eine bloße Fortsetzung derselben, sondern die bestimmenden Naturursachen hören oberhalb derselben, in Ansehnung dieser Eräugnis, ganz auf, die zwar auf jene folgt, aber daraus nicht erfolgt, und daher zwar nicht der Zeit nach, aber doch in Ansehung der Kausalität, ein schlechthin erster Anfang einer Reihe von Erscheinungen genannt werden muss.« Vgl. für eine Übersicht zum Thema (möglicher) Willensfreiheit und der kompatibilitistisch gedachten Bedingtheit unseres Handelns durch Gründe u.a. Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt a.M. 2007. Vgl. ebenfalls Frankfurt, Harry: The Importance of What We Care About. Philosophical Essays, Cambridge 1988. 83 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 268. 84 Ebd., S. 264.
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Seinsart, die beiden gemeinsam ist. Sie besteht darin, dass weder der Erkennende noch das Erkannte ›ontisch‹ ›vorhanden‹ sind, sondern ›historisch‹, d.h. von der Seinsart der Geschichtlichkeit sind.«85 Wir beziehen uns nicht bloß verstehend und aus der Innenperspektive heraus auf einen sich gleichbleibenden, historischen »Gegenstand«, den wir dabei entziffern, sondern wir verhalten uns zu ihm und seinem möglichen Sinn. Und mit jedem neuen (Verstehens-)Zugriff bildet auch dieser selbst andere Züge aus, die wir an ihm gewahren können, da er sich gemäß der Struktur unseres eigenen Selbstverhältnisses, in das wir ihn aufnehmen, ein jedes Mal neu auslegt und perspektivisch auf uns als verstehende Subjekte hin entfaltet. Denn was könnte auch in diesem Zusammenhang näher liegen, »als auf die klassischste aller philosophischen Bestimmungen zurückzukommen, der zufolge Menschen selbst ursprünglich Relationen sind, nämlich Selbstverhältnisse. Jene Bestimmung der menschlichen Existenzform, über die sich Philosophen von Fichte bis Harry Frankfurt, Kierkegaard über Heidegger bis Plessner einig sind, ist das Strukturmoment reflexiven Sich‐zu-sich‐verhalten-Könnens«.86 Daher kommt es auch nie zu der von Dilthey angenommenen Deckungsgleichheit zwischen Bewusstsein und (historischem) Gegenstand; denn das historische Bewusstsein, auf das es Gadamer abgesehen hat, ist ein aufgeklärtes Selbstverhältnis, das nicht mehr glaubt, trotz Strukturaffinität lediglich seinesgleichen in einem Lebensausdruck anzutreffen, den es sich völlig zu integrieren weiß. Es ist vielmehr ein Bewusstsein, das sich seiner eigenen Begrenztheit innewird, »es weiß sich vielmehr zu sich selbst und zu der Tradition, in der es steht, in einem reflektierten Verhältnis. Es versteht sich selber aus seiner Geschichte.«87 Ein Verhältnis impliziert aber eine völlig andere Dynamik, als dies bei den vorangegangenen Beschreibungsversuchen der Fall gewesen ist, die sich dem sekundär‐reproduzierenden Verstehen gewidmet hatten. Denn im Gegensatz zu einem Entziffern oder einer bloßen »Bezugnahme«, die glaubt, Stück für Stück ihren Gegenstand einkreisen zu können und ihm gegen Ende den springenden Punkt abzuringen, der vermeintlich als solcher immer schon unverwechsel- und unveränderbar vorgelegen hat, rechnet ein (Selbst-)Verhalten zu etwas mit der Veränderbarkeit dessen, auf was es sich eingelassen hat. 85 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 266. 86 Schürmann, Eva: Verkörpertes Denken, Medialität des Geistes. Skizze einer darstellungstheoretischen Medienanthropologie, a.a.O., S. 74. Es ist auch lohnenswert, sich in Erinnerung zu rufen, dass auch »die Grundbedeutung des griechischen Wortes ›logos‹ ›Verhältnis‹ [ist].« Und dass die abendländische Philosophie in der »Versammlung des Vielen ins Verhältnis und darin auf Eines hin« seit jeher entweder den Grundzug der Wirklichkeit oder zumindest des (dialektischen) Denkens erblickt hat. Vgl. Hoffmann, Thomas Sören: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2015, S. 41. 87 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 239.
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Ein (aktives) Verhalten stellt sich auf wechselnde Züge seines Gegenstandes ein, macht seine Wandlungen und Bewegungen mit, ist aber kein passiver Statist und würde einfach hinnehmen, was da vor sich geht. Ganz im Gegenteil: das Verhältnis, in dem wir stehen, die Stellungnahmen, die wir (selbst) beziehen, lassen uns nicht unberührt, sondern betreffen uns unmittelbar; denn nur, indem wir uns und die Kapazitäten unserer epistemischen Vermögen einbringen, können wir auch das in Erfahrung zu Bringende in unser eigenes Verständnis einbringen; können wir dem »Gegenstand« überhaupt dasjenige abringen, was immer er uns zu sagen hat. Und was wir über den Gegenstand in Erfahrung bringen, bringen wir für uns in Erfahrung, wenn er sich unserem eigenen Vorverständnis zu integrieren weiß. Denn es ist praktische Vernunft, die in einem solchen Verhältnis obwaltet, aristotelische Phronesis,88 eine praktische Verständigkeit, die sich auf ihren Gegenstand versteht und tentativ mögliche Beurteilungen durchspielt, die sie gegebenenfalls immer wieder nachkorrigiert, wenn ihr dies aus praktischen Gründen vernünftig und der Situation angemessen erscheint. »Im Prozess des Überlegens werden Gründe geprüft, entwickelt und manchmal erfunden; sie werden generiert und aktualisiert, kritisiert und korrigiert – und dies in der Suche nach Stellungnahmen, die in Bezug auf eine bestimmte Sache oder Situation alles in allem den Ausschlag geben können.«89 Welche Schlussfolgerungen wir auch immer aus historischen Begebenheiten ziehen: man muss sich ihre Tragweite jeweils bis zu einem gewissen Grad eingeben lassen. Bei diesem Vorgang »versteht man sich auf etwas«, wie es im Deutschen heißt, wobei die reflexive Wendung auf die Fähig- und Fertigkeiten des Verstehenden hinweist, der sich aktiv seinem Gegenstand zuzuwenden weiß – aber nicht irgendwie, sondern bereits praktisch, so wie wir im Deutschen auch sagen: »ich verstehe mich darauf, dies oder jenes zu tun«, ich kenne mich entsprechend damit aus, bin darin bewandert, habe entsprechende Fähigkeiten und Kenntnisse (erlangt). Denn, wo auch immer wir handelnd tätig werden möchten, müssen wir bereits im alltäglichen Fortgang der Dinge, wenn sie zu einem gesetzten Ziel beitragen sollen, diese selbst zu Wort kommen lassen, müssen uns auf sie einstellen und ihnen stattgeben, anstatt sie gegen alle Widerstände in die von uns vorgegebenen Bahnen zu zwingen. Denn letzten Endes würden wie sie genau dadurch nicht selten ihres Potenzials berauben, zur beabsichtigten Wirkung in dem gewünschten Maße beitragen zu können. »Genau betrachtet aber gehen der passive und der aktive Aspekt des Überlegens überall zusammen, wo immer wir überlegend tätig sind. Sich überzeugen heißt, sich überzeugen zu lassen; sich überzeugen lassen aber kann nur, wer selbst 88 Vgl. Aristoteles, EN VI 6 -13. 89 Seel, Martin: Aktive Passivität, a.a.O., S. 30.
2 Der Sinn des Verstehens
überlegend tätig ist.«90 In unserem täglichen Umgang legen die Dinge ein Verhalten an den Tag, das wir nicht unberücksichtigt sein lassen können und das sich uns als ihre Objektivität (in einer ersten, pragmatischen Annäherung an diesen Begriff) entgegenstemmt. Etwas, das sich nicht ohne weiteres so verhält, wie es uns beliebt, legt uns verbindlich Verhaltensweisen auf und Einstellungen zu ihm nahe, anstatt sich bloß umstandslos unseren Absichten zu fügen. Erst durch die Anerkennung und die Einsicht des Bewusstseins in diesen Restbestand an Faktizität einer für uns trotz allem schon immer intelligibel erschlossenen Welt gelangen wir in die Lage, das von unseren Interessen unabhängige Verhalten der Dinge gewinnbringend in die Rahmenbedingungen eines von uns angestoßenen und unseren Interessen gemäß überblickten Kausalzusammenhanges einzuspannen. »Ich muss mein Handeln in die Maschen des Determinismus einfügen«91 , wie selbst ein so hartgesottener Verfechter unserer rigoros verstandenen Freiheit wie Sartre sagt. Und erst über diesen reflexiven, im Wortsinne »zurückgebogenen« Umweg auf unsere Intentionen selbst gelingt es uns, unseren Absichten Taten und vor allem Tat-Sachen folgen zu lassen. Erst in einem solchermaßen sich als pragmatisch bewusst gewordenen Verstehen, das sich flexibel auf Situationen einlässt und das Ergebnis nicht in all seinen Ausgestaltungen vorwegnehmen möchte (und es auch nicht kann), findet das gesuchte Fremdheits-Moment und die zu übernehmende Faktizität ihren angestammten Platz. Damit verschafft sich aber auch ein gewisser grundlegender Vorbehalt gegenüber jedem endgültigen oder definitiven Verstehen sein Recht, denn »der Rede vom Verstehen [haftet], wie der von der Wahrheit, ein provisorischer, fallibilistischer Zug an; unser Verstehen muss sich immer noch in unserer Praxis als solches erweisen.«92 Eine solche Konzeption von den Leistungen unserer Erkenntnisvermögen verabschiedet sich von der romantischen Vorstellung einer Unmittelbarkeit und absoluten »Gleichzeitigkeit« mit den Gedankeninhalten des ursprünglichen Autors – sie versucht nicht, sich in ihn verstehend hineinzuversetzen. Sie ist keine inverse Operation, die den Formalisierungsprozess zurückverfolgt auf das ihm »Zugrundegelegte« und das Ausdrucksgebilde dabei seiner bloß kontingenten, vermeintlich nur formalen Eigenschaften entkleidet. Ein solchermaßen reformiertes Verstehen stellt vielmehr den »Zustand einer neuen geistigen Freiheit dar. Es impliziert die allseitige Möglichkeit des Auslegens, Bezüge‐sehens, Folgerungen‐ziehens usw., in 90 Seel, Martin: Aktive Passivität, a.a.O., S. 30. 91 Sartre, Jean: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 2006, S. 833. 92 Wellmer, Albrecht: Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, a.a.O., S. 153. Vgl. ebenfalls Popper, Karl R.: Logik der Forschung, Tübingen 1984.
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der eben im Bereich des Textverständnisses das Sich-Auskennen besteht […]. Insofern gilt in allen Fällen, dass, wer versteht, sich auf Möglichkeiten seiner selbst hin entwirft.«93 Denn sowohl Auslegen, als auch Bezüge sehen sowie Folgerungen ziehen, sind Handlungen, da »auch das Überlegen ein Handeln ist.«94 Und diese Gedanken-gänge erfordern von uns eine aktive Handhabe, ein kontrolliertes Verständnis und Vorgehen, das sich nicht darin erschöpft, bloß zu erkennen, was dasteht. Sondern, was immer »dasteht«, was es zu verstehen und zu erfahren gilt, kann sich an dem historischen Sinngebilde für uns nur heraus‐stellen, wenn wir uns auf seine vielseitigen Implikationen und Querverweise aktiv ein‐stellen und versuchen, es unserem Horizont zu integrieren. Erst, wenn wir uns seinen Möglichkeiten bewusst zuwenden und diese als seine Möglichkeiten anerkennen, etwas »zu Wort kommen zu lassen« und auf einen Sachverhalt zu verweisen, den es eben auf diese Weise artikuliert, verstehen wir auch, dass es kein Exklusivrecht zu anderen Zugängen zu seinem »Gegenstand« beanspruchen kann. Mit einem Wort: »Der historische Gegenstand ist kein Gegenstand, sondern […] ein Verhältnis […].«95 Und ergänzen ließe sich: Ein Verhältnis, das innerhalb der Wirkungsgeschichte immer wieder neu ausgehandelt werden, immer wieder neu zur Geltung gebracht werden muss. Auch beim Verstehen von Texten greift die Zirkel-Struktur allen Verstehens; denn deutend richten wir uns an der Antizipation eines Gesamtsinnes des Gesagten aus, der unsere weiteren Verstehensbemühungen anleitet und gegebenenfalls korrigiert und verwirft. Es ist eine Sinnbewegung, die dergestalt stattfindet und die die Gegenstände des Verstehens in Wechselwirkung strukturiert. Und in dieser Bewegung beziehen wir immer wieder neu Stellung zu ihnen, sodass sich »ihr« Sinn für uns auf diese Weise zur Sprache bringt. Allerdings, und das ist der entscheidende Punkt, der von der romantischen Konzeption des hermeneutischen Zirkels im Wesentlichen abweicht, kommt es durch den Entwurfscharakter unseres Daseins (durch »Vorhabe«, »Vorgriff« und »Vorsicht«, wie es in Sein und Zeit heißt96 ) nicht zu einem versöhnlichen Abschluss dieser Verstehensbemühung, die alle Einzelteile miteinander auszusöhnen weiß. Denn die Auslegung gründet lediglich »jeweils in einer Vorsicht, die das in Vorhabe Genommene auf eine bestimmte Auslegbarkeit hin ›anschneidet‹«97 , wie Heidegger sagt. Und dieser Zirkel stellt seine Gültigkeit zudem unabhängig von philologischen Erwägungen unter Beweis, da er jedem Verstehen zu Grunde liegt, er »ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens«98 selbst ist, d.h. fest verwurzelt in unserer Existenz als 93 94 95 96 97 98
Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 265. Seel, Martin: Aktive Passivität, a.a.O., 16. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 305. [Meine Hervorhebung]. Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 2006, S. 150. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, a.a.O., S. 150. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 299.
2 Der Sinn des Verstehens
endliche Wesen, die auf diese Weise verstehen müssen. »Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird. Sofern Verstehen und Auslegung die existenziale Verfassung des Seins des Da ausmachen, muss Sinn als das formal‐existenziale Gerüst der dem Verstehen zugehörigen Erschlossenheit begriffen werden.«99 Sinnerwartungen strukturieren zwar im Voraus, was wir »sinnvollerweise« erwarten können, werden aber von der Gegenstandsseite aus genauso in ihre Schranken gewiesen wie gewisse Vorurteile, die sich ihr beschränktes Fassungsvermögen und ihre vorschnellen Schlüsse in Interaktion mit ihrem Gegenstand eingestehen müssen. Und ohne das Einbringen von Vor-Urteilen (in einem rein deskriptiven Sinne des Wortes) und Vor-Annahmen ist eine solche Bewegung schlichtweg weder am Laufen zu halten noch überhaupt in Gang zu bringen – geschweige denn zu beschreiben. Es ist ein regelrechter Sinn-»Raum«, der so zusagen verschiedene Sinn-»Richtungen« zulässt und Zugangsweisen zu einer (Gesamt-)Bedeutung erlaubt, die nicht notwendigerweise Beliebigkeit implizieren. Denn, dass man sich etwas sagen lässt, bedeutet nun einmal, dass das Hauptgewicht trotz subjektiven Vollzugs auf der Gegenstandsseite verbleibt. »Ein mit methodischem Bewusstsein geführtes Verstehen wird bestrebt sein müssen, seine Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewusst zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen.«100 Und bewusst kann man sich der eigenen Vorannahmen gerade dadurch werden, dass sie beim Verstehen fremder und d.h. neuer Bedeutungen theoretisch wie praktisch zur Abhebung gelangen, da sie sich an der zu verstehenden Sache bewähren müssen und sich von ihr willentlich richtig stellen lassen, um so allererst in Erscheinung treten zu können.101 Wenn man nicht wirklich etwas riskiert, wenn man altgediente Annahmen (mögen sie sich als noch so praktikabel oder bequem für die eigene Orientierung in der Vergangenheit erwiesen haben) nicht ernsthaft bereit ist, in Frage zu stellen, dann scheint es eine Binsenweisheit, dass einem nicht nur der Sinn eines historischen Textes oder ästhetischen Objektes verschlossen bleibt. Eine andere Konsequenz, die wir noch einmal aufgreifen werden, ist, dass die Vermittlung von »Bedeutung« innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft entsprechend über den Komplementärbegriff zu dem veranschlagten Verhalten geleistet wird: nämlich durch den Gebrauch. Denn der Gebrauch von Begriffen, wie er von den Anhängern Wittgensteins so vehement betont wird, dürfte ja nur die Kehrseite jenes Verhaltens aktiver Verstehensbemühungen sein, denen sich 99 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, a.a.O., S. 151. 100 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 274. 101 Was Gadamer bekanntlich dadurch beschreibt, dass er sagt: »in Wahrheit wird das eigene Vorurteil dadurch recht eigentlich ins Spiel gebracht, dass es selber auf dem Spiele steht.« Ebd., S. 304.
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ein kommunizierter Sinn (vielleicht zum allerersten Mal) ergeben soll. Wenn wir jemand anderem »etwas« zu verstehen geben möchten, dann werden wir ebenfalls die Mittel und Wege im Auge behalten müssen, von denen wir uns erhoffen können (aufgrund der bestmöglich objektiven Auswahl der zu diesem Zweck herangezogenen und nicht durch uns allein bestimmbaren Begrifflichkeiten), dass der Adressat ein dynamisches »Mitgehen« an den Tag legen wird, das zu Einstellungen und Überzeugungen führt, die auch uns dazu angeleitet haben, genau jene Mittel für das »Auszudrückende« zu wählen. Im Gebrauch der Sprache, beim Zum-VerstehenGeben ist daher spiegelbildlich ebenfalls jene praktische Klugheit und sprachliche Kompetenz für eine gelingende Kommunikation gefragt wie beim (nachvollziehenden) Verstehen selbst; denn ohne die Hintergrundannahmen und das Vorverständnis der Adressaten genügend zu berücksichtigen, um so ihren Verstehens-Entwurf zur Genüge und vorausschauend anzuleiten, dürften die Chancen von vornherein schlecht stehen, dass sich ihnen ebenfalls »derselbe« Sinn ergibt, den auch wir über die Auswahl jener sprachlichen Mittel kommunizieren wollten.
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Wo es nicht mehr um Lebensausdrücke geht, die durch einen immer größer werdenden, zeitlichen Abstand beginnen, für heutige Adressaten unverständlich zu werden, sondern wo Sinngebilde selbst einen sich durchhaltenden Sachbezug mit Wahrheitsanspruch ausbilden, da ändert sich auch der Stellenwert des historischen Abstandes grundlegend. Denn jetzt ist er nicht länger als das Trennende anzusehen, das um jeden Preis überwunden werden muss, damit ein ansetzender Verstehenszugriff unverfälscht an die originäre Bedeutung heranreichen kann, wenn es einen solchen nicht gibt. Sondern dieser Abstand birgt fortan selbst ein nicht versiegendes Potenzial zur Sinngenerierung, er wird zum »tragende[n] Grund«102 für ein fortlaufendes und weiterführendes Verständnis, das ein jedes Mal anders und neu ansetzend der sich aussprechenden, sachlichen Wahrheit eine andere Seite abgewinnen kann und sie für die Gegenwart anschlussfähig sein lässt, sie für das heutige Verständnis »applizieren« kann. Wenn wir an Werke der Literatur und der bildenden Kunst denken, geht es bei deren Gehalt ja nicht um die weiter oben beschriebene Anhäufung von wissenschaftlich belegbaren Fakten, deren historisch tradierter Theorierahmen durch den gegenwärtigen Stand der Dinge obsolet geworden wäre. Um was es geht, sind nicht Aussagen über eine von uns und unseren Interessen unabhängige Welt und die von der Wissenschaft postulierten Entitäten wie Atome, Wellen, Schwingungen, Kräfte und Impulse, sondern, um was es uns 102 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., 302.
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geht, sind Aussagen über eine Welt (wie schon Dilthey mit Nachdruck betont hat), wie sie uns schon immer betrifft, wie sie für uns ist, d.h. in Erscheinung tritt. »Es ist die Welt, nicht wie sie einer distanzierten Perspektive etwa ihrer naturwissenschaftlichen Beschreibung und Erklärung erscheint, sondern wie sie den Perspektiven des Denkens, Wahrnehmens und Handelns von Personen zugänglich ist, die gemeinsam in ihr agieren […].«103 Und es ist eine durchgängig historische Welt, in der wir uns schon immer vorfinden und die wir als solche unweigerlich zu übernehmen haben. Historische und ästhetische Bedeutung betrifft das Verständnis unserer Selbst, sie betrifft den Stand der Dinge, insofern es um unseren Stand inmitten dieser Dinge geht, kurz: es geht um unser Selbstverständnis. Die geistesgeschichtliche Tradition, die Ideengeschichte und der wissenschaftliche Diskurs, in dem wir uns aktiv verorten und orientieren müssen, wenn wir beginnen, unsere eigenen Denk‐schritte in ihnen zurückzulegen, hat einer jeden Generation ja schon etliche Sinn-Angebote unterbreitet, verschiedene Deutungen unterbunden, andere provoziert, wieder andere als inzwischen unglaubwürdig zurückgewiesen. Unterschiedliche Denkstile und -moden haben ihre Zeit, legen mancherlei Schlüsse und Sinnverzweigungen nahe oder unterbinden diese noch vor ihrem Aufkommen. Was dem Einzelnen in der Gegenwart nicht gelingen mag, nämlich die Erhebung über eingefahrene Denkwege, etablierte Paradigmen und Normen, die für sich beanspruchen, der Weisheit letzter Schluss zu sein, das gelingt vielleicht einem Späteren eben durch die Produktivität des Zeitenabstandes und nicht durch dessen erzwungene Suspendierung. Die diskursive Anreicherung, allmähliche Erweiterung, einschneidende Korrektur oder plötzlich eintretende Teil-Revision ganzer Wissensgebiete gibt ein jedes Mal einen anderen »Einstiegspunkt« für denjenigen ab, der sein eigenes Vorverständnis in dieses einbringen und auf philosophischem und geisteswissenschaftlichem Terrain seine eigenen (Denk-)Wege zurücklegen möchte. Denn in diesem Bedeutungs-Geschehen, an dem wir zwar teilhaben, das wir aber nicht kontrollieren und das Gadamer deshalb als »Wirkungsgeschichte« bezeichnet (da es mehr uns kontrolliert als dass wir »es« kontrollieren könnten), »entspringen stets neue Quellen des Verständnisses, die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren.«104 Die Produktivität eines derart verstandenen Zeitenabstands lässt sich gerade am Beispiel historischer Begebenheiten selbst sehr gut einsehen; denn geschichtliche Ereignisse werden für uns erst dann durchsichtig respektive »einsichtig«, wenn der Abstand zu ihnen groß genug ist, um auch tatsächlich rückwirkend erste Verzweigungen und Auswirkungen in der Gegenwart erkennen zu las103 Bertram et al.: In der Welt der Sprache, a.a.O., S. 305. 104 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 303.
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sen.105 Hier kann der Zeitenabstand eine eigentümliche Filterwirkung für sich beanspruchen, bei der es zu einer ersten Aufklärung und Entzerrung der Geschehnisse kommt, indem getätigte Annahmen über den Lauf der Dinge im historischen Fortgang quasi von selbst an ihre Grenzen stoßen und andere Überlegungen gleichsam in einer theoretischen Sackgasse münden, da sie sich für jedes weiterführende Verständnis als irreführend oder irrelevant erweisen. »In beiden Fällen [ob Lektüre oder historisches Ereignis, R.Z.] ist es der Fortgang des Geschehens, durch den das Überlieferte in neuen Bedeutungsaspekten herauskommt. Die Texte werden durch die neue Akzentuierung im Verstehen genauso in ein echtes Geschehen einbezogen, wie die Ereignisse durch ihren Fortgang selbst.«106
105 Es dürfte in diesem Zusammenhang wohl kein Zufall sein, dass sich Historiker noch immer kaum trauen, eine umfassende und d.h. allgemeine Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schreiben. Denn nicht in erster Linie dürfte sie der Umfang eines solchen Unternehmens abschrecken, sondern vor allem treten die Auswirkungen der historischen Ereignisse noch nicht deutlich genug zu Tage, um eine Sondierung vornehmen zu können und einzelne »Ursachen« zu isolieren, die als Erklärungsprinzipien die Handhabe eines derart umfangreichen Materials erlauben würde. Eine eindrucksvolle Ausnhahme hiervon stellt bspw. Tony Judts »Postwar« dar, während die meisten anderen Darstellungen sich auf Spezialbereiche wie die Wirtschaftsgeschichte einer spezifischen Nation beschränken. Vgl. Judt, Tony: Postwar. A History of Europe since 1945, London 2010. 106 Ebd., S. 379. Oder man denke zur Illustration wieder etwas subjektivistischer und der persönlichen Erfahrung entlehnt an den von Dilthey betonten »Lebenszusammenhang«, also an die eigene Biographie und an Literatur und Philosophie, die zu verschiedenen Zeiten, in unterschiedlichen Lebensabschnitten gelesen, immer wieder anders, verändert, aber nie gänzlich fremd wirkten, die einem immer wieder etwas anderes zu verstehen gaben und deren »Wahrheit« sich nunmehr auf ein weiteres Gebiet erstreckt und andere Gegenstände umfasst oder gleichsam von anderen »abgerückt« ist. Und das nicht etwa, weil der vorhergehende Eindruck, die damalige Wahrheit sich als Trugbild herausgestellt hätte, sondern vielmehr, weil der damaligen Bedeutung nunmehr weitere Facetten abgewonnen werden können und ehemalige Implikationen fortan in ihrer Tragweite folgenreicher gedeutet werden, sodass die »SinnRichtung« eine Korrektur erfahren hat und ihr ehemaliger Kurs nun um einige Grad abweicht. Der eigene Horizont hat sich in der Regel ja mit fortschreitendem Alter und durch angesammelte Erfahrung sowie zunehmender Bildung erweitert und mit ihm die Situation, aus der heraus man zu verstehen sucht. Der eigene Standpunkt ist ein anderer geworden, der StandOrt hat andere Koordinaten erhalten, die Selbstverortung weist dem eigenen Verständnis (und meist der eigenen Person) einen anderen Platz zu als zuvor. Der veränderte Standort ergibt eine veränderte Perspektive auf die Dinge und lässt den damaligen Sinn dabei nicht unberührt – nicht nur der Blick auf ein philosophisches oder literarisches Werk hat sich verändert, sondern auch und vor allem auf überkommene Sichtweisen und einstige Einschätzungen, die die vorangegangenen Lebensalter prägten. »Es [das Kunstwerk, R.Z.] wird gerade deshalb nicht mehr ebenso erfahren, weil es gestern so erfahren wurde und damit eine neue Erfahrungsmöglichkeiten heraufrief.« Gadamer, Hans-Georg: Ästhetik und Wahrheit, in: Gesammelte Werke, Bd. 8, a.a.O., S. 16.
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Ähnliches gilt ja auch vom eigenen Standpunkt. Denn solange wir selbst (unbewusst) einen gewissen Standpunkt einnehmen und vertreten, leben wir ihn und nehmen ihn nicht als solchen wahr und sobald wir seine genaueren Konturen und sein Fassungsvermögen erfahren können, leben wir ihn nicht mehr. Zur Abhebung gelangt er in der Regel erst, wenn er sich mit anderen, ebenso grundlegenden Standpunkten konfrontiert sieht und er seine Geltung als Lebensorientierung einzubüßen beginnt – erst dann zeichnen sich seine Reichweite und seine Begrenzung ab; nicht umsonst bemerkt Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, dass »die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug [beginnt].«107 Auch gibt es ja unbestreitbar jene Momente, in denen das »Wo« einer global verortenden Einstellung und eines Standpunktes einer jüngeren oder vertrauten Person deutlich hervortritt und trotz aller unüberwindbaren Grenzen, die uns das Fremdpsyschiche auferlegt, förmlich greifbar wird.108 Ob nun aber Re-Lektüre oder erstmalige Lektüre, Nachvollzug eines fremden oder vertrauten Standpunktes: in allen Fällen beginnt Verstehen mit einem Fremdheitsmoment, d.h., etwas gelangt zur Abhebung und spricht uns an, fordert uns heraus und integriert sich trotz seiner Fremdheit bereits im selben Moment dem eigenen Horizont, sodass die hermeneutische Pendelbewegung zwischen Vertrautheit und Befremdung nicht zum Stillstand gelangen kann. Den Übergang und die damit einhergehende Über-Setzung, jene Integrationsbewegung und das Überführen und das Eintreten des fremden Sinnes in den Gesichtskreis des Vertrauten charakterisiert Gadamer in einer berühmt gewordenen Formulierung als »Horizontverschmelzung.«109 Wo etwas miteinander »verschmolzen« wird, da geht aber das eine nicht widerstandlos in das andere über. Zuvor lösen sich erste Widerstände und Grenzen auf, Berührungspunkte bilden sich aus, Beziehungen festigen sich, die ihrerseits weiterführende Verbindungen erlauben und einen reibungsloseren Austausch als zuvor gestatten. Und auch müssen wir Gadamers Beurteilung mit Vorsicht begegnen, dass »die Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen [das] jeweilige Kriterium für die Richtigkeit des Verstehens [ist]« und dass das »Ausbleiben solcher Einstimmung […] Scheitern des Verstehens [bedeutet].«110 Denn mit genau dieser Radikalität zieht die philosophische Hermeneutik den Verdacht der NegativitätsÄsthetik und vieler postmoderner Denker auf sich, die (zu Recht) betonen, dass genau dies: die »Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen« in der ästhetischen 107 Hegel, G.F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a.M. 1972, S. 14. 108 Vorausgesetzt natürlich, man hat eine ähnliche Entwicklung hinter sich, hat vergleichbare Erfahrungen gesammelt, ähnliche Enttäuschungen durchlitten, die zur eigenen StandortVeränderung beigetragen haben, sodass der fremde Standpunkt als vertraut aber »überwunden« oder zumindest in seiner Partikularität und Bedeutung als »verstanden« erscheint. 109 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 311. 110 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 296. [Meine Hervorhebung].
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Rezeption nicht stattfindet und aufgrund der inhärenten Struktur und Vollzugsform der ästhetischen Wahrnehmung nicht stattfinden kann. Auch erinnert diese Betonung einer alles in sich integrierenden Verstehensbewegung allzu sehr an den emphatischen Erfahrungsbegriff John Deweys,111 der Erfahrung im eigentlichen Sinne einem gleichfalls völlig vereinnahmenden Vorgehen vorbehält, das die Tolerierung von Kontingenzen und Spannungen zu guter Letzt als bloße Stationen zu einem harmonischen Gleichgewicht anerkennt, einer geradezu (prä-)stabilisierten Harmonie, die sich alle Einzelheiten einzuverleiben weiß und in der alle vorausgegangenen Stationen kumulativ und ausgleichend »aufgehoben« sind und auf Ausgleich bedacht nur den gelingenden Abschluss einer sich aufwiegelnden, rhythmischen Bewegung darstellt, die einem versöhnlichen Ende entgegenstrebt. Verzichtet man allerdings auf diese normative Fassung des anzustrebenden Resultats und hält nur an den Vollzugsmomenten der einzelnen Phasen in der Beschreibung selbst fest, so ist es vor den weiterführenden Analysen zur Semantik sinnvoll mit Gadamer gegen Gadamer daran zu erinnern, dass die Entstehung von Sinn nicht mit einer kompletten Ausdeutung und Vergeistigung einherzugehen hat, sondern dass verstandene Bedeutung den Charakter eines Richtungs-Sinnes aufweist und den Weg der weiteren Konkretisierung eines Sachverhalts durch seine bestimmte Offenheit mehr anzeigt als determiniert und dadurch immer auch Potenzial für weitere Be- und Ausdeutungen innerhalb des eingeschlagenen Weges zurückbehält.112 In dem Aufsatz »Sprache und Verstehen« heißt es daher über die Funktionsweise der Sprache, welcher Gadamer im Schlussteil von »Wahrheit und Methode« bekanntlich die Bürde auferlegt, sämtliche hermeneutischen SinnVermittlungen in dem ausgewiesenen Sinne leisten zu müssen: »Sprache beruht offenbar darauf, dass Worte ihrer bestimmten Bedeutung zum Trotz keine Eindeutigkeit haben, sondern eine schwankende Bedeutungsbreite besitzen, und gerade dieses Schwanken macht die eigentümliche Waghalsigkeit des Sprechens aus. Erst im Vollzug des Sprechens, im Weitersprechen, im Aufbau eines sprachlichen Kontextes fixieren sich die bedeutungstragenden Momente der Rede, indem sie sich gleichsam gegenseitig zurechtrücken.«113
111 Vgl. vor allem das diesbezüglich einschlägige Kapitel »Eine Erfahrung machen«, in: John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt a.M. 1988, S. 47 – 72. 112 Eine ähnliche »Offenheit« und »Vervollständigung« in einer angezeigten »Richtung« reklamiert auch Wittgenstein für unsere Begriffe und deren anwendungsgeleitete Regeln. Vgl. ders., PU, § 67: »Wir dehnen unseren Begriff der Zahl aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen.« 113 Gadamer, Hans-Georg: »Sprache und Verstehen«, in:, Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen 1993, S. 197.
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Die veranschlagte Einstimmung der Einzelheiten wäre daher treffender als Ausrichtung der »bedeutungstragenden Momente«114 beschrieben, die aus dem »gegenseitigen Zurechtrücken« resultiert und sie erst in der Summe auf einen gemeinsamen Sach-Gehalt »zielen« lässt. »Sinn, der entsteht, ist immer indirekt, lateral, schräg, anspielend, ein Sinn zwischen den Zeichen, der zerrinnt, wenn wir ihn direkt zu fassen suchen. Wovon spricht ein Buch? Könnten wir das so einfach sagen, so bräuchten wir es nicht mehr zu lesen.«115 Auch wenn Horizonte verschmelzen, sollte das ja nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Gehalte (um im Bild zu bleiben) einen anderen Siedepunkt besitzen als das Ganze und sich einen Teil ihrer Eigenheit bewahren und in anderen Konstellationen eine andere Rolle spielen können. Die terminologische Entscheidung zugunsten eines Richtungs-Sinns und einer Aus-Richtung soll dabei nur in zweiter Instanz das »Abzielen«116 auf den von Gadamer veranschlagten »Sachgehalt« unterstreichen – vielmehr soll damit die Organisation des semantischen Feldes selbst angesprochen sein. Denn was genau geschieht denn, wenn (deskriptiv betrachtet) entscheidende Informationen zu einem Themengebiet nicht lediglich als weitere Details verstanden werden können, die für uns den Stellenwert von Feinjustierungen haben, sondern wenn sie das Gesamtverständnis dessen betreffen, was wir zu wissen glaub(t)en? Wenn sie sich nicht dem vorhandenen Wissensbestand einfügen lassen, ohne ihn selbst grundlegend umzustrukturieren? Wenn sie von uns erfordern, den Bestand selbst in Frage zu stellen und uns umzuorientieren, da sie nur derart und ohne Abstriche in ihrem Wahrheitsanspruch (von uns) ernst genommen werden können? Man muss ja nicht gleich Hegel vom Kopf auf 114 Die Rede von »bedeutungstragenden Momenten«, »Sinn-Trägern« oder »Träger mentalen Gehalts« ist mit Vorsicht zu genießen. Denn wie sich immer mehr abzeichnet und auch im Vorwort mit Hinweis auf die ästhetische Bedeutungskonstitution vorausgeschickt wurde, ist bei einer grundsätzlich »pragmatisch« ausgerichteten Semantik schon implizit angenommen, dass wenig Hoffnung besteht, Bedeutungen aus (syntaktischen) »Elementen« aufbauen zu können – wie es die Rede von »Sinnträgern« an dieser Stelle fälschlicherweise nahelegen könnte. Zumindest, wenn man sich darunter vorstellt, dass sie einen klar definierten, für sich (immer schon) feststehenden Beitrag zur Gesamtbedeutung leisten würden. »Bedeutungstragend« erscheinen sie im Moment durch unsere analysierende Bezugnahme auf sie, womit noch nicht das entscheidende Urteil über ihren konkreten Konstitutionsbeitrag gefällt ist. 115 Merleau-Ponty, Maurice: Die Prosa der Welt, München 1993, S. 10. 116 Das »Abzielen«, die »Ausrichtung« etc. sind natürlich in ihrer Beschreibung dem grundlegenden Merkmal der Intentionalität geschuldet, welche sich ja im Wesentlichen gerade durch ihre »Gerichtetheit« auszeichnet. Nur steht ihr an dieser Stelle noch nicht ihr komplementäres Merkmal zur Seite, die jeweilige »Absicht«. Auch wenn es hier eine Ausrichtung und ein Abzielen gibt, ist damit noch nicht entschieden, inwiefern wir es absichtsvoll nennen sollten. Denn offensichtlich wird es durch die zur Verfügung stehenden Mittel genauso bedingt, wie es selbst die Richtung vorgibt. Auf die genauere Bestimmung des Verhältnisses und den Status einer möglichen Intentionalität und damit einer möglichen Interpretierbarkeit kommen wir weiter unten noch einmal zu sprechen.
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die Füße stellen, um der Rede von einem Richtungs-Sinn oder einer Ausrichtung selbst den entscheidenden »Wink« abgewinnen zu können. Es genügt hierzu bereits, sich klar zu machen, was bspw. mit der Rede von »unter veränderten Vorzeichen« im Normalfall gemeint ist. Vorzeichen sind ja ihrerseits Richtungsweiser, die angeben, unter welchem Gesichtspunkt die nachfolgenden Ausführungen von nun an verstanden werden sollen (so wie es auch der Fortgang der vorliegenden Arbeit exemplarisch von dem gewillten Leser einfordert). Man denke nur für das Einschlägige und die Reichweite dieses Phänomens an Situationen, in denen uns vertraute und vielleicht jahrelang bekannte Personen Details aus ihrem Leben eröffneten, die alles umzuwerfen drohten, was wir glaubten, von dieser Person zu wissen. Oftmals reicht ja ein einziger Satz, eine einzige Einschätzung oder aufrichtige Beteuerung, um das Gegenüber schlagartig in einem anderen »Licht« zu sehen und ihm ein Verständnis der Dinge zu unterstellen, das man für unmöglich gehalten hatte – oder im Gegenteil, ihm ein bis dato wohlwollend unterstelltes Verständnis abzusprechen.117 Nicht selten mussten wir fortan der Verhaltenheit oder der Zurückgezogenheit des Gegenübers, seiner Unzuverlässigkeit oder seiner emotionalen Abhängigkeit, seiner Bescheidenheit oder seiner Exzentrik, ja, wenn nicht gar all seinen Reaktionen und Verhaltungen ein völlig anderes »Gesicht« verleihen, einen völlig anderen Stellenwert zumessen als vor den geoffenbarten »Details«. Fortan sehen wir uns vielleicht gezwungen, all ihre Reaktionen als Ausdruck einer völlig anderen Motivlage zu interpretieren und als in Verbindung mit diesen neuen Fakten stehend. Um in einer wissenschaftlichen Arbeit keine allzu pikanten Details aus der eigenen Biographie an eine (höchstwahrscheinlich sehr überschaubare) Leserschaft heranzutragen, versuche ich mich an einem unverbindlicheren Beispiel: so kann z.B. unser Verständnis der »Roaring Twenties«, also der historische Gegenstand »die Goldenen Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts« bis auf den heutigen Tag so ausgefallen sein, dass wir eine beachtenswerte Anzahl an Erkenntnissen für uns verbuchen konnten, was die Protagonisten aus jener Zeit und deren Begleitumstände betrifft; die Künstler, Literaten, ihre Schicksale und Werke und die Örtlichkeiten, an denen sie zu verkehren pflegten. Und sie alle werden wir ganz entschieden im Hinblick auf eben jene historische Zeitperiode zu verstehen versuchen, deren »Kinder« sie maßgeblich sind. Was aber, wenn nun jener historische Zeitabschnitt beginnt, sich 117 So wie etwa bei der Anekdote über einen Irren, welcher gerade aus einer Anstalt entlassen werden soll: von den Ärzten auf Herz und Nieren geprüft und für geistig gesund befunden, ist er gerade im Begriff zu gehen, als sich einer der Pfleger im letzten Moment vertrauensvoll an ihn wendet, um sich zu erkundigen, was er denn jetzt draußen mit seinem Leben anfangen wolle, was er werden wolle? Woraufhin ihm der ehemalige Patient unverblümt antwortet: »ein Teekessel«. Nachzulesen in: Putnam, Hilary, Die Bedeutung von »Bedeutung«, Frankfurt a.M. 2004, S. 61.
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für uns plötzlich ganz anders darzustellen, wenn er in einem völlig anderen »Licht« erscheint und der »Hinblick« selbst sich ändert? So waren wir bis jetzt vielleicht der Ansicht, dass die Goldenen Zwanziger eine Periode der wirtschaftlichen Blüte war, die dazu führte, dass man rauschende Feste feierte, ungezwungen in Cafés den Grundstein für Weltliteratur und die Extravaganzen der modernen Kunst legte, mit überkommenen Traditionen brach und die Menschen im Allgemeinen in allen Lebensbereichen von einer Welle konjunkturellen Aufschwungs getragen wurden. All das bleibt seinem »Informationsgehalt« vermeintlich wie es war: Picasso hat in jenem Café auf dem Monmartre gesessen, Josephine Baker hat im Moulin Rouge die anwesenden Herren mit ihrer exotischen Freizügigkeit verzückt und Henry Millers Herzensergießungen lassen ihn noch bis in die Fünfziger Jahre hinein in Amerika auf der schwarzen Liste stehen – und doch erhält alles eine völlig andere »Wendung«, schließt sich zu einem anderen Gesamtsinn zusammen, wird in einen anderen, übergeordneten Kontext versetzt, der das Umschlossene nicht unberührt lässt, wenn wir mit der Idee vertraut gemacht werden und sie fortan nicht mehr nur in Erwägung ziehen, sondern sie für uns verbindlich werden lassen, uns von ihr überzeugen lassen, dass jene Periode nicht bloß die Zeit vor der Weltwirtschaftskrise war, von der die Menschen ja noch nichts wissen konnten und die daher ihre Freude nicht schmälerte. Wir werden uns auf diese historischen Begebenheiten und ihre Zeit einen ganz anderen »Reim« machen (müssen), wenn wir die ganze Ausgelassenheit und zur Schau gestellte Freude nicht mehr als die Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs sehen, sondern die Unbekümmertheit und Spendierlaune an die Stelle der Ursache setzen und den wirtschaftlichen Aufschwung stattdessen als deren Wirkung betrachten; wenn Ursache und Wirkung ihre Plätze für uns tauschen und die Freigiebigkeit und Unbeschwertheit sich eine andere Ursache suchen müssen, die wir jetzt beginnen, in Erwägung zu ziehen: Dass sie nämlich ganz entschieden eine Reaktion auf die Wirren und Schrecken, die Gräuel des ersten vollindustrialisierten Krieges der Geschichte waren, dass die aufgesetzt gute Laune nur ein Symptom eines kollektiven Traumas war, eine »Abwehrreaktion« und Gruppentherapie gesellschaftlichen Ausmaßes. Alles ordnet sich plötzlich neu an, bekommt eine andere Wendung, steht von nun an für uns unter völlig veränderten »Vorzeichen« und verweist in eine andere »Richtung« als zuvor und bildet andere Anknüpfungspunkte für andere »Informationen« und andere Übergänge aus, als es das überkommene Verständnis getan hatte – kurz, in diesem Fall haben wir eine neue Idee begriffen. »Ich sage, dass ich eine Idee begriffen habe, wenn sich in mir das Vermögen eingestellt hat, in ihrem Umfeld Diskurse anzuordnen, die einen kohärenten Sinn ergeben, und dieses Vermögen selbst rührt nicht etwa daher, dass ich diese Idee bei mir besitzen würde und sie von Angesicht zu Angesicht betrachten könnte, sondern daher, dass ich mir einen bestimmten Denkstil angeeignet habe. Ich sage, dass eine Bedeutung erworben wurde und von
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nun an verfügbar ist, sobald es mir gelungen ist, sie einem Gefüge der gesprochenen Sprache innewohnen zu lassen […].«118 Was das Beispiel zeigen soll, ist, dass »Sinn« eminent perspektivisch verfährt bzw. eine Perspektive auf die Dinge »stiftet« – was an dieser Stelle nicht ein von Nietzsche inspiriertes, plurales Verständnis von Bedeutung meint und die Überzeugung, dass zwangsläufig ein jeder »seine« Wahrheit vertritt, da sich ein archimedischer Punkt der externen Beurteilung nicht auffinden lässt. D.h., der sozusagen ontologische Status von Bedeutung, ihr »Sein« sollte mit dem Beispiel (noch) gar nicht eigens berührt werden; denn schon die Betonung der Historizität eines jeden Verstehens lässt ja die Annahme einer einzig möglichen Bedeutung von »etwas« mehr als fragwürdig erscheinen. Vielmehr war mir darum zu tun, eine Idee von dem »Wirkmechanismus« von Sinn zu veranschaulichen, wenn er für eine strukturelle Neuformierung unserer Überzeugungsarchitektur sorgt. Das Perspektivische betrifft die innere Verfasstheit von Bedeutungen und den von ihnen ausgehenden Impuls zur Umstrukturierung eines Wissen-Gebietes. »Der Satz durchgreift den ganzen logischen Raum«119 wie Wittgenstein sich im Tractatus und noch unter Annahme eines Abbildverhältnisses zwischen Begriff und Wirklichkeit hierzu ausdrückte. Wenn Bedeutungen nicht für sich stehen, wenn sie holistisch verfasst sind und Schlussfolgerungsbeziehungen ganze Themenfelder in ihren Bann ziehen können, da Sinn in seinem Umsichgreifen innerhalb der logischen Sphäre nur von seinem logischen Antagonisten, sprich einem direkten Widerspruch in die Schranken gewiesen werden kann, so ist die »innere Verfasstheit« von Bedeutungen ja ohnehin nicht als statisch feststehende Größe zu denken. Nicht, wenn Sinn (angelehnt an Merleau-Pontys Verständnis einer Idee) neben seiner Eigenschaft, sich flutartig über ganze Wissensgebiete auszubreiten, ebenfalls begriffen werden soll als eine Art integrativer Kulminationspunkt, der jederzeit in seiner lebensweltlich relevanten Eigenschaft als orientierende, singuläre Einstellung zu den Dingen gefragt sein kann und dessen Einflussgebiet für unsere restlichen Überzeugungen unterschiedlich groß und umfassend ausfallen kann, wenn er eine jeweils andere Tragweite ausbildet. Wenn er für unser Denken und Handeln ein temporärer Ausgangspunkt sein soll, in dem Umstrukturierungen, die so zusagen ihren Anfang am anderen Ende unseres Überzeugungsspektrums genommen haben, zur Ruhe kommen; und eben auch nicht, wenn er in anderer Richtung, eine Umstrukturierung »lostretend«, alle Punkte innerhalb einer für uns verständlichen Welterschlossenheit über den Weg von Schlussfolgerungsbeziehungen »erreichen« können soll. Richtiger wird man 118 Merleau-Ponty, Maurice: Über die Phänomenologie der Sprache, in: ders., Zeichen, a.a.O., S. 128. [Meine Hervorhebung]. 119 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico‐philosophicus, §3.42.
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Bedeutungen daher als das vorläufige Resultat eines temporären Kräftegleichgewichts der eigenen Überzeugungen verstehen müssen, das zumindest für den Moment und bis zur nächsten Irritation vermeintliche Stabilität aufweist oder dies unserer Weltorientierung zumindest gekonnt vorspiegelt. Dass etwas für uns Sinn ergibt, heißt dann (nur) so viel wie, dass die Einzelheiten, die zur Übereinstimmung gebracht worden sind, einer verstehbaren An-Ordnung120 gehorchen, die wir von jedem Punkt aus (gedanklich) »abschreiten« können; d.h., dass ihre Übereinstimmung darin besteht, jeweils so viel zur Gesamtgeltung beizutragen, dass sie als gegenseitige Stütze das Fundament unserer restlichen Überzeugungen abzugeben in der Lage sind. Was aber andererseits eben nicht heißt, dass sie ausschließlich zu dieser Bedeutung taugen. Genauso, wie wir Gründe gewichten müssen, wenn es um unsere Orientierung und unser zukünftiges, zielgerichtetes Handeln geht,121 genau so müssen wir Teil-Bedeutungen gewichten und abwägen, wenn es ihnen möglich sein soll, sich für uns zu einem verstehbaren Gesamtsinn zusammenzuschließen. Wir müssen ihnen jeweils einen konkreten Stellen-Wert für unsere Orientierung und den vermeinten Sachverhalt zukommen lassen; eben einen »Wert«, der sich aus ihrer jeweiligen Stellung innerhalb einer Sinn-Konstellation ergibt, um so überhaupt erst einen Toleranz-Bereich etablieren zu können, der es uns erlaubt, zu bestimmen, ob das ein oder andere Argument vielleicht etwas unglücklich formuliert oder hergeleitet ist und die ein oder andere Beschreibung womöglich allzu sehr am Ziel vorbeischießt, ohne dass sich das »Ziel« damit selbst verflüchtigen würde. Dieser Vorgang ist dabei selbstredend kein Automatismus oder eine schlichte Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem, sondern auch hier machen wir von (kognitiven) Kompetenzen und Fähigkeiten Gebrauch, die es uns erlauben 120 Die normative, gar militaristische Konnotation von »An-Ordnung« dürfte hierbei kein Zufall sein. Schließlich ist meine eigene Überzeugung für mich selbst normativ gesehen ebenfalls verbindlich. Und um ihr zuwiderzuhandeln, bräuchte es wenigstens genauso (gute) Gründe, die mich vom Gegenteil überzeugen. 121 Vgl. Seel, Martin: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, a.a.O., S. 25, 29 & 30. Die Versuche, genau jene aktiven Abwägungsprozesse zu formalisieren und zu operationalisieren laufen in der Psychologie für gewöhnlich unter dem Stichwort »Entscheidungstheorien« zusammen. Während die von dem Mathematiker Daniel Bernoulli erstmals eingeführte »Theorie des erwarteten Nutzens« in der Ökonomie Karriere gemacht hat und zu der berühmt gewordenen, »nützlichen Fiktion« des homo oeconomicus geführt hat, der vermeintlich schon immer über alle relevanten Informationen verfügt und vor diesem Hintergrund stets rational, d.h. nutzenmaximierend in seiner Entscheidungsfindung verfährt, tragen neuere Theorien verstärkt der Unbestimmtheit alltäglichen Entscheidens Rechnung, indem sie einer linearen Aufsummierung erwartbaren Nutzens ebenfalls Verlustaversionen, gewichtete Gewinnerwartungen, Zielkonflikte und subjektiv empfundene Wahrscheinlichkeiten zur Seite stellen. Einen guten Überblick gibt bspw. Jungermann, Helmut & Pfister, Hans-Rüdiger: Die Psychologie der Entscheidung. Eine Einführung, Heidelberg 2012.
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»nie gehörte Wörter zu interpretieren, Versprecher zu korrigieren oder mit neuen Idiolekten zurechtzukommen.«122 Die von Gadamer geltend gemachte »Einstimmung« wird entsprechend (wesentlich abgeschwächter) immer nur so viel von ihrem Gegenstand einfordern (können), wie nötig ist, um genau diesen Zusammenschluss zu erreichen – eine vollständige Ausdeutung aller einzelnen Momente ist hierzu gar nicht erforderlich. Das »Einverständnis in der Sache«, das Gadamer als das Ziel aller Verständigung deklariert, die »Teilhabe am gemeinsamen Sinn«, die er der romantischen Auffassung vom Hineinversetzen in das Seelenleben des einstigen Autors entgegenhält, wird seiner eigenen Bestimmung gemäß wohl kaum eine platonische methexis meinen, d.h. die intellektuelle Teilhabe an überzeitlichen, ideellen Entitäten, die wir (Freges unglücklich tituliertem »drittem Reich« gleich123 ) abkürzend »Bedeutungen« nennen und die unseren Begriffen durch intelligible »Eingebung« ihren Gehalt verleihen. »Wenn wir einen Text zu verstehen suchen, versetzen wir uns nicht in die seelische Verfassung des Autors«, wiederholt Gadamer seine Kritik an der romantischen Hermeneutik, fügt aber zugleich hinzu: »sondern wenn man schon von Sichversetzen sprechen will, so versetzen wir uns in die Perspektive, unter der der andere seine Meinung gewonnen hat.«124 Dies ist aber ein durch und durch selektiver Vorgang, bei dem wir seinerseits möglichst immanent versuchen, einen Text (um vorerst bei dieser Art Sinngebilde zu verbleiben) durch die von ihm selbst gewählten Mittel zu Wort kommen zu lassen und anderseits bestrebt bleiben, eine kritische Distanz zu dem von ihm Gesagten zu wahren, indem wir ihn in unsere eigene Sprache übersetzen. Dabei werden einzelne Versatzstücke unberücksichtigt bleiben (müssen) und die Rede von einer Einstimmung aller Einzelheiten macht sich eines metaphysischen telos verdächtig, das entgegen der selbstbekundeten Absicht Gadamers keine Kontingenzen zu tolerieren vermag.125 »Durch das Verstehen wird dem Interpreten ein Text zu ›eigen‹; er kann sich darin bewegen, Wahres 122 Davidson, Donald: Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt a.M. 1990, S. 210. 123 Vgl. Frege, Gottlob: »Der Gedanke. Eine logische Untersuchung«, in: Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus 2, S. 69: »Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt noch Vorstellungen. Ein drittes Reich muss anerkannt werden. Was zu diesem gehört, stimmt mit den Vorstellungen darin überein, dass es nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, mit den Dingen aber darin, dass es keines Trägers bedarf, zu dessen Bewußtseinsinhalte es gehört. So ist z.B. der Gedanke, den wir im pythagoreischen Lehrsatz aussprachen, zeitlos wahr, unabhängig davon, ob irgendjemand ihn für wahr hält. Er bedarf keines Trägers. Er ist wahr nicht erst, seitdem er entdeckt worden ist, wie ein Planet, schon bevor jemand ihn gesehen hat, mit andern Planeten in Wechselwirkung gewesen ist.« 124 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 297. [Meine Hervorhebung]. 125 Eine Forderung, die sich ähnlich bei Descartes findet, der Erkenntnis ja unter dem Leitfaden einer rationalistischen Letztbegründungsbemühung nur als »klar und distinkt« gelten lässt. Vgl. Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie, Hamburg 1992, S. 15: »Deutlich (distincta) nenne
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und Falsches, Erhellendes, Zweideutiges und Problematisches voneinander unterscheiden und hat darin zugleich eine Stellung zum Text eingenommen.«126 Sprich, er ist in ihm orientiert. Wenn wir nun gemäß der generellen Stoßrichtung der Arbeit auch hier versuchen, die vorschnelle Zuteilung von Aprioris zu vermeiden, ob sie nun an Sprachgemeinschaften oder Lebensformen, Symbolsysteme, Medien, historische Dispositive oder andere (vermeintlich eigenständige) Strukturen ergehen sollen, dann müssen wir auch hier eine Zwischenstellung zwischen Autorenintention und einem apersonal ablaufenden Wirkungsgeschehen suchen, um den Gehalt von Bedeutungen klarer konturieren zu können. Wir dürfen nicht vorschnell die einstige (überzogen veranschlagte) Verfügungsgewalt des Subjekts in ihr genaues Gegenteil verkehren, um es entmächtigt zur abhängigen Variable zu erklären, wie es in der strukturalistischen Parole vom »Tod des Autors« oder dem » Tod des Subjekts« und ähnlich prominenten Schlagworten ausgesprochen ist.127 Denn der Herausforderung, die Fremdheits- und »Entzugsmomente« in unserem Selbstverhältnis richtig zu bestimmen, wie sie uns prominent durch eine sozial bedingte Sprachpraxis entgegenschlagen, über die wir ja ebenfalls nicht gänzlich verfügen, ist nicht dadurch zu begegnen, dass man das Subjekt schlicht aus der Gleichung streicht oder als völlig fremdbestimmt ansetzt. Wenn nun aber eine (rein) intentionalistisch gedachte »Kommunion der Seelen« als Basis für eine Bedeutungstheorie nicht überzeugen kann, verbleibt einzig eine »Kommunion von Sinn«, die ihren »Ort« weder alleine im rezipierten Material, noch in den Köpfen der Rezipienten haben kann und einen Objektivismus von Sinn, wie ihn noch Frege vertreten hat, unterläuft.128 Auch wenn eines von Gadamers Hauptanliegen die Absage an mentalistische Positionen ist, welche Bedeutungen mit Gedankeninhalten gleichsetzen, so klingen seine eigenen Bestimmungen zum Sein von Sinn aufgrund des vage bleibenden ich aber die Klarheit, von allen übrigen so getrennt und unterschieden (sejuncta et praecisa) ist, dass sie gar keine anderen als klaren Merkmale in sich enthält.« 126 Wellmer, Albrecht: Hermeneutische Reflektion im Licht der Dekonstruktion, in: ders.: Wie Worte Sinn machen, a.a.O., S. 165. 127 Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: ders., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a.M. 2005, S. 57-63. Vgl. auch Michel Foucaults bekannten Schlusssatz aus Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 2003. Vgl. dazu Schürmann, Eva: Verkörpertes Denken, Medialität des Geistes. Skizze einer darstellungstheoretischen Medienanthopologie, in: Körper des Denkens. Neue Positionen der Medienphilosophie, München 2013, S. 71: »Dass das Subjekt indes nicht Herr im eigenen Haus ist, wissen wir durch Freud schon lange. Auf Freud und Marx gestützt hatte Sartre deshalb Foucault entgegengehalten: ›Wenn man darauf besteht, unter Subjekt eine Art von substantiellem Ich zu verstehen […], dann ist das Subjekt schon lange tot.‹ Dieses Subjekt sollte demzufolge niemand mehr meinen erneut ermorden zu müssen.« 128 Frege, Gottlob: Über Begriff und Gegenstand, in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, a.a.O., S. 47 – 61.Vgl. ebenfalls Dummet, Michael: Ursprünge der analytischen Philosophie, a.a.O., Kap. 10 »Das Fassen eines Gedankes.«
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Status des veranschlagten »Sachbezugs« gelegentlich selbst reichlich mentalistisch bzw. metaphysisch. Denn was soll es schon bedeuten, dass ein Textgebilde seine eigene Wahrheit und angemessene Auslegung verbürgt? Eine Entgleisung, die uns aber gar nicht sonderlich zu irritieren braucht, wenn wir uns Gadamers eigener hermeneutischen Aufforderung gemäß dazu anhalten, verstehend in einem gewissen Toleranzbereich zu verbleiben, der es dem von ihm »gemeinten« Sinn erlaubt, sich weiter aufzubauen und zu vervollständigen, um dadurch die wesentlichen Einsichten seiner eigenen Analyse trotz dieser Unstimmigkeiten zu bewahren. Denn gerade bei Gadamer kann es sich ja um keinen Sinn‐an-sich handeln, denn »die Rede von einem Sinn ›an sich‹ setzt einen Standpunkt jenseits aller möglichen Horizonte voraus.«129
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Übersetzung und Erfahrungsgehalt
Wenn der »Vorgriff der Vollkommenheit«130 nicht die vollkommene, vereinnahmende und einzig mögliche »Ausdeutung« eines jeden einzelnen Moments innerhalb eines Sinnzusammenhangs meinen kann, bleibt noch zu fragen, was wiederum ihn selbst anleitet, wenn er seinerseits in der Lage sein soll, die Durchstrukturierung der einzelnen Momente anzuleiten? Die Antwort hierauf war bereits weiter oben zu lesen: denn es ist der Vorgriff eines jeden Verstehens, der hier die Fäden zieht und der jeweils mit einer Vorstellung oder vorerst vagen Idee voranschreitet, einer Sinn-Erwartung oder Erwartungshaltung, die dafür sorgt, dass die hermeneutische Bewegung zielgerichtet verläuft und sozusagen ein Gravitationszentrum erhält, das Stück für Stück neue Teilbedeutungen an sich zu ziehen vermag; so zusagen einen »Sinn-Ansatz«, der über abgestimmte und anschlussfähige Materialien entscheidet. »Der Sinnansatz bringt also auch den Anspruch mit, dass die sich ihm anschließende Sinnbildung ihm getreu verläuft, dass also zumindest immer wieder reflektierend überprüft wird, ob das sich Entfaltende noch dem Ansatz entspricht.«131 Die Erwartung ihrerseits wird nun, wie gesehen, erheblich durch die Zeitlichkeit allen Verstehens und der Geschichtlichkeit unserer eigenen Existenz und den Gehalt unserer vergangenen Erfahrungen gelenkt. Dieser bestimmte »Ansatz zur Zeitigung«132 leitet immer schon unsere Verstehens-Entwürfe an. Daher erwarten wir auch im Grunde niemals etwas völlig Neues, gänzlich Anderes, sondern vielmehr Abweichungen, Korrekturen, Ergänzungen und Kontraste zu einer vorgefassten 129 Weller, Albrecht: Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, a.a.O., S. 137. 130 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 299. 131 Richir, Marc: Das Abenteuer der Sinnbildung, a.a.O., S. 19. 132 Ebd., S. 19.
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Meinung und einer in der Vergangenheit getätigten Erfahrung, die uns in jeder neuartigen Situation erste Angriffspunkte für unsere Orientierung bietet. Ist diese Fähigkeit, auf ehedem erworbene Einstellungen zurückgreifen zu können, unzweifelhaft ein enormer evolutionärer (kognitiver) Zugewinn, so ist sie auf der anderen Seite auch oft ein Hindernis, wenn es um die ernstgemeinte Erweiterung des eigenen Horizontes geht. Um etwas genuin Neues erfahren und Denken zu können, müssen wir nämlich nicht selten gewisse Vorannahmen gezielt in Frage stellen. Und erst im Rahmen einer derartigen Fragestellung133 , die sich bewusst offen gegenüber fremden Gedankengut verhält, kann es zur Horizontverschmelzung im eigentlichen Sinne, d.h. zur Integration kommen und nicht bloß zur Ablösung des einen Teilverständnisses durch ein anderes. Sinn wird sich dabei jedoch neu ergeben müssen und wird nicht einfach aufgenommen und in den neuen Horizont »eingelegt«. Eine Über-Zeugung im denkbar wörtlichen Sinne muss über die Grenzen des Fremdpsychischen hinweg »gezeugt« werden, sie muss über‐zeugt werden, d.h., sie muss erst wieder heranwachsen, reifen, wozu sie ihre Wurzeln fest in den Boden unserer restlichen Weltorientierung graben muss – was jederzeit scheitern kann, wenn eine Wahrheit zu fremd für unsere Ohren klingt, weil sie schon zu ausgereift an uns herangetragen wurde, sie nicht auf dem Boden unserer eigenen Erfahrungen herangewachsen ist, wozu sie von vornherein auf unsere anderen Überzeugungen übergreifen und diese mit einbeziehen muss. Die von vielen Prüflingen gefürchtete Aufforderung, es in den eigenen Worten sagen zu müssen, die Übersetzungsleistung der »Sache«, die sich in einer Horizontverschmelzung vollzieht, »indem wir sie aus dem Horizont unserer eigenen Gegenwart neu lesen und neu aneignen, sie gleichsam in unsere eigene Sprache übersetzen und sie hierdurch in unserem eigenen Welt- und Selbstverständnis neu zur Geltung bringen«134 , kann letztlich nichts anderes bedeuten, als dass die uns jetzt und heute zur Verfügung stehenden, durch die Sprachgemeinschaft und den zeitgenössischen Diskurs vorgeprägten Mittel so zusagen wieder in die Schwebe versetzt werden müssen, so133 Dabei ist »Sinn der Frage mithin [ebenfalls, R.Z.] die Richtung, in der die Antwort allein erfolgen kann, wenn sie sinnvolle, sinngemäße Antwort sein will. Mit der Frage wird das Befragte in eine bestimmte Hinsicht gerückt.« Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O, S. 368. Vgl. auch Waldenfels, Bernhard: Antwortregister, Frankfurt a.M. 1994, S. 124ff. 134 Wellmer, Albrecht: Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, in: ders., Wie Worte Sinn machen, Frankfurt a.M. 2007, S. 136. Vgl auch Seel, Martin: Platons Apologie der Literatur. Eine kurze Lektüre des Phaidros, in: ders. Die Macht des Erscheinens, Frankfurt a.M. 2007, S. 139f.: »Nur die Person, so könnte man hinzufügen, verdient den Titel einer geübten Leserin der Philosophie (was natürlich nur ein anderes Wort dafür ist, eine Philosophin zu sein), die in der Lage ist, die Sprache des jeweiligen Texts in ihre eigene zu übersetzen. Nur der Gedanke, so könnte man weiter ergänzen, ist philosophisch ernst zu nehmen, der nicht seine ursprüngliche oder eine endgültige Formulierung gebunden ist.«
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dass sie sich neu anordnen, neu konfigurieren lassen. »Sich ausdrücken, das ist also ein paradoxes Unterfangen, da es einerseits einen Hintergrund verwandter, schon festliegender und unbestrittener Ausdrücke voraussetzt und da sich andererseits die jeweils gebrauchte Figur von diesem Grund abhebt und so neuartig bleibt, dass sie die Aufmerksamkeit weckt.«135 Oft müssen wir diesen (vorerst) festliegenden Ausdrücken den entscheidenden »Twist« verpassen, eine Gewichtung und Ausrichtung zukommen lassen, um anschließend mit ihrer Hilfe die neue Geltung für das Gesamtbild neu »einstellen« zu können. Was uns nur durch eine maßvolle Ein-Regelung und Um-Stellung gelingen kann, welche die entscheidenden Relationen bewahrt – oder die wir uns im Gegenteil und im Fall der »unlauteren Beweisführung« zurechtlegen oder zurechtbiegen. So wie ich es auch mit dieser Arbeit exemplarisch mit jedem Schritt durchführe, nein, durchführen muss: damit ich »von innen heraus« durch das Thema hindurchführen kann, das »Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen«, wie es in der Einführung mit Wittgenstein hieß. Denn was heißt es schon, dass ich sie mir unlauter »zurechtbiege«? Natürlich biege ich mir die Philosophien anderer Philosophen zurecht, biege mir Habermas, Gadamer oder Davidson zurecht, denn ich versuche ja über die »Sache« zu schreiben und keine Philosophen zu referieren oder ihre Gedanken zu kommentieren. Ich versuche nicht über ein Thema zu schreiben, dessen konkreter Aufbau schon feststünde und nur noch nachgebaut werden müsste, sondern ich versuche vielmehr aus dem Thema »heraus« zu schreiben, mich unter Einbezug intersubjektiv sinnbildender Bedeutungen in ihm zu orientieren, sodass sich das gesamte thematische »Umfeld« überhaupt erst herausbilden kann, indem ich die Grenzen immer wieder neu verschiebe, schaue, was sich noch integrieren lässt, überlege, wie ich es de‐finieren, ent‐grenzen und auf anderes hin öffnen kann. D.h. aber: dass alle Philosophien, die ich mir zu Eigen mache, falsch sind; nein, nicht falsch waren, sondern falsch sein müssen. Hybris, Größenwahn? Ich hoffe nicht. Denn sie sind nicht falsch, weil ich mir anmaße, als einziger etwas Richtiges zu all dem zu sagen – weil mein Stand der Dinge der Stand der Dinge wäre und die Philosophie in meinem Denken an ein Ende käme und in absolutes Wissen überginge. Nein, die Gedankengänge der anderen Philosophen müssen in meiner Version falsch sein, weil sie in ihrer Version richtig waren, bzw. Richtiges gesagt haben. Eben, weil sie Gedankengänge waren, die auf Hintergrundannahmen bezogen blieben, auf ihre Vorstellung vom Stand der Dinge abgestimmt, auf ihr »Bild« von unserer existenziellen Situation, um im Verbund für eine Klärung der aufgeworfenen Problemstellung sorgen zu können. Wenn ich daher einzelne Gedanken anderer Philosophen übernehme, so kann das nicht bedeuten, dass ich sie hier so wiedergebe, wie sie 135 Merleau-Ponty, Maurice: Die Wissenschaft und die Erfahrung des Ausdrucks, in: ders., Die Prosa der Welt, a.a.O., S. 57.
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dort gesagt wurden. »Dieselben Wörter – Idee, Freiheit, Wissen – haben hier und dort nicht den gleichen Sinn, und wie sollten wir, da es keinen einzigen Zeugen gibt, der sie auf einen Nenner bringen könnte, über die Philosophen hinweg eine einzige Philosophie heranreifen sehen?«136 Im Gegenteil: sie wären genau dann fehlerhaft, würde ich versuchen, sie einfach zu übernehmen und sie in meiner Gesamtdarstellung so zu Wort kommen zu lassen, wie sie dort zu Wort kamen. Ich bin gezwungen, sie zu »korrigieren«, sie auf meine Sicht der Dinge abzustimmen, sowohl ihre »Position« als auch ihre Ausrichtung und Gewichtung neu zu be-stimmen, sie auf meine Sicht neu einzustimmen. Was ich zurückbehalte aus einer jeden Philosophie, die ich mir derart »einverleibe« und auf diese Weise versuche, anschlussfähig zu machen, sind nicht einzelne Ergebnisse, sondern vielmehr Denk- und Argumentationsfiguren, gewisse Muster und Abgrenzungen, Analogien und Vergleiche, miteinander verwandte Gebiete und Eingrenzungen, Abgrenzungen und Parallelen. Von einer Problemstellung ausgehend versuche ich, mich in ihr zu verorten und immer wieder Ausgangspunkte zu wählen, von denen ausgehend ich mir die Zusammenhänge oder Koordinaten so und auf diese Weise verständlich machen und aufbauen kann, weil sie für mich auf diese Weise Sinn ergeben, weil mir, von meinem Standpunkt aus die Zusammenhänge meines Horizonts, meiner Vorstellung, meiner Idee gemäß meiner Orientierung so vor »Augen stehen« (können) und ansonsten uneinsichtig blieben.137 Ich ver‐mittele mir die »Sache« so, wie ich sie auch anderen ver‐mitteln würde: aus der »Mitte« eines (Vor-)Verständnisses heraus, immer größere Bahnen ziehend, immer wieder auf den umfangreicher werdenden, den angereicherten BeStand an abgesicherten Feststellungen zurückkommend und auf das »Bild«, das beginnt, sich auf diese Weise (für mich und andere) auf- und auszubauen. Die philosophische Erkenntnis kulminiert ja nicht in immer weiteren Sätzen, sondern im »Klarwerden von Sätzen«, in Auf-Klärung; sodass wir vielleicht am Ende sogar ein wenig abgeklärt sind (der Welt gegenüber und ihrem Treiben). »Die Philosophie ist nicht der Übergang von einer konfusen Welt zu einem Universum in sich geschlossener Bedeutungen. Sie beginnt im Gegenteil mit dem was quält und stutzig macht, aber sie erneuert und verfeinert auch unsere schon erworbenen Bedeutungen.«138 Sie ist ein Befreiungsschlag der Sprache gegen sich 136 Merleau-Ponty, Maurice: Überall und nirgends, in : ders., Zeichen, a.a.O., S. 182. 137 Vgl. Wittgenstein, Ludwig: PU, § 122: »Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, dass wir die ›Zusammenhänge sehen‹. Daher die Wichtigkeit des Findens und des Erfindens von Zwischengliedern. Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen. (Ist dies eine ›Weltanschauung‹?) 138 Merleau-Ponty, Maurice: Das Hirngespinst einer reinen Sprache, in: ders., Die Prosa der Welt, München 1993, S. 40.
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selbst, ist bekanntlich »ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache«139 und damit gegen falsche Vorannahmen, gegen etwas, das wir als richtig angenommen haben oder bis dato geglaubt, und zwar so innig, wie in der umgangssprachlichen Wendung von der Annahme eines Preises oder einer Ehrung, die wir Teil unser (öffentlichen) Person und damit unseres Selbstbildes werden lassen. Dass wir diese »annehmen« bedeutet, diese wirksam werden lassen als etwas, das uns als Person und unser Denken unmittelbar betrifft und damit bestimmt. Philosophie ist Begriffsarbeit, deren Aufgabe im Abbau falscher Vorannahmen besteht, falscher Vorstellungen, die sie durch ständige Abgleiche und Vergleiche mit alternativen Sichtweisen ad absurdum führt oder zumindest deren Schwächen, Widersprüchlichkeiten und Grenzen aufzeigt. »Ziel der philosophischen Tätigkeit ist ja nicht Erkenntnis, im Sinn eines Resultats, das man sicherstellen und anwenden kann, sondern Anschauung: die erkennende Anschauung der eigenen Position, die nicht nur die eigene ist […].«140 Aber Klarheit können wir uns nur verschaffen über den Abgleich mit einem Maßstab, den wir unseren bisherigen Vorstellungen über den Stand der Dinge abgewinnen müssen; den Relationen und Verhältnisse zwischen unseren normalerweise unthematisch bleibenden Vorannahmen, die einen gleichbleibenden (Unter-)grund abgeben für unser Denken, aber auch allem Neuen seine Stelle und damit seinen Stellen-Wert zuweisen.141 Wie sollte es auch anders sein? »Philosophen müssen einstehen für das, was ihnen einleuchtet; sie müssen ihrem Urteil vertrauen. Wenn sie sagen wollen, wie es mit etwas steht, müssen sie sich getrauen zu sagen, wie es nach ihrer Ansicht damit steht. Indem sie eine Perspektive ins Spiel bringen, bringen sie die jeweils ihre ins Spiel.«142 Wie sollte ich die Dinge anders zu einander in Beziehung setzen können außer durch meine Übersetzung, die Artikulation der Zusammenhänge in meiner Version, die versucht, die jeweiligen »Versatzstücke« in einer neu139 Wittgenstein, Ludwig: PU, § 109. 140 Seel, Martin: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, a.a.O., S. 124. 141 Eine ähnliche Position allerdings unter entschiedener Ausklammerung jeglicher Autorenintentionalität und unter Betonung historischer Zäsuren anstelle einer hermeneutischen Kontinutität vertritt bekanntlich auch Foucault in Bezug auf die historisch‐kontigente Formation jeglicher Diskurse und ihren jeweilig wandelbaren, historischen a prioris, die über Zugehörigkeit oder Ausschluss ganzer Theorieansätze entscheiden. Vgl. bspw. ders., Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1991, S. 25: »Mendel sagte die Wahrheit, aber er war nicht im ›Wahren‹ des biologischen Diskurses seiner Epoche: biologische Gegenstände und Begriffe wurden nach ganz anderen Regeln gebildet. Es musste der Maßstab gewechselt werden, es musste eine ganz neue Gegenstandsebene in der Biologie entfaltet werden, damit Mendel in das Wahre eintreten und seine Sätze (zu einem großen Teil) sich bestätigen konnte.« 142 Seel, Martin: Aktive Passivität.Über den Spielraum des Denkens,Handelns und anderer Künste, a.a.O., S. 123.
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en Zusammen-Stellung weitestgehend analog zu dem alten Maßstab neu zu einem Ganzen zusammenzufügen? Die behandelte »Sache« muss ja erst wieder vergeistigt, wieder »beweglich« werden, bevor sie fest‐gestellt werden kann – das kann sie aber nur, wenn sie verständig von quasi innen heraus durchdrungen wird, ihre Gestalt wieder »verflüssigt« wird, sie sich lichtet, weil ich Beziehungen etabliere oder (wie Hegel meinte) als Erkennender diese Beziehung »bin«, für die die Verhältnisse einsichtig werden (können).143 Denn, was immer der causal nexus der natürlichen Welt sein mag: »Beziehungen« gibt es nur, wo es Geist gibt und wo dieser jene (denkend) zusammenund auseinanderhält, Dinge synthetisiert oder ausdifferenziert, weil er das Maß aller Dinge bleibt, wie schon Protagoras wusste. Wenn ich erfolgreich Gedanken in diesem umfassenden Sinne vermitteln möchte, muss ich mich der »Voreinstellung der Adressaten anbequemen«.144 Dafür muss ich aber in einem Wissensgebiet orientiert sein; denn »ein philosophisches Problem hat die Form: ›Ich kenne mich nicht aus‹«.145 Und dafür reicht es nicht, dass ich lediglich nacherzählen kann, was jemand anderes gesagt und gedacht hat – denn dann kann ich mich noch immer nicht auskennen. Also muss ich dem einstmals fremden Gedankengut so etwas wie den angeführten Maßstab abgewinnen, der es mir erlaubt, in Analogie zu den nachvollzogenen Gedankengängen meinen eigenen, nun erweiterungsbedürftigen Wissensbestand dahingehend umzustrukturieren, dass ich dasselbe »Muster« darin wiedererkenne, das auch die fremde Gedankenwelt durchzogen hat, sich dabei aber an gewissen Stellen für mein Dafürhalten quasi falsch verzweigt hat, falsch »abgebogen« ist. Auch wenn es nicht exakt dieselben Worte und Ausdrücke sind, dieselben Herleitungen und Argumentationen, so werden sich doch ganz ähnliche Anknüpfungen und Abzweigungen, ähnliche Oppositionen und Synthesen in meiner Fassung auffinden lassen, die auch dem Original ihren Stempel aufgedrückt haben. Und erst dann kann ich für potenzielle Adressaten verständlich werden, für die ich als Übersetzer in diesem Sinne etwas (dieselbe »Sache«, den »gleichen« Gedankengang) nachvollziehbar sein lasse; was abermals von mir die Mobilisierung eines aktiven Überlegens erfordert, da ich mich auf die situativen Begebenheiten des aktuell dominierenden Verständigungsgeschehens und dessen sich wandelnde Sinnimplikationen verstehen muss, die innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft vorherrschen. Erst dann kann ich berechtigterweise davon ausgehen, dass anderen Diskursteilnehmern der Sinn-Gehalt meiner Übersetzung »aufgeht« und ich damit 143 Vgl. Hegel, G.W.F.: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a.M. 1986, S. 58f. sowie ebd., S. 137: »Ich ist der Inhalt der Beziehung und das Beziehen selbst; es ist selbst gegen ein Anderes, und greift zugleich über dies Andere über, das für es ebenso es selbst ist.« 144 Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M. 2012, S. 29. 145 Wittgenstein, Ludwig: PU, § 123.
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überhaupt etwas Sinnvolles sage: »als kohärent mit einem Zug der Situation, mit der Geschichte oder den Absichten des Sprechers oder der Logik einer Interaktion zusammenhängend; so also, dass sie als Äußerungen eines kompetenten Sprechers und entsprechend dem Situationsverständnis des Interpreten ›Sinn machen‹, was eben heißt: verstanden werden können.«146 Bevor es zu einer Neuformierung kommen kann, setzt dies zumeist jedoch eine Art Entdifferenzierung des Altbestandes eingespielter Bedeutungen voraus und eines häufig sehr bereichsspezifischen Vokabulars, in dem die semantischen Bedeutungen eingespannt bleiben. »Entdifferenzierung öffnet das semantische Feld und erhöht die Konnektivität in der Kontaktzone sozialer Sphären,«147 was im Extremfall soweit führen kann, dass ehemalige Sinngehalte nicht selten verwässert oder zerredet werden. Da hier Sprecher, Adressaten, ehemalige Sinngehalte, Zu-Sagendes und Übersetzungsleistungen keine getrennten Größen sind, bedeutet das im Allgemeinen, dass Sprache mehr einer »›inkarnierte[n] Logik‹ [entspricht], Logik in der Kontingenz, Vernunft, die Zufälligkeiten verarbeitet, ein bewegtes Gleichgewicht. Was sie in Gang hält, sind die Bedürfnisse der Kommunikation, in denen der Drang zu Neuem sich mit einem gewissen Zwang zum Alten verbindet, denn das Neue wird verständlich, wenn es das Bestehende ummodelt in einer Art ›kohärenten Verformung‹«.148 Und das heißt für die Wörter, die ich für die Skizzierung meines Verständnisses, d.h. meines »Bildes« gebrauche, dass man sie besser nicht allzu wörtlich nimmt. Was nicht heißt, dass ich nicht meine, was ich sage, sondern dass ich glaube, nur mit ihnen meinen zu können, was ich zu sagen habe. Zumindest, wenn man mit Albrecht Wellmer davon ausgeht, dass es situativ verankerte Bedingungen für ein mögliches Meinen gibt149 . Statt von Übereinstimmung mit einer ursprünglichen Be146 Wellmer, Albrecht: Verstehen und Interpretieren, in: ders., Wie Worte Sinn machen. Aufsätze zur Sprachphilosophie, a.a.O., S. 103. 147 Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, a.a.O., S. 40. 148 Waldenfels, Bernhard: Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt a.M. 1980, S. 154. Vgl. zur Idee der »kohärenten Verformung« als Grundmerkmal eines jeden »Stils«, das bewirkt, dass »alle optischen und charakterlichen Kraftlinien des Bildes auf dieselbe Bedeutung x hinauslaufen […], dass alle Momente des Gemäldes wie hundert Zeiger auf hundert Ziffernblättern dieselbe unersetzliche Abweichung anzeigen.« Merleau-Ponty, Maurice: Die indirekte Sprache und die Stimmen des Schweigens, a.a.O., S. 81 und S. 91. Vgl. ebenfalls Adornos (freilich nicht semantisch zu verstehende) Aussage über »die objektive Organisation eines Jeglichen innerhalb eines Kunstwerks Erscheinenden zum stimmig Beredten«, in: ders., Ästhetische Theorie,a.a.O., S. 216. 149 Dies ist ja der Punkt, den dekonstruktivistisch und postmodern argumentierende Philosophien gerne zum Anlass nehmen, um jene Bedingungen für ein mögliches Meinen absolut zu setzen und und sie der Verfügungsgewalt eines autonomen Subjekts dauerhaft zu entziehen. So richtig diese Überlegungen zur Anzweifelung der (uneingeschränkten) Autonomie von ver-
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deutung wäre es daher angemessener von einer harmonischen Abstimmung150 zu sprechen, die wir durch die Übersetzung von »etwas« erreichen können, wie es exemplarisch das Beispiel von Übersetzungen in oder aus Fremdsprachen zeigt. Es ist nämlich »plausibel anzunehmen, dass ein englischer Satz, dessen Bedeutung wir angeben können, einen semantischen ›Ort‹ in der englischen Sprache einnehmen muss, der dem des entsprechenden deutschen Satzes bis zu einem gewissen Grade analog ist; dies heißt nämlich anzunehmen, dass der englische Satz in ähnlichen Verweisungs- und Begründungszusammenhängen stehen muss wie der deutsche Satz: Es kann nicht der englische Satz dasselbe bedeuten wie ein deutscher Satz und trotzdem alles andere in der ›Umgebung‹ dieses Satztes – Gründe, Evidenzen, Implikationen usw. – anderes sein als beim deutschen Satz.«151 Daher wird auch der in Übersetzungsfragen Versierte wohl in der Hauptsache derjenige bleiben, der einen festen Stand in beiden Welten hat: der nicht nur sein eigenes, fachliches Wissen beherrscht, sondern auch die Feinheiten des Denkens seiner eigenen Lebensform durchdringt, die Denkwege der eigenen Kommunikationsund Sprachgemeinschaft verinnerlicht hat, sodass er sie bei seinem eigenen Vermittlungsversuch gewinnbringend einzusetzen weiß, um so seine Adressaten allererst zu erreichen, sie bei ihrem jeweiligen Vorverständnis gekonnt »abzuholen«152 – und sie in die von ihm angestrebte Richtung zu lenken, durch das ganze Medium der jeweiligen Sprache »hindurch«. Daher sagen wir ja auch, wenn wir jemanden auf den unsicheren Stand seiner eigenen Vorannahmen hinweisen möchten und auf die Schlussfolgerungen, die sich für ihn daraus ergeben (könnten), dass »er (besser) nicht davon ausgehen sollte« – so zusagen von dieser Position startend. Denn Genauigkeit wird den hermeneutischen Überlegungen zufolge gerade nicht dadurch erzielt, dass man sich an einen überlebten Duktus hält oder sklavisch an die Syntax einer altertümlichen Satzstellung oder an überlebte Redewenmeintlich (im Alleingang) sinn‐setzenden Subjekten sind, so falsch sind sie in der Aufrichtung des anderen Extrems eines sich völlig verselbständigenden und dadurch eigentümlich subtanziell werdenden Sinn-Geschehens, auf welches die einzelnen Subjekte keinen wirklichen Einfluss mehr nehmen (können). Die hier verfolgten Beschreibungen versuchen dagegen eine Mittelstellung zu finden zwischen subjektiver Beliebigkeit und heteronomen »Sinnentzug«. 150 Vgl. Richir, Marc: Das Abenteuer der Sinnbildung. Aufsätze zur Phänomenalität der Sprache, Wien 2000, S. 15. 151 Wellmer, Albrecht: ›Autonomie der Bedeutung‹ und ›principle of charity‹ aus sprachpragmatischer Sicht, in: ders.: Wie Worte Sinn machen. Aufsätze zur Sprachphilosophie, Frankfurt a.M. 2007, S. 78. 152 Ähnlich beschreibt auch Alva Noë den Vorgang des Witzeerzählens, in: ders., Strange Tools. Art and Human Nature, a.a.O., S. 74: »The joke teller brings the joke, the point, the twist, to you; he delivers it to you where he finds you. He draws on what you already know, and what you know that he knows that you know.«
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dungen oder Formulierungen, ohne Rücksicht auf die zeitgenössische Sprachverwendung zu nehmen. Eine Übersetzung, die einen Sachgehalt auch für ein zeitgenössisches Publikum zugänglich zu machen weiß, diesen »ansprechend« sein lässt, wird eben diejenige sein, die neben den unabdingbaren, formalen Kenntnissen auch die momentan vorherrschende Verwendung einer Sprache, die Finessen ihres gegenwärtigen Gebrauchs und ihre neuesten Wandlungen und Wendungen genügend berücksichtigt. Entsprechend schreibt Merleau-Ponty zur Phänomenologie der »sprechenden«, der »fungierenden« Sprache, die er gegenüber der gesprochenen und etablierten Sprache abgrenzt, dass »ich etwas zum Ausdruck [bringe], indem ich all diese bereits sprechenden Instrumente bei ihrem Einsatz dazu bringe, etwas zu sagen, dass sie noch nie gesagt haben. Wir beginnen mit der Lektüre eines Philosophen, indem wir den von ihm verwendeten Wörtern ihren allgemein ›üblichen‹ Sinn zuschreiben, und ganz allmählich, mit einer zunächst unmerklichen Umkehrung, gewinnt sein Sprechen über seine Sprache die Oberhand, und es ist auf den Einsatz dieser gesprochenen Sprache zurückzuführen, dass er den Wörtern letztlich eine neue und ihm eigene Bedeutung verleiht.«153 Auch wenn eine solche dynamische Transformationsleistung alleine aus der Warte ihres Vollzugs betrachtet (so zusagen in ihrer personenzentrierten »Prägeleistung«) noch etwas dunkel bleiben muss, so sollen diese Überlegungen ihrerseits eine Idee davon vermitteln, wie Intention und sprachliche Bedeutung zusammenzudenken sind. Denn weder wählen wir nach Belieben Wörter aus, für das, was wir sagen wollen, noch lassen Bedeutungen keine persönlichen Anverwandlungen zu. Denn die Verwendung selbst vermeintlich elementarer Benennungen bekommt unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten von der bereits etablierten und gemeinschaftlich gesprochenen Sprache ja in den meisten Fällen ihren Einsatzort strikt vorgezeichnet. »Wie hat er das gemacht: den Schmerz benennen?! Und, was immer er getan hat, was hat es für einen Zweck? – Wenn man sagt ›Er hat der Empfindung einen Namen gegeben‹, so vergisst man, dass schon viel in der Sprache vorbereitet sein muss, damit das bloße Benennen einen Sinn hat. Und wenn wir davon reden, dass Einer dem Schmerz einen Namen gibt, so ist die Grammatik des Wortes ›Schmerz‹ hier das Vorbereitete; sie zeigt den Posten an, an den das neue Wort gestellt wird.«154 153 Merleau-Ponty, Maurice: Über die Phänomenologie der Sprache, in: ders., Zeichen, Hamburg 2007, S. 127. 154 Wittgenstein, Ludwig: PU, § 257. [Meine Hervorhebung]. Durch unsere kognitive Angewiesenheit auf Sprache befinden wir uns schon immer »in« der Sprache und gestalten sie notwendigerweise »aus sich selbst« heraus um, wenn wir die Abmessungen ihrer sedimentierten Be-
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Sinn »macht« man nicht (wie im Englischen), sondern Sinn ergibt sich, wie es im Deutschen heißt. Ebenso, wie man eine Erfahrung nur insofern macht, indem man sie durchlebt und damit immer auch mit sich machen lässt. D.h., derjenige, der eine Erfahrung macht, wird mit einer Sichtweise auf die Dinge konfrontiert, die ihn nötigt (möchte er sich nicht selbst betrügen), auch deren Objektivität und die sich in ihr aussprechende Wahrheit anzuerkennen. D.h., ihm wird mehr mitgespielt, als dass er bloß sein eigenes, begriffliches Vorverständnis ausspielen würde. Und er wird die korrigierte Konstellation an Sachverhalten, die sich ihm durch die dazugewonnene, neue Perspektive ergibt, in die eigenen Überzeugungen integrieren müssen, indem er seine Vorstellung von der entsprechenden Sachlage modifiziert; mag sie auch bis dato geglaubten (und womöglich versöhnlichen) Grundüberzeugungen eklatant zuwiderlaufen, die den zentralen Teil seiner Vorstellungswelt ausgemacht haben. Das Bild einer Typisierung von Erfahrungsgehalten, die schlussfolgernd aus einem noch unspezifischen Datenmaterial abstrahiert werden und in einem begrifflichen Konzept (aktiv) vereint, wäre infolgedessen entsprechend dahingehend zu korrigieren, dass wir angemessener von einer Ent-Typisierung ausgehen sollten. Denn alleine eine solche lässt sich mit der inhärenten Negativität des beschriebenen Erfahrungsablaufes und dessen Ergebnis, die neue Sichtweise (auf die Dinge) in Einklang bringen. Eine wirkliche Erfahrung (diesmal im emphatischen Sinne Deweys), die mit einer neuen Sichtweise einhergeht, uns neue Perspektiven eröffnet und vielleicht sogar manchmal die Augen, ist im eigentlichen Wortsinne ja immer auch eine gewisse Ent-Täuschung155 von vorab für wahr gehaltenen Umständen und Vorstellungen. »Dieser Prozess nämlich ist ein wesentlich negativer. Er ist nicht einfach als die bruchlose Herausbildung typischer Allgemeinheiten zu beschreiben. Diese Her-
deutungen ein wenig verschieben und auf Neues hin »öffnen« möchten, was in Wittgensteins Ansatz bekanntlich ein wenig zu kurz gerät, da seine Praxis des Sprachspiels beständig droht quasi in einmal »erlernten Zügen« zu erstarren, deren wir uns (wie in dem Zitat angedeutet) nicht entschlagen können, möchten wir nicht Gefahr laufen, Sinnloses zu sagen. Trotz aller Praxis gerät damit (fast paradoxerweise) die dynamische Selbstübersteigung der Sprache als angewandte Tätigkeit aus dem Blick und kann durch Merleau-Pontys Analysen zur »schöpferischen Sprache« sinnvoll ergänzt werden. 155 Vgl. Habermas, Jürgen: Realismus nach der sprachpragmatischen Wende, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a.M. 2004, S. 21: »Vielmehr führt die konstruktive Lösung von Problemen, die durch eine Störung eingewöhnter Praktiken hervorgerufen werden, zu veränderten, wiederum falliblen und bewährungsbedürftigen Überzeugungen. Aus pragmatischer Sich ergeben sich ›Erkenntnisse‹ aus der intelligenten Verarbeitung performativ erfahrener Enttäuschungen.«
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ausbildung geschieht vielmehr dadurch, dass ständig falsche Verallgemeinerungen durch die Erfahrung widerlegt, für typisch gehaltenes enttypisiert wird.«156 Und auch für unsere Begegnung mit den Gehalten ästhetischer Gestaltung gilt: »Je neu die Aufgabe zu bewältigen, die Erfahrung stellt: sie in das Ganze der eigenen Weltorientierung und des eigenen Selbstverständnisses zu integrieren.«157 Das aber heißt eben gemäß der Grundüberzeugung des semantischen Holismus nicht, dass wir einzelne, ehemals geglaubte Annahmen nun kompromittiert von uns weisen, welche für sich genommen neu zur Disposition stünden, sondern vielmehr werden wir eine ganze Topographie an Überzeugungen in Zweifel ziehen müssen, die von der neuen Sichtweise betroffen ist und sie in ein neues »Bild« überführen müssen, das wir uns von der Situation machen (sollten). Denn die dazugewonnene Erkenntnis wird in den seltensten Fällen beim Stein des Anstoßes stehen bleiben, sondern ihre Bahnen ziehen, bis sie ein neues Zentrum in neuen Einstellungen gefunden hat – was bei irritierten Überzeugungen, die als fallible in einen gewissen Unruhezustand versetzt wurden, unter Umständen auch eine ganze Weile dauern kann, bis die zur Stabilisierung herbeigeschafften Bestätigungen eine Neuorientierung und neue Selbstverortung erlauben. Für den Gehalt einer Erfahrung bedeutet das, dass er sich nicht einfach nummerisch aus den einzelnen Teilaussagen zusammensetzt oder in der Summe als gesondertes Ergebnis ergibt, sondern in einer Gesamtorientierung sein Zentrum und seinen eigentlichen Brennpunkt hat, dessen Ausdruck die angesprochene Sichtweise ist. Jedoch ist es eben eine Sichtweise dieser erschlossenen (oder als ähnlich eingestuften) Konstellation aus Sachverhalten, während umgekehrt die einzelnen Tatsachen im Lichte dieser Perspektive erscheinen. »Erfahrungsgehalte sind nicht besonders komplexe Sachverhalte, sondern ein komplexes Verständigtsein zu Sachverhalten, also den propositionalen Gegenständen, die das thematische Zentrum einer augenblicklichen oder andauernden mehrseitigen Bezugnahme jeweils bildet […]. Mit der beispielhaften Nennung möglicher Situationsthemen ist nun keineswegs der Erfahrungsgehalt dieser Situation wiedergegeben, sondern lediglich das Zentrum, der Brennpunkt eines Zusammenhangs maßgeblicher Bedeutungen festgehalten, die die enggezogenen oder weitläufigen Koordinaten einer bestimmten Verhaltenslage bilden.«158 Die eigentümliche Negativität von Erfahrungen und ihr Ertrag, die veränderte Sichtweise, die neue Vorstellung, ist aber nicht nur bei der Entstehung von Erfahrungsgehalten eine beteiligte Größe, sondern spielt auch bei der Rekonstruktion und beim erneuten Einfinden in ein einmal gewonnenes Überblickswissens eine 156 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 359. 157 Gadamer, Hans-Georg: Ästhetik und Hermeneutik, a.a.O., S. 6. 158 Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung, a.a.O., S. 111.
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entscheidende Rolle. Dem in einem Themengebiet Bewanderten wird man nicht einfach etwas »vormachen« oder »erzählen« können; denn bei ihm treffen getätigte Behauptungen auf ein bereits ausgebildetes Netz an vorweg gewonnenen Einsichten, die andere Anknüpfungen erlauben und ein anderes »Bild« ergeben als es bei einem Dritten der Fall sein könnte, dem eine solche Basis fehlt. Bei ihm werden verstandene Behauptungen so zusagen in den Umkreis und in die direkte Nachbarschaft von Überzeugungen versetzt, die augenblicklich als Korrektive (ein-)greifen, weil die vermeintliche Tatsache nicht »passt«, sich nicht als stimmig erweist und sich mit den restlichen Ansichten nicht »verträgt«. »Dass die Interpretation immer aus einer bestimmten Perspektive heraus geschieht, bedeutet – wie schon gesagt – zugleich, dass die interpretierte Äußerung – oder auch ein Text – vom Interpreten in einem intersubjektiven Wahrheitsraum lokalisiert wird, d.h. als wahr oder unwahr, angemessen oder unangemessen, relevant oder irrelevant, überzeugend oder fragwürdig, plausibel oder unplausibel, erhellend oder irreführend, oder auch als unentscheidbar ›for the time being‹ verstanden wird.«159 Das aber ist ein vorwiegend ausschließender Vorgang, ein geistiges Ausschlussverfahren, dessen kognitives Pendant das Herleiten eines bestimmten Sachverhalts sein dürfte, der sich seinerseits mithilfe des Durchgangs durch die eigene Überzeugungsarchitektur oftmals (wenn nicht immer) erst aufbaut, anstatt einfach abgebildet oder »abgerufen« werden zu können – was jene falsche Vorstellung eines vorhandenen, gegenständlichen Sinnes voraussetzen würde, der nur noch (bspw. durch eine Erinnerung) aufgefunden zu werden bräuchte.160 Doch diese Negativität betrifft hier nicht den Gehalt, sondern so zusagen die (funktionale) Bereitstellung unseres Wissens, das nicht hinreichend durch das Ansammeln von (immer weiteren) vereinzelten »Informationen« beschrieben werden kann. Denn die erstaunlichste und beachtlichste Leistung von Begriffen ist ja mit Sicherheit ihre Fä159 Wellmer, Albrecht: Verstehen und Interpretieren, in: ders., Wie Worte Sinn machen, Frankfurt a.M. 2007, S. 107f. 160 Zugespitzt wird der Gedanke an die grundsätzliche negative Bereitstellung unseres Wissens auch durch den geschickten Rhetoriker, der für seinen argumentatives Vorgehen weniger zu wissen braucht, was (verstanden in einem positivistischen Sinne) das Gegenüber genau weiß, als vielmehr, was (verstanden als das Ergebnis von Schlussfolgerungsbeziehungen) es alles aufgrund dieses Wissens nicht wissen kann. Denn erst dieser Vorgriff ermöglicht es uns, unsere eigenen Ansichten und Behauptungen abgesichert oder rückversichert vorzutragen, uns kommunikativ in einem Raum der Gründe und Gegengründe einzulassen, dessen im Regelfall unüberschaubare Verzweigungen dahingehend von uns im Vorfeld abgesteckt werden, dass sich uns ein argumentativer Handlungsspielraum ergibt oder auch die realistische Chance auf ein Heimspiel eröffnet, bei dem die Vermeidung falscher Behauptungen guten Gewissens und aktiv in die Behauptung von für wahr gehaltene Tatsachen umschlagen kann.
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higkeit, potenziell unendlich viele Dinge zum Zwecke unserer Orientierung unter einem oder mehreren ausreichend differenzierten, zentralen und wiedererkennbaren Merkmalen zusammenzufassen und klassifizieren zu können, was uns erlaubt, potenziell alle mit diesem Konzept zusammenhängenden Merkmale auch auf andere, begrifflich so bestimmte »Dinge« zu übertragen. Was immer ein »Baum« für uns ist oder sein mag, er geht einher mit einer Menge abgesicherter Verhaltensweisen und Überzeugungen, die einen weiterführenden, situativen Umgang mit einem solchermaßen qualifizierten Ding erlauben und diese Klassifizierung erspart uns eine Menge Zeit und setzt kognitive Ressourcen frei für daran anschließende Interaktionen mit einer teilbewältigten und andernfalls uns überwältigenden (Um-)Welt. »Abstraktion« dient hier nicht der Exklusion, sondern vor allem der Integration: der konzeptionellen Übertragung (dem syllogistischen Schluss von den Prämissen auf die Konklusion) von verhaltensregulierenden, festgestellten Eigenschaften auf ein begrifflich (wieder-)bestimmbares »Ding«. Daher ließe sich behaupten, dass die Welt in orientierter Einstellung für den Menschen weniger die Summe all dessen sein dürfte, »was der Fall ist«161 , sondern all das, was nicht (mehr) der Fall zu sein braucht. Also all dasjenige, das keiner erneuten Prüfung seines konzeptionellen Gehalts mehr bedarf, da keine Gefährdung der durch es zugänglich gemachten (und uns einschließenden) Situation zu erwarten ist.162
161 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico‐philosophicus, Frankfurt a.M. 2013, S. 9. 162 Eine Beschreibung, die sicherlich ihren deutlichsten Widerhall in Heideggers Bestimmung von gewöhnlich für uns unthematisch bleibendem »Zeug« finden dürfte, das sich bereits einer ersten, grundlegenden »Auslegung« und vorgängigen »Welterschlossenheit« unauffällig eingegliedert findet.
3 Das Sein von Sinn
3.1
Zeichen, Strukturen und Gehalt »Wer spricht, der tritt in ein System von Beziehungen ein, die ihn voraussetzen und ihn zugleich offen und verletzbar machen.« - Maurice Merleau-Ponty
Bei der Rekonstruktion der zentralen hermeneutischen Thesen haben wir zwei Bereiche ausgespart, die auf den ersten Blick für die vorliegende Problemstellung eine eingehendere Berücksichtigung erfordert hätten: Gadamers Bestimmung des ästhetischen Seins sowie seine Analysen zum Sein der Sprache selbst, in der sich seines Erachtens das historisch vermittelnde Sinngeschehen immer schon vollzieht und die sich zu einer Ontologie der Sprache, zum »universellen hermeneutischen Medium« im letzten Teil von Wahrheit und Methode auswächst.1 Nun sind dies aber gerade die Stellen seines Hauptwerkes, die der verfolgten Demystifizierung der behandelten Gegenstände und der Annahme des verfolgten Ergänzungsverhältnisses zwischen unseren Erkenntnisvermögen recht stark entgegenlaufen; denn in beiden Fällen – bei der Betrachtung der Sprache und dem Sein von ästhetischem Sinn – lässt er sich zu Verabsolutierungen hinreißen, denen ich mich nicht ohne weiteres anschließen kann, bzw. die sich (in Gadamers eigener Wortwahl) ohne weiteres nicht für unseren Kontext applizieren lassen. Auch war bereits angeklungen, dass ich vorerst der Geltungs-Dimension von Sinn meine Aufmerksamkeit widmen wollte, seiner Vermittelbarkeit und intersubjektiven Mitteilbarkeit, bevor ich mich an einer weiterführenden, genetischen Herleitung versuche, die auch unsere körperliche Existenzweise und Orientierung (in der Welt) berücksichtigt. Wo von Geltung die Rede ist, da steht jedoch zu erwarten, dass auch der Name Habermas fallen wird, ohne freilich auch noch die zentralen 1 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, a.a.O., Dritter Teil, Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache, S. 387ff.
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Thesen und Argumente einer »Theorie des kommunikativen Handelns« auf diesem bemessenen Raum unterbringen zu wollen oder sämtliche Dimensionen der unterschiedlichen Geltungsansprüche aufzufächern, die im vorliegenden Kontext ohnehin nur eine begrenzte Relevanz aufweisen. Denn ästhetische Gelungenheit und ästhetischer Gehalt gehen mit einer Geltung einher, die letzten Endes eben nicht diskursiv‐argumentativ einlösbar ist, sondern sich an ihrem eigenen Objekt erweisen und darlegen können lassen muss.2 Das bedeutet nun aber nicht, dass wir den Gedanken an eine »de‐zentralisierte Vernunft«3 und an eine Geltungsansprüche erhebende Sprachgemeinschaft nicht insofern etwas abgewinnen können, als er zu verstehen hilft, was objektive Bedeutung, die nicht objektivistisch »an sich« vorliegt, innerhalb von intersubjektiven Verständigungs- und Kommunikationskontexten überhaupt sein kann, wie sie dort wirkt und sich konstituiert. Und ob diese Einsicht nicht ihrerseits zu verstehen hilft, wie sich ein jedes ästhetisches Anschauungsmaterial auf ein sprachlich vorausgedeutetes, präformiertes Verständnis hin öffnet, von dem es einige, wenn nicht die entscheidenden Bedeutungsimpulse empfängt, die es gewinnbringend in den eigenen Sinnzusammenhang aufzunehmen weiß, um sie anders gewichtet und re‐platziert einem entsprechend disponierten Rezipienten zurückzuspielen. Daran anschließend und der Auffassung von notwendig konventionellen oder von der Sprachgemeinschaft internalisierten Bedeutungen geradezu konträr, möchte ich mit Davidson erneut die Perspektive des Interpreten einnehmen und das Phänomen der sprachlichen Bedeutung von der Seite eines quasi externalisierten Interpretierens aus nachzeichnen. Sprich, diesmal nicht dialogisch und im Sinne einer aufgeworfenen Frage, auf die ein Sinngebilde eine mögliche Antwort bereithält, sondern geradezu empiristisch, d.h. weniger auf ein Sach- als auf ein Personenverständnis bezogen,4 das sich anhand von beobachtbarem Verhalten des Gegenübers eine hypothetische Theorie darüber zurechtlegt, welches die gemeinsamen »Gegenstände« in einer intersubjektiv geteilten Welt sein könnten, auf die unsere Kommunikation »Bezug« nimmt. Dadurch wird sich einmal mehr ein kohärentistisches Bild von sprachlicher Bedeutung ergeben und weiter vervollständigen und der Begriff der »Bezugnahme« und der »Referenz« zugunsten anderer Schlüsselbegriffe ins Hintertreffen geraten. Freilich lassen sich auch hier nicht alle Unterschiede zwischen den Autoren und Positionen vorbehaltslos glattbügeln und die verschiedenen Ansätze völlig miteinander aussöhnen; jedoch können wir im Sinne der angestrebten Zusammenschau festhalten, dass die nachfolgenden Perspektiven dahingehend konvergieren, dass 2 Vgl. Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung, a.a.O., S. 292f. 3 In aller wünschenswerten Kürze und Klarheit zusammengefasst in: Habermas, Jürgen: Kommunikatives Handeln und dezentralisierte Vernunft, Stuttgart 2001. 4 Vgl. Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2001, S. 172ff.
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sie den »Wahrheitsbezug« einer Sprache deren mögliche Bedeutungen voranstellen, was für das Verständnis letzterer insofern aufschlussreich ist, als dass sie einmal mehr ihren dinglichen Status als ominöse Entitäten einbüßen und auch aus dieser Warte mehr den Charakter von temporären Koordinaten unserer Weltauslegung aufweisen. Darüber hinaus wird uns bei Davidson einmal mehr das Phänomen der Übersetzung begegnen, dass sich jedoch im Gegensatz zu Gadamer zwischen verschiedenen, bereits konstituierten Sprachen (in einem sehr weit gefassten Sinne) abspielt. Diese Überlegungen sollen ihrerseits ein wenig das von Gadamer hervorgehobene historische Wirkungsgeschehen, das in seiner Philosophie doch allzu undurchsichtig und autonom abschneidet, demystifizieren, führen aber in der Konsequenz zu ganz ähnlichen Ergebnissen, wie sie die Hermeneutik ein wenig zu egozentriert (zumindest in der Kommunikationsdimension) denkt. Denn das Was und sozusagen der Scheitelpunkt seines veranschlagten Sachbezugs (vor allem ästhetischer Gebilde) bleiben bei Gadamer trotz aller Beschreibungen auffällig dunkel. »Auf die Frage, worum es sich denn handelt, gibt Gadamer […] keine Antwort; in gewissem Sinne könnte man sagen, dass er diese Antwort beständig verschiebt.«5 Die pure Feststellung, dass der Gehalt eines ästhetischen Gebildes oder das »Worüber« eines literarischen Textes etwas über den Inhalt eines einzelnen Aussagesatzes Hinausgehendes ist, dass »die Wahrheit, um die es sich handelt, eine in sinnhaften Konfigurationen – sei es von Sätzen, Farben oder Klängen – als Ganzen ›dargestellte‹ oder verkörperte, wirklichkeits- und erfahrungsaufschließende Wahrheit [ist]«6 , ist zwar (wie schon im Vorwort angeführt) im hermeneutischen Lager der philosophischen Ästhetik trotz aller übrigen Kontroversen und Streitigkeiten erstaunlicherweise geradezu Konsens, aber ohne weiterführende Erklärung wenig hilfreich und wäre als solche nur sinnvoll, wenn wir bereits wüssten, was denn überhaupt der Gehalt einer einzelnen Aussage ist – doch genau das wissen wir nicht. Als erste Hinleitung zum Sein von Sinn aus pragmatistischer und sprachanalytischer Sicht möchte ich daher zuerst auch hier eine kleine Übersicht der Problematik anbieten, welche die im Anschluss versuchte Lösung als das geeignete Mittel der Wahl erweist. Als Überleitung dazu bietet sich an, die Feststellung aus dem letzten Abschnitt, nämlich dass Wissen für uns in seiner orientierenden Form einen ausgeprägt negativen, Alternativmöglichkeiten ausschließenden Charakter besitzt als »formalen Holismus« zu Ende zu denken und zu schauen, ob wir damit auch die schöpferische Seite der Sprache genügend in den Griff bekommen. Die Idee, dass Sprache ausschließlich in verweisenden Zusammenhängen und Schlussfolgerungsbeziehungen ihr Auskommen hat, geistert seit Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Stu5 Wellmer, Albrecht: Hermeneutische Reflexion im Licht der Dekonstruktion, in: Wie Worte Sinn machen. Aufsätze zur Sprachphilosophie, a.a.O., S. 158. 6 Ebd., S. 158.
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ben der Sprachphilosophen und hat bei strukturalistisch und semiotisch argumentierenden Theoretikern ihre größte Anhängerschaft gefunden. Wenn wir das Sein von Sprache und den »Ort« sprachlicher Bedeutung genügend eingegrenzt haben, wird sich uns (hoffentlich) ein Verständnis der Funktionsweise unserer Sprache(n) ergeben, eine »Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache«7 , die ihr unverfälschtes Potenzial offenlegt und sie wieder richtig innerhalb unserer übrigen (Erkenntnis)Fähigkeiten positioniert, von wo aus sich im Anschluss ein unverfälschter Ausblick auch auf die Gehalte unserer Anschauung, unserer Wahrnehmung und unserer Vorstellungskraft ergibt. Innerhalb der analytischen Sprachphilosophie ist mit einem »holistischen« Konzept von Sprache im Grunde dasselbe benannt, was im hermeneutischen Kontext als »Verweisungszusammenhang« oder Netzwerk von Überzeugungen weiter oben eingeführt wurde. Eine einzelne Überzeugung oder Bedeutung, die nicht in weiteren Querbezügen stünde, wäre in aller Kürze nicht »unsinn« (denn selbst ein Un-Sinn hätte nach wie vor einen Gehalt), sondern vielmehr ein Nicht-Sinn. D.h. er hätte nicht die Möglichkeit, andere Sinnbildungsvorgänge anzustoßen und zu beeinflussen, er könnte keinen Sinn erzeugen und wäre damit so sozusagen »leer« und damit inhaltsleer. Weder würde er zu weiteren Schlussfolgerungen noch für Konklusionen taugen, die sich genau aus seiner Sinnhaltigkeit ergeben würden. »Dem semantischen Holismus zufolge gewinnt ein sprachlicher Ausdruck seine Bedeutung wesentlich dadurch, dass er in bestimmten Beziehungen nicht zu Elementen nichtsprachlicher Natur steht, sondern zu einer Vielzahl anderer sprachlicher Ausdrücke.«8 Ohne eine Verankerung eines solchen Holismus in sprachlichen Praktiken oder in den Wahrnehmungsfähigkeiten von Subjekten stehen wir aber vor dem Problem eines ausschließlich holistischen Verständnisses sprachlichen Sinnes, dessen Ressourcen nunmehr einzig in diesen horizontalen Querbezügen verortet werden können – in dem sprachlichen »Netz« und seinen internen Verweisungen selbst. Dass eine solche theoretische Abkopplung überhaupt ideengeschichtlich Attraktivität erlangen konnte, liegt in der Abkehr vom »mentalistischen Repräsentationalismus«9 begründet. Diese sprachphilosophische Position vertritt die vor allem durch John Locke ins Feld geführte Auffassung von Sprache, die in dieser eine pure Vermittlungsinstanz von bereits geistig vorgeformten Inhalten sieht, die von Sprecher und Hörer durch die Verwendung von Zeichen in einem Prozess der Kodierung und Dekodierung bloß noch ausgetauscht und übermittelt werden müssen. 7 Wittgenstein, Ludwig: PU, § 109. 8 Bertram, Georg W. et al.: In der Welt der Sprache, a.a.O., S. 13. 9 Bertram, Georg W. et al.: In der Welt der Sprache, a.a.O., S. 12.
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Denn dass sprachliche Zeichen wie etwa einzelne Wörter arbiträr ausfallen, sie also einer kulturellen Konvention unterliegen, die ihre konkrete Schreibweise und Aussprache regelt, steht ja außer Frage. Dass wir im Deutschen einen Tisch »Tisch« nennen und nicht wie im Englischen »table«, scheint (ohne auf etwaige Etymologien einzugehen) relativ kontingent. Was neben diesem konventionellen Zeichen nicht kontingent sein kann, ist allerdings das Bezeichnete selbst. Es ist eben ein Tisch, den wir damit bezeichnen und nichts anderes. Ihren eigentlichen Gehalt erhalten sprachliche Zeichen in diesem Bild durch ihre »Bezugnahme« oder Stellvertretung eines Dinges oder Gedankens.10 Der Sprache selbst kommt dabei keine konstitutive Rolle zu für die Ausbildung semantischer Gehalte. Sie dient als deren bloßes Vehikel und als Übermittlungsinstanz für bereits ausgebildete und ausgeformte Bedeutungen, wie wir sie als Ideen immer schon im Geiste führen oder als Gegenstände in der Welt antreffen. »Zunächst hat die Phänomenologie Husserls eine prälinguistisch orientierte, im angedeuteten Sinn intentionalistische Bedeutungstheorie entwickelt. In ihr sollten die ›intentionalen Leistungen‹ des Ich-Bewusstseins‹, die im Prinzip als solche eines solipsistisch‐autarken und insofern transzendenten Bewusstseins verstanden werden könnten, für die ursprüngliche Konstitution allen sprachlich ausdrückbaren Sinns verantwortlich sein.«11 Eine Auffassung von Sprache, die bekanntlich durch den linguistic turn des 20. Jahrhunderts eine nachhaltige Korrektur erfahren hat. Nicht nur Denken wir mit Hilfe von Sprache, sondern unausweichlich in Sprache oder noch kürzer: sprachlich. Wir verwenden Sprache nicht wie ein bereitliegendes Werkzeug und machen nur ab und an Gebrauch von ihrer Fähigkeit zur Informations-Übertragung, wobei schon gedachte und damit vorgeformte Gedanken ihre Reise antreten, sondern die Bedeutungsformation verläuft unweigerlich über Sprache und diese spielt eine, wenn nicht die entscheidende, konstitutive Rolle bei der Entstehung von (neuem) Sinn. In der Folge des linguistic turns verschiebt sich in den sprachphilosophischen Überlegungen daher der Primat von einem »sinn‐setzenden« Subjekt hin zu einem (unserem Denken vorgeschalteten) Apriori der Sprache selbst, die unter formalistischen Vorzeichen streng systemisch gedacht wird. Doch reicht diese Perspektive ihrerseits hin, um ein vollständiges Bild unserer sprachlichen Kapazitäten zu zeichnen oder gerät etwas Entscheidendes aus dem Blick, wenn wir Sinnentstehung ausschließlich holistisch, d.h. formalistisch beschreiben – in sich geschlossen und oh10 Vgl. ebd., S. 137: »Eines haben repräsentationalistische Bedeutungstheorien gemeinsam: Sie identifizieren die Bedeutung eines Ausdrucks mit einer Sache (einem Gegenstand, einer Vorstellung, einer objektiven Idee) – nämlich mit derjenigen Sache, für die der Ausdruck steht. Diese ist die Bedeutung des Wortes.« 11 Apel, Karl-Otto: Ist Intentionalität fundamentaler als sprachliche Bedeutung?, in: Intentionalität und Verstehen, hg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1990, S. 13.
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ne Rückführung auf weitere Facetten eines nunmehr von seiner eigenen Sprache heteronom abhängigen Subjekts? Eine vorläufige und weiter erklärungsbedürftige Antwort lautet: Die Welt selbst gerät aus dem Blick. Die »Welthaltigkeit« unserer Begriffe und somit auch unseres Denkens. Doch warum? Und was ist damit gemeint? Wenn Subjekt und Welt als abhängige Variablen nicht mehr die entscheidenden Impulse zur Sinnentstehung liefern und die Sprache als System von Zeichen gedacht wird, das Bedeutung geradezu im Alleingang und unter zuhilfenahme seiner Strukturen generiert, so muss aufgezeigt werden können, wie dieses Potenzial möglich ist und wie es zustande kommt, ohne auf die beiden erstgenannten zurückzugreifen. Frühe Sprachphilosophien sehen einen geeigneten Kandidaten hierzu in den Schlussfolgerungs-Beziehungen, welche unsere Sätze und Aussagen (logisch‐notwendig) zueinander unterhalten oder konzentrieren sich (komplementär) auf deren Differenzierungs-Potenzial. Denn jedes Wort steht ja prima facie zu gewissen anderen Wörtern in entscheidender (negativer) Opposition. Was immer wir über ein gewisses, sprachlich benennbares »Etwas« wissen, es gibt durch seine strukturelle Eingruppierung, seinen »Ort« in der Gesamtheit der Sprache nicht nur Anlass zur Her- und Ableitung mit ihm zusammenhängender Tatsachen, sondern eben auch zum Ausschluss von Alternativen, wodurch wechselseitig den einzelnen Wörtern in diesem Netz gegenseitiger Verweisungen ein rein negativer Wert zukommt und, so die formalistische These, entsprechend auch Bedeutung. Da dabei keine Entsprechungen und Relationen zu externen Objekten mehr angenommen werden, konnte der Wegbereiter dieser Auffassung, Ferdinand de Saussure auch ohne Widerspruch die Behauptung aufstellen, dass »[es] in der Sprache […] nur Unterschiedenheiten gibt ohne positive Einzelglieder.«12 Eine solche Auffassung von der »Prägekraft« der Sprache lässt sich entsprechend als »differentialistische Semantik« bezeichnen.13 Doch warum ist die Entstehung von Bedeutung nicht derart systemimmanent und alleine strukturell zu beschreiben? Aus folgendem Grund: Wenn jedes Element einer Struktur seine Bedeutung ausschließlich durch Beziehung, Opposition und Verweis auf andere, innerhalb dieser Struktur vorkommende Elemente erhält, ohne von anderer Seite aus eine Korrektur erfahren zu können, so eignet einem solchen systemischen Denken etwas rein Formalistisches, das den holistisch veranschlagten Ansatz absolut setzt. In dieser Perspektive muss jegliche, bedeutungskonstitutive externe Einwirkung auf das Sprachsystem und seine Elemente bestritten werden. Die gegenseitige Ausdifferenzierung alleine genüge, um auch substanziell die verwendeten Sprachzeichen mit Bedeutung »aufzuladen«.14 12 Saussure, Ferdinand: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 143. 13 Bertram, Georg W. et al.: In der Welt der Sprache, a.a.O., S. 18. 14 Bertram, Georg W. et al.: In der Welt der Sprache, a.a.O., S 145.
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Doch genau dies ist überaus zweifelhaft. Nur weil auf theoretischer Ebene und rekonstruierend gezeigt werden kann, in welchen syntaktischen Beziehungen Wörter, Sätze und Zeichen zueinander stehen und wie sie sich voneinander unterscheiden (lassen), kann eine formalistische Theorie den Gehalt von Sprachzeichen nicht einfach voraussetzen. Denn etwas (Gadamers »Scheitelpunkt« eines jeden Sachbezugs) ist es ja, das von der Struktur »geformt« wird oder aus ihr hervorgehen soll und dieses »Etwas« verstehen wir intuitiv als die gesuchte Bedeutung eines Satzes oder einer Aussage. Was wir uns von einer Sprachphilosophie erhoffen und erwarten dürfen, ist eben eine Erklärung des epistemischen Potenzials unserer Sprache, d.h. ihrer kognitiven und erkenntniserweiternden Dimension und nicht bloß die Aufklärung ihres syntaktischen, formellen »Gerüstes«. Würde man diesen Unterschied einebnen wollen, so wäre kaum ein Unterschied auszumachen zwischen einer natürlichen Sprache und anderen Systemen, die ebenfalls nach rekonstruierbaren Regeln operieren, ohne dabei jedoch einen nachweislich semantischen Gehalt auszubilden. So beschränkt sich die Bedeutung des Bauern im Schach bspw. auf seine (regelkonforme) Möglichkeit des anfänglichen Ziehens von zwei Zügen nach vorne und dem nachfolgenden Ziehen um einen Zug nach vorne und des diagonalen Schlagens einer gegnerischen Figur. Die Bedeutung des Bauern ist (verstanden sowohl als Identität als auch Existenz) in diesem Fall das formelle Repertoire möglicher Spielzüge. Nun finden wir gewiss auch innerhalb unserer Sprache »erlaubte« und nicht erlaubte Sprach-»Züge«, verbotene und gebotene Schlussfolgerungen, aber in den meisten Fällen eben nur, weil uns die semantische Bedeutung einer gewissen Aussage, ihr Gehalt bereits aufgegangen ist, wir die Bedeutung verstanden haben. Und dieser semantische Inhalt, das Verständnis dessen, was etwas ist, müssen wir in den meisten Fällen erst in der Welt in Erfahrung bringen, anstatt es einfach aus dem Repertoire sprachlicher Implikationen herleiten zu können. Und wie sollte es einer derart autonom gesetzten Struktur gelingen, (selbst im Nachhinein) diese Art der empirischen Gehalte zu inkorporieren?15 Wie bei dem Modell der Abbildlichkeit von Sprache stellt sich auch hier die Frage, wie letztlich in einem solch hermetisch verstandenen Modell Sinn entstehen kann? Auf diese Weise wird »Sprache zu einem in sich geschlossenen Zeichensystem, das weder weltlich im Sinne sachlicher Bedeutungen noch reflexiv in Gestalt sprechender und hörender Subjekte über sich hinausweist.«16
15 Und genau dasselbe Problem stellt sich auch allen Kunstphilosophien, die dieselbe Art von »Autopoiesis« dem Gehalt des ästhetischen Objekts unterschieben. 16 Waldenfels, Bernhard: Der Spielraum des Verhaltens, a.a.O., S. 148.
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3.2
Empirische Gehalte und dynamische Strukturen
Ein Problem, auf das ganz parallel (allerdings niemals wirklich explizit) auch philosophische Ästhetiken und das Nachdenken über ästhetische Darstellungen stößt, von diesem aber meist stillschweigend übergangen wird. So schreibt bspw. Micheal Fried, den Juliane Rebentisch zitiert, um ihre eigene Ästhetik der Installation auf den Weg zu bringen, über die Skulpturen von Anthony Caro: »It is not the identity of each element that is significant in Caro’s sculptures, but their ›mutual inflection‹ […]. The individual elements bestow significance on each other precisely by virtue of their juxtaposition«. Und mehr noch: »Caro’s ›syntax‹ is for Fried not only what binds the individual elements in aesthetic unity, thereby transcending them, but more importantly still, it is what, by virtue of such cohesion, lends his sculptures meaning – and indeed inexhaustible meaning.«17 Doch wie machen sie das? Wie ist die Generierung von Bedeutung alleine durch die »Konstellation« oder »Kohäsion« system‐immanentener »Elemente« zu beschreiben, die darüber hinaus sogar »inexhaustible meaning« zu generieren im Stande sein sollen? Wie gelingt es einem autonomen und ausschließlich in sich selbst differenzierten Gebilde sich auf die Welt und ihre Gegebenheiten zu »beziehen«, sich auf empirische Unterschiede einzulassen, die sich in den Strukturen dieses Systems wiederfinden (sollen) und die letztlich diejenigen Erkenntnisse sind, die wir mit Hilfe dieses Systems artikulieren?18 Offensichtlich erst in einem zweiten, nachgeordneten Schritt, in dem dieses System auf die Welt (interpretierend) angewendet wird. Doch man ahnt bereits, welche Folgeprobleme man sich mit dieser Auskunft einhandelt. Denn aus dieser Warte kann Anwendung im Grunde nur Unterordnung bedeuten: Unterordnung der Empirie unter eine Struktur, die schon bei ihrer Entstehung kei17 Rebentisch, Juliane: Aesthetics of Installation Art, Berlin 2012, S. 42. [Meine Hervorhebung]. 18 Im Falle der Kunst ist man natürlich geneigt zu entgegnen, dass diese gerade keinerlei Beziehungen zur »Außenwelt« zu unterhalten braucht. Doch wie das übergeordnete Thema der gesamten Arbeit ja erweisen soll, lässt sich diese Behauptung nicht aufrechterhalten, solange wir davon ausgehen, dass der Kunst (wie im Vorwort dargelegt) eben eine entschieden epistemische Funktion zukommt. Und selbst wenn ihre Erkenntnisfunktion ausschließlich darin bestünde (wie es inzwischen gerne von Kunstphilosophien zum Alleinstellungsmerkmal wird), eine »Metareflexion« auf unsere anderweitigen Orientierungen zu erheben, auf unser grundlegendes »Organisiert-Sein«, so bleibt das Problem in dieser Form erhalten. Denn entweder reflektiert die Kunst über Gehalte, bei deren Ausformung sie nicht im Geringsten beteiligt ist – dann wird ihr gesonderter epistemischer Status mehr als fragwürdig; denn offensichtlich wären diese dann (zumindest prinzipiell) auch anders als über die Vermittlung der Kunst zugänglich. Oder, sie hantiert und transformiert eben doch empirische Gehalte, die sie aus analogen Gründen nicht bloß aus sich selbst heraus erzeugen kann, sondern aus anderen Quellen unserer lebensweltlichen Involviertheit »vererbt« bekommt. Zur Verteidigung der Ansicht, Kunst sei im Wesentlichen eine höherstufige Metareflexion auf unser sonstiges »Organisiert-Sein« vgl. bspw. auch das Buch von Alva Noe: Strange Tools. Art and Human Nature, New York 2015.
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ne Kenntnis von ersterer nahm und auch bei ihrer weiteren Ausbildung keine zu nehmen braucht. Eine Welt, die völlig passiv verbleibt, während ihr ein autonomes Zeichensystem »übergestülpt« wird. Einmal mehr wäre die empirische Welt, wie von rigorosen Konstruktivismen gerne behauptet, zur bloßen »Materie« degradiert, zu einer nach Belieben formbaren »Masse« für unsere Erkenntnis, die unfähig ist, unserem (epistemischen) Zugriff auf sie (entscheidenden) Widerstand entgegenzusetzen. Nun gilt aber, »damit ein Gehalt als empirischer Gehalt begreifbar sein soll, jedoch die Substanz (das, worüber gesprochen wird) dasjenige sein [muss], was die relevanten strukturalen Unterschiede bestimmt. Es muss, bildlich gesprochen, zu einer ›Reibung‹ zwischen Struktur und Substanz kommen. Die Welt selbst – eine der Struktur als externe unabhängige Substanz gegenüberstehende Instanz – muss einen Einfluss auf die Anwendung der Sprachstruktur in der Rede nehmen.«19 Daher kann Sprache letztlich nicht »in einem ersten Schritt als autonome, allein aus sich selbst heraus konstituierte formale Struktur verstanden werden, die dann in einem zweiten Schritt in sprachlichen Praktiken auf die Welt ›angewendet‹ wird.«20 Was auch die Rede von einem »Bezug« (also dem klassischen Referenz-Gedanken von Sprache) höchst problematisch erscheinen lässt, da er ja genau jene Autonomie nahe legt, die er im selben Moment zu überwinden sucht. Auf diese Weise ist die Welthaltigkeit unserer Begriffe aber nicht ausreichend einzulösen, d.h. ihre implizite Garantie, dass tatsächlich auch die Begebenheiten der Welt konstitutiver Bestandteil unseres Sprechens über sie sind.21 Infolgedessen bieten sich zwei 19 Bertram, Georg W. et al.: In der Welt der Sprache, a.a.O., S. 153. Vgl. auch die von Jürgen Habermas in jüngerer Zeit angeführte und am Ende nicht einzuebnende Differenz von Rechtfertigbarkeit und Wahrheit, die sich ergibt, wenn an einer ontologisch‐realistischen Intuition von »Wahrheit« festgehalten wird: Habermas, Jürgen: Von Kant zu Hegel. Zu Robert Brandoms Sprachpragmatik, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2004, S. 153: »Diese Differenz von Wahrheit und Rechtfertigung entspricht auf der Seite der Referenz die Unterstellung, dass uns eine Welt, die nicht von uns gemacht ist, kontingente Beschränkungen auferlegt, an denen wir uns, wenn sie unsere Erwartungen durchkreuzen ›reiben‹«. [Meine Hervorhebung]. 20 Ebd., S. 19. 21 Vgl. Habermas, Jürgen: Was heißt Universalpragmatik?, in: Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt a.M. 1982, S. 179: »Die auf Carnap zurückgehende logische Analyse der Sprache richtet sich vornehmlich auf syntaktische und semantische Eigenschaften sprachlicher Gebilde. Ähnlich wie die strukturalistische Linguistik grenzt sie ihren Gegenstandsbereich ab, indem sie von den pragmatischen Eigenschaften der Sprache zunächst abstrahiert und die pragmatische Dimension nachträglich so einführt, dass der konstitutive Zusammenhang zwischen den genera-
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Lösungen an, das Auseinandertreten von Sprache und Welt von vornherein zu vermeiden und beide (so möchte ich behaupten) sind auch für das Zustandekommen ästhetischen Gehalts gleichermaßen von Bedeutung: Zum einen die Praktiken sprachlicher Verständigung und zum anderen unser sinnlich wahrnehmender Zugang zur Welt. Nur wenn außersprachliche Elemente von Anfang an mit den konstitutiven Faktoren eines Sprachsystems (oder allgemeiner im Hinblick auf ästhetische Sinngebilde: eines Bedeutungssystems) »verwoben« werden und in diese eingehen, erfährt letzteres eine Korrektur, die es für empirische Unterschiede empfänglich macht und von Anfang an zur Welt hin »öffnet« und auch im weiteren Verlauf zugänglich für Beeinflussungen hält. Nur dann befinden wir uns nicht in der misslichen Lage, Sprache und Welt im Nachhinein miteinander aussöhnen zu müssen. Der sprachliche Verweisungszusammenhang logischer Implikationen muss so zusagen immer schon in der Welt verankert bleiben, denn nur dann hält die Sprache Schritt mit der Universalität und Flexibilität der Vernunft, deren ausgezeichnetes Medium sie bleibt; nur dann ist gewährleistet, dass empirische Unterschiede korrigierend auf die Ausbildung interner Strukturzusammenhänge einwirken können und dass sprachlich ein Wissenszuwachs über die Welt festgehalten werden kann, der genau dadurch »substanziell« wird, dass er sich nicht alleine logischen Umformungsregeln verdankt, sondern eine Art materielles Eigengewicht der Dinge berücksichtigt. Die Fäden, die in einer propositionalen Feststellung zusammenlaufen und das Wissen, »dass etwas der Fall ist« und die damit einhergehende Erkenntnis, so zusagen ihr »Ort« befindet sich »nicht ›im‹ Kopf aber auch nicht ›in‹ der sprachlichen Struktur, nicht ›in‹ der Welt, und nicht ›in sozialen Praktiken‹. Wenn überhaupt sind sie [Bedeutungen, R.Z.] dort, wo sprachliche Strukturen, Welt, Praktiken und an ihnen Beteiligte in der richtigen Weise zusammenspielen.«22 Was heißt, dass das Sprachsystem als Ganzes einer Dynamik unterworfen werden muss, die auch dessen einzelne »Elemente« nicht unberührt lässt. Diese müssen als flexibel und letztlich beeinflussbar für weltliche Einschreibungen gedacht werden, wodurch wir es mit einem Bild von Sprache zu tun bekommen, das »sich von innen her organisiert und reorganisiert und nicht bloß vorhandene Bedeutungen kombiniert.«23 Der Grundgedanke, der sich in der sprachanalytischen Landschaft durchzusetzen beginnt, kommt mit dem hermeneutischen Denken darin überein,
tiven Leistungen des sprach- und handlungsfähigen Subjekts einerseits und den allgemeinen Strukturen der Rede andererseits nicht in den Blick kommen kann.« 22 Bertram, Georg W. et al.:, In der Welt der Sprache, S. 20. 23 Waldenfels, Bernhard: Der Spielraum des Verhaltens a.a.O., S. 156.
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»dass Verstehen nicht als das Erfassen einer unabhängig von ihm bereits konstituierten Bedeutung begriffen werden darf, sondern als ein Akt, der selbst an der Konstitution sprachlicher Bedeutung beteiligt ist.«24 Und einige dieser Dynamiken haben wir bereits aus der Innenperspektive einer hermeneutisch beschriebenen Re-Organisation unserer Vorannahmen kennengelernt. Nur betrifft diese Flexibilität nicht nur unsere eigenen Annahmen, sondern auch das System, in dem diese Annahmen sich zu Wort melden und auf Kommunikation drängen. Bedeutungsvolles Verständnis wird nicht bloß retrospektiv angestoßen durch die Auseinandersetzung mit historischen Dokumenten und mit anderem, »sedimentierten« Sinn, sondern nicht zuletzt durch den aktuellen Vollzug sinnlicher Wahrnehmungen und argumentativer Auseinandersetzungen mit weiteren Teilnehmern innerhalb einer Sprachgemeinschaft, die sich verstehend auf die Welt einlassen und Gründe für ihre Aussagen aufbieten. Die nicht durchführbare, formalistische Idee einer Anwendung eines bereits bestehenden und etablierten Sprachsystems »auf« die Welt macht Platz für die Idee einer Sprache, die durch ihre Verwendung innerhalb einer Welt überhaupt erst beginnt, sich auszuformen und zu bewähren. »Sprachlicher Gehalt konstituiert sich primär in genau denjenigen Praktiken, in denen sprachliche Ausdrücke auf die Welt angewendet werden. So ist der Gehalt sprachlicher Ausdrücke immer damit verbunden, dass Sprecherinnen und Sprecher sich mit der Welt und miteinander auseinandersetzen.«25 Durch Wahrnehmungen gelenkt und durch soziale Praxis eingespielt, von Erwartungen und Intentionen durchdrungen bewährt sich oder »scheitert« Sprache an der Empirie und innerhalb der auf Kooperation zielenden Kommunikation, anstatt bei ihrer Ausbildung keine Kenntnis von beidem zu nehmen. Starre Strukturen weichen einer Dynamik, die nur vorläufig zu einem Stillstand gelangt, um erneut und jederzeit in Bewegung versetzt werden zu können und ihre Bedeutungen in diese Bewegung mit hineinzuziehen. »Eben weil die Sprache gelebte Sprache ist, ist sie nicht nur strukturiert, sondern strukturierend, nicht nur geregelt, sondern regelnd, nicht fertig, sondern offen, erfinderisch […].«26 Mit dem Gedanken »dass man zwischen der Anwendung und der Konstitution sprachlicher Ausdrücke nicht trennen kann, ist ein dynamisches Verständnis sprachlicher Praxis und der darin konstituierten sprachlichen Strukturen verbunden […]. Sprachliche Praxis muss vielmehr so verstanden werden, dass sie in einem kontinuierlichen Anpassen der sprachlichen Strukturen nicht nur an die Welt, sondern vor allem an 24 Bertram, Georg W. et al.: In der Welt der Sprache, a.a.O., S. 176. 25 Bertram, Georg W. et al.: In der Welt der Sprache, a.a.O, ebd., S. 175. 26 Waldenfels, Bernhard: Der Spielraum des Verhaltens, a.a.O., S. 160.
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die Überzeugungen von Sprecherinnen und Sprechern besteht. Jede Anwendung eines sprachlichen Ausdrucks und damit eines Begriffs trägt das Potenzial einer Verschiebung eines Gehalts in sich. Die Stabilität sprachlicher Strukturen ist nicht das Fundament, sondern immer nur ein vorübergehender Stillstand eines seinem Wesen nach dynamischen Gefüges.«27 Was »Sinn« letztlich in einer solchen Perspektive überhaupt sein kann, dem soll als nächstes weiter Kontur verliehen werden – auch wenn wenig Hoffnung besteht, abschließend (wie bei einem jeden philosophischen Grundbegriff) zu klären, was Bedeutung tatsächlich ist. »Denn keine der gängigen Bedeutungstheorien, ob Hermeneutik, Pragmatik, Strukturalismus oder Dekonstruktion, erschließen das Mysterium des Sinns erschöpfend.«28
3.3
Bedeutung und Idealisierung
Auch wenn sprachliche Systeme sich als dynamisch herausgestellt haben und Bedeutungen als in (potenzieller) Umbildung begriffen, sollten wir nicht hinter die Einsichten des linguistic turns zurückfallen und sprachliche Gehalte nunmehr als rein intentionalistische Produkte einzelner Sprecher ansehen – als »Ideen« im Sinne des repräsentationalen Mentalismus. Weder verfügt ein einzelner Sprecher einer Sprache über jeweils »seine« Bedeutungen, noch unterliegen sprachliche Gehalte derart einem ständigen und damit dynamischen Wechsel, dass sie zu keinerlei Fest-Stellungen taugen – denn das genaue Gegenteil ist ja der Fall. Die intersubjektive Geltung, die wir mit einer Aussage oder Feststellung erheben, ist als Konstatierung so »fix«, wie man es sich nur wünschen kann und erhebt immer auch den Anspruch, etwas über bestehende Verhältnisse in der Welt derart auszusagen,29 dass ein Dritter sein Verhalten daran ausrichten kann respektive könnte, da 27 Bertram et al.: In der Welt der Sprache a.a.O., S. 176. 28 Mersch, Dieter: Wort, Bild, Ton, Zahl – Modalitäten medialen Darstellens, in: ders. (Hg.): Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens, München 2003. 29 Auch wenn von Autoren wie Habermas als Verengung kritisiert, wollen wir hier von allen möglichen »Sprechakten« ausschließlich die »konstatierenden« in Erwägung ziehen, da diese auch im Fokus der so genannten »Wahrheitssemantiken« im Anschluss an Frege standen und deren Denken uns mit Donald Davidson noch genauer beschäftigen wird. Die »apophantische« Rede als sacherfassender, mitteilender und aufdeckender »Logos« genießt ja schon seit Aristoteles aufgrund seines offenkundigen »Wahrheitsbezuges« das besondere Augenmerk der Philosophen. Zudem dienen die folgenden Abschnitte ja gerade dazu, den Gedanken an einen vermeintlich direkten, »vertikalen« sprachlichen »Bezug« auf mögliche »Referenzgegenstände« in der Welt dahingehend zu korrigieren, dass jener nur über die intersubjektiv-»horizontale« Koordination mit Sprach- und Diskursteilnehmern zu erreichen und schon immer mit diesem verwickelt ist. Von den Habermaschen vier Geltungsdimensionen der Sprache werde ich also nur diejenige der »Wahrheit« genauer beleuchten (soweit eine Isolierung möglich ist), da mir des
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er sich auf den nicht wechselnden Gehalt der Aussage unter dem Gesichtspunkt ihrer Wahrheit verlassen kann. Mit ihr geht die berechtigte Erwartung einher, »dass der Anspruch, den er [der Sprecher, R.Z.] erhebt, gegenüber künftigen Erfahrungen und Argumenten standhalten wird und dass der Sprecher »will not be proved wrong«.30 Wären Geltungsansprüche, die wir in der alltäglichen, wissenschaftlichen oder diskursiven Kommunikation für den Gehalt unserer Aussagen (über die Welt) erheben in dem Maße temporär, dass sie nicht zur höherstufigen Integration und zu weiterführenden Handlungsabsichten herhalten könnten, wäre der Grund ihrer Mitteilung höchst fragwürdig – denn würden sie ihre Funktion als »stabile« Gründe für ein auf ihnen aufbauendes Handeln einbüßen, müsste der akribische Aufwand, den wir betreiben, um der Formulierung auch nur einer einzigen, wahren Aussage nachzukommen (oder auch nur nahezukommen), höchst irrational erscheinen. Ein sehr verständlicher Grund für unser kommunikatives Handeln ist dagegen genau der mit ihnen einhergehende Anspruch darauf, dass es sich auch wirklich (unabhängig von der Meinung des Sprechers und ohne die Absicht, täuschen zu wollen) so verhält, wie es die Aussage nun einmal festhält. Oder anders gesagt: die konstatierende, Beschaffenheiten der Welt betreffende Aussage, von der ich mich subjektiv überzeugen kann oder überzeugt bin, erhebt zugleich den Anspruch, objektiv wahr zu sein und dennoch (durch Argumente) revidierbar zu bleiben, wenn sie nicht nur die (eventuell am Ende irrationale) Meinung des Autors widerspiegeln soll. Alleine schon aus diesem Grund scheiden rein privative und selbstbeglaubigende Episoden für den Status sprachlicher Bedeutungen aus, welche vermeintlich durch den privilegierten und nicht‐falliblen Zugang (im Sinne Descartesʼ) der ersten Person zu den eigenen Gedanken gewonnen werden können. »Kurz, die Grundlagen der Erkenntnis müssen subjektiv und zugleich objektiv sein: gewiss und dennoch bezweifelbar.«31 Eine solche stets diskursiv eingebettete und von (besseren) Argumenten in ihrem Wahrheitsanspruch jederzeit erreichbare, angreifbare oder stützende Aussage transportiert daher sehr wohl einen »stabilen« Gehalt. Doch wie können Begriffe dann andererseits in jene Dynamik hineingezogen werden, die wir Weiteren vor allem an dem korrektiven Potenzial eines als wahr ausgesagten Sachverhalts und dessen »idealisierter« Bedeutung gelegen ist. Für eine Übersicht der restlichen Geltungsdimensionen vgl. vor allem Habermas, Jürgen: Was heißt Universalpragmatik, in: Sprachpragmatik und Philosophie, hg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt a.M. 1982, S. 174ff. sowie Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2001, S. 80ff. 30 Michael Dummet, zit.n. Wellmer, Albrecht: Was ist eine pragmatische Bedeutungstheorie, in: Wie Wörter Sinn machen, a.a.O., S. 33. 31 Davidson, Donald: Empirischer Gehalt, in: ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, Frankfurt a.M. 2004, S. 285.
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ihnen attestiert haben, wenn sie durch ihre Bewährung in und an der Welt oder aufgrund ihrer logischen Inkonsistenz zwar wahr oder falsch sein können, sich aber auf den ersten Blick dadurch an dem Umfang ihrer Bedeutung nichts ändert? Wir fragen also »nach dem Movens, das die gesprochene Sprache ständig über sich hinaustreibt, Neustrukturierungen provoziert und so die Sprachstrukturen offenhält.«32 Eine erste Antwort lautet: durch eben jenen mitlaufenden »Wahrheitsbezug«, der sie »objektiv« wahr sein lässt, sind sie auch andererseits prinzipiell in ihrem Bedeutungsumfang veränderbar. Das bedarf freilich einer weiterführenden Erläuterung und Ausdifferenzierung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung,33 auch wenn diese Unterscheidung bei Jürgen Habermas nicht immer explizit in den Dienst einer rein semantischen Analyse gestellt wird. Nun dienten die bisherigen Erläuterungen nicht zuletzt der Erinnerung daran, welche sprachphilosophischen Positionen aufgrund welcher Einwände keine weitere Verfolgung gestatten und darunter befanden sich die beiden Annahmen, sprachliche Bedeutung sei gewissermaßen der sprachgewordene Tatbestand der Welt selbst, »der Logos der Welt selbst wäre [es], der in der Sprache des Menschen sich ausspricht und nur ein anderes Organ verschafft hat als das der Natur«34 (im Sinne eines einfach gehaltenen Repräsentationsmodells der Erkenntnis), als auch die gegenteilige Position, Sprache generiere im Alleingang autonome, durch rein syntaktische Umformungsregeln erzeugte Inhalte. Als Korrektive zu diesen Verkürzungen hatte sich sowohl der Blick auf die sprachlichen Praktiken von weltlich handelnden, Ziele verfolgenden Akteuren angeboten als auch deren Wahrnehmungen35 , sodass wir uns einem 32 Waldenfels, Bernhard: Der Spielraum des Verhaltens, a.a.O., S. 157. 33 So auch der einschlägige Titel eines Aufsatzbandes jüngeren Datums von Jürgen Habermas, dem die meisten der folgenden Überlegungen verpflichtet sind. Vgl. ders., Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2004. 34 Blumenberg, Hans: Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007, S. 89. Eine ähnliche »Stufenfolge« und reines »Abbildungsverhältnis«, bei der die Dinge bloß mit Zeichen und Symbolen »bekleidet« werden, hat ja bereits Aristoteles vertreten. Vgl., ders., Int., 16a1: »Nun sind die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme ein Symbol für das, was (beim Sprechen) unserer Seele widerfährt, und das, was wir schriftlich äußern, (ist wiederum ein Symbol) für die (sprachlichen) Äußerungen.« 35 Vgl. Habermas, Jürgen: Von Kant zu Hegel. Zu Robert Brandoms Sprachpragmatik, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 158: »Einerseits sind Wahrnehmungen und Handlungen durch die grammatische Form von Urteilen und Absichten propositional, also sprachlich strukturiert. Andererseits markieren sie den Eingang und den Ausgang der diskursiven Praktiken, wo sich, auch aus der Binnensicht der Kommunikationsteilnehmer, die Sprache mit der Welt berührt und verschränkt. Insofern gelten auch nach der linguistischen Wende Sinnesaffektion und Handlungserfolg als die beiden Medien, über die sich ›uns‹ die Beschränkungen einer als unabhängig und identisch unterstellten objektiven Welt auferlegen.«
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»aktivischen Verständnis von Bezeichnungsvorgängen [anschließen können, R.Z.]: Das Bezeichnen interveniert in die Welt, die es scheinbar nur widerspiegelt, und lässt sie in einem kreativen Aneignungsprozess in gewisser Weise überhaupt erst entstehen […]. Man könnte mit Blick darauf von epistemischer Rückkopplung sprechen […].«36 Dazu bedürfen wir aber eines erweiterten Verständnisses von Wahrheit, weil nur eine Konzeption von Wahrheit mit den bisher erarbeiteten Punkten übereinkommt und für eine semantische Theorie fruchtbar ist, die nicht in idealer Rechtfertigung aufgeht, wie es Jürgen Habermas selbst lange Zeit vertreten hat und »die durch das Scheitern seiner früheren Versuche entstanden ist, Wahrheit als den Inhalt eines rationalen Konsenses unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation zu definieren.«37 Wenn wir uns die Geltungsdimension einer objektiv verwendeten Sprache und ihrer »Idealisierungsleistung« genauer ansehen, wird ersichtlich werden, was die Unterstellung einer unseren Aussagen zugrundeliegenden, von unserem erkennenden Zugriff unabhängigen Welt für die semantischen Gehalte unserer Sprache für Auswirkungen hat und wie es einer hinter solch sprachlichen »Überformungen« zurücktretenden Welt noch immer möglich sein soll, trotz allem korrigierend in unsere Sprachspiele einzugreifen. Dazu müssen wir in groben Zügen als erstes dem Gedanken an eine »detranszendentalisierte« Vernunft Kontur verschaffen. Was sich hinter dieser etwas sperrigen Wortschöpfung verbirgt, ist in aller Kürze die Absage an eine subjektivistisch verfahrende Philosophie, welche glaubt, die Maßstäbe des eigenen Denkens (alleine) aus einem autonomen Subjekt schöpfen zu können und weniger die Absage an das generelle Potenzial der Vernunft, sich auch weiterhin selbst bestimmen zu können. Es ist die Absage an notwendige Bedingungen, wie sie Kant unserem Denken aufgezeigt und auferlegt hat, solange diese als »transzendentale«, sämtliche Erfahrung (vor-)strukturierende Verstandeskategorien nirgendwo realiter situiert sind. Denn ihren »Ort« haben sie ja als Bedingungen der Erkenntnis nicht in den historisch‐empirischen Subjekten als solchen, sondern quasi in den Strukturmerkmalen der Vernunft im Allgemeinen – unabhängig davon, ob diese nun ihre Arbeit in diesem oder jenem konkreten Subjekt aufnimmt. Gegen eine solche »Immunisierung« einer in ihren Grundfesten gleichbleibenden (ahistorischen) Vernunft haben wir bereits durch die (historisch verfahrende) Hermeneutik Bedenken angemeldet, während die (hier nicht weiter verfolgte) Traditionslinie der Dekonstruktion ihrerseits nicht müde wird, darauf hinzuweisen, warum allen Konstruktionen a priori der Boden entzogen gehört, 36 Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M. 2012, S. 22. 37 Wellmer, Albrecht: Die Wahrheit über die Wahrheit?, in: ders., Wie Worte Sinn machen, Frankfurt a.M. 2007, S. 209.
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indem sie diese als bloß kontingente (und damit wandelbare) zu demaskieren versucht. Auch bei einem nachmetaphysichen Denken können wir nach Habermas an Bedingungen der Möglichkeit (für unsere Welterkenntnis) festhalten, nur dürfen wir diese nicht in unserer unwandelbaren, biologisch‐metaphysischen »Natur« lokalisieren, sondern müssen sie als lediglich »de facto unhintergehbar[e] Bedingungen […]«38 ansehen, die ihren Ort in einer (wandelbaren) sprachlichen Praxis haben und in welche unser (jeweils individuelles) Denken eingebettet bleibt. Eine solche »Situierung der Vernunft« oder »Transformation der ›reinen‹ in eine ›situierte‹ Vernunft«39 ist für Habermas im Zuge des philosophischen Diskursʼ der Moderne ein unabdingbarer Schritt, da unveränderliche (ahistorisch notwendige) Aprioris und ihre rein begriffliche Herleitung sich ideengeschichtlich überlebt haben. Eine solche Situierung der Vernunft sieht sich aber vor die Frage gestellt, ob diese in der Folge nicht zu einem Spielball historisch‐empirischer Ereignisse wird, also zu einer bloßen Größe im Kräftefeld historisch‐veränderlicher Koordinaten. Die Frage ist, ob »das endliche Subjekt […] sich ›in der Welt‹ vorfinde[t], ohne seine ›welterzeugende‹ Spontaneität ganz zu verlieren […]. Ob sich die Spuren einer transzendierenden Vernunft im Sand der Historisierung und Kontextualisierung verlieren, oder ob sich eine in historischen Kontexten verkörperte Vernunft die Kraft zu einer Transzendenz von innen bewahrt«?40 Für eine Vernunft, die aus einer rein intelligiblen Sphäre überzeitlicher Wesenheiten (oder Kantischer »Regulative«) vertrieben wurde und sich fortan in der Praxis alltäglicher Kommunikation verkörpert sieht, zieht dies nach Habermas die entscheidende Frage nach sich, ob »die Vernunft an das ›welterschließende Geschehen der Sprache ausgeliefert [ist], oder [ob] sie zugleich eine ›weltbewegende‹ Kraft [bleibt]«.41 Die Antwort auf diese Frage vorwegnehmend dürfen wir die (allgemein bekannte) Antwort wagen: ja, sie bleibt nach Habermas diese Kraft. Gelingen kann 38 Habermas, Jürgen: Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, a.a.O., S. 12. Vgl. auch Hogh, Philip und Deines, Stefan (Hg.): Sprache und kritische Theorie, Frankfurt a.M. 2016, S. 15: »Es ist (wie bereits erwähnt) Habermasʼ erklärtes Programm, die für die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse maßgeblichen Werte und Normen nicht (mehr) in marxistischer Tradition in Bezug auf Konzeptionen von Arbeit und Produktion zu bestimmen, sondern aus einer Rekontruktion der quasitranszendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Sprache und Verständigung zu gewinnen. Sprecher haben sich als Teilnehmerinnen an intersubjektiver Kommunikation (in der Übernahme der Geltungsansprüche der Wahrheit, Richtigkeit und der Wahrhaftigkeit) immer schon implizit auf Normen festgelegt, deren Geltung die faktische Gesprächssituation und realen sozialen Kontext transzendiert […].« 39 Vgl. Habermas, Jürgen: Kommunikatives Handeln und dezentralisierte Vernunft, a.a.O., S. 8. 40 Ebd. S. 9. 41 Ebd. S. 9.
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ihr dies allerdings nur, indem sie sich durch ihre eigenen Idealisierungen rational zu einer Veränderung ihrer Weltauslegung motivieren und dadurch eben von »innen heraus« ihre Denkwege in den Grundzügen vorgeben lässt, weil sie es auf diesem Weg mit Gründen zu tun bekommt, die sie durch intellektuellen Nachvollzug ihrer (argumentativen) Verbindlichkeit für sich selbst gültig sein lassen kann und aufgrund von möglicher, rationaler Akzeptanz darüber hinaus (und eventuell wider besseren Gewissens) verbindlich werden lassen muss – im Gegensatz zu rein empirischen Ursachen, die quasi immer erst noch des Zuspruchs der Vernunft bedürfen, um für uns als (autonome) Akteure final handlungsleitend zu werden. Denn nur Vernunft bestimmt in diesem Bild Vernunft und nicht bereits eine empirische, uns lediglich sinnlich »affizierende« Ursache. Dies gelingt der Vernunft allerdings nicht im Alleingang, sondern nur in Kooperation mit anderen Diskursteilnehmern innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft. Hier kehrt sie ihrer rein idealen Sphäre endgültig den Rücken und findet sich fortan zwischen dem Idealen und dem Realen lokalisiert, inmitten der ›idealisierenden‹ Voraussetzungen kommunikativen Handelns und bleibt dort künftig den Auswirkungen einer sprachlichen Praxis und Lebenswelt ausgesetzt, die bis an die Fundamente ihrer Beweggründe heranreichen.42 »An die Stelle der transzendentalen Subjektivität des Bewusstseins tritt die detranszendentalisierte Intersubjektivität der Lebenswelt.«43 Die dort sprachlich aufgespeicherten Idealisierungen sind dabei aber nichts, was en passant und als Nebenprodukt einer gelingenden Kommunikation unverbindlich als Wahlmöglichkeit in den Bestand unserer Sprache(n) mit einginge oder diesen rein strukturell ermöglichte. »Nach der pragmatistischen Deflation der Kantischen Begrifflichkeit bedeutet transzendentale Analyse‹ die Suche nach den präsumtiv allgemeinen, aber nur de facto unvermeidlichen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit bestimmte grundlegende Praktiken oder Leistungen zustande kommen können.«44 Ihren quasi‐apriorischen Charakter erhalten diese Voraussetzungen also dadurch, dass sie im gegenwärtigen Sprachgeschehen, d.h. in der jeweils vorherrschenden historisch‐eingespielten Situation unhintergehbar von sprachfähigen Subjekten im kommunikativen Handel gegenseitig unterstellt werden müssen, wenn eine solche Verständigung über Ziele und herbeizuführende Gegebenheiten in der Welt überhaupt stattfinden können soll und so zusagen »vom Fleck« kommen möchte. »Die Nötigung eines solchen ›Müssens‹ ist eher im Sinne von Wittgenstein als von Kant zu verstehen – nicht im transzendentalen Sinne von allgemeinen, notwendigen und ursprungslos‐intelligiblen Bedingungen möglicher Erfahrung, sondern 42 Vgl. ebd., S. 10. Vgl. auch ebd., S. 22. 43 Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 40. 44 Ebd., S. 19.
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im grammatischen Sinne einer ›Unvermeidlichkeit‹, die sich aus internen begrifflichen Zusammenhängen eines eingeübten, allerdings ›für uns nicht hintergehbaren‹ Systems regelgeleiteten Verhaltens ergibt.«45 Doch was bedeutet das für den Inhalt dieser Art von Idealisierung und damit für den Gehalt von sprachlicher Bedeutung? In einem Wort: es ist die von der Vernunft im sprachlichen Handeln gesetzte Unbedingtheit von Geltungsansprüchen, die eine Idealisierung wesentlich auszeichnet und welche nicht ex post, sondern quasi‐apriorisch von sprachfähigen Subjekten vorausgesetzt werden muss, wenn wir die Objektivität unserer eigenen Aussagen über die Welt gewährleisten wollen.46 Unbedingtheit soll hier nicht Zeitlosigkeit oder die Abwesenheit jeglicher Beeinflussung meinen, sondern die Unabhängigkeit von einem jeweils persönlichen, rationalen Dafürhalten oder Wollens in Bezug auf einen konstatierten Sachverhalt, welcher so (ausgedrückt als propositionale Aussage) als orientierender Schnittpunkt, als »unterstellte[r] Konvergenzpunkt«47 für unsere Bezugnahmen den Status von Objektivität in der wechselseitigen Kommunikation erlangt. Es ist die »gemeinsame Unterstellung einer Welt unabhängig existierender Gegenstände [und, R.Z.] die reziproke Unterstellung von Rationalität oder ›Zurechnungsfähigkeit«, die solche »Idealisierungen« motiviert und auszeichnet.48 Denn diese sich gleich bleibenden »Gegenstände« und ihre rationale Verfassung, auf die sich die propositionale Aussage und damit sprachliche Bedeutung »bezieht«, sind keine Dinge oder persönliche Ideen, sondern sie sind (Kantisch gesprochen) formale Regulative eines verständigungsorientierten Handelns, das sich in einer sprachlich vorausgedeuteten Welt bewegt, die dessen Akteure (berechtigterweise) mit anderen zu teilen meinen, wenn sie in eine mögliche Kommunikation mit ihnen eintreten. Über diesen formalen »Vorgriff« auf unabhängig existierende Gegenstände »in« der Welt verschränkt sich auch die Kommunikations- mit der Praxisdimension unseres Erkennens für Habermas.49 Denn nur durch das Postulat von allen Kommunikationsteilnehmern gleichermaßen zugänglichen, identischen und damit objektiven »Gegenständen«50 innerhalb einer geteilten Welt erhal45 Ebd., S. 12. Vgl. auch Habermas, Jürgen: Was heißt Universalpragmatik, a.a.O., S. 202ff. 46 Ich möchte mich hier zugunsten der Darstellung auf die Dimension der »Wahrheit« innerhalb des kommunikativen Handelns beschränken und die anderen Dimensionen wie etwa »moralische Richtigkeit« oder »Aufrichtigkeit« nicht eigens thematisieren, da es uns hier vor allem um ein Wahrheitsverständnis zu tun ist, das der herausgestellten semantischen Forderung nach Dynamizität verschiedenster Bedeutungen genügen soll. 47 Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 73. 48 Ebd., S. 12. 49 Vgl. Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 24. 50 Ein Gedanke, für den bereits (Davidson zufolge) Quine sich stark gemacht hatte, allerdings in Hinblick auf die (ungeklärte) Überführung von »Reizmustern« in semantisch gehaltvolle »Überzeugungen«. Vgl. Davidson, Donald: Bedeutung, Wahrheit und Belege, in: ders., Der Mythos des
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ten die Komplemente unseres sprachlichen »Bezugssystem« (die »Gegenstände« in einem unkritisch‐realistischen Alltagverständnis) ihre unabhängige Geltung und ermöglichen ein koordiniertes Handeln auf ein Ziel hin, das uns als Scheitelpunkt unserer verschiedenen Perspektiven und Handlungsintentionen dienen kann. Und die mögliche Erfüllung unserer Handlungen und Absichten geht aus einer solch formalpragmatischen Perspektive eben nicht von Gegenständen im üblichen (innerweltlichen) Sinne aus (und das ist für uns der entscheidende Punkt), sondern die sich gleich bleibenden Gegenstände der sprachlichen »Bezugnahme« sind mehr Korrektive für eine wechselnde, gegenständliche Bedeutung als selbst gegenständlich im Sinne von »dinglich«. Das klingt nun in dieser gedrängten Form ein wenig gekünstelt, nicht allzu verständlich und vielleicht auch ein wenig herbeizitiert, weswegen ich diesen Punkt etwas genauer beleuchten möchte und wozu wir die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung erneut aufgreifen müssen.
3.4
Geltung und Gegenstand
Die Unterscheidung zwischen »Wahrheit« und »Rechtfertigung« wird von Habermas erst in jüngerer Zeit getroffen und ist der Einsicht geschuldet, dass ein philosophisch überzeugendes Konzept von Wahrheit nicht mit einem (noch so starken) Verständnis von Wahrheit als argumentativ gerechtfertigtem (idealen) Konsens identifiziert werden kann – was letzten Endes »einen nicht epistemischen Wahrheitsbegriff [erfordert].«51 Zumindest dann, wenn wir an unserer realistischen Grundintuition festhalten wollen, dass eine von uns unabhängige (und vor unserem Erkennen bereits existente) Welt das letzte Wort behält,52 wenn es darum geht, das Etwas unserer Bezugnahmen dahingehend zu bestimmen, dass es nicht bloß unserem Wunschdenken oder unseren Verstandeskategorien korrespondiert, sondern stets noch das Potenzial zurückbehält, korrigierend auf unsere Vorannahmen zurückzuwirken und sie gegebenenfalls zu unterlaufen und sie damit objektiv sein zu lassen. Mit diesem Ebenen-Unterschied hält auch eine Differenz zwischen Welt und »Innerweltlichem« in Habermasʼ Überlegungen Einzug (oder zwischen Subjektiven. Philosophische Essays, Stuttgart 1993, S. 53: »Vielleicht ist es in etwa dieser Gedankengang, der Quine dazu angeregt hat, die gewöhnlichen physischen Gegenstände ›Setzungen‹ zu nennen und ihre Existenz als ›Hypothese‹ zu bezeichnen.« Vgl. ebenfalls hierzu Hilary Putnams Überlegungen zu einem »internen Realismus«, bevor er diese Position später zugunsten eines »direkteren« Realismus wieder (teilweise) verworfen hat. Putnam, Hilary: Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt 1990, S. 77f. 51 Habermas: Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 18. 52 Vgl. Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a.M. 2004, S. 18: »Die ontologische Annahme eines genetischen Primats der Natur nötigt auch zu der erkenntnistheoretischen Annahme einer vom Geist unabhängigen, objektiven Welt.«
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Sein und Seiendem in Heideggerscher Terminologie), die wichtige Implikationen für das Sein von semantischer Bedeutung bereithält, selbst aber einer Klärung bedarf. Der von Philosophen gerne (solange er die eigenen Grundannahmen stützt) angeführte common sense (und damit die Standardvariante eines philosophischen Realismusʼ, der auch in der alltäglichen Kommunikation stillschweigend vorausgesetzt wird) besagt, dass wir es in der Welt mit von unserem Denken unabhängigen Gegenständen oder Dingen zu tun haben, die den Endpunkt oder die Basis unserer sprachlichen Bezugnahmen bilden und deren Beschaffenheit auch dafür verantwortlich ist, dass sich diese oder jene »Referenz« als wahr oder falsch erweist. Sprechen wir über die Eigenschaften von Tischen, so sind es eben Tische, die darüber entscheiden, was über sie gesagt, gedacht und kommuniziert wird. Möchte man an dieser Denkunabhängigkeit von Dingen festhalten, trotz allem aber nicht einem Mythos des Gegebenen verfallen und an der Prämisse sowohl der analytischen als auch hermeneutischen Philosophie festhalten, dass die Welt uns nur über/anhand/via/durch sprachliche Vorausdeutung zugänglich wird und nicht ihre eigene Interpretation verbürgt, so drängt sich das erkenntnistheoretische Problem auf, »wie die Annahme einer von unseren Beschreibungen unabhängigen, für alle Beobachter identischen Welt mit der sprachphilosophischen Einsicht zu vereinbaren ist, dass uns ein direkter, sprachlich unvermittelter Zugriff auf die ›nackte‹ Realität versagt ist.«53 Denn wenn »alles, was in der Welt begegnet, [von den] Angehörigen einer lokalen Sprachgemeinschaft im Lichte eines eingewöhnten ›grammatischen‹ Vorverständnisses [und, R.Z.] nicht als neutrale Gegenstände [erfahren wird]«54 , dann ergibt sich fast von selbst die Frage, inwiefern der originäre Bezugs-Gegenstand etwas anderes als das Kantische Ding an sich sein kann, das hinter einem Schleier der Sprache verbleibt. Denn »von dieser ›Sache an sich selbst‹ gibt es keinen Begriff, sie ist in der Redeweise Kants ein ›Noumenon im negativen Verstande‹, ein ausgesparter Leerraum, für den keinerlei Bestimmtheit erreicht werden zu können scheint.«55 Wenn aber »sprach- und handlungsfähige Subjekte sich nur aus dem Horizont ihrer jeweiligen Lebenswelt heraus auf Innerweltliches richten [können]«56 , dann werden die Gegenstände des realistisch‐orientierten common sense in der formalpragmatischen Perspektive theoretisch überführt in »Innerweltli53 Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a.M. 2004, S. 8. Vgl. auch Wellmer, Albrecht: Die Wahrheit über die Wahrheit?, in: ders., Wie Worte Sinn machen, Frankfurt a.M. 2007, S. 208: »Wie lässt sich die Idee einer kontexttranszendierenden Wahrheit mit der faktischen ›Kontextualität‹ einer Pluralität von ›Weltbildern‹, ›Sprachspielen‹, ›Sinnaprioris‹, ›Lebensformen‹, oder ›Kulturen‹ in Einklang bringen?« 54 Habermas, Jürgen: Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, a.a.O., S. 23. 55 Blumenberg, Hans: Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007, S. 43. 56 Habermas, Jürgen: Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, a.a.O., S. 23.
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ches«, das keineswegs uninterpretiert in unseren Gesichtskreis tritt, sondern immer schon intersubjektiv und sprachlich ausgehandelt unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Doch was wird dann aus unserer Grundüberzeugung, dass das, was das Innerweltliche in Wahrheit ist, d.h. dass es in letzter Instanz eine Verfassung hat, die unabhängig von seiner Erschlossenheit für uns ist; was wird aus dem (unerschütterlichen) Glauben daran, dass die (sprachliche) Perspektivierung, unter der es uns momentan zugänglich ist, nur eine von vielen ist? Diese Intuition einer kontextübergreifenden Unbedingtheit und Identitätsbewahrung unter wechselnden Beschreibungen wandert nach einer Detranszendentalisierung in Habermasʼ Augen so zusagen in den Hintergrund unserer sprachlichen Praktiken ab und verschafft sich fortan als die angesprochene Idealisierung eines jeden deskriptiv aussagbaren, propositionalen Gehalts Geltung, der sich dadurch gleich bleibt und für Identität sorgt und von der Perspektivierung, der »Art des Gegebenseins«57 , wie Frege sagen würde, daher nicht mitbetroffen ist. Denn die einzig mögliche Transzendierung unserer sprachlich eingekapselten epistemischen Situation, die quasi zwangsweise bei Innerweltlichem stehen bleibt, besteht letzten Endes darin, jene Unterstellung oder Setzung einer allen gemeinsamen, objektiven Welt im sprachlichen Vollzug für jeden weiteren, sprachlichen Vollzug vorzunehmen. Diese Voraussetzung hält die fortgeführte, sprachliche Praxis insofern am Laufen und damit für weitere Bestimmungen »offen«, als dass mit deskriptiven Beschreibungen der Anspruch einhergeht, für jedes sprachfähige Wesen dieselbe Geltung zu besitzen, was jeden Kommunikationsteilnehmer dazu einlädt, sich genau an dieser Geltung argumentativ abzuarbeiten. Objektive Bedeutungen sind aus dieser Sicht integrative, bündelnde Konvergenzpunkte, deren hauptsächliche Funktion darin besteht, dass wir nicht aneinander vorbeireden – was ja mehr die Regel in der alltäglichen Kommunikation sein dürfte als die Ausnahme. Denn es ist ja im Regelfall nicht ersichtlich, vor welchem Hintergrund von Überzeugungen eine Aussage getätigt wird und oftmals gibt sich eine Inkongruenz der Perspektiven erst dann zu erkennen, wenn man aufgrund unzähliger Übereinstimmungen einzelner Aussagen schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte. Doch durch ihren intersubjektiven Status und ihren »Ort« innerhalb einer geteilten Lebenswelt kann eine jede Aussage immer auch zum argumentativen Ausgangspunkt werden, an dem sich nun weitere Argumente entzünden. Deren Implikationen folgend werden die Gesprächsteilnehmer bemüht sein, ihre eigenen Ansichten insofern zu de‐zentrieren, als dass sie sich ähnlich verorten können wie ihre Gesprächsteilnehmer – bis sie also deren Perspektive teilen können. »Der Mensch versetzt sich selbst auf den Standpunkt einer Situation, an 57 Vgl. Frege, Gottlob: Über Sinn und Bedeutung. In: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung, hg. v. Günther Patzig, Göttingen 1986, S. 40-66; insb. S. 44f.
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der zwei Parteien teilhaben. Dies ist die wesentliche Eigentümlichkeit von Sprache oder Zeichen«, wie schon John Dewey in Erfahrung und Natur bemerkte.58 Die Kehrseite einer solchen Universalisierung von Aussagegehalten und einer Geltung, die trotz ihrer Objektivität sich immer erst im Handeln aufs Neue bewähren muss, besteht in ihrer dadurch herausbeschworenen, grundsätzlichen Fallibilität; also ihrer prinzipiellen »Störanfälligkeit« und ihrer praktischen Untauglichkeit für beabsichtigte Eingriffe in die Welt, die sich unter Umständen als (zu) widerspenstig erweist, um unversehens weiterhin mit dem (sprachlich) eingespielten Wissen und den ursprünglich veranschlagten Überzeugungen traktiert zu werden. Doch die nicht mitspielende Welt gibt nur den (vorerst nicht weiter semantisch spezifizierten) Anstoß zu einer Neuformierung der sprachlich formulierbaren und argumentativ auszuhandelnden Gründe – die erforderliche und revidierte Festlegung erfolgt dagegen nicht außersprachlich und im »direkten Kontakt« mit der Realität, sondern innerhalb der (sprachlichen) Grenzen eines rational aufgebauten (oder zumindest normativ als rational rekonstruierbaren) Diskurses. Und da niemand unter der Prämisse des Bedeutungsholismusʼ und der gegenseitigen Verweisungen unserer Bedeutungen vorher mit Sicherheit angeben kann, wo genau semantische Revisionen in der Folge eines wiederherzustellenden (Welt-)Verständnisses nötig werden (denn »revision can strike anywhere«, wie Quine bemerkte59 ), bleibt es eine Aufgabe unserer allgemeinen Vernunft einzelnen Bedeutungen ihren (neuen) Platz im Gesamtgefüge der Sprache zukommen zuzuweisen. Unsere praktische Klugheit und sprachliche Fähigkeit wird auch in diesem Fall gefragt sein, wenn es darum geht, die richtigen »trade‐offs«60 zwischen konkurrierenden Alternativen zu treffen, um uns eine Neueinschätzung der Lage zu ermöglichen. In dem Maße, in dem Propositionen von besseren Argumenten zur Untermauerung ihrer eigenen Gültigkeit zehren, in dem Maße sind sie auch durch bessere Argumente widerlegbar und können als entkräftete sich jederzeit als untauglich für ein fortgesetztes, innerweltliches Handeln erweisen – nicht umsonst spricht die Umgangssprache ja davon, dass ein Argument »stark« oder »schwach« ist und dadurch ein gewisses »Gewicht« hat. Die Wirklichkeit aussagbarer Sachverhalte, das Sein semantischer Bedeutungen ist für Habermas in seinen neueren Aufsätzen also (etwas gedrängt formuliert) ein sich argumentativ ergebender, intersubjektiv und rational austarierter, koordinierter und durchweg pragmatischer »Weltbezug«, in den erste (manipulative) Fehlschläge korrigierend mit eingegangen sind, indem sich das semantisch‐holistische Netz unserer Sprache entsprechend re‐organisiert hat bzw. durch uns in einem nicht‐intentionalistischen Sinne reorganisiert wurde. Und dieser hält sich 58 Vgl. Dewey, John: Erfahrung und Natur, Frankfurt a.M. 1995, S. 177. 59 W.v.O. Quine zit.n.: Putnam, Hilary: Representation and Reality, Cambridge 1988, S. 9. 60 Putnam, Hillary: Representation and Reality, a.a.O., S. 10.
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durch seine Idealisierungen (seine idealisierten »Setzungen«) die Möglichkeit offen, sich prinzipiell auch in Zukunft eines Besseren belehren zu lassen. Denn, um unsere Begriffe weiterhin für die Welt zugänglich zu gestalten, um ihre (im vergangenen Kapitel eingeforderte) »Welthaltigkeit« für uns garantieren zu können, müssen jene gesetzten Geltungen kommunikativ mit einer Art idealisiertem »Platzhalter« versehen werden für das gegenständliche Etwas, von dem wir (unter einer ontologisch realistischen Perspektive) annehmen (müssen), dass es sich im Schnittpunkt unserer unterschiedlichen Perspektiven befindet und von dem die zu erwartenden Wirkungen (auch in Zukunft) ausgehen (werden).61 Dieses Etwas fordert kontinuierlich unser koordiniertes Handeln heraus, wird allerdings vom Alltagsverständnis (vorschnell) mit den innerweltlich bereits sprachlich gedeuteten Gegenständen gleichsetzt, was trotz der in Philosophieseminaren beschworenen Intuition keine adäquate Beschreibung unserer tagtäglichen Sprachpraxis ist. Denn wenn wir uns über etwas unterhalten und vor allem, wenn wir uns über etwas klar werden und verständigen wollen, so reden wir nicht von einen spezifischen, raum‐zeitlich lokalisierten, materiellen Gegenstand, einem vor uns stehenden Tisch, dem wir gewisse Prädikate beilegen, nur weil dieser im Seminarraum zufälligerweise vor uns steht und vermeintlich als das examplarische Beispiel für diese Art der »Bezugnahme« unserer Rede dienen kann. Sondern wir verständigen uns über das entsprechende sprachliche Konzept, den Begriff, den wir uns von etwas machen wollen (und daher sollten) und das heißt eben nichts anderes, als dass wir uns über die entsprechende Bedeutung62 auseinandersetzen, die erst noch mit einem gewissen, lebensweltlich situierten Ding situationsgerecht identifiziert werden muss, was schon bei den meisten Dingen überhaupt nicht so einfach ist, wie gerne behauptet wird. Denn wo oder wie wäre schon »die Beziehung« (lebensweltlich) anzutreffen, über die wir uns die ganze letzte Nacht als »Bezugsgegenstand« ausgetauscht haben? »Das Studium«, über dessen erfolgreiches Bestehen wir uns so viele Gedanken gemacht haben, »der Lebensabschnitt« in dem wir uns gerade befinden und der uns soviele neue Einsichten verschafft oder soviel Mühsal abfordert, »die Wirtschaftskrise«, die in aller Munde ist und die Tagungen dieser Welt 61 Vgl. Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 237: »Die objektive Welt ist nichts Abzubildendes mehr, nur noch der gemeinsame Bezugspunkt eines Verständigunsprozesses zwischen Angehörigen einer Kommunikationsgemeinschaft, die sich miteinander über etwas verständigen.« 62 Vgl. Wittgenstein, Ludwig: PU, §40: »Es ist wichtig, festzustellen, dass das Wort ›Bedeutung‹ sprachwidrig beraucht wird, wenn man damit das Ding bezeichnet, das dem Wort »entspricht«. Dies heißt, die Bedeutung des Namens verwechseln mit dem Träger des Namens. Wenn Herr N.N. stirbt, so sagt man, es sterbe der Träger des Namens, nicht, es sterbe die Bedeutung des Namens. Und es wäre unsinnig, so zu reden, denn hörte der Name auf, Bedeutung zu haben, so hätte es keinen Sinn, zu sagen‹ Herr N.N. ist gestorben.«
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als Gesprächsthema beherrscht? All das sind keine Abstrakta oder »abstrakte Entitäten«63 , keine Universalien einer ansonsten auf Einzeldinge zielenden Sprache und damit Ausnahmefälle unserer Rede, sondern das sind die Gegenstände unserer Rede. Und wenn wir uns tatsächlich über bestimmte, raum‐zeitlich klar lokalisierbare Gegenstände unterhalten, so wollen wir im Grunde nur noch wissen, wo diese stehen oder wie es um diese steht. Bspw., was die neuen Öffnungszeiten unseres Lieblingsrestaurants sind oder in welche Straße dieses jetzt gezogen ist, wo unser Freund Urlaub gemacht hat oder was ihm jetzt schon wieder auf der Arbeit zugestoßen ist usw. D.h., wir fügen unserem Wissens-Bestand von etwas weitere Informationen hinzu, verhandeln (kommunikativ) aber diesen Bestand selbst nicht in grundlegender Weise. Sich genuin »über« etwas zu verständigen, bedeutet jedoch gerade im Unklaren darüber zu sein, was wir unter etwas verstehen wollen, wie es sich »zeigt«, wie und wo es sich raum‐zeitlich realisiert, es sich materialisiert: Was ist das für eine Beziehung, deren Auswirkungen wir nun schon seit so geraumer Zeit »zu Gesicht bekommen« und die uns solches Kopfzerbrechen und schlaflosen Nächte bereitet? Sind die weltweiten Überschwemmungen Anzeichen des globalen Klimawandels und damit »der« Klimawandel? Denn, wenn sie es sind, dann sollten wir schleunigst etwas gegen »ihn« tun. Auch, wenn unser Studium uns derart viele Prüfungen abfordert und ein derat hohes Pensum an Prüfungsstoff bereithält, so sind es doch auch die Seminare, die offene Gesprächskultur, die Unterhaltungen zwischen den Pausen, der Kaffee in der Kantine, die dieses Studium ebenfalls ausmachen, die dieses Studium sind. Wir unterhalten uns über dieses Studium, um uns gegenseitig davon in Kenntnis zu setzten und uns darüber zu verständigen, was dieses Studium noch alles ist bzw. sein könnte, was es bereithält oder gehalten hat.64 »Der Weltbezug einer propositional ausdifferenzierten Sprache, die Darstellungsfunktionen erfüllt, nötigt die sprach- und handlungsfähigen Subjekte zum Entwurf eines gemeinsamen Systems unabhängig existierender Bezugsgegenstän63 Vgl. für eine ausführliche Diskussion und eine abweichende Deutung Künne, Wolfgang: Abstrakte Gegenstände. Semantik und Ontologie, Frankfurt a.M. 2007. 64 Wenn wir kommunizieren, dann ist uns daran gelegen, gerade jene »Verzweigungen« zu beleuchten, die mit etwas zusammenhängen, sozusagen dessen »semantisches Umfeld« zu erschließen. Der einzelne und spezifische »Tisch« im Seminarraum, dieser »Tisch« bietet nicht einen deratigen Gesprächsstoff ; denn außer einfachen Prädikationen, dass er bspw. »so und so hoch ist« oder dass er »dieses oder jenes Aussehen« hat, scheint hier nicht allzu für unsere Erkenntnis dieser Sache »zu holen« zu sein, auch wenn sich die simplen Eigenschaftszuschreibungen natürlich in der Theorie bis ins Unendliche steigern lassen. Anderes steht es da schon anders, wenn wir wiederum nicht über diesen oder jenen, sondern über »den« Tisch (im Allgemeinen) sprechen, also über unser (sprachliches) Konzept oder unseren Begriff von Tischen; denn hier könnte uns vielleicht eine »Seite« entgangen sein, die in einer gewissen Situation Bedeutung erlangt, obwohl auch das eher unwahrscheinlich ist.
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de, über die sie Meinungen bilden und auf die sie intentional einwirken können. Die formalpragmatische Weltunterstellung entwirft Platzhalter für Gegenstände, worauf sprechende und handelnde Subjekte Bezug nehmen können.«65 Und dies immer schon vor jeder »vertikalen« Anwendung auf die Welt »horizontal« im Sinne argumentativ erwirkter Koordination, deren Entscheidungsbasis unser aller Überzeugungs-Hintergrund, unser hermeneutischer Verständnishorizont ist. Allerdings versehen mit einem Index von Allgemeingültigkeit, die kein Akteur im Alleingang bestimmt (respektive bestimmen kann), sondern die sich durch ein fortwährendes, kommunikatives Handeln ergibt und von Subjekten in ihrer Interaktion mit der Welt gewinnbringend aufgerufen werden (kann), da diese Gültigkeit momentan als intersubjektiv verbürgter und rational abgesicherter Standpunkt zu einem gewissen Etwas so zusagen sprachlich‐argumentativ im Umlauf ist. Auf den Wahrheitsanspruch dieses Geltungsanspruches ist vorerst Verlass und seine kommunikative »Weitergabe« wird von uns als unproblematisch eingestuft. In der Kommunikation solcher Wahrheitsgehalte ist die als unabhängig begriffene Welt aus formal‐pragmatischer Sicht von vornherein in die sprachlichen Gehalte mit eingegangen und die oben aufgeworfene Anwendungsfrage eines formalen Holismus der Sprache »auf« die Welt stellt sich in dieser Perspektive erst gar nicht. Sprachlicher Gehalt resultiert hier aus bewältigtem Gehalt, sodass die »hinter« den (sprachlich aufgefassten) innerweltlichen Dinge sich bloß noch als Erfüllung dieser oder jener Aussage in Erscheinung treten oder sich durch ihre Widersetzlichkeit revidierend zu Wort melden, ohne, dass uns dadurch ihr Ansichsein oder ihre sprachunabhängige Verfassung begegnen würde. »Die sprachförmige Information, die wir aus dem Kontakt mit etwas in der Welt gewinnen, dürfen wir nicht mit der informierenden Quelle, also dem, womit wir Erfahrungskontakt haben, verwechseln.«66 Daher darf in der Folge auch »dieses veritative Sein‹ der Tatsachen […] nicht – gemäß einem Repräsentationsmodells von Erkenntnis – als abgebildete Wirklichkeit vorgestellt und damit an die ›Existenz‹ von Gegenständen angeglichen werden. Tatsachenfeststellungen können den operativen Sinn der Lernvorgänge, Problemlösungen und Rechtfertigun65 Habermas, Jürgen: Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, a.a.O., S. 33. [Meine Hervorhebung].Vgl. auch ders., Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 208: »Damit die Angehörigen eines Kollektivs in ihrer Sprache miteinander (über etwas in der Welt) kommunizieren und eine gemeinsame Praxis (in der Welt) ausüben können, müssen ihre Weltbezüge koordiniert sein. Als Angehörige einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt müssen sie unterstellen – und sich gegenseitig die Unterstellung zuschreiben –, dass es eine identische Welt von unabhängig existierenden Gegenständen gibt, über die sich etwas sagen und womit sich etwas machen lässt.« 66 Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 44.
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gen, aus denen sie resultieren, nicht spurlos abstreifen. Deshalb empfiehlt es sich mit Charles Sanders Pierce zwischen der sprachabhängig dargestellten ›Realität‹ (oder Wirklichkeit) und der im praktischen Umgang als widerständig erfahrenen ›Existenz‹ all dessen zu unterscheiden, worauf wir in der riskanten Welt ›stoßen‹ und womit wir ›zurechtkommen‹ müssen.«67 In dieser Perspektive können wir also nicht ohne weiteres behaupten, »dass man die Dinge in der Erfahrung so aufnimmt, wie sie sind«, weil dies vermeintlich nicht davon anhängen würde, »wie man darüber denkt.«68 Die von McDowell selbst auf den Plan gerufene und im letzten Kapitel schmerzlich vermisste »Reibung« zwischen Welt und sprachlich engagiertem Subjekt kommt nicht völlig unvermittelt zustande, sondern über die Verschränkung einer Handlungs- und Kommunikationsdimension unserer lebensweltlichen Engagiertheit, die die holistische Verfassung unseres sprachlichen Weltbezugs im Auge behält. Denn kommuniziert mit einem Anspruch auf Wahrheit wird zwar stets zusammen mit anderen vor dem Hintergrund verzweigter (und argumentativ abgesicherter) Überzeugungen über etwas in der Welt. Doch bringt dieses Etwas sich aus sprachpragmatistischer Sicht (in seinem Gehalt) vornehmlich (wenn nicht ausschließlich) durch seine Ab- und Zuträglichkeit für unsere semantisch‐intelligiblen Operationen ins Spiel und nicht durch sein handlungsunabhängiges An‐sich-Sein, das unsere Begriffe lediglich abspiegeln würden. Erst durch seine Unstimmigkeit für unser praktisches Handeln wirkt es zurück auf argumentativ sich ergebende, sprachliche Vorannahmen, in denen »es« als etwas, als ein bestimmbares Was einen neuen (semantischen) Ort innerhalb der Sprache und damit auch eine neue, objektive Geltung zugemessen bekommt. Dort wird es durch die sprachliche Eingruppierung in die »Nachbarschaft« anderer propositional formulierbarer Überzeugungen versetzt, die besser als die vorherigen seine zu erwartenden Wirkungen vorhersehbar gestalten.«69 Damit begegnet uns hier im Grunde erneut die vom hermeneutischen Denken her bekannte und weiter oben beschriebene Dynamik und Zirkularität eines jeden Erfahrungsprozesses, 67 Habermas, Jürgen: Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, a.a.O., S. 19. Vgl. auch ders.: Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 37: »Aus pragmatistischer Sicht ist die Wirklichkeit nichts Abzubildendes, sie macht sich einzig in den Beschränkungen, denen unsere Problemlösungen und Lernprozesse unterworfen sind, performativ – als das Ganze der verarbeiteten und der zu erwartenden Widerstände – bemerkbar.« 68 McDowell, John: Geist und Welt, Frankfurt a.M. 2012, S. 50f. 69 Man könnte auch mit (dem noch nicht eigens sprachpragmatisch argumentierenden) Wittgenstein sagen: »Die Verneinung bezieht sich auf den logischen Ort, den der verneinte Satz bestimmt. Der verneinende Satz bestimmt einen anderen logischen Ort als der verneinte. Der verneinende Satz bestimmt einen logischen Ort mit Hilfe des logischen Ortes des verneinten Satzes, indem er jenen als außerhalb diesem liegend beschreibt […]«. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico‐philosophicus, § 4.0641.
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allerdings nunmehr aus einer kollektiven Perspektive einer auf regelgeleitetes Verständnis eingespielten Sprachgemeinschaft als aus Sicht der ersten Person und ihres persönlichen Sinnerlebens; denn auch »aus pragmatistischer Sicht ergeben sich ›Erkenntnisse‹ aus der intelligenten Verarbeitung performativ erfahrener Enttäuschungen«70 , die durch die Realität zwar angestoßen, allerdings nicht im strengen Sinne widerlegt werden; denn dazu fehlt ihnen zu diesem Zeitpunkt noch ein spezifischer, sprich ein semantisch klar umrissener Gehalt, der sich wiederum erst horizontal im diskursiven Verbund rationaler Akteure und einer sprachlich vermittelten Einbettung ergibt.71 »Erfahrungen und Urteile sind nun mit einer realitätsbewältigenden Praxis rückgekoppelt. Sie stehen über das problemlösende, am Erfolg kontrollierte Handeln in Kontakt mit einer überraschenden Realität, die sich unserem Zugriff widersetzt oder eben ›mitspielt‹«.72 Daher sind auch die im obigen Zitat angeführten Lernprozesse und Problemlösungen immer schon Teil unserer sprachlichen Bedeutungen, da ihnen ein Prozess sprachlicher Neupositionierung und Feinjustierung vorausgegangen ist, aufgescheucht von einer Realität, die zum praktischen, problemlösenden Denken Anlass gegeben hat und das seine Arbeit aufnimmt, indem es beginnt, Schneisen in das semantisch vermessene Terrain unserer sprachlichen Weltorientierung zu schlagen, bis es glaubt, wieder richtig positioniert zu sein, sich angemessen lokalisiert zu haben – um die Lücke im Gewebe zukünftiger Planungssicherheiten angemessen und möglichst effizient schließen zu können. Sprachliches Verstehen ist daher immer schon ein Vorgriff auf eine mögliche Situationsangemessenheit, in der das sprachliche Verständigtsein seine Kompetenzen unter Beweis stellen kann. »In begründeten Interpretationen schlägt sich nieder, was wir im aktiven Umgang mit der Realität von ihr und im diskursiven Austausch mit Einwänden aus diesen lernen.«73 »Die« Welt gibt uns nicht im Sinne einer strikten Korrespondenz vor, wie sie ist und vor allem nicht, was sie ist, d.h., wie wir sie begreifen und damit immer auch (handelnd) ergreifen sollten. Dies ergibt sich nur unter Rückbezug auf unsere Absichten und Überzeugungen und die damit erhobenen Wahrheitsansprüche, die immer schon an (potenzielle) andere adressiert sind. Und erst in dieser Überschneidung der vertikalen wie auch horizontalen Ausrichtung auf mögliche (semantisch‐performativ gesetzten) Gegenstände in einer als objektiv unterstellten Welt, in einer Welt als »System für mögliche Referenzen«, erfahren unsere Begriffe gekoppelt mit unseren (scheiternden) Absichten ihre se70 Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 21. 71 Vgl. ebd., S. 98: »Die aus Kontexten der zielgerichteten Realitätsbewältigung oder der normengeleiteten Interaktion aufgescheuchten Geltungsansprüche werden im Diskurs als solche zum Thema gemacht, der Prüfung unterzogen und gegebenenfalls revidiert.« 72 Ebd., S. 18. 73 Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 37.
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mantischen Korrekturen.74 Damit ist einer jeden Art von Begriffsrealismus jedoch der Boden entzogen, d.h. dem Glauben, der »Abmessung« unserer Begriffe entspreche ein ebenso »zugeschnittener« aber von unserer sprachlichen »Bezugnahme« unabhängiger Gegenstand. Gegenständliche, objektive Bedeutungen konstituieren sich nicht durch eine rein kontemplative Angleichung unseres Verstandes an das Erkenntnisobjekt oder einer objektiven Zulieferung von Sinnesdaten durch unsere Wahrnehmung, sondern zeichnen sich schon immer durch einen konstruktiven Zug aus.
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Bezugnahme und der Ort der Bedeutung
Dass die Konstitution sprachlicher Bedeutung ein eminent soziales Phänomen ist, darin sind sich viele der prominentesten Vertreter der analytischen Philosophie einig. Wie die Autoren allerdings zu diesem Schluss gelangen, darin unterscheiden sie sich hingegen recht deutlich und zwar meistens im Hinblick auf die Frage, wie wir uns die »Externalisierung« sprachlicher Gehalte genau vorzustellen haben – also in der Frage, wie wir den Grad, die Reichweite und die Art der Einflussnahme externer Faktoren auf sprachliche Bedeutungsbildung theoretisch zu gewichten haben; sei es die soeben mit Habermas dargelegte »Prägekraft« sprachlicher Praktiken, die Kapazitäten unserer Wahrnehmungsfähigkeit oder die direkte oder indirekte kausale Verursachung von Überzeugungen durch Umgebungsfaktoren. Dem hat Hilary Putnam schon früh dadurch Ausdruck verliehen, dass er die bekannt gewordene Feststellung getroffen hat: »man kann’s drehen und wenden, wie man will, Bedeutungen sind einfach nicht im Kopf!«75 Doch wenn sie dort nicht sind, wo sind sie und wie sind sie dann? Wenn es keinen Grund gibt, anzunehmen, der Gegenstand der Bedeutung »habe seinerseits einen subjektiven Status, etwa in dem Sinn, dass er etwas von dem Denkenden ›Gewusstes‹ oder etwas seinem Bewusstsein ›Vorschwebendes‹«76 ist, wie ist er dann, wie und auf welche Weise existiert er? Hier berühren wir nun endgültig die Frage nach der »Beziehung« zu diesem »Gegenstand«. 74 Vgl. Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 241: »Die Sprache-Welt-Relation wird abhängig von der Kommunikation zwischen Sprechern und Hörern. Der vertikale Weltbezug der Vorstellungen von oder der Aussagen über etwas wird gleichsam in die Horizontale des Miteinanders der Kommunikationsteilnehmer zurückgebogen.« 75 Putnam, Hilary: Die Bedeutung von ›Bedeutung‹, Frankfurt a.M. 2004, S. 37 & ders.: Representation and Reality, a.a.O., S. 73. 76 Davidson, Donald: Was ist dem Geist gegenwärtig?, in: ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, Frankfurt a.M. 2013, S. 111.
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»Wir kennen eine Menge Wörter, um unsere Beziehungen zu Propositionen auszudrücken: Wir begreifen sie, sobald wir einen Satz verstehen; sie schweben uns vor; wir verwerfen sie; wünschen, sie mögen wahr sein; hoffen, sie mögen es nicht sein; oder wir beabsichtigen, sie wahr zu machen. Aber was für Beziehungen sind das? Es klingt, als handele es sich um psychische Beziehungen, so als gebe es da eine Art geistiger Transaktion zwischen uns und diesen Entitäten. Aber was für Transaktionen lassen sich schon mit einem abstrakten Gegenstand abwickeln?«77 Diese psychische Beziehung wird nun für geläufig als »Referenz« in der sprachphilosophischen Debatte angesprochen. Doch ist dies als Erklärungsprinzip nicht weniger ominös als der Begriff der Bedeutung selbst. Ja, man ist sogar versucht zu sagen, dass »Referenz, also die Bezugnahme eines Wortes auf einen Gegenstand oder eines Satzes auf eine Tatsache, kein bedeutungstheoretisch sinnvoller Begriff [ist]. Bedeutungen lassen sich nicht dadurch fixieren, dass ihnen Objekte in der Welt zugeordnet werden«78 – wie ja auch die vorausgegangen Überlegungen gezeigt haben. Selbst, wenn nicht einzelne Sätze, sondern ganze Theorien sich vor dem »Tribunal der Wirklichkeit«79 verantworten müssen, so bleibt Referenz oder der Gedanke an eine »direction of fit«80 kein geeigneter Kandidat, sich die Beziehung von Sprache und Welt zueinander verständlich zu machen: vor allem aus dem einfachen Grund nicht, dass beide sich bei näherem Hinsehen als interdependente Konstituenten des jeweils anderen erweisen – wenn mit »Welt« die Summe von Innerweltlichem gemeint ist, die sich erst durch unsere sprachliche Abfertigung ergibt. Anderseits bleibt der Gedanke an eine Bezugnahme unserer Aussagen und Begriffe solange einleuchtend, als dass damit der Intuition Ausdruck verliehen werden soll, dass es wesentliche Züge einer kognitiv noch unbewältigten Realität selbst sind, die sich ein entscheidendes Vetorecht vorbehält bei den (sprachlichen) Feststellungen, die über sie getroffen werden (sollen), dass »the environment itself plays a role in determining what a speaker’s words, or a community’s words, refer to.«81 Wie wir uns diese Rolle in den Grundzügen vorzustellen haben, ohne auf korrespondenztheoretische Ansätze zurückzufallen, haben ich versucht stellvertretend mit Habermasʼ pragmatistisch angelegtem Realismus aufzugeigen, der 77 Davidson, Donald: Was ist dem Geist gegenwärtig?, in: ders., a.a.O., S. 103. 78 Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 189. 79 Vgl. Quine, W.V.O.: Two Dogmas of Emipiricism, in: From a Logical Point of View, Cambridge 1980, S. 20 – 47. 80 Vgl. zur Einführung den Aufsatz von Humberstone, I.L., Direction of Fit, in: Mind, Vol.101, No.401, 1992, S. 59 -83. Vgl ebenso Churchland, Paul: Conceptual progress and word/world relations. In search of the essence of natural kinds, Canadian Journal of Philosophy 15(1985), S. 1 -17. Searle, J.R.: A Taxonomy of Illocutionary Acts«, in: ders., Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts, Cambridge 2008, S. 1 -30. 81 Putnam, Hilary: Representation and Reality, a.a.O., S. 36. Vgl. auch ders.: Die Bedeutung der Bedeutung, Frankfurt a.M. 2004.
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den vorab formulierten Anforderungen an eine welthaltige Theorie sprachlicher Ausdrücke Rechnung trägt.82 Ein Blick auf wesentliche, sprachphilosophische Überlegungen Donald Davidsons soll uns als nächstes dazu dienen, den Begriff der Referenz hinter uns zu lassen und den Gedanken an einen Sprachkohärentismus als Grundlage für eine überzeugende semantische Theorie zu bestärken. Vorausgeschickt sei gesagt, dass Habermas nicht besonders glücklich darüber wäre, als bloße Hinleitung zur Philosophie Donald Davidsons zu dienen und so soll und kann die Reihenfolge auch gar nicht gemeint sein. Schon alleine aufgrund eines stark abweichenden methodischen Vorgehens Davidsons und seiner daraus gezogenen Schlüsse, die immer wieder vielfältigen Anlass zum Unbehagen geboten haben. Davidson seinerseits würde seine Philosophie nicht ohne weiteres als pragmatisch ausgerichtete Bedeutungstheorie verstanden wissen wollen – verteidigt er doch explizit einen Ansatz, der in der Fachliteratur als »Wahrheitssemantik« firmiert, auch wenn er seinen eigenen Entwurf an den grundlegenden Gelenkstellen entscheidend modifiziert, Wahrheit und Bedeutung in seiner Sprachphilosophie bekanntlich die Plätze tauschen.83 Eine sichtbare Differenz zu pragmatisch eingestimmten Semantiken dürfte auch in dem von Davidson verteidigten Prinzip der »Bedeutungsautonomie« begründet liegen, also der Annahme, dass »der weiterreichende Zweck einer 82 Während Habermas die Einflussnahme der empirischen Welt nur noch als widerständiges »Korrektiv« für die Gehalte unsere Sprache zulässt, ist es aufschlussreich sich in Erinnerung zu rufen, dass bspw. für Hilary Putnam eine Art Restbestand an »Essentialismus« für sprachliche Gehalte entscheidend bleibt. In seinem (selbstredend nur in philosophischen Kreisen) bekannt gewordenen Gedankenexperiment der »Zwillingserde« soll es ja die »Atomstruktur« sein, die den Ausschlag dafür gibt, auf was zwei Sprecher bei vermeintlich gleichen Äußerungen »Bezug« nehmen, obwohl sie sich dessen vielleicht gar nicht bewusst sind. Doch das Insistieren auf der Intuition, die »wirkliche Natur« (in diesem Fall die Atomstruktur) für das ausschlaggebende Differenzierungsmerkmal für semantische Gehalte auszugeben, obwohl sie in Putnams Beispiel (wie er selbst sagt) keinen erkennbaren Unterschied auf der »Makroebene« markiert, »Zwasser« und »Wasser« durchgängig dieselben (wahrnehmbaren) Oberflächeneigenschaften besitzen und damit auch (in jedem denkbaren Kontext) dasselbe Verhalten an den Tag legen, zeigt m.E. nur einmal mehr, dass semantische Differenzierungen zwangsläufig ein interessegeleitetes Abwägen beinhalten und dass wir vorab nicht angeben können, »wo« respektive an welcher »Stelle« wir unsere begrifflich verfassten Erkenntnisse für weltliche Einschreibungen »offenhalten« wollen und gegebenenfalls korrigieren müssen. Die atomare Verbindung eines Stoffes intersubjektiv als relevant einzustufen und damit semantisch in unserer Kommunikation als verbindlich wirksam werden zu lassen, dürfte sich für eine pragmatistisch argumentierende Semantik der Einsicht in die damit zusammenhängende Möglichkeit zur gesteigerten »Manipulations-Tiefe« verdanken, die uns eine solch weiter »durchdringende«, so zusagen weiter »unten« (in der Kausalkette) ansetzende semantische Ausdifferenzierung (der Welt) gestattet. 83 Vgl. vor allem diesbezüglich den gleichnamigen Aufsatz in Davidson, Donald: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a.M. 1990, S. 40 – 68.
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Äußerung und ihre buchstäbliche Bedeutung unabhängig sind in dem Sinne, dass die letztere nicht aus dem ersteren abgleitet werden kann […].«84 Da ich aber auch hier um größtmögliche Konvergenz bemüht bin, werde ich mit Albrecht Wellmer davon ausgehen, »dass sich das Prinzip der Autonomie der Bedeutung durchaus sprachpragmatisch reformulieren lässt.«85 Aus Platzgründen muss ich auch hier auf eine ausgedehnte Rekonstruktion seiner Philosophie (die trotz eines stabilen Zentrums an Theoremen ohnehin von essayistischer Natur ist) verzichten und kann desgleichen nicht auf gesonderte Einwände im Einzelnen eingehen. Stattdessen vertraue ich darauf, dass die Aufnahme einzelner, zentraler Gedanken zu einer Vervollständigung unseres eigenen Verständnisses des »Sinns von Bedeutung« beiträgt und seine argumentative Kraft mehr in der angestrebten Zusammenschau entfaltet als im dialektischen Ausschluss von Alternativen. So wollen wir lediglich vorab festhalten, dass Habermas sich seinerseits vor allem daran stößt, dass Davidson die Verbindlichkeit der Sprache bloß nominal deutet, dass er eine »Trennung von Verstehensleistung und Sprachbesitz«86 betreibt und dass er eine empiristisch verfahrende Sprachanalyse praktiziert, »die nach wie vor von einem bloß methodologischen Verständnis der linguistischen Wende geprägt ist […].«87 D.h., dass Davidson aus dem linguistic turn eben nicht die weitreichenden Schlüsse zieht, zu denen Habermas gelangt, vor allem nicht die folgenschwere (epistemische) Konsequenz einer quasi‐apriorischen Verbindlichkeit der Sprache als sozialem und nicht hintergehbarem Faktum für unser Denken. Wenn es für Davidson denn überhaupt eine Sprache gibt, dann entsteht diese vielmehr erst dialogisch in Interaktion mit einer zweiten Person und ist unserem Denken (als System) nicht unweigerlich vorgeordnet. Somit lässt sich sagen, dass Davidson im Gegensatz zu Habermas »den Ideolekten einzelner Sprecher Vorrang einräumt vor dem sozialen Universum des sprachlich verkörperten und intersubjektiv geteilten Sinns.«88 Ja, für Davidson als »Hermeneutiker der alltäglichen Rede«89 gibt es im Grunde gar keine Sprache vor dem Sprechen, wie Sybille Krämer treffend bemerkt,90 sondern nur den Inhalt verschiedener, sich partiell überschneidender Interpretationstheorien, die als Übergangstheorien Berüh84 Davidson, Donald: Kommunikation und Konvention, in: ders., Wahrheit und Bedeutung, Frankfurt a.M. 1990., S. 385. 85 Wellmer, Albrecht: »Autonomie der Bedeutung« und »principle of charity« aus sprachpragmatischer Sicht, in : ders., Wie Worte Sinn machen, a.a.O., S. 74. 86 Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 188. 87 Habermas, Jürgen: Hermeneutische und analytische Philosophie. Zwei komplementäre Spielarten der linguistischen Wende, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, a.a.O., S. 86. 88 Ebd., S: 86. 89 Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 176. 90 Vgl. hierzu das instruktive Kapitel von Sybille Krämer zu Donald Davidson mit dem sprechenden Namen: »Warum eine gemeinsame Sprache nicht notwendig ist, um zu kommunizieren«, in: dies., Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 173ff.
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rungspunkte ausbilden, wenn die Kommunikationsteilnehmer sich darum bemühen zu verstehen, auf was sich ihr Gegenüber in einer geteilten Welt »bezieht« und welche Überzeugungen ihm dabei zugeschrieben werden können bzw. müssen. Und genau dies ist der Einsatzpunkt, um den Begriff der Referenz einer weiteren Kritik unterziehen zu können. Während nun bei der Horizontverschmelzung im Sinne Gadamers die sprachliche Ausgangsbasis beider Parteien sich im Zuge des Aktes des Verstehens rückwirkend verändert, treibt Davidson die Angleichung der Vorannahmen so zusagen nur genau bis zu dem Punkt, an dem unser Verstehen einsetzt, ohne dass dieses zwangsläufig revidierend die Vorannahmen der Kommunikationsteilnehmer in sich hineinziehen würde und jedem weiteren, sprachlich ansetzenden Verstehen als Richtungsvorgabe dient. Übergangstheorien kommen und gehen für Davidson und sind auf die jeweils individuell zu verstehenden Äußerungen zugeschnitten, die es in einer spezifischen Situation zu verstehen gilt. »Verstehen ist das zeitpunktund sprecherbezogene Ereignis, in welchem die Übergangstheorien der Kommunizierenden zur Deckung kommen.«91 Durch die methodische Bestimmung des Gesprächsteilnehmers als empirischen Beobachter und (radikalen) Interpreten ist uns so zusagen auch die Binnenperspektive der Hermeneutik versagt, dann »jeder Sprecher spricht – in gewisser Weise – seine ›eigene‹ Sprache im Sinne eines Idiolekts, der geprägt wurde durch die singulären Bedingungen einer je individuellen menschlichen Existenz«.92 Und diese sind nicht unbedingt als Ausschnitt des einen sprachlichen Universums zu verstehen, wie es Gadamer und Habermas im Auge haben. »Im Prinzip ist es für die Kommunikation nicht erforderlich, dass zwei Personen dieselbe Sprache sprechen«, lautet diesbezüglich das radikale Resümee von Davidsons Überlegungen, dem ich mich nicht ohne weiteres anschließen möchte, das mir dafür aber als direkter Einstieg in das Kernstück seiner Philosophie dienen kann: nämlich einer externalistisch‐empiristisch ansetzenden Interpretationstheorie sprachlicher Gehalte, die Hypothesen darüber aufstellt, was ihr Gegenüber gemeint haben könnte aufgrund von dessen beobachtbaren Sprachver-
91 Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 193. 92 Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 194.
3 Das Sein von Sinn
halten.93 Die methodisch leitende Frage muss dabei lauten: »kann eine Semantik ohne semantische Begriffe konturiert werden?« Davidsons bekannte Antwort lautet: ja, aber nur duch eine »radikale Interpretation«, die es uns erlaubt, die Konstitution sprachlicher Gehalte auf grundlegendster Ebene zu erklären und welche von Anfang an die empirische Komponente unserer Sätze berücksichtigt. Diese basale Ebene wird greifbar, indem Davidson uns per Gedankenexperiment in die fiktive Situation versetzt, einer unbekannten Sprache einen Sinn abgewinnen zu müssen, ohne dass uns dabei Hilfsmittel zur Verfügung stünden, die so zusagen bereits semantische Vorarbeit geleistet haben – etwa Wörterbücher oder Dolmetscher. »Davidsons Anliegen ist es, einen Schlüssel zur Beschreibung der sprachlichen Kompetenz zu finden, ohne dabei von linguistischen Termini Gebrauch zu machen.«94 Daher auch die Auszeichnung von Davidsons Ansatz als »empirisch«. Die Interpretationstheorie, die der Beobachter des fremden Sprachverhaltens aufzustellen hat, um hinter die Bedeutung der noch unverstandenen (aber bereits als sprachlich eingestuften) Verlautbarungen seines Gegenübers zu gelangen, wird nun dadurch »gehaltvoll«, dass sie auf der einen Seite mit öffentlich zugänglichen Belegmaterial kurzgeschlossen wird und auf der anderen Seite mit dem ablehnenden oder zustimmenden Reaktionen des fremden Sprechers. Dies erst ermöglicht Rückschlüsse auf dessen Überzeugungen und damit in einem zweiten Schritt auf die Bedeutung des Gesagten.«95 Denn in der Situati93 Während nun Wahrheitssemantiken generell den Versuch unternehmen, die Bedeutung einer Aussage dadurch zu erklären, dass sie auf die Bedingungen rekurrieren, die diese Aussage »wahr« machen (könnten), kehrt Davidson die Betrachtungsrichtung bekanntlich um und erklärt nicht »Bedeutung« zum undefinierten Grundbegriff, dem wir versuchen philosophisch auf den Grund zu gehen, sondern im Gegensatz dazu »Wahrheit«. Durch diesen methodischen Schachzug soll verhindern werden, dass von einem bereits »semantisch aufgeladenen« Vokabular in der Erklärung Gebrauch gemacht wird denn dann unterlägen wir dem Verdacht einer petetio principii, indem wir Termini verwenden, von denen selbst noch erklärt werden müsste, was es heißt, dass sie (semantisch) bedeutungsvoll sind: Und dies trifft sowohl auf die Begriffe der »Intention«, der »Überzeugung« und vor allem für für den Begriff der »Referenz« zu. 94 Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 187. 95 Denn »Wahrheit« ist nach dem Umstellen von Tarskis formaler »Konvention W« auf empirisch zu überprüfende Gesetzeshypothesen für Davidson kein epistemischer Begriff mehr, der dem »Inhalt« einer Aussage gilt und seinem korrespondenztheoretischen »Zutreffen« oder »NichtZutreffen« auf die Welt. Sondern »Wahrheit« wird im Gegenteil schlicht zu einem anderen Wort für dasjenige Vorverständnis, das selbstreflektierte, bewusste und sprachfähige Wesen in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt und anderen Personen quasi von vornherein mitbringen und das dafür sorgt, dass Aussagen empirisch gehaltvoll werden, indem sie sie analog zu dem oben aufgezeigten Sinne als »objektiv« einstufen bzw. »anerkennen«: »Wahrheit ist nicht definierbar und ist doch das, was das Verstehen im alltäglichen Kommunikationsgeschehen mit all seinen Figuren vom Märchenerzählen über die Ironie bis zur Lüge ›am Laufen‹ hält.« Davidson, Donald: Zur Verteidigung von Konvention W, in: ders., Wahrheit und Interpretation, a.a.O, S. 179. Denn unser Verständnis davon, »wie es sich wirklich verhält«, lässt jene Figuren erst als Kontrast dazu
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on des radikalen Interpreten steht uns ja gerade kein wahrnehmbares Kriterium zu Gebote, um eine tatsächliche Bedeutungsäquivalenz angeben zu können. Was wir allerdings angeben können, sind die »Wahrheitswerte« bzw. das Zutreffen eines beobachtbaren Fürwahr- oder Fürfalschhalten, d.h. die Reaktion auf eine Aussage durch einen Sprecher, deren genauer Inhalt fürs erste noch aussteht. Diesem Gehalt nähert sich der radikale Interpret in dieser Situation an, indem er den Gehalt der Aussage durch die eigenen Hypothesen immer weiter einzukreisen versucht. »Dieser Schritt stellt insofern keine petitio principii dar, als es einleuchtend ist, dass die Interpretin Hypothesen darüber bilden kann, dass der Sprecher bestimmte Sätze für wahr und andere für falsch hält, ohne bereits Hypothesen darüber zu bilden, was diese Sätze bedeuten.«96 Das Vorgehen des Interpreten wird dabei jedoch nur in entscheidender Hinsicht von der Stelle kommen und nicht aufs Geratewohl ins Blaue hineinraten, wenn die fremden Äußerungen oft genug mit den Umständen in einer gemeinsam wahrgenommenen Situation korreliert werden können, die gemeinsame »Bezugspunkte« ausbildet. Und hier scheint der Begriff der sprachlichen Referenz nun zu seinem vollen Recht zu gelangen, da er augenscheinlich auf genau jene raum‐zeitlich lokalisierten Bezugsgegenstände einer uns umgebenden Welt »abzielt«. Wenn also gilt: »Der Sprecher hält zum Zeitpunkt t den Satz S für wahr und zu t hat sich in der Umgebung des Sprechers das und das ereignet.«97 Doch wissen wir dann immer noch nicht, was genau der fremde Sprecher für wahr hält, wenn wir seine Überzeugungen nicht gebührend berücksichtigen. Denn nur dann können wir die genauen »Abmessungen« seiner Begriffe bestimmen und mit den Koordinaten seiner Bezugnahme zusammenbringen, nur dann können wir diesen Gehalt individuieren. Und erst dann lässt sich angeben, ob das (erstmals von Quine verwandte) Kunstwort »Gavagai« des fremden Sprechers sich auch auf das vorbeilaufende Kaninchen bezieht oder nur auf einen Teil desselben oder gar nicht auf das Kaninchen selbst, sondern auf nur eine mit ihm zusammenhängende, angenommene Schlussfolgerung, wie dass es bald Regnen wird usw. Und die Überzeugungen des fremden Sprechers sind wiederum nur in Hinblick auf die Bedeutung der verständlich werden. Tarskis klassisches, korrespondenztheoretisches Wahrheitsverständnis, das (überführt in das formallogische Schema von Objekt- und Metasprache) zu der in der analytischen Philosophie gerne herbeizitierten (und recht trivial klingenden) Formel führt, dass »S genau dann wahr ist, wenn p«, also der Satz »Schnee ist weiß« genau dann wahr ist, wenn Schnee weiß ist, macht von einer Bedeutungsäquivalenz Gebrauch, die Davidson zur »Wahrheitsäquivalenz« umformt. Vgl. ausführlich hierzu: Davidson, Donald: Zur Verteidigung von Konvention W, in: ders., Wahrheit und Interpretation, a.a.O., S. 106 -123. Vgl. zu Alfred Tarskis Wahrheitsbegriff ders., Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen«, in: Logik-Texte, Darmstadt 1983, S. 443-546. 96 Bertram et al.: In der Welt der Sprache, a.a.O., S. 247ff. 97 Ebd., S. 248.
3 Das Sein von Sinn
Äußerung identifizierbar, »denn der einzige Zugang zur Feinstruktur und zur Individuation von Überzeugungen führt durch die Sätze, die von den Sprechern und den Interpreten der Sprecher benutzt werden, um Überzeugungen auszudrücken und zu beschreiben.«98 D.h. aber, dass uns hier erneut eine semantische »Verortung« abverlangt wird, die Bestimmung des »Ort[s], an dem [ein] Satz im Gesamtgefüge [einer Sprache, R.Z.] lokalisiert ist«99 und zum anderen die Lokalisierung der Quelle derjenigen Kausalfaktoren, die für die Überzeugungsbildung den entscheidenden Anstoß gaben. Denn, wenn wir wissen wollen, was unsere Begriffe »in den Griff bekommen«, dann fragen wir immer auch danach, wo genau ihre Grenzen verlaufen, binnen derer der Begriff vorgibt, ein entsprechendes Objekt aus der Fülle der möglichen (innerweltlichen) Bezugsgegenstände »herauszugreifen«. Doch wie kann »der Interpret einbrechen in diesen Zirkel«100 aus gegenseitiger Verweisung der Bedeutung auf die Überzeugung und der Überzeugung auf die Bedeutung einer Äußerung? »Wie kann er sie beide zugleich in Erfahrung bringen, wo doch jedes der beiden Elemente vom jeweils anderen abhängt?«101 Davidsons Antwort: gar nicht; zumindest nicht, wenn wir glauben, durch dieses Vorgehen die eine gültige Referenzbeziehung herausgreifen zu können, die für die Determination des vermeintlichen Bedeutungs-Bezuges sorgt. Denn diese gibt es so nicht. Sondern was es gibt, ist auch für Davidson ein kohärentistisch verzweigtes Netz sich gegenseitig zurechtrückender logischer und nicht‐logischer Wahrheiten, die im Zusammenspiel (als Wahrheitstheorien) »jedem Satz im Gefüge aller anderen Sätze einen Platz zuweisen, der von genau diesem und keinem andern Satz eingenommen wird.«102 Und diese Art von hypothetisch‐empirischen Wahrheitstheorien sind es dann auch, die wir nach 98 Davidson, Donald: Eine Kohärenztheorie der Wahrheit, in: ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, a.a.O., S. 251. 99 Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 190. 100 Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 183. 101 Davidson, Donald: Eine Kohärenztheorie der Wahrheit, a.a.O., S. 253. Vgl. auch: ebd., S. S. 251: »Denken wir z.B. an das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen Überzeugung und Bedeutung. Was ein Satz bedeutet, hängt von den äußeren Umständen ab, welche die Ursache dafür sind, dass er ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit gewinnt, und andererseits von grammatischen oder logischen Beziehungen zwischen diesem Satz und anderen Sätzen, die mit unterschiedlichen Überzeugtheitsgraden für wahr gehalten werden. Da diese Beziehungen ihrerseits auf direktem Weg in Überzeugungen übertragen werden, ist ohne weiteres zu erkennen, inwiefern Bedeutungen von Überzeugungen abhängen. Überzeugungen hängen jedoch im gleichen Maße von Bedeutungen ab, denn der einzige Zugang zur Feinstruktur und zur Individuation von Überzeugungen führt durch die Sätze, die von den Sprechern und den Interpreten der Sprecher benutzt werden, um Überzeugungen auszudrücken und zu beschreiben. Wollen wir über das Wesen der Bedeutung und der Überzeugung Aufschluss geben. Müssen wir an einem ansetzen, an dem keiner der beiden Begriffe vorausgesetzt ist.« 102 Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 190.
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Davidson versuchen, (zumindest partiell) zur Deckung zu bringen, wenn wir miteinander um Verständigung bemüht kommunizieren. Wir haben es also mit einer »Übereinstimmung ohne Vergleich«103 zu tun, einem Kohärentismus, der sich allerdings nicht die Vorwürfe eines rein formalen Holismus zu Schulden kommen lässt, weil auch er von Anfang an ein Auge auf die anderen Sprecher, ihr Verhalten und die Gegebenheiten in einer gemeinsamen (Um-)Welt geworfen hat.
3.6
Perspektive und Situation
Um nun in den Zirkel dieser gegenseitigen Verweisung aus zu interpretierender Bedeutung und Überzeugung einbrechen zu können, müssen wir nach Davidson dem Gegenüber im Großen und Ganzen wahre und konsistente Überzeugungen unterstellen – Davidsons berüchtigtes principle of charity. Denn nur so können wir abschätzen, welchen Stellenwert die fremde Äußerung für das Verständnis (also die rationale Einordung des Gesagten) des fremden Sprechers haben könnte. »Die Nachsicht ist uns aufgezwungen; wenn wir andere verstehen wollen, müssen wir ihnen in den meisten Dingen recht geben, ob wir mögen oder nicht […]. Das Maximum an Sinn erzielen wir in Bezug auf die Wörter und Gedanken anderer, wenn wir so interpretieren, dass Einigkeit optimiert wird (was, wie gesagt, Raum einschließt für erklärbare Irrtümer, mithin für Meinungsverschiedenheiten).«104 Wir werden der fremden Äußerung einen analogen Platz im Gesamtgefüge der fremden Sprache einräumen (müssen), wie wir ihn von der eigenen her kennen105 – und ein anderes Vorgehen zur »Sinn-Produktion« steht uns nicht zur Verfügung. »Im einen wie im anderen Fall wird der Interpret durch dieses Prinzip dazu angehalten, bei seiner Übersetzung oder Interpretation so zu verfahren, dass einige seiner eigenen Wahrheitsmaßstäbe in das Muster der vom Sprecher für wahr gehaltenen Sätze hineingedeutet werden.«106 Das führt jedoch dazu, dass das Telos der semantischen Bemühungen auch hier in einer (wie zu anfangs beschriebenen) mehr oder weniger harmonischen Abstimmung einer derartigen Übersetzung zu suchen ist, die sich das Fremde durch die Abbildung auf die Koordinaten des eigenen Horizonts zu erschließen versucht. 103 Davidson, Donald: Eine Kohärenztheorie der Wahrheit und der Erkenntnis, in: ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, a.a.O., S. 234. 104 Davidson, Donald: Was ist eigentlich ein Begriffsschema, in: ders., Wahrheit und Interpretation, a.a.O., S. 280. 105 Vgl. Davidson, Donald: Realität ohne Bezugnahme, in: ders., Wahrheit und Interpretation, a.a.O., S. 319: »Die Bedeutung (Interpretation) eines Satzes wird dadurch angegeben, dass man dem Satz einen semantischen Ort zuweist in dem Muster der Sätze, die zu der Sprache gehören.« 106 Ebd., S. 254.
3 Das Sein von Sinn
Einem konventionellen Regelbefolgen, in dem viele Sprachphilosophien den Kern der Bedeutungsbildung sehen, gleicht ein solcher Vorgang nur bedingt wenn überhaupt. »Erforderlich ist nur, dass jeder Sprecher absichtlich dafür sorgt, dass er für den anderen interpretierbar ist […].«107 Und auch hier hat ein möglicher Interpret sämtliche Facetten seiner praktischen Vernunft und damit seiner Sprachfähigkeit aufzubieten, um ans Ziel zu gelangen. Doch Davidson geht es letzten Endes »weniger darum, die Idee des Regelfolgens beim Sprechen grundsätzlich zu diskreditieren; sein Argument ist vielmehr, dass das, was am Verstehen philosophisch interessant ist, nicht durch den Regelbezug erhellt wird, weil die Eigenart des Verstehens sich gerade in der Fähigkeit [zeigt], Abweichungen zu verstehen.«108 Entsprechend zieht Davidson auch den schon erwähnten und vielleicht ein wenig zu radikalen Schluss: »Die Vorstellung, es gebe eine klar umrissene gemeinsame Struktur, die sich die Sprachbenützer zu eigen machen und dann auf Einzelfälle anwenden, müssen wir aufgeben.«109 Das heißt aber, dass das, was verstanden wird, streng genommen gar keine Sprache ist (im Sinne eines internalisierten, regelbasierten Kanons an möglichen »Zügen im Sprachspiel«), sondern einzelne Äußerungen, die in ihren Bedeutungen nicht von den Situationen abgekoppelt werden können, in denen sie hervorgebracht werden und die nicht von den Überzeugungen und Einstellungen der Personen unabhängig betrachtet werden können, die sie hervorbringen. Sprachverstehen wird bei Davidson daher unversehens zum jeweils singulären Ereignis eines Personenverstehens.110 Und was dabei den Boden für mögliche Übereinstimmungen bereitet, sind weniger gemeinsame, sprachliche Konventionen oder ein grammatischer Regelkanon, als vielmehr das Eingelassen-Sein in eine gemeinsame Welt, die beobachtbare und auf Einstellungen zurückführbare Reaktionen und ein interpretierbares Antwortverhalten provoziert, was auch den objektiven Gehalt des Denkens und Wahrnehmens der ersten Person konturiert. Eine Welt, die am Scheitelpunkt unserer jeweiligen Perspektiven als Ursache unseres Für-Wahr-Haltens in Erscheinung tritt und die wir als Interpreten versuchen, auf eine äquivalente Art und Weise wie unser Gegenüber zu strukturieren, um ihr durch den Bezug auf einen ähnlich abgesteckten, einen analogen Maßstab die Gestalt von ineinander übersetzbaren Koordinaten für unser Handeln und Denken zu verleihen. 107 Davidson, Donald: Die zweite Person, in: ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, Frankfurt a.M. 2004, S. 199. 108 Krämer, Sybille: Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 193. 109 Davidson, Donald: Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, hg. v. Eva Picardi und Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 1990,S. 227. 110 Vgl. Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 194.
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»Da die einzelnen Sätze durch die Einstellungen des Für-Wahr-Haltens mit den Überzeugungen des Sprechers verbunden werden und diese mit den anderen propositionalen Einstellungen zusammenhängen, bezieht sich der semantische Holismus letztlich auf die Gesamtheit der geistigen und sprachlichen Tätigkeiten des Sprechers. Einen Satz zu verstehen heißt letztlich, ihm seinen Ort in der umfassenden Struktur der Äußerungen, Handlungen und mentalen Ereignisse und Zustände zuzuweisen, die insgesamt den Sprecher als Person ausmachen.«111 Etwas, das Davidson in seinen neueren Aufsätzen gelegentlich anhand von Gewichten und Größen illustriert, was gewisse Schwachpunkte aufweist, deren gewichtigsten Davidson selbst am Ende seines Essays »Indeterminismus und Antirealismus« aufgreift.112 Um sich nämlich gegenseitig auf bestimmte Skalen zur Messung von etwas einigen zu können, sind Zahlen vonnöten, die voraussetzen, dass das, auf was sie bezogen werden sollen, bereits sprachlich »eingeteilt« ist, d.h., dass die semantische Interpretation der Welt ihr Werk schon vollbracht hat. Zumindest für den Bereich, in dem die Messungen zur Anwendung kommen sollen, bspw. die Temperatur von etwas oder dessen Gewicht. Auf unsere propositionalen Sätze können wir uns dagegen nicht derart verständigen, ohne ihre Bedeutung bereits vorauszusetzen: »Du und ich, wir können uns nicht über die Interpretation unserer Sätze einigen und uns damit darauf vorbereiten, diese Sätze zur Interpretation anderer Personen zu benutzen, denn der Prozess, durch den man zu einer solchen Einigung gelangt, beinhaltet eine Interpretation eben jener Art, auf die wir uns vorzubereiten gedachten […], denn die wechselseitige Interpretation liefert den einzigen Standard, über den wir verfügen.«113 Doch trotz dieses Problems ist der Vergleich mit Gewichten und Größen geeignet, dem Gedanken weitere Kontur zu verleihen, dass »eine korrekte Interpretation einem komplexen Muster [nachspürt] und einzelne Sätze und Einstellungen in dessen Rahmen [lokalisiert].«114 Denn genauer lässt sich das Was unserer Sätze nun einmal nicht bestimmen, wenn wir von der Unerforschlichkeit des Bezugs ausgehen, die »besagt, dass keine Möglichkeit besteht anzugeben, welcher Weg der Verbindung von Worten mit Dingen der richtige ist.«115 Was dann übrigbleibt, ist keine relativistische Beliebigkeit, sondern gleichwertige Verbindungen und Relationen, die verschiedene »Messungen« zulassen, um zu »denselben« Einstellungszuschreibungen einer Person zu gelangen wie es mit einem ähnlich abgesteckten 111 112 113 114 115
Bertram et al.: In der Welt der Sprache, a.a.O., S. 250. Davidson, Donald: Indeterminismus und Antirealismus, a.a.O., S. 127 – 151. Ebd. Davidson, Donald: Indeterminismus und Antirealismus, a.a.O., S. 143. Ebd., S. 142.
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Maßstab der Fall wäre: »Das Grundlegende sind bestimmte Beziehungen zwischen Gegenständen […].«116 Ob wir nun in Pfund oder Kilogramm, Elle oder Zentimeter, km/h oder mph messen, um das Gewicht, die Größe oder Geschwindigkeit eines Gegenstandes zu bestimmen, bleibt sich gleich, wenn es um den objektiven Gehalt des Gemessenen oder Gewogenen geht. Denn, was immer der Gehalt ist – er ergibt sich nur im Abgleich mit anderen Gegenständen und ihrer Position auf derselben, zugrunde gelegten Skala.117 Der direkte Vergleich, dessen wir uns nahezu alltäglich bedienen, um jemandem etwas »klar zu machen«, etwas zu verdeutlichen, ist daher keine ungenaue Redeweise, wenn uns das »passende« Wort gerade einmal nicht einfallen möchte und wir gezwungen sind, auf eine Alternativbeschreibung »auszuweichen«. Denn oftmals ist gerade das passende Wort nicht dasjenige, das man im Fortgang einer Unterhaltung normalerweise an einer bestimmten Stelle vermuten würde oder das in anderen Kontexten das jeweils gebotene wäre; vorausgesetzt wir bemerken, dass mit dessen Nennung unsere Absicht Gefahr laufen würde, unser Gegenüber nicht in die von uns angesteuerte Richtung »lenken« zu können, es nicht an einer gleichwertigen Stelle seiner eigenen Überzeugungen verorten zu können, von der aus sich ihm eine ähnliche Perspektive auf die Sachlage ergibt, die von uns kommunikativ überhaupt erst eingekreist werden muss, um einer Lösung zugeführt werden zu können. Wenn wir kommunizieren, dann teilen wir uns nicht einfach mit, so als ob wir mit der schlichten Verlautbarung unseres Stands der Dinge in denjenigen Worten, die für uns Sinn ergeben, der kommunikativen Aufgabe schon zur Genüge nachgekommen wären. Sondern wenn wir sprechen und auch wirklich verstanden werden möchten, dann behalten wir (wie Davidson richtig betont) die Reaktionen des anderen im Auge, versuchen Unstimmigkeiten, die sich aus dessen Perspektive ergeben könnten, zu antizipieren, wählen andere Worte, eine andere Herangehensweise, um unser Gegenüber von einem Sach-Verhalt zu unter‐richten, ihn (gedanklich) auszu‐richten, indem wir nicht selten sagen: »sieh es doch mal von der Seite« oder »auf diese Weise«, woran Beschreibungen des Umfelds des eigentlichen Gegenstandes der Rede anschließen; denn die Mitte, das Was, der »Bezugsgegenstand« der Rede ist dasjenige, was sich ihm selbst ergeben muss, weil es für ihn Sinn ergibt, all das damit zu verbinden oder verbinden zu können, was wir damit verbunden sehen möchten. Aber dieser Vorgang, diese Bewegung, die »Gebärde«, der Prozess des Sinnverstehens »gelingt nur, wo der Zuhörer nicht Glied für Glied 116 Davidson, Donald: Was ist dem Bewusstsein gegenwärtig?, in: ders., Der Mythos des SubjektivenPhilosophische Essays, Stuttgart 1993, S. 27. 117 Und mehr brauchen wir auch nicht, vorausgesetzt wir akzeptieren einmal mehr, um was es uns in kommunikativer Hinsicht geht und für ein endliches Wesen einzig und allein gehen kann: Orientierung.
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der Wortkette folgt, sondern seinerseits die sprachliche Gestikulation des Anderen aufnimmt und sie überschreitet, indem er sie vervollständigt.«118 Daher ist es auch so überaus unbefriedigend, wenn wir bemerken, dass man uns nicht zuhört, dass der andere uns nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die es bräuchte, um unserem Gedanken folgen zu können. Dass wir ihn schon »abgehängt« haben und wir seinen Reaktionen entnehmen können, dass wir zwei oder drei Schritte »zurückgehen« müssten, um ihn wieder bei seinem Stand abholen zu können.119 Der gezielte Vergleich aktiviert nun aber genau dieselben (sprachlichen) Fähigund Fertigkeiten, die auch bei der wörtlichen Rede zum Einsatz kommen und ist kein anderes Sprechen oder eine andere Facette unserer natürlichen Sprachen, sondern nur ein anderer Zugang zu unserem Gegenüber, der sich bewusst gemacht hat, dass mehr Aussicht auf Erfolg besteht, kommunikativ ans Ziel zu gelangen, wenn wir es von vornherein dem anderen überlassen, die finale Übersetzung des von uns »Gemeinten« in seine Sprache vorzunehmen, anstatt ihm einen für ihn ungeeigneten Weg durch eine (zu) konventionelle Beschreibung vorzugeben. Dafür sprechen wir meist direkt die Proportionen und Verhältnisse an, auf die es uns ankommt, anstatt eine Beschreibung zu wählen, von der wir befürchten müssen, das sie von unserem Gesprächspartner mit einer Hintergrundannahme abgeglichen wird, die das Wesentliche gerade nicht in den Blick rückt, weil sie in einer Vor-Stellung verbleibt, die durch das Gesagte gerade in Frage gestellt, also umgestellt und umstrukturiert werden soll. Wir haben nicht das geringste Problem damit, zu verstehen, etwas sei »das Sachsenhausen von London« oder »die Goethestraße von Paris«, weil wir schon immer in unserem Denken lokalisiert und orientiert sind und es uns auch bei der Kommunikation mit anderen genau darum geht, diese Art der Orientierung möglichst auszudehnen oder herzustellen und diese betrifft nicht nur bei Städten, Landschaften oder Gegenden ganze Gebiete. Und umso mehr wir von diesen 118 Merleau-Ponty: Maurice: Die Wissenschaft und die Erfahrung des Ausdrucks, in: die Prosa der Welt, a.a.O., S. 51. 119 Daher ist das »Boten-Modell« der Kommunikation auch so überaus irreführend, da es von etwas »Fertigem« ausgeht, dass nur noch »übertragen« werden müsste und das dem Sinn-Geschehen des Verstehens nicht genügend Berücksichtigung schenkt. Auch bleibt bedenkenswert, dass, umso größer bzw. heterogener der Adressatenkreis ist, desto kleiner (wie es so schön heißt) der »gemeinsame Nenner« ausfallen muss, d.h. genau die Worte, die das Problem »benennen« sollen und trotzdem von vielen verstanden werden können. Was dann meistens die Worte sein werden, die zugunsten ihrer Eindeutigkeit weniger Bedeutungs- »Breite« besitzen und damit auch weniger von dem zur Debatte stehenden Gebiet »abdecken«. Dementsprechend bleibt Verstehen immer auch auf ein Personenverstehen bezogen; denn um uns »in« einer »Sache« verstehen zu können, ist es überaus hilfreich (wenn nicht unabdingbar) ebenfalls zu verstehen, wie der andere versteht – wie er die Dinge »sieht«, d.h., welche Vorstellung er sich von einem Problemkreis macht, deren Mitte durch den sich herausbildenden »Bezugsgegenstand« gebildet wird.
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kommunikativ »abdecken«, desto effizienter wird unsere Kommunikation ausfallen, desto in‐formierter wird mein Gegenüber durch dasjenige sein, was ich sage. So sagen wir bspw. etwas sei »der Ferrari unter den Digitalkameras« und versuchen dadurch mit einem Schlag ein ganzes semantisches (Um-)Feld für unser Gegenüber zu strukturieren und aufzustellen, in dem sein Denken sich positionieren kann und in dem der angesprochenen Digitalkamera derselbe Stellen-Wert im Verhältnis zu ihren Mitbewerbern eingeräumt wird wie dem italienischen Sportwagen unter seinen motorisierten Konkurrenten. Doch auch dieser Kommunikationsversuch bleibt freilich prekär und hat nur dann eine Chance auf einen glückenden Ausgang, wenn wir davon ausgehen können, dass unser Gegenüber all dasjenige mit einem Ferrari verbindet, was wir wollen, dass er damit verbindet, dass er ihn als Konvergenzpunkt an einer Stelle seines Denkens »setzt«, die auch für ihn das benachbarte semantische (Um-)Feld analog zu unser eigenen Vorstellung ausrichtet und strukturiert. Und sollte er uns verblüfft zurückfragen, warum wir ihm anempfehlen, sich »eine völlig überteuerte Kamera zuzulegen, die ihr Geld nicht im Ansatz Wert ist und über seine Midlife-Crisis hinwegtäuschen soll«, werden wir uns eingestehen müssen, dass wir besser daran getan hätten, einen anderen Vergleich zu wählen. Während bei einem unserer besten Freunde, mit dem wir einen Großteil unserer Lebenserfahrung teilen, vielleicht ein einziges Wort gereicht hätte, um ihn wissen zu lassen (um »es« ihm zu kommunizieren), was wir von seiner jetzigen Beziehung halten (seinen Wissens-Be-Stand entsprechend von einem Zentrum aus zu in‐formieren) und wie wir glauben, in welche Richtung sie sich entwickeln wird, weil uns deutlich die Analogie zu einer ähnlichen Situation vor Augen steht, die auch ihm nicht entgangen sein dürfte: »Ich sag’ nur Julia…« Das Wie in der Wendung, etwas »verhalte sich wie etwas anderes« oder es sei so und so darum »bestellt«, verweist auf die jeder natürlichen Sprache inhärente oder grundlegende Möglichkeit zur Metaphorik, die es erlaubt, sozusagen in der Kommunikation bereichsübergreifend zu operieren und auf den ersten Blick unterschiedliche Sphären miteinander zu verbinden und vergleichbar zu gestalten. Womit sich Sinn oder Bedeutung einmal mehr wie das aggregierte Ergebnis sich gleichbleibender Abstände, Proportionen oder Verhältnisse ausnimmt als einer von vornherein feststehenden Größe durch außersprachliche Bezugnahme zu gleichen. Wir verstehen auf Anhieb, dass etwas (in diesem Fall eine Tätigkeit oder Handlung) so einfach sei, wie Fahrrad fahren oder dass eine ganze Gegend sich so ausnehme wie Frankreich nur ohne Franzosen. Auch der Vergleich kommt seiner kommunikativen Verpflichtung nach und stellt uns auf mögliche situative Umstände ein, er orientiert uns. Doch er verbindet nicht nur auf eine ähnliche Weise organisierte Gebiete und gleicht sie miteinander ab, sondern (je nach »Stärke« der verwendeten Metaphorik) re‐organisiert er auch die Sphäre, in die er »migriert«.
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»Ein ganzer Organisationsapparat übernimmt ein neues Territorium. Hier vollzieht sich ein Transfer eines Schemas, eine Migration von Begriffen, eine Entfremdung von Kategorien. In der Tat könnte man eine Metapher als eine kalkulierte Kategorienverwechselung ansehen – oder vielmehr als eine glückliche und belebende, wenn auch bigamistische zweite Ehe […]. Ferner ist ein Schema normalerweise eine lineare oder komplexere Anordnung von Etiketten; und die Ordnung […] sowie andere Beziehungen lassen sich übertragen […]. Welche Ehrfurcht man auch immer vor Klassen oder Attributen empfinden mag, Klassen werden sicherlich nicht von Sphäre zu Sphäre bewegt, und Attribute werden auch nicht irgendwie aus einigen Gegenständen extrahiert und in andere injiziert. Eher wird eine Menge von Ausdrücken, von Alternativen Etiketten, transportiert; und die Organisation, die sie in der fremden Sphäre bewirken, steht unter der Leitung ihres gewohnheitsmäßigen Gebrauchs in der heimatlichen Sphäre.«120 Da in dieser Analyse von Goodman zum Schema und zum Transfer ebenfalls einzig die Relationen erhalten bleiben, sollten wir diese als konstant ansehen und als Garanten für einen objektiven »Bezug«. Zurück bei Davidson und seinem empirischen Ansatz bedeutet das: »Angenommen, das Faktum bestehe darin, dass A das gleiche wiegt wie B. Dann ist die Zahl, die zur Feststellung des Gewichts von A und B verwendet wird, dieselbe, egal, ob das Gewicht in Pfund oder Kilo festgestellt wird. […] Nötig ist nichts weiter, als dass die Entitäten, die wir zur Registrierung des Gewichts der Dinge benutzen, eine Struktur aufweisen, durch die sich bestimmte Merkmale der gewogenen Gegenstände darstellen lassen.«121 Und die relevanten Merkmale, an denen uns in Bezug auf die fremdpsychischen Einstellungsgehalte gelegen ist und als einziges gelegen sein kann, sind die Überzeugungen einer fremden Person und deren semantischer Gehalt, dasjenige, was wir als »radikale Interpreten« »messen« wollen (und als einziges können, weil es ohne weitere Vorannahmen beobachtbar ist), sind die Wahrheitswerte einer Aussage: d.h., das Für-Wahr oder Für-Falschhalten eines propositional formulierbaren Satzes, den wir den fremden Einstellungen zuordnen können. Und eine propositional strukturierte Sprache ist wiederum als einziges dazu in der Lage als Maßstab für das Gebiet des Mentalen herzuhalten. Denn sie ist als einziges »feingliedrig« genug, um mit den möglichen Einstellungen Schritt halten zu können, die sich aus der der Konfrontation mit der Welt und ihrer Objekte für ein komplexes Lebewesen wie den Menschen ergeben: 120 Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Eine Symboltheorie, Frankfurt a.M. 2015, S. 77f. 121 Ebd., S. 138. Vgl. ebd., S. 122: »Wir wissen, dass kein Widerspruch besteht zwischen dem Sachverhalt, dass die Lufttemperatur 32 Grad Fahrenheit beträgt und 0 Grad Celsius beträgt. Dieser ›Relativismus‹ enthält nichts, was zeigen könnte, dass die gemessenen Eigenschaften nicht ›wirklich‹ sind.«
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»So brauchen wir bei der Zuschreibung von Zuständen des Glaubens (und sonstigen propositionalen Einstellungen) eine Menge von Entitäten, die in solcher Weise zueinander in Beziehung stehen, dass es uns gestattet ist, über die relevanten Eigenschaften der verschiedenen psychischen Zustände auf dem Laufenden zu bleiben.«122 Kohärentistisch‐holistisch gedacht bestimmen wir auch bei Davidson daher keine Merkmale einzelner Dinge (die für sich genommen und ohne Vergleich nichtssagend blieben), sondern wir vermessen ein ganzes Gebiet, in dem diese Dinge einen gewisse Position innehaben, einen gewissen (semantischen) »Umkreis« bestimmen: »aber die Maße, die wir benutzen, um dieses Muster darzustellen – nämlich unsere Sätze –, können es auf mehr als eine Weise darstellen.«123 Etwas, das wir uns auch deutlich machen können, indem wir uns an die Gelegenheiten erinnern, in denen wir feststellen mussten, dass jemand anderes »unsere« Gedanken und den auszudrückenden Sachverhalt durch ein anderes Vokabular, eine alternative Herleitung und einen leichthändigeren Argumentationsaufbau besser auf den »Punkt« gebracht hatte als in der Alternativdarstellung, die wir uns hatten abringen können. Wenn wir dagegen an der von vielen geteilten Intuition festhalten, dass es die eine oder einzig wahre Darstellung eines Sachverhalts geben muss, die eine Bedeutung eines Satzes, die wir genau aus dem Grund wählen, weil wir glauben, dass sie als einziges unserem Ansinnen adäquat ist, dann liegt das nach Davidson daran, dass wir in Bezug auf uns selbst (die erste Person) das Verfahren der radikalen Interpretation nicht benötigen, es keine Anwendung findet. Wir selbst interpretieren uns nicht, sondern wir wissen, »was« wir denken, d.h., wir wissen, was auch einzelne Wörter für uns bedeuten, weil sie schon in Schlussfolgerungsbeziehungen stehen und sich für uns (bis es zur kritischen Reflexion und Abstandnahme) als das natürliche Mittel der Wahl für das von uns »Gemeinte« präsentieren.124 In Bezug auf mich selbst brauche ich nicht erst das komplexe Interpretationsmuster zu knüpfen, dessen Maschen durch Kohärenz zusammenhalten, sondern »meine« Bedeutungen sind das, was sie sind, weil sie schon in umfassenden (logischen) Beziehungen stehen – sonst könnte ich sie nicht (widerspruchsfrei) denken und sie wären auch nicht Bestandteil meines sprachlichen und gedanklichen Repertoires. Oder wie Merleau-Ponty sich ausdrückt, wenn er Sprache als Teil unserer leiblichen Existenz begreift: »Ich greife zu einem Wort, wie meine Hand an eine plötzlich schmerzende Stelle meines Körpers fährt; das Wort hat 122 Davidson, Donald: Was ist dem Bewusstsein gegenwärtig?, a.a.O., S. 28. 123 Ebd., S. 143. 124 Vgl. Wellmer, Albrecht: Verstehen und Interpretieren, a.a.O., S. 100: »Denn hier gibt es eine Asymmetrie zwischen Sprecher und Interpret. Der Sprecher muss, wenn er eine Sprache beherrscht, seine eigenen Äußerungen und Intentionen nicht deuten, um zu ›wissen, was er meint‹«.
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seine bestimmte Stelle in meiner sprachlichen Welt, ist ein Teil meiner verfügbaren Ausrüstung […].«125 Sprache ist eine Fähigkeit, d.h., wir sind befähigt zu sprechen, sind sprachbegabte Tiere. Und die immanenten, sprachlichen Beziehungen, in denen wir uns denkend bewegen, erlauben uns beim Abgleich mit einer fremden, noch zu interpretierenden Aussage immer auch einen gewissen Spielraum, eine alternative Kartographie, eine alternative Gebiets-Bestimmung. Sprache ist daher für Davidson (verstanden als Interpretationsverfahren, das universell Anwendung findet) weniger ein vorgegebenes, grammatisches System als ein ganzes Arsenal an zu berücksichtigenden Gemeinsamkeiten, die für unsere Übergangstheorien relevant sein können. »Normale Zuschreibungen von Bedeutungen und Einstellungen beruhen auf umfassenden und vagen Annahmen über vorhandene und nicht vorhandene (sprachliche und sonstige) Gemeinsamkeiten zwischen den Zuschreibenden, der Objektperson der Zuschreibung und den intendierten Hörern des Zuschreibenden.«126 Ein Punkt, in dem Davidson sich abermals mit phänomenologischen Sprachphilosophien wie derjenigen Merleau-Pontys überschneidet, die sich vor allem der Vollzugsform des Sprechens und Verstehens zuwenden. Diese begreifen Bedeutungen mehr als Ausdruck unserer zugrundeliegenden Existenzweise und sozialen Einbettung selbst, die wir (zwangsläufig) mit anderen teilen. Es ist auch hier die gemeinsame Lebensform127 , wie sie von den Anhängern Wittgensteins als unanalysierbarer Grundbegriff vehement für jede semantische Analyse ins Feld geführt wird. »Das Problem des Verstehens eines Anderen ist aber immer ein unbestimmtes: erst die Lösung des Problems lässt hier im Rückblick das zuvor Gegebene als konvergent erscheinen, erst dann, wenn z.B. das zentrale Motiv einer Philosophie einmal begriffen ist, gewinnen philosophische Texte die Bedeutung adäquater Zeichen. Es gibt demnach so etwas wie die Übernahme der Gedanken eines Anderen, ein Vermögen, dem Anderen nach zu‐denken, durch das unsere eigenen Gedanken sich bereichern […].«128 Bezugnahme (nunmehr bloßer Arbeitsbegriff) ist dabei nichts, was von der Welt oder sinnlich »Gegebenem« kommend (so zusagen bottom up) unsere Überzeugungen wahr machen könnte. Denn »in Wirklichkeit ist es nämlich so, dass noch nie jemand imstande gewesen ist, in nichttrivialer Weise anzugeben, was für ein 125 Merleau-Ponty: Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 214. 126 Davidson, Donald: Wissen, was man denkt, a.a.O., S. 60. Vgl. auch ebd., S. 77: »Wer die Worte und Gedanken des anderen interpretiert, muss sich, um den anderen zu verstehen, auf verstreute Informationen, geglückte Unterweisung und phantasievolle Mutmaßungen verlassen.« 127 Vgl. Wittgenstein, Ludwig: PU, insb. §§ 19, 23, 24. Vgl. hierzu Gier, Nicholas F.: Wittgenstein and Forms of Life, in: Philosophy of the Social Sciences 10 (1980), S. 241- 252. Vgl. Daniel, Whiting: Languages, language‐games, and forms of life, in: Glock, H.-J. und Hyman, J. (Hg.) The Blackwell Companion to Wittgenstein, New Jersey 2018, S. 420 – 433. 128 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O. S. 212.
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›Ding‹ es sei, das einen Satz (oder sonst einen Wahrheitsträger) wahr mache.«129 Sondern Bezugnahme ergibt sich immer erst durch eine kohärente Abstimmung und zielführend top down – wenn man an diesem irreführenden Bild einer über den Dingen schwebenden Subjektivität festhalten möchte. D.h. aber, dass sich uns ein bestimmter Gegenstand als Konvergenzpunkt unserer Überzeugungen immer nur als geeignet (durch unsere jeweilige Lebensform in den meisten Fällen freilich geradezu verbürgt) nahelegen kann. Und die situative Identifikation von etwas als etwas bleibt wiederum selbst ein interpretatorisches Unterfangen und uns stehen keine Garantien zur Verfügung, ob der derart auserkorene Bezugsgegenstand auch wirklich hält, was er verspricht. Ob er so zusagen »aushält«, was wir mit ihm verbunden sehen wollen. Es ist eben eine Übereinstimmung ohne Vergleich oder richtiger: ein Vergleich ohne (von außen bestimmbare) Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, dem wir in unserem weltlichen Handeln ausgesetzt sind und dem wir versuchen, durch die stets mitlaufende, kognitive Kartographie der Welt und der gemeinsam koordinierten Abstimmung unserer Überzeugungen Herr zu werden.130 Nun ist jedoch jede Spielart von Kohärentismus dem Standardeinwand ausgesetzt, dass es potenziell unendlich viele, in sich schlüssige Beschreibungen von etwas geben kann (wie es das Reich der Märchen und Fiktionen beispielhaft illustriert, in denen die Ereignisse innerhalb des diegetischen Universums durchaus Sinn ergeben, ohne dabei objektiv gesehen wahr zu sein, d.h. mit irgendetwas außerhalb der Erzählung übereinzustimmen), ohne dass sich angeben ließe, welcher von den vielen Alternativen der Vorzug zu geben wäre.131 Darauf wollen wir zusammen mit Davidson in aller Kürze antworten, dass der Einwand verkennt, dass wir es hier mit keinem geschlossenen, rein formalen Holismus im oben aufgezeigten Sinn zu tun haben, der sich jetzt die Anwendungsfrage gefallen lassen müsste. 129 Davidson, Donald: Indeterminismus und Antirealismus, a.a.O., S. 128. Vgl. auch Wellmer, Albrecht: Wie Worte Sinn machen, a.a.O., S. 35. 130 Was freilich in unserer völlig domestizierten, kulturellen Umwelt weitestgehend unproblematisch ist und nur in der völligen Fremde (sollte es derer in der globalisierten Informationswelt überhaupt noch geben) seine Aktualität unter Beweis stellen muss – natürlich auch, weil identifizierende Fehleinschätzungen in einer auf den Menschen zugeschnittenen Kultur und Zivilisation weniger gravierende Folgen nach sich ziehen als in einer für den Menschen noch immer bedrohlichen und »unbewältigten« Umwelt, in der angestoßene Umstrukturierungen der eigenen Überzeugungen wesentlich einschneidender sein dürften, wenn eine Identifikation-als in entscheidender Hinsicht »daneben liegt«. 131 Ein Einwand der im Grunde dem Einwurf gegen den oben diskutierten »formalen Holismus« entspricht. Für eine generelle Vereinbarkeit von Kohärentismus und einem realistischen Wahrheitskonzept vgl. bspw. Rorty, Richard: Beyond Realism and Anti-Realism«, in: Wo steht die analytische Philosophie heute?, hg. v. L. Nagl und R. Heinrich, Wien 1986, S. 103-115. Ebenso Rorty, Richard: The World Well Lost, in: ders., Consequences from Pragmatism, Minneapolis 1982, S. 3 -18.
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Denn der Einwand verkennt sozusagen erstens den Ort der Konstitution sprachlicher Bedeutung, bei dem externe Faktoren (wie die Auseinandersetzung mit einer gemeinsamen (Um-)Welt in Überkreuzung mit der Perspektive einer zweiten Person) bereits von vornherein und nicht erst im Nachgang in die Gehalte unserer Sprache mit eingegangen sind. Zweitens bestimmt er die Grenzen der Leistungsfähigkeit unserer Sprache(n) falsch, die nicht lediglich dadurch »funktionieren«, dass sie uns die eine mögliche und als einzig sinnvolle Beschreibung der Welt aufzudecken erlauben, die jetzt unter den Beliebigkeitsverdacht geraten würden. Denn die abgesteckten und de facto existierenden Relationen, die eine Sprache als kohärentes System durchstrukturieren und ihre jeweiligen Bedeutungen individuieren, sind selbst (wie im Beispiel der Gewichte) nur eine praktikable »Lösung« die »wir […] benötigen, um bestimmten Beziehungen zwischen den Gegenständen auf der Spur zu bleiben.«132 Und drittens deutet der Vorwurf an einen solchen Sprachkohärentismus die generelle Natur von Überzeugungen falsch, die nach Davidson dazu tendieren, im Großen und Ganzen wahr zu sein, da die grundlegendsten unter ihnen, kurz gesagt, als Überzeugungen sich inhaltlich auf die Widerstände der Welt schon eingelassen haben und einlassen mussten und bereits semantische »Antworten« darstellen auf eine vorab erbrachte, kausale Interaktion mit der Welt. »[Es] ist offenbar ausgeschlossen, dass die Mehrzahl unserer schlichtesten Ansichten über das, was in der Welt existiert, falsch ist. Der Grund ist, dass wir nicht zuerst Begriffe bilden und dann herausbekommen, worauf sie zutreffen; vielmehr ist es so, dass in den fundamentalsten Fällen die Anwendung den Inhalt des Begriffs bestimmt.«133 Was uns durch das Kritisieren des Referenzgedankens nun ebenfalls möglich wird, ist die endgültige Verabschiedung des Gedankens, Bedeutungen seien etwas Dingliches. Eine Vorstellung, die zum einen grammatikalische Wurzeln hat, da wir durch die Subjekt-Objekt-Struktur unserer (und verwandter) Sprache(n) immer schon sagen und denken, dass etwas mit etwas anderem der Fall ist und es so und so darum »steht«, und was zweitens durch die beschriebene (Teil-)Externalisierung von Bedeutungen genährt wird. Denn, wenn Bedeutungen kein Privatbesitz sind134 , keine individuellen Vorstellungen und ihren Konstitutions-Ort im Intersubjektiven haben, wie gelangen sie dann (überhaupt) »ins« Denken und können von diesem angewandt werden? Kurz, »was ist dem Geist gegenwärtig?«135 , wie der sprechenden Titel eines von Davidsons späteren Aufsätzen heißt. Denn, wenn 132 Davidson, Donald: Indeterminismus und Realismus, in: ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, a.a.O., S. 137. 133 Davidson, Donald: Externalisierte Erkenntnistheorie, a.a.O., S. 326. 134 Vgl. hierzu auch Peters, John Durham: Speaking into the Air. A History oft he Idea of Communications, Minneapolis 1996, insb. S. 166. 135 In: Davidson, Donald: Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, a.a.O., S. 102 – 127.
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Bedeutungen keine geistigen Dinge sind, wir aber trotz allem bedeutungsvoll denken, wie gelangen sie dann »ins« Denken? Dieses »Problem könnte man ebenso gut als das Problem des Standorts der Gegenstände des Geistes bezeichnen: Sind diese Gegenstände im Geist oder werden sie bloß von ihm betrachtet?«136 Doch alleine diese Zweiteilung ist irreführend und der Glaube, dass wir uns auf Gegenstände im Denken beziehen, rührt für Davidson einzig und allein daher, dass wir Propositionen zur Identifikation und Individuierung von Gedanken anderer heranziehen müssen, wenn wir die Position des radikalen Interpreten einnehmen. Denn nur Propositionen sind ja differenziert genug, um quasi als Abbildungsmaßstab für die fremdpsychischen Inhalte herhalten zu können.137 Das ist aber die Perspektive eines Dritten, der diese Art von Beziehung etabliert, indem er einer Person Glaubens-Sätze zuordnet, die dann ausdifferenzierte Propositionen erfordern, die auf einen dass-Satz folgen (können): z.B., dass Paul glaubt, dass »die Katze auf der Matte liegt«. Doch die Frage ist ja, in welcher Beziehung Paul bzw. die erste Person zum Gegenstand ihres Denkens und Glaubens steht und ob diese überhaupt sinnvoll als »Beziehung« beschrieben werden kann? Hält man an dieser Idee fest, endet man nämlich in allerlei geläufigen Aporien. Beispielsweise derjenigen, dass man aus der intersubjektiven Konstitution unserer begrifflichen Gehalte vorschnell zu deren vollständiger Externalisierung übergeht und in der Folge zur der Annahme gelangt, dass wir manchmal gar nicht wirklich wissen können, was wir glauben, weil wir niemals (vollständig) glauben, was es über ein etwas (alles) zu wissen gibt. Oder anders: weil der volle Bedeutungsumfang eines begrifflichen Konzepts sich nicht »im Kopf« einer einzelnen Person befindet, muss er (so die Annahme hartgesottener Externalisten) ein vom Subjekt unabhängiges Eigenleben führen.138 Und dies scheint wiederum die Autorität der ersten Person zu gefährden, die doch (mehr als jeder andere) wissen müsste, was sie denkt. Doch die Opposition kann so nicht stimmen und die Frage kann nicht sein, ob man äußere Faktoren in die Bedeutungsbildung mit eingehen, sondern 136 Davidson, Donald: Wissen, was man denkt, in: ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, a.a.O., S. 72. 137 Vgl. Davidson, Donald: Indeterminismus und Realismus, in: ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, a.a.O., S. 138f.: »Welche Gegenstände können wir benutzen, um uns über die Einstellungen [einer anderen Person, R.Z.] zu unterrichten? Offensichtlich müssen sie ein annährend ebenso komplex gestaltetes Feld bilden wie die einzelnen Einstellungen selbst. […] Zu den Entitäten, die diese erforderlichen Eigenschaften aufweisen, gehören unsere Sätze, und es ist keineswegs klar, dass es irgendeine andere Entitätenmenge gibt, die das gleiche leistet (außer den Äußerungen).« 138 Ein prominentes Beispiel für eine solche radikale Externalisierung ist sicherlich der Gedanke an die subjektlose »Eigenbewegung« der différance bei Derrida, die dem subjektiven Vollzug der Sprache vorgeschaltet bleibt. Vgl. Derrida, Jacques: Die différance, in: ders., Die différance. Ausgewählte Texte, Stuttgart 2004, S. 110- 150. Vgl. zum Begriff der »différance« auch ders., Grammatologie, Frankfurt a.M. 2013, S. 44. Vgl. ebenfalls ders., Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Die différance. Ausgewählte Texte, Stuttgart 2004; S. 68 – 110.
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»wie man die Abhängigkeit der Identifikation des geistigen Inhalts von äußeren Faktoren deutet.«139 Dass mein Denken sprachliche Inhalte nicht autonom und im Alleingang setzt, dürfte nach den bisherigen Überlegungen außer Frage stehen, doch ist es auf der anderen Seite ebenso verkürzt zu behaupten, dass wir durch den sozialen Faktor der Bedeutungskonstitution in unserem Denken unweigerlich und heteronom fremdbestimmt würden. Und das aus dem einfachen Grund, dass die Implikationen meiner Begriffe, um (für mich) funktionstüchtig zu bleiben, d.h., um für mich im denkenden Vollzug aktualisiert und angewandt werden zu können und sich so als einsatzfähig zu erweisen, in ihren Verzweigungen quasi an ein Ende gelangen müssen. Und diese Limitation muss nicht mit dem gesamten sozialen Bedeutungsumfang eines Begriffs zusammenfallen und kann es meistens auch gar nicht. Was ja nur die Kehrseite der »Arbeitsteilung« unserer begrifflichen Konzepte sein dürfte, die sich immer weiter anreichern lassen, ohne dass wir persönlich mit einer jeden dieser Bedeutungserweiterungen gedanklich Schritt halten müssten, um sie in unserem alltäglichen Denken und Sprechen ihre Arbeit aufnehmen zu lassen. Ein Umstand, der uns allerdings meistens erst bewusst wird, wenn wir versuchen, uns gegenseitig sprachlich auf den Standpunkt des jeweils anderen einzustellen und dabei bemerken, dass wir (trotz eines nahezu identischen Vokabulars) aneinander vorbeigeredet haben – und das, obwohl wir anfangs noch überzeugt waren, dasselbe zu sagen. Warum? Weil es keine Garantien dafür gibt, dass die Implikationen, die ein Sprecher mit seiner Aussage zum Ausdruck bringen möchte auch dieselben Schlussfolgerungsbeziehungen auf Seiten des Hörers aktiviert, weil es keine Möglichkeit gibt, vorab den Bedeutungsumfang einzusehen, den ein sprachliches Konzept für den jeweiligen, individuellen Sprecher hat. Und genau dieser Umfang ist es, der während des Sprechens und während der Kommunikation neu »ausgemessen« und »zurechtgerückt«, neu be-messen wird, indem wir andere Worte und eine andere Herangehensweise wählen, die den Standpunkt und das semantische Umfeld des Gegenübers in Bewegung versetzen, um sie anschließend wieder neu zum (vorläufigen) Still-Stand mit Hilfe von entsprechenden FestStellungen zu bringen.140 Im alltäglichen Sprachgebrauch werden wir eher ver139 Davidson, Donald: Wissen, was man denkt, in: ders., a.a.O., S. 56. [Meine Hervorhebung]. 140 Jeder, der beruflich mit einem größeren Pensum an Kommunikation betraut ist, wird darin schlicht eine Beschreibung und ein Eingeständnis in die alltäglichen »Reibungsverluste« wiedererkennen, die erhebliche Mühen und Kosten verursachen können. Doch während die Beschreibung als »Reibungsverlust« ihrerseits suggeriert, dass ein klar konturierter Gedanke und seine Implikationen durch die verschiedenen Kanäle, durch die er »vermittelt« wird, mehr und mehr »abgeschliffen« und »verbraucht« wird und dadurch an »Eindeutigkeit« verliert, ist es im Gegenteil angemessener davon auszugehen, dass »der« Gedanke sich noch gar nicht derart hat stabilisieren und konturieren können, sich aufbauen können, als dass er für beide Parteien »dasselbe« gemeint hat. Was dann aber nichts anderes bedeutet, als dass es zu keiner analo-
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suchen, die Koordinaten zu wählen und zu benennen, die im Schnittpunkt allgemeinverständlicher, semantisch‐logischer Verweisungen liegen, in der Hoffnung, mit deren Nennung auch unser Gegenüber an einer ähnlichen Stelle seiner eigenen Überzeugungen verorten zu können, von der auch unsere eigene Aussage ihren Ausgang genommen hat. »Wenn der Sprecher verstanden werden möchte, muss er die Absicht haben, dass seine Worte in bestimmter Weise interpretiert werden, und daher muss er auch beabsichtigen, seinen Hörern die Anhaltspunkte zu geben, die sie benötigen, um zu der beabsichtigten Interpretation zu gelangen.«141 Ich selbst (die erste Person) »beziehe« mich dabei aber nicht auf (reale) Gegenstände, sondern bin durch meine Überzeugungen auf (potenzielle) Situationen eingestellt, in denen diese Gegenstände (real) vorkommen (könnten) und die ich vorgreifend als Wirkungszusammenhang imaginiere und dadurch auf eine gewisse Weise (vorab) glaube, diesen begegnen zu können – denen ich mich gegenüber zu verhalten weiß. Aus vertikalen Beziehungen »auf« die Welt werden damit (um ein ähnliches Bild zu wählen) horizontale Ausrichtungen »zur« Welt, ein modifiziertes »Zur-Welt-Sein«, wie wir es mit Merleau-Ponty noch genauer kennen lernen werden. »Der einzige Gegenstand, der für die Existenz einer Überzeugung [dabei, R.Z.] erforderlich ist, ist jemand, der etwas glaubt. Eine Überzeugung haben, ist etwas anderes als eine Katze haben – es heißt, dass man sich in einem Zustand befindet. […] Dass man eine Überzeugung hat, heißt bloß, dass man eine Eigenschaft an den Tag legt – dass ein bestimmtes Prädikat auf einen zutrifft. Aber um über genügend Prädikate für alle Überzeugungen zu verfügen, die man vielleicht auseinanderhalten möchte, muss man die Prädikate konstruieren, indem man ein relationales Verb verwendet und eine der Stellen mit einem Ausdruck ausfüllt, der sich auf einen […] Gegenstand bezieht.«142 Sich in einem Zustand zu befinden, bedeutet zwar entgegen Davidsons Einschätzung sicherlich mehr, als nur, dass ein »Prädikat auf einen zutrifft«, doch der Punkt dürfte trotzdem deutlich geworden sein. Es gibt es keine »full‐fledged relation between a thinker/perceiver and a thing«, keine »conscious reference«, mit der wir ins in Gedanken auf etwas beziehen (»to refer in thought to something«143 ), wie es noch immer in Sprach- und Wahrnehmungsphilosophien selbst jüngeren Datums herumgeistert (vor allem im Umfeld eines »Neuen Realismus«144 ), in der Hoffnung,
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gen »Abstimmung« zweier Überzeugungslandschaften kam, bei denen sich Unstimmigkeiten bereits mit der Wahl der getroffenen Eingangs-Aussage hätten bemerkbar machen können. Davidson, Donald: Wissen, was man denkt, in: ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, a.a.O., S. 62. Davidson, Donald: Indeterminismus und Antirealismus, a.a.O., S. 136f. [Meine Hervorhebung]. Noë, Alva: Varieties of Presence, a.a.O., S. 24. Gabriel, Markus (Hg.): Der Neue Realismus, Berlin 2014.
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durch diesen direkten Kontakt mit der Welt die empirische Komponente unserer Erkenntnisse nicht aus den Augen zu verlieren. Das Bild von dem berühmten Intentionalitätspfeil ist aber mehr als irreführend: denn wir beziehen uns nicht per Gedankenstrahl auf Dinge in der Welt, zielen nicht auf sie ab wie der Bogenschütze auf eine Zielscheibe. Wir können ohne eine magische Theorie der Bezugnahme nicht davon ausgehen, »dass Wörter und Gedankenzeichen durch okkulte Strahlen – nennen wir sie ›noetische Strahlen – mit ihren Bezugsgegenständen verbunden werden«145 , wie Putnam noch vor seiner eigenen Wende gesagt hat. Das intentionale Objekt ist kein Ding, sodass dass wir behaupten könnten, dass »all thought is directed to its object thanks to the thinker’s skillful access to the object.«146 Eine solche Beschreibung ist vielmehr der Angst vor einem (mentalen) Repräsentationalismus geschuldet, der unsere privaten Episoden einst als das Fundament für sprachliche Bedeutungen angesetzt hatte. Doch es ist nicht hilfreich zu glauben, unserem unvermittelten In‐der-Welt-Sein nur dadurch begegnen zu können, dass man nunmehr ins andere Extrem ausschlägt und sämtliche Freiräume zwischen uns und der Welt, sämtliche Möglichkeiten zur Stellvertretung abstreitet, was uns zu der Annahme nötigen würde zu behaupten, »when I think of my friend Dominic in Berlin, my thoughts pertain to him and not, say, to an idea of him, or an image of him.«147 Denn wie machen sie das? Es klingt schon stark nach Obskurantismus, wenn auf diese Frage keine (befriedigende) Antwort gefunden werden kann und nichtsdestotrotz an der Prämisse eines »direkten Kontakts« unserer Gedanken festgehalten wird. Der tatsächlich stattfindende, direkte Bezug ist nichts, was vor der realen, wahrnehmenden Begegnung mit dem Gegenstand oder der Person geistig (oder sprachlich) etabliert werden könnte, sondern ist dasjenige, was sich immer erst in einer Situation (partiell) ergibt, »weil Vorstellungen an sich […] ihren Gegenstand dem Dasein nach nicht hervorbringen«148 . Natürlich sind Noës Gedanken Gedanken an Dominic und an niemanden sonst, d.h., dass er seiner Vorstellung vom Stand der Dinge Dominic einen unverrückbaren Platz einräumt, der genau von etwas eingenommen wird, das er situativ dann mit Dominic identifizieren wird, wenn es zu einer (wahrnehmenden) Begegnung kommt. »Da keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht, als bloß die Anschauung, so wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern auf irgendeine andere Vorstellung von demselben […] bezogen. Denken ist Erkennt-
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Putnam, Hilary: Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a.M. 1982, S. 77. Noë, Alva: Varieties of Presence, a.a.O, S. S. 28. [Meine Hervorhebung]. Noë, Alva: Varieties of Presence, a.a.O Ebd., S. 24. Kant, KrV A 92, B 125.
3 Das Sein von Sinn
nis durch Begriffe. Begriffe aber beziehen sich, als Prädikate möglicher Urteile, auf irgendeine Vorstellung von einem unbekannten Gegenstand.«149 Wenn er an Dominic in Berlin denkt, dann denkt er nicht an Dominic simpliciter. Er denkt an Dominic als seinen Freund in Berlin, an Dominics gewinnende Art, wenn er mit Fremden redet, an Dominic, wir er Frauenherzen höher schlagen lässt, d.h. an Dominic im Schnittpunkt einer bestimmten Situations-Vorstellung. Was sollte es schon heißen, er denke ausschließlich an Dominic? Egal, wie er an ihn denkt: Dominic als intentionales Objekt dient seiner Vor-Stellung als variable Größe möglicher Interaktionen und das reine Aufstellen der »Figur« Dominic ist noch kein Zug im Denk-Spiel, wie wir Wittgenstein hier paraphrasieren können. Pure Referenz gibt es nur, wie gesehen, als Idealisierung, als veranschlagter Konvergenzpunkt im Intersubjektiven, der für Korrekturen empfänglich macht, da ich berücksichtige, was andere genau zu demselben Gegenstand zu sagen haben – was nur möglich ist, wenn ich meine idiosynkratrischen Einfärbungen nicht schon für das halte, was es über den Gegenstand sonst noch zu sagen gibt und daher verstehe, dass Objektivität und Wahrheit gerade eine de‐zentrierte Perspektive von mir auf die Dinge verlangen. Wenn ich aber in einem aktuellen Vollzug subjektiv an etwas denke, dann arbeite ich sozusagen erst einmal mit dem, was ich habe – mögen andere (wesentliche) Aspekte später wiederum intersubjektiv‐diskursiv eine Korrektur erfahren oder nicht. In meinem subjektiven Bezug gehe ich erst einmal von dem aus, was ich über ein Etwas (in dem Fall Dominic) weiß und denke dann vor dem Hintergrund all jener Vorannahmen anschaulich an etwas, das sich als Schnittpunkt mit all dem verträgt und in weitere Beziehungen zu etwas anderem treten kann und dabei seinen Zustand verändert und gewisse Reaktionen an den Tag legt – so zusagen im horizontalen Querschnitt und nicht im vertikalen Bezug. So, wie wir sagen: »denk dabei doch mal an Tante Else!« Okay, Tante Else, ganz subjektiv gedacht mit ihrem roten Lieblingspullover am Küchentisch… »Was würde die dazu sagen?« Was glaubst du, wie die das fände? Alles klar: Tante Elses Kopf mit vertreten Augen in ihren Frühstücksflocken…
149 Kant, KrV, A 69, B 94. Es sei daran zu erinnern, dass Kant hier einen abweichenden Gebrauch vom Begriff der »Vorstellung« macht. Denn er versteht darunter den (statischen) Inhalt einer Anschauung, der durch seine Mannigfaltigkeit erst noch einer synthetisierenden Beziehung auf einen koordnierenden Verstand bedarf, während ich den Begriff dem (in seiner Terminologie) Vermögen der »Einbildungkraft« selbst vorbehalten sehen möchte, deren »Objekt« gerade keine statische, sondern eine dynamische Größe sind, die diese begrifflich instrumentiert und projektiv‐situativ »durchspielen« kann.
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4 Wahrnehmung und Vorstellung
4.1
Vorstellungsgehalt und sprachliche Bedeutung
Ob Tante Else oder Dominic: an etwas zu denken, bedeutet nicht, in direkten Kontakt mit einem Etwas zu treten, sondern eine Variable in einem Netz möglicher Situationsvorstellung anzusiedeln, die wir gedanklich durchspielen können, um Beziehungen, Auswirkungen und Verhältnisse aufzudecken oder zu antizipieren, auf die wir uns vorab einstellen wollen. Das »show up in one’s concious thoughts«1 ist keine Sache des Denkens, bzw. keine alleinige Sache des Denkens, sondern eben ein show up – es ist eine Angelegenheit der Anschauung, unserer Urteils-, Vorstellungsund Einbildungskraft, die all das berücksichtigt, was an sprachlich abgefassten (intersubjektiv verbürgten) Feststellungen oder feststellbaren Aussagen das »Bild« betrifft, das wir uns von einer Situation machen sollten – möchten wir, dass unsere Einstellung, unser Verständigtsein zu der dann (potenziell) akut werdenden Situationskonstellation auch »passt«. Was wiederum (pragmatisch verstanden) nur bedeuten kann, dass es sich situativ bewährt. Es ist, wie Noë selbst im Vorrübergehen im Anschluss an Sartre bemerkt, »imaging consciousness«2 , das bei solchen »Gedanken an« zum Zuge kommt, auch wenn er diesen Unterschied stillschweigend übergeht. Auch wenn sprachliche Gehalte in ihrem vollen Bedeutungsumfang und ihrem Sein nicht mit privaten, mentalen Episoden zusammenfallen, so sind diese andererseits nicht einfach die Abbildung realer Dinge. Was sollte das auch heißen, was wäre das Kriterium, welches Problem hätte die Philosophie die letzten zweitausend Jahre lang überhaupt versucht zu formulieren? Wir sind im Gegenteil durch unsere propositional reformulierbaren Einstellungen in richtungsweisender Art situativ sich dann realisierenden Dingen zugewandt3 , so dass sie eine Ausrichtung auf uns erhalten 1 Noë, Alva: Varieties of Presence, a.a.O. S. 27. 2 Ebd., S. 26. [Meine Hervorhebung]. Michael Tye behauptet gar, dass der Gehalt visueller Wahrnehmung »is on par with the properties of being a thought and being a desire.« Ders., Visual qualia and visual content, a.a.O., S. 167. 3 Gerade Franz Brentano, auf den das Konzept der »Intentionalität« zurückgeht, hat diese »Bezogenheit« als »(Aus-)Gerichtetheit« des Denkens gefasst und gerade von der Frage unabhängig ge-
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Der Stand der Dinge
und eine gewisse Seite an den Tag legen, die in der Situation akut werden könnte, in der sie so vorkämen, wenn all das zutrifft und (real) eintrifft, was wir uns vorab (imaginativ) »zurechtgelegt« haben, aufgrund des sprachlichen Gehalts, den wir situationsgerecht und dazu passend für unsere Vorstellungskraft aufrufen können. Dass wir uns gedanklich auf etwas beziehen können, liegt an den Vorstellungen, die wir uns vorgreifend oder retrospektiv vom Stand der Dinge machen und den wir soweit zurechtrücken können, dass unser »Bild« von der Situation ein derartig stimmiges Ganzes ergibt, dass es genügend zu erwartende Folgeerscheinungen berücksichtigt, um die Situation akut anhand der in Stellung gebrachten (Vorstellungs-)Gehalte handhaben zu können. Dieses »Bild« baut sich dabei aus sprachlich verstandenen und sprachlich existierenden »Objekten« und d.h. eben semantischen »Variablen« auf, ihrer unterschiedlichen Gewichtung, Einflussnahme und Wirkung aufeinander, ihrer Position und Lage zueinander. Und wenn die Idee, die wir uns von etwas machen, auch noch so richtig ist, d.h., in Konfrontation mit der Realität standhalten wird, ist damit ja noch lange nicht gesagt, dass es überhaupt so kommen muss oder das dies der einzig mögliche und sinnvolle Zugang zu den (potenziellen) Dingen unserer (zukünftigen) Umgebung wäre. Jetzt, wo ich weiß (weil ich es vorher gedanklich durchgespielt habe, mir die Verbindungen, Relationen und Folgeerscheinungen klargeworden sind und damit die möglichen Reaktionen), was passieren wird, wenn ich Tante Else davon (von dem »Gegenstand« meiner Überlegungen) erzähle und sie davon unter‐richte und damit selbst ihre Einstellungen analog aus‐richte, kann ich ja immer noch Abstand davon nehmen. Oder aber, ich entschließe mich zu diesem (unvermeidbaren) Schritt, und sorge wenigstens dafür, dass sie bequem sitzt, wenn ich ihr schon die Wahrheit eröffnen muss. Was natürlich darüber hinaus auch den falschen Adressaten mit einschließen kann, wenn ich gar nicht Tante Else, sondern eine ihr nur ähnlich sehende Person (ich sollte sie wirklich öfters besuchen) mit meinem Geheimnis vertraut mache – und mich wundere, wie gefasst sie das Ganze nimmt… macht, ob es sich dabei auf real existierende oder nur gedachte Gegenstände richtet. Intentionalität ist nach Brentano daher ontologisch neutral. Vgl. Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd I., Hamburg 1924, S. 124f.: »Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und das wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist) oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden.« Vgl. auch Armstrong, D.M.: A Materialist Theory of the Mind, London 2001, S. 41: »Some, perhaps all mental states ›point‹ beyond themselves. The visual experience of a tree ›points‹ to a tree. The intention to have a dinner ›points‹ to the dinner […]. But, although I have used the graphic word ›pointing‹, the realtion involved cannot be construed as a relation between the person in that mental state, and some object in the world […]. The term ›intentionality‹ is somewaht unhappy. It suggests a special link between intentionality and intentions which does not exist.«
4 Wahrnehmung und Vorstellung
Der große Vorzug des menschlichen Weltverhältnisses liegt gerade in dessen Fähigkeit zum Hypothetischen, zum Möglichen4 , zur Stellvertretung, was aber auch die ständige Gefahr (nicht nur in der metaphysischen Spekulation) in sich birgt, »durch leere Vernünfteleien von den bloßen formalen Prinzipien des reinen Verstandes einen materialen Gebrauch zu machen, und über Gegenstände ohne Unterschied zu urteilen, die uns nicht gegeben sind, ja vielleicht auf keinerlei Weise gegeben werden können.«5 Und das ist genau der Punkt: sie sind uns gerade noch nicht realiter gegeben (durch die Wahrnehmung), nur weil wir mit ihnen gedanklich stellvertretend operieren können. Was auch bedeutet (um den Bogen zur Ausgangfrage zu schlagen), dass die sozial bedingte Externalisierung von sprachlichen Gehalten uns nicht den Gegenstand unseres Denkens abspinstig macht – denn es gibt keinen Gegenstand des Denkens; das intentionale Objekt lässt sich nicht analog zu physikalischen Objekten konstruieren, sondern ist als antizipiertes Wirkungszentrum Bestandteil einer integrativen (Situations-)Vorstellung, bedingt diese und bleibt dieser selbst unterworfen. Eine passende Entgegnung auf ein nicht aufzulösendes VerständigungsProblem wäre entsprechend nicht: Ich verstehe das nicht, sondern ich verstehe Dich nicht. Ich verstehe deine Sicht auf die Dinge nicht, deine Perspektive. Wenn wir sagen: »Ich verstehe nicht, was Du sagen willst«, dann täuscht das Was grammatikalisch eine klar umrissene Einheit vor, von der wir versucht sind, einen einzelnen Gegenstand oder einen Komplex an Gegenständen darauf abzubilden. Doch, was wir tatsächlich nicht verstehen, ist ein Sachverhalt; die Verhältnisse, Relationen und Verbindungen, die dem anderen klar »vor Augen stehen« und bei denen es uns nicht gelingt, sie unser eigenes Denken analog durchstrukturieren zu lassen, um uns ein ähnliches »Bild« machen zu können. Wenn wir versuchen, uns über etwas zu verständigen, dann sind wir gegenseitig dazu angehalten, uns auf einen gemeinsamen Stand zu ver-ständigen, ihn zu »verstetigen«, ihm Stabilität zu verleihen durch eine gewisse Abstimmung unserer Vorstellungen. Sprachliche Bezugnahme ist kein aktives Unterfangen, das wir aus der Sprache heraustretend durch die Verknüpfung unserer Begriffe mit der Welt praktizieren würden und in der das Referenzobjekt schon fertig vorläge und das nur darauf wartet, durch diesen Akt der Verknüpfung mithilfe eines begrifflichen Konzepts aus der Menge der Dinge herausgehoben und in die intelligible Sphäre unseres Denkens überführt zu werden. Denn es kann ja auch sein, dass wir (noch) gar nichts Wesentliches über ein Etwas in Erfahrung gebracht haben, es eine pure »Leerintention«6 ist (wie Husserl 4 Vgl. Blumenberg, Hans: Anthropologische Annäherung an die Rhetorik, in: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Suttgart 2009, S. 115. 5 Kant, KrV, A 63, B 88. 6 Vgl. Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen, Zweiter Band, Halle 1922, S. 548.
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sagen würde), d.h., dass wir vielleicht lediglich den Namen kennen und eine gewisse, allgemeine Eingruppierung vornehmen können anhand hervorstechender Merkmale, die es uns erlauben, ein Etwas zumindest im Voraus als Beförderungsmittel, Lebensmittel, Werkzeug, Kleidung etc. einzustufen, weil wir uns vor allen weiterführenden Bestimmungen (und für unsere kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit sicherlich sinnvoll) vor dem Hintergrund ineinandergreifender Orientierungen bewegen, die uns nicht einzelne Dinge, sondern ganze Umgebungen oder weitläufige Orte als etwas erschließen. »Daraus, dass ein denkendes Subjekt weiß, was es denkt, und daraus, dass das, was es denkt, ermittelt werden kann, indem man es zu einem bestimmten Gegenstand in Beziehung setzt, folgt nicht, dass das denkende Subjekt mit diesem Gegenstand bekannt ist oder auch nur irgendetwas darüber weiß.«7 Die Idee an einen unmittelbaren Kontakt des Denkens ähnelt den Versuchen des frühen Empirismus, unsere Erfahrungen auf unmittelbare Eindrücke oder Impressionen zurückzuführen. »Die Ableitung unserer Ideen von impressions soll diese Ideen auf einen Ursprung zurückführen, der ihnen ihre Zufälligkeit nimmt. Dadurch, dass Ideen, Erfahrungen oder Behauptungen auf vermeintlich unmittelbare Sinnesempfindungen bezogen bzw. von diesen abgeleitet werden, ist ihr Auftreten nicht mehr kontingent oder spontan […]. Vielmehr wird der entsprechende geistige Gehalt durch diesen Bezug kontrollierbar und intersubjektiv nachvollziehbar.«8 Sich auf etwas einzustellen, kann aber nur bedeuteten, dass wir diesem Etwas den beschriebenen Platz einräumen in unseren Überlegungen, ihm ein zu berücksichtigendes Aktionspotenzial oder Wirkungsrecht zugestehen, das sich in unseren Vorannahmen und Überzeugungen spätestens dann Geltung verschafft, wenn wir eine Situation von einem gewissen Standpunkt imaginierend auf‐stellen, in der dieses Etwas eine bestimmte Position bezieht, in der es seinerseits einen komplexen Zusammenhang anhand dieses Potenzials beeinflusst oder von ihm beeinflusst wird. Dass wir etwas nicht verstehen, drücken wir ja oft genug dadurch aus, dass wir es uns nicht vorstellen können. Das kann aber nun nicht bedeuten, dass wir uns dieses Etwas nicht in seinem Aussehen, seinem So-Sein oder seiner Erscheinung vergegenwärtigen können; denn irgendein idiosynkratisch gefärbtes und unter Umständen völlig klischeebeladenes Vorstellungs-Bild werden wir ihm schon unterschieben können. Nein, sich etwas nicht vorstellen zu können, heißt, die räumliche und 7 Davidson, Donald: Was ist dem Geist gegenwärtig, a.a.O., S. 111. Dass das denkende Subjekt überhaupt nichts über seinen Gegenstand zu wissen braucht, scheint mir allerdings dann doch ein wenig zu stark. Denn wie erwähnt, sind ja auch Identifikationen ein interpretatives Geschäft. Doch vielleicht behält Davidson auch hier letzten Endes Recht, wie wir weiter unten noch sehen werden, wenn er sagt, »dass jede Eigenschaft eines Gegenstandes unter den entsprechenden Bedingungen als relevantes Identifikationsmerkmal angesehen werden kann.« [ebd., S. 107.] 8 Hampe, Michael: Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus, Frankfurt a.M. 2006, S. 102f.
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zeitliche Einwirkung des einen auf das andere nicht nachvollziehen zu können, die Verbindung nicht zu sehen, das Ineinandergreifen verschiedener Wirkungen und eine daraus resultierende Ereignisabfolge in keinen Gesamtzusammenhang (imaginierend) bringen zu können, die einer räumlichen Anordnung entspricht, deren einzelne, zeitliche Entwicklungsstationen für sich genommen begrifflich‐objektiv antizipiert werden können – hat man sie denn verstanden. Eine Phrase, die nicht zufällig zum Tragen kommt, wenn es um den Handlungsaspekt eines Ereignisses geht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er das tun konnte: Einen Mord begehen, einen Berg besteigen, in seinem Alter alles hinschmeißen und sein Glück als Musiker in einer Vierer-WG in Berlin suchen. Aber auch Theorien können (nicht nur für Schüler) unvorstellbar sein. Was dann zumeist Visualisierungen und Diagramme erfordert, in denen die entscheidenden Beziehungen und Wirkungen zwischen den Dingen graphisch hervorgehoben werden, die aus der rein abstrakten Beschreibung nicht für jedermanns Vorstellungsvermögen hervorgehen und damit nicht dasselbe »Bild« ergeben. Die inhaltliche Bestimmung des Anschauungsgehaltes, mit dem unsere Vorstellungskraft begrifflich operiert, gleicht in einer solchen Perspektive mehr einem ausgesparten Entfaltungsraum oder positiven Aussparungen für reale Ereignisse, über deren (kausale) Abmessungen und (räumlichen) Auswirkungen in einer dann wahrnehmbaren, kontinuierlichen (und uns einschließenden) Umgebung wir uns vorab (sprachlich) Gedanken machen und über die wir uns intersubjektiv verständigen können, um mehr und mehr von den (potenziellen) Folgen dieser Gegenstände auf die Situation abzudecken.9 Ohne diese grundlegende Möglichkeit zu Stellvertreter-Handlungen,10 wäre ja die soziale Realität in ihrer gesamten Tragweite, ihren Ämtern, sozialen Rollen, In9 Als »Limesphänomen« kommt dieser Wesenszug der Intentionalität nicht umsonst in der existenziellen Grundbefindlichkeit der »Angst« zu Wort, wie sie u.a. Kierkegaard, Heidegger und Blumenberg beschrieben haben. »Das Wovor der Angst ist das In‐der-Welt-Sein als solches«, wie es in Sein und Zeit heißt. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, a.a.O., S. 186. Oder in dem Aufsatz Was ist Metaphysik?: »Die Angst offenbart das Nichts. Wir ›schweben‹ in Angst. Deutlicher: die Angst lässt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt.« Heidegger, Martin: Was ist Metaphysik, in: ders.: Wegmarken, Frankfurt a.M. 2004, S. 112. Vgl. auch Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929, S. 228. Durch die Angst wird uns unsere Ausgesetztheit an die Möglichkeiten eines offenen, noch unbesetzten Zukunftshorizontes gerade dadurch bewusst, dass sie eine Art Vorstufe zu aller möglichen »Vergegenständlichung« darstellt. 10 Der intentionale »Zwischenbereich« zwischen gedachter und realer Welt, der unser geistiges Probehandeln in einem imaginierten Umfeld ermöglicht, ohne zugleich reale Konsequenzen befürchten zu müssen, ist so grundlegend für unsere Existenzweise und unsere eigene Position inmitten der Welt, dass wir auf die Frage nach der »Position des Subjekts«, der »exzentrischen Positionalität des Menschen«, wie es Helmuth Plessner genannt hat, mit Heidegger und Merleau-Ponty noch einmal weiter unten zu sprechen kommen werden. Vgl. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1975, S. 288ff.
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stitutionen und Praktiken gar nicht verständlich zu machen. Auf primitiver Stufe am deutlichsten im Atavismus zu finden, der aus Angst vor dem Unbekannten und eben noch nicht Greifbaren zu »Substitutionen von Gegenständen für das Unbenannte ihres vermeintlichen Gegenstandes [treibt]. Er schafft sich Rituale, die Dämonen zu bannen, den einen großen Feind zu benennen, die bildlose Macht durch Illustration zu besänftigen.«11 Wenn wir uns Gedanken über den möglichen, objektiven Gehalt von etwas machen, der uns durch die sprachliche Eingruppierung vorab umrissen wird, dann geht es nicht darum, einen Gegenstand (intentional) zu »treffen«, sondern um unser Verhalten, das versucht, die Kontrolle über eine (reale) Situation zu bewahren. Und einzig als objektive Geltung kann eine semantische Koordinate Einzug halten in die eigenen Überzeugungen, die sie für wahr erachtet und dieser Geltung ihren Platz einräumt innerhalb einer (vorausgreifenden) Vorstellung und ihr dadurch überhaupt erst jeden weiteren Gehalt zumisst. Und dieser Gehalt enthält neben der Anordnung der möglichen, sprachlich identifizierbaren Dinge auch die (nicht von diesen zu trennende) Antizipation von deren möglicher Einflussnahme auf eine akut werdende Gesamtsituation. Unsere Vorstellungen von der Welt belaufen sich nicht exklusiv auf die Identität, auf das »Wesen« von etwas, sondern immer auch auf dessen mögliche Intensität und Wirkungsmacht, die von uns aktiv abgewogen und (imaginativ) eingeschätzt werden muss und die als objektives Ausmaß für unsere Erkenntnis Berücksichtigung findet, als das sich (uns) entgegenstellende Ausgreifen in die raum‐zeitlich sich realisierenden Verhältnisse. Denn es ist ja nur eine Situation, eine Ereignislage, ein Zustand dadurch, dass sich verschiedene Einflussnahmen zu Wort melden und jeweils ihre Geltung ausspielen, die wir zu berücksichtigen haben, wenn wir uns auf die Situation einlassen (wollen) oder uns (unverhofft) in ihr vorfinden. Und die (richtige) Einschätzung einer Situation besteht gerade darin, abwägen zu können, was wir unter einem handlungsleitenden Aspekt handlungseffizient unberücksichtigt lassen können, durch seinen Stellenwert in dieser Konstellation »links liegen« lassen können, während andere Aspekte, die vorab vielleicht eher unbedeutend gewirkt haben, jetzt unsere volle Aufmerksamkeit erfordern. D.h. aber, dass wir deren »Potenzial« (und das ist eine weitere Facette ihres sich jeweils neu ergebenden Gehalts) gewahr werden – entweder als dienliche Stütze für unsere Absichten oder als Hindernisse auf unserem Weg zum Ziel.
11 Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen, Frankfurt a.M. 2006, S. 567.
4 Wahrnehmung und Vorstellung
4.2
Zwischenstand
Haben wir bei unserer Durchsicht einschlägiger Positionen zur Semantik und Sprachphilosophie eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage gefunden, was sprachliche Bedeutung ist, wie sie ist und wo sie ist? Oder müssen wir uns eingestehen, dass wir selbst nach unseren analytischen und hermeneutischen Überlegungen das Was unserer Sätze und unserer Sprache, den Gehalt und das Worüber unserer Äußerungen, das quid unserer Interpretationen nicht genauer bestimmmen können als zuvor? Befinden wir uns noch immer in der misslichen Lage, keine weitere Spezifizierung diesbezüglich anbieten zu können und müssen wir uns einer der Grundeinsichten Wittgensteins anschließen, der die Unvermeidbarkeit des linguistic turns mit den Worten auf den Punkt brachte, dass »die Grenze der Sprache sich in der Unmöglichkeit [zeigt], die Tatsache zu beschreiben, die einem Satz entspricht […], ohne eben jenen Satz zu wiederholen«12 ? Ich denke, ganz so schlimm steht es nicht. Zumindest konnten wir uns von der Vorstellung befreien, Bedeutungen seien diskrete Elemente oder hätten einen sonstigen dinglichen Status, der ihre kommunikative Weitergabe oder die Referenz auf sie ermöglichte. Was letztlich zur Aufkündigung eines Verständnisses sprachlichen Sinnes führte, das sich mit Albrecht Wellmer zusammenfassend treffend als »objektivistisch« bezeichnen lässt. »Objektivistisch wäre somit ein Verständnis der Seinsweise des sprachlichen Sinns, welches das Sein des sprachlichen Sinns von dem durch die Sprache erschlossenen objektiven Sein des gegenständlich ›Vorhandenen‹ her versteht. ›Objektivistisch‹ in diesem Sinne sind auch Sprachtheorien, die die Bedeutung sprachlicher Zeichen auf die subjektiven (›bedeutungskonstitutiven‹) Intentionen von Sprechern oder auf die objektiven Bezeichnungskonventionen einer Sprache zurückführen, also ›intentionalistische‹ oder ›konventionalistische‹ Sprachtheorien.«13 Wie sich zeigte, braucht sich sprachlicher Sinn gar nicht auf diesen dinglichen Status zu stützen, um seiner kommunikativen Aufgabe nachkommen zu können. Denn in um Verständigung bemühter Kommunikation geht es uns gar nicht darum, einzelne Wortbedeutungen oder die Bedeutung von Sätzen zu »transportieren«, sondern die kommunikative Wirksamkeit unserer Fest-Stellungen gründet darin, Kommunikation und die Sprache über etwas zu ermöglichen, nicht unsere Rede und das Worüber unseres sprachlichen Handelns in seinem Umfang vorab zu determinieren. Ich denke, wir liegen nach unserer Durchsicht einschlägiger, 12 Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen, Frankfurt 1977, S. 27. 13 Wellmer, Albrecht: Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, in: ders., Wie Worte Sinn machen. Aufsätze zur Sprachphilosophie, a.a.O., S. 123f.
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sprachphilosophischer Positionen nicht gänzlich falsch, wenn wir uns auch hier der Ansicht Albrecht Wellmers anschließen, dass das »Sein« sprachlichen Sinns, »sein ›esse‹, so könnte man sagen, ›interpretari‹ [ist]. Der sprachliche Sinn hat sein Sein in einem Prozess der Interpretation. Was den Sinn sprachlicher Äußerungen (oder Texte) aus der Perspektive der zweiten Person (eines Interpreten) betrifft, so ist die Frage nach einem ›an sich‹ jenseits der Interpretation sinnlos, und aus der ›performativen‹ Perspektive der ersten Person (des Sprechers) stellt sich die Frage erst gar nicht, weil er sprechend einen Sinn intendiert (seine Äußerungen gleichsam ›blind‹ versteht) und nicht zugleich auch interpretiert.«14 Jeder Kommunikation in ihrem konstativen, Tatsachen betreffenden Sinne geht es letztendlich um ein Situationsverständnis, d.h. mögliche, enger oder weiter verzweigte, (antizipierte) innerweltliche Begebenheiten, auf die wir uns einstellen und die wir entsprechend vorstellen wollen. »Wenn ich als jemand, der eine Sprache lernt, ein Wort (noch) nicht verstehe, kann ich es nicht auf Situationen richtig anwenden (z.B. das Wort ›rot‹ nicht von roten Gegenständen prädizieren). Wenn ich dagegen die Äußerung eines anderen Sprechers nicht verstehe – obwohl ich vielleicht die in der Äußerung vorkommenden Worte und Sätze in bestimmter Weise zu gebrauchen gelernt habe –, verstehe ich die Art und Weise nicht, in der die Äußerung mit der Situation zusammenhängt.«15 D.h. aber auch, dass die allerletzte oder auch entscheidende Ausdifferenzierung, sozusagen der finale »Schliff«, den semantische Bedeutungen erfahren (können), nicht nur auf eine mögliche Situationsbewährung abzielt, sondern auch von vorweggenommenen (Handlungs)-Kontexten her korrigiert und ermöglicht wird. Was die Vorgegebenheit der Sprache, ihr Quasi-Apriori und die einzelnen Aneignungen oder Idiolekte derselben Sprache durch jeweilige Sprecher über das Scharnier eines möglichen Meinens, so zusagen über einen regulierten Intentionalismus zusammenbringt. Denn, was immer ich mit meinen Worten und Sätzen meinen kann, ist mit Sicherheit nicht in mein Belieben gestellt, doch auf der anderen Seite auch keinem autonomen Sprach – oder gar Zeichensystem überlassen, das alle nur denkbaren Bedeutungen, alles nur denkbar Sagbare vorab determinieren würde. Wodurch »der Fall eines abweichenden Wortgebrauchs immer möglich [ist, und] das Verstehen der Worte und Sätze des anderen selbst im Falle eines gemeinsamen Sprachgebrauchs immer ein Interpretieren [bleibt].«16 14 Wellmer, Albrecht: Wie Worte Sinn machen. Aufsätze zur Sprachphilosophie, a.a.O., S. 101. 15 Ebd., S. 98. 16 Wellmer, Albrecht: Wie Worte Sinn machen, a.a.O., S. 99.
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Und was diese Abweichung zwischen eingespielter und immer wieder neu ansetzender Bedeutungsbildung bedingt, das, was diese Lücke immer wieder von neuem aufreißt, ist schlicht die (potenziell unendliche) Vielfalt an möglichen Äußerungen‐in-Situationen; sind die möglichen, lebensweltlichen Konstellationen, Begebenheiten und Erfahrungen selbst, auf die unsere sprachliche Verständigung reagiert und die, obzwar sie immer bereits eine praktikable Antwort in Form von sedimentierten Bedeutungen parat hält, ein automatisches Verstehen (das alleine auf Regeln basierte) in den allermeisten Fällen zum (nicht allzu häufig glückenden) Grenzfall werden lässt anstatt das allgemeine Paradigma für unser sprachliche Kommunikation abgeben zu können. Gemeinhin ließe sich daher etwas überspitzt sagen, dass automatisches Verstehen oder ein blindes Regelbefolgen nur dort stattfindet, wo es im Grunde nichts mehr (oder nicht mehr allzu viel Neues) zu sagen gibt oder das bereits Bekannte nur neu koordiniert werden muss. »Zur gewöhnlichen Kommunikation zwischen erwachsenen Sprechern gehört [dagegen, R.Z.] immer auch […] eine Differenz der Perspektiven, die sich als Differenz der Situationsverständnisse, der okkasionellen und der Hintergrundüberzeugungen, aber auch als Differenz im Gebrauch der Sprache manifestieren kann.«17 Daher ist das, auf was es uns als nächstes ankommen sollte, um den Übergang zu wahrnehmungsphilosophischen Fragen in Angriff nehmen zu können, »die Vielfalt möglicher Perspektiven, aus denen Situationen wahrgenommen und gedeutet werden. [Denn] was Wittgenstein zu Recht betont, ist, dass durch die Gemeinsamkeit der Sprache auch Situationen zu ›gemeinsamen‹ – d.h. gemeinsam verstandenen – werden; aber diese Gemeinsamkeit von Situationsverständnissen kann immer nur partiell und gebrochen sein, sie muss stets wieder neu ausgehandelt und herbeigeführt werden, um der Vielfalt der Perspektiven, aus denen Situationen den Betroffenen erscheinen, gerecht zu werden.«18 Auch, wenn die analytische Philosophie im Gefolge diesen Ebenenunterschied nur selten (wenn überhaupt) eigens anspricht, bleibt doch ein Unterschied bestehen zwischen dem Zu-Sagenden und dem Gesagten. Das Zu-Sagende entstammt dem lebensweltlichen Kontext selbst, ist der 17 Wellmer, Albrecht: Wie Worte Sinn machen, a.a.O, S. 107. Inwiefern mögliche Intentionen in Situationen eingebettet bleiben, in ein »Davor« und »Dahinter« eines vorangegangenen oder an sie anknüpfenden narrativen Zusammenhangs, der sie überhaupt verständlich werden lässt und damit die Bedingungen des Meinens rückwirkend beeinflusst, wollen wir hier nicht eigens thematisieren und der Leser sei diesbezüglich an die verschiedenen Beispiele Albrecht Wellmers verwiesen, die ein mögliches Missverstehen und die generelle Indeterminiertheit selbst einfachster, vermeintlich »unmissverständlicher« Äußerungen durchspielen. Denn Wellmer geht es dabei vor allem um den Nachweis, wie sich Objektivität ohne die Annahme eines »semantischen Objektivismus« aus einer hermeneutischen Perspektive rekonstruieren lässt und was wir m.E. in Hinblick auf das hermeneutische und sprachpragmatische Verständnis von Wahrheit bereits zur Genüge dargelegt haben. Vgl. hierzu insb. ebd., S. 109f. und S. 126ff. 18 Wellmer, Albrecht: Wie Worte Sinn machen, a.a.O., S. 108.
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Versuch einer Artikulation, einer Aus-Sage (hier ist diese Wendung durchaus im Recht) eines persönlich erlebten Situationsgehaltes, doch das Ergebnis ist letztendlich immer ein Gesagtes und damit das Produkt, das durch die Inanspruchnahme intersubjektiv verbürgter, sprachlicher (Teil-)Bedeutungen entsteht, von denen man sich eine Vermittlung der eigenen Einschätzung erhofft. Viele Vertreter des linguistic turn verkennen oft unter der Hand, dass ihre Analysen fast ausschließlich dem Gesagten gelten, welches tatsächlich keiner rein privaten Perspektive entspricht, sondern gerade perspektivübergreifend applizierbar sein soll und muss, während das jeweils Zusagende eine der möglichen, erlebten und erfahrenen Situationen einzukreisen versucht, von der man sich erhofft, sie dem anderen mit allgemein verständlichen Worten zu kommunizieren. Und wenn kaum Hoffnung besteht, mit dem bereits Gesagten und der Inanspruchnahme eines intersubjektiv verbürgten und eingeschliffenen Vokabulars die eigene Sicht der Dinge zur Sprache bringen, weil dem Adressaten eine entsprechende Erfahrungsbasis und das nötige Vorverständnis fehlt, über das man sich zu verständigen sucht, in dem man und aus dem heraus man sich zu ver‐ständigen sucht, indem man einen gemeinsamen Standpunkt, eine ähnliche Position bezieht, beenden wir einen solchen Kommunikations-Versuch ja nicht selten mit den resignierten Worten: »aber was wird Dir das schon sagen?« Und meinen damit: was wird Dir das schon sagen können? Denn etwas sagen können wird uns etwas nur dann, wenn es in Kontinuität zu unserem Vorverständnis steht, wenn es sich als anschlussfähig zu unserer eigenen Situation erweist. Daher auch die beständige und sich immer wieder aufs neue stellende Aufgabe in jeder Kommunikation, die richtigen »Einstiegspunkte« zu finden. Denn, was sprachphilosophische Überlegungen richtig festhalten ist, »[dass] Sprache niemals das bloße Kleid eines Gedankens ist, der sich selbst in voller Klarheit besitzen würde«19 , um anschließend bloß noch signalisiert oder an einen Empfänger »übermittelt« zu werden. Sich auszudrücken, bedeutet nicht einfach den Ersatz einer bereits verstandenen Erfahrung »durch ein konventionelles Zeichen, das diese anzeigt, evoziert oder abkürzt.«20 Sondern auch die eigenen Gedanken kommen nicht selten erst im Dialog, im Abgleich mit einer fremden Sicht »zu sich selbst«21 ; die Objektivität der zur Verhandlung stehenden Sache bildet sich 19 Merleau-Ponty, Maurice: Die Prosa der Welt, a.a.O., S. 16. 20 Merleau-Ponty, Maurice: Das Hirngespinst einer reinen Sprache, a.a.O., S. 27. 21 Vgl. auch Merleau-Ponty in: ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 210f.: »Setzte die Sprache das Denken voraus, hieße Sprechen zunächst, durch Vorstellungen oder Erkenntnisintentionen sich zum Gegenstand in Beziehung setzen, so bliebe unverständlich, wieso alles Denken im Ausdruck gleichsam seine Vollendung sucht, warum der vertrauteste Gegenstand uns unbestimmt bleibt, solange wir seinen Namen nicht finden, wieso das denkende Subjekt gleichsam seine eigenen Gedanken nicht weiß, solange es sie nicht für sich selbst formuliert, ja solange es sie nicht ausgesprochen und niedergeschrieben hat, wie das Beispiel der Schrift-
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erst heraus, weil sie durch das Übersteigen einer einzelnen Perspektive an Kontur gewinnt. Wenn ich jemand anderem zuhöre und damit versuche zu verstehen, was er mir zu sagen hat, so weckt das »in mir nicht nur vorgeformte Gedanken, sondern [zieht] mich in eine Gedankenbewegung hinein, zu der ich allein nicht fähig gewesen wäre und die mich schließlich fremden Bedeutungen öffnet. Ich muss endlich zugeben, dass ich nicht nur mein eigenes Denken lebe, sondern dass ich im Vollzug des Sprechens der werde, dem ich zuhöre. Versuchen wir also einmal, dies nicht zu erklären, sondern die Sprechkraft genauer zu untersuchen und die Bedeutung einzukreisen, die nichts anderes ist als jene einzigartige Bewegung, deren sichtbare Spur die Zeichen sind.«22 Übermittelt im strikten Sinne kann nur etwas werden, das eine genaue Zuordnung erlaubt, das also bereits über eine klar umrissene Kontur verfügt, während Verstehen ein aktives und damit tentatives Einordnen in die eigenen Vorannahmen bleibt, was auch unsere Vorstellungskraft nicht unbeteiligt lässt. Was im strengen Sinne übermittelt wird, sind keine Bedeutungen, sondern Wörter, Buchstaben, Zeichen oder andere (arbiträre) Bestandteile einer natürlichen oder künstlichen Sprache; denn wie Frege insistiert hat und auch Benveniste betont hat, ist es der Satz (bzw. Redekontext), mit dem mögliche Bedeutungen anheben aufgrund seiner Wahrheitsfähigkeit und nicht das einzelne Wort. Wie es auch das Beispiel mit dem Freund zeigen sollte, dem wir lediglich durch die Nennung des Namens seiner Freundin »all das« kommunizieren konnten.23 »Einzeln genommen hat das steller zeigt […]. So ist für den Sprechenden das Wort nicht bloße Übersetzung schon fertiger Gedanken, sondern das, was den Gedanken erst wahrhaft vollbringt.« 22 Merleau-Ponty, Maurice: Der Algorithmus und das Geheimnis der Sprache, in: ders., Die Prosa der Welt, München 1993, S. 136. Vgl. auch ders., in: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 212f.: »Tatsache ist, dass wir etwas zu verstehen vermögen, was über das, was wir von uns aus dachten, hinausgeht. Man kann zu uns nur sprechen in einer Sprache, die wir schon verstehen, jedes Wort eines schwierigen Textes erweckt in uns Gedanken, die wir schon hegten als die unsrigen, und doch: zuweilen verbinden sich diese Bedeutungen zu einem neuen Gedanken, der sie sämtlich verwandelt, wir stoßen auf den Kernpunkt eines Buches, wir rühren an der Quelle […]. Es gibt demnach so etwas wie die Übernahme der Gedanken eines Anderen im Durchgang durch das Wort, eine Reflexion im Anderen, ein Vermögen, dem Anderen nachzu‐denken, durch das unsere eigenen Gedanken sich bereichern […]. Und so wie ich in der Fremde den Sinn der Worte aus ihrer Rolle im Zusammenhang der Tätigkeit der Menschen zu verstehen beginne, wenn ich an deren Gemeinschaftsleben teilnehme, so teilt sich ein mir noch schwer verständlicher philosophischer Text doch zumindest in einem gewissen »Stil« mit […]. In Wahrheit aber gründet auch der Sinn eines literarischen Werkes weit weniger im gemeinen Sinn der Worte, als er vielmehr eine Wandlung dieses gemeinen Sinnes vollbringt. So gibt es denn für den Hörer und Leser sowohl als für den Sprecher und Schreiber ein Denken in der Sprache […].« 23 Im Grunde findet sich die Grundlegung hierzu aber bereits bei Aristoteles Theorie der Prädikation. Vgl., ders., de interpretatione, 16a1.
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Wort nur eine potenzielle Bedeutung, die aus der Summe seiner Teilsinne besteht; diese sind wiederum durch die Arten des Kontextes bestimmt, in denen sie auftreten können. Erst in einem bestimmten Satz, also in einer Redeinstanz im Sinne Benvenistes, haben sie eine wirkliche Bedeutung.«24 Deswegen wäre es zutreffender zu sagen, dass einzelne Wörter von uns überhaupt nicht im eigentlichen Sinne interpretiert werden, womit die Kategorie der Bedeutung schon aufgerufen wäre, sondern dass einzelne Wörter und andere Bestandteile einer natürlichen Sprache von uns lediglich identifiziert werden, was nicht bereits mit (einer aktiven) Interpretation gleichzusetzen ist. Das »Botenmodell«25 der Kommunikation und die Idee an eine Übermittlung findet sozusagen nur Anwendung bei den möglichen Identifikationen der von einer Sprache verwendeten Zeichen nicht bei deren Bedeutungen, die sich uns erst noch ergeben müssen. Denn diese können nicht einfach weitergegeben werden, sondern Sinn ist etwas (auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen), das sich aktiv für ein sprechendes, ein zur Sprache befähigtes Wesen aufbauen muss, nicht dasjenige, das selbst der Übermittlung unterliegt. Warum sollten wir auch ansonsten davon reden, dass sich eine Idee entwickeln muss, ein Gedanke sich erst noch vervollständigen? Von der (relativen) Invarianz der Wörter darf nicht auf die Invarianz des artikulierten Gedankens geschlossen werden, den man nur noch zu »fassen« bräuchte.26 Denn genau dies würde wiederum einen semantischen Objektivismus nahelegen, währenddessen Sinn (wie alle unsere Erkenntnis-Objekte, wie wir noch sehen werden) eine dynamische Größe bleibt, die in ihrer Bedeutungsweite, in ihrer Integrations-Breite und -Tiefe variieren kann, je nachdem, für wen etwas wie Sinn ergibt. D.h. durch den Stellenwert, den ein Gedanke in jemandes übrigen Überzeugungen einnimmt, den er dort hat. Sodass wir uns vielleicht eingestehen, dass wir zwar etwas schon immer (in seinen Grundzügen) verstanden hätten, aber trotz allem nie die Tragweite dieses Gedankens eingesehen haben, uns nicht die »ganze« Bedeutung klar war. Dass wir also »denselben« Gedanken nicht auf dieselbe Weise haben wirksam für unser Denken werden lassen. 24 Ricoeur, Paul: Die lebendige Metapher, München 2004, S. 78. 25 Vgl. hierzu die Studie von Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008. Vgl. auch dies., Medien, Boten, Spuren. Wenig mehr als ein Literaturbericht, in: Was ist ein Medium?, hg. v. Stefan Münkler und Alexander Roesler, Frankfurt a.M. 2008, S. 65 – 91. 26 Vgl. für eine solche Einschätzung Rohs, Peter: Gedanken und Bedeutungen. Zu Georg Meggles Theorie der Kommunikation, in: Intentionalität und Verstehen, a.a.O., S. 127 : »Wer sprechen und andere, die zu ihm sprechen, verstehen soll, der muss einmal imstande sein, überhaupt Gedanken zu fassen; Entitäten also, die zu verschiedenen Zeitpunkten und für verschiedene Personen dieselben sein können. Wer solche Gedanken nicht fassen, sie nicht intentional vor sein Bewusstsein bringen könnte, der könnte weder selbst sprechen noch andere verstehen.«
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Oder anders: Was bloß identifiziert zu werden braucht, lässt sich übermitteln, was verstanden werden muss, bedarf der Interpretation. Und dafür stellt Übermittlung nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung dar. Was im eigentlichen Sinne medial übertragen werden kann, sind identifizierbare Zeichen; Bedeutungen hingegen sind das Resultat einer »sprechenden Sprache«. »Mit Hilfe dieser Zeichen, über die der Autor und ich uns einig sind, weil wir dieselbe Sprache sprechen, hat er mich glauben lassen, wir befänden uns auf dem schon gemeinsamen Boden erworbener und verfügbarer Bedeutungen. Er hat sich eingenistet in meiner Welt. Dann hat er auf unmerkliche Weise die Zeichen von ihrem gebräuchlichen Sinn abgebracht, und nun ziehen sie mich wie ein Wirbel in diesen anderen Sinn hinein, den ich antreffen werde […]. Die gesprochene Sprache ist jene, die der Leser mitbrachte, es ist die Menge der Bezüge zwischen etablierten Zeichen und verfügbaren Bedeutungen […]. Die sprechende Sprache aber ist jene Aufforderung, die das Buch an den unvorbereiteten Leser richtet; es ist jener Vorgang, durch den sich eine gewisse Anordnung von Zeichen und schon verfügbaren Bedeutungen verändert und umformt, bis ein jedes schließlich eine neue Bedeutung aussondert und zuletzt im Denken des Lesers, als ein von nun an verfügbares Instrument die Sprache von Stendhal etabliert. Ist diese Sprache einmal erworben, so kann ich leicht zu der Illusion gelangen, ich hätte sie aus eigener Kraft verstanden: sie aber ist es, die mich umgestaltet und befähigt, sie zu verstehen.«27 Und wie ist es ihr möglich, mich zu einem anderen Verständnis zu führen, mich zu ihm zu befähigen? Weil die gesprochene Sprache, der denkende Sprachvollzug selbst eine Befähigung ist: ein Vermögen und eine Facette unserer Vernunft und unserer Erkenntnisfähigkeiten, die durch immer weitere Einübung gesteigert werden kann – wovon nicht zuletzt die Beschäftigung mit philosophischen Texten Zeugnis ablegt. Sprache dürfte genau aus dem Grund idealisierend verfahren, weil sie zwischen raum‐zeitlichen Perspektiven vermitteln können muss, die den jeweilig gelebten Realitäten von Subjekten entsprechen, ihren Wahrnehmungen und damit zusammen ihren Lebenswelten. Und dieser Aufgabe kann sie wiederum nur nachkommen, wenn sie selbst nicht vorab determiniert, wie ein konkretes raum‐zeitliches Ereignis zu ihrem Inhalt werden kann, sondern nur, wenn sie sich situationsgerecht auf verschiedene, konkrete Inhalte einlassen kann, diese als ihre Inhalte zulassen kann. Sprache muss von einer konkreten Anschauung absehen können, damit sie uns in einer lebensweltlichen Situation umso genauer hinsehen lässt, auf was es ihrer Meinung nach (in dieser Situation) ankommt. Daher fragen wir als nächstes, wie sich eine sprachliche Situationseinschätzung auf unsere An27 Merleau-Ponty, Maurice: Die Wissenschaft und die Erfahrung des Ausdrucks, in: ders., Die Prosa der Welt, a.a.O., S. 35f.
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schauung bzw. Wahrnehmung dieser Situation auswirkt, wenn sie unter der Ägide objektiv zu berücksichtigender Situationsfaktoren steht?
4.3
Wahrheit, Situation und Anschauungsgehalt
Nicht wir beziehen Begriffe auf die Welt, sondern als kleinste, wahrheitsfähige Bedeutungseinheit bezieht die Satzaussage vielmehr die (wahrnehmbare) Welt »auf sich«. Was in dieser Formulierung unweigerlich das leidliche Bild von sprachlichen Fähigkeiten evoziert, die unsere Erfahrungen verstümmeln durch das Pressen der Anschauungsvielfalt in begriffliche Schemata, die jene vorab beschneiden oder zurechtstutzen. Dass unsere Begriffe unsere Anschauungen anleiten, strukturieren, organisieren und orientieren und dass sie gegebenenfalls (oft genug) unseren Blick verstellen, mag richtig sein, doch kann dies nicht bedeuten, dass sie einen empirisch‐anschaulichen Gehalt bereits auf konstitutiver Ebene einschränken würden. Denn für begriffliche Bedeutungen ist es ja gerade nicht wesentlich, eine bestimmte Anschauung mit sich zu führen (als seien sie mit Anschauung gefüllte Gefäße), sondern sie bedürfen komplementär der Anschauung, um für uns erkenntnisrelevant werden zu können. Ihre Aufgabe ist es nicht, die konkrete Ausgestaltung eines Anschauungsgehalts vorwegzunehmen, sondern vielmehr lassen sie sich durch ihre Offenheit ihren sinnlich‐anschaulichen Gehalt situativ oder vorstellend »eingeben« – was nur die Kehrseite und der Vorzug ihrer Abstraktheit sein dürfte: von einer jeweils konkreten Anschauung absehen zu können zugunsten einer (potenziell unendlichen) Vielfalt an möglichen »Sättigungen« durch entsprechende Wahrnehmungssituationen. Unsere vorab erbrachte Verständigung, das gemeinsame Sprachspiel unserer Kommunikation dreht sich für ein pragmatisches Sprachverständnis darum, welche Begriffe wir vorab in Stellung bringen (können), damit sie sich an der Wirklichkeit dann bewähren. Und was Begriffe dabei versuchen einzuregeln oder vorwegzunehmen ist die Ein- und Abschätzung eines gewissen und situationsbedingten In-Erscheinung-Tretens von etwas, das als Bestätigung für unsere Vorannahmen gelten kann – was nicht dasselbe ist, wie zu behaupten, Begriffe würden in den Wahrnehmungseindruck sozusagen auf unterster Ebene konstitutiv eingreifen. Und einen darüber hinausgehenden Anspruch an Wahrheit kann es aus nach‐metaphysischer Sicht (für uns) nicht geben: nämlich, dass die Welt sich so verhält, wie es unsere Aussagen festhalten. Was nicht heißt, dass es nicht auch anders kommen und die Welt sich nicht auch anders verhalten könnte. Natürlich kann sie sich auch anders verhalten und wird es meisten auch, nur eben (wie wir fortwährend annehmen und hoffen) in allen anderen Hinsichten, die durch die logischen Implikationen der festgestellten Aussage nicht betroffen sind. Wenn ich sage, dass die Katze auf der Matte liegt, meine ich damit genau »das«, meine ich diesen Ausschnitt, diese Hinsicht, diese Ansicht, diesen Gesichtspunkt, unter dem
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ich eine Situation gewahre, meine ich das in ihr gegenwärtige Geschehen, das Situationsgeschehen in diesem »Licht«: das Auf‐der-Matte-Liegen der Katze. Diese Feststellung ist ja keine erklärende Weltformel. Nur möchten wir wenigstens sicher gehen, dass es mit ihr ihre Richtigkeit hat, dass es sich in dem abgegrenzten oder prädikativ herausgestellten Situations-Bereich so verhält, wie es die Aussage behauptet. Das ist das Verbindlichwerden von objektiver Wahrheit für uns: das Bewusstsein, dass Wahrheit (selbstverständlich) etwas ist, das über diese (einzelne) Aussage hinausgeht. Nur darf das Weltgeschehen eben nicht so über diese Aussage hinausgehen, dass diese selbst falsch wird. Zu sagen und zu glauben, die Katze liege auf der Matte, heißt zunächst einmal, einen Orientierungspunkt in einer gewissen Situation zu »setzten«, heißt, alle Begleitumstände als potenziell mögliche gelten lassen zu können, die den Bestand dieser Aussage unangetastet lassen und mit dieser abgestimmt werden können. Was nicht bedeutet, dass ich davon ausgehe, dass mit dieser Feststellung auch alles andere gesagt wäre, was über die Welt zu sagen ist, so zusagen alles im Umfeld des Auf‐der-Matte-Liegens der Katze. Sondern ich gehe lediglich davon aus, dass andere Aussagen im Umfeld der Katzen-Feststellung diese für den Zeitpunkt der Aussage nicht in Frage stellen (werden). Und doch ist mit dieser Fest-Stellung eine Situationsvariable in Stellung gebracht, deren Wahrheit nicht nur die (mögliche) Handhabe der wahrgenommenen Situation beeinflusst, sondern fortan auch einer Beeinflussung von Seiten der Welt unterliegt. »Wahrheit« in diesem Sinne ist nur ein anderes Wort für die Fähigkeit unseres Bewusstseins »zur« Wahrheit oder in einer metaphysisch anheimelnden Lesart: Wahrheit ist nur ein anderer Name für den Grundzug unserer Existenz selbst, die durch (Selbst-)Reflexion zum begrifflichen Denken befähigt ist. Die Frage nach der Richtigkeit der eigenen Wahrheit stellen zu können, die Wahrheitsfrage im eigentlichen Sinne aufwerfen zu können, ist ja die Voraussetzung für das Reflexivwerden unserer Erkenntnis; denn diese Frage ist nur möglich für ein Sein, das etwas sein kann (nämlich Denken), das zu dem Gehalt seiner Erfahrungen selbst Stellung beziehen kann und zugleich um diesen Unterschied weiß: nämlich für ein Selbstbewusstsein. Ein Sein, das sich fragen muss, ob »seine« Wahrheit(en) »ausreichend« ist/sind, um die Situation, über die etwas ausgesagt wird, sich anhand dieser Fest-Stellung primär erschließen zu können, sprich, sie sich existenzsichernd auf diese Art erschließen zu dürfen. Denn genau das ist das Bewusstsein von Wahrheit: die Bescheidenheit zu wissen, dass die eigene Ausdeutung der Welt diese (selbstverständlich) nicht erschöpft und zugleich zu hoffen, dass sie trotz allem etwas Wesentliches »trifft«, das unabhängig von ihrem Dafürhalten Geltung besitzt. Deshalb geht ein wahrheitsfähiges Bewusstsein davon aus, dass es sich realiter so verhält, wie es die akzeptierte und abgewogene Feststellung ausspricht
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und dass es sich tatsächlich so verhält, impliziert andererseits für ein solches Bewusstsein den realistischen Gehalt seiner Fest-Stellung(en).28 Denn nur, wenn es davon ausgeht, dass seine begrifflichen Inhalte nicht von ihm »gemacht« sind, hält es diese begrifflichen Inhalte für Korrekturen offen, die aus genau jener Welt zu erwarten sind, aus der heraus die wahre Aussage spricht, auch wenn es vielleicht die ein oder andere Wahrheit nicht »wahrhaben« möchte oder sie in ihrer Geltung noch nicht als solche realisiert hat. Oder anders: Das Vertrauen darauf, mich mit dieser oder jener Aussage oder besser: mit einem koordinierten Netz an Überzeugungen in eine Situation begeben zu können, mich dieser anzuvertrauen oder mit ihr konfrontieren zu können, mich an den Ort zu begeben, von dem ich glaube, dass jene Teil-Aussagen »greifen« werden, die für mich handlungsleitend werden (dürfen), bedeutet, sich der übergreifenden Tatsache bewusst zu bleiben, dass es trotz allem auch anders kommen könnte. Die Welt ist ja nun einmal selbst in den raffiniertesten, technischen Aufmachungen und Aufbauten nicht von uns geschaffen, allerhöchstens von uns (und immer nur temporär) in Form oder in Stellung gebracht, koordiniert, auf- und hergestellt. Folgerichtig ist die von der analytischen Philosophie hervorgehobene Verkopplung von Überzeugung und Semantik auch so grundlegend; jedoch nicht in dem Sinne, dass ich glaube, dass es (in Zukunft) nicht anderes kommen könnte, als es die Aussage festhält, sondern nur, dass ich glaube, dass ich im Moment, jetzt wo es darauf ankommt (»for the time being«), für diese Aussage eine Art Gewähr übernehmen oder wie Habermas sagt: einen Geltungsanspruch erheben kann. Jedoch (und das vernachlässigt der ausschließliche Blick auf die intersubjektive Kommunikationsdimension ein wenig) nicht nur gegenüber andern, (denn wahr ist nicht einfach, »was zu glauben für uns besser ist«29 ), sondern vor allem gegenüber mir selbst. Denn die sprachlichen Interpretationen, die innerhalb eines koordinierten Verstehens erzeugt werden, »beziehen sich auf raum‐zeitlich spezifizierte Äußerungen wirklicher Sprecher in wirklichen Situationen. Die Wahrheitstheoreme haben somit den Rang von Gesetzeshypothesen, die der empirischen Überprüfung unterliegen.«30 Auf was bin ich festgelegt durch diese Festlegung? Das ist die (praktische) Frage, die sich unser (wahrheitsfähiges) Bewusstsein stellt und stellen muss. 28 Vgl. McDowell, John: Geist und Welt, a.a.O., S. 57: »Durch die rationale Art und Weise, auf welche die begrifflichen Fähigkeiten, die in einer Erfahrung zur Anwendung kommen, mit dem ganzen Netz verbunden sind, versteht das erfahrene Subjekt das, was es in der Erfahrung aufnimmt (oder zumindest aufzunehmen scheint) als Teil einer weiterreichenden Realität – einer Realität […]. Der Gegenstand der Erfahrung wird so verstanden, als wäre er in eine weiterreichende Realität eingebettet […].« 29 James, William: Pragmatismus. Ein neuer Name für einige ale Denkweisen, Darmstadt 2001, S. 76. [Meine Hervorhebung]. 30 Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, a.a.O., S. 182.
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Ich sage ja gar nicht, dass ich Katzenfutter im Haus habe, die Lust, eine Dose zu öffnen, die Fähigkeit hierzu oder auch nur die Tierliebe. Nein, ich sage nur, dass die Katze auf der Matte liegt. Ich erschließe mir die Offenheit eines Handlungsfeldes genau dadurch, dass ich glaube, dass es sich so verhält, wie ich sage und denke und damit annehme, also dass sich strukturell Handlungsmöglichkeiten in einer potenziellen Situation, in der diese Feststellung »greift« und Anwendung findet, ergeben, die mit dieser Feststellung vereinbar sind und ich glaube zudem, dass ich Acht zu geben habe, dass sich die Situation nicht dahingehend verändert, dass ich keine Gewähr mehr für meine Aussagen übernehmen kann. Gerade weil sie offen bleiben für eine von mir unabhängig existierenden Welt, die auf die Situation derart Einfluss nehmen kann, dass meine Aussagen in ihrem Wahrheitsgehalt kompromittiert werden und keine Anwendung mehr auf die Situation finden können. Das wahrheitsfähige Bewusstsein ist gerade eines, dass nicht glaubt, ewige Wahrheiten auszusprechen, denn es weiß sich einer durch und durch veränderlichen Welt ausgesetzt, wo die Übernahme und das Einstehen für die eigenen Überzeugungen beständig auf dem (intersubjektiven) Prüfstand stehen, um nicht zu riskieren, nur den eigenen, individuellen Vorstellungen aufzusitzen, sondern sich objektiven, intersubjektiv (arbeitsteilig) abgesicherten Bedeutungen in seinem Handeln anzuvertrauen. Und nur so läuft es nicht Gefahr, dass die eignen Überzeugungen letzten Endes nur »good enough« sind im Sinne eines etwas zu zarten Pragmatismus, dem man allzu oft eine Art selbstgenügsame Unverbindlichkeit unterstellt, so, als würde er von unseren Erkenntnisgehalten dasselbe behaupten wie von einem noch nicht abgelaufenen Joghurt: nun gut, fürs Erste reicht’s mit dieser Aussage – die ist ja noch gut! Nein, das eigene Festgelegtsein durch eine konstatierte Feststellung, für deren Wahrheit ich einstehen kann, ist für mich und die anderen »bare Münze« und erst nachträglich kann und wird ihr Wahrheitswert diskursiv abgewogen werden. Aber zu meinem Mitflüchtenden zu sagen, dass es der linke Weg ist, der in die Freiheit führt und auf die Nachfrage, ob das auch wahr sei, zu antworten: ja, heißt nicht, einer Redundanztheorie der Wahrheit das Wort zu reden, sondern die volle Verantwortung dafür zu übernehmen, dass ich mich auf meine eigene Aussage verlassen kann – was auch der Grund ist, warum ich von ihr überzeugt bin. Nicht weil ich glaube, dass da sonst nichts käme, was die Feststellung im Laufe des Weltgeschehens unter Umständen falsch werden ließe, sondern nur, dass das jetzige Verbindlichmachen dieser Aussage den Entwurf meiner Handlungsmöglichkeiten im Moment des Verlassens auf sie nicht unwiderruflich beschränkt, sondern andere, an sie anschließende ermöglicht. Oder beim »Setzen aufs falsche Pferd« für immer verunmöglicht. Und das alles vielleicht nur aufgrund eines semantischen Gehaltes, der da sagt: »links« und eines Bewusstseins, das mir sagt, es ist wahr. Heidegger hat in seinem Kunstwerkaufsatz an einer berühmten Stelle gesagt, das Sein von Zeug bestehe
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in seiner Verlässlichkeit, bzw. dessen Dienlichkeit sei »nur die Wesensfolge der Verlässlichkeit«.31 Nun kann das Sein von Zeug in einer Situation wie der eben beschriebenen aber auch in einem Linke-Tür-Sein bestehen und trotz allem die ganze Verlässlichkeit meiner und jedem von der Situation ebenfalls Betroffenen (also unserer, im Moment gemeinsam erlebten) Welt ausmachen können. Denn die alltägliche Frage: Ist das wahr?, ist die Frage, ob ich mich darauf verlassen kann. Und verlassen kann ich mich nur auf Dinge, die ich verstanden habe, von denen ich weiß, was sie sind.32 Wir kennen den Fall, wo wir sagen: Stimmt, aber darauf kann ich mich nicht verlassen, was wie ein Widerspruch klingt, aber leztlich nur die grundsätzliche Funktion der apophantischen Rede erneut bestätigt. Sich einzugestehen, dass eine beliebige Aussage zutrifft, aber sich zugleich nicht darauf verlassen zu können, heißt, dass ihr Wahrheitsgehalt im Einzugsbereich der zeitlich indexierten, zukünftig dann aktuell werdenden Handlungsmöglichkeiten von einem anderen, richtungsweisenden Verhalten, das sich an einer anderen Feststellung orientiert, ausgestochen wird. Stimmt, normalerweise ist kein Stau Richtung Taunus. Doch darauf kann ich mich jetzt bzw. werde ich mich dann nicht verlassen können oder richtiger: möchte ich mich nicht verlassen müssen. Entsprechend fahre ich lieber mit der Bahn. Ich möchte mich nicht darauf verlassen müssen, dass sich die Verkehrssituation an diesem Tag auch wirklich so verhält, d.h. meiner bisherigen Erfahrung gemäß, von der ich weiß, dass sie mir ebenfalls immer nur fallible Ergebnisse liefert. Die Festlegung soll ja nicht mich festlegen, sondern durch die Feststellung eines zentralen Situationsaspekts eine flexible Handhabung der gesamten Situation ermöglichen. Ich lege mich vorausschauend nur (begrifflich) fest, um später nicht (unausweichlich) durch die Situation festgelegt zu werden. Das ist die lebensweltliche Umsicht eines autonomen Bewusstseins, das körperlich und raum-zeitlich realisiert ist und sich den Einwirkungen einer physikalischen Welt ausgesetzt weiß: das Bewusstsein, dass, wenn es sich nicht vorab (begrifflich) festlegt, es durch spätere, kontingente Umstände festgelegt wird. Und das ist unsere Freiheit und die Freiheit unserer Wahlmöglichkeit. Das Ziel fest‐stellender, objektiver Erkenntnis ist Flexibilität, die flexible Handhabe einer sich zukünftig einstellenden Realität. Durch feststellende Erkenntnisse erweitern wir unsere Freiheitsgrade. Doch würde uns eine Erkenntnis dazu wenig nützen, die so zusagen für irgendwen gemacht ist, die vermeintlich universell Gültigkeit besitzt, ohne unsere Handlungsmöglichkeiten zu berücksichtigen und auf diese bezogen zu 31 Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 2005, S. 28. 32 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, a.a.O., S. 118: »Ohne ›Feststellungen‹, die dem Status des ›nicht festgestellten Tieres‹ gemäß sind, gäbe es nur Fulgurationen und Schocks, die das Netz der Erfahrung zerreißen, aber keine auch nur annähernd verlässliche Erfahrungsordnung hervorbringen. Wir würden in einem dauernden Alarmzustand leben, wie es in Gefahrenzeiten oder in Grenzsituationen tatsächlich vortkommt.«
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bleiben. Denn das Bewusstsein unseres Ausgesetzt-Seins weiß, was Wahrheit ist, weil es weiß, welche Folgen der Irrtum (für es selbst) haben kann. Deswegen ist die De-Finition, die wortwörtliche Ent-Grenzung, die Begriffe für unsere Orientierung leisten, dahingehend zu verstehen, dass jede Aussage nur insofern de‐finiert und soweit ent‐grenzt, als dass sie einen Möglichkeitsraum aufspannt, den man zu haben glaubt, weil eine jede einzelne Aussage korrelativ zu dem, was sie konkret aussagt, auch festhält, was alles der Fall sein kann, solange diese Aussage wahr bleibt. Eine begriffliche Aussage gleicht demgemäß nicht der Kommunikation eines klar umrissenen Inhalts, sondern sie ist einer von vielen Orientierungspunkten, der für eine Situationseinschätzung wirksam werden kann und in seiner Tragweite entsprechend variiert. Nicht nur baut sich unser begriffliches Verständnis einer Situation im horizontalen Querschnitt aus aufeinander abgestimmten Aussagen auf, die sich entweder gegenseitig ausschließen oder einander Raum verschaffen, sondern auch durch einen variierenden Abstraktionsgrad, der es erlaubt, durch vertikale Staffelung Priorisierungen von Aussagegehalten vorzunehmen, die von der allgemeinsten Situationseinschätzung bis zum kleinsten Detail reichen können, das immer noch auf unsere Zugriffsmöglichkeiten antwortet und auf diese »zugeschnitten« ist. Wie verorte ich das und mich hier im Allgemeinen? Befinde ich mich in meinem wohlvertrauten, familiären Umfeld, unter Freunden, Arbeitskollegen, bin ich im Urlaub oder auf der Flucht? Bin ich anerkannter Staatsbürger mit sämtlichen Rechten auf einer Reise ins Nachbarland oder Flüchtling ohne Papiere in der völligen Fremde? Bin ich der Vorgesetzte einer ganzen Firma oder bloß ihr Praktikant? Befinde ich mich im tiefsten Dschungel oder an der Kreuzung einer Großstadt und was habe ich alleine aufgrund dessen für Möglichkeiten? Diese unterschiedlich »weiten« Gesichtspunkte, unter denen sich uns Situationen erschließen, eröffnen ihrerseits andere Aussichten und Einsichten, die wir (berechtigterweise) in einer Situation zu haben glauben. Ihre Implikationen vererben sich auf die Weite und auf die Tiefe möglicher Situationsbezüge und modifizieren dadurch sozusagen die mögliche Durchdringungstiefe unserer Weltbezüge.33 Zurück bei unserem Beispielsatz heißt das: Wer glaubt, dass, nur weil die Katze auf der Matte liegt, das Wetter die nächsten Tage schlecht werden wird, beschränkt ernsthaft seine (Freizeit-)Möglichkei33 Es ist selbstredend das klassische, »eurozentristische« Baumdiagramm der Erkenntnis, welches einer solchen Beschreibung Pate steht. Vgl. zu dem Gedanken eines deratigen, semantischen »Rankings« auch Evans, Gareth: The Varieties of Reference, a.a.O., S. 178: »The idea of discovering the sort of a thing, identified demonstratively, would not make sense if there was not some ranking of sorts. As Trinculo goes along the beach and espies Caliban for the first time, he asks ›What is this?‹ It must be presumed that ›This is a living animal‹ is (at least) a better answer than ›This is a collection of molecules‹. Similarly, when the fisherman wonders what he has at the end of his line, the answer ›A Statue‹ is a better answer than ›A piece of clay.‹
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ten. Nicht, weil die Aussage, dass die Katze auf der Matte liegt, nicht zutreffen würde, sondern weil nicht zutrifft, was für diese Person damit begrifflich alles zusammenhängt, was aus ihr (real) folgt, raum‐zeitlich eintreffen und nicht nur logisch zutreffen wird. Und da es für diese Person eine Implikation darstellt, dass das Wetter sich verschlechtert, wenn Katzen auf Matten liegen, so kann er grandios mit dieser Aussage (in der Folge) scheitern, wenn er einem Dritten genau »das« damit kommunizieren wollte, jedoch auf den Zustand, den Ort bzw. die Situation der Katze »referiert« als in seinen Augen zu diesem Zweck angemessenen »Bezugsgegenstand«. Dann richten sich beide Kommunikationsteilnehmer nicht auf »dasselbe« aus und stellen sich nicht auf dasselbe ein, wenn sie darin fehlgehen, für was der Gesprächspartner vermeintlich die Gewähr mit seiner Aussage übernimmt. Wenn die Mutter zu ihrem Sohn sagt, er solle bitte das Messer, mit dem er sich morgens sein Salamibrot schmiert, nicht einfach in der Spüle liegen lassen, denn sie ekele sich davor und sie stattdessen am nächsten Morgen ein NutellaMesser in der Spüle und einen sich keiner Schuld bewussten Sohn in der Küche antrifft, der verwundert entgegnet, ihrer Anweisung doch strikt Folge geleistet zu haben,34 so sagen wir in einem solchen Fall auch: er habe nicht verstanden, »um was es geht« und meinen damit, dass er die zur Debatte stehende Situation und das in ihr enthaltene Problem nicht richtig realisiert hat, d.h., die Situation nicht vom richtigen Standpunkt aus durchschaut hat, sie sich nicht (analog zur Mutter) vorstellend auf eine Weise (imaginierend) vergegenwärtigt hat, die der Konstellation und demjenigen Stand der Dinge entspricht, den die Mutter durch diese Mit-Teilung und durch die angesprochene Problem-Stellung zu vermeiden suchte. Der »Referenzgegenstand« der Rede ist hier ein gewisser Tatbestand, der auf seine Mitteilung gedrängt hat. Denn letztere sind es, die (nicht nur im kriminalistischen Kontext) am Scheitelpunkt unserer Rede liegen: Tat-Bestände und keine bloßen Dinge, Gedanken, Gegenstände oder gar Sachverhalte, sondern eben Zu-Stände der Welt, die durch ein Handeln in einen anderen Zustand überführt werden sollen oder von denen unser Handeln seinen Ausgang durch diese Einteilung nehmen kann. Es gibt keinen feststehenden logos semantikos,35 keine mit fixen Modulen operierende »language of tought«36 oder »Determinierer« innerhalb einer »generativen Grammatik«37 , da sinnvolle Aussagen immer auch die Frage aufwerfen: was ist dadurch für wen wie von Bedeutung? Denn, was ich mitgeteilt bekomme, wenn ich weiß, was der Fall 34 Das Beispiel ist frei erfunden und lässt keine Rückschlüsse auf die Lebensumstände des Autors zu. 35 Vgl. Intentionalität und Verstehen, hg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1990, S. 8. 36 Vgl. Fodor, Jerry A.: Psychosemantics. The Problem of Meaning in the philosophy of Mind, Cambridge 1987. 37 Vgl. Chomsky, N.: Language and Mind, Cambridge 2006.
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ist, wenn der Satz wahr ist, ist, was ich alles in Anschlag bringen kann, solange der Satz wahr bleibt (und die anderen Sätze wahr bleiben, die sich mit jenem als stimmig erweisen) oder: was ich so zusagen in meiner Orientierung um ihn herum gruppieren kann, solange er sich bewährt.38 Deswegen ist auch die Bedeutung eines Begriffs sein Gebrauch in der Sprache und nicht sein Gebrauch als Bezug auf die Welt. Die sprachliche Praxis dreht sich um die sprachlich‐logischen Vorkehrungen, um die »Vorsorge«, die wir im Vorfeld treffen und bei der wir uns darauf verständigen (wollen), welche Feststellungen wir treffen sollten oder vielmehr müssen, um die vorab ausgehandelten Begriffe situational die Welt »auf sich« beziehen zu lassen. Indem sie zusammengesetzt als Satzaussage unser Tun und Lassen um sie herum gruppieren als stationäre Orientierungspunkte in einer situativen Konstellation, einem (möglichen) Tat-Bestand. Und umso mehr wir von ihnen in Stellung bringen können, je umfassender dieser (Tat-)Bestand wird, desto besser für uns und unsere weiterführenden Handlungsabsichten, die dadurch Rückendeckung bekommen. Die Bedeutung eines Satzes, seine Wahrheit ist (in der denkbar pragmatischsten Konsequenz) die (mögliche) Bewährung all dessen, was man glaubt, alleine aufgrund dieser Aussage an weiteren Handlungsmöglichkeiten zu haben: ein sich eröffnendes Feld von Handlungsmöglichkeiten, das nicht durch weitere Aussagen in seinen Grenzziehungen beschnitten wird. Der positive Ertrag, der Inhalt eines Satzes, wie ihn viele Philosophen glauben noch immer (objektivistisch) wie in einem Gefäß vorkommend denken zu müssen, ist nicht schon selbst die isomorphe Widerspiegelung einer Sachlage oder eines Sachverhalts oder die derivative (und mangelhafte) Repräsentation eines Dings, sondern ein (unter Umständen alles entscheidender) Eckpunkt für unsere Orientierung in einer anschaulichen, lebensweltlichen Gesamtsituation, von der wir glauben, sie unter diesem Gesichtspunkt (vorerst) so auffassen zu können. Daher steht der Inhalt, wie man es aufgrund der veranschlagten Abstraktion des Begrifflichen schon immer kritisiert hat, durchaus unter negativen Vorzeichen; aber nicht bezogen auf die Anschauung, sondern bezogen auf unsere restlichen Überzeugungen. Denn er sagt ja implizit, von was ich alles sinnvollerweise nicht überzeugt sein darf, wenn ich ernsthaft das glaube. Und durch diesen Ausschluss ist einem sich aufbauenden Sinn immer wieder die (korrigierende) Richtung gewiesen
38 Vgl. unter den Vorzeichen »demonstrativer Bezugnahme« Evans, Gareth: The Varieties of Reference, a.a.O., S. 148: »If the Subjetct has an adequate Idea of an object, it must be capable of sustaining indefinitely many thoughts about that object. Not only thoughts like ›that player has commited a foul‹, or ›That player is good‐looking‹, as a man watches a game of football on the television, must be accounted for, but also thoughts like ›That player wighs 20 stone‹, ›That player was born in Liverpool‹.
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und diese Sinn-Richtung und Durchstrukturierung eines semantischen (Um-)Feldes ist seine Bedeutung und nicht sein Kulminieren in einem Sachbezug. Was aber auch bedeutet, dass der Vorwurf an das Begriffliche, von allen Besonderheiten zu abstrahieren und genau dadurch das eigentlich (unbegrifflich) Vorliegende zu verfehlen, nicht haltbar ist; denn es gibt kein Nicht-Begriffliches, das unsere Aussagen »treffen« oder verfehlen könnten, da es auf der anderen Seite kein von diesem gesondertes Begriffliches gibt, das jenem gegenübergestellt werden könnte – wenn darunter etwas Dingliches im Sinne des semantischen Objektivismusʼ verstanden wird. Es stimmt zwar, dass »wir nicht erwarten [dürfen], dass die Spontaneität erst mit Urteilen ins Spiel kommt, mittels derer wir die Erfahrung auslegen, so als wäre das Fundament mit dem Material der Rezeptivität schon gegeben, ohne dass die Spontaneität dabei einen Beitrag leisten würde.«39 Doch formt der Begriff dabei keine ihm gegenüber‐gestellte Realität, stellt sie auf, sondern er stellt uns auf, indem er uns auf die Dinge ein‐stellt und ihre möglichen Wechselwirkungen mit anderen Dingen (für unsere Einbildungskraft) vorstellt. Begriffe sind bei unseren welthaltigen Erfahrungen von Anfang an mit beteiligt und bedürfen keiner nachträglichen und aktiven »Verknüpfung« mit einem ihnen äußerlich bleibenden »Material«. Erfahrungen, in denen für uns empirische Erkenntnis zustande kommt, sind ein Fall von »tätiger Rezeptivität«40 , die zugänglich bleiben für beurteilende, auf ihnen aufbauende Stellungnahmen, weil unsere begrifflichen Fähigkeiten »bereits in der Erfahrung selbst und nicht erst in Urteilen am Werk [sind], die auf diesen Erfahrungen basieren«41 . Die Rolle des Begriffs für unser Erkennen ist es, durch sein Vorkommen in einer Feststellung und der Feststellung in einer Situations-Vorstellung die Grundkoordinaten zu benennen, die unserem Erkennen einen rational rückversicherten Standpunkt in einer Umwelt erlaubt und uns eine fortgeführte Handlungskontrolle über eine Situation ermöglicht, die sich anhand einzelner Feststellungen vor einem weiteren Vorstoß und Vordringen noch einmal rückversichern kann. Diese unsere Sicht der Dinge durchstrukturierenden Verbindungen »weisen den Begriffen ihren Platz als Elemente in möglichen Weltsichten zu.«42 Was immer wieder neu begrifflich zur Debatte steht, ist unsere Orientierung in der Welt, unsere Stellungnahmen zu ihren Vorkommnissen, unsere gemeinsame Koordination43 auf geteilte und »unter‐stellte« Ziele hin, so zusagen unsere Ko-Orientierung, bei der das Verstehen der Perspektive einer dritten Person bereits mit inbegriffen ist, solange man bestrebt bleibt, 39 McDowell, John: Geist und Welt, a.a.O., S. 49. 40 McDowell, John: Geist und Welt, Frankfurt a.M. 2012, S. 34. 41 Ebd., S. 49. 42 Ebd., S. 35. [Meine Hervorhebung]. 43 Von lateinisch »ordinare«, was so viel wie »regeln«, »ordnen«, in eine bestimmte Folge bringen bedeutet und woraus sich das spätere, mittellateinische »coordinare« ergibt, was so viel heißt wie »zuordnen« und einer Sache »beiordnen«.
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verschiedene Perspektiven auf einem gemeinsamen Gehalt und einen objektiven Standpunkt hin konvergieren zu lassen, der dadurch erst seine (vorläufige) Gestalt annimmt. »Gesagt von wem? Gesagt zu wem? Nicht von einem Geist zu einem anderen Geist, sondern von einem Wesen mit Leib und Sprache zu einem anderen Wesen mit Leib und Sprache, von denen die eine Seite die jeweils andere mit unsichtbaren Fäden […] zu lenken versteht«44 . Was natürlich umso besser glückt, je weiter der Gehalt der Aussage für beide, zur Koordination aufgerufenen Parteien »ausgedehnt«, »ent‐grenzt« oder eben de‐finiert, d.h. auf einen möglichst großen und damit zusammenhängenden Bereich an geteilten Überzeugungen übergreift. Nicht, dass die kommunizierte Bedeutung dadurch unscharf würde, da man immerzu glaubt, Definitionen müssten möglichst genau eingrenzen und einengen, damit wir auch möglichst genau »auf den Punkt kommen«, wie es Spinozas omnis determinatio est negatio ausspricht. Begriffe dienen uns nicht zur Aussprache des (genau eingegrenzten) Wesens der Dinge, sie treffen oder verfehlen nicht die einzig wahre Beschreibung von etwas, sondern sie dienen der (intersubjektiven) Kommunikation und der Einstufung unserer Handlungsmöglichkeiten. Daher sind sie auch nicht (notorisch) zu grob oder zu ungenau, um die »Feinkörnigkeit«45 der Realität »einfangen« zu können. Denn was eine Beschreibung anzeigt, bleibt davon abhängig, wem sie es anzeigt und in welcher Situation sie es anzeigt. Wenn ich zu einem Freund sage, der mich fragt, wie denn genau die Lampe aussieht, von der ich spreche und ich ihm die saloppe Antwort gebe: »Na ja, Du weißt schon, so typisch geschwungen à la Jungendstil halt« und er trotzdem 44 Marivaux zit.n. Merleau-Ponty, Maurice: Signes, Hamburg 2007, S. 26. 45 Vgl. Peacocke, Christopher: Scenarios, concepts and perception, in: The Concents of experience, Cambridge 1992, S. 111: »Writers on the objective content of experience have often remarked that an experience can have a finer‐grained content than can be formulated by using concepts possed by the experiencer. If you are looking at a range of mountains, it may be correct to say that you see some as rounded, some as jagged. But the content of your visual experience in respect the shape of the mountains is far more specific than that description indicates.« Vgl. ebenfalls Heck, Richard: Nonconceptual Content and the ›Space of Reasons‹, in: Philosophical Review, Nr. 109 (2000), S. 490: »My experience of [the things around me] represents them far more precisely […] far more distinctively, it would seem, than any other characterization I could hope to formulate, for myself or others, in terms of concepts I presently posess. The problem is is not lack of time, but lack of descriptive resources, that is, lack of the appropriate concepts.« Vgl. ebenso Davies, Stephen: Musikalisches Verstehen, in: Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, hg. v. Alexander Becker und Matthias Vogel, Frankfurt a.M. 2007, S. 43: »Der Anblick einer Tapete ist genauso unbeschreibbar subtil wie der Anblick eines Rembrandt. Nuancen-Unbeschreibbarkeit gilt für langweilige und Allerweltsphänomene genauso wie für interessante und großartige […]. Egal wie genau wir unsere Wahrnehmungserfahrung beschreiben – [es wird] immer Aspekte in den Details einer gegenwärtigen Wahrnehmung geben, die nicht beschrieben werden können.«
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im überbordenden Trödelladen nebenan durch meine Beschreibung zu genau dieser Lampe vorstößt und sie freudestrahlend zur Kasse trägt, so wird er vielleicht nach Verlassen des Geschäfts (zu Recht) zu sich selbst sagen, dass es sich genau so verhalten hat, wie ich gesagt habe, d.h., dass meine Beschreibung völlig adäquat war. Während er beim Antreffen einer Vielzahl ähnlicher Lampen vielleicht etwas ungehalten sich eingestehen würde, dass ich mich bei meiner Beschreibung hätte mehr ins Zeug legen oder genauer hätte sein sollen. Denn was hier »adäquat« ist, ist nicht das Zutreffen eines begrifflichen Gehalts auf einen ebenso zugeschnittene Anschauung dieses Dinges, eine Tatsachen-Adäquatheit, sondern die Bewährung einer Beschreibung in einem Handlungskontext, d.h. ihre Situationsadäquatheit. Denn »eingegrenzt« wird durch Definitionen vielmehr ein ganzes Gebiet an Möglichkeiten gerade durch die begriffliche Aus-Grenzung von Alternativen, die von einer einzelnen Aussage angestoßen durch andere Aussagen in demselben semantischen Umfeld das noch nicht Festgestellte, vorerst Unverstandene weiter »zurückdrängt«: es aus dem fest‐gestellten Gebiet kohärenter Verweisungen hinausdrängt. Wenn meine Aussage, dass die Katze auf der Matte liegt, beide Gesprächspartner schlagartig mit einer ähnlich strukturierten Vorstellung vom Stand der Dinge aussatten würde, sie nahezu eine identische Perspektive auf die Dinge ausbilden würden, könnte ja getrost auf jede weitere Kommunikation verzichtet und augenblicklich zur Tat geschritten werden. Doch weder kommunizieren wir, um die Dinge bloß zu benennen, noch um sie beim Namen zu nennen; das Buch der Natur steht nicht geschrieben und bedarf lediglich der korrekten Entzifferung, noch färben wir die Dinge subjektiv nach Belieben ein, versehen sie willkürlich mit Symbolen und Zeichen. Wir kommunizieren, um uns darüber zu verständigen, wie wir die Dinge »sehen« wollen bzw. sehen sollten, d.h. müssen und können, um uns in einem übergreifenden Zusammenhang zu orientieren, uns ein »Bild« von ihnen zu machen, das immer weitere Anreicherungen und Abstufungen, Korrekturen und Ergänzungen zulässt. Nichts führt dies selbst so deutlich vor Augen wie ideengeschichtliche Abhandlungen, die transparent werden lassen, als was wir die Dinge aufgrund welcher Voraussetzungen einst gesehen haben. Der »Wahnsinn«, von dem Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft spricht, ist ja kein vorliegendes, gegenständliches, raum‐zeitlich lokalisierbares, sich immer gleich bleibendes Ding, sondern ein (sprachlich erfassbarer) Komplex an Auswirkungen und Phänomenen, dem wir versuchen eine (semantische) Positionierung innerhalb angrenzender gesellschaftlicher, medizinischer und psychologischer Phänomene abzugewinnen und der seinerseits seinen (semantischen) Ort in Wechselwirkung mit genau jenen angrenzenden Bestimmungen zugewiesen bekommt. Entsprechend sagt Foucalt über unser heutiges Verständnis von Wahnsinn auch richtig, dass
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»we have now got in the habit of perceiving in madness a fall into a determinism where all forms of liberty are gradually suppressed; madness shows us nothing more than the natural constants of a determinism, with the sequences of its causes, and the discursive movement of its forms […]. It is not on this horizon of nature that the seventeenth and eighteenth centuries recognized madness, but against a background of unreason; madness did not disclose a mechanism, but revealed a liberty raging in the monstrous forms of animality.«46 Für den Gehalt einer korrespondierenden Anschauung im Abgleich mit einem sprachlichen Konzept bedeutet dies in einer realen Bewährungssituation: ich sehe nicht exklusiv, also für sich genommen und als einziges, dass die Katze auf der Matte liegt – was immer wieder in der Philosophie die Gegenfrage provoziert hat, wie ich genau diese Referenzbeziehung zu genau dieser Tatsache wie von außen überprüfen können soll, wenn es für mich kein Außerhalb der Sprache gibt. Nein, ich nehme keine vereinzelten Tatsachen wahr, sondern eine Situation, in der Aussagen für mich Geltung besitzen. Die Anschauung, die dem Begrifflichen entspricht oder korrespondiert, ist nicht dem Inhalt einer begrenzenden Form gleichzusetzen oder mit dem Gegenstand selbst zu identifizieren, den die Aussage vermeintlich benennt. Sondern sie ist das auf einen Standpunkt bezogene, perspektivierte In-Erscheinung-Treten eines sinnlichen und potenziellen Handlungs-Zusammenhangs, eines perzipierten, uns selbst einfassenden Umfeldes, unsere gelebte Umwelt, die ihre strukturierenden Koordinaten durch den Stellenwert der einzelnen, auf es angewandten und gewichteten Teilaussagen vorgezeichnet bekommt und die uns in der Summe erwarten lässt, was, wo, warum und wie Berücksichtigung für unsere lebensweltlichen Interventionen zu erfahren hat.47 Sie ist »Aufzeigung«, wie Heidegger sagt, »sie ist Mitsehenlassen des in der Weise des Bestimmens Aufgezeigten. Das Mitsehenlassen teilt das in seiner Bestimmtheit aufgezeigte Seiende mit dem Anderen. ›Geteilt‹ wird das gemeinsame sehende Sein zum Aufgezeigten, welches Sein zu ihm festgehalten werden muss als In‐der-Welt‐sein, in der Welt nämlich, aus der her das Aufzeigte begegnet.«48 Doch wird das Sinnliche dadurch nicht beschränkt, eingeschränkt oder »abgeblendet«, wie Heidegger anfügt.49 Im Gegenteil: es kann sich solange 46 Foucault, Michel: Madness and Civilization, London 1989, S. 78. 47 Selbst, wenn man sprachlichen Gehalt einen »dinglichen« Status zugestehen wüde, wäre durch den immer schon mitgebenen Bezug sinnlichen Gehalts auf die erste Person dessen Identifizierung und Zurückführung auf mögliche Propositionen bereits abwegig. Vgl. Peacock, Christopher: Scenarios, concepts and perception, in: The Content of Experience. Essays on Perception, a.a.O., S. 113f. 48 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, a.a.O., S. 155. 49 Vgl. ebd., S. 155: »Das Bestimmen entdeckt nicht erst, sondern schränkt als Modus der Aufzeigung das Sehen zunächst gerade ein auf das Sichzeigende – Hammer – als solches, um durch die ausdrückliche Einschränkung des Blickes das Offenbare in seiner Bestimmtheit ausdrücklich
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ungestört vervollständigen und für unsere verweilende Aufmerksamkeit entfalten und in Interaktion (mit uns selbst) ereignen, bis es einer anderen Bestimmung unterliegt. Und diese ist keine Einschränkung einer zuvor ungezwungenen und freien Begegnung mit der Welt (der Erscheinungen), sondern (nicht selten) gerade deren Voraussetzung. In ihrer konkreten sinnlichen Anwesenheit können wir die Begebenheiten unserer Umwelt im Gegenteil ja gerade dadurch an uns »herankommen« lassen, weil sie einer begrifflichen Fest-Stellung unterliegen, die sie in einem kontrollierten, weil verstandenen Gesamtzusammenhang zusammenfasst, der einem jeden von ihnen ein gewisses »Wirkungsrecht« einräumt, während er es anderen versagt. Und gerade die nicht mit solchen begrifflichen Grundkoordinaten abgesteckte Situation ist es im Gegenteil, die es uns nicht erlaubt, uns mit dem vermeintlich ungezwungenen Erscheinen der Dinge zu konfrontieren, weil wir uns noch nicht darüber verständigen konnten, welche möglichen (zukünftigen) Wirkungen warum und wo die Situation (für uns) bereithalten wird. Weswegen wir gezwungen sind, quasi offen zu bleiben für die kleinsten Veränderungen, die überall ihren Anfang nehmen könnten. Etwas, das immer weniger nötig wird, desto mehr FestStellungen »greifen« und wir unsere Aufmerksamkeit gezielt und aus freien Stücken von manchen Stationsausschnitten abziehen und anderen mit größerer Intensität zuwenden können. Entsprechend liegt begriffliches Verstehen auch nicht als Schranke an der Wurzel unserer Sinneseindrücke, es formt sie nicht oder verzerrt sie, denn all das sind Denkfiguren, die ausschließlich vor dem Hintergrund eines semantischen Objektivismus Sinn ergeben. Der »Gewaltakt des Denkens« besteht nicht in den Kategorien, die es dem (So-)Sein (der Erscheinungen) aufzwingt, sondern in dem Dezisionismus, der ihm durch den fortwährenden Entscheidungsdruck, dem es durch reale oder auch nur als real imaginierte Situationen selbst aufgezwungen wird. Die damit einhergehenden Verallgemeinerungen unseres Denkens sind keine beliebigen Konstruktionen oder Abstraktionen; denn sie befähigen uns ja gerade Richtiges als zu berücksichtigende Konstante unserer Vorstellung vom Stand der Dinge zu integrieren, damit wir als Subjekte handlungsfähig bleiben und zum nächsten Punkt übergehen können, um so mit dem Gang der Dinge Schritt halten und »auf dem Laufenden« bleiben zu können – was nicht möglich wäre, wenn wir ständig falsch und damit »daneben« liegen würden. offenbar zu machen. Das Bestimmen geht angesichts des schon Offenbaren – des zu schweren Hammers – zunächst einen Schritt zurück; die ›Subjektsetzung‹ blendet das Seiende ab auf ›der Hammer da‹ […].« Doch genau diese (von vielen vertretene) Einschätzung unseres begrifflichen Erkennens ist gerade fraglich und gründet bei Heidegger bekanntlich in der Priorisierung einer vorgängigen Welterschlossenheit, der gegenüber die prädikative Aussage als derivativ anzusehen ist, die (sprachliche) Aussage einen abkünftigen Modus gegenüber einer (grundlegenderen) existenziell‐verstehenden Auslegung darstellt.
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Zu wissen, was etwas ist, (annähernd) sicher gehen zu können, wie es um die (möglichen) Wirkungen und Verhaltensweisen von etwas bestellt ist, heißt für unser Erkennen gerade nicht, es nunmehr links liegen lassen zu müssen und seine Sinnlichkeit zwangsläufig auszublenden, sondern im Gegenteil: es bedeutet, sich seinem sinnlichen Erscheinen, seinen Querbezügen und weiterführenden Akzentuierungen rückversichert und dadurch eingehender widmen zu können. Eingehender, als es möglich wäre, wenn es völlig unverstanden in unseren Gesichtskreis treten würde und wir nicht wüssten, auf was wir zu achten haben und in der Folge auf alles achten müssten. Das »Weniger-wahrnehmen-Müssen [tritt] ganz in den Dienst des Mehr-wahrnehmen-Könnens, das selbst die Prävention ist, aber zugleich die Wurzel einer weitergehenden Einlassung auf das, was dabei freigestellt zugänglich wird.«50 Und begriffliches Denken ist genau dies: wörtlich zu nehmendes Zuvorkommen oder Vorwegnahme, Prävention, geistiges Probehandeln, das (zusammen mit unserer Vorstellungskraft) aktiv wird, bevor die Dinge aktiv werden. Denken, das die Dinge nicht ohne weiteres gewähren lässt, wie sie wollen, sondern wie wir wollen, indem es die weiteren Rahmenbedingungen überschlägt, wann, wo und wie ein solches Ding (in unserer Umgebung) vorkommen wird. Es ist eben Ein-Stellung auf, nicht Ver-Stellung des Sinnlichen. »Prävention ist Einstellung auf alles, was in einem gegebenen Horizont möglich ist.«51 Und möglich soll für unsere primären Überlebensstrategien klarerweise nur etwas sein, dass wir i.) entweder gemäß unserer Interessen in Zaum halten können, ii.) zukunftsweisend manipulieren oder iii.) sich selbst überlassen, d.h. getrost ignorieren können. »Allem zuvorkommen, womit handgemein zu werden fällig werden könnte, bedeutet, das eigene Handeln im Horizont von Möglichkeiten zu lokalisieren […]. Die akuten Situationen müssen bewältigt werden, bevor sie eintreten – also auch, ohne dass sie eintreten, schließlich auch und gerade, damit sie nicht eintreten. Der Mensch lebt aus der Sicherheit der räumlichen und zeitlichen Entfernung dessen, was ihm zustoßen kann, schließlich und am Ende mit dem Versuch, diese Entfernung absolut zu machen.«52 Räumliche und zeitliche Entfernung, einen Vorsprung vor der real eintretenden Kausalität der Dinge gibt es aber nur, wo ein Denken mit Stellvertretern oder Platzhaltern operiert, die als Konstanten und Variablen einer Situations-Vorstellung uns erahnen lassen, was wir höchstwahrscheinlich (aufgrund einer semantischen Normierung, einer begrifflichen Maßregelung seines lebensweltlichen Vorkommens) wo zu erwarten haben und die uns in Verbindung mit unserer (vorstellenden) Anschauung in Grenzen darüber Aufschluss verschaffen, wie wir es zu erwarten haben: 50 Blumenberg, Hans: Theorie der Unbegrifflichkeit, a.a.O., S. 26. 51 Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen, Frankfurt a.M. 2006, S. 565. 52 Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen, a.a.O., S. 593.
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was die realen, räumlichen (Aus-)Wirkungen sein werden, wie sie ineinandergreifen, wie sie ab- oder umgelenkt werden können, gar verhindert oder gewinnbringend kanalisiert und eingesetzt. Und einen anderen Gehalt können unsere Begriffe nicht haben, wenn wir nach‐metaphysisch nicht mehr glauben, sie würden an ein inneres Wesen der Dinge heranreichen oder deren Essenz aussprechen. Begriffe werden für ein endliches, auf Prävention angewiesenes Wesen dort aktiv, wo die Überbrückung von physischer Distanz und eine zeitliche Vorwegnahme vonnöten ist, d.h., wo reale und empirisch noch vorhandene, räumliche und zeitliche Entfernung zugleich ein geistiges Entfernen erfordert, indem wir an etwas denken. Was nicht bedeutet, per Intentionalität in direkten Kontakt mit etwas zu treten, sondern uns ein »Bild« davon zu machen, bevor es realiter in Erscheinung tritt, es als Ereignis eintritt, sich manifestiert und damit immer auch potenziell an uns herantritt, uns mit seinen Auswirkungen angeht und unsere Absichten eventuell übergeht. So, wie das Englische in diesem Fall von prevention spricht, der Verhinderung eines events, dem wir durch Prävention zuvorzukommen gedenken. Dieses Dazwischenschalten von Erkenntnisgehalten ist aber nicht die Stellvertretung der Realität im Sinne von Realitäts-Surrogaten – als ob nun diese anstatt jene für uns in Erscheinung treten würden. In Stellung gebrachte Begriffe sind nicht die Ersetzung von (realen) Dingen, sondern die (probeweise) Setzung oder Einsetzung von als real antizipierten (Aus-)Wirkungen und Einwirkungen, die von einem Etwas ausgehend oder in Interaktion mit ihm gedacht und damit anschaulich von uns vor‐gestellt werden (müssen). Sie sind Platzhalter, die augenblicklich ihren Platz räumen, weil sie ihn niemals wirklich mit einem fixen Gehalt im Sinne eines semantischen Objektivismus besetzt hatten; sie halten dem Wirken der Realität einen antizipierten Raum und damit einen gewissen Ort innerhalb unserer gelebten Umwelt frei, damit sich uns eine gewisse Distanz zu ihren (dann eintretenden) Realisierungen ergibt. »Der Begriff […] ist kein Surrogat […], nicht die Erfüllung der Intentionen der Vernunft, sondern nur deren Durchgang, deren Richtungsnahme.«53 Eine Richtungsnahme und Ausrichtung auf das, »was da noch kommt«.54 Was ein Begriff 53 Blumenberg, Hans: Theorie Unbegrifflichkeit, a.a.O., S. 10. 54 Entsprechend täte der Pragmatismus gut daran, erst gar nicht erklären zu wollen, was der Gegenstand aus pragmatistischer Sicht »ist«, um jenes ominöse (und nach wie vor substanziell gedachte) Ding in Handlungs- und Wirkungszusammenhängen aufgehen zu lassen, sondern er sollte die Prämisse erst gar nicht zulassen, der unseren Konzepten »korrespondierende« Gegenstand könne überhaupt angemessen als ein dingliches Etwas gedacht werden. Stattdessen sollte er von vornherein aufklären wollen, wie dieser aus pragmatistischer Sicht zustande kommt. Denn sich in Interaktion herausbildende Gegen-Stände gleichen ja mehr (relativ) stabilen Zentren möglicher Interaktionen und Wechselwirkungen als »Dingen« im Sinne einer metaphysisch zugrundeliegenden Substanz. Eine Einsicht, die ja im Grunde nirgendwo so deutlich ausgesprochen ist wie in der »pragmatistischen Maxime« selbst, wie sie Charles Sanders Peirce
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leistet und welchen Inhalt er hat, lässt sich dadurch verdeutlichen, dass man »an die Herstellung einer Falle denkt: sie ist in allem zugerichtet auf die Figur und die Maße, die Verhaltensweise und die Bewegungsart eines erst erwarteten, nicht gegenwärtigen, erst in Besitz und Zugriff zu bringenden Gegenstandes.«55 Und diese räumliche Distanz ergibt sich für uns durch die Zeit, die wir den potenziellen Wirkungen eines Dinges in einer Situation vorweg sind, weil wir uns durch unser anschauliches Planen und die Bezugnahme auf Vorstellungsgehalte in der Zeit vorweg sein können. Wenn wir uns in Ansätzen ein richtiges »Bild« vom Stand der Dinge machen, ergibt sich uns dadurch eine Reaktionszeit, die wir dem Gang der Dinge voraus sind, auch wenn wir ihnen am Ende vielleicht nicht aus dem Weg gehen können oder sollten. »Die ständige Frage nach der Beziehung zwischen Begriff und Urteil einerseits, Wahrnehmung und Erfahrung andererseits verdeckt, dass wir es in der Begriffsbildung weitgehend nicht mit dem Gegenwärtigen zu tun haben, sondern mit dem Abwesenden, Entfernten, Vergangenen oder Zukünftigen.«56 Denn die »eigentlich produktive Leistung [der Sprache, R.Z.], besteht in der begrifflichen Artikulation einer Welt von möglichen Sachverhalten.«57 Die Dinge und Ereignisse der Welt sollen uns noch vor ihrem (realen) Eintreten, ihrem In-Erscheinung-Treten ins Netz gehen, das wir als Begriffsnetz orientierend über eine Welt möglicher, materieller Konsequenzen ausgebreitet haben. Ein Netz, das wir als »Ideenkleid«, wie Husserl die Mathematisierungen der Naturwissenschaften nicht ohne Kritik nennt, über die Welt geworfen haben und das uns am Ende ohne entsprechende Reflexion gar »für wahres Sein nehmen [lässt], was eine Methode ist.«58 Für uns hat »alle Erfahrung […] den Vorspann der Unbestimmtheit, freilich auch ihre die Einstellung provisorisch bestimmenden Vorgriffe und Vorurteile im Hinblick auf mögliche oder gar nicht erst abzuwartende Bestimmt-
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formuliert hat, auch wenn sie quasi nicht die ontologische Konsequenz aus diesem Begriffsverständnis zieht: »Überlege, welche Wirkungen, die denkbarer Weise praktische Relevanz haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in der Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das ganze unseres Begriffs dieses Gegenstandes.« Peirce, Charles Sanders: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt a.M., 1967, S. 195. Ebd., S. 10. Blumenberg, Hans: Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007, S. 33. Habermas, Jürgen: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, Frankfurt a.M. 1997, S. 23. Daher kann ich mich auch nicht Wilfrid Sellars Ansicht nicht anschließen, dass »the real test of a theory of language lies not in its account of what has been called (by H.H. Grice) ›thinking in absence‹, but in its account of ›thinking in presence – that is to say, its account of those occasions in which the fundamental connections of language with non‐linguistic fact is exhibited.« Sellars, Wilfrid: Empiricism and the Philosophy of Mind, a.a.O., S. 249. [Meine Hervorhebung]. Denn es ist genau dieses Bild von »connections«, das schief ist. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 1992, S. 52.
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heit.«59 Vor diesem Hintergrund ist selbst die steinzeitliche Falle noch anschaulich als »dinglich gewordene Erwartung«60 beschreibbar; denn auch und gerade sie realisiert ja materiell eine Antwort auf das mögliche Verhalten einer erst einzufangenden Beute. Und bei ihrer Herstellung sind so zusagen die »umgekehrten Verhältnisse«61 des zu erwartenden Verhaltens (der Beute) handlungsleitend, da sie sich auf die möglichen, zukünftigen Wirkungen (ein-)richten, diesen »entgegenwirken«, ihnen als der Gegen-Stand Falle Wider-Stand leisten muss. In unseren Begriffen sind lebensweltliche Erfahrungen immer schon verarbeitet und bewältigt, wie es weiter oben hieß. Doch ermöglichen Begriffe uns nicht nur die antizipierende Stellvertretung von Zukünftigem, noch nicht Anwesendem und sich erst noch situativ entfaltenden Wirkungen, von etwas, das noch nicht real eingetreten ist, sondern sie ermöglichen unserem Handeln und unseren Vorkehrungen auch die Ausrichtung auf Anwesendes, das wir selbst nicht ohne weiteres wahrnehmen können, das aber trotz allem Berücksichtigung für unser Handeln erfordern sollte. Um auch hier ein bewusst plakatives Beispiel zu wählen: Auch wenn die Spüle oder Toilette noch so sauber wirken sollten, kämen wir ja unter normalen Umständen nicht auf die Idee, denselben Lappen für unser Geschirr zu benutzen, der zuvor Bekanntschaft mit der anderen von beiden sanitären Einrichtungen gemacht hat, mag dessen Zustand nach seiner Benutzung für unsere Wahrnehmung auch noch so ununterscheidbar von demjenigen des Küchenhandtuchs sein, das wir normalerweise unseren Tellern und Tassen zum Abtrocknen vorbehalten sehen. Und das aus dem einfachen Grund, dass wir nunmehr (begrifflich) wissen, dass sich höchstwahrscheinlich Millionen von Keimen und Bakterien auf dem Lappen befinden werden, wenn er zuvor auf »Tauchstation« gegangen ist und weil wir uns die entsprechenden Wechselwirkungen und Übertragungswege vorstellen können, die dessen Kontakt den Bakterien und Keimen gestatten würde, wenn er zuerst die Spüle und dann das Geschirr berührt hätte und wir dieses selbe Geschirr dann in naher Zukunft an unseren Mund führen. 59 Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen, a.a.O., S. 564. Vgl. auch Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen, a.a.O., S. 175: »Menge und Reichtum an Bedeutungen, die dem Menschen zur Verfügung stehen, überschreiten stets den Kreis der definitiven Gegenstände, die den Namen Signifikat verdienen, die symbolische Funktion ist ihrem Gegenstand notwendigerweise stets voraus, und sie findet das Reale nur, indem sie ihm ins Imaginäre vorauseilt.« 60 Ebd., S. 14. 61 Ebd., S. 14. Vgl. ebenso unter einem stärker phylogenetischen Gesichtspunkt: Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen, a.a.O., S. 562: »Eine so einfache Handlung wie die Herstellung einer Falle und die Beachtung der Regeln bei ihrer Überwachung verlangt die Ersetzung der sensorischen Information durch die des Begriffs. Er lässt das Handeln hinsichtlich eines abwesenden Gegenstandes sich so einrichten, als ob der Gegenstand anwesend und verfügbar wäre. Der Begriff orientiert ganze Komplexe motorischer Elemente in Richtung auf ein nicht gegebenes Ziel […].«
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Wenn er also in eine räumliche Konstellation eintreten würde, die diese Wirkungen ermöglicht. All dies spielt sich unter dem Radar unserer Wahrnehmung ab, aber nicht unter dem Radar eines begrifflich instrumentierten Kausaldenkens, das raum‐zeitliche Verhältnisse durch eine situationsgerechte und situationsadaptive Zusammen-Stellung und Vorstellung von materiellen Begebenheiten imaginativ überschlagen kann und diese Einschätzung als Erwartungshaltung gegenüber gewissen Auswirkungen dieser Tatsache in die aktuell vollzogene Wahrnehmung versucht zurückzuspielen, sodass wir Lappen X nun mit dem nötigen Respekt begegnen, auch wenn sein Aussehen ununterscheidbar von Lappen Y bleibt. Durch diese begriffliche Einschätzung sind wir nun entsprechend alarmiert und für mögliche Auswirkungen dieser unterstellten Tatsache offen, d.h. darauf eingestellt, wie sie sich letzten Endes doch noch sinnlich zu Erkennen gibt, also für unsere Wahrnehmung bemerkbar machen würde – natürlich auch hier unter den gegebenen Umständen. Doch für diese Art der Einschätzung müssen wir möglichst viel von den Dingen in Erfahrung gebracht haben, erkannt haben, wie sie im Wortsinne wirklich waren, d.h. wie sie waren, wie sie gewirkt haben, wie ihre Wechselwirkungen mit anderen Dingen ausgefallen sind. Nur dadurch können wir ihre Einflussnahme, ihr mögliches Wirkungsspektrum auf potenzielle Situationen einschätzen und vorwegnehmen, während ihr Was, das den Ausgangs- oder den Endpunkt dieser Wirkung abgibt, eine begriffliche Unterstellung bleibt, das ausgesparte (sprachlich idealisierte) Wirkungszentrum, dessen (genauere) Abmessungen sich intersubjektiv durch semantische Koordinierungen beständig weiter verschieben kann und auch verschieben muss, wenn es mit weiterer Erfahrung angereichert wird Denn »das Objektive (ist) nicht das Gegebene, sondern das erst zu Erringende, nicht das an sich bestimmte, sondern das zu Bestimmende«, wie Habermas Cassirer zitiert.62 Von was (genau) 62 Habermas, Jürgen: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, Frankfurt a.M. 1997, S. 23. Ob eine solche Position schon Anklänge von derjenigen Hegels für sich verzeichnet, bleibt trotz eines hier verteidigten, pragmatistischen, prinzipiell falliblen und damit auf keine systemische Synthese hinauslaufenden Realismusʼ (zumindest für den Autor) fragwürdig und sollte daher nicht gänzlich unerwähnt bleiben. Unter begriffsrealistischen Vorzeichen hatte Hegel (nach orthodoxer Lesart) die Gegenstandsidentität ja nicht bloß nominalistisch, im Sinne der hier veranschlagten »Setzungen« verstanden sehen wollen, wie sie noch eher an die Position Kants erinnert, sondern als beständige, reale Herausbildung und Selbstdifferenzierung begriffen, die gerade auch und vor allem durch den Bezug zu anderem »zu sich selbst« findet. Vgl. bspw. Sören Hoffmann, Thomas: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, a.a.O. S. 260 & 263: »Sie [das Bewusstsein auf der Stufe der Wahrnehmung, R.Z.] wird die abstrakte Identität ›Wasser‹ also so definieren, dass diese Identität auch nichtidentisch, nicht einfach Sich-Selbstgleichheit, sondern ein Prozess möglicher Bestimmungen ist. Dieser Prozess ist das identische Wasser aber nicht einfach für sich; das Wasser alleine und für sich genommen ist nicht teils fest, teils flüssig, teils gasförmig, sondern ist es ist dies jeweils nur in Beziehung auf andere Gegenstände, zum Beispiel in Beziehung auf die Sonne, die das Eis erwärmt […]. Der Verstandesstandpunkt [der in der Phä-
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eine Wirkung ausgeht oder ausgehen wird, auf was sie einwirkt oder Einfluss nehmen wird, bleibt von begrifflichen Vorannahmen und Zuordnungen abhängig, ist je nach Interessen- und Situationslage unterschiedlich bemessen, weil für unsere theoretischen Setzungen und Ein-Setzungen (von situativ uns begegnenden Dingen), mit denen unser rationales (Vor-)Verständnis und unsere Erklärungen operieren, immer ein gewisser Ermessensspielraum bleibt, der das Spiegelbild unserer Handlungsfreiheit ist.
4.4
Vorstellungs-Bild und Vorstellungswelt »L’imagination dispose de tout; elle fait la beauté, la justice et le bonheur, qui est tout du monde.« - Blaise Pascal
Was ist nach diesen Bestimmungen unserer sprachlichen Gehalte nun der Beitrag, den unsere Anschauung zu unserer Erkenntnis leistet? Was und wie ist ein Wahrnehmungs-Gehalt in seiner Zusammensetzung zu denken? Ein wichtiges und bereits mehrfach erwähntes Scharnier zur weiteren Klärung dieser Frage, das in heutigen sprach- und wahrnehmungsphilosophischen Überlegungen kaum noch zur Sprache kommt, ist unsere Vorstellungskraft. Was eine Vorstellung unter den Prämissen des linguistic turns und vor dem Hintergrund unserer sprachpragmatischen Überlegungen überhaupt sein kann (ein mentalistischer Repräsentationalismus für die Konstitution sprachlicher Bedeutungen alleine nicht mehr in Frage kommt), wie sie wirkt und sich auf unser Erkennen auswirkt, ist bereits selbst zur Sprache gekommen, soll aber im Fortgang eine weitere Präzisierung erfahren. Machen wir uns also vorerst selbst eine richte Vorstellung vom Wirken der Vorstellung, um uns eingehender der Wahrnehmung und ihren (epistemischen) Kapazitäten widmen zu können. Was könnte unter Vorstellungsvermögen unter semantisch geläuterten Vorzeichen selbst zu verstehen sein? Was ist das epistemische Vermögen unserer Einbildungskraft, jener »blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber nur selten bewusst sind«63 ? Und das, obwohl doch jede Vorstellung derivativ gegenüber der Wahrnehnomenologie des Geistes fortgeschrittenen Vernunft, R.Z.] besteht darin, die gegenständliche Welt überhaupt als eine Welt, eine homogene Sphäre von Objekten anzusehen. Die Objekte als Identitätsinvestitionen verhalten sich in dieser Welt gesetzmäßig zueinander, und Welterkenntnis ist jetzt idealiter immer die Erkenntnis der gesetzesmäßigen Verhältnisse der Objekte zueinander.« 63 Kant, KrV, A 78, B 103.
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mung und ihren Gehalten scheint; ein blasses Abbild von zuvor Wahrgenommenen, an das unsere Erinnerungen nur noch höchst mangelhaft heranreichen und das unsere Projektionen nur sehr schematisch in der Lage sind in Anpsruch zu nehmen? »Every one will readily allow, that there is a considerable difference between the perceptions of the mind, when a man feels the pain of excessive heat, or the pleasure of moderate warmth, and when he afterwards recalls to his memory this sensation, or anticipates it by his imagination. These faculties may mimic or copy the perceptions of the senses; but they never can entirely reach the force and vivacity of the original sentiment«64 wie es bei Hume hierzu heißt. Und machen wir uns nicht recht häufig falsche Vorstellungen, die kurzerhand von der Wahrnehmung richtig gestellt werden? Doch wie gesehen, steht es ganz so einfach nicht um das epistemische Potenzial unserer Sinne. Was wir sehen und hören, sprich der Gehalt unserer Wahrnehmung bleibt aufs Engste auf unsere Überzeugungen bezogen. Oft sehen und hören wir ja nur das, was wir sinnvollerweise erwarten können, denn unsere Wahrnehmung wendet sich vor dem Hintergrund unserer Überzeugungen gezielt Aspekten einer Situation zu und lässt andere vorerst unberücksichtigt, weil auch sie die Fakultät eines endlichen Wesens ist und dadurch gezwungen, mit ihren Ressourcen zu haushalten, möchte sie für ein weiteres, lebensweltliches Eingreifen und Ergriffenwerden funktionstüchtig bleiben. Wir sehen nicht anders, wenn sich unsere Einstellungen geändert haben, sondern wir sehen anderes – andere Aspekte, eine andere Gestalt, einen anderen Zusammenhang, von dem wir im Nachhinein oft pikiert und erstaunt feststellen (müssen), wie wir ihn nur hatten übersehen können? »That we find what we are prepared to find (what we look for or what forcefully affronts our expectations), and that we are likely to be blind to what neither helps nor hinders our pursuits, are commonplaces of everyday life and amply attested in the psychological laboratory. In the painful experience of proof reading and the more pleasurable one of watching a skilled magician, we incurably miss something that is there and see something that is not there.«65 Aber nicht nur das: denn oft »verpassen« wir nicht schlicht etwas, das uns bloß entgangen ist, sondern (allzu) häufig können wir nicht sehen, mit was wir uns vermeintlich direkt konfrontiert sehen sollten66 : ob soziale Missstände, die Folgen des 64 Hume, David: Of the Origin of Ideas, in: ders., An Enquiry concerning Human Understanding, a.a.O., S. 17. 65 Goodman, Nelson: Ways of Worldmaking, a.a.O. S. 14. 66 In der empirischen Forschung werden die Ursachen hierzu oft lediglich in einer »selektiven Aufmerksamkeit« gesehen, wie sie unter u.a. zu Untersuchungen zur sogennanten »change blindness« zu finden sind. Vgl. Simons, D.J. und Chabris, C.F.: Gorillas in our Midst: Sustained Inatten-
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Klimawandels, das Absterben der westlichen Demokratie, der Abbau von Grundrechten aber vor allem eines: die eigene Situation. Denn aus ihr heraus orientieren wir uns, ohne, dass wir eigens auf sie selbst reflektieren würden oder es auch nur könnten. Selbsterkenntnis bleibt für unsere Vernunft auch außerhalb jeder Transzendentalphilosophie, »das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte.«67 Denn wenn uns die Geschichte der rationalen Selbstverständigung und pyrrhonischen Skepsis eines gelehrt hat und uns durch das Aufflammen einer aktionistischen, politischen Rhetorik bis in die jüngste Zeit noch immer eindringlich lehrt, dann mit Sicherheit, dass sich niemand von Argumenten überzeugen lässt, der nicht bereit ist, sich überzeugen zu lassen und damit sieht, was es zu sehen gilt – vor allem, wenn dies mit einem erheblichen Kratzer in seinem Ego verbunden wäre. Oder wie Kant sich diesbezüglich ausdrückte: »Selbst die feinste Eitelkeit, wenn sie sich wohl versteht, wird bemerken, dass nicht weniger Verdienst dazu gehört, sich überzeugen zu lassen als selbst zu überzeugen, und dass jene Handlung vielleicht mehr Ehre macht, insofern mehr Entsagung und Selbstprüfung dazu als zu der anderen erfordert wird.«68 Denn für gewöhnlich verfährt unsere Wahrnehmung und sinnliche Erfahrung gemäß Christian Morgensterns Gedichtzeile »dass nicht sein kann, was nicht sein darf« und wir erfahren nicht einfach simpliciter, wie die Dinge sind und wie es um diese »steht«. Gerne und bereitwillig überlassen wir uns bei unseren Orientierungsversuchen und unserer Selbstverortung einer ausufernden »Bebilderung der Faktizität der Menschenwelt«69 , der wir auch wider besseren Wissens unseren Glauben schenken. Die Eigenleistung der Wahrnehmung für unser Erkennen wird daher solange nicht im richtigen Licht erscheinen, als man sich nicht in Erinnerung ruft, welche Macht unsere Vorstellung auf uns ausübt und dass das Imaginäre bereits in der Wahrnehmung zu Hause ist. Sich dies bewusst zu machen (selbst schon eine Aufforderung an unsere Vorstellungskraft), kann in einem ersten tional Blindness for Dynamic Events, in: Perception 28 (1999), S. 1059-1074. Vgl. ebenfalls Simons, D.J. und Levin, D.T.: Change Blindness, in: Trends in Cognitive Science 1 (1997), S. 261 – 267. 67 Kant, KrV, Vorrede, A XI. 68 Kant, Immanuel: Beweisgrund, II, a.a.O., S. 112. Vgl. hierzu auch die treffende Beobachtung Schopenhauers, die auf die Zweiteilung von kategorialer Vorstellung und unrepräsentiertem Willen bezogen bleibt, in: ders., Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, a.a.O., S. 262: »Nichts ist verdrießlicher, als wenn man, mit Gründen und Auseinandersetzungen gegen einen Menschen streitend, sich alle Mühe giebt, ihn zu überzeugen, in der Meinung, es bloß mit seinem Verstande zu thun zu haben, – und nun endlich entdeckt, dass er nicht verstehen will; daß man also es mit seinem Willen zu thun hatte, welcher sich der Wahrheit verschließt und muthwillig Mißverständnisse, Schikanen und Sophismen ins Feld stellt, sich hinter seinem Verstand und seinem vorgeblichen Nichteinsehen verschanzend.« 69 Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 2013, S. 68. Vgl. zur Bebilderung der Konsumwelt aus kulturwissenschaftlicher Sicht Fiebach, Joachim: Inszenierte Wirklichkeiten, in: Ausweitung der Kunstzone, hg.v. Erika Fischer-Lichte et al., Bielefeld 2010, S. 165 – 183.
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Anlauf durch einen Seitenblick auf das spezifische Wissen der Philosophie erzielt werden und auf die spezielle Art dieses Wissen. Denn offensichtlich erzielt die Philosophie ja keine positiven Ergebnisse nach dem Vorbild der Naturwissenschaften, fördert keine weiteren Fakten zu Tage, sondern scheint im Gegenteil immer wieder auf dieselben Ausgangsprobleme zurückzufallen.70 Die Antwort, warum dem so ist, wurde schon oft gegeben, variiert in ihrer Ausgestaltung nur geringfügig und klingt gelegentlich nach einer Art beschämter (Selbs-)Ausflucht: unter Verzicht auf den Anspruch, durch allein rationale Kontemplation direkte, metaphysische Einsicht in die grundlegenden Gelenkstellen einer an sich seienden Wirklichkeit nehmen zu können, beläuft sich der Rang des modernen Philosophiebetriebs nämlich auf das Unternehmen einer universell ansetzenden Erkenntniskritik und damit zusammen auf Selbstverständigung; sie liefert keine weiteren Erkenntnisse im Plural, sondern ist unter Rückwendung auf unsere eigene, epistemische Ausgangslage nur mittelbare Erkenntnis – denn zuvorderst ist sie Selbsterkenntnis. Ihr Anliegen ist es nicht, weitere verwertbare Ergebnisse zu sichern, sondern sie ist Metareflexion, die kritische Sichtung eines vorhandenen Wissensbestandes und der Versuch einer konsistenten (Teil-)Vermittlung, wobei sie implizite Widersprüche und Ungereimtheiten versucht durch logische Analyse aufzudecken. Doch es wäre ein Understatement sondergleichen, Philosophie derart zur bloßen Hilfswissenschaft degradieren zu wollen, zur reinen Wissenschaftstheorie, um ihr einen Platz im modernen Universitätsbetrieb sichern zu können. Vorausgesetzt, man akzeptiert, was ehemals und bis zu den Tagen der Aufklärung ihr erklärtes Ziel war: nämlich Emanzipation, Gedankenfreiheit und die Autonomie des (eigenen) Denkens. Und dies ist ein Vorhaben, das darauf basiert, uns von falschen Vorstellungen zu befreien; falschen Vorannahmen durch rationale Kritik, durch Begriffsarbeit den Boden zu entziehen. Mag man dieses Projekt nun für gescheitert halten oder nicht. Tatsache bleibt, dass Philosophie auch schon vor ihrer kopernikanischen Wende den Blick dem Denken und dem Denkenden selbst zugewandt hat und seit Platons Höhlengleichnis den Versuch darstellt, uns über uns selbst zu unterrichten, das Bewusst-Sein zur Bewusst-Werdung seiner selbst zu führen. Doch wie geschieht das? Die nie völlig einzulösende Antwort hierauf lautet: duch das Reflexivwerden der Erkenntnis, dem Wechsel von der intentio recta zur intentio obliqua, der Rückwendung der Erkenntnis auf ihre eigenen Voraussetzungen. Ein nachmetaphysisches, erkenntniskritisches Denken wird zwangsläufig auf die eigene Situation reflektieren müssen, wenn es etwas über die Welt für uns in Erfahrung bringen möchte, 70 Vgl. zur Rolle des Fortschritts in der Philosophie auch Hacking, Ian: Historical Ontology, Cambridge 2002, S. 55 – 59.
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wenn es erkennen will, wo es ist und was es ist.71 Doch eine derartige Bewusstwerdung muss nicht gleich das Proletariat zum Licht führen wollen, dessen geeintes Klassenbewusstsein als Proletariat nach marxistischer Doktrin die Voraussetzung zur Überwindung der gegebenen, gesellschaftlichen Verhältnisse bleibt. Denn schon ein jeder einzelne von uns, ob er sich nun (primär) als Angestellter, Student, Ehemann, Freund, Sohn oder Vater begreift, sieht oft genug nicht, was die »tatsächliche« Rolle ist, die er in einer gewissen sozialen Konstellation spielt. Sprich, was die ihm zugedachte (fremdbestimmte) Rolle ist, von der er glaubt, sie sich selbst gewählt zu haben. Oder wir haben sie uns sehr wohl selbst gewählt und versuchen im Gegenteil darüber hinaus, uns ausschließlich über dieses Selbstbild zu definieren, uns an dieses zu verlieren, um so unserer Freiheit und grundlegenden Wahlmöglichkeit (mag sie auch noch so gering ausfallen) zu entgehen, uns dem (ständigen) Entscheidungsdruck zu entziehen, von dem wir durch ein klar umgrenzteres und vielleicht sogar stereotypisiertes Selbstbild ein Stück weit entlastet werden. Ein Versuch, den Sartre in Das Sein und das Nichts bekanntlich als »Unaufrichtigkeit« beschrieben hat, da sie versucht, unsere (radikal verstandene) Freiheit gezielt auf einen gewissen Gesichtskreis an Verhaltensweisen einzuschränken, der uns von uns selbst distanziert, so als »ob es nicht gerade in meiner Macht stünde, meinen beruflichen Pflichten und Rechten ihren Wert und ihre Dringlichkeit zu verleihen, als ob es nicht meine freie Wahl wäre, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen oder im Bett zu bleiben, auf die Gefahr hin, entlassen zu werden. Als ob ich gerade dadurch, dass ich diese Rolle in der Existenz halte, sie nicht gänzlich transzendierte, mich nicht als ein ›Jenseits‹ meiner Stellung konstituierte.«72 Ob nun unter den Auspizien der Selbstbestimmung oder der Fremdbestimmung: der Mensch bleibt bekanntlich ein Meister darin, sich ein Leben lang falschen Vorstellungen anzuvertrauen und sich dabei von seinem Ego den Ehrenplatz auf der eigenen Bühne anweisen zu lassen, auch auf die Gefahr hin, mit dem Fallen des Vorhangs selbst endgültig von dieser zu verschwinden. Ungezählte Beispiele der Alltagspsychologie und nicht erst pathologischer Zwangsneurosen lehren uns ja eindrücklich, dass wir es für gewöhnlich vorziehen, lieber in (selbstattestierter) »Schönheit zu sterben« als den »Mut zur Wahrheit« aufzubringen oder vielmehr in diesem Zusammenhang: den Mut zu unserer Wahrheit, sprich unsere eigene 71 Eine solch selbstreflexive Bewusstwerdung bleibt aber meist nur ein »erster Anlauf«; denn sicherlich durchläuft ein jedes Bewusstsein auf seinem Weg zur »Bewusstwerdung« (seiner selbst) unterschiedliche Stufen und gewiss gibt es eine »Phänomenologie des Geistes« auch im Individuellen. Und auch muss sich unsere Situation nicht schon alleine dadurch verbessern, dass wir beginnen, sie zu »durchschauen«. Bewusstwerdung der eigenen Lage, bedeutet nicht zwangsläufig Herr seiner Lage zu sein und sich über die Situation, in der man sich befindet, »erheben« zu können. 72 Sartre, J.P.: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 141. Eine in meinen Augen tatsächlich sehr abstrakte Freiheit.
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Position und Situation richtig einzuschätzen. Man wird es nicht leugnen können: ein objektiver (nicht interessengefärbter) Standpunkt ist unserem Denken nicht einfach so gegeben und könnte umstandslos wahrgenommen werden, sondern er bedarf des stetigen Zuspruchs einer zur Objektivität mahnenden Vernunft, um als unparteiischer Beobachter den schmeichelnden Zuflüsterungen des eigenen Egos zu entgehen. Und auch vor diesem Hintergrund lässt uns Schopenhauer keine Gelegenheit zum Selbstbetrug, wenn er bermerkt, dass »eine ähnliche geheime Macht unser Vortheil, welcher Art er auch sei, über unser Urtheil aus[übt]: was ihm gemäß ist, erscheint uns alsbald billig, gerecht, vernünftig; was ihm zuwider läuft, stellt sich uns, im vollen Ernst als ungerecht und abscheulich, oder zweckwidrig und absurd dar […]. Eine gefasste Hypothese giebt uns Luchsaugen für alles sie Bestätigende, und macht uns blind für alles ihr Widersprechende. Was unserer Partei, unserem Plane, unserem Wunsche, unserer Hoffnung entgegensteht, können wir oft gar nicht fassen und begreifen, während es allen anderen klar vorliegt: das jenen Günstige hingegen springt uns von ferne in die Augen. Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein.«73 Was sich ändert, wenn wir uns unserer Situation bewusst werden, ist nun aber genau jenes »Bild«, das wir uns von ihr gemacht haben. Unter semantischen Vorzeichen und als Hintergrund, Vorverständnis, Horizont oder eben Vorstellung gedacht, ist es uns bereits weiter oben begegnet, wo ihm die propositionalen TeilAussagen nicht bloß unverbindlich eingeordnet waren, sondern wechselseitig ihren Stellen-Wert von diesem sinngebenden Gerüst vorgegeben bekamen.74 In einer starken Lesart bedeutet dies in der Konsequenz allerdings nichts weniger, als dass sich das Sein der Gegenstände, die in diesen Bezügen stehen, ändert und damit zusammen auch ihr Anschauungs- und Wahrnehmungsgehalt. Denn rufen wir uns in Erinnerung, was »Sein« in seiner orientierenden Funktion für uns bedeutet und dass es nicht mit Existenz verwechselt werden darf. Die Dinge hören freilich nicht (physisch) auf zu existieren, wenn sich unser »Bild« von ihnen ändert, aber sie hören auf, auf diese Weise (für uns) zu existieren, sie hören auf, so zu sein. Um nicht bloß die Aussagen der oberen Abschnitte zu wiederholen, möchte ich auch hier selbst der Anschaulichkeit halber ein Bild wählen, bspw. dasjenige der »betrogenen Frau«, das, wie es so schön heißt, erste »Risse« bekommt: vor dessen Kippen sind die langen Arbeitszeiten und die Überstunden 73 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, München 2011, S. 252f. Eine psychische Dynamik, die Freud später zur »Rationalisierung« ausbaut und sie unter die »Abwehrmechanismen« einordnet und welche die rationalistische, kommunikationstheoretische und demokratische Hoffnung, es sei das bessere Argument, das sich am Ende durchsetzen wird, (wie immer) ein wenig naiv erscheinen lässt. Vgl. Freud, Sigmund: Die Verdrängung, in: Das Ich und das Es, Frankfurt a.M. 2009, S. 103 – 117. 74 Vgl. auch Fellmann, Ferdinand: Symbolischer Pragmatismus, Hamburg 1991, S. 54.
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ihres Mannes der sichtbare Einsatz für den gemeinsamen Traum eines Häuschens im Grünen, der nun einmal ein gewisses Grundkapital erfordert. Sein Fernbleiben nach Feierabend ist dieser Vorstellung gemäß seiner wohlverdienten Erholung in der benachbarten Eckkneipe zuzuschreiben und die nicht mehr allzu virilen Bedürfnisse an Sonn- und Feiertagen fügen sich in dieses Bild der allgemeinen, aber bloß temporären Erschöpfung durch Überarbeitung ein. Das, was wir weiter oben als die »Veränderung der Vorzeichen« beschrieben hatten und mit Merleau-Ponty als das Entstehen einer neuen Idee ist es dann auch, was das Sein dieser Dinge kräftig auf den Kopf zu stellen vermag: Die zufällig gefundenen Ohrringe in seiner Kommode sind nicht (mehr) die ihr zugedachten. Sein Fernbleiben ist nicht (mehr) das übertarifliche Gebundensein an den Arbeitsplatz, sein zunehmendes Desinteresse an ihren Reizen ist nicht das Anzeichen eines allgemeinen Erschöpfungszustandes. Aber nicht nur das: auch das bereits Kategorisierte erfährt einen Richtungswechsel, auch an dem Wahrgenommenen tauchen plötzlich andere Seiten auf. War da nicht bei ihren letzten Anrufen etwas Verhaltenes in seiner Stimme, war er nicht auffällig darum bemüht, die Telefonate so kurz wie möglich zu halten und sollte die Konferenz in Berlin nicht eigentlich nächsten Monat stattfinden? Nun könnte man einwenden, dieses »Ist« betreffe nur unsere nachträgliche Interpretation der Dinge. Diese blieben im eigentlichen Sinne, was sie sind: Ohrringe, Abwesenheit nach Feierabend, Erschöpfung, Desinteresse – was auch immer für Schlüsse wir darüber hinaus aus diesen ziehen wollen. Doch verkennt dieser Einwand, was das (sprach-)relativistische Argument zu diesem Punkt schon immer zu sagen hatte: nämlich dass die Beschreibung und die Reduzierung auf die bloßen »Fakten« selbst nur eine Interpretation, nur eine weitere Sichtweise der Dinge ist, ein anderes Bild, das wir uns von ihnen machen; eine alternative, funktionale Bestimmung, die in einem anderen Kontext einen anderen Sinn ergibt – und nicht die erschöpfende Definition von deren wahrer Natur. Eine alternative Beschreibungsweise, die auf einen anderen Objektivitätsmaßstab bezogen in einem anderen Kontext (bspw. vor Gericht) dienlich sein könnte und dort nicht der Klärung der eigenen Beziehung dient, sondern dem Abgleich mit der momentan geltenden Gesetzeslage und damit einhergehend mit einem juristischen Selbstverständnis, das sich unsere Gesellschaft macht oder machen möchte, weil sie es, konform mit den geltenden Gesetzen, machen sollte. Bekanntermaßen würde ja der Chemiker, der Physiker und der psychoanalytisch geschulte Paartherapeut seinerseits Bedenken an der Beschreibung der jeweils anderen Partei anmelden und uns nahelegen, als was wir diese Dinge »in Wirklichkeit« sehen sollten. Von dem entscheidenden Siegtreffer im Finale einer Fußballweltmeisterschaft allerdings zu behaupten, dieser sei in Wirklichkeit oder »eigentlich« nur ein »kreisrunder Ball aus Leder, der durch sein Trägheitsmoment über eine weiße Kreidelinie mit einer Geschwindigkeit von 140 km/h befördert wurde« anstatt das »spielentscheidende 2:1«, klingt dann doch ein wenig zu realistisch, sprich zu physikalistisch. Und scheint
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angesichts von Millionen von Fans, dem Einfluss auf ihr Leben und einer milliardenschweren Industrie mit angeschlossenem Dienstleistungssektor auch nicht wirklich die »richtige« Beschreibung dessen zu sein, was dieses »Überqueren der Kreidelinie« tatsächlich ist. Vorausgesetzt, wir wollen verstehen, was es für uns ist, was es für uns oder die Gesellschaft bedeutet, in der wir leben und wie wir es verstehen sollten, wenn wir an einem möglichst integrativen Standpunkt interessiert sind, der eine gesteigerte Orientierung gegenüber einer Alternativbeschreibung erlaubt. Und welches Ziel könnte sprachliche Erkenntnis nach den bisherigen Überlegungen sonst verfolgen (können), wenn aus einem metaphysischen Erkennen letzten Endes ein lebensweltliches Auskennen wird? Zu wissen, was etwas für einen selbst (oder für andere) bedeutet, heißt nichts anderes, als sich darüber klar zu werden, welche Realität dieses etwas oder dieses Ereignis »hat«, d.h. welche Realität dieses Ereignis oder dieses etwas (für uns) haben könnte. Sich »darüber klar zu werden«, was es (für einen) bedeutet, dass bspw. ein gewisses Gesetz verabschiedet wurde oder die Lebensmittelpreise für Getreide erneut gestiegen sind, der rote Fleck am Bein doch kein harmloser Ausschlag ist. Wie steht es vor diesem Hintergrund mit der Macht von Menschenbildern, bei denen von »Human Resources« die Rede ist, Weltbildern, Weltanschauungen oder Leitbildern75 , die gezielt bemüht werden, um die eigene Argumentation zu untermauen? »Nicht nur die Sprache denkt uns vor und steht uns bei unserer Weltsicht gleichsam ›im Rücken‹; noch zwingender sind wir durch Bildervorrat und Bilderwahl bestimmt, ›kanalisiert‹ in dem, was überhaupt sich uns zu zeigen vermag und was wir in Erfahrung bringen können.«76 Was ist mit dem Bild von der »Reibung mit der Realität«, wie es uns weiter oben begegnet ist und das McDowell bemüht, um argumentativ zeigen zu können, dass die Realität einen restringierenden Einfluss auf unsere Spontaneität ausüben können muss, wenn unsere Erkenntnisse »welthaltig« bleiben sollen?77 Ist es nicht auch hier eine räumliche, regelrecht materielle Vorstellungsart, ohne die die entscheidende Beweis-»Last« nicht zustande kommt? Aber auch der umgekehrte Fall für unser Erkennen dürfte instruktiv sein, bei dem sich Anschauung und Begriff gegenseitig ergänzen und verflechten. Der Fall, bei dem sich einer (begrifflichen) Beschreibung von etwas erst im Nachhinein die entsprechende Anschauung beigesellt. So können wir über längere Zeit hinweg rein verbal bspw. von einem gewissen Arbeitskollegen unterrichtet worden sein, können etwas über dessen Neigungen und Interessen erfahren haben, von seinen 75 Vgl. Fellman, Ferdinand: Symbolischer Pragmatismus, a.a.O., S. 53ff. 76 Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, a.a.O., S. 91f. 77 Denn andernfalls müssten wir uns »darüber Sorgen machen, dass sich unser Bild selbst der Möglichkeit beraubt, die Anwendung von Begriffen das sein zu lassen, was sie nach dem Bild sein sollen. Denn das Bild hat keinen Platz für eine rationale Kontrolle von außerhalb der gedanklichen Sphäre.« McDowell, John: Geist und Welt, a.a.O., S. 39.
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amourösen Abenteuern oder seinen neuesten Errungenschaften auf dem Gebiet der Computertechnologie, können rein begrifflich wissen, wo und mit was er seine Freizeit in den vergangenen sechs Monaten verbracht und zugebracht hat und doch beklagen wir uns (zurecht), dass all das für uns zu abstrakt bleibt, solange wir kein »Gesicht« zu all dem haben, sprich: Keine Anschauung. Doch warum? Was fügt die Anschauung in diesem Fall unserem Wissensbestand hinzu? Spielt es wirklich eine so entscheidende Rolle, wie Daniel (so sein Name) aussieht? Welche Haar- und Augenfarbe er hat, wie das Verhältnis von Nase und Stirn ausfällt, wie groß seine Ohren sind? Natürlich nicht – vorausgesetzt, wir sind nicht gerade auf ein »Date« mit ihm aus. Jemandem oder etwas ein »Gesicht geben«, bedeutet vielmehr, dessen Wirklichkeit, d.h. sein Wirken und Bewirktwerden in Situation sinnlich zu erfahren, sich seine Existenzweise, sein Verhalten vergegenwärtigen zu können. Es bedeutet die Konfrontation mit einer (im Voraus) bestimmten (individuellen) Realität, die durch die Anforderungen, die ihm durch eine spezifische Situation gestellt werden, unterschiedlichste »Seiten« von sich an den Tag legt und dabei in einer für uns aufschlussreichen Weise reagiert. Wir können viel über Migranten und ihre strapaziöse Reise in den Nachrichten lesen, doch hindert dies viele von uns nicht im Geringsten daran, sie in Gedanken bereits wieder in ihr Heimatland abzuschieben. Ganz anders steht es dagegen um dieselben Migranten, wenn sie (uns) plötzlich als Menschen mit einem bestimmten Alltag gezeigt werden, mit Wünschen und Hoffnungen, die unseren gleichen, mit Befürchtungen, von denen wir uns ein Bild machen können. Wenn wir sehen, was Strapazen konkrekt bedeuten, d.h., was ihre materiellen Auswirkungen sind, aus was Flucht eigentlich (materiell) genau besteht: dem nächtlichen Grenzübergang, dem bewegungslosen Ausharren unter Schmerzen auf der Ladefläche eines Lasters, dem Zurücklassen von Angehörigen, dem Aufbruch in die völlige Fremde etc. Und kaum haben wir all dies selbst sehen können, es wahrnehmen können, so beginnen wir auch schon mitzufühlen; denn Wahrnehmung liefert nicht einfach das fehlende Puzzlestück zu einem begrifflichen Konzept, ist sinnliche Ausfüllung einer (begrifflichen) Form, sondern ist leibliche Involvierung. Wahrnehmung lässt uns »dabei sein« im Gegensatz zu einer puren Beschreibung, die uns bekanntlich immer auch völlig »kalt« lassen kann. Wahrnehmung versetzt uns selbst in den Umkreis derjenigen (Aus-)Wirkungen, die wir zu Gesicht bekommen und macht uns dadurch (zumindest potenziell) immer auch betroffen, denn sie ist (im Falle nicht‐medialer Repräsentation) kausaler Kontakt mit dem Wahrgenommenen, ohne den sie ihre Arbeit nicht aufnehmen könnte. Und was sie dadurch erfährt, der Gehalt ihres Vollzugs, ist die sich ein‐stellende Realität selbst. Wahrnehmung ist kein semiotischer Prozess, indem ausschließlich Symbole oder Repräsentationen verrechnet würden und Informationen prozessiert. Denn, was wir zu sehen, hören etc. bekommen, ist nicht das Anzeichen einer Flucht sondern deren Ausdruck, d.h.
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deren Verwirklichung in dieser Situation. Wir erleben ihre verschiedenen Facetten, nehmen wahr, wie sie sich »gibt«, d.h., wie sie sich (auf die Betroffenen) auswirkt und damit als solche realisiert. Etwas, das was von kontingenten Situationskontexten abhängig bleibt. Oder zurück bei Daniel: Jetzt, wo wir ihn persönlich kennengelernt haben, »Bekanntschaft«78 mit ihm schließen konnten, ergibt all das, was wir schon vorab von ihm wussten, dadurch, dass es anschaulich wird, plötzlich »Sinn«. Denn natürlich ist jemand wie Daniel an keinem Abenteuerurlaub oder Open Air-Festival interessiert: das können wir bereits an der Art sehen, wie steif er dasitzt, wie unwohl er sich unter anderen Leuten fühlt und wie der winzige Rotweinfleck auf seinem Hemd ihm fast den ganzen Abend ruiniert hätte – natürlich nur fast, denn für solche Entgleisungen ist er selbstredend viel zu beherrscht. Wahrnehmung ist nicht die sinnliche Ausschmückung unserer sprachlichen Konzepte, nicht das (alleinige) in Erfahrungbringen von Farbe, Form, Geruch oder sonstigen, noch so detaillierten Eigenschaften »an« Dingen, sondern die Konfrontation mit einer sich ereignenden Realität, mit dem Ereignis Flucht und nicht mit dem »Gegenstand« Flucht oder dem »Gegenstand« Daniel«.79 Etwas ein Gesicht zu geben, bedeutet, etwas in Aktion erlebt zu haben. Jetzt, wo wir uns selbst (einen Abend lang) ein »Bild« von Daniel machen konnten, bekommen wir eine Idee davon, wie all das, was wir vorab schon über ihn (begrifflich) wussten, konkret in einer Situation zustande kommt, wie es zur Anwendung gelangt, was es auslöst und welche Folgen es haben kann. Wir haben ihn eingebettet in Kausalzusammenhänge erlebt, die von ihm selbst ausgelöst oder angestoßen wurden und gegebenenfalls auf ihn zurückfielen, was uns in der Folge selbst in die Lage versetzt, nunmehr eigenständig unseren Erkenntnisbestand in diesem Bereich zu erweitern, indem wir eine konkrete Frage aus diesem Verhaltenskomplex an unsere Vorstellungskraft delegieren. Das praktische Ziel von Erkenntnis besteht für ein endliches Lebewesen nicht in der puren Anhäufung von Fakten, sondern 78 Trotz der terminologischen Nähe unterscheidet sich das hier vorgeschlagene Konzept von dem durch Russel vertetenen »Wissen durch Bekanntschaft« und dessen Fundierungsfunktion für unsere begrifflichen Beschreibungen. Vgl. das Kapitel »Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description, in: Russel, Bertrand: The Problems of Philosophy, Oxford 2001, S. 25 – 33. 79 Dinge, die real sind, sind raum-zeitlich realisiert und die Tendenz innerweltlich Seiendes als (statische) »Gegenstände« aufzufassen, begeht letzten Endes den Fehler, das idealisierte und damit eben genau nicht raum‐zeitliche Sein unserer begrifflichen Konzepte den Dingen selbst zu unterstellen. Denn auch Tische, Tassen und sonstige Gegenstände sind ja nun einmal nicht einfach so für uns »da«, sondern verdanken ihr Sein ganz wesentlich ihrer Benutzung als Tisch, Tasse etc., d.h. durch eine Interaktion, die sie (über einen gewissen Zeitraum hinweg) ermöglichen, sodass sich ihre Funktion zeitlich »entfalten« kann – und nichts anderes bedeutet ja ereignen.
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im Gegenteil im Unabhängigwerden gegenüber weiteren Fakten – was nur mithilfe unserer Einbildungskraft möglich ist, die flexibel unsere bereits gewonnen Erkenntnisse miteinander in Beziehung setzt und so die »Einsicht« in deren (potenzielle) Auswirkungen erweitert. Denn durch sie wird unser Denken so zusagen materiell. Durch die von ihr ins Spiel gebrachte Anschauung ist es uns möglich, reale Konsequenzen und Einwirkungen imaginierend zu überschlagen und auseinander herzuleiten, sodass wir bei der nächsten Information Daniel betreffend vielleicht nur noch quittierend (zu uns selbst) sagen: Das kann ich mir vorstellen!, typisch Daniel!, während wir letzte Woche vielleicht noch nicht das Geringste mit der Nennung seines Namens (imaginierend) verbinden konnten. Nicht, weil wir durch einen einzigen Abend voller Anschauung nun zur Wesenserkenntnis von Daniel vorgestoßen wären, sondern weil wir sozusagen einen Blick auf die Variable Daniel in Aktion und damit »unter gebenden Umständen« werfen konnten, die für unsere Vorstellungskraft zum Ausgangsmaterial werden kann, zum »gefundenen Fressen« für weitere, waghalsige Spekulationen Daniel betreffend. Erkenntnis verschafft uns nicht letztgültig, ein für alle Mal und abschließend Klarheit darüber, was etwas ist, sondern ist vielmehr die fortwährende Vervollständigung unseres Wissens darüber, was etwas sein kann. D.h., wie und auf welche Weise etwas sein kann und sich in eine Situation einbringt, seinen Einfluss geltend macht, seine Wirkungen ausspielt.80 Was ein Vorstellungs-Bild nicht ist, dürfte sich daher bereits ex negativo abzeichnen, lässt sich allerdings auch durch die Paraphrasierung einiger weniger Stellen aus dem Tractatus zusätzlich illustrieren. Von der Annahme ausgehend, die Struktur der Welt sei in den Aussagen über die Welt aufgehoben und es bestehe eine Art Strukturisomorphie zwischen dem 80 Selbst Hegel ist ja nicht dem Glauben verfallen, »dass durch das Nachdenken die Wahrheit erkannt, das, was die Objekte wahrhaft sind, vor das Bewusstsein gebracht« werden kann. Hegel, G.W.F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, a.a.O., §26. Im Gegenteil: gerade Hegel hat ja den Versuch unternommen (allerdings unter begriffsrealistischen Vorzeichen), das Identische mit dem Nicht-Identischen zusammenzudenken, sodass (ein sprachlich erfassbares) »Etwas« (für das sinnliche Bewusstsein) nicht einfach eine »Selbstgleichheit, sondern ein Prozess möglicher Bestimmungen ist. Dieser Prozess ist das identische Wasser aber nicht einfach für sich; das Wasser alleine und für sich genommen ist nicht teils fest, teils flüssig, teils gasförmig, sondern es ist dies jeweils nur in Beziehung auf andere Gegenstände, zum Beispiel in Beziehung auf die Sonne, die das Eis erwärmt. Daraus ergibt sich für die Wahrnehmung, dass sie zu der eigentlichen gegenständlichen Identität nicht durch das Fixieren dieser Identität gelangen kann, sondern nur dadurch, dass sie auch auf andere gegenständliche Identitäten und ihre Interaktion mit der ersten achtet. Die Wahrnehmung pluralisiert also die Identität wiederum; sie erkennt, dass der Gegenstand nicht nur für sie, sondern auch an sich wesentlich für anderes ist, ja dass er nur in diesem Für‐anderes-Sein, im Bezogensein (die Wahrnehmungsbeziehung selbst eingeschlossen) sein ›wahres Wesen‹ enthüllt.« Hoffmann, Sören Thomas: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, a.a.O., S. 260.
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»logischen Bild«, das wir uns von ihr machen und der Welt selbst, schreibt Wittgenstein dort: »Die logischen Sätze beschreiben das Gerüst der Welt, oder vielmehr, sie stellen es dar.«81 Und ganz zu Anfang des Tractatus finden wir den einschlägigen Paragraphen 2.12 und die drauf folgenden, die besagen, dass »das Bild ein Modell der Wirklichkeit [ist]. Den Gegenständen entsprechen im Bilde die Elemente des Bildes. Die Elemente des Bildes vertreten im Bild die Gegenstände […]. Das Bild ist eine Tatsache. Dass sich die Elemente des Bildes in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten stellt vor, dass sich die Sachen so zu einander verhalten. Dieser Zusammenhang der Elemente des Bildes heiße seine Struktur und ihre Möglichkeit seine Form der Abbildung […]. Das Bild ist so mit der Wirklichkeit verknüpft; es reicht bis zu ihr. Es ist wie ein Maßstab, an die Wirklichkeit angelegt […]. Was das Bild mit der Wirklichkeit gemein haben muss, um sie auf seine Art und Weise – richtig oder falsch – abbilden zu können, ist seine Form der Abbildung. Das Bild kann jede Wirklichkeit abbilden, deren Form es hat […]. Was jedes Bild, welcher Form immer, mit der Wirklichkeit gemein haben muss, um sie überhaupt – richtig oder falsch – abbilden zu können, ist die logische Form, das ist, die Form der Wirklichkeit.«82 Doch genau in dieser letzten Behauptung findet sich in kondensierter Form sozusagen der »Ebenenfehler« des frühen Wittgensteins ausgesprochen: denn es ist nicht der Sachverhalt, von dem wir uns ein Bild machen83 , sondern der konstatierte und abgewogene Sachverhalt trägt in seiner situationsgerechten Verortung zu der Vorstellung bei, die wir uns unter einem handlungsleitenden Aspekt von einer (potenziellen) Situation machen können oder sollten und ist nicht selbst schon die strukturgleiche Abbildung an sich vorliegender, weltlicher Verhältnisse. Nicht die »Konfiguration der Gegenstände bildet den Sachverhalt«84 , sondern vielmehr bildet die Konfiguration der Sachverhalte die Grundlage für einen ausdifferenzierbaren Vorstellungs-Gehalt. Nicht »jedes Ding ist, gleichsam, in einem Raume möglicher Sachverhalte«85 , sondern jeder Sachverhalt ist gleichsam im Raume einer möglichen Situationseinschätzung vorgestellt. Durch die Einziehung dieser zusätzlichen Ebene ließen sich eine Vielzahl von Wittgensteins Bemerkungen aus dem Tractatus für den hier verhandelten Zusammenhang fruchtbar machen, wäre da eben nicht die Ausgangsvoraussetzung einer strukturellen Entsprechung zwischen Bild und Wirklichkeit, die gerade jenen Möglichkeitsspielraum ausblendet, den wir durch unser Vorstellungs-Bild gegenüber real eintretenden Situationen zurückbehalten. Ein Möglichkeitsspielraum, der jedoch für das Operieren ei81 82 83 84 85
Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico‐philosophicus, § 6.124. Ebd., § 2.12ff. Vgl., ebd., § 3001. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico‐philosophicus, § 2.0271. Ebd., § 2.013.
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ner weiteren, grundlegenden kognitiven Fähigkeit des Menschen vorhanden sein muss und die das entscheidende und vorzügliche Werkzeug unserer Vorstellungskraft bleibt und die Martin Seel als unsere Fähigkeit zu überlegen kennzeichnet. »Denn sie ist es, durch die der Mensch ein handelndes Lebewesen ist, das in theoretischer wie praktischer Absicht sondieren kann, worauf es sich in seinem Verhalten festlegen will. Diese Sondierung betrifft Möglichkeiten, die gegeben oder noch nicht gegeben, die zu schaffen oder erinnern, die zu erhoffen oder zu befürchten – und die darum zu beachten oder zu missachten, zu ergreifen oder zu vermeiden sind. Es ist das Überlegen, das eine Welt eröffnet, die sich im Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in vielfältige Zustände gliedert, auf die wir uns unterschiedlich einstellen können.«86
4.5
Vorstellungsgehalt und Überlegung
Überlegen ist kein Erinnern oder projektives Vorwegnehmen von bereits klar umrissenen Umständen, von denen wir uns (gespiegelt) ein strukturgleiches Bild machen wollen oder auch nur könnten. Es ist genauso wenig ein Abbilden oder Aufrufen von bereits bestimmten und fixen Situationsgehalten wie semantische Bedeutung eine starre Größe oder Abbildungsrelation zu Gegenständen wäre. Überlegen bedeutet ein probeweises Zusammenstellen faktischer Gegebenheiten durch unsere Vorstellungskraft, die (soweit wir es zu sagen vermögen) wiederum ihrerseits notwendigen und begrifflich bestimmbaren Wechselwirkungen unterliegen, die ihre Geltung (für uns) in dieser Anordnung erlangen. Es aktiviert also nicht nur einen logischen Verweisungszusammenhang, wie wir ihn bei der semantischen Bedeutungsbildung kennengelernt haben, sondern es nimmt auch explizit kontingente und damit empirische Begebenheiten in sich auf, womit das genuine Überlegen die eigentliche Bewegung der Erkenntniserweiterung darstellt. Ich kann zwar überlegen, ob ein gewisses Ding unter einen Begriff fällt, indem ich mir beispielsweise seine Eigenschaften vorstelle oder sie vor Ort wahrnehme und daraus Handlungskonsequenzen für mich ableite, ohne jedoch damit bereits alles überschlagen zu haben, was die weiteren Möglichkeiten dieses etwas als verwirklichte Möglichkeiten (in anderen Situatonen) anbelangt. Oder, um erneut ein Beispiel zu bemühen: wenn es sich tatsächlich um philosophische Fachliteratur handeln sollte, die dort vorne beim Buchhändler ausliegt und wenn ich mir geschworen habe, vorerst keine weitere philosophische Fachliteratur mehr zu erstehen, folgt daraus unmittelbar (für mich) logisch, dass ich weiter meines Weges 86 Seel, Martin: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, a.a.O., S. 13.
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gehen werde oder es zumindest sollte. Doch verwenden wir das Wort Überlegen in diesem Fall nur für eine Umschreibung unseres nach wie vor rein logischen Denkens. Denn im Grunde gibt es in diesem Fall nicht viel zu überlegen, wenn mein Beschluss feststeht, ich willensstark genug bin und wenn ich das Objekt meiner Wahl richtig identifiziert habe. Das genuine Überlegen richtet sich dagegen aber (an Seel angelehnt) auf (mögliche oder vergangene) Zustände der Welt und ist nicht mehr (ausschließlich) im Raum der Gründe angesiedelt, sondern spielt sich (wie man sagen könnte) darüber hinaus in anschaulichen Begebenheiten ab, in raum‐zeitlichen und faktischen Verhältnissen, die erst noch unterschiedlich gewichtete Gründe für uns werden müssen. Und diese Zugewandtheit ist die Einstellung des Überlegens, über die es versucht, sich selbst begrifflich Rechenschaft abzulegen. Die in Stellung gebrachten Begriffe beeinflussen unser Vorstellungs-Bild und dieses beeinflusst durch diese spezifische Konstellation das antizipierte Wirkungspotenzial eines jeden der einzelnen Gegenstände, deren Verhalten wir begrifflich für unser Denken in dieser Situation fest‐stellen wollen. Dazu bedarf es aber neben meinem Wissen, dass ein bestimmbares Etwas in einer Situation vorkommt, zusätzlich der Möglichkeit, mir vorstellen zu können, wie dieses etwas in einer Situation vorkommt – wo sein Platz ist und wie es um den möglichen Raum seiner (Folge-)Wirkungen bestellt ist – was je nach Konstellation und Anwesenheit anderer Gegenstände bei gleichbleibendem Etwas anders ausfallen wird. Diese Facette unserer Vernunft lässt die alleinige Rede von sich gegenseitig ausschließenden Überzeugungen in der analytischen Philosophie allzu sehr ins Hintertreffen geraten. Denn ich kann ja sehr wohl (im Vorfeld) davon überzeugt sein, dass ein Tisch ein gewisses Etwas ist mit diesen und jenen Eigenschaften und trotzdem nicht davon überzeugt sein und damit im Bilde sein, dass dieser Tisch in jener Situation unter Einflussnahme all der anderen Begleitumstände, jene Eigenschaften an den Tag legen, also realisieren wird, die ich normalerweise einem Tisch zutrauen würde; bspw. eine gewisse Menge und ein gewisses Gewicht an Dingen tragen zu können, die wir auf ihm abstellen wollen. Spätestens mit der bewussten, anschaulichen Überlegung und imaginierenden Vorstellung kommt die geforderte »Reibung« mit der Realität für unser Erkennen ins Spiel, denn sie überschlägt die empirische Verwirklichung von (vorab sprachlich) Verstandenem. Das lässt sich auch (ein wenig gedrängt) so formulieren: Überlegen bedeutet ein aktives Einbringen von imaginierten Möglichkeiten vor dem Hintergrund raum‐zeitlicher und materieller Ausgangsbedingungen, die im Hinblick auf einen möglichen Ereignishergang Berücksichtigung einfordern, weil sie (die Ausgangsbedingungen) den Ereignishergang ihren Möglichkeiten gemäß ermöglichen müssen, sprich: die nötige Zeit, den nötigen Raum und das nötige materielle »Gewicht« hierzu »hergeben«, die für den Vorgang oder das Vorhaben zur Verfügung stehen müssen. Wenn ich bspw. überlege, wo ich den nächsten Urlaub verbringen möchte, mein
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Feierabendbier trinke, die Fußballübertragung schaue, chinesisch essen gehe oder generell mein zukünftiges Leben verbringen möchte, dann wäge ich verschiedene Handlungs-Räume und -Zeiten gegeneinander ab; Handlungs-Zeiträume, die einander bedingen, ausschließen, ergänzen oder erweitern und in die sich die jeweiligen Möglichkeiten einbringen lassen bzw. sich einbringen lassen können. Daher sagen wir ja auch, dass ein Vorhaben »realistisch« ist oder nicht; es »realistisch gesehen«, d.h. materiell verwirklicht werden und stattfinden kann. Oder uns nicht genügend Zeit verbleibt oder nicht genügend Platz, um es »in die Tat umzu‐setzen«. Sprich, es von der bloßen Vorstellung in die (raum‐zeitlich positionierte) Her-Stellung übergehen zu lassen. Wenn ich überlege, wo ich meinen Wohnort in einer Stadt wähle, muss ich meine Interessen überschlagen, muss ich anschaulich mithilfe meiner Vorstellungskraft überlegen, wo, wie und mit was all dies (höchstwahrscheinlich) zusammenhängen wird: die Wege zum Supermarkt oder von und zur Arbeit, der Aufwand, den es »kostet« oder den es »mit sich bringt«, dort dauerhaft zu wohnen, dort das Zentrum meines eigenen Lebensumkreises zu positionieren und meinen eigenen Aktionsradius zu lokalisieren usw. Und das bedeutet, verschiedene, antizipierte, weltliche Zustände versuchsweise einander ablösen oder auseinander hervorgehen zu lassen, um mir anschaulich vor Augen führen zu können, was die möglichen Handlungen sind bzw. sein könnten, für die ich den entsprechenden Raum und die benötigte Zeit brauche sowie die materiellen Ressourcen, die es und ich nötig haben, um zueinander zu finden. Wenn mir nach meiner Arbeit kaum mehr etwas vom Tage übrig bleibt, dann bleiben zeit- und raumintensive Vorhaben »auf der Strecke«; denn, wenn sich das Fitnessstudio nicht direkt im Gebäude befindet oder mir mit Joggingschuhen, die ich mir punkt acht Uhr überstreifen kann, schon zur Genüge für mein Workout gedient ist, ich alle weiteren Fitnessübungen unterwegs (raum‐zeitlich) unterbringen kann, dann muss ich alternativ erst einen bestimmten Ort aufsuchen, wo ich denjenigen Raum zur Verfügung habe, den es braucht, um meinen sportlichen Ambitionen nachkommen zu können. Oder meine Vorhaben belaufen sich auf weniger physisch intensive Aktivitäten und der Raumfaktor ist vernachlässigbar, weil ich lediglich vorhabe, ein Buch zu lesen, das wenig Aufmerksamkeit und Konzentration von mir erfordert, sodass mir auch der Platz ausreicht, der mir eingequetscht zwischen etlichen Pendlern im Bus nach Hause verbleibt. Überlegen ist daher praktisches Denken und praktisch wird Denken nicht, indem es Praktisches denkt d.h., sein Objekt normativ verfasst wäre oder aus einem als praktisch definierten Gegenstandsbereich stammt, sondern indem es praktisch denkt und d.h. anschaulich wird.87 87 So denken ja auch die verschiedenen Wissenschaften trotz ihres Anwendnungsbezuges nicht praktisch, sondern theoretisch über konkrete Probleme nach, die ihnen die Wirklichkeit stellt; was bedeutet, dass sie versuchen zu bestimmen, was getan werden könnte, wenn die nötigen
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Genuin praktisches Denken geht von bereits zur Verfügung stehenden Ressourcen aus, es »macht das Beste draus«; es improvisiert, d.h., es versucht die beabsichtigte Wirkung herbeizuführen, ohne dass vorab ersichtlich wäre, wie (all) dies zu bewerkstelligen ist. Und genau dieses Vermögen des Vorstellen-Könnens und Überlegens firmiert im Alltag recht treffend unter dem Begriff der Einbildungsbzw. Vorstellungskraft, ohne dass damit bereits zur Genüge ihr möglicher Gehalt eingegrenzt wäre. Denn unter diesem denkt man sich für gewöhnlich (wie bei David Hume angesprochen) eine Art statisches »Bild«88 oder Erinnerungen an Wahrnehmungs-Eindrücke, ohne ihr eminent dynamisches Potenzial zu gewahren, das es uns erlaubt, eine schier unendliche Bandbreite möglicher, situativer Bezüge und Konstellationen in sich aufzunehmen und durchzuspielen. Auch bei Kant findet sich noch diese Engführung, obwohl er ihr aktives Potenzial eigens hervorhebt und ihr die Fähigkeit zur Synthesis, zur Verbindung des Mannigfaltigen zuerkennt, wie es uns durch die Wahrnehmung gegeben wird und durch ihre vermittelnde Funktion alleine gegeben werden kann. »Alleine die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt, kann niemals durch Sinne in uns kommen, und kann also auch nicht in der reinen Form der sinnlichen Anschauung zugleich mit enthalten sein; denn sie ist ein Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft […].«89 Allerdings belässt er es bei seiner Bestimmung bei dieser transzendentalen Funktion dieses Vermögens, welches die Einheit möglicher Anschauung gewährleisten können soll und das letztlich mithilfe der begrifflichen Tätigkeit unseres Verstandes zustande kommt und auch nur durch diese aktive Verbindung zustande kommen kann, was bekanntlich seinen prominenten Ausdruck darin findet, dass unser »Ich denke […] alle meine Vorstellungen begleiten können [muss]«90 . Unter diesem Gesichtspunkt bleibt unsere Einbildungskraft »also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen […] Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung ins Bild bringen.«91 Doch unter dem angesprochenen Gesichtspunkt eines sozusagen empirischen, selbst aktiv und situativ unterschiedlich angewandten Vermögens dient uns unsere Vorstellungskraft nicht alleine zur vorgängigen (transzendentalen) Synthetisierung, ohne dass wir etwas davon mitbekämen, sondern als aktiv aufrufbares und von uns im Ressourcen zur Verfügung stünden. Und je nach Interessen-, politischer und wirtschaftlicher Lage wird entschieden werden, ob es der »Aufwand wert ist«, entsprechende Maßnahmen in die Wege zu leiten und die nötigen Ressourcen hierzu bereitzustellen. 88 Auch Dennett spricht noch von einem »stable mental image« oder »stable picture« unserer Imagination, das er den Dynamiken der Wahrnehmung entgegenhält. Vgl. Dennett, Daniel C.: Content and Consciousness, London 2010, S. 156f. 89 Kant, KrV, B 130. 90 Kant, KrV, B 132. 91 Kant, KrV, A 120.
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denkenden Vollzug einsatzbares Vermögen dient sie uns vor allem zur Differenzierung, welche Kant nur zulässt als inverse Operation, als Auf- und Herauslösung aus einer vorab hergestellten Vereinheitlichung; »denn wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen«92 , wie er sagt. Doch Differenzierung kann nicht nur Vereinzelung und Herauslösung von Gegenständen aus einem Anschauungszusammenhang meinen, sondern bedeutet darüber hinaus und verstanden als Ausdifferenzierung das aktive Überlegen und Vorstellen, wie ein gewisses, gedanklich bereits vereinzeltes Etwas sich in einer spezifischen Situationskonstellation »gibt« und sich dort (wahrscheinlich) auswirkt. Die Dynamik betrifft auch hier (analog zu sprachlicher Bedeutung) nicht die bloße Möglichkeit zur beliebigen Zusammenstellung und Umstellung von sich gleich bleibenden Elementen, sondern reicht sozusagen bis an die Fundamente und die Zusammensetzung des Gehalts dieser vor‐stellenden und anschaulichen gedanklichen Operation selbst heran. Denn wir können noch so sehr von jedem einzelnen Etwas als Objekt Wissen, was es ist und es dadurch gegen anderes abgrenzen, womit wir auch (in Ansätzen) wissen, was sein theoretisches Potenzial ist, aber dennoch nicht im Bilde sein, wie dieses Potenzial93 in dieser oder jener Situation konkret ausfallen wird. Da die Realität selbst nicht derart fest‐gestellt ist, wie unsere (idealisierten) begrifflichen Konzepte, die auf diese sich wechselnden Umstände reagieren müssen und Stabilität nur zugunsten ihrer intersubjektiven Verwendung aufweisen, um dort als gesetzter und vorausgesetzter, als untersteller Konvergenzpunkt unsere Kommunikation zu ermöglichen und anzuleiten, ist unser Überlegen nicht nur angehalten unsere Intervention in die Welt zu überschlagen, sondern vor allem die Interventionen der Dinge imaginierend gegeneinander abzuwägen, vorherzusehen und kontrolliert zu halten. In der vorstellenden Überlegung setzten wir daher Ausgangsbedingungen versuchsweise und bildlich zusammen und lassen sie sich entlang 92 Kant, KrV, B 131. 93 Selbstredend darf die Rede von »Potenzialen« nicht metaphysisch (miss-)verstanden werden. Diese sind nach nichts, was »in« den Dingen oder »an« den Dingen (substanzialistisch) vorliegen würde, sodass wir es mit einer teleologischen »Entfaltung« einer dem Ding inhärierenden entelechie zu tun hätten. Sondern Potenziale sind die sich ständig verschiebenden Möglichkeiten zur Ein- und Auswirkung, je nachdem, in welcher Konstellation etwas vorkommt oder zur Anwendung gelangt. So »hat« eine eine Schere ja nur das Potenzial zu Schneiden, wenn sie auf entsprechend dünnes Papier o.Ä. trifft. Die sich ein‐stellende Realisation, der reale Vorgang des Schneidens und das hierfür notwenige Potenzial liegt weder »in« der Schere noch »in« dem Papier, sondern »in« der (wie es bei einem Scheren-Beispiel nicht ohne Ironie genannt werden kann) Überschneidung von beiden. Es kommt in dieser Konstellation zustande, und stellt sich ein. Hätte es nie Papier einer gewissen Dicke gegeben und all jene Stoffe und Materialien, die mit einem bestimmten Scheren-Typus geschnitten werden können, hätten wir auch diesem ScherenTypus nie das Potenzial zugesprochen, schneiden zu können.
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ihrer begrifflich antizipierten Entwicklungsachse für unsere Einbildungskraft ereignen, wodurch sie beginnen, für unsere Vorstellungskraft eine gewisse Wirkung aufeinander zu entfalten. Dabei ist jedoch jeweils eine andere Seite der in Situation befindlichen Dinge gefragt, ein materieller Eigenschaftskomplex, der in dieser Konstellation nun zum Tragen kommt, der »gefordert« ist durch den (möglichen) Kausalzusammenhang, in dem er mit anderen Dingen in dieser Anordnung steht und der seinerseits eine entsprechende Seite herausfordert oder einfordert. Wenn wir überlegen, ob es wirklich Sinn macht, den dickeren von beiden Mänteln zu kaufen, dann ist es genau das: diese Anschauung, die (materielle) »Dicke«, mit der unsere Vorstellungskraft nun operiert und die Gegebenheiten, Gelegenheiten, Anlässe und Situationen durchspielt, in denen diese im Abgleich mit etwas Drittem zur Geltung gelangt und hervortritt. Farbe, Form, Schnitt, Muster, Länge oder sonstige Eigenschaft sind vorerst nicht gefragt und werden in der Regel erst dann relevant und von unserer Imagination aufgerufen, wenn eine der Kombinationen, welche die Dicke in Situation bzw. in Aktion vorstellig macht, uns auf einen Um-Stand aufmerksam werden lässt, der durch diesen zusätzlichen Faktor beeinflusst wird. Stellen wir zufrieden fest, nachdem wir unsere Oberbekleidung in Gedanken auf diesen Aspekt hin »durchgegangen« sind, dass unsere Garderobe durchaus mit vielen dünnen Hemden und Pullovern aufwarten kann, so kann uns kurz vor dem finalen Kauf trotz allem noch eine Gelegenheit »in den Sinn kommen«, d.h. für unsere Vorstellungskraft sich zu Wort melden, bei der die Dicke zum Problem werden könnte: bspw. bei einem Flug, bei dem wir nur mit Handgepäck reisen und die Fluggesellschaft den Flug (abermals) überbucht hat, sodass kein einzig freies Gepäckfach über uns übrig bleibt und wir gezwungen sind, den Mantel während der gesamten Reise auf unsere Knie zu platzieren. Nun wird z.B. auch die Länge relevant werden, weil diese zusammengefaltet ein weitaus höheres Volumen ergibt und damit mehr Platz einnimmt als die kürzere Variante desselben Mantels. Anschaulich an etwas zu denken bedeutet daher nicht, einen Gegenstand aus einem Anschauungszusammenhang herauszulösen oder sich lediglich das blasse und fixe Abbild einer ehemals farbenfrohen Wahrnehmung zu vergegenwärtigen, das »Aussehen« von etwas (außer natürlich, uns wäre genau an diesem gelegen). Denn diese Annahme verbleibt entschieden in den Rahmen »der imitatio naturae gebannt, den Aristoteles vorgezeichnet hatte, wenn er die Phantasie und die Erinnerung an frühere Wahrnehmungen gebunden sehen möchte, letztlich also an deren natürlichen Gegenstände.«94 Unsere Gedanken an etwas sind aber kein »faithful 94 Mattenklott, Gert: Einbildungskraft, in: Bild und Einbildungskraft, hg. v. Hüppauf, Bernd & Wulf, Christoph, München 2006, S. 50. Allerdings ist damit noch nicht die Entscheidung zugunsten einer Theorie der Einbildungskraft als inventio gefallen, also einer völlig »freien« Vorstellungskraft, die einer creatio ex nihilo entspricht. Lediglich ihre Fähigkeit zur freien Kombinatorik und Re-Konfigurieration des Vorgestellten sind dadurch benannt und als solche anerkannt. So ebenfalls noch Kant, der in seiner Anthropologie über die Einbildungskraft sagt, dass, obwohl sie ei-
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mirror«, wie es auch Hume noch dem Empirismus ins Stammbuch schreibt, welche das (ehemals) Wahrgenommene nunmehr in Farben zeichnet, die im Vergleich zum Original »faint and dull« ausfallen »in comparison of those in which our original perceptions were clothed.«95 »Blass« erscheint uns etwas in der Vorstellung, weil es eine bereits begrifflich durchsetzte Variable eines möglichen In-Erscheinung-Tretens für unsere Vorstellungskraft (geworden) ist, ein ebenfalls dynamischer Gehalt, bei dem es auf die konkrete Farbe oder den konkreten Geruch etc. von etwas zugunsten seiner flexiblen Einsetzbarkeit in einem Vorstellungszusammenhang gar nicht anzukommen braucht. Sondern auf welche seiner Seiten es jeweils ankommt, stellt sich erst in einer jeweiligen (imaginierten) Situation heraus, tritt als solches (für unsere Wahrnehmung und Vorstellungskraft) hervor. Und dies nur, weil unser VorstellungsBild, das Objekt unserer Einbildungskraft dies zulässt. Anschauliche Ideen sind nicht einfach »less lively perceptions«.96 Dass das Vorstellung-Bild von etwas begrifflich ist, heißt, eine mögliche Vielfalt seines In-Erscheinung-Tretens antizipieren zu können und dies impliziert gerade, von einer konkreten Anschauung absehen zu können, um sich die passende Anschauung situational eingeben zu lassen. Wenn wir überlegen, dann überlegen wir, ob ein gewisser Tat-Bestand zu unseren Vorhaben »passt«. Dann überlegen wir anschaulich, wie etwas sich verhalten wird, wenn es durch diese Handlungen und Wirkungen »herausgefordert« und beeinflusst wird und wie sich dabei sein Zustand in der Folge verändert. Es entweder in die Brüche geht, auseinanderfällt, brüchig wird, in Flammen aufgeht, sich grün färbt, erhitzt, reibt, sticht, vergrößert, verkleinert oder einfach nur »Stand hält«. Eine Vorstellung und ihr Gehalt, das Vorstellungs-Bild ist daher trivialerweise kein (statisches) Bild, wie es an der Wand im Wohnzimmer hängen könnte, noch ein mentales Bild, ein mental image, wie es als Erklärungsprinzip häufig im Gefolge eines Repräsentationalismusʼ mentaler Gehalte auch in aktuellen Diskussionen in der Neurowissenschaft und Philosophie des Geistes noch immer zu finden ist.97 ne große »Künstlerin, ja Zauberin« sei, »doch nicht schöpferisch [ist], sondern den Stoff zu ihren Bildungen von den Sinnen hernehmen [muss].« Kant, Anth, A 68, B 69ff. Damit verbleibt auch Kant bei einer Bestimmung des Inhaltes der Vorstellungskraft im Paradigma statischer Sinnes»Eindrücke«. 95 Hume, David: Of the Origin of Ideas, in: ders., An Enquiry concerning Human Understanding, a.a.O., S. 12. 96 Hume, David: Of the Origin of Ideas, in: ders., An Enquiry concerning Human Understanding, a.a.O., S. 13. 97 Vgl. u.a. Block, N.: The photographic fallacy in the debate about mental imagery, in: Noûs 17, 4 (1983)S,. 651 – 62; Dennett, Daniel C.: Does your brain use the images in it, and if so, how?, in: Behavioral and Brain Sciences, 25 (2002), S. 189 – 190; Gold, I.: Interpreting the neuroscience of imagery, in: Behavioral and Brain Sciences 25 (2002), S. 190 -191; Sterelny, K.: The imagery debate, in: W. Lycan (Hg.), Mind and Cognition. A reader, Cambridge 1990, S. 607- 626; Pylyshyn, Z.W.: Mental
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Denn es ist gerade keine Impression einer ehemaligen Perzeption, die wir mental »nachzeichnen«, sondern das Objekt unserer Vorstellungskraft ist ein aktiv imaginierter Welt-Zustand. Und ein Welt-Zustand ist wiederum eine Art dynamische Kombination aus Querschnitt und Längsschnitt, die einen bestimmten Welt-Ausschnitt ergibt, der sich für unsere Vorstellungskraft zwischen Anfangsund Endbedingungen dynamisch und situationsgerecht entfaltet und gewisse Seiten der in ihm begriffenen Dinge (materiell) dabei zur Geltung bringt.98 Möchte unsere Vorstellungskraft nicht reibungslos um sich selbst kreisen, dann verfährt sie zwangsläufig materiell und hantiert mit den entscheidenden Anschauungsformen Raum und Zeit und deren Restriktionen für alles real Existierende, welches sie selbst einem gewissen Zustand unterwirft; denn sie hat es mit Ereignissen und Prozessen, einem Welt-Geschehen zu tun, von denen ein beliebiger Welt-Zustand sozusagen nur ein entsprechender Querschnitt zum Zeitpunkt t0 ist. So wie wir sagen, dass wir etwas in diesem oder jenem Zustand vorgefunden haben, d.h., dass wir zu verstehen geben wollen, dass diese oder jene Konstellation an Situationsfaktoren bereits das Ergebnis einer Entwicklung war, die nun wiederum zur Ausgangslage einer jeden zukünftigen Entwicklung werden kann oder zwangsläufig wird, weil sie als faktisch vorliegende, d.h. als diese (empirische) Konstellation von uns Berücksichtigung erfordert, wenn wir um ihre mögliche Einflussnahme auf zukünftige Situationen wissen. Vorstellend überlegen wir, ob wir ohne Gefährdung ein bestimmtes WeltGeschehen überhaupt »lostreten« oder in »Gang setzen« können, um an das gewünschte Ziel zu gelangen oder ob wir einen anderen Zu-Gang wählen sollten, um den Stand der Dinge in den beabsichtigten Gang der Dinge zu überführen, d.h. ihn anzuleiten und innerhalb des begrifflich antizipierten Rahmens »freien Lauf« lassen zu können. Denjenigen, der derart anschaulich und mithilfe seiner Vorstellungskraft zu überlegen im Stande ist, nennen wir daher auch nicht ohne Grund vorausschauend; denn der Gehalt seiner Vorstellung kommt nicht alleine von einem ehemaligen, einem abkünftigen Wahrnehmungseindruck, sondern er führt zu einem zukünftigen und d.h. eben sich dann erst ein‐stellenden, empirischen Wahrnehmungsgehalt, zu einer (Wahrnehmungs-)Interaktion, einem Ereignis, eiImagery. In search of a theory, in: Behavioral and Brain Sciences 25 (2002), S. 157- 238; Tye, M.: The imagery debate, Cambridge 2000. 98 Wobei der Versuchsaufbau im Labor nur der extrapolierten, idealisierten und auf wenige zu beobachtende Variablen reduzierten Variante entspricht. Vgl. auch Heideggers (mythisch anmutende und kritische) Wendung, die er genau diesem neuzeitlichen »Repräsentations«-Denken entgegensetzt. Ders., Metaphysik und Nihilismus, Bd. 67, Frankfurt a.M. 1996, S. 120: »Die ›Welt‹ ist als ›Bild‹ gesetzt […]. Bild meint aber hier […] das von der Rechnung und Berechnung Vor‐gestellte, bei dem alles nur ankommt auf die Sicherung der Wirkfähigkeit der Macht […].«
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ner Realisation, die er versucht, in ihrer situativen Ausgestaltung vorherzusehen.99 Derjenige, der alle Handtücher in die Waschmaschine stopft und das dreistündige Vollwaschprogramm wählt, obwohl er keine zwanzig Minuten später beabsichtigt, sich frisch zu machen und sich folglich danach wird abtrocknen müssen, ist nicht vorausschauend, weil er mit seinem jetzigen Handeln einen Welt-Zustand zu befördern hilft, der nicht dasjenige »bereithalten« wird, was er in der dann für sein Handeln veränderten Umwelt benötigt, und was ihm seine Wahrnehmung dann entsprechend nicht wird aufweisen können.100 Und das, obwohl das Ganze eigentlich »abzusehen« war. Daher bleibt die entscheidende, empirisch ausgerichtete Bestimmung der Einbildungskraft, die auch Kant ihr noch zuweist, unvollständig, wenn er diese lediglich als das Vermögen denkt »einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen.«101 Denn wenn wir überlegen, ob es für uns (noch) »Sinn macht«, vor unserer Verabredung noch schnell nach Hause zu fahren, um uns dort frisch zu machen, etwas zu essen und uns umziehen zu können, dann denken wir nicht nur an einen abwesenden Gegenstand, sondern überlegen, ob sich ein ganzer und zum Ereignis werdender Gegenstandskomplex (in diesem Fall unser Zuhause) in einem konkreten, einem »einträglichen« Zu-Stand befindet, der in den Ablauf unseres Vorhabens derart integriert werden kann, dass der glückende Ausgang unserer gesamten Unternehmung nicht gefährdet wird. Wir denken also an einen gewissen Welt-Zustand, der eine (entscheidende) Station innerhalb eines ausgedehnten Welt-Geschehens darstellt, bei der all das (für den Fortgang Nötige) so angeordnet und bereit‐gestellt ist, dass wir (gezielt) darauf zugreifen können, ohne etwaige Folgeerscheinungen wie das rechtzeitige Erreichen der Bahn zu gefährden. Befindet sich ein sauberes Hemd in meinem Schrank, das ich mir auf meinem Weg ins Bad überstreifen kann, ist Essen im Haus, das ich nur aufzuwärmen brauche, während ich dusche und das ich wiederum essen kann, während ich mich (weiter) umziehe? Ist es um die Abläufe so bestellt, dass sie ineinandergreifen 99 Das Vorstellungs-»Bild« ist kein Erinnerungs-»Bild«; denn dieses setzt sich ja tatsächlich aus einstmals wahrgenommenen Eigenschaften zusammen, die sich in einem Interaktionszusammenhang als solche bereits herausgebildet hatten. Natürlich kann dieses seinereits zur informierenden Hauptquelle werden, wenn wir es in eine vorausschauende »Vorhabe« nehmen und in einer projektiven Vor-Stellung neu »durchspielen«, doch dann ist es wiederum kein Erinnerungsbild mehr sondern Bestandteil eines (neuen) Vor-Stellungs-Gehaltes. 100 Diese Bereit-Stellung durch einen Welt-Zustand ist trotz aller sprachlichen Nähe und der vielen Bindestrich-Wörter nicht mit Heideggers »Zuhandenheit« zu verwechseln. Auch wenn wir erst weiter unten darauf zu sprechen kommen werden, wäre schon hier anzumerken, dass Bereit-Stellung als (manipulierter) »Zu-Stand der Dinge« einem intentionalen Überlegen und handelnden Vor-Kehrungen entspringt, was von »Zuhandenheit« und »Welterschlossenheit« gerade nicht behauptet werden kann. 101 Kant, KrV, B 151. Einen Überblick zur Begriffsgeschichte der Einbildungskraft gibt Kamper, Dietmar: Zur Geschichte der Einbildungskraft, Berlin 1998.
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oder einander ausschließen? Und dieses Ausschließen ist dabei nicht von rein logischer Natur. Es ist den faktisch vorherrschenden, raum‐zeitlichen Um-Ständen geschuldet (die hoffentlich keine Um-Stände machen) und die ihren Wider-Stand oder ihre Zuträglichkeit je nach Befähigung eines Akteurs an den Tag legen, der sie aufgrund der eingesetzten Mittel zu handhaben weiß; denn jemand anderes würde all das vielleicht besser in die Wege leiten können, reibungsloser ineinander übergehen lassen können als ich, der vielleicht bloß zu langsam oder nicht umsichtig genug ist, um sich den vorherrschenden Zu-Stand der Dinge zu Nutze zu machen. Umgebungen und weltliche Zu-Stände erschließen sich für entsprechende Akteure, die sie zu handhaben wissen und dadurch gezielt verschiedene Wirkungen veranlassen können. Es ist eine Befähigung, die sich eine Situation und einen weltlichen Zu-Stand anzueignen weiß und als einziges aneignen kann und keine rein kognitive Interpretationstätigkeit. Denn meistens haben wir die Dinge ja dann am besten im Griff, wenn wir sie schon gar nicht mehr bewusst (kognitiv) be-greifen müssen. Erkenntnisse dienen uns dazu, unsere (handelnden) Vermögen zu erweitern, und ein Vermögen ist etwas, das materialiter in der Welt Veränderungen bewirken kann, so wie wir das Wort auch im monetären Sinne gebrauchen.102 Und unser Wahrnehmungs-Gehalt ist nur die Kehrseite eines uns real befähigenden Vermögens, in das ausgebildete, kognitive und sensomotorische Komponenten schon immer mit eingegangen sind, sodass wir uns selbst anders in die Welt »einbringen« können, weil diese durch unsere (technisch hochgerüsteten) Befähigungen anders »in« unsere Wahrnehmung eingebracht ist, sie unseren Absichten und Vorhaben wahrnehmbar anderes stattgibt. Es ist eine erfahrungsgesättigte, modifizierte Wahrnehmungsrückkopplung, die dem einen die Situationshandhabe eines gewissen (Welt-)Zustandes erlaubt, die dem anderen verwehrt bleibt, weil sie ihn anders durch diesen hindurchleitet anhand der Achse seiner, d.h. der bereitgestellten aber auch zugleich von ihm wahrgenommenen (im doppelten Wortsinne von »bemerkten« und »ergriffenen«) Möglichkeiten. Wer Fähigkeiten im Umgang mit etwas erworben hat, den geht etwas in seiner Wahrnehmung anders an, der weiß, mit ihm anders umzugehen und mit ihm zurechtzukommen und das auf eine Weise, die den Wahrnehmungs-Eindruck modifiziert, wie wir noch eingehender weiter unten sehen werden. Eine Befähigung ist genauso »in« den Fingern, wie sie »im« Kopf ist – sie ist uns »in Fleisch und Blut übergegangen«, wie es umgangssprachlich heißt.103 102 Auf dem Papier, also rein theoretisch, können wir uns ja noch so sehr auskennen und trotzdem in der Situation akut oft nicht wissen, was zu tun ist, wenn es mal nicht so »läuft«, sprich sich real so ereignet und abspielt, wie wir das vorab gerlent haben, es uns (imaginativ) »zurechtgelegt« haben. Denn wie es wirklich um die Dinge im Realfall steht, lehrt uns unsere Wahrnehmung. 103 Daher bleibt es sehr zweifelhaft, dass, selbst wenn es eines Tages möglich sein sollte, ganze Gehirne zu transplantieren, damit auch die entsprechenden Fähigkeiten, die in inniger Interaktion mit den ensprechenden Körperregionen überhaupt ausgebildet wurden (man denke bpsw.
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So, wie wir nach Jahren des Autofahrens »routiniert« sind und kaum noch aktiv (im Sinne von kognitiv) über die Situation nachdenken müssen, sondern sie schlicht anders wahrnehmen. Alles hat sich zu einem kontrollierbaren Wahrnehmungseindruck zusammengeschlossen, der einen geradezu spielerischen Umgang mit der (Fahr-)Situation erlaubt, einem Welt-Geschehen, das wir »Autofahren« nennen und das einer Wahrnehmungsumgebung entspricht, deren ehemaliges Anforderungszentrum uns bei weitem nicht mehr derart »auf den Leib rückt«, wie bei unserer ersten Fahrstunde, bei der alles noch denselben Eindruck auf uns gemacht hat, die Situation einen Handlungs-Druck auf uns ausgeübt hat, den wir nicht bewältigen konnten und dadurch von ihren Anforderungen überwältigt wurden, von ihren Anforderungen überfordert wurden. Haben wir dann die entsprechenden Fähigkeiten im Umgang mit dieser Art von Situation erworben, so erweitert sich der Radius unserer Kontrollmöglichkeiten, weil wir nun die Situation (verbotenerweise mit dem Mobiltelefon am Ohr und der rechten Hand im Handschuhfach) bewältigen und nicht diese uns.104 Als Wesen, die über Selbstbewusstsein verfügen und dadurch verstehen können, was Objektivität bedeutet, überlegen wir daher unter Rückbezug auf unsere Befähigungen, was (noch »realistischerweise«) auf uns zukommt oder zukommen könnte, um dadurch immer auch abschätzen zu können, um was wir uns nicht (aktiv) zu kümmern brauchen. Denn als endliche Wesen bleiben unsere Vermögen zwangsläufig beschränkt. Und lassen sich diese nicht selbst ohne weiteres ausbauen und über einen gewissen Grad hinaus steigern, so bleibt uns zumindest die Möglichkeit, vorausschauend Situationen zu vermeiden oder Hindernisse gezielt abzubauen, welche die Einflussnahme unserer Befähigungen be- oder verhindern würde. Nun ist es aber einzig und allein die Wahrnehmung, die uns darüber zu unterrichten weiß, wie es tatsächlich »kommt« und um die Dinge bestellt ist, d.h., wo und wie sie stehen, liegen, fallen, einander in die Quere kommen oder sich aus dem Weg gehen unter Rückbezug auf unsere Situation, kurz: was ihr konkreter (weltlicher) Zustand ist. Und ein solcher kann auch andauern: womöglich über an Berufsmusiker) in einen anderen Körper übertragen werden könnten – vom Bewusstsein selbstredend ganz zu schweigen. 104 Vgl. auch Dreyfus, Hubert: Was Computer nicht können. Die Grenzen künstlicher Intelligenz, Frankfurt a.M. 1989, S. 197: »Im allgemeinen gilt: Wenn wir eine Fertigkeit erwerben – z.B. Autofahren, Tanzen oder eine Fremdsprache erlernen –, so müssen wir zuerst langsam, müheselig und bewusst den Regeln folgen. Dann aber kommt der Augenblick, von dem an wir die Tätigkeit automatisch ausführen können. Nun scheint es aber nicht so zu sein, dass wir zu diesem Zeitpunkt diese starren Regeln einach ins Unterbewusste fallenlassen. Eher verhält es sich so, dass wir uns sozusagen die Muskelstruktur des Erlernten einverleibt haben, sie unserem Verhalten eine neue Flexibilität und Geläufigkeit gibt. Dasselbe gilt für den Erwerb von Wahrnehmungsfertigkeiten.«
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Jahre hinweg, bis wir entnervt (zu uns selbst) sagen: Jetzt reicht’s, das ist ja kein Zustand mehr!, d.h. kein Zustand mehr, den wir länger ertragen, dem wir uns in unserem Handeln länger überlassen und ausgesetzt sehen wollen. Bspw., weil nie Essen im Haus ist, unser Bankkonto überzogen oder nie Zeit für die entscheidenden Dinge des Lebens bleibt. Und nun ändern wir diesen Zustand entweder dahingehend, dass wir die Bereit-Stellung der Dinge im Vorfeld manipulieren, neu arrangieren und entsprechend auf- und her‐stellen, zurechtrücken oder beeinflussen, sodass sie »im Bedarfsfall« einen anderen Zugriff gewähren und ein anderes Ergebnis befördern, d.h. im Stande sind, bei einer gewissen Handhabe dieses Ergebnis herbeizuführen. Oder aber wir ändern hingegen unser eigenes Verhalten, unsere Absichten und Ziele, sodass der ehemalige Zustand nicht weiter ins Gewicht fällt und nicht länger die benötigte Grundlage für unser Tun abgibt und damit kein zu berücksichtigender Zustand in dem hier angeführten Sinne ist. Nach der Kritik des Referenzbegriffs dürfen wir nun aber nicht der Versuchung erliegen, seinerseits den Vorstellungs-Gehalt auf die nächsthöhere Ebene retten zu wollen, um anstatt von einer Referenzbeziehung zwischen Wort und Gegenstand fortan von einer abbildenden Beziehung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit auszugehen. Das Bild, das wir uns von einer Situation unter Zuhilfenahme intersubjektiv verbürgter Begriffe machen (können), ist gerade nicht gekennzeichnet durch starre Abbildungsrelationen, sondern durch dessen flexible Zusammen-Stellung zu berücksichtigender Fest-Stellungen, die mehr oder weniger Aufmerksamkeit von uns erfordern, weil sie sich unterschiedlich stark in eine jeweilige Situation einbringen, d.h. mögliche Wirkungen durch ihre jeweiligen Seiten auf etwas in dieser Situation ausüben (können), je nach Art ihrer Lage und Qualität. »Ein Sachverhalt ist denkbar« heißt daher eben nicht, dass »wir uns ein Bild von ihm machen [können]«,105 aus dem Grund, dass wir noch nicht wissen (können), wie er sich auf den Ablauf einer Situation auswirkt, dort zu seinem Recht kommt oder in den Hintergrund tritt und von anderen Situationsfaktoren »ausgestochen« wird. Ein Bild können wir uns nur von einer Situation machen, in der ein Sachverhalt für unsere Vorstellung Geltung besitzt oder besitzen wird, von dem wir aber vorab nicht mit absoluter Sicherheit wissen können, wie diese Geltung (genau) ausfällt, wie der Sachverhalt sich realiter zu dieser Situation im Ganzen verhält, in ihr verwirklicht und damit realisiert ist. Das in Erfahrung zu bringen, ist das Privileg unserer Wahrnehmung, die den faktisch vorliegenden Zusammenhang sprachlich gestützt als Gang der Dinge nachvollzieht, indem sie uns dabei sein lässt, das uns umgebende Weltgeschehen zu einem Geschehen für uns werden lässt. Den alten Traum der Philosophie und Metaphysik (und auch modernen Wissenschaft), durch pure Kontemplation und rein geistige Einsicht die rationalen Ge105 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico‐philosophicus, § 3001.
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lenkstellen, die »logical joints«106 der Wirklichkeit zu erkennen und nachzeichnen zu können, die Annahme einer »underlying harmony between human reason and the essence of things«107 müssen wir aufgeben, denn in der ein oder anderen Form läuft er immer wieder auf eine Variante von Tatsachen-Ontologie hinaus, die sich nicht mit der Ablehnung eines semantischen Objektivsmus verträgt. D.h. auf die Annahme, unseren propositionalen Aussagen müssten ebensolche Tatsachen in der Welt entsprechen, wie sie von unseren Aussagen an- oder ausgesprochen und (einzeln) vorgestellt werden (können). Was immer wieder den Streit um die falsche Opposition heraufbeschwört, ob die Wahrnehmung nun so zusagen von sich aus in der Lage ist, genau jene richtige Menge und den angemessenen Umfang oder »Zuschnitt« an Wahrnehmungs- Material beizusteuern, den es braucht, um unseren Annahmen letzte Gewissheit zu verschaffen, sie zu verifizieren oder ob nicht eher unsere (geistige) Spontaneität und unser begriffliches Denken an diesem Geschäft derart beteiligt sind, dass man Tatsachen besser einem interpretierenden Subjekt zuschlagen sollte, das durch sein begriffliches Rüstzeug die Welt je nach Interessenlage im Alleingang sprachlich ein- und aufteilt, ohne besondere Rücksicht auf die »tatsächlich« vorliegenden Verhältnisse zu nehmen – und sich damit über kurz oder lang den Vorwurf des Konstruktivismusʼ einhandelt.
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Vergegenwärtigung und Realisierung
In großen Teilen der Philosophie des Geistes wird auch der Wahrnehmungs-Gehalt noch immer im Lichte von Tatsachen-Epistemologien verhandelt und damit als fixe Größe. Als Passung unserer Überzeugungen auf die Welt expliziert oder als der Gehalt einer »direction of fit«108 beschrieben. Dabei gerät er aber über kurz oder 106 Vgl. Hirsch, Eli: Ontological Arguments: Interpretive Charity and Quantifier Variance, in: Sider, Theodore; Hawthorne, John & Zimmerman, Dean W. (Hg.), Contemporary Debates in Metaphysics, New Jersey 2008, S. 377. Die hierzu konträre und auf die Spitze getriebene ontologische Aufassung besteht (vereinfachend gesagt) darin, sämtliche Aufteilung der Welt unseren (sprachlichen) Konzepten anzulasten und die Welt zu einer beliebig formbaren, amorphen Masse zu (v)erklären, aus der unsere Konzepte die für uns zweckdienlichen Objekte »heraustrennen«. Vgl. Eklund, Matti: The Picture of Reality as an Amorphous Lump, a.a.O., S. 383: »The robust ontologist holds that there are real metaphysical joints in nature. The deflationary ontologist, by contrast, subscribes tot he ›picture of reality as an amorphous lump‹ as Michael Dummet puts it […]. The deflationary conception is also sometimes descriped employing the ›cooki‐cutter metaphor‹, according to which reality considered in itself is like some amorphous dough and our concepts are like cookie‐cutters, carving up reality into objects.« 107 Merleau-Ponty, Maurice: The World of Perception, London 2004, S. 56. 108 Vgl. Searle, John R.: Expression and Meaning: Studies in the Theory of Speech Acts, Cambridge 1985, S. 3f. Vgl. ebenfalls Anscombe, G.E.M: Intention, Oxford 1963, S. 56.
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lang in die Fahrwasser von Tatsachen-Ontologien, die ihren prominentesten Vorläufer sicherlich in Platons Theätet finden. Durch eine solche epistemische Engführung wird der Zuschnitt unserer Wahrnehmungskapazitäten von vornherein (unausgesprochen) auf ein gewisses Spektrum eingeschränkt, das man (nach wie vor unbeeindruckt von holistischen Überlegungen in der Semantik) als der sprachlich verfassten Tatsache korrespondierend oder entsprechend denkt – ohne angeben zu können, in was diese »Übereinstimmung« eigentlich genau bestehen soll. Ein Irrweg, der durchaus Tradition hat. Und diese Tradition besagt, dass die Erkenntnisbewegung eine Art Stufenfolge durchläuft von den (uns täuschenden) direkten Sinneswahrnehmungen über die »dahinter« liegenden Dinge, die wir (sprachlich) benennen und (ausschließlich gedanklich) erfassen können, um dann wiederum in einer Art geistigen Anschauung zu endigen, die uns das anschauliche Wesen von etwas einsehen lässt – ein Gedanke, der wohl nirgendwo so nachhaltig entwickeln worden sein dürfte als in Platons Ideenschau. Diese vielkritisierte und als metaphysisch überführte Denkfigur legt aber nach wie vor und oft unbemerkt den Grundstein auch in unserem post‐metaphysischen Zeitalter für das Nachdenken über unsere Wahrnehmungsfähigkeit, da der Stufe der begrifflichen Bewältigung des Sinnlichen in diesem Bild nur noch ein zurechtgewiesener Erfahrungsgehalt entsprechen zu können scheint, der zwar nicht mehr in geistiger Anschauung sein zugehöriges Objekt findet, dergleichen aber in der empirischen Sinneswelt vermuten darf. Unter diesem Tatsachen verpflichteten, epistemischen Blickwinkel scheint gar nichts anderes als Anschauungsobjekt mehr in Frage kommen zu können, als eben dasjenige, was unsere Annahmen (unter Standardbedingungen) »wahr macht« – sprich, die (klar umgrenzte), gut ausgeleuchtete, richtig platzierte, ungehinderte und ungestörte, zur vollen Aufmerksamkeit gelangende Wahrnehmung eines Tischs, Stuhls oder einer Lampe oder was sich sonst noch im näheren Umfeld des Berufs-Philosophen befinden mag.109 Zumindest dann, wenn das Subjekt und seine sprachlichen Fähigkeiten auf irgendeine Art beim Entwurf seiner Welt beteiligt bleiben möchte und es sich nicht nur von einem sinnlichen Chaos umstellt sehen soll. Was darauf hinausläuft, dass man unter 109 Eine Vorstellung, die besonders häufig in den so genannten »belief acquisition«- Theorien innerhalb der Philosophie der Wahrnehmung anzutreffen ist. Diese gehen (wie der Name bereits nahelegt) davon aus, dass Wahrnehmung ausschließlich dazu dient, uns mit Überzeugungen über unsere Umwelt zu auszustatten, indem diese die entsprechenden »state of affairs« in Erfahrung bringt und zugleich zu rechtfertigen versteht. Vgl. für eine Position, die diesen etwas kruden epistemischen Fundamentalismus versucht teilweise zu umgehen, ohne jedoch einen Kohärentismus in bezug auf unsere Überzeugungen zu akzeptieren Armstrong, D.M.: Belief, Truth and Knowledge, Cambridge 1973, insb. S. 1 166f. Vgl. ebenfalls den früheren Entwurf Armstrongs zur belief‐acquisition-Theorie. Ders.: Perception and the Physical World, London 1961. Vgl. für eine behavioristisch inspirierte und auf Armstrong aufbauende Theorie diesbezüglich Pitcher, George.: A Theory of Perception, Princeton 1971.
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dieser Passung eine Art Abgleich oder Vergleich zwischen sprachlich abgefassten und aufgespeicherten Vorstellungsgehalten und in der Situation akut werdenden, korrespondierenden Sachverhalten versteht. Wenn Platon seinen Sokrates im Theätet über Anschauung und AnschauungsAbdruck, Urbild und (vorgestelltes) Abbild sagen lässt, »dass eine falsche Vorstellung [dadurch, R.Z.] entstehen könne, dass nämlich, wer beide kennt und beide sieht oder sonst eine Wahrnehmung von ihnen hat, die Abdrücke von beiden nicht der Wahrnehmung entsprechend hinhält und so wie ein schlechter Schütze anderswohin treffen und sein Ziel verfehlen kann, welches demgemäß falsch genannt wird »110 , so stellt er durch diesen Gedanken an ein geistiges Abzielen (was in der heutigen Redeweise vermeintlich weniger ominös in der Rede von einer zielgerichteten Intentionalität anzutreffen ist) die Weichen für an ihn anschließende Korrespondenztheorien und Tatsachen-Ontologien, die ihrerseits von einer möglichen Referenzbeziehung oder einer Entsprechung zwischen Gedanke und Gegenstand ausgehen – wie sollte eine Aussage andernfalls ausschließlich wahr oder falsch sein können? In der Folge wird Vorstellung in einem ersten Schritt mit Abbildung gleichgesetzt, Vorstellungen im Sinne der imitatio naturae mit »Abdrücke[n] der Wahrnehmungen«,111 die dann wieder auf das richtige »Urbild« bezogen werden müssen, damit es zu einer Passung, zu einer angemessenen »Verbindung der Wahrnehmungen mit den Gedanken«112 kommen kann und dadurch letztendlich auch zu (sicherer) Erkenntnis. Diese folgenreiche Gleichsetzung von (sinnlicher) Tatsache mit Vorstellung begeht aber denselben Ebenenfehler, den wir weiter oben bereits angesprochen haben. Denn wir nehmen keine vereinzelten Tatsachen wahr, sondern Situationen, in denen sprachlich konstatierbare Tatsachen für uns Geltung besitzen, aber womöglich (und nicht selten) auf eine Anschauung treffen, die uns so noch nicht »untergekommen« ist.113 110 Platon, Theaitetos, 194a. 111 Ebd., 194d. 112 Ebd., 195d. 113 Denn wie sollte es auch anders sein vor dem Hintergrund, dass den meisten Tatsachen, die für uns von (alles entscheidender) Bedeutung sind, schon prima facie keine einzelnen Dinge oder Gegenstände »entsprechen« können, obwohl sie vielleicht eine unser gesamtes Leben beeinflusste Objektivität aufweisen oder im Laufe der Zeit entwickeln? Was ist mit all jenen »Tatsachen«, die wir uns eingestehen müssen, zu denen wir aber erst durch eine gewisse Erfahrungsbasis und Reflexionstätigkeit »vordingen«? Was ist mit all jenen »Wahrheiten«, die uns unmittelbarer als Person betreffen? Bspw., dass für gewisse Dinge »der Zug schon abgefahren ist« oder er es zumindest sein wird, wenn wir nicht jetzt handeln und etwas verändern? Wo und wie wäre der »Referenzgegenstand«, der diesen (tiefgreifenden) Wahrheiten »entspricht«? Tatsachen sind Tat-Sachen, nicht weil sie notwendigerweise von uns in die Tat umgesetzt oder geschaffen würden (sie also artifizieller Natur wären), noch, weil sie »an sich« in der Welt vorliegen, sondern weil sie für unser (zukünftiges) Handeln Berücksichtigung einfordern. Und auch der Gehalt der Tatsache, »dass dort vorne ein Tisch oder Stuhl steht«, erfährt seine gesamte
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Die Möglichkeit zum Abgleich besteht nicht zwischen einer einzelnen, mit einer einzigen Tatsache identifizierten Vorstellung (verstanden im klassischen Sinn als klar umrissene Repräsentation) auf Seiten des Subjekts und eines innerweltlichen Gegenstands oder einer bestehenden Tatsache auf Seiten der (wahrgenommenen) Welt, sondern zwischen dem ein- und abgeschätzten Vorkommen einer Tatsache in einer Situation, der wir den Maßstab ihrer (eigenen) Verifikation erst noch abgewinnen müssen und auch nur so abgewinnen können. Wie etwas für unsere sinnliche Wahrnehmung (de facto) verifiziert werden wird, müssen wir selbst situationsgerecht ein jedes Mal neu einschätzen und ihm dadurch ein mögliches Wirkungsspektrum für sein eigenes In-Erscheinung-Treten vorzeichnen. Wie sonst sollten unsere Erwartungen an ein bestimmtes Vorkommnis erfüllt, überboten oder völlig enttäuscht werden können? Der Korrespondenzgedanke vor dem Hintergrund einer auf Bivalenz angelegten,114 epistemischen Ausgangsfrage, die als mögliche Antworten nur die Optionen ja/nein, wahr/falsch zulässt zusammen mit der Annahme einer Welt durchgängig determinierter Objekte, die als »Träger« dieser konstanten und sprachlich gespiegelten Eigenschaften angesehen werden, verstellt die mögliche Bandbreite an sinnlichen Erfahrungen, die uns als Verifikationen für unsere Annahmen gelten (können), weil sie als in Situationen eingebettet von uns vor‐gestellt und erlebt werden – eben weil sie Vorkommnisse sind, d.h. eine in einer Situation sich verwirklichende »Tatsache«. Es ist die trotz aller gegenteiligen Beteuerungen nach wie vor eine metaphysische Überhöhung von Wahrheit, die eine derartige Korrespondenztheorie von ihren Verfechtern einfordert, anstatt der hier vertretenen Einsicht Platz zu verschaffen, dass funktionale Orientierung und ein ihr entsprechendes Wahrheitskonzept das Erkenntnisziel eines endlichen Wesens abgeben muss und auch nur als einziges abgeben kann. Und diese funktionale Orientierung kann über vielfältige Weise erzielt werden, ohne dass einer spezifischen Wahrnehmung der Vorzug gegeben werden könnte in Hinsicht auf die Bestätigung unserer Annahmen, wodurch sie sich von ihren epistemisch ebenso qualifizierten Mitstreiterinnen klar absetzen könnte, weil sie als einziges das passende oder zumindest überlegene Verifikationspotenzial für unsere Annahmen aufbieten würde. Wählen wir als Illustration (also auch hier: zum Anschaulich-Werden dieser »Tatsache«) die Begebenheit auf etwas Acht zu geben, bspw. auf unsere Tasche im Bus. Um dem Folge zu leisten, können wir diese in »Sichtweite« vor oder neben uns platzieren und sie fortan Objektivität nicht einfach durch die materiellen Komponenten dieses Tisches oder Stuhls, auf die er reduiziert werden könnte, sondern erst durch seine Eingebundenheit in einen möglichen Handlungs- und Wirkungszusammenhang, in dem seine Materialität eine unter mehreren bestimmenden Komponenten bleibt, die je nach Situation unterschiedlich »ins Gewicht fallen« und sich erst dadurch bermekbar machen. 114 Vgl. hierzu ebenfalls die Kritik von Michael Dummett. Ders., Realism, in: Truth and other Enigmas, Cambridge 1978, S. 145 – S. 166.
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dauerhaft »im Auge behalten«. Wir können aber auch anderweitige Überlegungen anstellen, die unser materielles Verständnis der Tasche in dieser Situation betreffen, also ihre materielle Beschaffenheit kontextgebunden und dynamisch vorstellig macht. Wir könnten uns vergegenwärtigen (also anschaulich vor‐stellen), welches Geräusch sie wohl aufgrund ihres Materials von sich geben würde, wenn sie von jemand Drittem ruckartig bewegt und durch die Passage unter unserem Sitz hindurch manövriert würde – weil ihr alle anderen Wege in dieser räumlichen Konstellation versperrt sind. Wir könnten also sozusagen einen situationsgebundenen, durch anschauliches Überlegen erzielten und dadurch erst individuierten materiellen Vorstellungsgehalt an unser Hören delegieren, dem wir nun begrifflich instrumentiert und informiert den Nachvollzug der Szene anvertrauen und ihm dadurch vorzeichnen, was uns alles als sinnliche Bestätigung der Tatsache, »dass jemand unsere Tasche entwendet« gelten kann. Was also dasjenige ist bzw. sein wird, was wir als mögliche (Ein-)Wirkung auf die Umgebung und damit auf unsere Sinne annehmen (können), sodass es uns erlaubt ist, überhaupt eine gewisse Erwartungshaltung einzunehmen. Was so zusagen die Variationsbreite an möglichen Sinneseindrücken wäre, die wir dem Entwendetwerden der Tasche sinnvollerweise zuschreiben können. Es ist ein ebensolcher Kategorienfehler und ein nach wie vor in seinen Grundzügen objektivistisches Denken, welches das Sein der sprachlich kommunizierbaren Tatsache mit demjenigen gleichsetzt, das in einer Situation seine Verwirklichung findet. Denn als intersubjektiv‐konstituiert und dadurch quasi‐idealisiert ist und bleibt eine Tatsache eine sprachliche Angelegenheit. Und Fest-Stellung kann sie nur sein, weil sie einer gewissen Bewältigung der Realität dient, sie also entweder die Vergangenheit betrifft oder einer antizipierenden Bewältigung der Zukunft dient, sagt, was (wahrscheinlich) der Fall sein wird oder was der Fall war. Und ihren konkreten Gehalt, ihren jeweilig individuierten Stellen-Wert erzielen Tatsachen vor dem Hintergrund desjenigen »Bildes«, das wir uns von einer (ganzen) Situation machen werden oder gemacht haben, was ihre Individuierung erst abschließt. Tatsachen sind etwas Sprachliches und nicht für sich bestehende Bestandteile der Realität, auch wenn wir zugunsten unserer (sprachlichen) Orientierung nicht auf deren Ein-Setzung für unser Denken verzichten können. In einer Situation akut feststellen zu können, dass etwas der Fall ist, kann nun aber gerade keinen abgeschlossenen Aspekt von etwas meinen, die unveränderlichen »hard facts« (die »logical joints«) einer von uns unabhängigen Welt, die wir als solche entweder gewahren oder nicht. Einfach aus dem Grund, da sich deren (uns orientierender) Stellenwert und dasjenige, was sie eingeordnet in eine (Situations-)Vorstellung benennen, noch entscheidend durch weitere Eckpunkte unserer Orientierung zurechtgerückt und dadurch verändert werden kann, es noch dabei ist, sich (in seiner Bedeutung für uns) fort- oder auszubilden, weil wir durch unseren Wahrnehmungsvollzug noch immer in direktem Kontakt mit
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der Realität und ihren (möglichen) Ereignissen115 stehen. Leben müssen wir nach dem Ausspruch Kierkegaards ja bekanntlich stets vorwärts, verstehen können wir das Leben hingegeben nur rückwärtsgewandt. Eine Feststellung im akuten Vollzug kann daher im Grunde gar keine Fest-Stellung im Wortsinne sein, sondern ist als lebensweltlich vorkommende Tatsache mehr eine Ausgangs-Stellung innerhalb eines gewissen, weltlichen (Gesamt-)Zustandes, die nicht (sprachlich) idealisiert‐statisch verwirklicht ist, sondern vielmehr real‐dynamisch, d.h. als dynamisches Vorkommnis für unsere Orientierung. Festzustellen, dass etwas im Moment der Fall ist, heißt, dass Sich-Ereignen der Realität unter diesem Aspekt zu vergegenwärtigen, es derart zu realisieren, um weiterhin »auf dem Laufenden« bleiben zu können. Was im Normalfall durch die Verbal-Struktur der meisten Sprachen abgedeckt wird. Wir vergegenwärtigen, dass das Auto (im Moment) aus der Ausfahrt fährt, dass die Türen des Nachbarhauses sich öffnen, dass das Kind über die Straße läuft etc.116 Vergegenwärtigung zielt auf ein wahrnehmendes Dabeisein und ist selbst keine vorgreifende oder nachträgliche Vorstellung vom Stand der Dinge, über den im Nachgang zu diesem (Ereignis-)Hergang gewisse Tatsachen mit dieser Bestimmtheit in Anschlag gebracht werden können. Aus dem bereits erwähnten Grund, dass sich uns aufgrund der semantischen Verzweigungen unserer Überzeugungen ein immer weiter angereichertes Bild, ein anderer Überblick ergeben kann und meistens auch ergeben wird, umso mehr wir über die (möglichen) Wechselwirkungen und den kausalen Stellenwert dieses Ereignisses wissen, sodass wir vom Ergebnis her betrachtet und die eigentliche Feststellung betreffend vielleicht gar nicht mehr
115 Dass Wahrnehmungserfahrungen und -episoden partikuläre Ereignisse sind, findet relativ breiten Zuspruch innerhalb der entsprechenden Literatur. Allerdings wird dies meist nur vor dem Hintergrund eines Repräsentationalismusʼ und in Hinblick auf die privativen, mentalen Episoden der entsprechend Wahrnehmenden zugestanden. Auch dreht sich die Diskussion (und in dem vorliegenden Kontext nicht immer zielführend) meist darum, was wir aufgrund von »Introspektion« über die entsprechenden Ereignisse wissen können und was nicht. Vgl. bspw. Millar, A.: Reasons and Experience, Oxford 1991, S. 11; Siewert, C.: The Significance of Consciousness, Princeton 1998, S. 11; O’Shaughnessy B.: Consciousness and the World, Oxford 2000, S. 39; Siegel, S.: Which Properties Are Represented in Perception?‹, in: Perceptual Experience, Oxford 2006, S. 481 – 503. 116 Auch hier dürfen uns die vermeintlich »statisch« wirkenden Vorkommisse der Welt nicht über deren (prinzipiell) ebenso transitorischen Charakter hinwegtäuschen. »Dass die Lampe auf dem Tisch steht« kann jederzeit mit einem anderen Vorkommnis in der Welt konfligieren oder interagieren und dadurch in seinem Sich-Ereignen klarerweise unterbrochen oder völlig aufgehoben werden. Eben weil die Welt selbst nicht die Summe aller Tatsachen ist, sondern ein offener und sich ständig verschiebender Wechsel- und Wirkungszusammenhang. Denn warum sollten wir ansonsten auch ununterbrochen darum bemühnt sein, Dinge instand zu setzen oder instand zu halten?
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vom Über‐die-Straße-Laufen des Kindes sprechen, sondern stattdessen z.B. von seinem (unglücklicherweise) Angefahren-Werden.117 Vergegenwärtigung ist dabei nicht alleine die Vergegenwärtigung dieses Aspekts, sondern das Wahrnehmen der Situation unter diesem Aspekt. Zu vergegenwärtigen, dass sich die Türen des Nachbarhauses öffnen, das Kind auf die Straße läuft, es angefangen hat, zu regnen, die Warteschlange sich kein Stück bewegt oder der Bus schon zehn Minuten zu spät ist, bedeutet nicht den Abgleich einer vorgefassten, klar umrissenen und damit erinnerten Anschauung mit einer nunmehr korrespondierenden Wahrnehmung, sodass wir an der Bushaltestelle »verifizierend« zu uns selbst sagen würden: Ja, genau so sieht es aus, wenn der Bus nicht kommt, ich erinnere mich genau! Denn es ist eben nicht so, dass wir wahrnehmend einer (unbewussten) Schlussfolgerung nachkämen, die die Form hat: »Ein bestimmtes, bereits bekanntes Objekt hat die und die Eigenschaft; das Objekt vor mir hat auch diese Eigenschaften; also kann es sein, dass das Objekt vor mir ein solches wie das bereits bekannte ist. Oder als Beispiel formuliert: Eine Apfelsine ist rund, orangefarben, mit Poren auf der Schale; dieses Objekt meiner Wahrnehmung ist rund, orangefarben und hat Poren auf der Schale, also handelt es sich um eine solche Apfelsine.«118 Denn dies wäre ein völliges understatement der Adaptivität und Flexibilität unserer Erkenntnisfähigkeiten, des Spiels, das unsere Erkenntnis hat, weil sie die Reaktion auf ein niemals stillgestelltes, weltliches Geschehen bleibt. Und neben den genannten Gründen, besteht ebenfalls ein gewichtiger Unterschied zwischen Interpretationen und Identifikationen. Denn wir interpretieren nicht fortwährend die uns umgebende Welt. Nur in Ausnahmefällen fragen wir uns ja explizit, was etwas ist und suchen dann nach Anhaltspunkten für eine 117 Die gegenteilige Beschreibung würden wir hingegen vielleicht wählen, um gerade ein »Dabeisein« künstlich zu erzeugen, eine ästhetische Gegenwart des Ereignisses zu evozieren, die gerade nicht durch einen verstehenden Vorgriff, sondern durch ein emotionales Beteiligt-Sein an der Situation gekennzeichnet ist. Etwas, das uns weiter unten noch begegnen wird. 118 Roesler, Alexander: Illusion und Relativismus. Zu einer Semiotik der Wahrnehmung im Anschluss an Charles S. Peirce, Paderborn, 1999, S. 198. Vgl. für ein ebensolches »bottom up«-Verständnis der Objektidentifikation Tye, M.: Ten Problems of Consciousness, Cambridge 1995, S. 215: »Object or shape recognition in vision […] is a matter of seeing that such and such a type of object is present. Seeing that something is the case, in turn, is a matter of forming an appropriate belief or judgement on the basis of visual experiences or sensations […].« [Meine Hervorhebung]. Siehe ebenso Jesse J. Prinz, der sich auf den informationsbasierten Ansatz von Dretske stützt. Ders,.: Beyond Appearances. The Content of Sensation and Perception, in: Perceptual Experience, a.a.O,. S. 437: »At some stage in visual processing, representations carry the information that a fork is present, by carrying information about other featrures, which are natural signs for the property of being a fork. In particular, we represent forkhood via forky appaerances […]. I think we can visually recognize forks, and hence epistemically see them, by means of fork images: represenations that encode features of forky appearences.« [Meine Hervorhebungen].
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weiterführende, d.h., uns durch die Situation hindurchführende, uns befähigende, handlungsanleitende Bestimmung. Derartige Schlüsse sind dabei vielmehr Rückschlüsse, d.h. die gezielte Rückführung eines Phänomens auf einen (begrifflich zugrunde gelegten) »Entstehungsort«, den wir mit einem Etwas identifizieren wollen. Aber auch die Anhaltspunkte für derartige Rückschlüsse entspringen ja nur in seltensten Fällen einem direkten Vergleich oder Abgleich mit einem vorgefassten, geistigen Erinnerungs- oder Urbild, sondern oftmals wenn nicht gar meistens einer möglichen Einordnung in unsere Gesamtorientierung, sodass wir von dem Objekt vor uns mit einer gewissen, d.h. immer nur »annähernden Sicherheit« sagen können, was es ist, weil es hier (an diesem Ort) als solches vorkommt, auch wenn es möglicherweise keine oder zumindest nur sehr wenige der uns bereits bekannten Eigenschaften aufweist und dadurch mit überhaupt keinem Erinnerungs-Bild übereinkommt.119 Es wäre eine enorme Verkürzung zu behaupten, dass Interpretationen nur in der Zuweisung von bereits bekannten Eigenschaften bestünden, als auch jede Identifikation bereits für eine Interpretation zu halten. Denn diese wird meist erst dann nötig, wenn die automatisch ablaufenden Identifikationen ins Stocken geraten und etwas aus dem allgemeinen Verweisungszusammenhang herausfällt, der uns im Alltag immer schon orientiert. Erst dann wird Identifikation zu einem aktiven Unterfangen und erst dadurch zur Interpretation, die den Stellenwert von etwas neu (semantisch) abwägen und bewusst überschlagen muss, wodurch sich uns die (prinzipiell fallible) Identifikation von etwas ergibt und jede weiterführenden Überlegungen sich diesbezüglich unter Umständen bzw. den gegebenen Umständen »von selbst erübrigen«. Unsere tatsächlichen, qualitativen und statisch veranschlagten Vorstellungs-Bilder im Sinne einer gewissen, konkreten Anschauung, die wir von etwas haben, sind nicht dasjenige, das zu einer Identifikation führt, sondern meist dasjenige, was von einer gewissen Identifikation situativ widerlegt wird. Denn natürlich stellen wir uns (anschaulich) unter unserer neuen Kollegin, die wir »später am Nachmittag im Meeting kennenlernen werden« (womit ihr situativer Stellenwert und die tatsächliche Möglichkeit zur Identifikation im Vorfeld angezeigt ist) Frau »Madame de Claireville« eine adrette Mittfünfzigerin vor, die sich nicht unbedingt dem neuesten Modetrend anbiedert, dafür aber eine zeitlose Eleganz an den Tag legt, die von den kurzgeschnittenen und gewellten aber noch 119 Das Phänomen dürfte jedem hinlänglich bekannt sein, der eine gewisse Zeit in fremden Ländern zugebracht hat und gezwungen war, tatsächlich manche Grundzüge seiner Orientierung neu zu interpretieren; der sich fragen musste, ob jenes oder dieses demjenigen entspricht, was er schon kennt oder auf dessen Suche er war oder ist. Ob nun die Marmelade im Supermarkt, der Eingang zur Unterführung, die Bushaltestelle, das Gebäude der fremdländischen Behörde, mögliche Lebensmittel auf einem Straßenmarkt usw.
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immer vollen Haaren unterstrichen und von den ausgesuchten Schmuckstücken aus dem Familienbesitz zusätzlich akzentuiert wird. Und natürlich sitzt uns stattdessen im Nachmittagsmeeting eine zwanzigjährige Auszubildende mit blondierten Haaren bis zur Hüfte gegenüber, die keine Sekunde lang ihr Mobiltelefon aus den Augen verliert und die zeitlose Eleganz ihrer Garderobe durch ihre zerrissenen Jeans betont. Und obwohl hier der »Abgleich« zwischen vorgefasster Anschauung und tatsächlich eintretendem Eindruck negativ ausfällt und beide im Grunde nicht im Geringsten zur Deckung kommen, ist Identifikation möglich; nein, vielmehr schon geleistet, denn ansonsten käme es ja gar nicht erst zu dieser Widerlegung. Durch den Platz, den »die Neue« am Konferenztisch und in dieser Situation zwischen all den bekannten Variablen (sprich, den vertrauten Gesichtern) einnimmt, kommt es zur Identifikation, bei der wir (vielleicht völlig verdutzt) zu uns selbst sagen: das muss sie sein! – eben aufgrund des (vorläufigen), situationsgebundenen Ausschlusses aller anderen Optionen. Und ebenso muss ein gewisser Wahrnehmungsgehalt ein Lebensmittelgeschäft, eine ausländische Behörde oder ein sich verspätender Bus sein – zumindest mit annähernder Sicherheit. Und mehr als diese vorläufige, tentative, annähernde Sicherheit kann es für uns als endliche Wesen mit endlichen Erkenntnisvermögen nicht geben. Beim Nachdenken über erkenntnistheoretische Fragen ist das Objekt, über das wir uns Aufschluss erhoffen, unsere Erkenntnisfähigkeit. Und eine Fähigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit der Realität auf eine gewisse (und nur in Grenzen analysierbare) Art zurechtkommen muss, nicht dass sie ihre immer gleichbleibenden und rigiden Prinzipien ohne jede Flexibilität der Wirklichkeit aufzwingt und andernfalls aus der Spur springt. Eine Fähigkeit braucht für ihr Funktionieren immer auch das, was wir in der Einleitung »Spielraum« genannt haben. Denn immer können wir mit unseren Identifikationen ja noch »daneben liegen«, was uns spätestens unser Handlungsmisserfolg verdeutlichen wird. Oder anders formuliert: Identifikationen rechnen zwar mit gewissen grundlegenden Eigenschaften und einem überschaubaren Verhalten, das etwas an den Tag legen und realisieren wird, macht diese aber nicht zur notwendigen Bedingung ihres eigenen Zustandekommens, sondern bekommen die mögliche Bandbreite potenzieller Eigenschaften im Bedarfsfall von einer (aktiven) Interpretation unter Zuhilfenahme unserer Vorstellungskraft je nach Situation zugewiesen.120 Die überschlägt, was 120 Denn es gibt keine sich selbst beglaubigenden Tatsachen – und nichts anderes wäre eine Identifikation, die ihre eigenen Kriterien verbürgen und kontextübergreifend einfordern könnte. Und auch wäre dies sicherlich ein schlechtes Erkenntnismodell für ein endliches Wesen, das sich in immer neuen, wechselnden Situationen und deren Einflüssen befindet und flexibel auf diese reagieren können muss, indem es zumindest die entscheidenden, stets wechselnden Züge einer Situation richtig vergegenwärtigt.
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alles »sinnvollerweise« zur Identifikation von etwas in dieser Situation herangezogen und (wortwörtlich und anschaulich) in Betracht gezogen werden kann oder könnte. Ein (bestimmter) Wahrnehmungsgehalt ist etwas, das uns (vorerst und für unser Dafürhalten) letzte Gewissheit verschaffen kann, unsere Annahmen stützt und unseren Glauben genügend festigt; jedoch nicht dasjenige, in dem so zusagen die entsprechende Tatsache schon enthalten wäre, sodass »the proposition judged could be made out of the elements contained in its sensed truthmaker.«121 Diese sind nicht »merely taken in by the sensing of it.«122 Es ist ein objektivistisches Missverständnis sowie die Postulierung eines falschen Primats, wenn vor dem Hintergrund epistemischer Überlegungen von dem Gehalt der Wahrnehmung behauptet wird, er lasse sich auf den Gehalt von Überzeugungen reduzieren oder diene alleine deren Erwerb.123 Denn es ist vielmehr umgekehrt unsere situativ abgewogene und auf unsere restlichen Annahmen bezogene Überzeugung, die es in vielen Fällen überhaupt erst ermöglicht, die Spanne möglicher Wahrnehmungsgehalte abzuschätzen und der angenommenen Tatsache zuordnen zu können. Und diese Spanne kann von der gut ausgeleuchteten und ungetrübten Frontalansicht von etwas hin zu dem kaum noch wahrnehmbarem Druck gegen unseren kleinen Zeh reichen. Aber selbst diese Relativierung reicht noch nicht hin, um den hier veranschlagten Punkt zu verdeutlichen. Denn der Wahrnehmungs-»Kontakt« kann auch gebrochen oder mehrfach medial vermittelt sein und trotzdem würden ihn als Verifikation einer vielleicht alles entscheidenden (begrifflich unter‐stellten) Tatsache gelten lassen (müssen), weil wir uns (selbst) vorstellend über die Möglichkeit des kausalen Zusammenhangs Rechenschaft ablegen konnten, der diese Verifikationsmöglichkeiten in unseren Augen rechtfertigt: Wir können uns ja ohne Probleme ein extremes Beispiel à la Mission Impossible vorstellen, bei dem das Überleben des gesamten Teams und der Erfolg der ganzen Mission davon abhängt, dass ein gewisser Tat-Bestand wahrgenommen werden muss. Bspw., dass der Alarm auch tatsächlich ausgeschaltet ist. 121 Johnston, Mark: Better then mere Knowledge? The Function of Sensory Awareness, in: Perceptual Experience Oxford 2006, S. 281. 122 Johnson, Mark: Better then mere Knowledge? The Function of Sensory Awareness, in: Perceptual Experience Oxford 2006, S. 268: »Well, what is senses – the content oft he attitude of sensing – is a non‐subjective worldly item, namely a fact, e.g. that there is a spoon over by the alarm clock. This fact is, as it were ›merely taken in‹ by the sensing of it, and judgement goes beyond sensing not in the content judged, but just in the attitude taken up toward the content […]. So an immediate perceptual judgement has a strong prima facie claim to knowledge, because typically it will have been reliably formed in the presence of its sensed truthmaker; a fact, which sensing just takes in.« 123 Vgl. für diese Behauptung bspw. die »belief acquisition«- Theorie der Wahrnehmung von Armstrong, D.M.: Perception and Belief, in: Perceptual Knowledge, Oxford 2004, S. 127 – 145.
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Nun bleibt demjenigen Teammitglied (im Zweifelsfall Tom Cruise), der diese Begebenheit wahrnehmend in Erfahrung bringen soll hierzu vielleicht aufgrund seiner eigenen Position und Lage (eingequetscht im Lüftungsschacht) nichts anderes übrig, als die verzerrte Spiegelung des Rotschimmers in der oberen linken Ecke des blankpolierten Metalls des Lüftungsschachts zu beobachten, den das Lämpchen derjenigen Armatur wirft, das den Status der Alarmanalage anzeigt. Und trotzdem nimmt er diese »Tatsache« wahr, wenn er ausschließlich diesen »Schimmer« sieht. Denn warum sollten wir uns genötigt sehen, zu behaupten, er hätte nicht die Tatsache wahrgenommen, dass die Alarmanalage ausgeschaltet ist, wenn ein an diese Wahrnehmung anschließendes und ein auf dieser Entscheidung aufbauendes Handeln die Mission am Ende zum Erfolg führt und dem Kinobesucher (leider noch viele) weitere Fortsetzungen beschert? Die (berechtigte) Intuition, dass Wahrnehmung kausal vermittelt ist, soll uns ja nur garantieren, dass es die Welt und einer ihrer Zustände ist, die eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung für das Zustandekommen eines Wahrnehmungs-Eindrucks abgibt und es nicht die Spontaneität eines Subjekts (alleine) ist, die diesen hervorruft – wie etwa im Wahn oder Traum. Das inferentielle (beim Subjekt liegende) Moment betrifft ja nicht die Entstehung, die Existenz des Eindrucks, sondern sozusagen nur dessen qualitative Ausprägung. Und auch wenn verschiedene Interpretationen einen Wahrnehmungseindruck in seinem Erscheinen (entscheidend) modifizieren können, bringen sie ihn ja nicht hervor oder zum Verschwinden, was eben seine kausale Abhängigkeit von der Welt verbürgt. Eine (aktive) Schlussfolgerung betrifft die Einschätzung einer möglichen kausalen Vermittlung und damit die Frage, ob wir einen Wahrnehmungseindruck als Bestätigung einer gewissen Tatsache gelten lassen können (oder sollten). Was natürlich umso mehr Rückendeckung erfährt, je ausdifferenzierter und umfassender ein Wahrnehmungseindruck ausfällt, den wir gewahren können und weswegen uns unser Sehen hierzu noch immer am liebsten ist.124 Doch wir müssen auf die zu bewachende Tasche aus dem obigen Beispiel kein Auge werfen. Stattdessen können wir auch einfach unsere Hand auf sie legen, um sie so »im Blick zu behalten«. Denn auch so können wir Aufrechterhaltung eines (wie auch immer gearteten) Wahrnehmungskontaktes garantieren, der uns (weiterhin) Veränderungen gewahren lässt. Durch den Sinneswechsel vom Visuellen 124 Und trotz allem »steckt« die Tatsache nicht in einem Wahrnehmungseindruck (objektivistisch) »drin« oder würde von der Welt (strikt) vorgeben. Immer lässt sich noch ein Gegenbeispiel à la Gettier oder Putnam konzipieren und anführen, dass das klar unter »Standardbedingungen« gesehene Buch vor uns am Ende eine Attrappe war, wir also gar kein Buch gesehen haben. Es gibt kein fundamentum inconcussum für unsere Überzeugungen und es braucht für ein pragmatisches Verständnis dieser Zusammenhänge auch keines zu geben. Vgl. für den locus classicus dieser Denkfigur Gettier, Edmund L.: Is Justified True Belief Knowledge?, in: Analysis, Vol. 23 (No. 6)1963), S. 121 -123.
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zum Haptischen verschwindet nicht die Möglichkeit zum »Überblick«, sondern die Qualitäten des sensorischen (Um-)Feldes möglicher, kontextgebundener Bestätigungen für die Tatsache, dass man versucht, uns diese Tasche zu entwenden, erfahren eine Verschiebung. Bspw., wenn sich diese nunmehr als Bewegung der Taschenoberfläche unterhalb unserer Handfläche zu Erkennen gibt, als ein ganz sanftes (weil um Unauffälligkeit bemühtes) »Gleiten«, sollte der Dieb um Unauffälligkeit bemüht sein. Abermals: die Möglichkeit zum Abgleich besteht nicht vor der Situation, weil ein klar umrissenes »Vorstellungsbild« lediglich mit einer ebenso klar umrissenen, wahrnehmbaren »Tatsache« in Einklang gebracht werden müsste. Sondern die Möglichkeit zum Vergleich ergibt sich zuallererst durch die (antizipierte) Einbettung einer Tatsache in eine Situation und die Variationsvielfalt möglicher Bestätigungen bekommt ihr eigenes, sinnliches Spektrum durch diese Verortung und unter Zuhilfenahme unserer Vorstellungskraft überhaupt erst abgesteckt und zugeordnet. Ein unverorteter Sachverhalt hängt quasi vor seiner Kontextualisierung noch immer in der Luft und bedarf eines durch die Situation zugewiesenen, (möglichen) materiell vorgestellten Gehalts, der sich dadurch erst ergibt; daher können wir auch auf keine nicht‐zirkuläre Weise angeben, was ihn wahr machen würde, als eben dieser Sachverhalt. Wir schätzen so zusagen dessen Einzelgeltung ein und lassen diese durch die Wahrnehmung verifizieren und nicht die allgemeine Tatsache, von der unklar bleiben muss, wie sie konkret Gestalt annehmen wird – in dieser Konstellation und unter den gegebenen Um-Ständen. Was uns durch die Wahrnehmung bestätigt wird und überhaupt bestätigt werden kann, ist eine je nach Situation unterschiedlich ausfallende, räumliche Geltung, ein materielles Verhalten und sinnliches In-Erscheinung-Treten von etwas, das sich innerhalb von Umgebungsfaktoren abspielt und von diesen abhängig bleibt. Unsere sprachlich instrumentierte Wahrnehmung erlaubt es uns, ein- und abzuschätzen, ob wir uns auf einen sinnlichen Eindruck gemäß unserer Situationsvorstellung verlassen können und dank der (propositional differenzierbaren) Feststellungen, die wir für unsere Situationsvorstellung aktualisieren, ergibt sich für uns dadurch eine »Frage«, auf die uns unsere Wahrnehmung eine »Antwort« geben kann. Kann es sein, dass dieses Gewicht der sinnliche Eindruck ist, den die mir anvertraute Tasche an diesem Ort, abgestützt durch meinen Ellbogen auf meine Hand ausübt? Kann es sein, dass der gelbe Henkel, der meines Wissens nach fest mit dieser Tasche verbunden ist, der also einen Bestandteil dieser Tasche darstellt und den ich als einziges von hier aus sehen kann, die Tasche ist, die ich im Auge behalten soll? Dann kann ich diese Wahrnehmung als Verifikation meiner Annahme gelten lassen oder, was nunmehr dasselbe besagt, dann ist diese Wahrnehmung die Verifikation meiner Annahme und der entsprechenden Tatsache, dass ich die Tasche wahrnehme. Doch wie hätte sie das ohne diese Vorannahmen und die entsprechende Vorstellung von sich aus sein können?
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Erkenntnis besteht für ein endliches, körperlich existierendes und mit seiner Umgebung kurzgeschlossenem und interagierendem Wesen nicht im Aufstieg vom Begriff zur nunmehr ideellen, vollständigen und umfassenden Anschauung von etwas, sondern in der Einlösung seines begrifflichen (Vor-)Verständnisses in einer lebensweltlichen Situation und damit in der Erweiterung seiner funktionalen Orientierung innerhalb seiner gelebten Umwelt. Sozusagen nicht in der Höhe des Aufstiegs oder dem Idealisierungsgrad, sondern in der Breite, im Universalisierungsgrad der möglichen Situationsbezüge und des Eingestellt-Seins auf die Variationsbreite eines möglichen In-Erscheinung-Tretens einer Wirklichkeit für uns und den Überblick, den wir derart durch den Einblick in situative Zusammenhänge gewinnen (können). In einer pragmatistischen Perspektive wird aus Erkennen daher einmal mehr Auskennen. Und eine »wahre Erkenntnis«, die sich gegenüber ihren Mitstreiterinnen behaupten kann und die sich vielleicht (wenn überhaupt) erst nach Jahren der Betätigung in einen gewissen Wissensgebiet einstellt, erhält ihr epistemisches Gewicht innerhalb unserer holistisch aufeinander verweisenden Überzeugungen durch ihre Integrationskraft, durch das Umfassende ihres Gesichtspunktes, der Weite ihres Überblicks, den sie uns erlaubt, in gewisse Zusammenhänge zu nehmen. Also kohärentistisch gedacht durch ihren Abstimmungsgrad, nicht durch die »Tiefe« ihres Eindringens, die ihrerseits immer wieder nur eine andere »Weite« erschließen würde und nicht zu einem »hinter« den Dingen befindlichen Wesen verstößt, wie es bekanntlich alleine das Wort Metaphysik nahelegt125 . Doch gewinnt diese Seite eines empirisch‐materiellen Gehalts immer erst aufs Neue situativ an Kontur und ist nicht dasjenige, was vorab kommunizierbar wäre. Und es ist auch nicht dasjenige, was vorab bereits wahrnehmbar wäre, weil es schon »vorliegen« würde, wie es funktionalistische und informationsbasierte Ansätze innerhalb der Philosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaften nicht müde werden zu betonen, um Annahmen rund um ein Repräsentationsmodell der Wahrnehmung stützen zu können. Es verhält sich eben nicht so, dass »belief conceptualises the content of perception«, da es keine »transition from perception to belief in terms of whole contents […]«126 gibt. Wahrnehmung ist nicht Abbildung oder Wiederspiegelung einer an sich vorliegenden, faktenbasierten Wirklichkeit, weil Wirklichkeit sich für ein in ihr engagiertes Wesen jeweils anders ver‐wirklicht, sprich, anders realisiert und dabei andere Tat-Sachen realisiert. D.h., dass sie andere ihrer materiell‐qualitativen Dimensionen für ein derart handelndes Wesen und seine Absich125 Obwohl sich dieses selbst nach heutiger Lehrmeinung bekanntlich einer ursprünglich bibliographischen Entscheidung Andronikos von Rhodos verdankt, der die gleichnamige Schrift des Aristoteles »hinter« dessen Physik eingordnet hat. 126 Crane, T.: The Nonconceptual Content of Experience, in: ders. (Hg.), The Contents of Experience. Essays on Perception, a.a.O., S. 155.
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ten in Interaktion zur Geltung bringt. Da hilft es auch nichts zu beteuern, unsere Wahrnehmung würde (eventuell unbewusst) immer schon sämtliche Details einer Situation erfassen und bedarfsgerecht anhand der entworfenen »Kopie« die benötigten Informationen herausselektieren, die sie alle schon gesichtet, jedes Detail bereits »kodiert«127 hat. Wir bewegen uns nicht handelnd und wahrnehmend in einer perfekt gespiegelten Repräsentation der Wirklichkeit, sondern in einer sich realisierenden und ein‐stellenden, einer umfassenden und uns mit einfassenden Wirklichkeit. Und damit wir den nötigen »Platz« haben, um trotz dieser Verwobenheit unser Vorverständnis und unsere Erwartungshaltung in ihr unterbringen zu können, muss unsere Wahrnehmung immer auch gewisse Ränder an Virtualität aufweisen, die von unserer Vorstellungskraft ergänzend aufgefangen werden und die ihrerseits der Annahme einer vollständigen Determination eines bloß »aufgenommenen« Wahrnehmungseindruckes entschieden widersprechen. Auch jeder Wahrnehmungseindruck steht bereits von vornherein im Verbund mit unseren übrigen Erkenntnisvermögen; denn diese bleiben sich ergänzende Fähigkeiten, die bestrebt sind, unsere Handlungsfähigkeit zu steigern und unsere Interventionsmöglichkeiten zu erweitern. »We have the impression that the world is represented in full detail in consciousness because, wherever we look, we encounter detail. All the detail is present, but it is only present virtually […].«128 Etwas, das alleine anhand der Grenzen unseres Gesichtsfeldes einsichtig ist: »Have a friend wave a brightly colored piece of paper off to the side. You’ll immediately notice that something is moving in the periphery of your vicual field, but you won’t be able to tell what color it is. Ask your friend to move the paper closer to the center of the visual field. You won’t be sure what color the paper is until it has been moved to within twenty to thirty degrees from the center.«129 Es sind primär diese Zonen der Unschärfe, innerhalb derer wir uns wahrnehmend bewegen und uns gezielt unterschiedlichen Möglichkeiten des In-ErscheinungTretens der Wirklichkeit selbst zuwenden130 und die ohne diese Zuwendung nicht 127 128 129 130
Vgl. Prinz, Jesse: Ist das Bewusstsein verkörpert?, in: Philosophie der Verkörperung, a.a.O., S. 475f. Noë, Alva.: Action in Perception, a.a.O., S. 50. Noë, Alva.: Action in Perception, a.a.O., S. 49. Dies ist ja auch eines der Hauptargumente Alva Noës für seinen »enaktiven« Wahrnehmungsansatz, jedoch ohne die hier veranschlagte Konsequenz, dass die Eigenschaften des Wahrnehmung-Gegenstandes dadurch selbst in ihrer Qualität betroffen sind, dass also jeweils anderes in qualitativer Hinsicht dadurch »available« wird und nicht nur so zusagen sein räumliches aber qualitativ unverändertes »Greifbarwerden« von einer veränderten WahrnehmungsPosition aus. Vgl. ders., in: Action in Perception, a.a.O., S. 66: » Perceivers have an implicit, practical understanding of the way movements produce changes in sensory stimulation. They also have an implicit practical understanding that they are coupled to the world in such a way that
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zur Geltung gelangen würden, vor allem nicht in ihrer jeweiligen Intensität. »Sämtliche Details« einer Situation kann es für eine Erkenntnis, die Spiel hat, nicht geben und sollte es sinnvollerweise für diese nicht geben, weil je nach Situation, in der wir uns und die Dinge sich befinden, anderes zur Geltung gelangt und »erfasst« werden kann, anders zugänglich wird, von uns anders angegangen wird oder es uns anders angeht.
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Die Frage nach der sinnlichen Qualität
Dass Wahrnehmung für uns immer schon begrifflich ist, mag zutreffend sein, doch ist damit noch keine (zureichende) Antwort auf die Frage gefunden, was Wahrnehmung im Gegensatz zu Denken ist bzw. wie Wahrnehmung im Gegensatz zu Denken ist. Und ohne diese (theoretische) Differenz kann nicht bestimmt werden, was ihr Beitrag zur unserer Erkenntnis (unter einem nach wie vor verfolgten, sprachpragmatischen Gesichtspunkt) überhaupt sein kann. Während begriffliches Denken nach den bisherigen Überlegungen so zusagen identitätsstiftend wirkt, es uns ermöglicht, kommunikativ wie auch wahrnehmend auf ein und dieselbe (unter‐stellte) (Tat-)Sache vorgreifend (oder auch zurückgreifend) unter verschiedenen Blickwinkeln und aus unterschiedlichen Perspektiven zurückzukommen (bzw. dieser unter einem präventiven Gesichtspunkt als eingesetzte Situationsvariable zuvorzukommen), scheint in der Wahrnehmungsphilosophie notorisch unklar zu bleiben, was ein phänomenal »Gegebenes« (so zusagen unter dem theoretischen Abzug der begrifflichen Komponente) zu unserer Orientierungsleistung beizutragen weiß. Zumindest, wenn es nicht von sich aus (begrifflich) bestimmt ist oder seine Bestimmungsleistung sich nicht begrifflich artikulieren lässt, weil es von uns unbemerkt und nicht auf den Begriff zu bringen vorprädikativ oder vorbegrifflich operiert. Fragen wir also als nächstes, um dieser Verlegenheit beizukommen, was es uns schon nützen würde zu wissen, was etwas ist, wenn wir niemals wüssten, wo dieses etwas ist? Wir nicht wüssten, welchen Weg seine (möglichen) Wirkungen einschlagen werden, wo sie stattfinden und wie genau, d.h. unter welcher Wechselwirkung mit ihrer Umgebung sie stattfinden? Eine plötzlich erblindete (oder auch nur geblendete) Person mag noch so viel über die Welt (begrifflich) wissen, erkannt oder gewusst haben, mag noch so perfekt begrifflich auf sie eingestellt (gewesen) sein und gleichwohl ist sie schlagartig völlig hilflos, wenn ihr ihre abhanden gekommene Sicht keines der vorab verstandenen Objekte mehr räumlich lokalisiert movements produce sensory change. It is this implicit practical understanding that forms the basis of their readiness to move about to find out how things are.«
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»gibt«. Denn »ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht.«131 Das bedeutet aber in erster Linie und noch vor Überlegungen zur sinnlichen Qualität (dem »Wie« der Dinge), dass uns ohne Augenlicht vor allem der Ort von etwas nicht mehr angezeigt würde und mit der verloren gegangenen Sicht auch sämtliche Grenzen, Gebiete und überschaubaren Bereiche, Abstände und Entfernungen zwischen den Objekten verschwänden, zumindest in ihrer Simultaneität. »Also ist wohl zu urteilen, dass, da uns durch den äußeren Sinn nichts als bloße Verhältnisvorstellungen gegeben werden, dieser auch nur das Verhältnis eines Gegenstandes auf das Subjekt in seiner Vorstellung enthalten könne […]. Was aber in dem Orte gegenwärtig sei, oder was es außer der Ortsveränderung in den Dingen selbst wirke, wird dadurch nicht gegeben.«132 Denn dieses Was erhält seine (genaueren) semantischen Konturen, wie gesehen, ja erst durch seine logisch‐diskursive und situative Einbettung. Lassen wir unsere Analyse der Wahrnehmung daher etwas länger ihren Ausgang von dem Was und dem Wo her ihren Ausgang nehmen, anstatt die Untersuchung (wie in der Wahrnehmungsphilosophie üblich) von dem Verhältnis eines Was zu seinem Wie her aufzubauen, also den in der Wahrnehmungsphilosophie sogenannten und ebenso berüchtigten »Qualia«133 , dem individuellen So-Sein von etwas. Denn auch, wenn uns Wahrnehmung qua ihrer Eigenschaft als Wahrnehmung mit individuellen, schier unendlich differenziert anmutenden Sinnesqualitäten konfrontiert, sollte in Hinblick auf deren Orientierungsbeitrag nicht übersehen werden, dass selbst diese »rohen« Qualitäten bei näherem Hinsehen so roh gar nicht sind.134 Denn durch ihr Vorkommen in Verhältnisvorstellungen erleben wir sie immer schon perspektiviert und lokalisiert. Auch sie sind dynamische Größen und keine 131 Kant, KrV, A 51, B 75. 132 Kant, KrV, B 67. Ebenso Kant, KdU, A XLI, B XLIII. [Meine Hervorhebung]. 133 Für eine generelle Bestreitung von »qualia« verstanden als privative Erlebnisse mit einer bestimmten Sinnesuqualität vgl. bspw. Tye, M.: Visual qualia and visual content, a.a.O., S. 158 – 177; Harmann, Gilbert: The Intrinsic Quality of Experience, in : Philosophical Perspectives 4. Philosophy of Mind and Action Theory (1989), hg. v. James Tomberline, Atescadero, S. 31 – 52; Für eine Verteidigung von Qualia vgl. u.a. Searle, John R.: The Rediscovery of the Mind, Cambridge 1992. Churchland, Paul M.: Subjective Qualia from a Materialist Point of View, in: Proceedings of the Biennial Meeting of the Philosophy of Science Association (1984), S. 773 – 790; Levine, Joseph: Materialism and qualia. The explanatory gap, in: Pacific Philosophical Quarterly 64 (1983), S. 354 – 361; vgl. ebenfalls den inzwischen klassischen Aufsatz von Thomas Nagel, der sich darüber hinaus gegen Reduktionismen des Geistigen an sich richtet: Nagel, T.: What Is It Like to Be a Bat?, in: The Philosophical Review 83, Bd. 4 (1974), S. 435- 450. 134 Daher erscheint es auch eher zweifelhaft, eine Schicht »reiner«, jeglichen Informationsgehalts barer Empfindungen (entwicklungsgeschichtlich) voraussetzen zu wollen, auf denen dann die eigentlichen und höherstufigen »Wahrnehmungen« aufruhen. Vgl. Humphrey, N.: A History of the Mind, New York 1992, S. 42.
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letzten Bausteine unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Ein Quale (ein bestimmter Geruch, ein Geräusch oder ein Farbeindruck) ist kein einfaches Datum, sondern unterliegt seinerseits Möglichkeiten zur Intensivierung und Perspektivierung, wodurch es uns seinerseits entschieden zu orientieren weiß. »It cannot be right to suppose that the basic deliverances of the perceptual process, in so far as they are knowledge‐yielding, are neutral with respect to whether or not they concern the place where the subject is.«135 Diese »basic deliverances« durch die Wahrnehmung bringen für uns noch vor jeder höherstufigen Verarbeitung vor allem in Erfahrung, ob eine (Re-)Aktion erforderlich ist oder nicht und dieser Aufgabe können sie nur nachkommen, wenn sie eine eminent räumliche Komponente aufweisen und in räumliche Verhältnisse eingebettet bleiben.136 Wahrnehmung erlaubt uns vor jeder weiterführenden Interpretation einzuschätzen, ob wir jetzt, akut, in diesem Moment oder dort vorne in weniger als einer Minute nach links lenken, einen Schritt nach rechts tun, nach hinten ausweichen, fester zudrücken, nochmals ziehen, näher herantreten, fester zupacken, locker lassen, losrennen, stehen bleiben, das hierher stellen, das dort befestigen müssen. Sie erlaubt uns festzustellen, ob die Dinge sich in einem Zustand befinden und auf eine Art und Weise angeordnet sind, die ein Eingreifen ermöglichen oder die es uns erlaubt, sie sich selbst zu überlassen und (unbeschadet) unseren Weg in ihrer Mitte zurückzulegen. Die stets mitlaufende und durch die Wahrnehmung ver‐mittelte Rückmeldung betrifft die Frage, ob der wahrgenommene (und begriffene) Stand der Dinge (voraussichtlich) in einem zukünftigen Gang der Dinge münden wird, der ein aktives Eingreifen erfordert oder ein Unterlassen gestattet, damit wir uns (wahrnehmend) anderem zuwenden können. Dafür muss sie jedoch eine möglichst »breite« Entscheidungsbasis bereitstellen, die zugleich nichts Wesentliches unberücksichtigt lässt. D.h., sie muss möglichst viele Details in Erfahrung bringen und doch grob genug verfahren, um nicht den Überblick über das ihr zugewiesene Gebiet zu verlieren; denn erst dadurch kann sie für uns etwaige Freiräume für unser Handeln aufzeigen. Entscheidend für unsere (alltägliche) Orientierung ist sozusagen stets das
135 Gareth, Evans: The Varieties of Reference, a.a.O., S. 188. 136 Vgl. Alva Noës sensomotorischen Ansatz (»actionism«) in dem Kapitel »Presence as Availability«, dem ich mich nur bedingt anschließen kann, weil Noë entgegen seiner eigenen Intention ein zu intellektualistisches Bild der Wahrnehmung zeichnet. Auch betrachtet er nur die möglichen Einwirkungen in Richtung auf die Dinge, die er von einem handelnden Subjekt ausgehend denkt, anstatt auch den umgekehrten Fall in Erwägung zu ziehen, nämlich dass wir als Subjekte immer schon von Dingen »angegangen« werden und auf diese zu re-agieren haben. Vgl. ders., Varieties of presence, a.a.O., 19 -24. U.a. S. 23f.: »Perceptual experience has two dimensions: it registers not only how things are, but also the perceiver’s relation to how things are.«
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»Herausfinden des springenden Punktes, von dem aus die Situation oder die Konstellation sich auf fruchtbare Weise erschließt […]. Eine schnelle und flüssige Entscheidung setzt voraus, dass jemand die Situation überblickt, Ansatzpunkte findet, eigene und fremde Kräfte einschätzt, indem er den richtigen Zeitpunkt nutzt; dieser wird verpasst, wenn man alle Eventualitäten berücksichtigt. Eine solch globale Umsicht ist etwas Alltägliches, das unser Berufsleben oder unser Verhalten im Straßenverkehr unaufhörlich bestimmt.«137 Doch auch dies könnte im Grunde noch immer zu kognitivistisch klingen, zu sehr von der Verwertung dieser Wahrnehmungs-»Information« aus beschrieben. Denn Wahrnehmung beantwortet diese Frage für uns ja unablässig, indem sie eine Art körperliche und leiblich empfundene Normativität ins Spiel bringt: sie etwas zu nahe, zu fern, zu stark, zu fest, zu weich oder zu heiß sein lässt, d.h. etwas in seiner Intensität zu- oder abnehmen, sich aufbauen oder anschwellen lässt, abebben oder versiegen, je nachdem, wie weit unsere Hand von der Herdplatte entfernt ist, unser Ohr vom klingenden Handy, unsere Augen vor der sich »auftürmenden« Wand. Gleiches gilt für Gerüche, die uns eindringlicher als jedes Argument von Plätzen und Begebenheiten fernzuhalten wissen, wenn deren sich intensivierende sinnliche Qualität nur durch großzügige Meidung ihres Entstehungsortes vermieden werden kann, also demjenigen Gebiet, das sie mit ihrer spezifischen Note weiträumig »überzieht«. Und selbst der Geschmackssinn geht noch mit einer Verortung und Lokalisierungsleistung einher, wenn er als letzte Barriere nicht nur darüber mitentscheidet, ob etwas (zu) nahe oder (zu) fern ist, sondern ob wir es uns sogar zum Zwecke der Ernährung einverleiben können.138 Daher wollen wir uns hier auch nicht der in der Wahrnehmungsphilosophie häufig anzutreffenden Ansicht anschließen, dass lediglich »Sight and hearing are 137 Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel, a.a.O., S. 34. 138 Der Geschmackssinn, die gustatorische Wahrnehmung geht ja Hand in Hand mit dem Geruchssinn, denn die Geschmacksknospen der Zunge unterscheiden nach wissenschaftlicher Lehrmeinung im Grunde nur fünf Geschmackrichtungen (süß, sauer, salzig, bitter und »umami« [fleischig]), während die restlichen Geschmäcker über das olfaktorische System laufen – was jedermann leicht bestätigen wird, dessen von einer heftigen Erkältung oder Allergie lahmgelegten Nebenhöhlen nur die erstgenannten Geschmäcker für unser Empfinden durchscheinen lassen. Allerdings gilt es zu bedenken, dass Schmecken ebenfalls ein sinnfälliges und lokalisierendes »Abtasten« ist und uns dazu dient, die Oberflächeneigenschaften von etwas in Erfahrung zu bringen sowie seine räumlichen »Abmessungen«. Auch wenn die bewusste Lenkung auf dieses Phänomen ein wenig eklig anmuten dürfte, sei daran erinnert, mit welcher Hingabe und Eifer unsere Zunge beim Kauen in unserem Mund herumfuhrwerkt, um den mit jedem Bissen ein wenig mehr zerkleinerten Nahrungsbrei auf seine einzelnen Bestandsteile hin zu »untersuchen«, damit sie es ja nicht versäumt, die Konsistenz des Zerkauten fortwährend zu kontrollieren, »schaut«, ob einzelne Bestandteile sich zu Wort melden, die dort nicht hingehören, bevor sie uns gestattet, den zerkleinerten Nahrungsbrei endgültig hinunterzuschlucken.
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what we might call locational modalities: they directly yield information not just about sensory qualities, but about the location of those qualities. [Whereas, R.Z.] this is not the case for taste or touch, or even for smell […]. There is, then, a clear dierence in kind between the locational modalities of sight and hearing and the non‐locational modalities of taste, touch and smell. »139 Wenn dieser Unterschied jedoch nicht stichhaltig ist und allen Sinneseindrücken eine mögliche Verortung eingeschrieben bleibt, scheint es aussichtsreich, das Zusammenspiel und das Ergänzungsverhältnis von Sprache und Wahrnehmung für unsere (Welt-)Erkenntnis über das Scharnier ihrer möglichen Lokalisationsleistung zusammenlaufen zu lassen und auch die sinnliche Qualität in ihrer Bedeutung für eine lokalisationsfähige Wahrnehmung und eine lokalisationsbedürftige Sprache zu erschließen. Denn so kann auch die epistemische Rolle von sinnlichen Qualitäten genauer bestimmt werden, anstatt wie üblich das spezifische So-Sein der Wahrnehmungsgehalte zur Ausgangs- und Gretchenfrage zu stilisieren, an der sich entscheiden soll, wie Wahrnehmung und Denken zusammenfinden bzw. gerade nicht zusammenfinden (können) und sich ergänzen, weil sie vermeintlich völlig disparaten Sphären angehören. Denn es ist sehr irreführend, wenn Philosophen darauf insistieren, es sei die sinnliche Qualität, welche den Wahrnehmungs-Gehalt vom sprachlichen Gehalt unüberbrückbar trennt. Denn wir »wissen« ja sehr wohl (bzw. können uns daran »erinnern«), wie sich etwas angehört, angefühlt, ausgesehen oder geschmeckt hat. Was auch der Grund dafür ist, dass wir immer wieder die Gelegenheiten bewusst aufsuchen und herbeiführen, in denen wir uns diesen Eindrücken erneut aussetzen. Gerade die sprachliche Eingruppierung von etwas lässt uns ja ganz wesentlich erwarten, wie ein Wahrnehmungseindruck bei einer realen Konfrontation (höchstwahrscheinlich) ausfallen wird, was uns überhaupt erst erlaubt, daran anknüpfende Überlegungen (im obigen Sinne) anzuschließen und unser weiteres Handeln danach auszurichten. Alles, das wir über etwas gelernt haben, findet auch und gerade in einer körperlichen Erwartungshaltung, einer gewissen vorgreifenden, körperlichen Sensibilisierung seinen Niederschlag, der aktiv an der (Aus-)Gestaltung des vermeintlich »rohen« Sinneseindruckes beteiligt ist. Besonders illustrativ beispielsweise in dem Fall, bei dem wir (aus Versehen) das falsche Getränk an den Mund führen und die (freudige) sinnlich‐körperliche Erwartung an das herb‐perlende »Blonde« von einer geradezu muffig‐abgestanden, undefinierbaren »Säure« durchkreuzt wird, die sich erst im Nachhinein als (höherpreisiger) Rotwein herausstellt, aber im Moment des Schmeckens als widerwärtig abstoßendes, »schales Bier« mit verzerrtem Gesichtsausdruck und nur aus Anstand von uns in versammelter Runde heruntergewürgt wird. Die von Hume veranschlagte, blasse und erinnerte Gefühlsqualität, die hier tatsächlich dem Abgleich zugrunde zu liegen 139 Pasnau, R.: What is Sound? in: The Philosophical Quarterly, Bd. 49, Nr. 196 (1999), S. 313.
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scheint, darf aber nicht, wie gesehen, mit dem Gehalt unserer produktiven Vorstellungskraft verwechselt werden. Was hier zum Zuge gelangt, ist weniger der Gehalt unserer Vorstellungskraft als der Gehalt eines gewissen Körpergedächtnisses, wie es bspw. ebenfalls bei einem leiblich‐vorgreifenden Probeschmecken (-hören, -schauen etc.) aktiviert werden kann und wir es von Situationen her kennen, in denen wir »in uns gehen«, um für uns selbst abzuklären, nach was uns heute der »Kopf steht«, bspw., wenn wir uns an die Planung unseres Abendessens machen. Dabei operieren wir nicht (rein) kognitiv‐anschaulich mit einer gewissen Vorstellungs-Variablen oder einer bloß erinnerten »Information«, also einem rein mentalen und semantischen Gedächtnisinhalt, sondern wir »vertiefen« uns dabei in die jeweilige Körperregion, die mit dem damaligen Gegenstand interagiert und damit sein In-Erscheinung-Treten in einer bestimmten Qualität mit hervorgebracht hatte. Wenn wir versuchen, uns den Geschmack von Kaffee (oder irgendeine seiner besonderen Zubereitungsarten) »in Erinnerung« zu rufen, dann versuchen wir, uns seine damalige Realisierung körperlich zu vergegenwärtigen, wozu wir abermals versuchsweise seine damalige Aufnahme durchspielen, die Interaktion, die vom ersten Berühren unserer Lippen und seinem kurzen Verweilen in unserem Mund bis zu seinem Abgetastetwerden durch unsere Zunge und seinem Hinuntergeschlucktwerden reicht. Wenn unser Blick auf die uns vertraute Tasse fällt und wir uns »vorstellen«, wie sie sich wohl anfühlen würde, würden wir sie in die Hand nehmen, dann spielen wir diese Begebenheit nicht nur anhand eines Vorstellungs-Bildes im obigen Sinne durch, sondern stellen uns den körperlichen Vorgang, den interagierenden Vollzug ihres Berührtwerdens vor, spüren sie bereits in unserer Hand und an unserem Mund, wenn wir uns »vorstellen«, wie wir aus ihr trinken140 ; wir spüren sie also dort, wo sie ihre sinnliche Qualität entfalten würde, würden wir uns körperlich auf sie einlassen. Wahrnehmungsgehalte sind (körperlich) ausagierte Gehalte, leibhaftige Erfahrungen und nicht Informationen in einem Gedächtnis-Speicher, die ebenso gut auf einer anderen »Festplatte« hätten abgelegt werden können, sodass wir sogar »in einigen Jahren in der Lage sein werden, unsere Persönlichkeit auf Computer hochzuladen und sie nach unserem Ableben in virtuellen Welten leben zu lassen«141 , wie 140 Entsprechend würde wohl auch meine eigene Antwort auf die von Molyneux gestellte Frage tendenziell positiv ausfallen.Vgl. Locke, J.: An Essay Concerning Human Understanding, Oxford 1975, ix 8: »Suppose a Man born blind, and now adult, and taught by his touch to distinguish between a Cube, and a Sphere of the same metal, and nighly of the same bigness, so as to tell, when he felt one and t’other which is the Cube, which the Sphere. Suppose then the Cube and Sphere placed an a Table, and the Blind Man to be made to see. Quaere, Whether by his sight, before he touch’d them, he could now distinguish, and tell, which is the Globe, which the Cube?« 141 Blackmore, Susan: Gespräche über Bewußtsein, Frankurt am Main 2012, S. 241.
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der Kognitionswissenschaftler Kevin O’Regan in einem Interview erklärt hat. Daher ist es keine geringe Verzeichnung, wenn der Empirismus Ursache und Wirkung als völlig disparat behandelt und deren Verbindung als rein kausal vermittelt denkt und damit am Ende als rein kognitiv verknüpft. »For the effect is totally different from the cause, and consequently can never be discovered in it«,142 wie Hume uns und dem an ihn anschließenden Empirismus Glauben machen möchte. Doch auf der Ebene der Phänomene sind Ursache und Wirkung nicht derart getrennt und könnten als eigenständige sinnliche (Aus-)Gestaltungen beschrieben werden, die lediglich durch gedankliche Verknüpfung miteinander übereinkommen. »Let an object be presented to a man of ever so strong natural reason and abilities; if that object be entirely new to him, he will not be able, by the most accurate examination of its sensible qualities, to discover any of its causes or effects.«143 So intuitiv richtig dieses Argument klingen mag, so (teilweise) falsch bleibt es. Natürlich wissen wir vorab von vielen Dingen nicht, wie sie sich konkret verhalten werden und welche Effekte sie genau in dieser Situation an den Tag legen. Doch gilt dies ja nicht nur von völlig Neuem, sondern prinzipiell von allen konkreten Einzeldingen und singulären Ereignissen, die sich innerhalb kontingenter Situationsumstände abspielen. »Entirely« ist eine philosophische Spitze, welche die Schwäche des Arguments verdeckt. Denn es ließe sich ja ebenso behaupten, jedes konkrete Einzelding, dem wir begegnen, sei völlig neu, wenn es nicht nummerisch genau dasselbe ist, das wir schon kennen – was natürlich ebenso abwegig wäre. Beides ist ein (abermaliges) understatement unserer (situationsadaptiven) Erkenntnisfähigkeiten, die sich durch ihr Vermögen zum Vergleich, zur Analogiebildung und zur Situationseinschätzung auszeichnen. Auch die von Hume herangezogenen Beispiele, wie das Essen eines Brotes und seine anschließende Sättigung »in« uns, suggerieren eine Diskontinuität, die zumindest auf der Ebene des phänomenalen Erlebens äußerst zweifelhaft bleibt. »It must certainly be allowed, that nature has kept us at a great distance from all her secrets, and has afforded us only the knowledge of a few superficial qualities of objects; while she conceals from us those powers and principles, on which the influence of these objects entirely depends. Our senses inform us of the colour, weight, and consistence of bread; but neither sense nor reason can ever inform us of those qualities, which fit it for the nourishment and support of he human body.«144 Diese Unterscheidung lässt sich aber so nicht aufrechterhalten. Denn die Frage kann nicht lauten, ob alles gelernt ist und aktiv geschlussfolgert werden muss oder 142 Hume, David: An Enquiry concerning Human Understanding, Oxford 2007, S. 21. 143 Ebd., S. 19. 144 Hume, David: An Enquiry concerning Human Understanding, a.a.O., S. 24.
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ob alles direkt und ohne Umwege wahrgenommen werden kann. Denn was wir gelernt haben, wenn wir etwas gelernt haben, ist nicht einfach nur die kausale »Verbindung« von zwei völlig disparaten Ereignissen, das Aussehen von Gegenstand A und das damit rein kausal verknüpfte Aussehen von Objekt B, sondern das In-Erscheinung-Treten von etwas. Und dieses hat sich für uns durch Übergänge, Steigerungen, Abschwächungen, Einwirkungen und Auswirkungen, sprich durch graduelle und kontinuierliche Veränderung in kausalen Interaktionszusammenhängen zu erkennen gegeben. Wir haben erlebt, wie Wut sich in jemandes Gesicht einschreibt und beginnt, sich seiner ganzen Körperhaltung mitzuteilen, haben gesehen, welche (unkontrollierten) Auswirkungen sie (auf ihre Umgebung) haben kann, wenn ihr nicht frühzeitig Einhalt geboten wird. Wir haben die Manifestation von Trauer erlebt, die Erstarrung und Hilflosigkeit, die sie über die Anwesenden ausbreitet, haben die spielerische Gelöstheit erfahren, wenn eine Befürchtung sich als unbegründet herausstellt und »sich in Luft auflöst«. Wir haben gesehen, wie es aussehen kann, wenn Enttäuschung sich einstellt oder überwältigende Freude sich ihren Auftritt verschafft. Wir haben vielleicht erlebt, wie es »zugeht«, wenn zwei Autos miteinander kollidieren, haben also das Ereignis eines Unfalls oder andere Dinge in Aktion erlebt, deren kausales Zusammenwirken wir direkt an ihnen selbst erfahren konnten. »In a great boulder rolling down the mountainside and flattening the wooden hut in its path we see an exemplary instance of force […]. These mechanical transactions […] are directly observable (or experienceable).«145 Doch genau dieses Wirken und Sich-Geben in Aktion verschafft uns auch einen anderen Zugang zu den (sinnlichen) Eigenschaften, die für ein solches Ergebnis notwendig waren, wenn auch vielleicht nicht hinreichend. Haben wir uns einmal an der Flamme einer Kerze verbrannt, so ist ihr gelb‐roter Schein nicht mehr jenes unverbindliche und zur Berührung einladende Leuchten, sondern die Manifestation ihrer uns versengenden Hitze und nicht nur ihre Symbolisierung oder ein semiotisch zu interpretierendes Anzeichen hiervon. Haben wir einmal gesehen, wie ein Messer mühelos durch ein Stück Fleisch gleitet, so sehen wir fortan seine Schärfe und die Härte des Stahls, die dieses Durchdringen »zuwege« gebracht hat und wieder zuwege bringen wird, wenn es auf ähnliche Weise eingesetzt wird, es diese Realisation in Interaktion mit etwas ähnlich Beschaffenem hervortreibt. Unsere Erfahrungen werden unentwegt in unsere Wahrnehmung zurückgespielt und sind als wahrnehmbar veränderter Zustand in dieser aufgehoben, sodass diese alleine durch ihren epistemischen Beitrag eine nunmehr differenziertere (und vor allem 145 Strawson, P.F.: Causation and Explanation, in: Analysis and Metaphysics, Oxford 1992, S. 118. Vgl. auch Hurley, Susan: Active Perception and Perceiving Action. The Shared Circuits Model, in: Perceptual Experience, a.a.O., S. 205 – 260.
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schnellere) Situationseinschätzung erlaubt.146 Konnten wir bis jetzt ein durchaus kulinarisch abwechslungsreiches Leben verzeichnen, so »raten« uns die meisten Essensauslagen, die im Touristengebiet einer Großstadt anzutreffen sind, ja selbst beim kürzesten (An-)Blick, den wir auf sie werfen konnten, eindringlich von ihrem Verzehr »ab«. Jedoch nicht kognitiv, als ob wir bewusst schlussfolgern müssten, welche »secret power« dieses vor billigem Bratfett triefende Stück DiscounterFleisch bei seinem Verzehr wohl in unserem Reizdarm entfalten würde, könnten wir uns wirklich dazu durchringen, es umhüllt von einem zwei Tage alten Brötchen hinunterzuschlucken. »Durchringen« müssten wir uns ja nur, weil wir es bereits in einem phänomenal veränderten Zustand wahrnehmen, der sich direkt an unser körperliches Erleben richtet. Die mögliche, kausale »Wirkung«, so ließe sich sagen, ist so zusagen in der modifizierten Anschauung ihres qualitativen Anfangs-Zustandes enthalten, indem dieser jetzt anders auf uns wirkt, bevor er überhaupt die antizipierte (kausale) Wirkung »freisetzt« und diese als solche real eintritt und sich einstellt. Unsere Wahrnehmung arbeitet so zusagen ebenfalls kontunuierlich daran mit, den (konkreten) Wirkungen der Dinge vorweg sein zu können. Wir können die mögliche Wirkung bereits sehen, weil etwas (uns) nunmehr anders erscheint und etwas erscheint (uns) anders, weil wir es anders verstehen. Das Aussehen von etwas ist schon ein gewisses Aus-Sich-Herausstehen, es ist vielmehr Ausdruck als neutraler Eindruck, wie wir weiter unten noch genauer mit Merleau-Ponty sehen werden. Und dieser ruht auf Erfahrungen auf, wie ein Vorgang oder ein Ereignis sich realisiert hat und welche Eigenschaften es dabei mobilisiert hat. Und umso mehr Bekanntschaft wir mit solchen Manifestationen schließen konnten, desto geschlossener werden für uns die wahrnehmbaren Übergänge zwischen Ursache und Wirkung, umso übergangsloser erscheinen uns die einzelnen Stationen innerhalb eines sinnlich sich manifestierenden Kausalzusammenhanges. Für unser Denken (und die philosophische Rekonstruktion dieses Denkens) mag es einen »missing link« zwischen Ursache und Wirkung geben, doch umso erfahrungsgesättigter unsere Wahrnehmung voranschreitet, desto natürlicher und erwartungskonformer greifen sinnlicher Anfangsund Endzustand ineinander und bilden ein wahrnehmbares, sinnliches Kontinuum aus.
146 Für die Bestreitung eines solchen Wahrnehmungslernen, bzw. der Annahme, dieses würde den Gehalt unserer Wahrnehmung außer seiner »Reichweite« auch qualitativ verändern können vgl. Lyons, J.: Perceptual Belief and Nonexperiential Looks, in Hawthorne, J. (Hg.), Philosophical Perspectives, 19 (2005), S. 237 – 256.
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4.8
Wahrnehmungswelt und Wirkungsradius
Die sinnliche »Information« ist daher ebenso wenig ein geschlossenes SinnesDatum wie es sprachliche Bedeutung oder ein bestimmter Vorstellungsgehalt wäre. Auch die sinnliche Qualität kennt ihre Modifikationen durch den StellenWert, den sie innerhalb einer übergeordneten Orientierung gewinnt und ist nicht die Widerspiegelung an sich vorliegender, den Dingen inhärenter Eigenschaften. Sie ist variable Orientierungsgröße für ein biologisches Lebewesens, das »sehen muss, wo es bleibt«. Ihre vornehmliche Orientierungsfunktion leistet unsere Wahrnehmung für uns durch die unterschiedliche Ausdifferenzierung und Intensivierung oder Abschwächung ihrer aufgebotenen Sinnesqualitäten. Auf eine Formel gebracht, die das Verhältnis von Qualität (qualia) und Quantität (unterscheidbare Anzahl und abgrenzbare Lokalisation innerhalb von Umgebungen) bestimmt, ließe sich daher der Kürze halber sagen, dass sie erstere meist nur zugunsten letzterer bemüht und qualitative Ausdifferenzierung und (Re-)Intensivierung immer auch eine lokale Re-Platzierung der so zugänglich gemachten Differenzierungsmerkmale in einem re‐organisierten Wahrnehmungsfeld bedeutet. Ein Phänomen, das wir vom Näherkommen her kennen, vom näheren Hinsehen oder Hinhören, das nicht einfach nur das aufmerksamere Auffallen von zuvor ebenso »gegebenen« Eigenschaften meinen kann, sondern die Reorganisation eines Wahrnehmungs(um)feldes betrifft, in dem nun anderes stärker, in stärkerem Ausmaße oder überhaupt zum allerersten Mal wahrnehmbar hervortritt oder umgekehrt, beim eigenen Zurücktreten in einem übergeordneten Eindruck »aufgeht« und damit in seiner sinnlichen Einzelgeltung »verschwindet«, sich dem Gesamteindruck integriert und diesen (oft unmerklich) modifiziert. So sehen wir ja beim näheren Herantreten, der Veränderung unserer Wahrnehmungsposition und -perspektive etwas nicht einfach immer genauer und damit richtiger. Befinden wir uns bereits so nahe an unserem Gegenüber, dass wir dessen Gesicht mit unserer Nasenspitze berühren können, dann haben wie keinen »exakteren« Eindruck von dessen Aussehen gewinnen können147 , sondern im Gegenteil. Denn meistens müssen wir, damit etwas (für unser Dafürhalten) in dieser oder jener Situation angemessen erscheinen können soll, erst einen Schritt zurücktreten anstatt näher heranheranzugehen, um so unser Wahrnehmungs(um)feld richtig zu »justieren« und einen geeigneten Anblick von etwas zu erhalten. 147 Diese Vorstellung rührt vielmehr von einem nach wie vor wirksamen Essentialismus, wie er von den Idealisierungen unserer Sprache und diversen Reduktionismen in der Wissenschaft befördert wird. Letztere verfallen nicht selten dem unausgesprochenen Glauben an eine nach wie vor wirksame Metaphysik, wenn sie durch die instrumentell gestützte Sichtbarmachung von Micro- oder gar Nanostrukturen, der Entdeckung von »Genen« bzw. »Atomen« bzw. deren modellhaften Verbildlichungen davon ausgehen, »hinter« den »Oberflächenphänomenen« nunmehr zu dem bisher versteckten »Wesen« der Dinge vorgedrungen zu sein.
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Der Stand der Dinge
»Einen Anblick gewinnen wir vielmehr dann, wenn wir das Sichtbare so zurechtrücken, dass es ›sich‹ zeigt, sich uns ›darbietet‹. Damit ist zugleich auch gesagt, dass wir uns sehend dazu in ein angemessenes Verhältnis versetzen. Wir bringen uns so ins Spiel, dass sich eine Sache aufschließt, indem sie sich auf uns hinordnet.«148 D.h., immer interagiert ein Wahrnehmungseindruck mit seiner Umgebung und ist dadurch seinerseits kein bloßes, sinnliches Datum, reiner Eindruck, sondern bereits Ausdruck, der durch diese Integration vermehrt zur Geltung gelangt oder zurücktritt, in die Umgebung mit ein- oder in dieser untergeht. »Wie für jedes Bild in einer Gemäldegalerie gibt es für einen jeden Gegenstand eine optimale Entfernung, aus der er gesehen werden will, und eine Orientierung, in der er mehr von sich sehen lässt als in jeder anderen: diesseits und jenseits dieser Entfernung und außerhalb dieser Orientierung bleibt die Wahrnehmung infolge eines Zuviel oder Zuwenig konfus, bleiben wir gespannt auf das Maximum der Sichtbarkeit hin und suchen wir, wie beim Mikroskop, eine bessere Einstellung, die sich gründet auf ein gewisses Gleichgewicht von Innen- und Außenhorizont: Ein lebendiger Körper etwa, aus zu großer Nähe und ohne Hintergrund gesehen, von dem er sich abhebt, ist kein lebendiger Körper mehr, sondern eine materielle Masse, seltsam wie eine Mondlandschaft, wie z.B. wenn man ein Stück Haut unter der Lupe betrachtet; aus zu großer Entfernung gesehen, verliert der Körper ebenfalls seine Lebendigkeit, wird zur Puppe oder zum Automaten. Der lebendige Körper selbst erscheint, wenn seine Mikrostruktur weder zu sehr noch zu wenig sichtbar ist, und diese Bedingung bestimmt auch seine wirkliche Form oder Größe. Die Entfernung zwischen mir und dem Gegenstand ist keine zunehmende oder abnehmende Größe, sondern eine um eine Norm oszillierende Spannung; die schiefe Orientierung eines Gegenstandes im Verhältnis zu mir misst sich nicht durch den Winkel, den er mit der Ebene meines Gesichts bildet, sondern ist erfahren als ein Mangel an Gleichgewicht, als ungleiche Verteilung der Einflüsse des Gegenstandes auf mich.«149 Was von dem Anblick von etwas gilt, gilt nicht minder für den Überblick, den wir uns von etwas verschaffen können. Während etwas von weitem noch recht »vielversprechend« auf uns wirken mochte, stellen wir beim näheren Herantreten vielleicht enttäuscht fest, dass es doch nicht »ganz so gut aussieht«. Das sich (re-)organisierende Wahrnehmungsfeld hält dann andere »Anhaltspunkte« für uns bereit, andere Relevanzkriterien, die durch ihre semantische Identifizierbarkeit den Gesamteindruck ihrem Wirkungspotenzial gemäß beeinflussen. 148 Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen, a.a.O., S. 100. 149 Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 351.
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Während von weitem ein Raum oder eine Gegend noch recht ordentlich und sauber auf uns gewirkt haben mögen, sehen wir bei jedem weiteren Schritt, den wir uns ihnen nähern, nunmehr das wahre »Ausmaß der Verwüstung«. Oder jemand übte von weitem noch keine wirkliche Attraktion auf uns aus, weil uns dessen Statur oder Kleidung nicht sonderlich angesprochen haben und das Gesicht der Person noch nicht wirklich zur Geltung gelangt war, in dem sich bei näherem Hinsehen »die grünsten Augen befinden, die wir je gesehen haben«. Abermals: ein Näherkommen bedeutet nicht zwangsläufig ein genaueres Wahrnehmen; denn dieses ließe sich nur als solches charakterisieren, wenn das Erkenntnisinteresse feststeht, auf das uns unsere Wahrnehmung eine Antwort liefern soll und auch nur darüber liefern kann; wenn also der Überblick feststeht, den sie uns durch die Ausbildung eines Zusammenhanges und Wahrnehmungs(um)feldes ver‐mitteln können soll. Und es ist dieses wahrnehmbare Mit‐einander-in-Beziehung-Setzen, was uns durch die Wahrnehmung anschaulich »gegeben« wird. Wahrnehmung bleibt in all ihren Vollzügen Verhältnisbestimmung: des Verhältnisses der Dinge zu uns und der Dinge zueinander. Und dabei nehmen wir nicht simpliciter die sinnliche Qualität von etwas für sich genommen wahr, sondern wir nehmen etwas so innerhalb einer Situation wahr, deren Maßstab unsere eigene, leibliche und existenzielle Situation selbst ist. In ihrem alltäglichen modus operandi und ohne semantische Zielvorgabe gruppiert unsere Wahrnehmung die Dinge auf einer mittleren Größe zusammen, d.h. sie dimensioniert sie bezogen auf unsere Körperausmaße und bindet dabei in der Regel nicht all unsere Aufmerksamkeitsressourcen, sondern behält immer auch eine gewisse Reserve zurück.150 Nachdem wir den präventiv‐kontrollierenden und weltlich manipulierenden Zug unseres begrifflichen Denkens thematisiert und die realitätsbewältigende und intersubjektiv‐koordinierende Seite unserer Kommunikation eigens herausgestellt haben, sollten wir jetzt für eine weiterführende Klärung der Eigentümlichkeit der Wahrnehmung für unser Erkennen sorgen, wozu sich anbietet, an dieser Stelle an die klassische, philosophische Unterscheidung anzuknüpfen, welche die epistemische Leistung von Begriffen der zeitlichen Dimension unserer Erkenntnisvermögen zuspricht, sprich der Dauer oder der Prozessualität der uns begegnenden, innerweltlichen Dinge, während unsere Wahrnehmung uns entsprechend auf deren räumliche Anordnung und deren qualitativen Zustand hin verständigt. Bei einem jeden sinnlichen Kontakt mit der Welt trägt unsere begriffliche Orientierung sozusagen ihre Ergebnisse und ihre Erwartungen an einen (kausalen) Ablauf, ihre Vor-Annahmen in einen durch die Wahrnehmung simultan erfahrenen Raum 150 Vgl. Martin, M.: Sight and touch, a.a.O., S. 205: »A sense of one’s own spatial organisation can become a sense of the spatial order of things around one: the body is a template to measure things in the world.«
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möglicher, in unserer Umgebung verteilter (Wirkungs-)«Orte« ein und kontrolliert wahrnehmend deren »Ausgang«. Denn begriffliche Bestimmungen lassen ja bekanntlich keine Simultanität, kein Nebeneinander gleichwertiger Optionen an demselben Ort zu, sondern nur ein Hintereinander sich ausschließender und sich in der Zeit ablösender Alternativen. »Nur in der Zeit können beide kontradiktorisch‐entgegengesetzte Bestimmungen in einem Dinge, nämlich nacheinander anzutreffen sein.«151 Auf die Dauer eines Dinges bezogenes, begriffliches Denken hat daher die grundlegende Form eines »Wenn… dann«, das im Präsens kulminiert und mit (einer potenziellen) Anwesenheit rechnet, weil es an einem Jetzt-Dann-Zustand der Dinge interessiert ist, auf die es sich schnellstmöglich einzustellen versucht, weil es sich zugunsten seiner (überlebensdienlichen) Orientierung darauf einstellen muss. Begriffliches Denken ist praktisches Überlegen, und praktisches Überlegen ist, wie gesehen, ein antizipierendes, vorausgreifendes Planen in raum‐zeitlichen Verhältnissen, ein geistiges Probehandeln, aber auch realer Wegbereiter für zu erwartende Konsequenzen, die es entweder durch die Integration und im Verbund mit einer gewissen Situations-Vorstellung versucht vorherzusehen oder durch eigenes Handeln eigens herbeizuführen. Das bedeutet aber, dass wir begrifflich‐verstehend versuchen, das Ergebnis eines sich zeitlich (sprich diachron) entfaltenden Prozesses vorwegzunehmen. Denn »einstellen« müssen wir uns ja nicht auf statische Dinge, sondern auf mögliche, zeitliche Ereignisse, d.h. auf das Wirken von Dingen in einem begrifflich erschlossenen Wirkungszusammenhang, in dem diese sich durch ihre (verstandene und funktionale) »Potenzialität« (wenn wir mit unseren Einschätzungen denn richtig liegen) in »Richtung« des antizipierten Ergebnisses bewegen (werden). Vorausgesetzt natürlich, die entsprechenden Antezedens-Bedingungen finden in der nötigen (wahrgenommenen) Konstellation zusammen. Auf ein statisches, völlig immobiles und so zusagen »kausal impotentes« Etwas, das sich in der Zeit immer gleich verhielte und keine Wirkungen entfalten könnte, bräuchten wir uns ja nicht im eigentlichen Wortsinne einzustellen – höchstens auf seine sich gleichbleibenden, rein räumlichen Abmessungen. Sprich, ausschließlich auf seinen unveränderten (oder gar unveränderbaren) Ort, an dem es vorkommt.152 Doch auch mit noch so viel Wissen, das wir über ein Etwas sammeln konnten und das wir über etwas (vorab) »in Stellung« bringen können 151 Kant, KrV, B 59. 152 Wie es auf die meisten Gegenstände einer kulturellen (Um-)Welt ja tatsächlich auch zutrifft. Als eigens hergestellte Artefakte sind diesen durch ihre zweckgeleite Verfertigung und durch eine »sachgemäße« Handhabung in ihrem räumlichen Ausgreifen ja enge Grenzen gezogen. Sie wurden eigens (von uns) »her‐gestellt«, um gezielt irgendwo auf‐gestellt zu werden und dort ihren Einsatz-Ort zu haben (als Tisch, Stuhl, Haus etc.). Entweder, um selbst eine gewisse Funktionalität zu gewährleisten oder eine andere, an sie anschließende, zu ermöglichen. Ihre räumliche Positionierung dient einer gewissen Bereit-Stellung, die bei Bedarf den Ablauf eines
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(auch und gerade durch seine Einordnung in eine normierende, wissenschaftliche Taxonomie), wird uns das tatsächliche Ausmaß und die tatsächliche Platzierung von etwas nie mit letzter Gewissheit vorab einsehbar sein; denn darüber entscheidet das Ereignis der Realität und unsere Wahrnehmung, die uns »mit« in dieses Geschehen »hineinnimmt«, uns mit diesem ver‐mittelt. Denn, dass Wahrnehmung uns Umgebungen erschließt, bedeutet nicht, dass sie aktivisch einzelne Dinge in einer vorgefundenen Umwelt platziert wie der Schachspieler Figuren auf dem Brett und sich dabei nach Belieben die Welt konstruiert. Sondern es bedeutet, dass sie uns inmitten der Dinge platziert, indem sie uns einer Umgebung aussetzt, unseren Lebensraum entwirft, unser Lebensraum ist, wodurch uns die Dinge in ihrem Verhältnis zueinander und in einem Verhältnis zu uns erschlossen sind.153 Wahrnehmung bleibt Zusammenschau und (in einem wörtlichen Sinne) grund‐legende Lokalisierung und nicht das Aufnehmen einzelner Eindrücke, die keine Berührungspunkte mit ihrer Umgebung ausbilden oder zurückbehalten würden. Und erst dadurch kann sie dem epistemischen Anspruch eines endlichen Wesens genügen, dieses zu orientieren und (weiterhin) handlungsfähig sein zu lassen. Man denke für dieses Zusammenspiel beispielsweise an die Begebenheit, bei der wir auf eine Sache stoßen oder einer Person begegnen, von der wir sicher sind, dass wir sie kennen, sie aber nicht einordnen, sprich verorten können, weil wir sie damals bereits als eingeordnet, als in einer Umgebung vorkommend erfahren haben und nicht »für sich genommen« erlebt. Wenn wir einer uns »eigentlich« bekannten Person in einer fremden Umgebung begegnen und plötzlich nicht mehr angeben können, wer sie ist. Ihr (sprachlich unterstelltes) Wesen, das Was eines Gegenstandes oder das Wer einer Person, ihre Identität bleibt uns dann solange verschlossen, bis wir die vorstellende Zusammenschau, den anschaulichen Zusammenhang wiederhergestellt haben, dem sie entstammt. Daher fragen wir ja auch bei einer solchen Begebenheit: »woher kenne ich den nur?« Und jetzt beginnen wir anschaulich zu überlegen, wo wir diese Person zuletzt gesehen haben könnten, variieren mithilfe unserer Einbildungskraft ihr Aussehen, ihre Erscheinung, ihr Wie; versuchen diese Person als Kommilitonen, als ehemaligen Lehrer, als Arbeitskollegen, als Bekannten uns vorzustellen, sie imaginativ in eine ortsgebundene Situation zurückzuversetzen, die uns erlauben würde, ihre Identität, ihre Bedeutung (für uns) in Erfahrung zu bringen. Sich erinnern, heißt daher nicht, wie Merleau-Ponty räumlichen Ineinandergreifens gestattet, bis dahin aber einem »Verwahren«, »Aufbewahren« oder »Verstauen« unterliegt. 153 Vgl. Dastur, Françoise: Merleau-Pontys Begriff von Erfahrung, in: Phänomenologie der Sinnereignisse, a.a.O., S. 221: »Das ›es gibt‹ ist immer ein ›es gibt der Inhärenz‹, und das bedeutet, dass ich immer an die Welt gebunden bin und dass jede Beziehung von mir zum Sein nur eine inkarnierte Beziehung ist, weil ich es nicht aus der Tiefe des Nichts heraus sehe, sondern aus der Mitte seiner selbst‹ […].«
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treffend sagt, »das Bild einer an sich vorhandenen Vergangenheit aufs Neue in den Blick des Bewusstseins [zu] bringen, sondern sich in den Horizont der Vergangenheit versenken und Schritt für Schritt die in ihm sich verknüpfenden Perspektiven entfalten, bis die Erfahrungen, die sie enthält, gleichsam neuerlich an ihrem zeitlichen Ort erlebt sind.«154 Die sinnliche Qualität dient hier nur als Einstiegs- und Anhaltspunkt und wird umso mehr bemüht, desto hartnäckiger sich die angestrebte Verortung für unsere Einbildungskraft gestaltet. Woher kenne ich nur diese Stimme?, diese Bewegung?, diese Haltung?, diesen grünen Pullover?, diesen Haarschnitt? … Das Wie und das Wo sind hier keine getrennt voneinander auftretenden Größen; denn Wo etwas vorkommt und in welchem Verhältnis es zu etwas anderem in seiner Umgebung steht, wirkt sich entschieden darauf aus, wie dieses etwas von uns erfahren wird. Zwar ändern die Hörner des Stiers oder der Antilope nicht ihre Farbe oder Form, aber sie können ganz unterschiedlich auf uns wirken, einen ganz anderen Eindruck auf uns machen, weil ihre Wirkung jeweils anders von uns eingeschätzt bzw. richtiger: durch den anschaulichen Vergleich einschätzbar wird, je nachdem wer oder was sich im Bereich ihres möglichen »Aktionsradius« befindet. Neben einem Menschen stehend, bspw. neben einem afrikanischen Massai, wirken die Hörner der Antilope wie Speere, die bei einer realen Konfrontation den nicht gerade zu den Schwergewichten zählenden Massai mühelos aufspießen könnten. Diese Wirkung im doppelten Wortsinne, d.h. ihr Erscheinen, welches das Erscheinen ihres möglichen Aktionspotenzials ist, ändert sich hingegen schlagartig, wenn wir die Antilope samt ihrer Hörner neben einem Elefanten platzieren: hier wirken »dieselben« Hörner nun wie Zahnstocher; geradezu zerbrechlich und dünn, wenn wir sie zusammen mit der Größe des Elefanten und der Dicke von dessen Haut sehen. Während der arme Massai problemlos bei einer Konfrontation, d.h. Interaktion von diesen wuchtigen »Speeren« durchbohrt würde, so können wir hingegen sehen, dass es für den Elefanten nicht so weit her wäre mit diesen »Zahnstochern«, die bei seiner Größe und der Beschaffenheit seiner Haut höchstwahrscheinlich nur ein leichtes Pieksen auslösen würden. Somit verfehlt auch in diesem Fall die strikte Trennung von sinnlich wahrgenommen und begrifflich geschlussfolgert das eigentliche Phänomen. Denn all dies ist weder bereits von vornherein in der Anschauung enthalten, noch in ein semantisch unschuldiges Anschauungs-Material im Nachgang hineinprojiziert. Sondern es ist eine sinnlich modifizierte und begrifflich gestützte Erfahrung dessen, was Haut, Hörner, Menschen und Elefanten in dieser Konstellation bedeuten könnten und was ihre jeweiligen Interaktionspotenziale wären, d.h., wie sie im Falle einer Konfrontation aufeinander stoßen und einwirken würden. »Das sieht man doch, 154 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 42.
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dass das nicht funktionieren kann!«, wie wir in Anbetracht eines derartig anschaulichen Wirkungszusammenhanges manchmal sagen. Die vielgerühmten, sinnlichen Qualitäten der Dinge, die uns durch die Wahrnehmung gegeben werden, sind weder letzte Resultate noch basale Bausteine unserer Wahrnehmung, mögen sie in unserem Alltag oder bedingt durch einen experimentellen Versuchsaufbau und künstlich geschaffene Umwelten im Labor noch so konstant wirken. Denn genau wie sprachliche Bedeutungen bleiben sie in funktionale und pragmatische Zusammenhänge eingebettet und werden je nach Anforderungssituation unterschiedlich gewichtet und ausdifferenziert. Sie sind nicht die 1:1-Abspiegelung vorhandener Eigenschaften einer von unserem Wahrnehmungsvollzug, unserem Verständnis und unseren Interaktionsmöglichkeiten völlig unabhängigen Außenwelt und auch nicht die Projektion eines subjektiven Inneren in diese Außenwelt, sondern die erfahrenen, sich immer wieder neu aufbauenden Orientierungswerte eines (biologischen) Lebewesens, das mit seiner (Um-)Welt interagiert und über strukturelle Rückkopplungen diese für sein (bewusstes) Wahrnehmen mit hervorbringt. Immer auch lassen sie neben der Möglichkeit zur Identifikation das Spektrum eines möglichen Bewirkens abschätzbar werden, indem sie zusammen mit den Dingen in ihrer Umgebung wahrgenommen werden. Eine rein epistemische Blickrichtung und der Versuch einer Rückführung unserer Überzeugungen auf ein möglichst einfaches, »sinnliches Fundament«155 verstellt diesen Zusammenhang nur allzu oft. Denn unter einem identifizierenden Gesichtspunkt lassen wir uns im Normalfall ja meist nur sehr begrenzt auf sinnliche Qualitäten ein, deren Manifestation nur bis zu dem Punkt getrieben wird, der es uns gestattet, Zweifel an einer gewissen Identifizierung auszuräumen, ohne eine wirkliche Idee von der inneren Modifikation dieser vermeintlich einfachen Eindrücke zu erhalten. Doch der »angebliche Primat sensorischer Bedeutungen [von bedeutungsvollen Wahrnehmungseindrücken, R.Z.] ist ein Mythos. Primär ist ihr logischer Status; sie sind primär als Prüfungen und Bestätigung von Schlussfolgerungen, die Tatsachenfragen betreffen, nicht als historische Ursprünge [relevant]. Denn auch wenn es gewöhnlich nicht nötig ist, die Kontrolle oder Prüfung theoretischer Berechnungen bis zu dem Punkt irreduzibler sensa, Farben, Töne, usf. zu treiben, bilden diese sensa eine Grenze, deren man sich in sorgfältigen Analysen vergewissert, und bei kritischen Gelegenheiten ist es nötig, die Grenze zu berühren. Die Transformation 155 Ein Versuch, der wohl nirgendwo so prominent unternommen wurde wie in der sogenannten »Protokollsatz-Debatte« des Wiener Kreises. Vgl. die nach wie vor klassischen Aufsätze hierzu von Neurath, Otto: Protokollsätze, in: Erkenntnis, Bd. 3, Nr. 2/3, Leipzig 1932, S. 204 – 212; Carnap, Rudolf: Über Protokollsätze, in: Erkenntnis, Bd. 3, Nr. 2/3, Leipzig, 932, S. 215 – 228. Carnap, Rudolf: Beobachtungssprache und Theoretische Sprache, in: Dialectica, 12 (1958), S. 236 – 248.
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dieser abgeleiteten überprüfenden Bedeutungen in primäre Daten der Wirklichkeit ist nur ein Beispiel für die Herrschaft, die das Interesse an Resultaten und Ergebnissen ausübt, samt dem Fehlschluss, der eine funktionale Aufgabe in eine vorgängige Existenz verwandelt. Sensa sind die Klasse irreduzibler Bedeutungen, die bei der Verifizierung und Korrektur anderer Bedeutungen angewendet werden. Wir fangen in Wirklichkeit mit viel roheren und umfassenderen Bedeutungen an, und erst wenn ihre Verwendung uns zu einem Misserfolg führt, beginnen wir, jene letzten und härteren Bedeutungen zu entdecken, die sensorischen Charakter haben.«156 Doch darf dies nicht dazu führen zu glauben, unsere Wahrnehmung bediente sich einer Art Schematismus oder einer vorgängigen, unbewusst ablaufenden Komplexitätsreduktion von (Wahrnehmungs-)Informationen und stünde mit ihrem Objekt in Form eines »information link« oder »information channel« in Kontakt. Denn solche Beschreibungen setzten voraus, dass es die Gesamtheit sinnlicher Daten oder Eindrücke bereits gibt und dass diese bloß aufgenommen, bloß »rezipiert« werden müssten, um eine solche Reduktion vornehmen und ihr benötigtes Material aus dieser ungetrübten Fülle herausselektieren zu können. Denn bewusste Wahrnehmungsqualitäten sind sich aufbauende, vervollständigende, in eine Wahrnehmungsreihe integrierende Eigenschaften, weswegen auch hier die Frage lauten muss, wie diese Eigenschaften zustande kommen, nicht, wie sie wahrgenommen im Sinne von »aufgenommen« werden. Wahrnehmungsqualitäten werden nicht aufgenommen, sondern in Interaktion mit einem wahrnehmungsfähigen Wesen als solche hervorgebracht und meist reicht es ja aus, sie vor dem dem Hintergrund unserer allgemeinen Orientierungsleistung erst gar nicht richtig zu Wort kommen zu lassen, weil etwas schon von weitem »ungefähr« die Umrisse und die Farbe aufweist, die auch unseren Wagen kennzeichnet, solange er wahrnehmbar dort geparkt ist, wo unser Wagen normalerweise steht. Oder dass »etwas Grünes und Großes« aus eben der Richtung kommt, aus der normalerweise der 32er – Bus seinen Weg zu unserer Haltestelle einschlägt. Dank weiterer Anhaltspunkte in der Umgebung lassen wir diese sinnliche »Information« als differenziert genug für die Verifikation dieser »Tatsache« gelten. Doch sind es nicht unsere Imaginationen oder unsere schematischen Projektionen, sondern der in Erscheinung tretende Bus, der als solcher erkenntlich wird. Es ist der Bus von hier aus gesehen, wie es sich bspw. in seiner Größe spiegelt. Denn wir glauben ja nicht, dass der Bus größer wird, wenn er sich uns nähert, sondern, dass er sich uns nähert. Sein Größerwerden ist die Art und Weise, wie ein Bus aussieht, der von dort hinten und zwischen all den sonstigen Umgebungsvariablen auf uns zukommt. Oder auf einen sich uns nähernden Menschen bezogen: 156 Dewey, John: Erfahrung und Natur, Frankfurt a.M. 1995, S. 310.
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»Er ist weder kleiner noch übrigens gleichgroß: er ist diesseits von Gleich und Ungleich, er ist derselbe Mensch, aus größerem Abstand gesehen. Alles, was man sagen kann, ist, dass der Mensch auf zweihundert Schritt Entfernung eine weit weniger artikulierte Figur ist, meinem Blick weniger und ungenauere Anhaltspunkte bietet und weniger genau in mein Erkundungsvermögen eingeht. Man kann ferner noch sagen, er besetzte weniger vollständig das Gesichtsfeld, doch unter der Voraussetzung, dessen eingedenk zu bleiben, dass auch das Gesichtsfeld selbst keine messbare Ausdehnung hat. Dass ein Gegenstand im Gesichtsfeld nur wenig Raum einnimmt, bedeutet letztlich, dass er keine genügend reiche Konfiguration aufweist, um mein Vermögen deutlichen Sehens auszuschöpfen. […] Wir ›haben‹ den Gegenstand, der sich entfernt, indem wir ihn unentwegt ›festhalten‹ und ihn zum Anhalt nehmen; der wachsende Abstand ist nicht, wie es die Breite zu sein scheint, ein zunehmendes Auseinandersein, sondern allein der Ausdruck dessen, dass das Ding unter dem Zugriff unseres Blicks ins Gleiten gerät und sich ihm weniger genau einfügt.«157 Und das »Ding« fügt sich dort meinem Blick ein, wo ich es erwarte und daher sein Erscheinen gezielt mitverfolge, wo ich es sinnlich »festhalte« und wo es mir einen Anhalt bietet, ich ihm meine Aufmerksamkeit »schenke«, sprich wo ich mich körperlich auf es einlasse. Ich kann dessen voranschreitende Vervollständigung wahrnehmen und ab einem gewissen Punkt sein In-Erscheinung-Treten als aussagekräftig genug gelten lassen und weitere sinnliche (Aus-)Differenzierungen unterbinden; doch ich schematisiere ihn (dabei) nicht, sondern ziehe mich bloß aus der Wahrnehmunssynthese mit ihm ab einem gewissen Punkt zurück bzw. aus dem Wahrnehmungskontakt mit ihm heraus.158 »In jeder Wahrnehmung [nimmt]die Materie selbst Sinn und Form an. Erwarte ich in einer schlecht erleuchteten Straße jemanden an der Tür eines Hauses, so erscheint eine jede Person, die das Haus verlässt, für einen Augenblick in einer konfusen Gestalt. Jemand kommt heraus, und ich weiß noch nicht, ob ich in ihm den werde erkennen können, den ich erwarte. Die wohlbekannte Silhouette wird sich in diesem Nebel bilden […].«159 Zu wissen, was etwas ist, erlaubt es uns durch den Einsatz dieses Wissens im Verbund mit einer situationsgerechten Vorstellung abzuschätzen, wo dieses etwas in unserer Umgebung (höchstwahrscheinlich) vorkommen wird. Und erst in dieser Überschneidung ist es uns wahrnehmend möglich, gezielt nach etwas Ausschau zu halten, unsere Wahrnehmung anzuleiten 157 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 304f. 158 Auf das genaue Verständnis dieses »Anhalts« an den Dingen komme ich weiter unten noch einmal zurück, wenn wir uns den und die »Bewegung« unserer (leiblichen) Existenz noch genauer ansehen werden. 159 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 374.
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und auszurichten, einen Wahrnehmungs-Anhalt zu etablieren.160 Was nicht gerade selten dazu führt, dass wir etwas gerade nicht zu Gesicht bekommen, wir es fortwährend übersehen, weil unsere Erwartungshaltung uns falsch ausrichtet. Zu wissen, was ein Bus ist und Erfahrung mit Bussen in einer bestimmten Umgebung (bspw. einer Stadt) gemacht zu haben, ihren ungefähren Aufbau zu kennen und ihr (Fahr-)Verhalten (auf Hauptstraßen) einschätzen zu können, ermöglicht es uns, schon von Weitem unsere Aufmerksamkeit auf genau diejenige Stelle auszurichten, wo dasjenige »auftauchen« wird, von dem wir uns Aufschluss für unser weiteres Handeln erhoffen; bspw. die Anzeige, die uns davon in Kenntnis setzt, ob es auch tatsächlich der 32er- Bus ist, der sich uns nähert und nicht eine andere Linie. Und nun halten wir solange an dem lokalisierten Wahrnehmungseindruck »fest« und verfolgen körperlich (durch Augen- Kopf- und vielleicht auch Rumpfbewegung) den weiteren Aufbau und die Reorganisation dieses von unserer Aufmerksamkeit umgrenzten Wahrnehmungs(um)feldes mit, bis wir glauben, uns wieder anderem zuwenden zu können. Dabei haben wir jedoch nicht verschiedene und völlig disparate Eindrücke in der Mehrzahl gewonnen, deren Stimmigkeit untereinander völlig willkürlich erscheinen müsste, sondern den Eindruck eines sich innerhalb einer Situation und Umgebung aufbauenden Wahrnehmungsüberganges: eines Wahrnehmungsereignisses, das uns eine Sache oder Begebenheit auch hier in Aktion vergegenwärtigt hat, vom dem wir manchmal sagen, dass es gerade aufgrund dieses Wahrnehmungsvorganges »besonderen Eindruck« auf uns gemacht hat. Doch kennen wir auch den umgekehrten Fall, bei dem ein sich vervollständigender Wahrnehmungseindruck nicht dasjenige ergibt, was wir angenommen haben und sich nicht weiter in der eingeschlagenen Richtung aus- und aufbaut, sondern in demselben Moment, wo eine alternative Identifikation greift, abbricht oder »umspringt« und das Wahrnehmungsfeld quasi dort neu besetzt, umgruppiert und re‐organisiert, wo wir nun glauben, es mit etwas anderem zu tun zu haben. Bspw. bei einsetzender Dämmerung und auf dem Nachhauseweg, wenn unsere Nerven schon ein wenig von dem langen Arbeitstag blank liegen und wir beim Abbiegen um die nächste Ecke erschrocken vor dem anderen »Fußgänger« zurückweichen, der sich noch im selben Moment als Eingangstor, Hecke oder Laterne erweist. Da, 160 Die vorgestellte Identifikation ermöglicht in diesem Fall die Etablierung eines »information‐links« zu der wahrgenommenen Sache und nicht umgekehrt, wie es Evans beschreibt, da er den Weg über die demonstrative »Bezugnahme« sozusagen vom Objekt kommend anstatt durch eine (begrifflich) vorgestellte Ausrichtung seinen Weg hin zum Objekt findend beschreibt. Vgl. Evans, Gareth: The Varieties of Reference, a.a.O., S. 149f.: »It is when an information‐link does not provide the subject with an ability to locate the object that a conceptual element us needed for identification […]. The subject can, upon the basis of that link, locate the object in space.«
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wo wir den Kopf des anderen Passanten glaubten sehen zu können, präsentiert sich uns nun beim zweiten Hinsehen ein kreisrundes Verkehrsschild; dort, wo sein Oberkörper angeschlossen hätte, verläuft jetzt der Pfosten des Schildes hinter einer Hecke entlang, die für uns (folgerichtig) die Beine waren. Immer schon infiltriert unsere Erwartungshaltung unsere Wahrnehmung, indem sie dieser einen (wenn auch nur minimalen) Vorsprung gewährt durch eben jene Platzhalter (unsere Begriffe), die unsere Vorstellung der Umgebung einschätzend unter‐stellt und dadurch unsere Anschauung anleitet, wo eine wahrgenommene Sache sich voraussichtlich wie (wenn auch niemals völlig gewiss) vervollständigen wird, ohne die konkrete Ausgestaltung vorwegnehmen zu wollen oder es auch nur zu können. Eine begriffliche Ein-Stellung geht nicht mit einer sinnlichen Ver-Stellung einher, sondern mit einer gewissen Zusammen-Stellung, einer bestimmten Konfiguration und gegebenenfalls einer korrigierenden Um-Stellung. »Jede Empfindung geht schon schwanger mit einem Sinne, fügt sich schon einer verworrenen oder klaren Konfiguration ein; und kein einziges Sinnesdatum, das dasselbe bliebe, wenn ich von dem vermeintlichen Stein meiner Täuschung zu dem wirklichen Sonnenfleck komme.«161 Bei dem beschriebenen Phänomen kommt es zu einem »Gestaltensprung«, wie die Gestaltpsychologie162 diesen Vorgang nennt und wie man ihn vor allem von Vexierbildern her kennt, bspw. dem Hasen-Enten-Kopf.163 Sobald wir von der einen zur anderen Figur in dieser Zeichnung übergehen, wir diese in jener erkennen164 , kommt es auch hier zu einem Richtungswechsel und einer Umstrukturierung, die den Ausdruckswert der Darstellung modifiziert, indem es diese umorientiert. Als Ente »ist die Zeichnung, der Richtung des Schnabel folgend, nach links orientiert: der ›Punkt‹, der dann zum Entenauge wird, ›guckt‹ zum linken Seitenrand. Als Hase wird, was Schnabel war, zum Ohrenpaar, und nun ist die Konfiguration der Zeichnung genau umgekehrt ausgerichtet: der ›Punkt‹ der nun das Hasenauge markiert, weist zum rechten Seitenrand. Die sichtbaren Linien spielen nicht nur eine unterschiedliche Rolle bei der Gestalterkennung, vielmehr zehrt diese auch davon, dass die Fläche, der sie inskribiert ist, eine jeweils andere Ausrichtung bekommt, mithin andersartig orientiert ist.«165 161 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 345. 162 Vgl. für einen Überblick der unterschiedlichen Gestaltphänomene Metzger, Wolfgang: Gesetze des Sehens, Frankfurt a.M. 1953. 163 Siehe Abb.1 164 Vgl. zum Begriffspaar des Sehen‐in und des Sehen‐als Wollheim, Richard: Sehen‐als, sehen‐in und bildliche Darstellung, in: ders., Objekte der Kunst, Frankfurt a.M. 1982. 165 Krämer, Sybille: Operative Bildlichkeit. Von der ›Grammatologie‹ zu einer ›Diagrammatologie‹? Reflexionen über erkennendes ›Sehen‹, in: Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 115.
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Dasselbe Phänomen kennen wir von Bildern oder Abbildungen her, die sich unserem Blick (partout) nicht erschließen wollen, sodass wir nicht erkennen können, was darauf abgebildet ist, bis wir einen ersten »Anhalt« für unsere Wahrnehmung ansetzen konnten, der es uns erlaubt, das Ganze aufgrund der sich einstellenden Grundorientierung bspw. als »drei Schiffe von oben« zu erkennen. Und erst dieser Überblick ermöglicht es uns, auch allem anderen seinen Platz in dieser Konfiguration zuweisen zu können: den merkwürdigen Strich vom Anfang als »Mast« zu erkennen, den seltsamen Hintergrund als »Meer« sehen zu können, »visuelle Entsprechungsverhältnisse herzustellen. Mit dem Auge denken bedeutet auf dieser elementaren Ebene, anschauliche Korrespondenzen ausfindig zu machen.«166
166 Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, a.a.O., S. 100.
5 Der Zustand der Dinge
5.1
Zustand, Position und Eigenschaft
Wie gesehen, gibt uns die Wahrnehmung der simultanen Konstellation unserer lebensweltlichen Situation durch die Präsentation der räumlichen Nähe und Ferne, der Intensität und qualitativen Verfassung der Dinge immer auch schon etwas zu »verstehen«, ohne bereits mit einem spezifischen, begrifflichen Gehalt identisch zu sein: nämlich ein Verständnis der möglichen Einwirkungen der Dinge aufeinander und ihr mögliches (potenzielles) kausales Verhältnis zueinander. Damit beschränkt oder ermöglicht sie jedoch die Aktualisierung eines begrifflichen Verständnisses, das versucht, dieser Konstellation gerecht zu werden, ohne, dass sie selbst einen vor‐prädikativen Gehalt gegen einen begrifflichen Gehalt ausspielen würde, sondern indem sie uns das Angebot einer simultan‐räumlichen »Horizontale« an innerweltlichen »Orten« unterbreitet, an potenziellen Wirkungsorten, in die sich eine zeitlich‐antizipierte »Vertikale« und das punktuelle Was eines begrifflichen (Vor-)Verständnisses für unsere sprachlich informierte Vorstellung eintragen kann: das an diesem Ort vorkommende und begrifflich bestimmbare Etwas, das sich an einem gewissen Punkt seiner (freilich nicht telelogisch zu verstehenden) zeitlichen Entwicklung oder »Entfaltung« in dieser Situation befindet und das damit einhergehend auch auf eine gewisse zunehmende oder abnehmende Intensität (seiner Möglichkeiten) verweist. Ein Etwas, das sich auch hier in einem bestimmten Zustand befindet, der auf das Potenzial möglicher, zukünftiger Entwicklungen vorausweist und dessen Vergangenheit zugleich an ihm selbst »ablesbar« bleibt und das durch dieses zeitliche Dimension auch Geltung auf der räumlichen Skala unserer lebensweltlichen Orientierung besitzt. Während der Holismus in der Philosophie der Sprache und des Geistes inzwischen zum guten Ton gehören, wirken Überlegungen in der Philosophie der Wahrnehmung dagegen nach wie vor recht isolationistisch. Und selbst dann, wenn eingestanden wird, dass Objekte und nicht vereinzelte Sinnesdaten der Gehalt unserer Wahrnehmung seien.1 1 Für eine diesbezügliche Diskussion siehe u.a. Byrne, A.: Experience and Content, in: Philosophical Quarterly, 59 (2009), S. 429 -51; Chalmers, D.J: The Representational Character of Experience, in: The
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Doch selbst diese Perspektive ist noch zu eng und die Grundeinheit noch immer zu »klein« gewählt. Denn Objekte haben nicht nur einen Innenhorizont (der immer weitere »Abschattungen« erlaubt, wie Husserl es nannte),2 sondern vor allem auch einen Außenhorizont – sie sind Bestandteile von Umgebungen. »Stets liegt das »Etwas« der Wahrnehmung im Umkreis von Anderem, stets ist es Teil eines ›Feldes‹«.3 Ein Umstand, den man meint, getrost überspringen zu können, da unsere begriffliche Identifizierung ihr Werk schon vollbracht habe, wenn sie einen Gegenstand als etwas auffasst. Wenn wir etwas als Lampe wahrnehmen, scheint es (für viele Philosophen) keine große Rolle mehr zu spielen, wo dieses Ding in unserer Umgebung vorkommt: ob es auf dem Schreibtisch, der Kommode, in der Küche oder im Flur steht, ist erkenntnistheoretisch für das Sein von diesem Etwas vermeintlich nicht wirklich von Belang. SeineIdentitätwird jadurch die begrifflicheFixierung (undQuasi-Idealisierung) in allen möglichen Kontexten bewahrt, ja seine Vorzugsstellung als Gegenstand ist geradewegs seine Kontext-Transzendenz. Doch ganz so einfach steht es nun auch wieder für unser interessegeleitetes Erkennen und unsere lebensweltliche Orientierung in einer sich ständig wandelnden Umwelt nicht. Umgebungsfaktoren sind nicht nur unverbindliche Zier von bereits fertig wahrgenommenen Dingen, sondern sie spielen ganz wesentlich in die Art und Weise mit hinein, wie wir diese Dinge auffassen. Wenn es in Übereinstimmung mit der phänomenologischen Tradition angemessen ist zu behaupten, dass »der Gehalt einer Wahrnehmung die Art und Weise ist, in der das intentionale Objekt vom Subjekt erlebt wird«, weil »eine Wahrnehmung ohne Gehalt undenkbar ist«4 , dann spielt es sehr wohl eine Rolle, wo ein Objekt von uns wahrgenommen wird. Denn die (begriffliche) Identifizierung von etwas als etwas ist nur die Voraussetzung verschiedenster Gegebenheitsweisen des Zustandes eines Objekts und verändert dessen Auffassungssinn5 teilweise beträchtlich. »Die Wahrnehmungserlebnisse, die sich auf denselben Gegenstand beziehen, haben die Möglichkeit, sich in der Auffassung desselben Gegenstands zu unterscheiden, was der Grund ist, warum man sagt, dass sie jeweils einen anderen Gehalt haben: ich sehe, dass das Haus alt ist. Ich sehe, dass das Haus fünf Fenster hat. Ich sehe, dass das Haus an der Straße steht…«.6 Unter welchem leitenden Aspekt mir ein Szenario zugänglich wird, hängt aufgrund meiner Interessen (von denen ich in meiner nicht-ästhetischen Interaktion
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Future for Philosophy, Oxford 2004, S. 153 – 181; Crane, T.: The nonconceptual content of experience, a.a.O., S. 136 – 158; Crane, T.: Concepts in Perception, in: Analysus 48 (1988), S. 150 – 153; Snowden, P.: How to interpret’direct perception‹, in: The contents of experience, Cambridge 1992, S. 48 -78. Vgl. Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen, Band II, a.a.O., S. 551. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 22. Wiesing, Lambert: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, a.a.O., S. 128. Vgl. ebd., S. 131. Ebd. S., 128.
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mit der Welt nicht einfach absehen kann) ganz wesentlich von meinen eigenen Platz und dem Ort der Dinge in meiner Umgebung ab. Denn nicht nur ist unsere übergeordnete Orientierung maßgeblich dafür mitverantwortlich, was wir als nächstes im Fortgang unserer wahrnehmenden Erkundung unserer Umwelt (berechtigterweise) erwarten dürfen, sondern die unmittelbare Umgebung, sozusagen die »direkte Nachbarschaft« von Dingen wirkt sich auch nach deren Identifizierung auf die Auffassungsweise aus, unter der sie uns sinnlich zugänglich werden. Und das aus dem genannten Grund, dass Wahrnehmen kein einfaches Aufnehmen von »Gegebenem« ist, sondern das Erleben einer Wahrnehmungs-(Um-)Welt. »In jedem Wahrnehmungsakt muss die Genese der Wahrnehmung von den ›sinnlichen Gegebenheiten‹ her bis zur Welt sich erneuern, wenn die sinnlichen Gegebenheiten nicht ihren dieser Entwicklung verdankten Sinn einbüßen sollen.«7 Auch wenn die zeitgenössische Philosophie (ein wenig beschämt über diesen ehemaligen Fehltritt) als Grundeinheit der Wahrnehmung nunmehr keine Sinnesdaten mehr postuliert, sondern bereits eine Ebene höher ansetzt und dieser »Gegenstände« als Gehalte zubilligt, so stellt auch dies ein noch immer zu diskretes Denken dar. Denn möchte man auf der nächsthöheren Ebene nicht die ehemaligen Fehler wiederholen und nun Gegenstände genauso isoliert setzen wie einst Sinnesdaten, dann zeigt sich schnell, dass auch diese nicht die letzten Bausteine unserer Wahrnehmung sein können, nicht deren kleinste Einheit und auch nicht deren Grundelemente und ihr eigentlicher Gehalt. Denn die direkte Nachbarschaft wirkt sich auf die Gegebenheitsweise der Dinge dahingehend für uns aus, als dass sie die möglichen kausalen Beeinflussungen der Gegenstände durch ihre Umgebung für uns (begrifflich gestützt) abschätzbar werden lässt und den Wahrnehmungsgehalt dadurch mitgestaltet. Oder, um bei dem oben zitierten Beispiel zu bleiben: zu sehen, dass das Haus fünf Fenster hat, der Wahrnehmungsgehalt: »Haus mit fünf Fenstern« hat gute Chancen für uns der Dreh- und Angelpunkt unserer interessengeleiteten Wahrnehmung zu werden, wenn es uns beispielsweise um die Einschätzung der möglichen Sonneneinstrahlung und damit zusammenhängend um die Helligkeit der Räume in diesem Haus zu tun ist. Oder aber, uns ist vor allem an Ruhe in den Räumen hinter diesen Fenstern gelegen; dann werden wir versuchen, einen perzeptuellen Überblick zu gewinnen, der uns die fünf Fenster im Abgleich zur Nähe der Straße anschaulich werden lässt. Und auch sein alter und bereits im Verfall begriffener Zustand, der qualitativ ausgezeichnete Wahrnehmungsgehalt »altes Haus mit fünf Fenstern«, wird dann vielleicht zusätzlich unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und mit in diesen eingehen, da er einen ebenfalls qualitativ schlechten Zustand der Fenster erwarten lässt, die ihrerseits »in die Jahre gekommen sind«, verbraucht, schon zu sehr ge‐braucht, d.h. in ihrem jetzigen, materiellen Zustand und ihrer zeitlich 7 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 122.
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fortgeschrittenen materiellen Konstitution kaum noch in der Lage sind, die Funktion ihres Anfangs-Zustandes weiter aufrechtzuerhalten, sie weiter durchzu‐halten, weil sie sich aufgrund von fortwährender Handhabe oder durch Umwelteinflüsse soweit abgenutzt haben (sie einer »Materialermüdung« unterliegen, wie der Techniker sagen würde), dass sie nicht mehr im Stande sind, dem Straßenlärm etwas entgegenzusetzen, sie als dieser Gegenstand bald nicht mehr zu gebrauchen sind, bald nicht mehr dieser Gegen-Stand sind (sondern nur noch die Überreste eines ehemaligen Fensters). Etwas, das wiederum für unsere lebenspraktischen Überlegungen weniger ins Gewicht fallen würde, wäre die Straße ein ganzes Stück weiter hinten, also der lokalisierte Zustand des Hauses ein anderer. Unsere weltliche Orientierung zielt auf synthetische Urteile ab, die unser Wissen vom Stand der Dinge erweitern (sollen), nicht auf deren reine Identifikation. Wenn wir wissen wollen, ob etwas der Fall ist, dann wollen wir im Grunde wissen, ob etwas mit etwas der Fall ist, wie es also um ein bereits identifiziertes Etwas steht, wo dieses etwas steht und wie es um dieses etwas (qualitativ) steht im Verbund mit anderem. Daher erschließt uns unsere Wahrnehmung vor dem Hintergrund unseres begrifflichen Verständnisses auch Wirkungszusammenhänge und diese spielen sich zwischen (bereits identifizierten) Dingen ab. Im Zweifelsfall möchten wir ja nicht wissen, ob es ein Fahrrad ist, das vor unserer Tür steht, oder ob es unser Fahrrad ist, das dort steht, sondern ob es noch immer sicher angekettet vor unserer Tür steht. Wenn etwas als kleinste Wahrnehmungseinheit anzusprechen wäre, dann nicht Sinnes-Daten8 oder Gegenstände im Sinne von konkreten, physikalischen Einzeldingen, sondern auch hier und wie schon bei unserer Vorstellungskraft: weltliche Zustände. Denn erst die Wahrnehmung von Zuständen ermöglicht an sie anknüpfende, praktische Überlegungen, weil sie im Verbund einer umfassenden Situations-Konstellation dasjenige sind, auf das unser Handeln abzielt, dasjenige, das von unserem Denken überschlagen, »verrechnet« und gegeneinander abgewogen wird, in Stellung gebracht und wieder verworfen, indem wir verschiedene von ihnen in unserer Vorstellung zusammenstellen und durchspielen, sie sich imaginierend ereignen lassen, um aus ihnen einen zu erwartenden Gang der Dinge ableiten zu können, d.h. eine kausale Abfolge von realen (und das heißt immer auch räumlich wirksamen) Konsequenzen (anschaulich) vorhersehen zu können. Sich eine Vorstellung von etwas zu machen, bedeutet ja, wie gesehen, nur im Falle einer angestrebten Identifikation sich das konkrete So-Sein von etwas in Erinnerung zu rufen, d.h. sich eine klar umrissene, partikulare Eigenschaften bspw. die Farbe oder ein generalisiertes Aussehen von etwas zu vergegenwärtigen. Denn ihr produktives Vermögen besteht weiterhin darin, uns die Möglichkeit zu einem 8 Für eine klassische Wiederlegung von Sinnesdaten aus analytischer Sicht vgl. Barnes, W.: The Myth of Sense-Data, in: R.J. Swartz (Hg.), Perceiving, Sensing and Knowing, Berkeley 1965, S. 138 – 167.
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imaginierten Situationsentwurf an die Hand zu geben, uns die »Aussicht« auf einen möglichen Kausalzusammenhang zu eröffnen, den wir uns »ausmalen« und d.h. imaginieren können und bei dem all jene Teilfaktoren Berücksichtigung finden und »greifen«, deren mögliches Ausgreifen oder Eingreifen in die Realität wir bereits (semantisch) be‐griffen haben. Sich eine Vorstellung in diesem Sinne zu machen, bedeutet ein mögliches Geschehnis, ein Ereignis oder einen Ablauf zu antizipieren, der sich zwischen, mit und aufgrund der in Stellung gebrachten Gegenstände so abwickeln wird. Und uns keine Vorstellung in diesem Sinne von etwas machen zu können, bedeutet daher, die (sich ein‐stellende) Realität aufgrund einzelner (Teil-)Faktoren für unmöglich zu halten. So lesen wir bspw. in einem beliebigen Anatomiebuch über die Funktionsweise unserer Atmung: »Body temperature influences breathing. In fever, respiration is increased due to increased metabolic rate, while in hypothermia respiration and metabolism are depressed. Temporary changes in respiration occur in swallowing, sneezing and coughing. The Hering-Breuer reflex prevents overinflation of the lungs. Stretch receptors in the lung, linked to the respiratory centre by the vagus nerve, inhibit respiration when lung volume approaches maximum. Respiratory performance declines with age, beginning in the mid-20s. General loss of elastic tissue in the lungs increases the likelihood that small airways will collapse during expiration and decreases the functional lung volume […].Cartilage in general becomes less flexible with age and there is an increased risk of arthritic joint changes. The ribcage therefore becomes stiffer which, along with the general age‐related reduction in muscle function, reduces the respiratory minute volume.«9 All dies sind Wirkungszusammenhänge, deren jeweilige, beobachtbare Funktionen wir sprachlich auf die beteiligten »Akteure« verteilen können und dadurch ihr Was konturieren, während sie als diese Funktion beobachtbar werden, weil wir sie als Aus- oder Einwirkungen eben dieser Akteure aufeinander, ihre Interaktion miteinander begreifen (können). Real existierende, empirische (Einzel-)Dinge sind nicht derart statisch wie die sprachlichen Konzepte, unter denen wir sie zusammenfassen. Real existierende Dinge halten sich vielmehr in der Existenz oder werden von uns bewusst (als Artefakte) in dieser gehalten; ihr Dasein ist mit einer gewissen Aufrechterhaltung ihres Zustandes verbunden, wie uns sämtliches, biologisches Leben beweist, das für seine Aufrechterhaltung auf die Aufrechterhaltung einer gewissen Energie- und Nahrungszufuhr angewiesen bleibt, deren Zusammenbruch den Zusammenbruch des Organismus bedeuten würde.10 Die Tendenz, nur das für 9 Waugh, Anne & Grant, Allison: Anatomy and Physiology in Health and Illness, London 2014, S. 261. 10 Vgl. Wiesing, Lambert: Was sind Medien?, in: Was ist ein Medium?, hg. v. Stefan Mükler und Alexander Rössler, a.a.O., S. 241: »Wenn etwas unveränderlich ist und nicht älter wird, dann kann dieses keine empirische Sache sein. Was in der Welt ist, wird auch mit der Welt älter.« Empiri-
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wirklich zu halten, was unveränderlich und durch sich selbst, d.h. an sich Bestand hat, verbleibt letzten Endes eine Variante von Platonismus, die auch in Gestalt eines neuzeitliches Materialismus sich das »statische Kosmos-Eidos der Antike [zu eigen macht], ein Telos der mechanistischen Selbstproduktion der Materie, jenseits dessen es nur Verfall gibt.«11 Wer hinter den (vermeintlich) ephemeren Erscheinungen einer sich stetig wandelnden und ereignenden Realität ein unveränderliches Wesen annimmt oder ewige, unzerstörbare Elementarteilchen, der bedient sich einer Naturvorstellung, die »den Fluss der Veränderungen der Natur als nicht wirklich real [ansieht]; was hier kommt und geht, ist nicht das Wesentliche in der Natur. In diesem Fall wird den natürlichen Vorkommnissen ebenfalls so etwas wie eine innere Transzendenz verliehen, die durch keinen der Prozesse, die wir als natürliche Veränderungen erfahren, angetastet werden kann, sondern diesen zugrunde liegt.«12 Dinge unterliegen jedoch kausalen Einwirkungen durch ihre Umwelt und damit einer zeitlich wirksamen Veränderung ihrer jeweiligen Zusammensetzung, ihrer Konstitution, der sie ohne aktive Gegenmaßnahmen jeweils in einen anderen Zustand überführt, wie es in dem Zitat nachzulesen war in Bezug auf unseren »steifer werdenden Brustkorb« oder unsere »weniger flexiblen Knorpel«. Aus dem einfachen Grund, dass diese einem lokalisierten Vorkommen unterliegen, einer realen sche Dinge unterliegen einer gewissen »Abnutzung« und bekanntlich erneuern sich alleine die Zellen des Magens eines Menschen fast alle fünf Tage, die Leber alle zwei Monate und innerhalb eines Jahres tauscht unser Organismus ca. 98 Prozent seiner gesamten »Biomasse« aus. Vgl. Thompson, Evan: Mind in Life, Cambridge 2007, S. 150f. 11 Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 2013, S. 84. Vgl. auch Blumenbergs Kommentar zu Aristoteles Begriff der τέχνη. Ebd., S. 82: »Was die Welt im Ganzen ist und sein kann, als Kosmos, das ist schon immer und ein für allemal determiniert; also ist auch das Vollenden des Unvollendeten nur Mimesis, und die menschliche ›Technik‹ springt für die Natur nur ein. Wie tief und fraglos die Vorstellung des invariablen Wesensbestandes einer ›Welt‹ in unserer metaphysischen Tradition verwurzelt ist, erkennt man leicht daran, dass selbst in der mechanistisch‐atomistischen Kosmogonie Demokrtis und Epikurs aus Chaos und Zufallswirbel immer nur wieder ein und dasselbe Weltenmuster hervorgeht.« Vgl. für eine ausführlichere Darstellung der Thematik einer »offenen«, unvollendeten und pluralen Wirklichkeit, die ihr telos weder von imitatio noch perfectio empfängt und für einen ontologisch differenzierten Begriff des genuin schöpferisch Möglichen, ebenfalls den ideengeschichtlichen Abriss von Hans Blumenberg: ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 2009, S. 55 – 103. 12 Hampe, M.: Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, a.a.O., S. 33. Eine Vorstellung, die u.a. durch die Relativitätstheorie, die eine Äquivalenz von Masse und Energie annimmt, die Quantenmechanik als auch durch die Unschärferelation schon lange auch von Seiten der Physik her als überholt gilt. Selbst auf elementarster Ebene finden wir ja keine statischen »Dinge« und eine völlig passive Materie, sondern vielmehr »Bindungskräfte«, »energetischen Austausch« und ständige Transformation, d.h. mehr einen »vernetzten Prozess« als eine starre »Bausubstanz«.
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und kontingenten Platzierung, die sie jeweils unterschiedlichen Einflüssen aussetzt oder ihnen ihrerseits eine gewisse kausale Einflussnahme erlaubt und dies ist es, was uns unsere Wahrnehmung erschließt und für unsere Orientierung erschließen soll. Für den Wahrnehmungsgehalt bedeutet das: wir hören nicht simpliciter ein unspezifisches Geräusch, ein bloßes, unverortetes, singuläres »Quale« und auch kein etwas spezifischeres, rein semantisch identifizierbares »Kratzen«, »Klopfen« oder »Scheppern«, sondern ein Kratzen auf den Kacheln in der Küche, ein Klopfen im und gegen das Heizungsrohr im Keller und ein Scheppern von mehreren Tellern gegeneinander, das wir als solches nicht schlussfolgern. Denn wie könnten wir dies, wenn uns diese sinnliche Erfahrungsqualität nicht schon längst »aufgegangen« wäre, wir es nicht bereits als solches hören würden? Auf was wir (kognitiv) schließen können, ist die mögliche sprachliche Eingruppierung, wenn wir uns alarmiert fragen was das ist? und dabei (vorstellend) Möglichkeiten durchspielen, die andere Aspekte des Wahrgenommenen aufscheinen lassen, um seine Eigenschaften weiter zu spezifizieren, seinen Ort und seine Beschaffenheit weiter einzugrenzen, obwohl wir bereits ahnen, »dass sich das nicht gut angehört« hat. Oder wir ahnen und wissen bereits genau, was das ist: nämlich unsere Freundin, die im Nebenzimmer lautstark und unter Zeitdruck stehend ihrer morgendlichen Routine nachkommt. Sind wir mit dieser bereits vertraut, so hören wir auch hier keine bloßen »Eindrücke«, sondern ein ganzes, akustisches Szenario, das seine Qualität ebenso unserer Vorstellungskraft verdankt wie dem auditiven »Input« unserer dafür designierten »Sinnesorgane«. Dieses von unserer Vorstellung eingefasste Geschehen erlaubt es uns, einen bis dato in der Hauptsache vielleicht bloß (bewusst) gesehenen Handlungsablauf nunmehr auch auf das rein akustische Szenario abzubilden, das sich uns einen Raum weiter (mit dem Kissen über dem Kopf und noch immer im Bett liegend) ungewollt darbietet: da ist das von unserer Vorstellung aufgefangene und gerahmte Scheppern des Löffels, wie er den Morgenkaffee umrührt, das Öffnen des Schrankes, um an die Frühstücksflocken zu kommen, das abermalige (etwas aufgebrachtere) Öffnen eines anderen Schrankes, weil sich die Frühstücksflocken noch immer nicht über der Spüle befinden, die Schlüssel, wie sie klirrend vom Tisch aufgehoben werden und schließlich die Tür, wie sie lautstark ins Schloss fällt. Bei all dem sind wir auch hier keine distanzierten Zuhörer, passive Rezipienten von akustischen Sinneseindrücken, sondern durch die Vorstellung, die wir uns von diesem Vorgang einen Raum weiter machen, sind wir ganz wesentlich »mit dabei«, weil sich dieses Ereignis in aktiv imaginierter und erfahrener Kontinuität zu unserer eigenen Erlebniswelt und unserem eigenen Lebensraum abspielt. Durch das vorgestellte Rahmenszenario und die virtualisierte Verräumlichung und Verortung sind wir hierbei aber keiner möglichen Zukunft zugewandt, sondern einer potenziellen Gegenwart, die wir vorstellend mit- und nachvollziehen. Und auch in diesem Fall ist es unsere Vorstellungskraft, die es uns erlaubt, einem gewissen Sinnes-»Eindruck« sozusagen bereichsübergreifend einen
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individuierten Gehalt zuzuweisen, indem sie uns einzuschätzen lässt, ob es sich bei den gehörten Geräuschen um das In-Erscheinung-Treten einer zugehörigen Tatsache in dieser Situation handelt, weil sie sich dem entworfenen (Rahmen-)Szenario einfügen lässt, in dem wir uns gegenwärtig imaginativ bewegen, das wir vorstellend durch- und mit‐spielen: Warum greift sie jetzt in den Schrank? Hatte hatte sie noch keinen Kaffee? Nein, das kann nicht sein, sie sucht bestimmt den Zucker… genau, das ist das Klirren der Zuckerdose, wenn sie mit dem Teelöffel in Berührung kommt… Daher ist es eben noch zu tief gegriffen (phänomenologisch betrachtet) zu behaupten, wir hörten »Dinge« statt Geräusche – der Gehalt unserer Wahrnehmung umfasste Gegenstände und keine vereinzelten Eindrücke. »Zunächst hören wie nie und nimmer Geräusche und Lautkomplexe, sondern den knarrenden Wagen, das Motorrad. Man hört die Kolonne auf dem Marsch, den Nordwind, den klopfenden Specht, das knisternde Feuer«13 , wie Heidegger in Sein und Zeit prominent sagt. Denn gerade das Hören gibt ja einen guten Beleg dafür ab, dass eine solche Beschreibung ungewollt dem Übertragungsmodell von intrinsischen Eigenschaften verpflichtet bleibt, die sich unserem Bewusstsein von Gegenständen ausgehend vermeintlich integrieren – und freilich könnte Heidegger nichts ferner liegen. Denn was sollte es schon heißen und wie sollte es alleine schon physiologisch von statten gehen, dass wir ein (statisches) Glas hören? Oder einen (statischen) Tisch? Das wäre eine ziemlich abstruse Beschreibung, wie jedermann leicht zugeben wird und trotzdem wird sie nicht minder bemüht, um uns regelmäßig über das Phänomen des Sehens philosophisch zu unterrichten.14 Klarerweise hören wir nicht »das Ding«, sondern die Interaktion von zumindest zwei Dingen miteinander, die Einwirkung von diesen aufeinander.15 Es ist nicht 13 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, a.a.O., §34, S. 163. 14 Denn auch das Sehen bleibt ja bekanntlich (aus kausaler Sicht) auf Interaktion, auf einen »medialen Vorgang« angewiesen: in der dunklen Kammer, in die kein einziger Lichtstrahl fällt, gibt es für uns nichts zu sehen, mögen da noch so viele Dinge mit ihren »sichtbaren« Eigenschaften auf ihr Wahrgenommenwerden auf uns gewartet haben. Ihr mögliches In-Erscheinung-Treten bleibt ein Wahrgenommenwerden über/via das reflektierte Licht, das sich an ihren Oberflächen bricht. Erst in dieser Wechselwirkung mit dem physiologischen Verhalten eines deratigen »Mediums« konstituieren sich sinnlich‐wahrnehmbare Qualitäten für ein Lebewesen, dessen Sinne auf diese Interaktion »geeicht« sind. Das zum Einsatz kommende »Medium« (die Luft oder das Licht) reagiert durch seine Veränderung auf Veränderungen des »in« ihm »inbegriffenen« Gegenstandes und begründet erst hierüber die Möglichkeit zu dem ersehnten, »direkten Kontakt« über mögliche Entfernungen hinweg. Und während beim Sehen die Interaktion mit dem Medium am Anfang steht, so ist es beim Hören die Interkaion der Dinge aufeinander, deren Vibration sich auf die angrenzende Luft auswirkt und diese in »Schwingung« versetzt, wie schon Aristoteles festhält. Vgl. Aristoteles, De Anima, 420b, 10. 15 Vgl. für eine gegenteilige Einschätzung (trotz gewisser Parallelen in bezug auf die Lokalisierungsleistung von Geräuschen) und der Ansicht, »we should continue to treat sound as the ob-
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das Glas simpliciter, das wir hören, sondern das Glas, wie es auf eine Marmorplatte oder einen Holztisch gestellt wird, wie es im Küchenschrank verstaut wird oder auf dem Parkettboden zerspringt und bei dem wir jeweils sinnlich etwas erfahren über den Zustand des Glases als auch über den Zustand des Gegenstandes, mit dem es interagiert. Sodass am Ende überhaupt nicht klar entschieden werden kann, ob es nun die Tischplatte ist, die wir zu hören bekommen und auf die ein Glas gestellt wird oder das Holz des Küchenschranks, das mit dem Glas in Berührung kommt etc. Der sinnliche Eindruck umfasst hier mehrere Seiten, er gilt der Wechselwirkung von mehreren Dingen und erst eine interessengeleitete, sprachliche Eingruppierung dieses Vorgangs wird für eine von beiden Seiten Partei ergreifen und ihr alleine schon grammatikalisch den Vorzug geben müssen, über die sprachlich etwas (mit dieser Bestimmtheit) festgehalten werden soll. Das bedeutet aber, dass jede Entscheidung, welcher der originäre Höreindruck, das genuine, unverfälschte »Glasgeräusch«, die (alleine) dem Glas zuzuschreibende »intrinsische« akustische Eigenschaft sein soll, arbiträr ausfallen muss. Was sollten hier schon die Standardbedingungen sein, die in der Philosophie so bereitwillig für das Sehen von Dingen und deren Eigenschaften reklamiert werden? Das Antippen des Glases mit dem Fingernagel, das Geräusch, das es beim Abstellen auf dem Tisch von sich gibt oder bei der Berührung mit einem anderen Glas? Es gibt nicht den Höreindruck von etwas, genau so wenig wie es die Ansicht einer Sache gibt. Wir sehen Dinge auf, unter, neben, bei, hinter, über, in diesem Licht, von dort, hier, zusammen mit, so…16 Wahrnehmung gilt dem Vorgang der Realität, ihrem Sich-Ereignen, was aber nichts anderes heißt, als dass sie diese Realität ist. Wahrnehmung richtet sich nicht auf Objekte, sondern auf Situationen oder vielmehr: sie ist unsere lebensweltliche Situation; diejenige Realität, die wir leben und erleben (müssen) und die uns zur Reaktion zwingt. Sie »gibt« uns die Realität, in der wir uns handelnd und denkend bewegen, doch nicht als Abspiegelung oder Kopie, sondern selbst als Interaktion, als »ausagierte« Realität. Und was sie uns entsprechend durch ihre Interaktion zugänglich macht, ist eine Variationsbreite an möglichen Wechselwirkungen17 eines ject of hearing, and we should think of sounds as existing within the object that ›makes‹ them.« Pasnau, R.: What is Sound?, The Philosophical Quarterly, Bd. 49, Nr. 196 (1999), S. 309 – 324, insb. S. 316. 16 Entsprechend gilt im Umkehrschluss von der ästhetischen Darstellung von etwas, dass »kein Ding in der Welt [vorschreibt], in welcher Form es angemessen darzustellen sei.« Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, a.a.O., S. 43. 17 Gilt nicht auch gleiches von der Hand, die über ein Gewebe fahren muss, um seine Glätte oder Rauheit zu empfinden, die zudrücken muss, um die Weichheit oder Härte eines Stoffes in Erfahrung zu bringen? Gilt es letzten Endes nicht auch von unserem Sehen, das mitverfolgt, wie ein Objekt sich von seinem Hintergrund abhebt, um dadurch erfahren zu können, in welche Richtung es sich bewegt oder ausbreitet, von wo aus der Wind weht und wohin das Wasser abfließt?
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Gegenstandes mit seiner Umgebung. Denn es ist das Verdienst unserer Sprache, uns auf vereinzelte Dinge hin zu koordinieren, den Schnittpunkt zu etablieren, an dem sich unsere Perspektiven kreuzen, aus einer Wahrnehmungsumgebung einzelne Dinge »herauszulösen«, für unser Denken und Sprechen (situationsübergreifend) ansprechbar sein zu lassen oder wie es im Englischen heißt: to single out. Doch Wahrnehmung selbst ist Zusammenschau, sie gilt einer lebensweltlichen Übersicht. Wir sehen Dinge von hier, dort drüben, aus dieser Entfernung, in diesem oder jenem Licht; hinter, über, neben und vor allem im Verbund mit anderem. Das vereinzelt gesehene, gut ausgeleuchtete Freistehen von »Objekten« ist bereits deren ästhetische Inszenierung und nicht der Normalfall ihres lebensweltlichen Vorkommens oder der Gegenstand unserer praktischen Interessen. »Wir nehmen ja niemals isolierte Objekte wahr, sondern wir nehmen Objekte stets im Kontext von andern Objekten wahr. Dieser Kontext bildet den gegenständlichen Hintergrund der Wahrnehmung. Sichtbare Objekte befinden sich beispielsweise neben, vor, hinter oder über anderen Objekten; sie liegen günstig oder ungünstig, erreichbar oder unerreichbar.«18 Der Variationsbreite möglicher sinnlicher Eindrücke, die von einem Gegenstand gewonnen werden können und die wir als »seine« (sinnlichen) Eigenschaften auffassen, entspricht die Variationsbreite seiner möglichen Interaktionen mit etwas Drittem und nicht dem Spektrum seiner vermeintlich intrinsischen Eigenschaften, die »an« und durch es selbst erfahren werden könnten. Denn selbst das »visual potential« eines Gegenstandes erschöpft sich nicht in den möglichen Ansichten »seiner« Seiten, sondern in seinem visuellen Zur-Geltung-Kommen, das erst durch seine Platzierung in allen möglichen Umgebungen ausgereizt wäre und daher eine bloße Limesgröße darstellt.19 Daher bemerkt auch Alva Noë (für den das »visual potential« allerdings alleine ein »sensorimotoric profile«20 bleibt) für selbst so basale Eindrücke wie ein »pures« Rot, dass »there is no single way that a thing looks when it looks even a determinate shade of red […]. That an object has a given color (say, a specific shade of red) is a fact about the way that object affects its environment […]. An object with a determinate color acts on, or responds to, its environment in a special way. For instance, it grows darker in a characteristic way in shadow, and it becomes brownish in green light […]. To be a particular red is to bring about these sorts of apparent changes in how things look. To perceive something as red is to perceive it as thus acting on and capable of acting on ist environment. In this way, the enactive view is an 18 Fingerhut, Joeg et al., in: ders., Philosophie der Verkörperung, a.a.O., S. 27. 19 Eine Behauptung, deren deutlichster »Beweis« gerade von den (visuellen) Künsten immer wieder aufs Neue angetreten wird. 20 Vgl. Noë, Alva: Action in Perception, a.a.O., S. 78.
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account of what it is to be red in terms of the phenomenally salient ways in which the object interacts with its environment.«21 Aber es sind nicht einfach »seine«, immer gleich bleibenden und damit unabhängig anwesenden Eigenschaften, die jetzt bloß anders wirkten. Wenn wir keine »snapshot theory«22 der Wahrnehmung vertreten wollen, die glaubt, wahrnehmen hieße, alle möglichen, »vorhandenen« Details einer Szene wie bei einer Fotografie aufzunehmen und abzufotografieren (»to take a picture«, wie es im Englischen heißt), sondern davon ausgehen, dass Wahrnehmungseigenschaften sich je nach Situation unterschiedlich ausdifferenzieren und dadurch als wahrgenommene Eigenschaften (für ein wahrnehmendes Wesen) überhaupt da sind, dann bedeutet dies, dass die sinnliche Platzierung eines Objekts in einer ausgewechselten Umwelt konstitutiv auf die (sinnliche) Binnendifferenzierung und die Qualitäten dieses Objekts selbst zurückwirkt. Oder am obigen Beispiel der wiedererkannten Person: nachdem wir sie endlich als den »Buchhändler auf der unteren Bergerstraße« wiedererkennt haben, stellen wir erstaunt fest, dass sie hier, an diesem Ort (im Café und in Freizeitkleidung) so aussieht.23 Dementsprechend besteht »die Alternative zur Denkweise von Kant […] darin, dass man nicht von einer Vielheit ausgeht, die einfach da ist, sondern beschreibt, wie eine Vielfalt in einem Prozess der Differenzierung entsteht […], in einem Prozess des Sich-Ordnens, des Sich‐anordnens des leiblichen Geschehens entsteht.«24 21 Noë, Alva: Action in Perception, a.a.O., S. 144. 22 Vgl. hierzu Noë, Alva: Action in Perception, a.a.O., S. 35ff. Noës sensomotorischer Ansatz geht allerdings ebenfalls im Falle von Farben von »vorhandenen« Eigenschaften aus, denen wir uns unterschiedlich »zuwenden« und die wir unterschiedlich »in den Blick rücken« können. Was durch seine Rede von »access« zu Wahrnehmungseindrücken noch einmal betont wird. Denn »Zugang« zu etwas können wir nur haben, wenn dieses »etwas« (auch ohne unser Zutun) bereits »vorhanden« war bzw. ist. Vgl. Action in Perception, a.a.O., S. 144 und ebenfalls Noë, Alva: Conscious Reference, in: The Philosophical Quarterly Bd. 59, Nr. 236 (2009), S. 470 – 482. 23 Dass Wahrnehmung immer »Zusammenschau« ist und Diskretion immer eine »Auslösung« von einzelnen Elementen aus einem sinnlichen Zusammenhang wird ja vollends deutlich im umgekehrten Fall der ästhetischen Wahrnehmung von etwas. Hier wenden wir uns ja gezielt dem Erscheinen eines sinnlichen Zusammenhangs zu und achten vor allem darauf, wie die Gesamtschau von den einzelnen Versatzstücken so zusagen »buttom up« beeinflusst wird, weswegen diese auch zugunsten des Gesamteindrucks zurücktreten, während in der nichtästhetischen Wahrnehmung eine Orientierung »top down« in Richtung der Erscheinung des einzelnen Elements hin dominiert. Etwas erscheint als geeignet als etwas. In der ästhetischen Wahrnehmung hingegen ist es nicht der aus der Zusammenschau herausgelöste Gegenstand der das Interesse auf sich zieht, sondern die Zusammenschau selbst. Man braucht dazu nicht unbedingt an die »Nutzbarmachung« dieses Phänomens in der Kunst zu denken, sondern recht banal alleine daran, wie Haarschnitte oder auch nur einzelne Haarpartien das Aussehen und damit das Erscheinen eines ganzen Gesichts vollkommen umkrempeln, ja auf unzählige Weise beeinflussen können. 24 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 90.
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Dass etwas für uns durch Wechselwirkungen zugänglich wird, impliziert hingegen nicht notwendig einen Relativismus in Bezug auf die wahrgenommenen Eigenschaften. Es verrät durch sein Wahrgenommenwerden in Aktion ja etwas ganz Wesentliches über seinen Zustand, indem es sich mit dem Zustand einer anderen Sache konfrontiert sieht; es so zusagen beweisen muss, »aus welchem Holz es geschnitzt ist«; wie es um es steht und wo es steht. Die Hummel, die unbeirrt gegen das Fensterglas unseres Wohnzimmers anfliegt, gibt uns alleine schon durch den Höreindruck, den sie durch den Zusammenprall mit dem Fenster erzeugt, etwas von den Einwirkungsmöglichkeiten beider Gegenstände aufeinander zu verstehen. Das dumpf aber zugleich »klein« und etwas »langsam« klingende Geräusch, das ihr Aufprall auf der Scheibe erzeugt und das Filigran-Harte der Scheibe muss vernehmbar nur punktuell Widerstand gegen diesen Aufprall leisten und erlaubt in dieser Zusammenstellung und Konfiguration bereits eine Vorahnung darauf, wie der Gegenstand beschaffen sein müsste, dem die Scheibe nichts mehr entgegenzusetzen hätte. Denn »die Möglichkeiten wohnen der Wahrnehmung inne«25 – in diesem Fall: hörbar inne. Und tatsächlich bestätigt uns unsere Erfahrung, dass die schiere Größe hier nicht entscheidend wäre, wenn Geschwindigkeit und Härte nur entsprechend groß ausfallen würden. Wenn der Gegenstand nur schnell und fest genug beschaffen wäre wie es bspw. bei einem geworfenen Stein der Fall wäre. »Die Sinne kommunizieren untereinander, in dem sie sich der Struktur eines Dinges eröffnen. Man sieht die Sprödigkeit und Zerbrechlichkeit des Glases, und bricht es mit einem kristallenen Klang, so ist der Träger auch dieses Tones das sichtbare Glas […]. Die Form eines Leinen- oder Baumwolltuchs macht uns die Geschmeidigkeit oder die Sprödigkeit der Faser, die Kühle oder Wärme des Stoffes sichtbar. In der Schwingung des Zweiges, von dem ein Vogel fortfliegt, sehen wir seine Biegsamkeit und Elastizität, und unmittelbar unterscheidet sich da ein Birkenzweig von dem eines Apfelbaumes. Wir sehen die ›Schwere des eisernen Gewichts, das sich in den Sand einbohrt‹, die Flüssigkeit des Wassers, die Zähflüssigkeit des Sirups. In gleicher Weise höre ich im Geräusch eines Wagens die Härte und Holprigkeit des Pflasters, und nicht umsonst spricht man von ›weichen‹, ›dumpfen‹ und ›trockenen‹ Tönen. Wenn man schon zweifeln kann, ob das Gehör uns wirklich ›Dinge‹ gibt, so ist zumindest gewiss, dass es über die bloßen Geräusche hinaus uns etwas gibt, das ›Geräusch macht‹, und auf diese Weise kommuniziert es mit den anderen Sinnen.«26 Und da unser Bewusstsein nicht deckungsgleich mit der Gesamtheit der Realität ist, nicht mit dem Realen »koextensiv« (wie es Strawson zumindest den Gehalten 25 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 204. 26 Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 269.
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unserer möglichen Erfahrungen zugesteht)27 , sondern uns sozusagen immer nur einen gewissen »Ausschnitt« eröffnet, in den unsere Existenz eingebracht ist und auf den sich unser Handeln erstrecken kann, ergibt es einen sehr guten Sinn, dass das lokalisierte Vorkommen und die räumliche Konfiguration auf die Ausdifferenzierung von Sinnesqualitäten Einfluss nehmen kann, sie aktiv das Wie und dessen Intensität »einregelt«. Denn nur so steht es unserer Wahrnehmung frei, möglichst viele Dinge in den von ihr eröffneten Gesamtzusammenhang mit aufzunehmen und sie simultan für uns erfahrbar sein zu lassen. Und was könnte für unsere Orientierung, die sich quasi proportional zum Umfang wahrnehmbarer Feststellungen steigern lässt, funktionaler und damit »sinnvoller« sein? Sinnvoller, als dass die Strümpfe, die wir an den Füßen tragen, sich nur noch über deren Wärme bemerkbar machen bzw. über die plötzliche Kälte, die wir empfinden (müssen), wenn wir vergessen haben, welche anzuziehen? Was könnte effizienter sein, als dass zugleich der Schlüssel sein Vorhandensein in unserer Hosentasche lediglich durch seine harten Kanten zu erkennen gibt, die sich uns in den Oberschenkel bohren, das Glas hinten auf dem Tisch durch sein kurzes Aufblitzen in der Sonne, der Kaffee durch seinen Geruch, das Laufen der Waschmaschine durch ihr gleichzeitig stumpf‐klopfendes Geräusch einen Raum weiter, der Boden unter unseren Füßen nur noch über die Stabilität, die er unserem Gang und unseren Wegen verleiht?28 Denn nur so können all diese Wahrnehmungseindrücke sich zu einer (endlichen) und gleichzeitig erfahrbaren Wahrnehmungs(um)welt zusammenschließen. Denn was sollte es auch andererseits bedeuten, dass wir etwas unsere »Aufmerksamkeit schenken« können, sie einer Sache bewusst widmen? Etwas seine Aufmerksamkeit »schenken« bedeutet ja gerade, sich jenen gleichzeitig wahrnehmbaren Eindrücken vermehrt oder weniger zuzuwenden und sich verstärkt 27 Strawson, Peter F.: Die Grenzen des Sinns, Königsstein 1981, S. 34. 28 Rückendeckung erhält die These vom Primat des räumlich‐relationalen Erkenntnisinteresses des Wahrnehmungsvollzuges gegenüber dem Bewusstwerden singulärer, sensorischer »Qualia« ebenfalls durch die Tatsache, dass dieses Verhältnis bspw. im Wahn oder im Rausch genau umgekehrt ausfallen kann. In der Literaturgeschichte beispielsweise durch die klassische Beschreibung Aldous Huxley festgehalten, der in »The Doors of Perception« die Erfahrungen seines Mescalin-Rausches beschreibt – freilich nicht, ohne dem Ganzen eine mystisch‐erbauliche Note zu verleihen. Vgl. ders., The Doors of Perception, London 2004, S. 9: »At ordinary times the eye concerns itself with such problems as Where? – How far? – How situated in relation to what? In the mescalin experience the implied questions to which the eye responds are of another order. Place and distance cease to be of much interest. The mind does its perceiving in terms of intensity of existence, profundity of significance, relationships within a pattern. I saw the books, but was not at all concernced with their position in space […]. Not, of course, that the category of space had been abolished. When I got up and walked about, I could do so quite normally, without misjudging the whereabouts of objects. Space was still there; but it had lost ist predominance.«
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auf ihren Wahrnehmungs-Ansatz oder -Beitrag (zum »Gesamtbild«) einzulassen; genauer hinzuhören, hinzusehen oder etwas bewusster zu ertasten oder zu erfühlen. Etwas seine Aufmerksamkeit zu schenken, bedeutet, zwischen verschiedenen Sinn(es)-Angeboten zu »navigieren«, sich gezielt Anhaltspunkten und Aspekten zuzuwenden, die alle schon zu Bewusstsein gekommen sind, aber sich weiter ausdifferenzieren lassen und damit an Intensität gewinnen oder, wenn wir unsere Aufmerksamkeit von ihnen abziehen, an Intensität einbüßen, weil wir versuchen, sie »auszublenden«, von ihnen »abzusehen«. Doch streng genommen bleibt die Rede von »Aspekten« auch hier fragwürdig. Denn wenn es keine privilegierte Ansicht von etwas gibt, gibt es auch keine Aspekte. Wenn uns eine Ideenschau verwehrt bleibt, die uns die einzig wahre Gestalt, das eidos von etwas offenbart, dann bleibt uns auch ein Maßstab verwehrt, der es uns gestattet, alle anderen Eindrücke als derivativ einzustufen. »When you nibble a piece of cheese, you thereby nibble it, not merely a part o fit. And so with seeing […] When you look at a tomato, what you see is not part of it (the facing surface), but it.«29 Wir können umfassendere Eindrücke von etwas gewinnen, indem wir mehr von etwas zu Gesicht (zu Gehör etc.) bekommen, doch erlangen wir dadurch nicht die richtigeren oder Eindrücke von etwas. Die immer wieder anzutreffenden Standardbedingungen in der Wahrnehmungsphilosophie und Epistemologie, unter denen uns die Dinge (vermeintlich) zugänglich werden, wenn sie uns angemessen erscheinen sollen, können für sich keinerlei Vorrecht reklamieren, ein Kriterium dafür zu etablieren, ab wann wir etwas »tatsächlich« wahrgenommen haben und ab wann nicht. Denn deren Setzung bleibt arbiträr und lebt von dem Wunsch, es seien einzig und allein die Eigenschaften des (vollständig determinierten) Gegenstandes, die uns erscheinen werden, wenn wir ihnen nur den nötigen, möglichst ungestörten und angemessenen Auftritt hierzu verschaffen. Dann werden sie uns ihr Rot, ihr Klopfen, ihren beißenden Geruch (wohl oder übel) schon noch verraten (müssen). Doch dies ist nichts anderes als die Vorstellung von »in« den Dingen inhärierenden Eigenschaften und die unausgesprochene Propagierung eines Essentialismus, der in der Wahrnehmungsphilosophie genauso wenig am Platze ist wie in der Semantik. Wir nehmen keine fixen Eigenschaften von etwas wahr, sondern (perspektivisch) sich realisierende Eigenschaften, die eingebettet bleiben in die Gesamtsituation, die wir leben und erleben müssen. Daher hat auch ein jedes 29 Noë, Alva: Action in Perception, a.a.O., S. 76. Noë denkt dies allerdings vor dem Hintergrund einer materiellen Ganzheit des Gegenstandes, an die diese Aspekte aufgrund ihrer vorgegebenen Einheit zurückgebunden bleiben, nicht im Sinne der hier veranschlagten Realisation der Dinge in Situation, was sich auch daran zeigt, dass er meint, dass »there is all the difference in the world between seeing a cat behind a fence and seeing a cat that isn’t partially obstructed by a fence.« (Ebd., S. 69.)
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Ding für uns eine Wahrnehmungsgeschichte; denn nichts anderes bedeutet es ja, dass wir Erfahrungen mit Dingen machen bzw. gemacht haben. Wir haben erlebt, welche Rolle etwas in einem von uns wahrgenommen oder eigens arrangierten (Kausal-)Zusammenhang gespielt hat, bei denen es andere seiner Eigenschaften an den Tag gelegt hat, was nichts anderes bedeutet, als dass es anders für unsere Wahrnehmung zur Geltung gelangt ist und sich damit verwirklicht hat: mal als Druck gegen unsere Hand, mal als Klirren, als es auf den Boden gefallen ist; mal als Stütze für ein »nicht allzu schweres Buch«, mal als blinkendes Rot von dort hinten zwischen den anderen Gläsern usw. Oder anders (und auf die Spitze getrieben): es kann ja sein, dass es jemanden gegeben hat oder geben mag, der (seine) Strümpfe niemals von Nahem gesehen hat, sie sein Leben lang (unbewusst und völlig automatisiert) nur über seine Füße streift, sie morgens nur mit der linken Hand aus der Schublade holt und sie abends genauso dort wieder verstaut. Und trotz allem hat er eine vierzigjährige Erfahrung mit einer bestimmten Art Strümpfe zu verzeichnen: in Sportschuhen, Stiefeln, beim Schlafen im Bett, (als deutscher Tourist im Ausland) in Sandalen, beim Tragen von kurzen und langen Hosen, im Sommer und im Winter, mit nassen und trockenen Füßen, mit einem zweiten Paar Socken darüber, mit einem Loch darin, zwei Löchern darin etc. Wollen wir von diesem Jemand ernsthaft behaupten, er hätte all diese Zeit über seine Socken nicht wirklich wahrgenommen? Nur weil er sie sich nie ausgezogen und vors Gesicht gehalten hat, um sie in aller Ruhe unter Standardbedingungen anzusehen? Vor allem, weil dies bestimmt nicht die Standardbedingungen wären, unter denen wir Socken normalerweise wahrnehmen. Oder, wem dieses Beispiel zu unwürdig für eine philosophische Reflexion erscheint, der nehme einen Gegenstand von unbestritten höherer Dignität, bspw. denjenigen der Sonne: wir alle haben ein ganzes Leben an Erfahrungen mit diesem »Gegenstand« vorzuweisen; haben sie unzählige Male als Sonnenauf- und Sonnenuntergang wahrgenommen, als gleißendes Licht, das auf unseren Urlaubsstrand gefallen ist und unsere Haut erwärmt hat, als wir in ihren Strahlen gebadet oder uns durch dieselben verbrannt haben; haben sie als gestreutes Licht wahrgenommen, wie es bei einem bewölkten Tag durch die dichte Wolkendecke bricht; als Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintersonne, die bloß noch als grelle Öffnung den stahlgrauen Winterhimmel zerschnitten hat und den weißen Schnee vor unseren Füßen zum Leuchten brachte; als orange‐gelber Streifen, der am Horizont verschwunden oder sich kurz davor als glühend orangene Scheibe in Erscheinung getreten ist; als pure Umgebungswärme, deren Ausbleiben das Überstreifen einer Jacke erfordert hat, als Licht, das an einem Sonntagmorgen uns die Vorhänge zuziehen ließ, um unseren Schlaf ungestört um eine weitere Stunde verlängern zu können. Hat nun nur der Wissenschaftler durch sein Teleskop sie in hundertfacher Vergrößerung »tatsächlich« gesehen? Und das, obwohl dieser Anblick nur ihm und wenigen seiner Kollegen vorbehalten ist, während der Rest der Erdbevölkerung ei-
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ne »unvollständige« Wahrnehmung von diesem Gegenstand hinnehmen muss, nur »Aspekte« von ihm mitbekommen hat? Wie verhält es sich analog mit der Erfahrung, die wir mit einer Stadt machen oder einer Person? Wann habe ich Jonas oder Paris »wirklich« gesehen? Warum die Privilegierung einer Ansicht, die Privilegierung eines unserer Sinne, warum die Privilegierung einer bestimmten Position und Perspektive, warum die Rede von Standardbedingungen, wenn der Arbeitsteilung der Sprache (trivialerweise) eine Erfahrungsteilung auf Seiten der Wahrnehmenden und der Wahrnehmung selbst entspricht? Wenn ich versuche, möglichst leise während der Filmvorführung die Packung laut raschelnder Nüsse zu ertasten, die ganz unten in meinem Rucksack unter einer Menge anderer Dinge begraben liegen und meine Hand immer weiter abtaucht, werde ich höchstwahrscheinlich auf eine Wahrnehmung treffen, die ich so und in dieser Ausprägung noch nicht kenne. Doch sollten wir annehmen, wir hätten nicht die Erdnüsse, sondern bloß einen davon abgeleiteten Eindruck gewonnen, nur weil wir »sie« durch die Verpackung hindurch erfühlt haben? Was wäre der originäre, haptische Eindruck, der uns berechtigen würde, zu behaupten, auch wirklich die Erdnüsse erfühlt zu haben? Hätten wir sie nur erfühlen können, wenn wir sie herausgeholt und in die Hand genommen hätten? Und wenn nun unsere Hand in einem Handschuh gesteckt hätte, eingeschlafen gewesen wäre oder die Nüsse nur in Berührung mit unserem Unterarm gekommen wären?30 Wenn Erkenntnis in funktionaler Orientierung für uns besteht, dann brauchen wir keine Standardbedingungen und unsere begrifflich informierte Vorstellungskraft erlaubt es uns auch in diesem Fall die entsprechende Tatsache und den gesuchten Gegenstand miteinander zu vermitteln. Weder das Wollig-Weiche des vorher abgestreiften Pullovers noch das Hart-Kalt-Glatte der Getränkeflasche, noch das 30 Die »perceptual evidence«, die wir als Bestätigung für eine gewisse Annahme oder Überzeugung (für uns) gelten lassen können, gewinnt ihre Überzeugungskraft immer auch durch den Ausschluss von Alternativen und das überlegende Einbeziehen von genau jenen »gegebenen Umständen«, unter denen ein Ereignis in Erscheinung tritt. Natürlich werde ich mich am leichtesten davon überzeugen können, dass es regnet, indem ich einen Blick aus dem Fenster werfe und schaue, ob Wassertropfen senkrecht am Fenster vorbei Richtung Boden fallen. Denn hier scheinen nicht viele Situationen denkbar, in denen dieses Ereignis anders interpretierbar wäre. Doch nichtsdestotrotz bleiben diese Kontexte möglich. So kann es ja sein, dass ich schon einmal gedacht und mich darüber getäuscht habe, dass es regnet, weil mein Nachbar einen Stock über mir seinen löchrigen Blumenkübel gegossen hat. Etwas, das ich in anderen Kontexten und ohne Annahme eines solchen Nachbarn entsprechend ausschließen werde. Anderseits kann ich auch an einem trockenen Ort wartend genauso gut als »perceptual evidence«, »dass es regnet«, die »Tatsache« gelten lassen, dass seit geraumer Weile alle Leute, die von draußen kommen, nasse Haare haben. Zumindest unter dem Ausschluss der (berechtigten) Annahme, dass dies seit einer viertel Stunde dem neuesten Modetrend entspricht oder einer sonstigen, ebenso abwegigen, d.h. in der kausalen Kette der Folgerscheinungen so zusagen ebenfalls zu »verzweigten« Hypothese über den »Gang der Dinge« vor der Tür.
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Glatt-Rauh-Geriffelte des Suhrkamp-Buchrückens lässt diese gelten, bis wir »sie« doch noch zu fassen bekommen: Ja, das müssen sie sein. So fühlen sich Erdnüsse in einer Verpackung an – unter den gegebenen Umständen. Und als empirisch verwirklichte begegnen uns die Dinge immer unter »gegebenen Umständen«. Zu schnell ist beim Nachdenken über Erkenntnis vergessen, dass Begriffe nicht nur differenzieren, sondern auch synthetisieren. Doch synthetisieren sie kein sinnliches Chaos einer unzusammenhängenden Mannigfaltigkeit von Empfindungsatomen, sondern sie fassen für uns die Erfahrung zusammen, die wir mit etwas in den unterschiedlichsten Situationen sammeln konnten, sodass sich uns ein immer weiter angereichertes Bild von dem Verhalten von etwas ergibt und überhaupt ergeben kann. Doch ein Verhalten impliziert die Wechselwirkung mit etwas Drittem. Wie der Empirismus richtig betont, machen wir uns keinen Begriff von etwas, indem wir in unserer Studierstube ohne korrespondierende Anschauung zur Wesenserkenntnis von etwas vorstoßen, sondern indem wir (empirische) Erfahrungen im Umgang mit etwas sammeln und dann wiederum verstehen, wo die Differenzen zum Verhalten zu anderen Dingen liegen (könnten). »A man must be very sagacious, who could discover by reasoning, that crystal is the effect of heat, and ice of cold, without being previously acquainted with the operation of these qualities.«31 Begriffe verstanden als Konzepte oder eben Be-Griffe sind darauf angelegt, etwas (für uns) »im Griff« zu behalten, eine in Zeit und Raum ablaufende Erfahrungsgeschichte mit etwas für unser Erkennen zusammenzuhalten und es unter diesem (oder einem anderen) vereinigenden Gesichtspunkt aufund zusammenzu-»fassen«. Der Begriff, den wir uns von etwas machen, ermöglicht die Erfassung möglichst vieler Reaktionen, Wirkungen, Bewirkungen oder Auswirkungen oder in einem Wort Realisationen (denn mit Realität haben wir es im Falle von empirischen Wissen ja zu tun) von etwas, das bei seinem Einsatz in einer Situationen auf etwas von ihm Verschiedenes trifft und dabei einen bestimmten »Satz«32 an Möglichkeiten ausspielt. Unterschiedlichen Perspektiven, die sich intersubjektiv in einem sprachlichen Konzept vermitteln lassen, entsprechen nicht unterschiedliche Ansichten von etwas oder subjektive Empfindungen, sondern unterschiedliche (Aus-)Wirkungen. Es gibt nicht die Ansicht von etwas, weil die »kompletten« Eigenschaften von etwas nicht »in« oder »an« einem Ding vorliegen, sodass sich uns (früher oder später) das »ganze Bild« von etwas ergeben würde, das mit dessen lückenlosen Aussehen identifiziert werden könnte, wenn wir es denn 31 Hume, David: An Enquiry concerning Human Understanding, a.a.O., S. 20. 32 Die Konnotation zwischen dem hier gemeinten »Satz« als differenzierbarer Menge und dem Aussage-»Satz« unserer Sprache ist durchaus verräterisch. Vielleicht ließe sich daher (erneut) die Vermutung bestärken, dass dem Aussage-Satz der Sprache gar nicht die oft beschworene Korrespondenz zu genau einer Tatsache »in der Welt« entspricht, sondern vielmehr die mögliche Menge an empirischen Konstellationen, in denen er vorkommen kann und, wie wir es genannt haben, als Situationsvariable zum Aufbau unserer (Situations-)Vorstellung beiträgt.
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nur lange genug unter Standardbedingungen um die eigene Achse rotieren lassen. »Die« (sprachlich erfassbaren) Eigenschaften eines Dinges entsprechen nicht demjenigen, was wir »an« einem Ding summierend feststellen können, während »es« an einem Ort und in einer Situation verbleibt.33 Alle möglichen »Seiten« von etwas ergäben sich vielmehr für uns durch die möglichen empirischen Konstellationen, in denen es vorkommen und eine und nicht die, d.h. »seine« Wirkung erzielt. So wie wir (erstaunt) über eine uns vertraute Person sagen, dass wir diese Seite noch gar nicht von ihr kannten, wenn sie uns gegenüber ein unbekanntes Verhalten an den Tag legt, als die Situation dies hergegeben oder erfordert hatte, sodass die Person über das uns bekannte Maß (d.h. das begrifflich bereits erfasste Ausmaß ihres möglichen In-Erscheinung-Tretens) und damit nicht selten über sich selbst »hinausgewachsen« ist oder ungewöhnlich früh »klein beigegeben hat«, obwohl wir wissen, dass Frau Maier noch Potenzial zu mehr besessen hätte – »die kann auch anders!« Die Standardbedingungen der Wahrnehmung sind Standardbedingungen der lebensweltlichen Positionierung, einer standardisierten Ausgangsposition in einem gewissen und meist von uns selbst arrangierten Wirkungszusammenhang, der eine begrifflich gespiegelte Normierung des In-Erscheinung-Tretens von etwas gestattet und nicht der Rahmen für den ungestörten Auftritt der einzig wahren Eigenschaften der Dinge. So fahren Busse für gewöhnlich auf Hauptstraßen 33 Daher bleibt auch Wilfried Sellars in analytischen Kreisen bekanntes »Krawatten«-Beispiel eine essentialtische Engführung und »Standardbedinungen« sind nicht einfach (zirkelfrei) zu definieren als »conditions in which things look what they are«. Vgl. Sellars, Wilfrid: Empiricism and the Philosophy of Mind, a.a.O., § 14ff. Die Wissenschaften versuchen dieses Problem zu umgehen, indem sie einen messbaren und mit ihrer Methodik bestimmbaren Eigenschaftskomplex herausheben, den sie auf eine zugrundegelegte Taxonomie beziehen, mit deren Hilfe sie den elektrischen Widerstand oder die elektrische Leitfähigkeit von etwas skalieren, dessen Masse oder Gewicht in Kilogramm festhalten, seine Länge, Frequenz, Drehzahl, Wellenlänge, Ladung, Spannung, Elastizität seine Wärmeleitfähigkeit usw. messen, indem sie es auf einen künstlichen Maßstab beziehen. Doch der Punkt ist hier nicht, dass jede gemessene Größe immer auch das Anlegen eines Alternativmaßstabes zulässt und damit eine relative Größe bleibt und wir keine Antwort auf die Frage haben, was die »inhärente« Größe des Urmeters in Paris selbst sein soll, sondern die Frage zielt nach wie vor auf das sinnliche Potenzial von Dingen. Physikalische Größen sind abstrakte Eigenschaften mit denen wir die Dinge im Vorfeld vergleichbar gestalten, um abschätzen zu können, welchem bei seinem Einsatz in einem gewissen Kausalzusammenhang der Vorzug gegeben werden sollte, alleine aufgrund dieser Größe. Wenn wir ein bestimmtes Gewicht für etwas benötigen, bspw. um eine Tür aufhalten zu können, ist es relativ irrelevant, aus welchem Material dieser »Türstopper« gefertigt ist, noch welche Form und Farbe etc. er aufweist. Der Physik ist nicht an der Vorhersage sinnlich wahrnehmbarer Wirkungen gelegen, sondern an der Bestimmung physikalischer Folgewirkungen, von denen wir als solcher u.U. vielleicht gar nicht viel »mitbekommen«, weil das entsprechende Gewicht schon verbaut ist, schon zum Einsatz in einer bestimmten Konstruktion kommt. Doch die Frage in unserem Zusammenhang ist genau diejenige, wie dieser Einsatz sich in einer konkreten Situation sinnlich zu Wort meldet und zur Geltung gelangt.
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und gewisse Hauptverkehrsrouten ab, Kochtöpfe stehen auf Herdplatten oder im Küchenschrank, Balletttänzer sind als solche (erkenntlich) in der Regel nicht in U-Bahnen anzutreffen usw. D.h., all diese Dinge sind durch ihre standardisierte Positionierung dazu angehalten, ein kontextgebundenes Wirkungsspektrum zu entfalten und dadurch von uns anhand dieses Spektrums wahrgenommen zu werden. Und doch können wir uns ohne Probleme Situationen vorstellen (gerade in der Kunst), in denen dieser (begrifflich) erfasste Kernbereich überschritten wird. Fälle, in denen bspw. Busse völlig »zweckentfremdet« werden und ihr im Normallfall nicht zur Geltung gelangendes und durch die Konstruktion möglichst »auszuschaltendes« Gewicht zur Zertrümmerung indischer Raubkopien herhalten muss, ihre gegen Umwelteinflüsse abgrenzende Blech-Ummantelung dem gestrandeten Rucksacktouristen als Notunterkunft dient oder dem Soldaten als Schutzwall gegen den feindlichen Kugelhagel.34 Doch irgendwo müssen wir die (semantischen) Grenzen ziehen und warum sollte uns im Normalfall daran gelegen sein, derartige »Auswüchse« unserem begrifflichen Verständnis (von etwas) zu integrieren?35 Begriffliche Feststellungen sind in ihrer konkreten Anwendung auf Situationen daher mehr als Fest-Legungen zu verstehen, die vorab eine Art Entfaltungsraum vorstellend entwerfen oder die Rahmenbedingungen versuchen abzustecken, innerhalb derer das zu erwartende Ereignis sich aus‐legen wird und stattfinden kann, d.h. sich (für uns ungefährlich) ereignen kann. Nicht das empirisch tatsächlich individuell in einer Situation vorkommende Ding wird (begrifflich) fixiert, sondern die möglichen, räumlich vorgestellten Koordinaten, in denen sich ein Ding »seiner Art« einbringt und dabei eine seiner Seiten realisiert. 34 In alle diesen Fällen sind auch die »Zweckentfremder« dazu angehalten, aktiv zu überlegen, welcher (materielle) »Anspruch« von einer Situation ausgeht und welchen (materiellen) WiderStand sie ihrerseits an eine Situation (begrifflich) »stellen« (müssen), um daraus die von der Situation geforderte »Antwort« aus den zur Verfügung stehenden Gegenständen (materialiter) abzuleiten. D.h., sie müssen praktisch überschlagen, welche »Seiten« dieser Gegenstände wie, sprich in welcher Kombination und Zusammenstellung »auf den Weg gebracht« werden können, zur Realisation »veranlasst« oder »getrieben«. 35 Daher erweist sich ja auch Innovationskraft meist dadurch, dass sie den semantischen Kernbereich von etwas aktiv zu überschreiten weiß, um es im selben Zug (materiell) »anschlussfähig« sein zu lassen und ihm so eine andere Funktion abgewinnen zu können. Denn »kreativ« oder »innovativ« sind wir nicht nur dann, wenn wir etwas völlig Neues auf den Weg bringen, sondern auch Altbekanntem eine Seite abgewinnen und es auf eine eine Art und Weise verwenden, die es manchmal völlig ungeahnte Effekte hervorbringen lässt. Nicht zufällig lautet daher die häufigste und skeptisch eingestellte Antwort auf einen innovativen Vorschlag, dass wir »nicht glauben, dass das damit geht« oder »dass das funktionieren kann« –, bis wir uns eines besseren belehren lassen und und uns (abermals auf das Ausmaß bezogen) eingestehen, dass wir nicht gedacht hätten, dass etwas in diesem Zusammenhang so gut halten kann, so weich, so hart, so geschmdeidig, so tragfähig ist etc.
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Wir manipulieren ja nicht die Kausalität der Dinge (wir sind nicht die Demiurgen dieser Welt), sondern wir spannen ihre Kausalität in eine übergeordnete und erst dann wiederum uns zweckdienliche Rahmen-Kausalität ein: die Muskelkraft des Ochsen unter das Joch, die Fließgeschwindigkeit des Wassers in die Turbine, den gärenden Hefepilz in den Teig usw. Während die Dinge derjenigen Determination folgen, die ihnen eine jeweilige Situationskonstellation abfordert, kann der Mensch in den Lauf der Dinge eingreifen und sie seinen Interessen gemäß nutzbringend verwenden, sie umwenden, umstellen und anwenden und eventuell auch (frühzeitig) abwenden, weil er den Stand der Dinge kennt, wahrnehmend in Erfahrung bringen kann oder eigens her‐stellt. Dank unserer Vorstellungskraft und unserer sprachlich aufgespeicherten Erfahrungen können wir uns über räumlich ineinandergreifende Zusammenhänge und zeitlich zu erwartende Abläufe klar werden und verständigen. Was aber nicht bedeutet, dass wir ihr Sein nach Belieben setzen, sondern dass wir uns einem gewissen Komplex durch sie mitbedingter und realisierter Eigenschaften bedienen. D.h., dass wir uns ihr Movens zu eigen machen, indem wir ihren Ablauf in der Zeit und ihre Wechselwirkung mit anderen Dingen »durchschauen« und sie innerhalb dieser begrifflich-überschaubaren und kontrolliert gehaltenen Grenzen (zielführend) gewähren lassen. Derart in einen standardisierten Be-Stand eingegliederte Dinge erleben wir dabei als »Orte« möglicher Wirkungen, die wir als von unserem Denken unabhängig setzen und zugleich in ihren »wesentlichen« Wirkungen (sprich in ihrer semantisch‐begrifflichen Ausdeutung) als genügend antizipiert und kontrolliert uns vorstellig machen, um sie sprachlich‐koordiniert bei einem unvorhergesehenen Aufbegehren entsprechend »abfertigen« zu können. Bei dieser Behandlung büßen sie zwar nicht real an Größe oder Ausdehnung (im physikalischen Sinne) ein, doch werden sie dabei klarerweise in ihrem denkbaren Aktionsradius beschnitten, der durch diese Art der Platzanweisung (von uns) ein- und umgrenzt wird und ihre sinnliche Präsenz dabei einer »Einregelung« unterwirft. Denn bevor ein profaner und alltäglicher Gegenstand wie Wasser sich in einer oder mehreren seiner nutzbar gemachten, sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften ergehen kann, es entweder gefragt ist als trinkbarer Flüssigkeitsausgleich, Schmutz entfernende Lauge oder auf fast hundert Grad erhitzbare Grundlage für unseren Morgenkaffee, »ruht« es in unseren Rohren, Gläsern, Leitungen, Schläuchen, Fässern und Kanistern und realisiert nur ein sehr überschaubares Spektrum an wahrnehmbaren (Aus-)Wirkungen – was nicht nur beim Wasserrohrbruch deutlich hervortritt, sondern schon beim plötzlichen Sommerschauer, der uns noch vor unserer Ankunft zu Hause bis auf die Knochen durchnässt. D.h., bevor wir einen von ihnen ausgehenden Komplex an Wirkungen gezielt »veranlassen«36 , wie wir in Anlehnung an 36 Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre, Stuttgart 2014, S. 12ff.
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Heideggers Technik-Aufsatz sagen können, sehen sich die Dinge in ihrer Alltäglichkeit in einen sinnlich unauffälligen Be-Stand zurückgedrängt und »eingehegt«.37 Denn »die Herrschaft über die Natur, die Descartes dem Menschen als Aufgabe zuweist, schließt die Herrschaft über den Raum ein.«38 Und diese standardisierte Platzierung und eine daran anschließende, übergeordnete Orientierung ist es, die als »Standardbedingungen« der Wahrnehmbarkeit beschrieben werden können, ohne dass sich damit ein klar umgrenzter Eigenschaftskomplex bestimmen ließe, der ausschließlich »ihren« Eigenschaften entsprechen würde.
5.2
Realisierung, Ausmaß und Auswirkung
Ob die Dinge denn auch (tatsächlich) richtig (für die abgeschätzten, zeitlichen Folgewirkungen) platziert wurden oder noch immer platziert sind, das wird uns unsere Wahrnehmung verraten müssen. Von unserem begrifflichen (Vor-)Verständnis dauerhaft gerahmt richtet sie sich nicht auf die Vergangenheit oder die Zukunft, sondern auf die Gegenwart oder vielmehr: sie ist Gegenwart, unsere Gegenwart, unsere Präsenz »in« der Welt und die Präsenz der Welt für uns. »Die Wahrnehmung selbst ist nicht zu beschreiben als eines unter den Fakten, die in der Welt vorkommen, da wir im Bilde der Welt nie jene leere Stelle zu unterdrücken vermögen, die wir selber sind […]«.39 Ihr Vollzugsmodus ist das Präsens, weil sie Präsentation ist, die von begrifflich gestützten (Zukunfts-)Erwartungen getragen wird, d.h. unserem Glauben, was noch auf uns oder die Dinge zukommen oder von ihnen ausgehen wird und »wohin dies alles noch führt«. Eine Erwartungshaltung, die wiederum durch vergangene Erfahrungen informiert und bis zu einem gewissen Grad legitimiert ist. Doch Wahrnehmung selbst ist Vollzug und darf nicht von ihren (statischen) Ergebnissen oder »Resultaten« her beschrieben werden, die darüber hinaus in wissenschaftlicher Manier zu ihren (physiologischen) Ausgangsbedingungen deklariert werden. »Die als Wirkung von Reizen auf unseren Körper definierte reine Empfindung ist ein ›Endprodukt‹ unserer Erkenntnis, und zwar unserer wissenschaftlichen Erkenntnis, es ist bloß eine – sehr natürliche – Täuschung, die sie uns an den Anfang setzen und aller Erkenntnis vorgängig glauben 37 Oder, wie es Hans Blumenberg in bezug die fortschreitende Technisierung der Lebenswelt festhält: »Die Akkumulation unspezifischer Rüstungen für jede Art und jedes Maß von Erfordernissen, ›reiner‹ Potentialität, beliebig transformabler und transportabler Energien, omnipotenter Instrumentarien wird das Kennzeichen der mit der zweiten Jahrhunderthälfte einsetzenden neuen Phase der Technisierung […].Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 2013, S. 47. 38 Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt a.M. 2009, S. 109. 39 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 244.
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lässt. Es ist dies die notwendige, aber auch notwendig trügerische Weise, in der der Geist seine eigene Geschichte sich zur Vorstellung bringt.«40 Und wie der Geist sich seine eigene Geschichte versucht (wissenschaftlich) zur Vorstellung zu bringen, lässt sich in jedem Einführungsbuch zum Thema Wahrnehmungspsychologie nachlesen: »Das Auge ist wie eine Kamera aufgebaut, und wir wissen relativ gut, was hier vor sich geht. Cornea (Hornhaut), vordere Augenkammer, Linse und Glaskörper entwerfen ein reelles, verkleinertes und umgekehrtes Bild auf einer Rezeptorenfläche, der Retina (Netzhaut). Das psychologische Grundproblem des Sehens lässt sich nun wie folgt formulieren: wir sehen offensichtlich kein flächiges Netzhautbild, sondern dreidimensionale, bewegte Gegenstände oder Vorgänge im Raum. Die gesamte Information, die all dem zugrunde liegt, muss jedoch in den beiden Netzhautbildern des paarigen Sinnesorgans gegeben sein und daraus gewonnen werden […]. Der Inhalt der Wahrnehmung wird offensichtlich vom Netzhautbild angeregt, dann im kognitiven System erzeugt, dessen ›Hardware‹ das Gehirn darstellt, und schließlich wieder in den Außenraum hinausprojiziert, in dem wir die Objekte wahrnehmen. Die Psychologie fragt nun, wie aus den Eigenschaften der beiden Netzhautbilder die wahrgenommene Welt entsteht.«41 Das dem so sein muss, ist jedoch nur richtig unter Beibehaltung der vorausgesetzten Prämisse – und diese ist äußerst zweifelhaft. Denn welchen Grund haben wir anzunehmen, dass sich Wahrnehmung und Denken angemessen beschreiben lassen als mit Informationen rechnende »Programme«? Das Computerparadigma und der Funktionalismus haben innerhalb der Philosophie des Geistes als Erklärungsprinzipien ihren Zenit längst überschritten und dass die Einzelwissenschaften hiervon keine Kenntnis nehmen, macht die Voraussetzung nicht stichhaltiger. Wahrnehmung ist philosophisch nicht zu begreifen als Repräsentation einer vorliegenden Wirklichkeit oder durch die Bestimmung ihrer rein funktionalistischen Rolle42 , bei dem die Erlebniskomponente, wie sich etwas für uns anfühlt, nebensächlich wäre. Kommt unsere Wahrnehmung an ein Ende, so kommen wir an unser Ende und nichts mehr wahrzunehmen, bedeutet, nicht mehr zu sein. Der Inhalt unserer Wahrnehmung ist nicht auf den physiologischen »Input« unserer jeweiligen Sinne zu reduzieren,43 denn er ist die Gegenwart einer raum‐zeitlich erschlos40 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologe der Wahrnehmung, a.a.O., S. 59. 41 Straub, Jürgen (Hg.) et al.: Psychologie. Eine Einführung. Grundlagen, Methoden, Perspektiven, München 2005, S. 231f. 42 Vgl. für eine Diskussion diesbezüglich z.B. Levin, Janet.: Analytic functionalism and the reduction of phenomenal states, in: Philosophical Studies 61 (1991), S. 211 – 238; Shoemaker, S.: Functionalism and qualia, in: Philosophical Studies 27 (1975), S. 291- 315. 43 Eine Annahme, die zusätzlich empirisch durch das Phänomen der Synäthesie in Frage gestellt wird. Bspw., wenn gewisse Klänge oder Wörter Farbwahrnehmungen hervorrufen oder Farben
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senen Welt (für ein Subjekt) selbst, in der sich Dinge und Prozesse fortwährend ereignen und immer wieder neu ergeben. Daher sind auch die Sinne eines Lebewesens auch von vornherein auf Ergänzung angelegt und tragen ihre jeweilige Qualität in die benachbarten Sinne mit ein. Womit die Rede von einem »reinen« Höroder Seheindruck und dessen korrespondierender Qualität, d.h. einem ausschließlich vom Sehen her bestimmten Rot seinerseits höchst fragwürdig erscheint. Der physiologisch‐kausal rekonstruierbare visuelle, auditive, olfaktorische, haptische oder gustatorische »Input«, der auf unsere Nervenenden trifft, umreißt nicht das Ganze des jeweiligen, sinnlichen Gehalts unserer Wahrnehmung und ist für dessen Konstitution lediglich notwendige aber nicht hinreichende Bedingung. Er verbleibt Zulieferung für ein auditives, visuelles etc. (Wahrnehmungs-)Erlebnis, das seine Erlebnisqualität nicht (alleine) durch die passive Registration einer diesem Eindruck »innewohnenden«, also inhärenten Eigenschaft verdankt, sondern durch das Gesamtgefüge einer Wahrnehmungs(um-)welt, dem er eingliedert bleibt. »Unmöglich, die Farbe eines Teppichs vollständig zu beschreiben, ohne zu sagen, dass es ein Teppich ist, und zwar ein Wollteppich und ohne dieser Farbe einen impliziten Tastwert zuzuschreiben, ein gewisses Gewicht, einen gewissen Lautwiderstand.« Unsere Sinne vervollständigen sich jeweils untereinander, halten sich gegenseitig auf dem Laufenden und den »Rücken frei«, um ein möglichst lückenloses Netz an miteinander verschränkten Wahrnehmungsdimensionen zu knüpfen, bei denen wesentliche Veränderungen in unserer Umwelt als wahrnehmbare Rückmeldungen aus dieser (räumlichen) Umwelt erfahren werden können. »Die Sinne kommunizieren miteinander in der Wahrnehmung, wie beide Augen im Sehen zusammenwirken.«44 Auch, wenn wir nicht sehen können, was sich gerade hinter uns befin‐det, so können wir Veränderungen dort weiterhin hören, die es geboten erscheinen lassen, sich möglichst schnell umzudrehen oder die Tätigkeit, die mit dem frontalen Sehen einherging, kurzweilig auszusetzen oder ganz einzustellen. Und selbst, wenn wir unsere gesamte Aufmerksamkeit einem gesonderten Zu- und Hinhören widmen, bleibt unserer Nase nicht verborgen, ob der Braten schon ein wenig zu lange im Ofen schmort. Raum‐zeitliche Verhältnisse dieser Art sind dabei aber nicht einfach Verhältnisse einer an sich bestehenden Welt, sondern einer ständig (für uns) direkt dort gesehen werden, wo im Grunde nur eine graphische Anordnung von Graustufen vorliegt usf. Vgl. Harrison, J.E. und Baron-Cohen, S.: Synaethesia. An Introduction, in: dies., Synaesthesia. Classic and Contemporary Readings, Oxford 1997, S. 3 – 16. 44 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 273. Vgl. auch Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 59: »Der eine Sinn vermag, was er vermag, in Abgrenzung und Unterstützung von den anderen Sinnen. Sie sind aufeinander abgestimmte Kräfte der räumlichen und zeitlichen Orientierung des Leibes, ohne deren Kooperation er – angefangen beim Gleichgewicht – keine Stabilität gewinnen könnte.«
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entstehenden Welt. Eine Blickrichtung, die grundsätzlich verstellt wird durch die »ontologische Orientierung am Sein als ständiger Vorhandenheit«45 , wie wir von Heidegger wissen.46 Die von jemandem wahrgenommene Welt ist eine sich realisierende Welt und Wahrnehmung ist »in jedem Augenblicke von neuem die Welt erst erschaffend […].«47 Eben, weil es von uns erlebte Verhältnisse sind, eine Welt für uns, deren Raum gelebter Raum ist und der mal ausreichend, mal zu eng, dann wieder zu weit, zu nah, zu fern für unsere Vorhaben ausfällt. Derart dynamisch erfahrene Räumlichkeit kann jedoch ihrerseits nicht einfach auf einen an sich bestehenden Raum zurückgeführt werden. Der Raum der Dinge, »ihre« Räumlichkeit ist eine durch uns erfahrene, eine uns erscheinende Räumlichkeit. »Das umsichtsfreie, nur noch hinsehende Entdecken des Raumes [hingegen] neutralisiert die umweltlichen Gegenden […]. Die Räumlichkeit des innerweltlich Zuhandenen verliert mit diesem ihren Bewandtnischarakter. Die Welt geht des spezifisch Umhaften verlustig, die Umwelt wird zur Naturwelt. Die ›Welt‹ als zuhandenes Zeugganzes wird verräumlicht zu einem Zusammenhang von nur noch vorhandenen Dingen.“48 Doch die Dinge sind nicht einfach gleichermaßen für uns vorhanden, sondern eben unterschiedlich zuhanden, was bedeutet, dass sie als verstehbare Dinge darüber hinaus ein zeitliches Potenzial mit sich führen, d.h. jeweils ihre Zeit haben, die desgleichen unsere Zeit bleibt, die wir der Dauer ihrer Anwesenheit, der Bereitstellung und Abwicklung ihrer Funktionalität oder ihres ungewollten Wirkens widmen müssen und das wir gegebenenfalls absitzen oder »aussitzen« müssen, was wiederum in den jeweiligen, räumlichen Verhältnissen, in denen sich eine solche Entwicklung (voraussichtlich) abspielen wird, wahrnehmend von uns antizipiert ist. »Der Raum ist kein [wirkliches oder logisches] Milieu, in welches die Dinge sich einordnen, sondern das Mittel, durch welches eine Stellung der Dinge erst möglich wird. M.a.W., statt den Raum als eine Art Äther, in dem die Dinge baden, oder abstrakter als einen allen Dingen gemeinsamen Charakter vorzustellen, müssen 45 Heidegger, M.: Sein und Zeit, a.a.O., S. 96. 46 Daher ist bspw. eine pathologische Beeinträchtigung wie Akinetopsie auch derart gravierend für die Betroffenen, da diese keine Übergänge mehr zwischen einzelnen Eindrücken wahrnehmen können, wie sie von vielen Wahrnehmungsphilosophien als der Normalfall angenommen werden. Ein Patient, der unter dieser neuronalen Beeinträchtigung leidet, kann keine Bewegungsabläufe und -richtungen mehr antizipieren, d.h. das Ereignen der Realität nicht sinnlich mitvollziehen, weil er diese nur noch als Abfolge von unzusammenhängenden Einzelbildern zu visualiseren vermag. Unter diesen Bedingungen wird alleine das Überqueren einer Straße oder das Eingießen eines Getränks zur unlösbaren Aufgabe. Vgl. Zihl, J. und Cramon, N.: Selective disturbance of movement vision after bilateral brain damage, in Brain 106 (1983), S. 313 – 340. 47 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 244. 48 Heidegger, M.: Sein und Zeit, a.a.O., S. 112. Vgl. auch Heidegger, Martin: Was heißt Denken?, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1978, S. 135.
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wir ihn als das universale Vermögen ihrer Verknüpfung denken. Mithin, entweder ich reflektiere nicht, gehe auf in den Dingen und betrachte den Raum in unbestimmter Weise bald als das Milieu der Dinge, bald als ihr gemeinsames Attribut, oder aber ich reflektiere, erfasse den Raum an seinem Ursprung, denke aktuell die diesem Wort zugrunde liegenden Verhältnisse und bemerke alsdann, dass diese nur leben aus einem sie beschreibenden und tragenden Subjekt und gehe so vom verräumlichten auf den verräumlichenden Raum zurück.«49 Unser In‐der-Welt-Sein wird in seiner ganzen Tragweite nur dann greifbar, wenn auch dessen Komplement, so zusagen das Außerhalb‐von-uns‐selbst-Sein der Dinge (denn nichts anderes bedeutet ja ihre Räumlichkeit für uns, ihre Verräumlichung) als die Kehrseite hiervon in Betracht kommt. Damit wird unser Dasein aber zu demjenigen Sein, das sozusagen über den (Um-)Weg von »gesetzten« Gegenständen immer schon sein eigenes Äußeres, seinen eigenen (Lebens-)Raum entwirft und eine Umwelt »hat«, d.h., immer schon draußen ist, oder, was dasselbe besagt: niemals wirklich drinnen war. »Der Raum ist weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum. Der Raum ist vielmehr ›in‹ der Welt, sofern das für das Dasein konstitutive In‐der-Welt-Sein Raum erschlossen hat. Der Raum befindet sich nicht im Subjekt, noch betrachtet dieses die Welt, als ob sie in einem Raum sei, sondern das ontologisch wohlverstandene ›Subjekt‹, das Dasein, ist in einem ursprünglichen Sinn räumlich. Und weil das Dasein in der beschriebenen Weise räumlich ist, zeigt sich der Raum als Apriori. Dieser Titel besagt nicht so etwas wie vorgängige Zugehörigkeit zu einem zunächst noch weltlosen Subjekt, das einen Raum aus sich hinauswirft. Apriorität besagt hier: Vorgängigkeit des Begegnens von Raum (als Gegend) im jeweiligen umweltlichen Begegnen des Zuhandenen.«50 Wir wissen uns der Welt ausgesetzt, weil wir durch unsere eigene Art des Existierens und Wahrnehmens aus uns selbst »herausgesetzt« sind. Wenn Wahrnehmung in direktem Kontakt zur Welt steht, dann stehen wir in direktem Kontakt mit der Welt. Nur gilt es zu verstehen, dass der Realitätsgehalt der Wahrnehmung durch ihr Bezogensein auf ein Subjekt nicht in seinem Sein gemindert oder relativiert, sondern überhaupt erst konstituiert wird. Und es wäre ein Fehlschluss von einem direkten Kontakt auf ein direktes Resultat schließen zu wollen.51 Oder anders for49 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 284f. 50 Heidegger, M.: Sein und Zeit, a.a.O., S. 111. 51 Auch wenn auf den ersten Blick durch die Rede von der Vermitteltheit oder »Indirektheit« Parallelen zu bestehen scheinen, ist die hier vertretene Position nicht ohne weiteres als indirekter Realismus zu verstehen. Denn zum einen würde diese Gleichsetzung durch die von vielen indirekten Realismen implizite oder explizite Verteidigung eines Repräsentationalismus in bezug auf unsere Wahrnehmungsgehalte scheitern, zum anderen durch den damit einhergehenden und häufig anzutreffenden Bedarf eines kogntiven Eingreifens in die Wahrnehmung zur
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muliert: Die Relativität der Wahrnehmung, ihr Bezogensein auf ein wahrnehmendes Subjekt ist die Voraussetzung ihrer Objektivität als Wahrnehmung – ihre Relativierung ist die Voraussetzung ihrer eigenen Objektivierung und nicht die Relativierung einer vorgegebenen, bestehenden oder zu erzielenden Objektivität, von der sie eine (strukturgleiche) Abweichung darstellen würde. Nicht, dass wir behaupten wollten, aller Wahrnehmung läge ein (unbewusstes) Interpretieren zugrunde, das »durch ein Differenzieren, Filtern, Selektieren, Verrechnen, Ordnen, Verarbeiten, Identifizieren, Strukturieren, Abstrahieren, Optimieren, Formieren und Formatieren«52 charakterisiert wäre, wie es Lambert Wiesing bemängelt. Im Gegenteil. Wahrnehmung ist nicht die mal mehr mal weniger störanfällige Übermittlung eines »draußen« befindlichen Originals. Sie ist nicht Übermittlung von Gegebenem, sondern vielmehr Ver-Mittlung von Subjekt und Welt und damit die Etablierung einer gemeinsamen »Mitte« für deren Überschneidung. Denn ohne sie gibt es kein Gehörtes, kein Gesehenes, kein Ertastetes. Empfundenes und Empfindung, Perzeption und Perzept sind unterscheidbare Größen erst auf der Ebene der Reflexion und als solche in der Wahrnehmung selbst nicht anzutreffen. Daher greift sie auch keine Eigenschaften (das für sich »Empfundene«) auf, um sie an unser Bewusstsein weiterzureichen oder »durchzuleiten«. Sie repräsentiert nicht, sondern sie präsentiert – und zwar so und auf diese Weise und das ohne Vorbild. Denn diese Art der Präsentation ist der direkte Kontakt, den sie als VerMittlerin zwischen uns und der Welt etabliert, ist die für uns erlebbare Existenzweise dieses Kontakts selbst, ist das Sich-Ereignen eines gewissen »Ausschnitts« der Realität, einer Situation für ein Lebewesen, das wahrnehmen kann und auf diese Weise wahrnehmen muss. Wahrnehmen bedeutet nicht das Herauslesen irgendeiner dem Wahrnehmungsvorgang präexistent vorausliegenden Eigenschaft aus dem perzipierten Objekt, die in den »Audienzsaal« des Geistes überführt wird. »Wahrnehmung ist nicht ein leeres Hinstarren auf ein im Bewusstsein Darinsteckendes und durch irgendein sinnloses Wunder je Hineinzusteckendes; als ob zu»Aufpolierung« ihrer weltlosen und rein gespürten Inhalte, die von sich aus keine Welthaltigkeit zu garantieren scheinen. Auch der damit einhergehende Dualismus von »Innen« und »Außen«, einem rein subjektiven »Abbild« eines perzeptiv unschuldigen, an sich vorliegenden Eigenschaftskomplexes dort »draußen« läuft den hier bemühten Beschreibungen eines komplementären Verhältnisses von Perzeption und Perzept letzten Endes entgegen. Auch bemühen die Verteidiger eines indirekten Realismus in ihrer Argumentationsstrategie häufig eine Art Essentialismus in Hinsicht auf die zugrundegelegten »Objekte«, von denen wir vermeintlich »direkt« nur die »Oberfläche« zu Gesicht bekommen – womit die »eigentliche« Ansicht der »Sache« in metaphysischer Tradition als »hinter« oder »in« den Dingen gelegen angesehen wird. Vgl. bspw. Jackson, F.: Perception, Cambridge 2009, sowie ders.: Representative Realism, in: Dancy, J.und Sosa, E. (Hg.), A Companion to Epistemology, Oxford 1994, S. 445 – 448. Ebenso Moore, G.E.: A Reply to My Critics, in: Schlipp, P.A. (Hg.), The Philosophy of G.E. Moore, La Salle 1942, Bd. 2, S. 553 – 677. 52 Wiesing, Lambert: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt a.M. 2009, S. 42.
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erst etwas da wäre und dann das Bewusstsein es irgendwie umspannte […].«53 Sie gleicht keinem Schlauch bei dem das Wasser, »das in den Schlauch hineinfließt, auch so wieder [herausfließt]«, wobei die Übertragung durch den Schlauch dabei das Wasser nur weiterleitet.54 Denn Wahrnehmung ist kein Spiegel der Natur, keine Repräsentation und auch kein unbewusstes Interpretieren von etwas, das genau so auch ohne sie existierte und jene qualitativen Dimensionen aufweisen würde. Sie gleicht keinem »Scheinwerfer, der im Dunkel bereits vorhandene Gegenstände beleuchtet […].«55 Denn sie bleibt konstitutives Glied für das (qualitative) Sein der Dinge und ein wahrnehmendes Bewusstsein ist nicht mit der berühmten Wachstafel zu vergleichen, die darauf wartet, das sich ihr unterschiedliche Eindrücke einschreiben, sich ihr wortwörtlich »ein‐drücken«.56 Wahrnehmung ist weder Verarbeitung diskreter Informationen, noch das Verrechnen klar abgegrenzter »Reize« oder reine Zulieferung für eine letztlich kognitive Operation. »Für das Bewusstsein selbst ist sie [die Wahrnehmung, R.Z.] kein Schluss – denn die Empfindungen, die einem solchen als Prämissen dienten, gibt es nicht, sie ist nicht Interpretation, da nichts ihr zuvor gegeben ist, was sie zu interpretieren vermöchte.«57 Die ganze Crux an Theorien, die der Wahrnehmung ein (unbewusstes) Interpretieren unterstellen ist eigentlich weniger ihre Behauptung, dass Wahrnehmung Eigenschaften der Welt interpretieren könnte, als vielmehr die Konsequenz, dass es »Signale« oder »Reize« nur dort gibt, wo es Interpretationsvorgänge geben muss. Und in diesem Bild könnte nie etwas anderes der Gehalt unserer Wahrnehmung sein als ihr eigenes Korrelat, nie könnte sie im Grunde wahrnehmbar machen. Oder anders ausgedrückt: von »Signalen« und diskreten »Reizen » lässt sich nur dort sprechen, wo die Konstitution schon stattgefunden, die Wahrnehmung ihr Werk schon vollbracht hat und ihre Gehalte für die intersubjektive Kommunikation lediglich aufbereitet werden. »Die Information für die Wahrnehmung [dagegen, R.Z.] wird nicht übertragen, sie besteht nicht aus Signalen und erfordert auch keinen Sender und keinen Empfänger.«58 Denn diese Vorstellung verklärt die Welt, wie sie uns durch die Sinne gegeben wird, letztlich zu etwas Intelligiblem, 53 Husserl, Edmund: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918-1926, Husserliana Bd. XI, hg. v. M. Fleischer, Den Haag 1966, S. 22. 54 Vgl. Wiesing, Lambert: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, a.a.O., S. 68. 55 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 47. 56 Vgl. Aristoteles, De Anima, 424a17: »Die Wahrnehmung ist das Aufnahmefähige für die wahrnehmbaren Formen ohne die Materie, wie das Wachs vom Ring das Zeichen aufnimmt ohne das Eisen oder das Gold. Es nimmt das goldene oder eherne Zeichen auf, aber nicht sofern es Gold oder Erz ist. Ebenso erleidet die Wahrnehmung von jedem Objekt, das Farbe, Geschmack oder Ton hat […].« 57 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 59. 58 Gibson, James J.: Das Extrahieren in der Wahrnehmung, in: Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen, a.a.O., S. 353.
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sie macht aus unserer Wahrnehmung ein Denken und ihre möglichen Gehalte von einem möglichen Gedachtsein konstitutiv abhängig. Auch wenn begriffliche Differenzierungen mit jedem Differenzierungsschritt der Wahrnehmung (theoretisch) mithalten können, die Ungebundenheit des Begrifflichen sich nicht zuletzt darin äußert, dass jeder noch so differenzierteren Wahrnehmung ein noch differenzierterer Begriff an die Seite gestellt werden kann, sie »außerhalb des Denkens nicht außerhalb des Denkbaren«59 liegt, so geht die Welt jedoch nicht in diesem Denkbaren auf und den Urteilen, die wir über sie treffen (können). Nur ein Idealismus oder Begriffsrealismus, der unser Denken in das Wesen der Dinge (zurück-)verlegt und jenes zu dessen Voraussetzung erklärt, glaubt sich in der Position, diesen Unterschied übergehen zu können. Die Welt, wie wir sie durch unsere Wahrnehmung antreffen, ist aber nicht gleichzusetzen, mit allem, was der Fall ist; denn trotz ihrer Offenheit offenbart sie sich uns nicht, auch wenn wir Richtiges über sie feststellen (können), das wir aufgrund von dessen orientierender Stabilität für unser Handeln weiterhin (begrifflich) so festhalten (wollen), weil es sich als dieses etwas unter dieser Kategorisierung bewährt hat. »Wenn die Welt, in der wir leben, aber keine vorbestimmten Grenzen hat, dann scheint es unrealistisch, zu hoffen, dass das alltägliche Verstehen durch Repräsentationen erfasst wird (solange man unter ›Repräsentation‹ im strikten Sinn die Repräsentation einer vorgegebenen Welt versteht).«60 Wahrnehmung bietet durch ihre unterschiedlichen, sinnlichen Dimensionierungen die Gelegenheit für wahrnehmende Erkundungen, für explorations, ohne selbst bereits exploitation zu sein; denn ihre Offenheit lässt sich nicht durch das Denken gänzlich ausbeuten oder vereinnahmen. »Was also haben wir zu Beginn? Nicht ein gegebenes Mannigfaltiges mit einer es durchlaufenden und durch und durch beherrschenden synthetischen Apperzeption, sondern ein bestimmtes Wahrnehmungsfeld auf einem Untergrunde von Welt […]. Im ursprünglichen Feld liegt nicht ein Mosaik von Qualitäten vor, sondern eine umfassende Konfiguration, die alle funktionellen Werte den Forderungen des Ganzen entsprechend verteilt.«61 Wahrnehmung betrifft den (Gesamt-)Zu-Stand unserer Lebensumgebung, nicht einzelne und gesonderte »Elemente«. Und ein weltlicher Zustand, ein Welt-Zustand konkretisiert sich für uns situativ durch unser eigenes Ausgesetztsein an die Dinge und des (von unserem Denken) veranschlagten Ausgesetztseins der Dinge an vorherrschende Umgebungsfaktoren. Natürlich können wir rein verbal davon unterrichtet werden, ob das Bügeleisen noch am Strom hing und auf höchster Stufe auf unserem weißen Baum59 McDowell, John: Geist und Welt, a.a.O., S. 53. 60 Varela, Francisco et al.: Enaktivismus – verkörperte Kognition, in: Philosophie der Verkörperung, a.a.O., S. 295. [Übers. aus dem Englischen: Varela, Francisco et al. Enaction. Embodied Cognition, in: dies., The Embodied Mind. Cognitive Science und Human Experience, Cambridge 1993, Kap. 8, S. 147 – 184.] 61 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 282.
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wollhemd ruhte, als wir die Wohnung verlassen haben. Und wir können uns ohne Probleme bildlich ausmalen, d.h. (räumlich) vorstellen (als Folge-Konstellation an Begebenheiten und Einwirkungen), wie das Ganze enden wird, wenn wir nicht von Panik getrieben nach Hause eilen. Doch irgendjemand wird diese räumliche Anordnung wahrnehmen müssen. Wir können eine Menge über heiße Metallplatten und leicht entflammbare Stoffe wissen und trotzdem nicht »im Bilde« sein, ob denn nun beide de facto in diesem Moment unglücklich zueinander finden. Dazu müssen wir wahrnehmen, ob das Bügeleisen auch wirklich auf dem Hemd (und nicht daneben, darunter, dabei etc.) ruht und als empfundene Qualität glühend heiß ist. Das ist es, was die Allgemeinheit des Begriffs aufgrund seiner Abstraktheit unausgesprochen lässt, weil er gerade aufgrund seiner Kontexttranszendenz nicht »vorhersagen« kann, wie das von ihm benannte Ding im konkreten Fall zum Einsatz kommt, weil er gerade zugunsten seiner universellen Einsetzbarkeit die konkrete Einsetzung des von ihm benannten Dinges in einer (real-)räumlichen Konstellation unberücksichtigt lassen muss; »Abstraktion« meint hier die Abstraktion von einer konkreten Situation, nicht von dem So-Sein eines konkreten Dinges, dessen Verfassung er ja sehr wohl »auszusprechen« weiß. Oder, um des analytischen Philosophen Lieblingsbeispiel noch einmal zu zitieren: dass die Katze auf der Matte liegt, ist klarerweise die begrifflich instrumentierte Seite unserer Wahrnehmung, da das Wer oder Was und Worauf semantisch differenzierte Identifikationen darstellen. Dass die Katze (faktisch) auf der Matte (lokalisiert) liegt, können mir meine Begriffe nicht mit letzter Gewissheit versichern – das kann mir nur meine Wahrnehmung vor Augen führen, während sie mir ihrerseits nicht mit letzter Gewissheit verbürgen kann, ob es auch wirklich eine Katze ist, die dort auf der Matte liegt (könnte es am Ende doch auch etwas sein, dass einer Katze oder Matte nur sehr ähnlich sieht). Die Wahrnehmung alleine kann diese Differenzierung und Identitätsstiftung nicht leisten, weil sie dazu auf Begriffe und Vorannahmen angewiesen bleibt. Eine grundsätzliche, nie völlig zu vermeidende Unsicherheit, die nicht zufällig durch den Ausspruch zum Ausdruck kommt, dass wir manchmal sagen: »sieht ganz danach aus« – so zusagen »unter Vorbehalt«. Das Wachsstück aus Descartes Beispiel kann ja alle uns vertrauten sinnlichen Eigenschaften einbüßen, ohne aufzuhören, dieses Stück Wachs zu sein.62 »Kein Wahrnehmungsobjekt ist [somit, 62 Vgl. Descartes, René: II. Meditation, in: ders., Meditationen über die Erste Philosophie, übers. v. Gerhart Schmidt, Stuttgart 1986, S. 89ff.: »Nehmen wir dieses Stück Bienenwachs […]. Während ich rede, kommt es dem Feuer nahe; der Rest des Geschmacks vergeht; sein Duft verflüchtigt sich; seine Farbe ändert sich; seine Form verschwindet. Es nimmt zu an Größe, wird flüssig, wird heiß, kaum kann man es noch anfassen, und schlägt man drauf, so gibt es keinen Ton mehr. Bleibt es noch dasselbe Stück Wachs? Man muß es zugeben, niemand leugnet es, niemand ist anderer Meinung. Was wurde denn an ihm so deutlich aufgefasst? Sicherlich nichts von alledem, was ich mit den Sinnen erreichte, denn alles, was unter dem Geschmack, den Geruch, das Gesicht, das Gefühl oder das Gehör fiel, hat sich jetzt geändert; das Stück Wachs bleibt.«
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R.Z] einfach das, als was es hier und jetzt oder über eine längere Zeit vor unseren Sinnen erscheint […]. An Ereignissen wie an Dingen gibt es vieles zu bestimmen und zu beschreiben, aber keine Beschreibung kann sie erschöpfend bestimmen.«63 Ein Wahrnehmungsgegenstand kann zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem Licht unterschiedlich aussehen, sich anhören, riechen, schmecken etc., ohne dass er gleichzusetzen wäre mit einem dieser Zustände, weil es seine Zustände sind, die an ihm erfahren werden können. »[Er] ist keine Erscheinung, an ihm zeigen sich Erscheinungen«.64 Der Ausspruch »der ist ja kaum wiederzuerkennen!« markiert dabei den springenden Punkt: wiederzuerkennen ist ein beliebiger Wahrnehmungsgegenstand oft nur, weil wir bereits wissen, dass er es ist, der diesen Veränderungen unterlag, er es ist, der sich nun in diesem Zustand befindet. Ein bis zur Unkenntlichkeit deformierter Gegenstand ist eben nicht unkenntlich, weil er als Gegenstand identifizierbar bleibt, weil wir um seine Deformierung wissen; meistens, weil er noch immer dort anzutreffen ist, wo wir ihn erwarten oder wo es »sinnvoll« für ihn wäre (gemäß unserer übergeordneten Orientierung) zu sein. Doch auch das ist es, was uns unsere Wahrnehmung zu verstehen gibt: sie bringt das Ausmaß eines Zustandes für uns in Erfahrung im Abgleich mit dem Begriff und der Vorstellung, die wir uns von einer Sache machen. Der derartige Wahrnehmungs-Gehalt gilt der Verwirklichung von etwas innerhalb einer Situation oder Umgebung. Wobei »Verwirklichung« hier freilich kein unverbindliches In-Erscheinung-Treten meint, wie in der Wendung, jemand verwirkliche seine künstlerische Ader, indem er nun beginnt, sonntags Bilder zu malen. Sondern Verwirklichung, die sich in einem konkreten Zustand spiegelt, ist eine Wirkung, die auf die Gesamtsituation konkreten Einfluss nimmt oder genommen hat, dies in Zukunft vermehrt tun wird oder sich aus der Situation als bestimmende Variable mehr und mehr »zurückzieht«, d.h., nicht mehr dasjenige Potenzial aufbringt, mit dem es die Situation (mit-)lenken oder (mit-)gestalten könnte. Vielleicht, weil es seine besten Zeiten schon hinter sich hat oder diese erst noch vor sich. Daher nehmen wir auch in Überschneidung mit unserem begrifflichen Denken und unseren begrifflich instrumentierten Vorstellungen wahr, ob etwas auf dem »aufsteigenden oder absteigenden Ast« ist, etwas oder jemand sich in einem »kritischen« oder gar »schlechten Zustand« befindet. So schlecht, dass wir (berechtigterweise) manchmal ins Zweifeln geraten, ob man dieses Etwas überhaupt noch sinnvollerweise so nennen und als solches auffassen sollte. So stellt der ärztliche Blick auf den Patienten entweder zufrieden fest, dass sich dessen Zustand gebessert hat, dieser stabil ist oder er zeigt sich über dessen Verschlechterung bekümmert, indem er abermals das Ausmaß der Krankheit 63 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 72. 64 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 72.
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gewahrt. Es ist unsere Wahrnehmung, die uns lehrt, wie die tatsächlichen (Aus-) Wirkungen von etwas ausfallen oder ausgefallen sind, die von verstandenen Dingen ausgehend eine Situation beeinflussen oder beeinflusst haben, wie wir es uns »nicht hätten träumen lassen«65 ; sodass wir nicht selten ein wenig beschämt über unsere eigenen, einst getroffenen Annahmen und über unsere Vorstellung vom tatsächlich sich situativ ereignenden Gang der Dinge zu uns selbst sagen: »wie konnte ich damals nur glauben, dass…«. Dass, »es« sich so verhalten würde, dass die Situation sich (aufgrund des Einflusses von diesem Etwas) derart entwickeln, sich so abspielen würde, die Dinge diese Wirkung aufeinander haben würden. Damit wir diese (Aus-)Wirkung als Ausdruck im obigen Sinne wahrnehmen können, müssen wir aber so zusagen mit dabei sein. Denn »die Wahrnehmung erfolgt im Bewegtwerden und Erleiden«66 , wie es schon Aristoteles festgehalten hat. Denn immer wird es uns ja im Gegenteil möglich sein, einigermaßen »sachlich« über einen gewissen Tatbestand zu berichten, solange wir (durch unsere Wahrnehmung) nicht wirklich involviert sind, weil es letztendlich unsere Wahrnehmung ist, die uns »involviert«, die uns in die wahrgenommenen, kausalen Vorgänge mit »hineinnimmt« und uns diesen (körperlich‐sensitiv) aus‐setzt.67 »Was ich unmittelbar erfasse, wenn ich die Zweige hinter mir knacken höre, ist nicht, dass jemand da ist, sondern dass ich verletztlich bin, dass ich einen Körper habe, der verwundet werden kann, dass ich einen Platz einnehme und dass ich in keinem Fall aus dem Raum entkommen kann, wo ich wehrlos bin«68 , wie es Sartre über das Angeblicktwerden festhält. Wir können den Bericht über einen Unfallhergang oder die Hinrichtung des Königsattentäters 65 Man denke nur an die lange Liste von »Unmöglichkeiten«, die Wissenschaftler alleine aufgrund von begrifflichen Vorannahmen und einer entsprechend instrumentierten, anschaulichen Vorstellung im Verlauf der Geschichte bei einer jeden technischen Neuerung »prognostiziert« haben: der Mensch werde niemals fliegen, geschweige denn, auf den Mond fliegen können, noch wird er überhaupt eine Zugfahrt von über 50 km/h überleben. Das »Atom« ist nicht weiter teilbar, die Erde nicht zu umrunden, das Licht der Gravitation nicht ausgesetzt uvm. Hierzu passt auch sehr schön der Ausspruch von Sir Peter Ustinov, der einst sagte, dass »das letzte, was man hören wird, bevor die Welt explodiert, die Stimme eines Technikers sein wird, der sagt: ›das ist technisch unmöglich‹«. 66 Aristoteles, De anima, 416b32. 67 Nur ein wahrnehmungsphilosophischer Repräsentationalismus, der im Verbund mit einem semantischen Objektivsmus steht, wird sich für diesen Unterschied unempfänglich zeigen. Denn, wenn wir den Wahrnehmungsgehalt von vornherein zum (reinen) »Informationsgehalt« erklären und semantischer Bedeutung ebenfalls einen gleichbleibenden, dinglichen Satus zusprechen, kann es am Ende so erscheinen, als sei Wahrnehmung, wie oben angesprochen, bloß zu »feinkörnig« oder zu »vielfältig« für ihren Counterpart, den sprachlichen »Gehalt«, der notorisch zu »grob« ausfällt, um ihre Feinheiten »einfangen« zu können. 68 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 467.
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Damiens, wie ihn Foucault zu Beginn von Überwachen und Strafen gibt69 , bloß zur Kenntnis nehmen und die einzelnen Feststellungen einer Situationsvorstellung integrieren, die uns die wesentlichen Zusammenhänge begreifen lässt, ohne allzu sehr »ins Detail« zu gehen. Oder aber wir sehen anschaulich, was es konkret bedeutet, wenn derartige Kräfte auf Mensch und Maschine einwirken. Denn, was ist es denn, »dessen Anblick wir nicht ertragen« und was wir uns nicht einmal in Gedanken »ausmalen« können und wollen? Mit Sicherheit nicht die bloße sprachliche Identifizierung und Eingruppierung von etwas, d.h. das (Wieder-)Erkennen eines bloßen Aussehens von etwas. Sondern, was wir nicht ertragen, ist das Sichtbarwerden der Umstände, die den Zustand der identifizierten Sache bedingen, die Gewalteinwirkung, die nötig waren, ein Ding seiner Art derart »herzurichten« und damit zuzurichten. Zu »bildlich« werden Beschreibungen immer dann, wenn sie genau jene Wechselwirkungen zwischen den Dingen in den Vordergrund rücken und nicht, wenn sie einfach nur detaillierter als sonst ausfallen. Ich kann sehr detailreich über den blau‐grauen, extra gehärteten Stahl eines Jagdmessers aus Dresdner Manufaktur mit Eichenholz-Schaft schreiben, das präzise von der kräftigen und doch zugleich schlanken Hand des Jägers geführt seinen zuverlässigen Dienst an der Beute des Tages verrichtet, ohne dass wir groß Anstoß an diesem (literarischen) Bild nehmen würden. Ich kann mich jedoch in meiner Beschreibung auch auf genau jene Einwirkung des Messers auf das Bein, die Sehnen und Knochen konzentrieren, die es durchtrennt oder auf die Hand, die »den Vatermord begangen hatte«70 und an der das Verbrechen nun vergolten werden soll – etwas, bei dem wir nun wirklich nicht weiter ins Detail gehen wollen. Die Details müssen sich quasi genau an der (in unserem Beispiel wörtlich zu nehmenden) »Schnittstelle« befinden, an der die Ein- und Auswirkungen eines Vorgangs auftreten, um für uns zu bildlich zu werden, was nicht dadurch erreicht ist, sie einfach nur auf die Szene im Ganzen zu verteilen. Und über genau diese qualitative Verteilung und den Vorgang selbst in all seinen möglichen (und begrifflich noch unausgesprochenen) Verzweigungen unterrichtet uns unsere Wahrnehmung. Sie zeigt uns, wie die Dinge sich in die Quere kommen oder gewähren lassen, behindern oder befördern aufgrund ihrer jeweiligen Schwere, Härte, Durchlässigkeit, Größe, Kleinheit, Rundheit, Spröde, Glattheit etc. Wir alle kennen die humoristische Überzeichnung dieses Abweichens zwischen einem wahrgenommenen Zustand und dessen purer Beschreibung, was noch einmal den Zusammenhang und die Differenz zwischen Anschauung und Begriff zu 69 Vgl. Foucalt, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1994, S. 9 – 12. 70 Foucalt, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, a.a.O. S. 9.
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illustrieren hilft. Bspw., wenn das Hotelzimmer als »heimelig anmutender Rückzugsort inmitten eines weitläufigen und tropischen Urlaubsdomizils mit Anschluss ans Meer« beschrieben wird, welches »keine Scheu davor hat, auch in den Abendstunden den Austausch zwischen den Kulturen zu befördern«. Und während anderenorts sich die Nachtruhe lähmend über die zwischenmenschlichen Aktivitäten legt, ist es hier dem aktiven Erholungssuchenden auch noch in den Abendstunden möglich, seinem wohlverdienten Bedürfnis nach freizeitlichem Tatendrang nachzukommen. Was natürlich beim Betreten der Urlaubanalage nichts anderes heißt, d.h. bedeutet, d.h. für uns oder den von der Situation Betroffenen und sie Wahrnehmenden bedeutet, dass das »heimelig Anmutende« der Wohnung in ihren schier winzigen Abmessungen besteht und das »Weitläufige« der Hotelanlage in einem brachliegenden Bauland, das irgendwann und nach dreißigminütigen Fußmarsch Anschluss ans Meer gewährt; dass der »Austausch zwischen den Kulturen« durch eine von jedem vernachlässigten Hausordnung realisiert ist und die Möglichkeit für »zwischenmenschliche Aktivitäten« durch die nahegelegene Diskothek, die nach zehn Uhr erst so richtig aufdreht. Das Humoristische (für alle nicht von der Situation Betroffenen) liegt nun abermals nicht in der völligen Fehlinformation, der Falschheit dieser Beschreibung, ihrer Ungenauigkeit oder Grobheit, sondern gerade in der Möglichkeit zu dieser Beschreibung. Und diese suggeriert dem nur allzu willigen Erholungssuchenden einen imaginierten (Welt-)Zustand, der mit dem Zustand seiner eigenen Person derart konform geht bzw. gehen soll, als dass er sich mit seinen Möglichkeiten in die offerierten Möglichkeiten bestmöglich glaubt einbringen zu können – und nun vor Ort enttäuscht feststellt, also für sich und seine Handlungsoptionen festhält, dass das Ganze so ausfällt. Dabei übermittelt ihm die (Außen-)Welt nicht einfach die tatsächlichen Fakten, die »hard facts« einer unveränderlichen Welt fixer Objekte, noch ein zu feinkörniges Bild der Wirklichkeit, was die Sprache im Vorfeld hat verfehlen müssen und was dieses »Abweichen« erklären würde. Ein Gedanke, der »die objektive Welt voraussetzend [annimmt], diese vertraue den Sinnesorganen Botschaften an, die zu überbringen und dann zu entziffern sind, um in ins ihren Klartext zu reproduzieren.«71 71 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 26. Diese Überlegungen rücken den hier vertretenen Ansatz in die Nähe des so genannten »Enaktivsmus«, wie er uns schon weiter oben begegnet ist. Vgl. Fingerheut, Joerg et. el. (Hg.): Philosophie der Verkörperung, a.a.O., S. 83: »Mit dem Label ›Enaktivismus‹ wird ein Bündel theoretischer Vorschläge hinsichtlich der Natur des menschlichen Geistes bezeichnet, deren Grundaussage lautet, dass der menschliche Organismus seine Welt aktiv gestaltend hervorbringt [enacts] und sie nicht nur passiv wahrnimmt. Oder auf sie als etwas von ihm Getrenntes einwirkt. Ein Organismus repräsentiert nicht, er interagiert. Allgemein gefasst, stellt der Enaktivismus einen Gegenentwurf zu repräsentationalen Theorien des Geistes dar, die sich in einigen ihrer Ausprägungen auf die metaphysische
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Sondern, was richtig »gestellt« wird, wenn wir »etwas« wahrnehmen, ist nicht eine einzelne Tatsache oder ein Komplex an Tatsachen, sondern wo die Dinge stehen und wie es um diese Dinge steht. Was sich uns nur aus der eigenen, handelnden Position heraus ergibt, weil wir Ziele verfolgende Subjekte in Situationen sind, für die es derartige Weltzustände überhaupt geben kann. »Die primäre Instanz ist vielmehr die Interaktion, die Wahrnehmen und Handeln zugleich involviert und in Echtzeit ablaufen lässt.«72 Die »Prägung« der Welt durch die Wahrnehmung und der Wahrnehmung durch die Welt gleicht mehr einem dauerhaften In-BeziehungSetzen zueinander, einem ununterbrochenen Abgleich mit dem eigenen Zustand und (körperlichen) Möglichkeiten, als der Abspiegelung an sich vorliegender Verhältnisse. Wahrnehmung ist eine Art ununterbrochene Feedbackschleife mit der Welt, ist Reziprozität zwischen Subjekt und Umwelt und bleibt unserer auf Dauer gestellter »Kurzschluss« mit unserer Umgebung vor dem Hintergrund unserer biologischen (wie technischen) Möglichkeiten und Bedürfnisse, d.h. unserer Befindlichkeit, der Art und Weise wo und wie wir uns selbst befinden. Es ist unsere (körperliche) Verfassung und Konstitution, unser eigener Zustand (oder wie es im Englischen heißt unsere condition) auf den hin sich ein Zustand der Welt für uns offenlegt, d.h. als gangbar oder nicht gangbar, machbar oder nicht machbar erweist. »So kann sich etwa eine ausreichend robuste und glatte Oberfläche als Ort anbieten [afford], wo ein bestimmtes Tier stehen oder gehen kann; natürlich kein Fisch; und was sich für einen Sperling als Rastplatz anbietet, mag sich als solcher nicht für eine Katze anbieten […]. Alles hängt davon ab, wer hinschaut und welche Interessen er dabei verfolgt […]. Die Komplexität des Wahrnehmungsvermögens des Organismus selbst sorgt für die entsprechende Komplexität im Wahrgenommenen […].«73 Befinden wir uns (körperlich) in einem schlechten Zustand, dann werden uns Wege zu lang, Treppen zu steil, Kisten zu schwer: Dinge werden »beschwerlich« und können nur noch bedingt bewältigt werden und überwältigen vielmehr uns. Position verpflichten, dass die Welt objektiv gegeben sei und im Geist lediglich widergespiegelt werde.« 72 Haugeland, John: Der verkörperte und eingebettete Geist, in: Philosophien der Verkörperung, a.a.O., S 122. 73 Haugeland, John: Der verkörperte und eingebettete Geist, in: Philosophien der Verkörperung, a.a.O., S. 124f. Vgl. zur ursprünglichen Begriffsverwendung der »affordance« Gibson, James J.: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979, insb. S. 127: »The affordances of the environment are what it offers the animal, what it provides or furnishes, either for good or ill. The verb to afford is found in the dictionary, the noun affordance is not. I have made it up. I mean by it something that refers to both the environment and the animal in a way that no existing term does. It implies the complementarity of the animal and the environment.« Für den verwandten Gedanken der (epistemischen) »Nischenkonstruktion«, in der wahrnehmende Subjekte »eingebettet« sind vgl. Lewontin, Richard: The Organism as Subject and Object of Evolution, in: Scientia 118 (1983), S. 65 – 95.
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Aber nicht ein vereinzeltes »Ding«, sondern eben eine ganze Umgebung, in der diese Dinge vorkommen und bei der Strecken und Abstände, Größen und Intensitäten eine ebenso wichtige Rolle spielen ein materielles Etwas selbst. »In solchem ›Vorkommen‹ aber ist die jeweilige Welt erst eigentlich zuhanden. Die objektiven Abstände vorhandener Dinge decken sich nicht mit Entferntheit und Nähe des innerweltlich Zuhandenen […]. Man ist geneigt, aus einer vorgängigen Orientierung an der ›Natur‹ und den ›objektiv‹ gemessenen Abständen der Dinge solche Entfernungsauslegungen und Schätzungen für ›subjektiv‹ auszugeben. Das ist jedoch eine ›Subjektivität‹, die vielleicht das Realste der ›Realität‹ der Welt entdeckt, die mit ›subjektiver‹ Willkür und subjektiven ›Auffassungen‹ eines ›an sich‹ anders Seienden nichts zu tun hat. Das umsichtige Ent‐fernen der Alltäglichkeit des Daseins entdeckt das An‐sich-sein der ›wahren Welt‹, des Seienden, bei dem Dasein als existierendes je schon ist.«74 Unsere Wahrnehmung deckt uns mit jedem Schritt und sensomotorisch rückgekoppelt unsere (weiteren) Handlungsoptionen auf. Objektive Eigenschaften entsprechen einem gewissen Anforderungsniveau, einem variablen Wider-Stand, der in unserer Umgebung Grenzen zieht und Intensitäten (neu) einregelt, die uns auf Abstand halten oder im Gegenteil ein ausgedehntes Eingreifen ermöglichen. Befinden wir uns in »bester Verfassung«, so haben die Dinge uns nichts entgegen‐zusetzen und weichen vor unseren Vorhaben regelrecht »zurück«. Mit einem Hammer konfrontiert geht die Scheibe ohne größeren (wahrnehmbaren) Widerstand in die Brüche, der steinige Boden unter unseren Füßen gibt sich kaum noch als solcher zu erkennen, wenn er bei einem jedem unserer Schritte von einer zentimeterdicken Sohle von unserem Fuß abgeschirmt wird. Und andererseits gibt es Situationen, in denen gerade dieses Zurückweichen für unsere Handlungsabsichten hinderlich wird, nämlich genau dann, wenn die Dinge mit unseren Absichten nicht (mehr) »mithalten« können, diesen nicht »Stand halten«. So wie wir uns beim Setzen auf einen schon etwas klapprigen, d.h. in schlechtem Zustand befindlichen Stuhl fragen, ob dieser wohl unser Gewicht »aushalten«, d.h. als solcher seine ihm zugedachte Funktion »durchhalten« wird? Hier bringen die Dinge unseren Absichten nicht zu viel (materiellen) Widerstand entgegen, sondern zu wenig. Denn in diesem Zustand haben sie nicht genügend Be-Stand, um von uns sinnvoll eingesetzt werden zu können und dadurch eine nennenswerte Wirkung in einem von uns arrangierten Kausalzusammenhang zu erzielen. Sie sind nicht der Gegen-Stand, den es in dieser Situation bräuchte.
74 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, a.a.O., S. 106.
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5.3
Manifestation, Befähigung und Umwelt
Weltliche Zustände gewahren wir nicht, weil unser Bewusstsein reines Denken wäre, sondern weil wir verkörpert existieren, wir durch unseren Leib einer Wahrnehmungswelt überantwortet sind, dieser aus‐gesetzt und in diese hinein‐versetzt werden. »Wir können Lebewesen nur dann als Wahrnehmende verstehen, wenn wir sie als etwas auffassen, das untrennbar mit einer Umwelt verbunden ist, die wiederum unter den für das Lebewesen relevanten Hinsichten verstanden werden muss.«75 Und entsprechend ist dieses Ausgesetzt-Sein an die bzw. eine, d.h. unsere wahrgenommene Welt keine bloß geistige oder beschauliche Angelegenheit, die mit einem informationsbasierten oder kogntitionswissenschaftlichen Ansatz in ihrer philosophischen Fragwürdigkeit überhaupt genügend gewürdigt wäre. Sondern wahrnehmungsfähig zu sein, bedeutet für die Betroffenen ein eminent räumliches Faktum mit allerlei potenziellen, körperlichen Konsequenzen. Es gibt keine »frontale Ansicht« der Dinge, wie es die Rede von Netzhautbildern, Sinnesinformationen, Abbildern oder mentalen Objekten suggeriert, die in einem zweiten Schritt von unserem Gehirn in (voluminöse) Gegenstände und deren räumliche Position zurückübersetzt werden müssen. »The notion oft two‐dimensional bulgy (or flat) particulars is a product of philosophical (and mathematical) sophistication which can be related to our ordinary conceptual framework, but does not belong in an analysis of it.«76 Lebensweltliche Wahrnehmungsgehalte sind von vornherein »ausgedehnt«, d.h. eminent räumlich und voluminös, sowie (weltlich) verortet, weil sie (für uns) das räumlich‐positionierte In-Erscheinung-Treten von etwas sind, das in ständiger, senso‐motorischer Rückkopplung mit uns verbleibt. Etwas, das sich mehr und mehr sinnlich ausdifferenziert oder ausdifferenzieren könnte, an Intensität zu- oder abnimmt, seine Qualität und seinen Ausdruck dabei verändert und durch diesen Vorgang ein mögliches Wirkungsspektrum indiziert, indem wir schon immer korrelativ dazu einen bestimmten Ort und eine (kogntiv‐informierte) Perspektive einnehmen. Halten wir unseren Blick unbeirrt nach vorne gerichtet und verfolgen hörend mit, wie eine (fremde) Person sich hinter unserem Rücken entlang bewegt, so ist diese Empfindung ja nicht alleine von einem »auditiven Input« her angemessen zu beschreiben, der gänzlich mit einem unspezifischen und objektivierbaren Höreindruck zusammenfallen würde. Denn wir spüren ja 75 Haugeland, John: Der verkörperte und eingebettete Geist, in: Philosophie der Verkörperung, a.a.O., S. 123. 76 Sellars, Wilfrid: Empiricism and the Philosophy of Mind, a.a.O., S. 232. Vgl. auch McDowell, J.: The Content of Visual Experience, in: The Philosophical Quartlery, Bd. 44, Nr. 175 (1994), S. 191: »But whatever may be true about the information‐processing that takes place in the visual system, there are no images (two‐dimensional arrays) in the phenomenology of vision: it is the relevant tract of the environment that is present to consciousness, not an image of it.«
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ebenfalls (gesamtkörperlich), wie die Bewegung der (fremden) Person einen von uns leiblich (vor-)entworfenen Raum durchschreitet und dabei in jedem einzelnen Moment in fühlbarer Beziehung zu jenem virtuellen Zentrum steht, das wir selbst sind. »Das widersprüchliche Phänomen einer vagen Stellenbestimmtheit enthüllt einen vorobjektiven Raum, der ohne Zweifel seine Ausdehnung besitzt […]. Die erste Leistung der Aufmerksamkeit ist also die Schaffung eines ›überschaubaren‹ – perzeptiven oder geistigen – Feldes, innerhalb dessen Bewegungen des erkundenden Organs und gedankliche Entfaltungen möglich sind […].«77 Selbst wenn wir die Augen für einen Moment geschlossen halten, so sehen wir ja nicht nichts, sondern geradewegs die räumliche Verteilung und Irritabilität von Millionen von lichtempfindlichen Sinneszellen, quasi den Raum möglicher Sichtbarkeit und den »Stellplatz«, an den uns unsere verkörperte Existenz »versetzen« würde, wenn der entsprechende, visuelle »Input« dazukäme, der seinen Ort in diesem Gesamtbild bereits angezeigt bekommt. Doch da ist ebenfalls eine ganze Welt an möglicher Hörbarkeit, an Geruch, Geschmack und Berührbarkeit, die an uns herantritt, weil wir bereits an sie herangetreten sind, »in« ihr sind, in sie durch unsere Sinne versetzt und weiterhin kontinuierlich ver‐mittelt werden. Als jeweilige »Zulieferung« für die eine räumliche Welterschlossenheit, die unser wahrnehmendes Empfinden ist, lässt sich auch keines dieser Sinnes-Felder deutlich von den anderen abgrenzen. Der (wissenschaftliche) Glaube, das Sehen liefere uns nur visuelle Daten, das Hören nur auditive etc., beläuft sich auf genau dieselbe Abstraktion wie die Setzung von vereinzelten Sinneseindrücken und schlussfolgert aus physiologischen Voraussetzungen zur Ausübung einer Wahrnehmungsfunktion ein irrtümliches Wahrnehmungssubjekt. Denn es ist nicht unser Auge, unser Gehirn oder unsere Ohren, die wahrnehmen, sondern wir. Und »wir« sind kein cartesianisches, weltabgewandtes pures Denken, sondern wir sind, d.h. wir führen (ein Leben lang) eine verkörperte Existenz in einem von uns mitentworfenen Raum, unserem eigenen Lebensraum. »Wir sagten, der Raum sei existenziell; wir hätten auch sagen können, die Existenz sei räumlich […].«78 Jeder unserer Blicke, der die Welt erkundet, kann bereits spüren, wie ein jedes Ding sich anfühlen würde, würde unsere Hand über dessen Konturen fahren und mit ihm interagieren, jede unserer Berührungen macht sich bereits ein »Bild« davon, wie ein Gegenstand mit derartiger Oberflächenbeschaffenheit auszusehen hat. »In der wirklichen, vor aller Sprache in ihrer Ursprünglichkeit erfassten Wahrnehmung sind sinnliches Zeichen und dessen Bedeutung auch idealiter nicht zu trennen. Ein Gegenstand ist ein Organismus von Farben, Düften, Tönen, Tasterscheinungen, die einander wechselseitig symbolisieren und modifizieren […].«79 77 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 50. 78 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 341. 79 Ebd., S. 61.
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Wir existieren nicht ideell, sondern faktisch. Immer schon befinden wir uns in gewissen »Lebensumständen« und müssen auf diese reagieren, uns zu diesen (aktiv) verhalten. Und »faktische Situationen können mich nur betreffen, da ich je schon von solcher Natur bin, dass es faktische Situationen überhaupt für mich gibt.«80 Das Überschreiten dieser de facto existierenden und uns immer wieder neu arretierenden Grenzen, die unser Körper und unsere leibliche Existenz ohne größere Einbußen verkraften kann, bekommen wir in der Regel ja recht deutlich über unser Schmerzempfinden »signalisiert« – was nichts anderes bedeutet, als dass Schmerzen die sich aufbauende Grenze sind, die wir irgendwann nicht mehr überschreiten können, weil unser Körper sie nicht überschreiten kann, ohne seine eigene Existenz und sein eigenes Wohlergehen zu gefährden. Doch sind diese nur die extremen Ausprägungen eines ganzen Spektrums an Zu- und Abträglichkeit für einen handlungsfähigen Organismus, der in seine eigene Umwelt eingelassen bleibt und diese selbst hervortreibt. Unser Körperbewusstsein wird getragen von einer zugrundeliegenden Bedürfnis- und Motivlage, eine Art durch uns selbst verwirklichtes Existenzniveau, das uns unablässig empfinden lässt, an welcher Stelle unseres biologischen Toleranzbereichs wir uns mit unseren Handlungsmöglichkeiten befinden und welche Richtung wir zum Ausgleich unseres eigenen Zustandes einzuschlagen haben, indem wir ihn mit dem Zustand einer uns zuträglichen Umgebung in Einklang bringen. Unzweifelhaft dient Wahrnehmung daher »dem Organismus [dazu] Informationen über den gegenwärtigen Zustand seines eigenen Körpers und seiner physischen Umgebung zu verschaffen, Informationen, die dem Organismus bei seiner Lebensführung behilflich sind. Das ist einer der wichtigsten Hinweise auf das Wesen der Wahrnehmung.«81 Doch sind derartige »Informationen« eben nicht bereits interpretiert und damit ein Produkt aktiver Kognition. Sondern sie sind das Ergebnis einer fortwährenden Strukturierungsleistung, Resultate sensomotorischer und propriozeptiver Rückkopplungsschleifen eines Organismus, der mit seiner Umwelt interagierend »kurzgeschlossen« bleibt und die er selbst dahingehend wahrnehmend mitgestaltet, dass er sich die Option offenhält, sich in diese (handelnd) einbringen zu können, weil es jeweils sein Möglichkeitsumfeld ist, das ihm seine Wahrnehmung eröffnet.82 Wahr80 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 116. 81 Armstrong, David M.: A Materialist Theory of the Mind, London 1968, übers. V. Jürgen Schröder, S. 209. 82 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 76f. »Beim Empfinden ist von vornherein eine Bezüglichkeit, nämlich der Bezug auf den Organismus mitzudenken. D.h., die Empfindung, die am Anfang steht, ist nie neutral, nie ohne Bedeutung, nie ohne Wert in diesem weiten Sinne […]. Laut Kants Kritik der reinen Vernunft ›affiziert‹ uns die Wirklichkeit, doch diese Affektion ist zumindest in der Kritik der reinen Vernunft […] ohne Affekt gedacht […]. ›Etwas affiziert‹ uns bedeutet dann, es ist ein gewisses rohes Material vorausgesetzt, das auf unsere Formung
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nehmung ist auf dieser Ebene der dynamisch ver‐mittelnde Ausgleich zwischen einer biologischen Bedürfnislage eines sich selbst regulierenden Organismusʼ und Anforderungen, die diesem durch seine Umwelt gestellt werden und die er selbst aufgrund seiner (biologischen) Verfassung und seiner gegenwärtigen Konstitution an diese Umwelt stellen muss. »Wir haben Erfahrung [durch die Wahrnehmung, R.Z.] von einer Welt nicht im Sinne eines Systems von Beziehungen, die jedes Vorkommnis vollständig determinieren, sondern im Sinne einer offenen Totalität, deren Synthese unvollendbar bleibt.«83 Daher kann »diese Musterbildung zu keinem Zeitpunkt als abgeschlossen gelten; vielmehr beeinflusst jede weitere Interaktion durch die Art des Feedbacks die Strukturen, die unseren Wahrnehmungen zugrunde liegen.«84 Wahrnehmungsumgebungen und Handlungsfelder, Wahrnehmungsfelder und Handlungsumgebungen bedingen einander.85 Solange diese Interaktion ungestört verläuft, erleben wir unsere Umwelt für gewöhnlich als mit uns deckungsgleich und unser Körperbewusstsein tritt bis zur völligen Unkenntlichkeit hinter den wahrgenommenen Dingen zurück. Solange unser Durst gestillt, unsere Körpertemperatur (ein-)geregelt ist und unseren Lungen frischer Sauerstoff zugeführt wird, unsere Biologie sich mit den nötigen (Umwelt)-Ressourcen versorgen kann und unser Stoffwechsel mit der (Um-)Welt reibungslos abläuft, nehmen wir für gewöhnlich keine nennenswerte Grenze wahr zwischen uns selbst und unserer Umgebung – wir gehen in dieser sprichwörtlich »auf«. Doch sollte sich auch nur die kleinste Abweichung in diese eingeregelte Wahrnehmungssymbiose und Interdependenz einschleichen, sozusagen an den Ort, an dem dieser »Umschlag« von Welt und Subjekt stattfindet, so büßt unser Körperbewusstsein schlagartig seine welteröffnende Transparenz ein und meldet sich als diejenige Instanz zurück, für die es überhaupt eine derartig qualitativ erschlossene Umwelt gibt.
wartet. Wir haben es also mit einer neutralen Sphäre zu tun […]. Die Gestalttheorie und auch die Phänomenologie der Wahrnehmung gehen dagegen von vornherein davon aus, dass auch Empfindungsgestalten uns ansprechen, dass hier eine Art von Dialog stattfindet. Das Baummodell, das Kant verwendet, reicht nicht aus; es besagt lediglich, dass ein gewisses Material vorausgesetzt ist […]. Es sind in der Welt bestimmte Vorgaben da, aber mehr als ein rohes Gewühl von Empfindungen, das auf eine Ordnung wartet, oder moderner gesprochen: mehr als ein unspezifischer Reiz ist uns nicht gegeben.« 83 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 257. 84 Fingerhut, Joerg et al., Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, a.a.O., S. 87. 85 Vgl. für eine experimentelle Untermauerung dieses Gedankens Turvey, Michael: Preliminaries to a Theory of Action with Reference to Vision, in: Robert Shaw und John Bransford (Hg.), Perceiving, Acting and Knowing, New York 1977, S. 211 – 265, insb. S. 248.
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»Für das Ich ist der Eigenleib, auf dem Niveau der Normalität, schlechthin durchsichtig; so durchsichtig, dass es sich immer schon außerhalb seiner befindet. Der Grund dafür liegt nahe: Der Eigenleib ist der Inbegriff derjenigen Organe, die uns Zugang zur Realität alles dessen, was nicht wir selbst sind, verschaffen. Er ist für das Bewusstsein das, worüber hinaus es durch es selbst gelangt. Die ständige Mittelhaftigkeit des Eigenleibes gibt ihm eine Qualität, die wir auch von anderen Medien kennen, in denen es so etwas wie ›ständigen Aufenthalt‹ gibt und deren Empfindung sich dabei verliert […]. Der Leib als das, was empfindet, tastet oder sieht, ist seinerseits leicht das Übersehene, das selten Getastete, obwohl oft Bearbeitete, und als solches der Wahrnehmung längst Entglittene, das Unempfundene. Das geht sogar ins Normative. Gesundheit und Wohlbefinden lassen sich definieren als Erfüllung der Anordnung, der Leib habe sich nicht bemerkbar zu machen.«86 Eingespannt in einen auf Dauer gestellten Kontakt mit der Welt, sieht sich unser bewusstes Erleben gezwungen, einen Ausgleich zu finden, ein Gleichgewicht zu etablieren zwischen Rezeptivität und Spontaneität, sich einzupegeln und uns in der Welt entsprechend unserer Handlungsmöglichkeiten einzurichten. Daher gewöhnen wir uns auch an so vieles, vorausgesetzt, wir bleiben einem gewissen Anforderungsniveau eben lange genug aus‐gesetzt. Ist das zusätzliche Gewicht, dass wir uns in Form von Büchern in den Rucksack packen und uns selbst damit aufladen anfangs noch deutlich spürbar, so tritt es ja zusehends zurück und damit in einen Wahrnehmungshintergrund ein, dem es sich integriert und in dem es seinen Platz einnimmt und in seiner Intensität in der Folge nachlässt, damit wir trotz dieses »Tatbestandes« nicht »nachlassen« und das bedeutet handlungsfähig bleiben (können). Es verschwindet nicht, aber durch seine anfängliche Registration (eines auf Veränderung geeichten sinnlichen Sensoriums) ist es ihm vorerst möglich, ähnlich transparent zu werden wie unser Eigenleib selbst und erfährt wie dieser vorerst keine weitere Berücksichtigung, weil sich unsere Aufmerksamkeit bereits Neuem zuwenden muss, anderes registrieren87 , bis auch dies nicht mehr akut ist und das Gewicht unseres Rucksacks sich »zurückmeldet«, weil unsere Muskeln zu ermüden beginnen und die Last (auf uns) nicht mehr einfach ignoriert, nicht mehr 86 Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen, a.a.O., S. 659. Vgl. ebenfalls Noë, Alva: Varieties of Presence, a.a.O., S. 12: »Perhaps the defining feature oft he body’s sensual presence is the way it resides (usually) in the background.« 87 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 68: »Wir kennen das von abebbenden Hörgeräuschen, wenn wir Musik oder Straßenlärm so lange hören, bis dieses Hören einen Punkt erreicht, wo wir gar nichts mehr hören, wo die Straße mit ihrem Lärm im Nichts versinkt […]. Und wenn wir Tätigkeiten sehr konzentriert vollziehen, geschieht dies im Allgemeinen so, dass der Hintergrund eine gleichförmige Tönung annimmt, sich einer Geräuschkulisse annähert.«
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einfach »übergangen« werden kann.88 Unsere Möglichkeit, den Rucksack weiter tragen zu können, steht ja im genau umkehrten Verhältnis zu seiner wahrgenommenen Schwere. Ein Phänomen, das wir auch von jeglicher Art Werkzeug her kennen, wenn es nicht nur sporadisch, sondern regulär den Horizont unseres Handelns anleitet und Schritt für Schritt seinen Eingang in die Sphäre eines erweiterten Körperschemas findet. Der Schläger in der Hand des Tennisprofis ist für diesen kein Gegen-Stand mehr im üblichen Sinne, sondern seinerseits ein »Medium« geworden, das ihm den Durch-Gang auf und in einer Situation erlaubt, die sich dahingehend für ihn wahrnehmend umstrukturiert hat, als dass sie seinen erweiterten Fähigkeiten durch ihre eigene Modifizierung Rechnung trägt. Als in die Ausgangsbasis seiner Handlungsmöglichkeiten und in die Rückkopplung eines sich auf die Welt erstreckenden Körperbewusstseins wahrnehmend mit aufgenommen gestattet er ihm einen anderen »Zugang« zu den Dingen und der zu handhabenden Situation und ihren Anforderungen, die sich in ihrer Qualität seinen (medial) über/mithilfe des Schlägers ver‐mittelten Fähigkeiten darbietet. Er nimmt nicht länger den Schläger als Objekt wahr, den er handhabt, sondern er handhabt vielmehr anhand des Schlägers die Objekte einer mit/über diesen bewältigten Situation. »Der Leib hat die Eigenheit, notwendig immer da zu sein als der ausgezeichnete Körper, bei dem ich nicht nur dann und wann, hier oder dort bin, sondern immer und auf Gedeih und Verderb. Dieser Qualität Immer‐da kann etwas angeeignet werden, was es nicht selbst ist, indem es dem Immer‐da als einem identischen Immer‐hier zweitweise integriert wird. Ein Gerät nehme ich in die Hand und übe mit ihm Wirkungen aus, die ich genuin mit der Hand selbst auszuüben vorhabe oder ausüben müsste, wenn ich das Gerät nicht hätte. Lasse ich das Gerät los, fällt es in sein Dort zurück auf die Distanz, aus der es gekommen und angeeignet worden ist. Das in die Hand genommene Objekt verliert sofort die Fähigkeit, als ruhend oder bewegt so zu erscheinen wie ein Außending, es wird sozusagen Leibesglied, nur dass ihm die besonderen Kinästhesen fehlen. Es wird durch 88 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 66: »Plötzlich gewinnt etwas an Gewicht, das normalerweise im Hintergrund bleibt, und damit ordnet sich das Gesamtfeld anders an. Neue Wege tun sich auf, Hindernisse fallen, oder es türmen sich neue Hindernisse auf.« Ähnlich steht es ja auch um die Wahrnehmung unserer Kleidung, der Hose an unseren Beinen, den Schuhen an unseren Füßen. Was ist mit dem Blindenstock, der gerne in diesem Kontext angeführt wird? Statt ihn wahrzunehmen, nimmt der Blinde ja vielmehr mit/über/via ihn war; er ist ein »Medium« in dessen Hand geworden und die Wahrnehmung der Welt beginnt für ihn erst am Ende seines Stockes. Auch dieser hat sich seinem Körperschema integriert, sodass der Komplex aus Wahrnehmung und Handlungsmöglichkeit den Stock mit umfasst. »Der Stock des Blinden ist für ihn kein Gegenstand mehr, er ist für sich selbst nicht mehr wahrgenommen, sein Ende ist zu einer Sinneszone geworden, er vergrößert Umfänglichkeit und Reichweite des Berührens, ist zu einem Analogon des Blicks geworden.« Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 173.
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mein Gehen nie den Wandel der Erscheinungsweisen der Nähe und Ferne ergeben können usw. Eben diese Umkehrung fundiert offenbar die Möglichkeit der Apperzeption des Leibes als Körper.«89 Diese Art von Werkzeuge sind selbst nicht länger durch ihre Undurchsichtigkeit und Gegenständlichkeit gekennzeichnet, sondern ermöglichen ihrerseits selbst die Widerständigkeit der anderen Gegen-Stände neu »einzuregeln«. Um auch hier das Beispiel möglichst einfach zu halten: ohne Schuhe an unseren Füßen »verdichten« sich selbst die kleinsten Kieselsteine zu wahrnehmbaren Wider-Ständen, über die wir nicht einfach hinweggehen, ihren (materiellen) Einfluss auf die Situation (und damit auf uns selbst) nicht unberücksichtigt lassen können. Durch eine dicke Sohle gegen diese abgeschirmt ist der Einfluss ihrer (materiellen) Beschaffenheit (auf uns) bereits soweit zurückgedrängt, dass unsere Handlungsmöglichkeiten geradezu im proportional umgekehrten Verhältnis hierzu in die Situation »hineindrängen« können. Die Dynamik des Gehalts der Wahrnehmung entspricht dem unentwegten Versuch, ein handlungsfähiges und d.h. körperlich existierendes Wesen in einer auf dieses abgestimmten Um-Welt »einzurichten«, ihm eine (dimensionierte) Umgebung (mithilfe propriozeptiven Feedbacks) an die Hand zu geben, die das Spiegelbild seines eigenen Zustandes bleibt. Ein Zustand, der u.a. mithilfe eines Werkezeuges qualitativen Veränderungen unterliegen kann, sodass wiederum unsere wahrgenommene Umgebung eine qualitative Veränderung erfährt. »Das Empfinden selber greift sozusagen auf das Empfundene über, im Empfinden erlebt der Empfindende sich selbst […] und die Welt, d.h., er erlebt sich in der Welt, mit der Welt.«90 Erst in dieser Überschneidung kommt es zu einer (variablen) Konstanz und zu einem dimensionierten, platzierten und intensivierten In-Erscheinung-Treten der Dinge, das darauf verwiesen bleibt, was wir ihnen »entgegenzusetzen« haben. Wir nehmen nicht die Schwere unseres Rucksacks »an« diesem wahr, sondern der Rucksack tritt vielmehr durch/via/über diese Schwere (für uns) in Erscheinung und damit an uns (körperlich) »heran« – Wahrnehmung ver‐mittelt uns und die Schwere des Rucksacks miteinander.91 Und auch eine vermeintliche einfache Farbe ist mehr 89 Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen, a.a.O., S. 666f. Vgl. auch Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 173: »Habe ich die Gewohnheit, einen Wagen zu führen, so sehe ich, in einen Durchgang einfahrend, dass ›ich vorbei kann‹, ohne erst die Breite des Weges mit dem Abstand meiner Kotflügel zu vergleichen. Hut und Automobil sind hier nicht mehr Gegenstände, deren Größe und Volumen sich durch Vergleich mit anderen Gegenständen bestimmte. Sie sind zu voluminösen Vermögen geworden, zum Erfordernis eines bestimmten Spielraums. Korrelativ sind der Einstieg der Untergrundbahn und die Straße zu einengenden Vermögen geworden und erscheinen in eins als für meinen Körper und seine Anhänge praktikabel oder unpraktikabel.« 90 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, Frankfurt a.M. 2013, S. 87. 91 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 86.
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ein »Sehangebot«, mehr eine »Kategorie der Erfahrung«92 als die 1:1-Abspiegelung »vorliegender« Eigenschaften. Auch sie bleibt eingordnet in ein Gesamtgefüge der Erfahrung, in der sie einen bestimmten Stellen-Wert einnimt, wie in der folgenden Beobachtung beschrieben: »Da wir Farben als etwas wahrnehmen, das räumlich lokalisiert ist, können wir annehmen, dass die an einer Stelle wahrgenommenen Farben mit dem dort reflektierten Licht korrelieren. Wenn z.B. eine Stelle weißer erscheint als eine andere Stelle, dann rührt dies daher, dass an der ersten Stelle mehr Licht reflektiert wird […]. Untersuchen wir die Situation aber genauer, stoßen wir auf eine interessante Überraschung. Wenn wir nämlich das Licht, das die Welt um uns herum reflektiert, wirklich messen, werden wir bemerken, dass es keine 1:1 – Beziehung zwischen dem Licht unterschiedlicher Wellenlänge und den Farben gibt, die wir an einer bestimmten Stelle wahrnehmen […]. Stellen, die grün aussehen, reflektieren normalerweise einen größeren Anteil mittelwelligen Lichts und geringe Anteile lang- und kurzwelligen Lichts. Wir könnten nun annehmen, dass die Stelle deshalb grün erscheint, weil sie mehr mittelwelliges Licht reflektiert. Diese Annahme trifft jedoch nur auf die beschränkte Anzahl von Fällen zu, in denen wir die betreffende Stelle isoliert wahrnehmen, d.h., wenn wir alles andere aus dem Gesichtsfeld ausschließen. Doch wenn wir die Stelle als Teil einer komplexen Szenerie wahrnehmen, wird sie auch dann grün erscheinen, wenn sie mehr lang- und kurzwelliges als mittelwelliges Licht reflektiert. Anders gesagt, wenn die Stelle als Teil einer komplexen Szenerie gesehen wird, dann reicht das lokal reflektierte Licht nicht aus, um die wahrgenommene Farbe vorauszusagen. Folglich besteht keine 1:1-Relation zwischen der wahrgenommenen Farbe und dem lokal reflektierten Licht.«93 Das Primäre ist eben auch hier die Möglichkeit zur Binnendifferenzierung, zur sinnlichen Ausdifferenzierung, die Abgrenzungen durch mögliche Nuancierung hervortreten lässt und Übergänge sichtbar macht. Denn betrachten wir auch unsere Wahrnehmungsfähigkeit unter einem kohärentistischen Gesichtspunkt, so dürfte nicht so sehr die einzelne »Qualität« für unsere Orientierung von Belang 92 Vgl. Varela, Francisco et al.: Enaktivismus – verkörperte Kognition, in: Philosophie der Verkörperung, a.a.O., S. 301. Vgl. für die Verteidigung eines Farb-Irrealismusʼ ebenfalls Maund, Barry und Westphal, Jonathan: Colours. Their Nature and Representation, in: British Journal for the Philosophy of Science 48 (1) 1995, S. 143-150. Vgl. auch Waldenfelds, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 82: »Es gibt ein bestimmtes Blau-Verhalten, also nicht bloß ein Blau-Sehen. Das Blaue wird nicht bloß registriert […]. Auch Goethe bringt Farbaspekte mit bestimmten Körperempfindungen in Verbindung. Weil das Blau zurückzuweichen scheint, öffnet und weitet es bekanntlich den Raum. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden beständig unter einem glutroten Himmel leben. Ein roter Himmel würden den Raum völlig verändern.« 93 Verela, Francisco et al.: Enaktivismus – verkörperte Kognition, a.a.O., S. 304f.
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sein, sondern ihre Möglichkeit zur Dimensionierung, zur sinnlichen, abgestuften Ausdifferenzierung. Denn im Gegensatz zu ihrem ästhetischen Modus hat es Wahrnehmung in ihrer lebenspraktischen Einstellung nicht mit bloßen »Erscheinungen« zu tun, sondern (mit einer etwas antiquiert und metaphysisch klingenden Formulierung) mit Manifestationen. Und Manifestationen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Präsenz im Gegensatz zur bloßen Erscheinung von etwas von uns als materielle Gegenwart erlebt wird, als etwas, das Raum einnimmt und womöglich unliebsame Konsequenzen im Verlauf seiner weiteren Dauer, seiner (physischen) Anwesenheit nach sich zieht. Manifestationen erleben wir als materiell, weil sie mani‐fest sind, also »handgreiflich« sind oder werden könnten, auf uns »zugreifen« oder ihrerseits einen von uns ausgehenden »Zugriff« gewähren. Und dazu müssen wir vor allem ihren genauen Ort und ihre genaue Entfernung feststellen können, wozu sie irgendwie für uns farbig in Erscheinung treten müssen. Unsere Spontaneität, unsere Freiheit, unsere Wahrnehmung und unser Handeln sind keine getrennt voneinander operierenden Größen, sondern auch sie bilden eine Einheit, die fortwährend ihre eigenen Realisations-Möglichkeiten vorantreibt und in Wechselwirkung mit diesem Komplex vorgeschrieben bekommt. Es gibt keinen Körper-Geist-Dualismus, sondern ein Kontinuum, in dem (mögliches) Handeln, Wahrnehmen und Denken derart miteinander verschränkt sind, dass sie sich immer schon gegenseitig (wahrnehmbar) »implizieren«. Und daher gibt es auch keinen »innere[n] Vorgang, dem dann, wenn es gut geht, auch äußere Vorgänge entsprechen«94 , keinen getrennt vorliegenden Willen, der sich erst noch »verkörpern« müsste und dazu (reine) Wahrnehmungs-Informationen miteinander verrechnen oder verarbeiteten würde. Auch unser Wille bleibt eingebettet in ein bereits körperlich realisiertes Bewusstsein, für das die Schwere unseres Rucksacks kein bloßes Anzeichen ist, das wir nach Belieben berücksichtigen und vernünftelnd in Erwägung ziehen, es interpretieren könnten, sondern diese Schwere ist die aktive Umstrukturierung unserer (Um-)Welt dahingehend, dass diese einen anderen Handlungshorizont aufbietet, der beginnt, sich um diesen Faktor herumzugrupprieren und unsere gesamte (körperliche) Existenz in Beschlag zu nehmen. Umso mehr unsere Muskeln erschlaffen und umso schwerer unser Rucksack (für uns) wird, desto mehr Willensanstrengung ist ja von unserer Seite aus erforderlich, um weiter durchzuhalten, um gegen unsere eigene, sich mehr und mehr auf unseren Rücken verlagernde Welt »bestehen« zu können. Und wenn wir (aus Gründen körperlicher Gebrechen) ohnehin nicht in der Lage sind, den Rucksack auch nur für kurze Zeit zu tragen, so gibt es überhaupt keinen solchen (Handlungs-)Horizont, in dem unser Wille ein mögliches Bewirken »unterbringen« könnte und die Bekundung eines möglichen »Wollens« bleibt ein pures Lippenbekenntnis, mehr der Wunsch eines Wollen-Könnens. 94 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O, S. 191.
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»Max Scheler [bringt] das schöne Beispiel des Lahmen, der den inneren Willen hat, ins Wasser zu springen, um den Ertrinkenden zu retten, nur dass sein Körper nicht mitmacht und den Befehl verweigert. Innerlich wäre der Lahme ein Lebensretter, weil er ja retten will. Scheler analysiert dieses Beispiel sehr genau; er stellt fest, strenggenommen dürfte der Lahme gar nicht sagen: ›ich will‹, denn ›etwas wollen‹ heißt immer auch ›etwas tun wollen‹ und desgleichen ›etwas tun können‹. Das Tunwollen setzt ein Tunkönnen voraus. Ein Wollen, das abgeschnitten ist von einem entsprechenden Tun- können, wäre ein wirkungsloses Phantom.«95 Und was (von uns) getan werden kann, gibt uns unsere Involviertheit in die Welt bereits wahrnehmend zu verstehen, indem sie ein akzentuiertes Wahrnehmungsumfeld aufbietet, in dem die Dinge sich in einem bestimmten Zustand befinden. Kaum merklich strukturiert sie unentwegt ihre eigene Sensitivität um und gestaltet dadurch unsere Umgebung unter der Hand mit, lässt uns für etwas aufmerksam werden oder etwas in den Hintergrund treten und unterbreitet uns ihrerseits abwechselnde Anhaltspunkte und »Erfahrungsangebote«.96 »Ein Ding ist also in der Wahrnehmung nicht wirklich gegeben, sondern von uns innerlich übernommen, rekonstituiert und erlebt, insofern es einer Welt zugehört, deren Grundstrukturen wir in uns selbst tragen und von der es nur eine mögliche Konkretion darstellt […].«97 Dass wir frieren, bedeutet für unseren Körper und damit für uns ja schlechterdings, dass wir, ohne das Ergreifen aktiver Gegenmaßnahmen, auf dem (besten) Weg sind zu erfrieren. Und das bedeutet nichts anderes, als einen Zustand (in diesem Falle die Außentemperatur) der Welt nicht in Einklang mit unserem eigenen Zustand bringen zu können, keinen Ausgleich, kein »Auskommen« mit einer (Um-)Welt erzielen zu können, die uns ein fortgesetztes Existieren und Einbringen unserer Existenzmöglichkeiten »gestattet«.98 Daher lässt sich die Behauptung wagen, dass wir weniger wahrnehmen (dürften), wie die Welt (an sich) ist, als vielmehr, wie sie (für uns) sein kann. Was nicht bedeuten soll (wie es die Kritik an jeglicher Art an Konstruktivismus möchte), wie wir sie aufgrund unserer epistemischen Ausstattung erkennen können, sondern was sie aufgrund unserer verschiedenen Handlungsmöglichkeiten sein kann, d.h., was sie (für uns) »aufbieten« kann.99 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, Frankfurt a.M. 2013, S. 191. Vgl. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, a.a.O., S. 67. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 377. So wie in der sprachlichen Wendung, dass eine Handlung bspw. in einem sozialen Umfeld oder Kontext nicht »gestattet« ist, d.h. dort nicht stattfinden kann. 99 Denn was sollte (evolutionäre) »Anpassung« am Ende für eine andere Konsequenz haben, als dass unsere Wahrnehmungsfähigkeiten eine Optimierung in Bezug auf die Offenlegung unserer (jeweils veränderten) Existenzmöglichkeiten durchlaufen haben? Vgl. Brooks, Rodney: Intelligenz ohne Repräsentation, in: Philosophie der Verkörperung, a.a.O., S. 146: »Der Mensch tauchte vor 2,5 Millionen Jahren in seiner ungefähren heutigen Form auf. Vor nur 10.000 Jahren entwi-
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Umso stärker wir das Ausmaß der Kälte empfinden, desto weiter fortgeschritten ist ja in der Regel die Unterkühlung unseres Körpers, der wir durch entsprechende Kleidung oder einen Aufenthalt im Warmen (schleunigst) entgegenzuwirken haben. D.h. durch das Aufsuchen einer Umgebung, in der wir sein können, in der wir als der warmblütige Organismus, der wir nun einmal sind, existieren können. Oder (noch) kürzer: wo (zu große) Kälte, Hitze etc. ist, können wir (als dieser Organismus) oder ein Teil von uns (bspw. unsere Hand) nicht sein. Unsere Existenz kann in dieser Umgebung nicht »stattfinden«, weil sie keine Wahrnehmungswelt für uns bereithält, die wir aushalten können, in der wir uns aufhalten können, in der wir unsere eigene Existenz nicht aufrechterhalten können.100 Einer kalten Umgebung ausgesetzt zu sein und ihr aus‐gesetzt zu bleiben, bedeutet, die eigenen Lebensmöglichkeiten (als Warmblüter) nicht in die kalte Umgebung »um‐setzen« zu können. Meine Möglichkeit, dort zu sein, wo Kälte ist, ist zeitlich begrenzt, zu großer Kälte ausgesetzt zu bleiben, bedeutet, langsam aber sicher durch den Wärmeverlust an unsere Umgebung und damit von dem vorherrschenden, kalten (Welt-)Zustand »aufgezehrt« oder »ausgezehrt« zu werden. Denn die wahrgenommene Kälte ist ja das empfundene Ungleichgewicht und damit der mangelnde Ausgleich zwischen uns und einer Umgebung, in der uns unsere Wahrnehmung »ein‐gerichtet« hat und der als solcher überhaupt von uns empfunden wird, weil er unsere Handlungs- und schlimmstenfalls Existenzmöglichkeiten untergräbt. Wenn wir bemerken, wie unsere Hände immer kälter werden, wir sie uns reiben und versuchen, durch unseren Atem ein wenig aufzuwärmen, sie auf »Betriebstemperatur« zu halten, dann sind es nicht einfach materiell beschreibbare Dinge, die in diesem Fall eiskalt werden, ein biologisch‐physikalischer Gegenstand namens »Hand«, der zufälligerweise uns selbst angehört und dessen Existenz durch seine Auskühlung jetzt auf dem Spiel stünde. Sondern es ist eine existenzielle, die Welt mitgestaltende Befähigung, die mehr und mehr ins Hintertreffen gerät: unser Greifen und alles, was mit ihm »einhergeht«, von ihm »ausgeht«, von ihm ergriffen werden kann. Umso eingefrorener unsere Hände sind, desto mehr weicht die Möglichkeit des Greifens aus dieser (Um-)Welt zurück, bis ckelte er den Ackerbau, die Schrift vor knapp 5000 Jahren und Fachwissen erst in den letzen paar hundert Jahren. Dies deutet darauf hin, dass Problemlösungsverhalten, Sprache, Fachwissen und dessen Anwendung sowie Nachdenken ziemlich einfach sind, wenn erst einmal die Grundlage des Daseins und Reagierens zur Verfügung steht. Die Grundlage besteht in der Fähigkeit, sich [wahrnehmend, R.Z.] in einer dynamischen Umwelt zu bewegen und die Umgebung in einem Maß zu erfassen, das hinreichend für die notwendige Lebenserhaltung und Fortpflanzung ist.« 100 Das Gleiche gilt bspw. ebenso für die absolute »Leere«, das Vakuum, wie es im Weltraum vorherrscht. Vgl. Blumenberg, Hans: Die Beschreibung des Menschen, a.a.O., S. 670: »Weil wir da nicht sein können, wo nichts ist, ist eben dieses der ›Widerstand‹, dessen Überwindung ein Höchstmaß an Technik und List erfordert.«
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sie auf ein Minimum reduziert komplett aus ihr verschwunden, aus ihr gewichen ist oder zumindest nicht mehr von uns (als »Wirkungszentrum«) ausgehen kann. Können wir unsere Hände vor Kälte kaum noch öffnen und schließen, so ist die Einwirkungsmöglichkeit auf ein simples Objekt wie eine auf dem Tisch stehende Dose oder einen schlichten Türknauf eine völlig andere, sie muss (von uns) anders verwirklicht werden und diese Realisierungsmöglichkeit bekommen wir von einer Wahrnehmungsumgebung, die sich in einem qualitativ veränderten Zustand befindet, zurück- und widergespiegelt, was durch keine passiv verfahrende Wahrnehmung, die lediglich unwandelbare Verhältnisse abspiegelt, geleistet werden könnte. Konnten wir die Dose oder den Knauf vor der Zustandsveränderung unserer Hände einfach mit unseren Fingern umfassen, so muss dieses Greifen von uns nun imitiert, anders initiiert werden; vielleicht, indem wir versuchen, mit unserem ganzen Gewicht und angelehnt an die Tür, den Henkel zu betätigen oder die Dose eingeklemmt zwischen unseren Ellbogen und der Armbeuge zu transportieren. Die komplette Funktionalität des Greifens schwindet in der Welt der uns umgebenden Kälte, in dem (zu) kalten Weltzustand und es gibt keine »Erstreckung« dieser Befähigung mehr auf und in diesen. Unsere Umwelt ist keine greifbare mehr, bietet keine »Angriffspunkte« mehr, weil Kälte nunmehr dort ist (als wahrnehmbar zu kalter Gegen-Stand), wo vorher unser mögliches, über diese Befähigung initiiertes Eingreifen war oder zumindest sein konnte. Die Erschlossenheit auf unsere Hand zieht sich aus dieser derart erschlossenen und (um-)strukturierten (Um-)Welt zurück und diese gestaltet ihren Zustand komplementär dahingehend um, dass sie die Möglichkeiten unserer Hand aus ihr zurückdrängt, wahrnehmbar als Kälte aus ihr »herausdrängt«. Gleiches gilt für den Fall, wenn wir uns verletzen, einen amputierten Daumen nicht mehr den anderen Fingern gegenüberstellen, ein verletztes Knie nicht mehr durchstrecken können. Plötzlich stemmt sich uns die umgebende Welt in Form von Treppenstufen entgegen, die zuvor wortwörtlich »übergangen« werden konnten, nunmehr aber mit jedem Schritt gefühlt werden und damit da sind, dort sind, wo vorher nur unser reibungsloses Gehen und ein transparentes Körperbewusstsein dieses Gehens war. Oder ein wenig paradox formuliert: dasjenige, was wir wahrnehmen, ist das, was wir (leider noch immer) wahrnehmen müssen, im Sinne von: für unser Handeln berücksichtigen. Das, was wir nicht mehr (bewusst) wahrnehmen, ist dasjenige, was bereits wahrgenommen ist im Sinne von: als Möglichkeit zum (weiterführenden) Handeln bereits ergriffen und damit in seinem (Situations-)Anspruch unlängst zurückgedrängt. Die (Wahrnehmungs-)Welt ist für uns als das Korrelat eines möglichen aktiven Eingreifens oder Ergriffenwerdens existent, in Form eines möglichen Bewirkens oder Einwirkens von uns auf sie und von ihr auf uns. Denn nichts anderes bedeutet ja »Erschlossenheit«, wenn sie von Heideggers Deutung ein wenig absieht und diese um die vermisste, leibliche Wahrnehmungsdimension erweitert: dass sich ein Weg als (körperlich) begehbar erweist, aber noch nicht (ak-
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tiv) begangen ist, dass etwas sich uns als machbar nahelegt, aber noch nicht (aktiv) vollbracht ist. Setzt sich jemand in einem ohnehin schon recht voll besetztem Bus neben oder zu uns, so nimmt uns dieser jemand nicht einfach die Sicht, wird also ausschließlich von unserem Sehen auf eine physiologisch rekonstruierbare Art »bemerkt«, sondern dieser jemand wendet sich an unsere gesamte körperliche Situation, unsere leibliche Verfassung, an unseren eigenen situierten Zustand. Denn selbst, wenn er uns nicht direkt (physisch) berührt, so lastet er doch fühlbar auf uns und zwar vor allem dort, wo seine Körpermasse durch ihre pure Anhäufung verhindern würde, dass wir bspw. unseren Arm ausstrecken oder unsere Schulter bewegen. Er lastet gefühlt dort auf uns, wo er durch sein (physisches) Vorhandensein die Realisation unserer (körperlichen) Möglichkeiten »blockiert«, was aber nichts anderes heißt, als dass er dort (als Widerstand) wahrgenommen wird. Entsprechend fühlen wir uns merklich eingeengt, bedrängt oder beengt, obwohl uns im Grunde zum Sitzen objektiv gesehen (d.h. bezogen auf einen wissenschaftlichen Maßstab gleichbleibender Größen und Abstände) genauso viel Platz verbleibt wie zuvor.101 Nicht umsonst sagen wir auch, wir fühlten uns von gewissen Umständen »bedrängt« oder »angegangen«, obwohl diese noch gar keine konkrete (physische) Wirkung auf uns ausgeübt haben, sondern alleine unsere virtuellen Möglichkeiten betreffen, unser potenzielles, zukünftiges Handeln und In-Situation-Sein. Wahrnehmung ist nicht die subjektive Codierung von objektiven Begebenheiten, sondern die ständige Erkundung von Spielräumen, die sie ebenso wie unser Denken versucht zusammen mithilfe unserer Vorstellungskraft zu überschlagen, abzuwägen und in Stellung zu bringen, um so den (Zeit-)Raum für unsere Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. »Ich realisiere mich als mit allen meinen Kräften, die bedrohliche Situation abwehrend, ich entwerfe vor mir eine gewisse Anzahl künftiger Verhaltensweisen, die die Gefahren der Welt von mir fernhalten sollen,«102 wie Sartre sagt. Unsere Sinnesorgane sind dabei nicht als »Werkzeuge« zu begreifen, sondern sie sind selbst die Artikulation einer zugrundeliegenden Befähigung und Bedürftigkeit, unserer Fähigkeit zu sehen, zu hören, zu riechen etc. Sie werden von uns nicht »in Gebrauch« genommen wie der bereit liegende Hammer. »Ein Auge für sich ist eben kein Auge […]. Es ist nie zuerst ein Werkzeug, das dann auch noch eingebaut wäre. Vielmehr gehört es zum Organismus, kommt aus ihm her, was wiederum nicht heißt, dass der Organismus Organe verfertigt. Organe haben Fähigkeiten, aber eben als Organe, d.h. als zugehörig zum Organismus […]. Nicht das Organ hat eine Fähigkeit, sondern der Organismus hat Fähigkeiten. Er kann sehen hören und dergleichen […]. Die Organe sind nicht dazu, in 101 Ein Phänomen, das sicherlich in der Klaustrophobie seine deutlichste Ausprägung erfahren dürfte. 102 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 93.
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die Fähigkeit nachträglich eingebaut, sondern sie entwachsen ihr und gehen in ihr auf, verbleiben in ihr und gehen in ihr unter […]. Wir dürfen nicht sagen, das Organ hat Fähigkeiten, sondern die Fähigkeit hat Organe […]. Das Fähigsein verschafft sich Organe, nicht werden Organe mit Fähigkeiten oder gar Fertigkeiten ausgestattet.«103 Fähigkeiten sind bestimmte Arten »des Seinkönnens, des Möglichkeit-Habens und -Bietens«104 eines lebendigen Organismus, der im Gegensatz zu einer Maschine mit einem vorgegebenen Zweck ganz wesentlich durch »Selbstherstellung überhaupt, Selbstleitung und Selbsterneuerung«105 gekennzeichnet ist. Und genau für diesen Wesenszug, für die »Selbstleitung«, für das autonom sich realisierende Möglichkeiten-Haben und Sich-Einbringen-Können in die Welt braucht es Wahrnehmung, die als Gesamtheit von Wahrnehmungsfähigkeiten dem Organismus Selbst- und Fremdverortung ermöglicht, ihn innerhalb derjenigen Grenzen orientiert und lokalisiert, die ihm durch seine eigene Existenz gesetzt sind und die er als diese wahrnehmungsfähige Existenz fortwährend selbst setzt, sich selbst gibt im Sinne einer wahrgenommenen Um-Gebung, die er durch seine Eigenbewegung stetig vorantreibt. Als biologisches Leben, das gezwungen ist, sich selbst zu erhalten, haben wir ja nicht gerade einen geringen existenziellen Bedarf an verwertbaren Nährstoffen, für deren ständigen Nachschub und fortwährende Zufuhr bzw. Konstant- und Aufrechterhaltung unser Organismus selbst zu sorgen hat und deren Ausbleiben für ihn den Verlust seiner materiellen Grundlage, d.h. seiner eigenen Existenzgrundlage bedeutet. Das heißt aber, dass unser Organismus diese verwerten können muss und diese Verwertbarkeit wahrnehmen können muss. Daher ist der modus operandi der Wahrnehmung in ihrer lebensweltlichen Ausprägung auch kein interesseloses Wohlgefallen, sondern die Eröffnung einer auf diesen Organismus abgestimmten, d.h. eingestimmten oder eingestellten qualitativen Dimension, die für weitere Einschreibungen und Erfahrungen offen bleibt und die nicht erst noch von uns aktiv (und damit kognitiv) interpretiert werden müsste. Wahrnehmung »bezeichnet eine Erfahrung, in der uns nicht »tote« Qualitäten, sondern lebendige Eigenschaften gegeben sind. Ein am Boden liegendes Holzrad ist für das Sehen ganz etwas anderes als ein Rad, das eine Last trägt. Ein ruhender, weil keinerlei Kräften ausgesetzter Körper sieht anders aus als ein Körper im Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte. Der Anblick einer brennenden Kerze ist für das Kind ein anderer, wenn ihr Licht nachdem es sich einmal an ihr verbrannt hat, nicht
103 Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik, a.a.O., S. 323f. 104 Ebd., S. 324. 105 Ebd., S. 325. Vgl. auch Kant, KdU, A 292.
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mehr zur Berührung einlädt, vielmehr buchstäblich etwas Abstoßendes geworden ist.«106 Wahrnehmung ist nicht selbst schon eine Form von (kognitivem) »understanding«.107 Denn wir können uns ja gerade nicht aussuchen, was, wie und vor allem wie intensiv wir etwas wahrnehmen »wollen«; denn eine gewisse (Wahrnehmungs)Intensität bleibt immer das Spiegelbild eines etablierten Wahrnehmungskontaktes, dem wir uns nur dadurch entziehen können, dass wir diesen Kontakt unterbrechen, entweder das Objekt aus unserer Umgebung oder wir uns aus seiner Umgebung (räumlich) entfernen. »Intensität der Interaktion bedeutet in diesem Zusammenhang, wie ›streng‹ Dinge aneinandergekoppelt, oder sogar, wie eng sie ›zusammengewachsen‹ sind – d.h., die Intensität beschreibt den Grad, in dem das Verhalten eines jeden Dinges dasjenige der anderen beeinflusst und beschränkt.«108 Das kann uns nicht nur das Folteropfer mit Gewissheit versichern, sondern wird ersichtlich an jeder Art von »Abschirmung«, die wir gezwungen sind vorzunehmen, um einem bestimmten Wahrnehmungsgehalt nicht länger in seiner ungetrübten Intensität ausgesetzt zu sein: ob wir uns nun die Ohren gegen den Straßenlärm versiegeln, Schuhe anziehen, um auf dem steinigen Boden laufen zu können, Handschuhe, um das Blech aus dem Backofen zu holen oder eine Sonnenbrille, um im gleißenden Tageslicht noch etwas zu sehen: in allen Fällen sind nicht wir es und unsere »skillfull activity«109 , nach denen sich die Phänomene richten, sondern es sind die (auf unsere körperliche Konstitution bezogenen) Phänomene, nach denen wir uns zu richten haben. Oder anders ausgedrückt: wo von »Aktivität« die Rede ist, mag ihr konstitutiver Beitrag auch noch so gering ausfallen, muss komplementär von einem möglichen Unterlassen ausgegangen werden können. Doch Wahrnehmungsgehalte sind gerade durch ihre kausale Komponente dadurch gekennzeichnet, dass sie sich unserer Verfügungsgewalt entziehen, dass sie (wie von der philosophischen Tradition durchgängig betont) passiv sind. Nicht wir beziehen sie nach Belieben auf uns, sondern sie »beziehen« vielmehr uns (und unser bewusstes Erleben) »auf sich«. Und dieser Vorgang entspricht mehr einer Depersonaliserung, als der intentionalen Spontaneität eines Subjekts zugerechnet werden zu können. 106 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 75. 107 Vgl. Noë, Alva: Action in Perception, a.a.O., S. 3. Was in der Folge dazu führen würde, dass wir behaupten müssten, dass »to perceive something, you must understand it, and to understand it you must, in a way, already know it, you must have already made its acquaintance. Was hieße, dass wir am Ende überhaupt keine neuen Erfahrungen sammeln könnten: »there are no novel experiences.« Vgl. Noë, Alva: Action in Perception, a.a.O., S. 20. 108 Haugeland, John: Der verkörperte und eingebettete Geist, in: Philosophie der Verkörperung, a.a.O., S. 115. 109 Vgl. Noë, Alva: Action in Perception, a.a.O., S. 3.
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»Jede Wahrnehmung findet in einer Atmosphäre von Allgemeinheit statt und gibt sich uns als anonyme. Ich kann nicht in demselben Sinne sagen, ich sehe das Blau des Himmels, wie ich sage, ich verstehe dieses Buch, oder ich entschließe mich, mein Leben der Mathematik zu widmen […]. Wollte ich indessen die Wahrnehmungserfahrung in aller Strenge zum Ausdruck bringen, so müsste ich sagen, dass man in mir wahrnimmt, nicht, dass ich wahrnehme. Jede Empfindung trägt in sich den Keim eines Traumes und einer Entpersönlichung: wir erleben es an dem Betäubungszustand, in den wir geraten, wenn wir uns gänzlich einem Empfinden überlassen.«110 Und trotzdem bleibt »das Empfinden die lebendige Kommunikation mit der Welt«111 und diese Art der intentionalen Inaktivität oder Passivität ist keine passive Hinnahme von gegebenen »Reizen«, sondern eine modifizierte und polarisierte Strukturierung und Umgestaltung einer nach neuen Gesichtspunkten umgewichteten Umgebung, die manches nahelegt und wiederum anderes (für unser Handeln) abwegig erscheinen lässt. Und selbst, wenn wir bei dieser Umgestaltung nicht willentlich im Moment ihres Vollzuges beteiligt sind und dieser Vorgang sich im strengen Sinne nicht auf einen Akt unserer Spontaneität zurückführen lässt, bliebe es doch eine Verkürzung, aufgrund dieser kausalen Abhängigkeit auch die Gehalte unserer Wahrnehmung gänzlich unserer persönlichen Verantwortung zu entziehen, sodass wir uns dem klassischen Schisma von Rezeptivität und Spontaneität anschließen könnten, das besagt, dass »one has next to no responsibility for one’s perceptions, except in the intrumental sense of active angineering […]. No standards by which I live or any such thing, mediates the parting of the eyelids and the visual experience of seeing people […]. I bear no responsibility for the genesis of the experience out of such data […]. To repeat, the perception happens to one, and to a pre‐eminent degree that probably reflects the fact that the origin of the experience is at one: causal, regular, from outside to inside. While my mind is involved in this transaction, I myself am simply not consulted […]. If action stands at one end of a spectrum of responsibility ranging across the entire mental scene, then perception stands precisely at the other end. Self‐determination is at its lowest ebb in this phenomenon.«112 Das mag zwar auf die physiologischen Voraussetzungen (teilweise) zutreffen, doch nicht auf den Gehalt der Wahrnehmung. Denn wie im Verlauf der Arbeit gesehen und vor allem im Abschnitt zu »Vorstellung und Vorstellungswelt« angesprochen, 110 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 253. Vgl. auch S. 280: »Stets bleibt die Wahrnehmung im Modus des ›Man‹. Sie ist kein personaler Akt […].« 111 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 76. 112 O’Shaughnessy, Brian: The diversity and unity of action and perception, in: The contents of experience, Cambridge 1992, S. 219.
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sind wir durchaus verantwortlich für dasjenige, was wir zu sehen bekommen, was uns begegnet und was unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, wodurch die Gehalte unserer Wahrnehmung sehr wohl abhängig bleiben von den »standards by which I live«. Und auch, wenn diese Standards im Moment ihres Wirksamwerdens sich unserer Verfügungsgewalt entziehen, so liegt es doch in unserer Verantwortung, welche Vorstellungen wir uns bis jetzt vom Stand der Dinge gemacht haben.113
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Die Dynamik des Sinnlichen
Wahrnehmung erfindet keine Äquivalente, keine Stellvertreter oder Kopien einer an sich vorliegenden Wirklichkeit. Und gerade dadurch präsentiert sie die Welt, d.h. eine Welt, die nicht die Spiegelung fixer Verhältnisse ist, die von außen nach innen ihren Weg »in« unser Bewusstsein finden, sondern von Verhältnissen, die das Spiegelbild unserer eigenen, handelnden und zum Handeln befähigten Existenz, die der »Ausgleich« zwischen objektiven und subjektiven Faktoren sind. Wahrnehmung stilisiert, fügt zusammen, gruppiert, strukturiert. Selbst ein noch so basaler »Eindruck« unterhält vielfältige Bezüge und ein »roter Fleck dort auf dem Teppich dankt sein eigentümliches Rot dem Schatten, der über ihn hingleitet, seine Qualität in ihrem Erscheinen steht im Bezug zum Spiel das Lichts, ist Moment einer bestimmten räumlichen Konfiguration […]. Und dieses Rot wäre buchstäblich nicht dasselbe, wäre es nicht das ›wollige Rot‹ eines Teppichs. Stets entdeckt die Analyse von Qualitäten ihnen innewohnende Bedeutungen.«114 Unsere Wahrnehmung kennt keine »stummen Impressionen«115 , die nicht der Ausdruck einer lebensweltlichen Bedeutung für uns wären. Doch auch diese Bedeutung ist nicht starr. Es entspricht dem wissenschaftlichen Vorurteil zu glauben, »Sinn und Gegenstand seien schon auf der Ebene der Qualitäten völlig erfüllt und bestimmt«,116 denn auf der Ebene der Phänomene findet sich dergleichen wie ein sich gleich bleibender, konstanter »Eindruck« nicht. 113 Auch wäre es wohl eine etwas fadenscheinige Entgegnung, wenn jemand sich aus der moralischen Verantwortung stehlen wollte, indem er sein Verhalten dadurch zu entschuldigen versucht, dass er darauf verweist, dass er einfach zu »ignorant« gewesen sei, um um auf einen gewissen Missstand aufmerksam zu werden. Denn auch wenn diese Ignoranz ihn vielleicht »blind« sein lässt für die aktuell gebenen Umstände, so bleiben diese nach unserem Dafürhalten doch ganz entschieden das Resultat einer persönlichen Vorgeschichte, seiner persönlichen Vorgeschichte und damit seine ihm (zurecht) gegebenen Umstände. 114 Merlau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 23. 115 Ebd., S. 23. 116 Ebd., S. 23.
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Hier haben wir es immer schon mit Ausdrücken (für uns) zu tun. Denn der unterschiedliche Eindruck, den wir von den Dingen haben entspricht dem Eindruck, den sie auf uns machen können. Die Wissenschaft ist dazu angehalten, genau diese Dynamik zu übergehen und unsere Wahrnehmungsumwelt in einzelne Konstanten aufzuspalten, möchte sie diese als empirisch verfahrende Wissenschaft kausal erklären (können). Denn nur (in einem weiten Sinne »materielle«) »Dinge« wirken ja kausal aufeinander ein und bewirken sich damit auf eine physikalisch beschreibbare und mathematisch formulierbare Weise. In einer solchen Erklärung ist das wahrnehmende Subjekt meist als »Empfänger« einer auslaufenden ReizReaktions-Kette konzipiert, das die einfachen Sinnesdaten bloß noch »entgegennimmt«. Was bedeutet, dass »das Datum nicht weiter zerlegbar [ist], es hat keine inneren Bezüge; eine Rotempfindung ist eine Rotempfindung und damit hat es sich. Einfache Daten haben zudem keine äußeren Bezüge, sie sind, was sie sind, ohne Bezug auf anderes. Am Beispiel der Rotempfindung hieße dies: was rot ist, kann ich für sich empfinden, und zwar ohne andere Farben oder Formen zu berücksichtigen […]. ›Alles Seiende in der Welt ist in sich betrachtet völlig abgelöst und unabhängig voneinander‹, heißt es bei Hume.«117 Ohne »innere Bezüge« würde aber ein anderes Hören oder ein anderes Sehen, das anderes hört und sieht zum Mysterium, das nachträglichen subjektiven »Assoziationen« oder anderen psychischen Vorgängen zugeschlagen werden muss, welche die an sich bestehenden Eindrücke bloß unterschiedlich verarbeiten und zusammenfügen, auseinander herleiten oder synthetisieren. »Die Assoziationslehre […] besteht dann in der Annahme, dass bestimmte Empfindungen regelmäßig mit anderen in Raum und Zeit zusammen vorkommen und Ähnlichkeiten aufweisen, auf diese Weise entstehen dann bestimmte Empfindungskomplexe. Die innere Unabhängigkeit und Bezugslosigkeit betrifft natürlich auch das Verhältnis zum Organismus. Eine Empfindung ist bedeutungs- oder auch wertfrei, d.h. ohne Bezug auch auf eine strukturierte Umwelt, in der etwas anhand von Merkmalen und Wirkmalen ausgezeichnet ist.«118 Uns als Subjekten bleibt in einem solchen Bild nichts anderes übrig, als das »objektive« Phänomen bloß noch (und für den Gehalt des ursprünglichen Phänomens unerheblich) subjektiv zu »überformen«, ohne dass unser Wahrnehmungsvollzug an dessen grundsätzlicher Gestaltung beteiligt gewesen wäre.119 Was trotz dieser 117 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 48. 118 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 48. 119 Auch so genannte »Regel-Kreis«-Modelle der Wahrnehmung verbleiben meist bei der Aufspaltung des Wahrehnumgsgehaltes in subjektive und objektive Anteile.
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offensichtlichen Schwächen die Verobjektivierung von Sinneseindrücken bis in die moderne Theoriebildung hinein motiviert, ist nun genau jene Bewahrung der (vermeintlichen) Konstanz des Eindrucks. Eine Annahme, die trotz anderslautender Beteuerungen von vielen Wissenschaftlern (und Philosophen) noch lange nicht aufgegeben wurde und noch immer wirkmächtig in sämtlichen Stimulus-ResponseModellen der Wahrnehmung anzutreffen ist. »Konstanz besagt in der Psychologie, dass es […] eine konstante und eindeutige Zuordnung gibt zwischen den physikalischen Eigenschaften eines Reizobjektes und dem entsprechenden Perzept, dem Wahrnehmungsgehalt bzw. der entsprechenden Reaktion.«120 Diese Herangehensweise und eine kausal motivierte »Konstanzhypothese«121 verhindern aber, Sinneseindrücke in ihrer »positiven Unbestimmtheit« zu denken, sozusagen die Möglichkeit ihrer inneren Modifikation nachvollziehen zu können, die nicht damit zu erklären ist, das subjektive Moment zur unwesentlichen Subjektivierung einer vorliegenden Objektivität herabzusetzen, wie es schon im locus classicus eines solchen Modells zu finden ist, der Wahrnehmungstheorie von Hermann von Helmholtz‹.122 Ausgangspunkt für diese Art der Theoriebildung bleibt es, unseren Wahrnehmungsgehalt in allererste Bestandteile aufzuspalten, um so vermeintlich sehen zu können, was an diesen unmittelbar gegeben ist und was ihnen nachträglich (bspw. durch unsere Gedächtnisleistungen) hinzugefügt wird. Hintergrund bleibt auch hier ein Körper-Geist-Dualismus, bei dem die Frage, wie die Vermittlung von objektiven und subjektiven Momenten zustande kommt, erst gar nicht aufgeworfen wird. »Sobald ein Vorgang typisierbar und berechenbar ist, kann ich eine Funktionsgleichung aufstellen, ohne dass ich jetzt fragen muss: Wie werden verschiedene Realitäten miteinander vermittelt? Mit der Funktionsgleichung hört das Problem der Vermittlung auf.«123 Was hier variabel und dynamisch ist, sind ausschließlich die psychischen und damit rein subjektiven Zustände von Subjekten, die auf ein und denselben Reiz lediglich verschiedentlich reagieren und deren Wahrnehmungsgehalte sich getrennt von den sie verursachenden Objekten der »Außenwelt« ausbilden. Denn offensichtlich nehmen wir ja das ein oder andere Mal (im Wahn oder im Traum) Dinge wahr, für die sogar überhaupt kein externes Objekt verantwortlich gemacht werden kann.124 120 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O, S. 48. 121 Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 26. 122 Helmholtz, Hermann v.: Handbuch der physiologischen Optik, in : Allgemeine Encyklopädie der Physik, Bd. 9 Leipzig 1867. 123 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 20. 124 Diese Argumentationsfigur wird auch für das in diesem Kontext bekannte »argument from illusion« herangezogen, dass zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen Anlass gegeben hat bezüglich des ontologischen Statusʼ der von uns wahrgenommenen Dinge. In seiner Standardauslegung besagt es in aller Kürze, dass das von uns wahrgenommene Objekt etwas anderes sein muss, als das Objekt, das diese Empfindung hervorgerufen hat. Denn im Falle von rein imaginierten und halluzinierten Objekten, gibt es ja keinerlei reales »Vorbild«, das für die
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»Ein und dieselbe« Empfindung kann prima facie ganz unterschiedliche Ursachen haben, beispielsweise, wenn wir Lichtblitze sehen, obwohl wir uns nur die Augen gerieben haben«125 und auch wird ein und dieselbe Ursache, bspw. eine bestimmte »Schwingung« von der Haut als Wärme, von den Augen hingegen als Licht wahrgenommen.126 Ein und dieselbe Strahlung ruft bei Person A einen Roteindruck hervor, bei einem rotblinden Menschen dagegen nicht. Die Frage nach der Verursachung bleibt daher das Kernstück einer jeden empiristisch argumentierenden Wahrnehmungstheorie, die fragen muss, wie die Dinge der Außenwelt auf unsere Sinnesorgane einwirken und mit welcher rekonstruierbaren Gesetzmäßigkeit sie das tun. Die vermeintliche Unabhängigkeit des Eindrucks von seiner Ursache führt dann ebenfalls zu der klassischen Gegenüberstellung zwischen »Empfinden« und »Empfundenem« und der Einführung naturwissenschaftlich beschreibbarer Kräfte. »Die Eigenschaften der Objekte der Außenwelt […], die wir ihnen zuschreiben können, [können] nur Wirkungen bezeichnen, welche sie entweder auf unsere Sinne oder auf andere Naturobjekte ausüben«.127 Dementsprechend »haben wir es mit Wechselwirkungen verschiedener Körper zu tun, mit Wirkungen auf einander, welche von den Kräften abhängen, die verschiedene Körper aufeinander ausüben. […] Alle Eigenschaften der Naturkörper kommen deshalb auch erst zu Tage, wenn wir sie in die entsprechende Wechselwirkung mit anderen Naturkörpern oder mit unseren Sinnesorganen setzten.«128 Was unserer eigenen Position auf den ersten Blick wahlverwandt klingt durch den weiter oben ins Spiel gebrachten Begriff der unterschiedlichen »Realisationen«, unterscheidet sich doch in wesentlicher Hinsicht von dieser Auffassung: denn vor dem Hintergrund eines Repräsentationsmodells der Wahrnehmung degradiert man deren Gehalt zum bloßen Anzeichen bzw. zum Symbol und damit zum Stellvertreter bzw. zur Repräsentation für etwas, das selbst nicht in der Wahrnehmung
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wahrgenommenen Eigenschaften verantwortlich gemacht werden könnte. Gleiches gilt für Fälle »nicht‐veridischer« Wahrnehmung wie dem gebogen wirkenden Stock, der ins Wasser getaucht wird o.Ä. Vgl. für eine Diskussion Firth, Roderick: Austin and the Argument From Illusion, in: Philosophical Review 73 (1964), S. 372 – 382; Reynolds, Steven L.: The Argument From Illusion, in: Noûs 34/4 (2000), S. 604 – 621. Helmholtz, Hermann v.: Handbuch der physiologischen Optik, in: Allgemeine Encyklopädie der Physik, a.a.O., 584. Vgl. ebd. S. 584f. Eine Auffassung, die ihren klassischen Vorläufer in dem Traité de la Lumière von René Descartes findet. Vgl. ders,. Le Monde ou Traité de la Lumière. Die Welt oder Abhandlung über das Licht, hg. v. G.M. Tripp, Berlin 1989, S. 10: »Dieselbe Kraft kann im Ohr einen Ton erklingen lassen und an einem anderen Körperteil die Empfindung des Schmerzes hervorrufen.« Helmholtz, Hermann v.: Handbuch der physiologischen Optik, in: Allgemeine Encyklopädie der Physik, a.a.O., S. 588. Ebd. S. 588.
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anzutreffen ist. »Ob es sich in Wirklichkeit so verhält, wie es uns erscheint, hängt von Umständen ab, die dem Inhalt unserer Wahrnehmung äußerlich sind. Genau diese Neutralität erlaubt der Begriff Repräsentation einzufangen […].«129 Doch die Dinge verhalten sich gerade so und auf diese Weise, weil wir sie wahrnehmen, mit ihnen interagieren und sie aus diesem Grund einen gewissen Zustand für uns realisieren. Esse est percipi bleibt als ontologische Annahme selbstverständlich so lange abwegig, als man sie als existentia est percipi denkt.130 Denn natürlich bleibt die Materie des Tischs erhalten, auch wenn niemand sie wahrnimmt oder denkt. Und niemand würde behaupten wollen, »die Alpen wären nicht da gewesen, wenn wir sie nicht als die Alpen konstruiert (benannt, beschrieben, beobachtet…) hätten«, wie es u.a. Markus Gabriel gerne »antirealistischen« Positionen unterstellt131 ; doch Dinge (ihre erlebte Form, Größe, Ausdehnung, Härte, Lage etc.) verwirklichen sich unterschiedlich, d.h., sie erzielen eine andere Wirkung, je nachdem für wen sie exisiteren, d.h. in welcher Lebens- und Wahrnehmungs-Welt sie als solche vorkommen. Für die Ameise wird ein »Stuhl« bloß eines von vielen weiteren Hindernissen sein, das sie bezwingen muss, um an ihre Nahrung zu gelangen, ein steiler Hang mehr in ihrer Umgebung. Und auch, wenn völlig unklar bleiben muss, ob er vergleichbare, sinnliche Qualitäten für diese aufweist, wenn die Wahrnehmung der Ameise der Brennpunkt seines Wahrgenommenwerdens ist, so ist er doch mit Sicherheit eines nicht für sie: nämlich ein Stuhl. Und das nicht, weil sie ihn anderes interpretieren, denken, (geistig) repräsentieren oder diskursiv konstruieren würde als wir, sondern weil sie klarerweise aufgrund ihrer körperlichen Existenz anders mit ihm interagieren muss und kann.132 Denn zu sein, bedeutet nicht in erster Linie Erkanntsein oder Erkennbarsein, (sprachlich‐diskursiv) Konstruiertsein oder einfach nur An‐sichSein, sondern vor allem erlebbar sein, bzw. (um einen Ausspruch Quines zu paraphrasieren) gebundene Variable in einem möglichen Wirkungszusammenhang 129 Willaschek, Marcus: Der mentale Zugang zur Welt, Frankfurt a.M. 2003, S. 211. 130 Gerade George Berkley, auf den der Ausspruch zurückgeht, fasst die Aussage bekanntlich im zweiten Sinne auf. Vgl. Berkley, George: Prinzipien der menschlichen Vernunft, Hamburg 1964, § 22 – 23. 131 Gabriel, Markus: Existenz, realistisch gedacht, in: Der Neue Realismus, a.a.O., S. 192. Ein ähnliches Unverständnis für die zur Debatte stehende Frage legt auch Alan Musgrave an den Tag, wenn er schreibt: »Das bedeutet also, dass eigentlich die ganze Wissenschaft auf dem Holzweg ist. Die Astronomie ist falsch: Sie nimmt nämlich an, dass es eine Welt gab, bevor es Worte gab. Die Geologie ist falsch: Sie nimmt dasselbe an. Die evolutionäre Biologie ist ebenfalls falsch.« Musgrave, Alan: Putnams modelltheoretisches Argument gegen den Realismus, in: Kritischer Rationalismus und Pragmatismus, hg. v. Volker Gadenne, Amsterdam 1998, S. 182. 132 Im Grunde sollte die Diskussion um die verschiedenen Realismen und »Antirealismen« in der Philosophie weniger darum gehen, ob die Wirklichkeit denkunabhängig ist, als vielmehr, ob wir sie durchgängig in all ihren Facetten als interaktionsunabhängig begreifen können.
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zu sein.133 Das bedeutet aber gerade keine Reduzierung der Wirklichkeit auf ihr mögliches Wahrgenommen- und Erkanntwerden, sondern eine Erweiterung und Pluralisierung der Wirklichkeit auf unterschiedliche Lebenswirklichkeiten hin. Für die Fruchtfliege, die in unser Glas rutscht, ist es kein »Getränk«, das sie wie wir an den Mund führen und daraus trinken könnte, d.h. mit ihm auf eine für uns typische Weise als Glas interagieren kann, sondern für sie (und ihre Handlungsmöglichkeiten und ihre Situation, in der sie sich befindet) ist es in diesem Moment der sich realisierende See, in dem sie zu ertrinken droht.134 Und wäre sie Teil einer Sprachgemeinschaft, die genau diesen (lebensweltlichen) Umstand reflektierten würde, so würde er als innerweltliches Vorkommnis mit Sicherheit auch als solcher benannt und semantisch kategorisiert werden. Die Welt ist für verschiedene, in ihr engagierte, körperlich existierende und befähigte Subjekte nicht einfach unterschiedlich gedacht oder repräsentiert, sondern unterschiedlich dimensioniert. Und diese Art der Dimensionierungen und qualitativen Veränderungen sind in der Wahrnehmung verwirklicht, sie sind die (Um-)Welt, wie sie durch die Wahrnehmung eines Lebewesens für dieses »bereit‐gestellt« wird. Denn wir müssen nicht aktiv und damit kognitiv schlussfolgern, »dass grüne Flächen aus einer gewissen Entfernung in etwas verändertem Farbenton erscheinen; [und folglich, R.Z.] gewöhnen wir uns von dieser Veränderung 133 Das ist auch einer der Gründe, warum der pure Materialismus immer eine Verkürzung bleiben wird und mit ihm zusammen alle Arten von Reduktionismen. Denn »Materie« ist eben nur ein Faktor, der zum Sein von etwas beiträgt, wie es die von Aritoteles unterschiedenen vier Wirkursachen schon früh festgehalten haben. Dass der moderne Wissenschaftsbetrieb hiervon nur noch die causa materialis und die causa efficiens kennt und für seine Theoriebildung verbindlich werden lässt, ist vor dem Hintergrund eines (vermeintlich) »robusten« Realismus, wie er in den meisten Wissenschaften unhinterfragt angenommen wird, verständlich und zwingend; doch ebenso verständlich ist, dass causa formalis und causa finalis sich nur einem Denken nahelegen können, das Interaktion und deren realitätsstiftende Kraft anerkennt. Vgl. zu dem Begriff der »gebundenen Variable« Quines Überlegungen zu »ontologischen Verpflichtungen« in seinem klassischen Aufsatz »On what there is«, in: ders., From a logical point of view, Cambridge 1980, S. 1 – 20. 134 Das ist aber gerade keine (radikale) Form von Idealismus oder Antirealismus, die behaupten würde, wie Nagel sagt, dass »etwas existiert, beudeut[e], dass es wahrgenommen wird; etwas, das exisitert, muss auch ein Gegenstand unserer möglichen Erkenntnis sein oder von uns verifiziert werden können oder so beschaffen sein, dass wir es zumindest im Prinzip bestätigen könnten.« Nagel, Thomas: Der Blick von nirgendwo, a.a.O., S. 158. Denn wie sollten wir selbst »im Prinzip« die lebensweltlichen Vorkommnisse der Fruchtfliege verifizieren oder bestätigen können? Oder Zugang zu ihrer Lebenswelt erhalten? Immer wird es für uns ja das »Getränk«, der »Fruchsaft« oder »2,6 – Dichlorphenolindophenol« bleiben, in dem sie ihr Ende gefunden hat. Es geht hier daher nicht um die (epistemologische) Frage, ob die »Wirklichkeit völlig unabhängig von unserer Fähigkeit ist, über sie zu denken« (ebd. S. 159 [Meine Hervorhebung]) oder »dass es in bezug auf alles, was es gibt, möglich sein muss, dass es von uns gedacht werden kann – oder sogar möglich, dass wir empirisch zu ihm gelangen.« (Ebd., S. 162).
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abzusehen, und lernen das veränderte Grün ferner Wiesen und Bäume doch mit der entsprechenden Farbe zu identifizieren.«135 Sondern das veränderte Grün ferner Wiesen ist das Anschaulichwerden ihrer Ferne für uns, welches nicht über das »Zeichensystem unserer Sinneseindrücke«136 zustande kommt. Was uns hier stellvertretend mit Helmholtz begegnet ist vielmehr eine klassische Überintellektualisierung sinnlicher Vorgänge. Denn was wir eigentlich suchen, »is an account not of our thought or judgment or belief that, say, there is a whole bottle there, or a whole cat there. What we want is an account of our perceptual sense of their presence.«137 Unsere Wahrnehmungseindrücke sind keine interpretationsbedürftigen Zeichen, die erst noch »aufgefüllt« oder vervollständigt werden müssten durch unbewusste Vorgänge wie vorintentional ablaufende Gedächtnisleistungen oder nachträgliche Assoziationen, die bedarfsgerecht einspringen, um die blinden Flecken zu ergänzen. Diese Annahme beschwört nämlich über kurz oder lang u.a. den so genannten Humunculus-Regress herauf: denn wie könnten es Bilder, Zeichen oder Anzeichen sein, die wir wahrnehmen, wenn nicht noch einmal eine Instanz in uns sie als Bilder sieht oder als Zeichen interpretiert?138 Wir können Wahrnehmungsgehalte nicht so erklären, dass sie abermals von einem Dritten gesehen, gefühlt oder gehört werden müssen, um als solche existieren zu können. Gleiches gilt von der Anwendung einer »Regel« auf »sinnliches Datenmaterial«; denn auch diese Beschreibung führt unweigerlich in einen infiniten Regress. »In« uns nimmt niemand mehr wahr, sondern wir nehmen wahr und interpretieren anschließend etwas, das sich uns als solches bereits dargeboten hat. »It is incoherent to suppose that seeing an object depends on the resemblance between a picture in the eye and the object, for that presupposes that there is, as it were, someone inside the head who perceives the resemblance. This would lead to regress, as there is no less difficulty explaining how the interior observer can see the interior picture.«139 Sensuelles Empfinden wird in seiner solchen Blickrichtung irrtümlicherweise »aus einer Analyse des Empfindungsbewusstseins gewonnen, [also] nicht im Hinblick auf das in der Reflexion erfassbare Erlebnis des Empfindens, sondern es wird 135 Helmholtz, Hermann v.: Handbuch der physiologischen Optik, a.a.O., S. 607. [Meine Hervorhebung]. 136 Ebd. S. 593. [Meine Hervorhebung]. 137 Noë, Alva: Action in Perception, Cambridge 2006, S. 60. 138 Vgl. Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. a.a.O., 397: »Das Gemälde [ist] nur [ein] Bild für den disponierten Zuschauer, der ihm durch seine […] imaginative Apperception erst die Geltung oder Bedeutung eines Bildes verleiht.« 139 Noë, Alva: Action in Perception, a.a.O., S. 45.
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konstruiert auf Grund der Voraussetzung, dass es verursacht ist durch ein physiologisches Geschehen […].«140 Statt der Verschiebung des Problems sollten wir stattdessen »einen Begriff von Empfinden bilden, der wirklich das Empfinden als ein Strukturmoment des Erlebens fasst«141 . Denn wenn wir uns philosophisch Aufschluss über ein Phänomen erhoffen, dann können wir nicht einfach in wissenschaftlicher Manier auf theoretische Vorannahmen, Ableitungen und Zusatzannahmen zurückgreifen, die an den Phänomenen selbst nicht mehr aufweisbar sind. Zusatzannahmen, wie sie bei »Sinnestäuschungen« wie den Müller-Lyerschen Strecken142 nötig werden, um die theoretisch veranschlagte Konstanz des Eindrucks bewahren zu können. Entsprechend ironisch kommentiert ein Phänomenologe wie Waldenfels diesen Erklärungsansatz mit den Worten: »Wir sehen in den jeweiligen Konstellationen dasselbe, dieselbe Linie, denn es ist jeweils dasselbe Reizmaterial, das uns dargeboten wird […]. Die objektiven Reize wirken, wie sie wirken, denen kann man die Täuschung nicht anlasten. Infolgedessen – und das ist eine typisch neuzeitliche Denkweise – werden subjektive Faktoren eingeführt, die den objektiven Bestand sozusagen verfälschen. Solch subjektive Faktoren wären Aufmerksamkeitsmodi, Gedächtnisprojektionen (frühere Erlebnisse, die unsere Wahrnehmung verzerren) und Assoziationen, die äußerlich hinzutreten und ihren Einfluss geltend machen.«143 Doch ab welchem Punkt beginnen diese (Zusatz-)Annahmen, das ursprüngliche Phänomen zu verzerren, anstatt es näher zu erläutern? Die Müller-Lyerschen Strecken sind ja nachweislich nicht gleich lang in der Art, wie wir sie erfahren, d.h. als (intersubjektiv zugängliche) Phänomene in der Wahrnehmung erleben. Sie sind nicht gleich in der Art, wie sie uns vor aller wissenschaftlichen (kausal motivierten) Re-Konstruktion erschlossen sind, d.h. in der Art, was sie ausdrücken. »Wenn wir also objektive Reize ansetzen, die in vergleichbaren Fällen immer gleich sind, so machen wir eine idealisierende Annahme, die in der Wahrnehmung 140 Landgrebe, Ludwig: Der Weg der Phänomenologie, a.a.O., S. 114. 141 Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. a.a.O., S. 114. 142 Siehe Abb. 2 143 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 51f. Vgl. für eine deratige Argumentationsstrategie vor dem Hintergrund eines (naiven Realismus) in bezug auf unsere Wahrnehmungsgehalte bspw. Brewer, B.: Perception and Content, in: European Journal of Philosophy 14/2 (2005), S. 169: »The intuitive idea is that, in perceptual experience, a person ist simply presented with the actual constituents oft he physical world themselves. Any errors in her world view which result are the product oft he subject’s responses to this experience, however automatic, natural, or understandable in retrospect these responses maybe. Error, strictly speaking, given how the world actually is, is never an essential feature of experience itself.«
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überhaupt nicht aufweisbar ist.«144 Der »Empfänger« (das wahrnehmende Subjekt), wie ihn Physiologie und Psychologie postulieren, ist kein passiver Registrator, sondern aktiver Initiator seiner eigenen Eindrücke, die dadurch Ausdrücke (für ihn) werden und eingebettet bleiben in Kontexte, an deren (nicht intenional zu verstehenden) Entwurf er selbst beteiligt bleibt. »Die Dinge sind uns immer nur in einer bestimmten Organisationsweise gegeben, und diese ändert sich mit dem Wechsel der Aufmerksamkeit. Die Relevanzkriterien ändern sich. Es geht also nicht um ein bloßes Erscheinenlassen dessen, was schon da ist, sondern um ein originäres Zur-Erscheinung‐bringen, in dessen Verlauf die Dinge zu dem werden, was sie sind.«145 Doch auch diese Art der Zusammen-Stellung und Konfiguration ist keine Organisation von vereinzelten »Informationen«. »Die physiologischen »Daten« selbst unterliegen bereits biologischen und psychologischen Gesetzen […]. Das Elementare ist weder das, dessen Zusammenfügung die Ganzheit ergibt, noch auch lediglich Anlass zur Konstitution des Ganzen. Schon das elementarste Vorkommnis hat seinen Sinn, und die höheren Funktionen bewerkstelligen nur eine höhere Integration oder bessere Anpassung, die untergeordneten Operationen benutzend und sublimierend.«146 Als wahrnehmungsfähige Subjekte sind wir nicht der Schlussstein einer auslaufenden Kausalkette, sondern deren Anstifter und was objektivierend verfahrende, empiristische Wahrnehmungstheorien einer nachgeordneten Verstandes-Operation anlasten möchten, erweist sich bei näherem Hinsehen als bereits von Anfang an im Phänomen selbst mit enthalten. »Anders als der Empirismus annimmt, steht am Anfang nicht das Einfache, sondern ein artikulierter Zusammenhang. Um es deutlich zu sagen: Einfachheit entsteht erst durch Vereinfachung […]. Erfahrung bedeutet deshalb keine bloße Reproduktion fertiger Formen, mittels derer etwas registriert oder reproduziert wird, das in der Außenwelt oder im Geiste vorhanden wäre, sondern schon die Wahrnehmung hat es mit dem zu tun, was Merleau-Ponty ausdrücklich als création, als Schöpfung bezeichnet […], weil es hier zu Strukturveränderungen kommt, z.B. im Übergang vom Unbestimmten zum Bestimmen. Wahrnehmung bedeutet auch eine Spezifizierung: etwas bestimmt sich zu dem, was es ist, in der Erfahrung.«147 Indem die wissenschaftliche »Theorie der Empfindungen alles Wissen aus bestimmten Qualitäten aufbaut, konstruiert sie von jederlei Äquivokation befreite, 144 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 55. 145 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 63. Vgl. ebenfalls die ausführliche Studie von Schütz, Alfred: Das Problem der Relevanz, Frankfurt a.M. 1982. 146 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 28. 147 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 62f.
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reine, absolute Gegenstände, die eher ein Ideal der Erkenntnis als deren wirkliches Thema sind […].«148 In sich bestimmten Qualitäten würde Subjektivität aber immer äußerlich bleiben und es wäre kaum verständlich zu machen, wie Ausdruck überhaupt zustande käme und erst recht nicht, wie dieser sich in künstlerischen Kontexten und ästhetischen Gestaltungen mitteilen ließe. Würde unsere Erfahrung bloß zusammenstellen und aneinanderreihen, auf was sie im Grunde keinen Einfluss hat, so hätten wir es nie mit Ganzheiten, nie mit einer Wahrnehmungswelt, nie mit unserer Wahrnehmungswelt zu tun, »nie verlören die ihm zugrunde liegenden Empfindungselemente die sie als Sinnliches definierende Undurchdringlichkeit, nie erschlössen sie sich einer innerlichen Verbindung […].«149 Die Integration von als eigenständig definierten Empfindungselementen nachträglichen oder vorgreifenden Gedächtnisleistungen oder anderen kognitiven Operationen zu überlassen, bedeutet ein Ausweichen vor dem Phänomen, nicht dessen Erklärung; denn wie sollte es unserem Gedächtnis möglich sein, genau diejenige Erinnerung oder Projektion auf das Phänomen anzuwenden, die ihm entspricht, wenn in dem Phänomen selbst nicht schon vorgezeichnet wäre, welche Erinnerung, Ergänzung oder »Projektion« es verlangt? Eine derartige (Hilfs-)Hypothese, die Licht ins Dunkel bringen und Ordnung im sinnlichen Chaos stiften soll, wirft mehr Fragen auf, als sie zu beantworten erlaubt. Denn letztlich »setzt der Verweis auf die Erinnerung voraus, was er erklären wollte: die Gestaltung des Gegebenen, die Sinnbildung im sinnlichen Chaos. Im gleichen Augenblick, in dem die Hervorrufung von Erinnerungen ermöglicht ist, wird sie mithin auch schon überflüssig, da, was sie leisten sollten, schon geleistet ist.«150 Und auch Assoziationen (ob nun in der Wahrnehmungs- oder Kunstphilosophie auf den Plan gerufen) unterliegen demselben Einwand: nur wenn das Wahrgenommene bereits einen gewissen Sinn vorzeichnet, können die richtigen Assoziationen an ihm greifen und wirksam werden. Sinneseindrücke induzieren sich aber nicht kausal, sie implizieren, motivieren sich vielmehr durch denjenigen Sinn, der sie als Ganzes durchwirkt und zueinander in Beziehung setzt. Wahrnehmungsübergänge sind nicht nach der Art zweier materieller Körper zu beschreiben, die sich gegenseitig anziehen oder abstoßen und dadurch im physikalischen Sinne bewirken würden. »One consciousness is not the cause of another consciousness: it motivates it«151 , wie Sartre in seiner Abhandlung über das Imaginäre schreibt. Wahrnehmungsübergänge sorgen für ihre eigene Stimmigkeit in eine fortlaufende 148 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 30. 149 Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 33. 150 Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O, S. 39. 151 Vgl. Sartre, Jean-Paul: The Imaginary, a.a.O., S. 26.
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Wahrnehmungsreihe, schaffen neue Anknüpfungspunkte und Querverweise. Eine Dynamik, die Husserl als »Abschattungen« beschrieben und ausführlich analysiert hat: Abschattungen fließen ohne erkennbaren Übergang ineinander, integrieren sich ohne ersichtlichen, kognitiven Akt von selbst untereinander. Die gesehene Seite von etwas »meint« immer schon mehr, als in der aktuellen Wahrnehmung konkret anzutreffen ist, müssten wir uns (unter Beibehaltung der Konstanzhypothese) darauf beschränken zu beschreiben, was wir »tatsächlich« (von hieraus) sehen (können). Die gesehene Seite weist sozusagen über sich hinaus152 und verweist von sich aus auf eine mögliche Vervollständigung eines sich aufbauenden Eindrucks, der auf meine Perspektive und meine Handlungsmöglichkeiten bezogen bleibt. Doch bestehen Abschattungen (entgegen Husserls Beschreibungen) nicht nur zwischen »Seiten« eines Gegenstandes, wenn darunter (wie oben kritisiert) bloße Ansichten verstanden werden, sondern auch zwischen dessen Seiten, wie wir sie mit dem Begriff der Realisation eingeführt haben. Sie betreffen ebenso die Art und Weise, wie sich etwas in einer Situation gibt oder in diese eingebracht ist und dabei mit seiner Umgebung interagiert. Der Würfel im Würfelbecher hat nicht nur ein gewisses Aussehen, das verschiedene Ansichten erlaubt, sondern er macht u.a. auch ein bestimmtes Geräusch, das sich als ihm zugehörig, d.h. von ihm ausgehend oder auf ihn einwirkend erfahren lässt, wie es bspw. bei seinem Rollen über den Tisch oder seinem Klappern im Becher erfahren werden kann. Was wir tatsächlich sehen, der Gehalt unserer Wahrnehmung sind keine einzelnen Eindrücke, sondern immer schon gewisse Physiognomien, Anordnungen, unterschiedliche, weltliche Zustände. »Das Unmittelbare sind keine Impressionen, sondern Sinnstrukturen und Gestalten.«153 Beispielsweise das Aussehen und damit die übergreifende Gestalt einer ganzen Landschaft, eines Gesichtes, einer Geste oder einer Person.154 »Wie Malraux in einer seiner besten Passagen zeigt: schon die Wahrnehmung stilisiert. Eine Frau, die vorbeigeht, ist für mich nicht zuerst ein körperlicher Umriss, eine angemalte Gliederpuppe, ein Schauspiel an einem bestimmten Ort, sondern 152 Abschattungen besitzen dabei wechselseitig einen »signitiven« als auch einen »intuitiven« Anteil. Signitiv bezeichnet das Mitgemeinte, das Hin-Deutende, den Richtungssinn, das aktuell Nicht-Dargestellte, von dem uns aber durch die intuitiv wahrgenommene, also gegenwärtig anschaulich gesehene Seite bewusst ist, wie wir es durch Interaktion mit dem Gegenstand in weitere »intuitive Fülle«, also weitere, konkrete Anschauung überführen könnten. Sozusagen die antizipierte und in der Wahrnehmung selbst gegenwärtige Voraussicht auf das, was noch »fehlt« oder hinzukommen könnte, würden wir entsprechend mit dem Gegenstand interagieren. Doch verbleibt auch Husserl hier noch in einem Verständnis von Anschauung und Begriff, bei dem er von einer Deckung und einer Anschauung-»Entsprechung« ausgeht, die sich demgemäß in einem »Erfüllungsbewusstsein« niederschlägt und was ihn am Ende zu seiner »transzendentale Wende« führen wird. Vgl. Husserl, Edmund: LU II, a.a.O., S. 551ff. 153 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 65. 154 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O, S. 42.
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sie ist ›ein individueller, gefühlsmäßiger, sexueller Ausdruck‹, ein Leib, der mit seiner Stärke und Schwäche, in ihrem Gang oder im Klappern ihres Absatzes auf dem harten Boden ganz und gar gegenwärtig ist.«155 Das bedeutet, dass »der Rückgang auf die Phänomene selbst als Grundschicht ein bereits von irreduktiblem Sinn erfülltes Ganzes entdecken [lässt]: nicht lückenhafte Empfindungen, verknüpft durch eingeschobene Erinnerungen, sondern die Physiognomie, die Struktur etwa der Landschaft oder des Wortes, ursprünglich stimmig mit den Intentionen des Augenblicks wie auch mit vorangegangenen Erfahrungen.«156 Unter der Schirmherrschaft wissenschaftlichen Kausaldenkens zerfällt die uns umgebende Welt kulturelleren und natürlichen Seins hingegen zu einem kontingenten Zufallsprodukt, dessen Stimmigkeit für unser Erleben willkürlich erscheinen muss. »Nichts im sinnlichen Anblick einer Landschaft, eines Gegenstandes, eines Körpers bestimmt dieses Seiende dazu ›froh‹ oder ›traurig‹ auszusehen. Aufs Neue das, was wir wahrnehmen, durch die physikalisch‐chemischen Eigenschaften auf unsere Sinnesorgane einwirkende Reize bestimmend, betrachtet der Empirismus Zorn oder Schmerz, den ich auf einem Antlitz lese […] als nicht wahrgenommen. Objektiven Geist gibt es für den Empirismus nicht […]. Freude und Traurigkeit, Lebhaftigkeit und Erschlaffung sollen bloß Gegebenheiten der Introspektion sein, und wenn wir sie unserer Umwelt und anderen Menschen zuschreiben, so nur, weil wir uns selbst die Koinzidenz dieser inneren Wahrnehmung mit äußeren Anzeichen festgestellt haben, die sich ihnen durch die Zufälligkeit unserer Organisation zugesellen.«157 Unsere Wahrnehmungswelt ist aber eine Welt echten Ausdrucks, weil sie eine Welt echter Integration ist. Unsere (Um-)Welt ist bis in die letzten Winkel hinein bevölkert von aufgebrachten Gesten, groben Händen, eleganten Silhouetten, freundlichen oder zornigen Gesichtern und nicht mit Zorn »auf« einem von dieser Modifikation unberührten, sich gleichbleibenden und konstant verhaltenden, physikalischen Objekt namens »Gesicht«, dem wir interpretierend den Zorn erst noch (kognitiv) »ablesen« müssten. Ein Ebenenunterschied, von dem ein Großteil der traditionellen Psychologie nach wie vor ausgeht. Für sie bleibt »das assoziierte Material und die unmittelbare Farbe oder der Klang, wodurch es hervorgerufen wird, voneinander getrennt. Sie erlaubt nicht die Möglichkeit einer Verschmelzung, die so vollkommen ist, dass beide Teile zu einem Ganzen zusammengefasst werden. Die Psychologie behauptet, die unmittelbar durch die 155 Merleau-Ponty, Maurice: Die indirekte Sprache, in: ders., Die Prosa der Welt, a.a.O., S. 80. 156 Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 42. 157 Ebd., S. 44.
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Sinne wahrgenommenen Eigenschaften seien die eine Sache und ein Gedanke oder eine bildhafte Vorstellung, die dadurch entwickelt oder angedeutet werden, seien ein anderes, entschieden geistiges Moment […]. Das Unvermögen zu begreifen, das, was da vorgeht, nicht äußerliche ›Assoziationen‹, sondern innere, wesensmäßige Integration ist, hat zu gegensätzlichen, aber gleichermaßen falschen Auffassungen vom Wesen des Ausdrucks geführt.«158 Als Vermittlerin ist Wahrnehmung der gemeinsame Boden, auf dem sich Subjektivität und Objektivität gegenseitig durchdringen und zu Ausdrucksqualitäten führen, die mitgesehen, miterlebt und miterfahren werden, was uns nur solange abwegig erscheint, als wir unsere Sinne als Nachrichten-Übermittler oder Informationsleiter (für unsere Erkenntnis) konzipieren. »Die Wahrnehmung nach unten verkürzen, indem man sie nur als Erkenntnis nimmt, ihren existenziellen Grund aber vergisst, heißt zugleich, sie nach oben beschneiden, da so ein Entscheidendes stillschweigend übergangen und als selbstverständlicher Erwerb nur hingenommen wird: dass eine wahre und exakte Welt in der Wahrnehmung erst entspringt. Erst wenn sie gleichermaßen sich fähig erweist, die Lebenszugehörigkeit wie auch die rationale Intention der Wahrnehmung aufzuhellen, ist die Reflexion gewiß, die Mitte des Phänomens zu treffen.«159 Und eine solche »Mitte« wäre in einem ersten Schritt die Rede von einer Reiz-Anreiz-Konstellation, anstatt die Postulierung eines Reiz-Reaktions-Modells der Wahrnehmung. Denn mit dem Wort Anreiz hält die aktive Beteiligung der Wahrnehmung Einzug in ihre eigenen Phänomene, die diese nicht nur aufnimmt, sondern auf sie im wortwörtlichen Sinne re-agiert, d.h. auf die sie herausfordernden Phänomene selbst konstitutiv zurückwirkt, indem sie diese vorab einer Integration unterwirft, an der sie beteiligt bleibt. »Die Selbstorganisation, von der die Gestalttheoretiker sprechen, vollzieht sich auf der Ebene 158 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, a.a.O., S. 117. 159 Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 76f. Analog betonen auch bedeutende Vertreter des Enaktivismus die Notwendigkeit zur Auffindung eines Mittelweges, einer via media zwischen Repräsentationalismus und Konstruktivismus, um erklären zu können, wie wir uns die Entstehung einer stabilen und regelhaften Wahrnehmungswelt vorzustellen haben, die in ihrer Konstituion auf handelnde Akteure bezogen bleibt. Vgl. Maturana, Humberto R. und Varela, Francisco J.: The tree of knowledge. The biological roots of human understanding, Colorado 1992, S. 255: »[We have] to confront the problem of understanding how our existence – the praxis of our living – is coupled to a surrounding world which appears filled with regularities that are at every instant the result of our biological and social histories […] to find a via media: to understand the regularity of the world we are experiencing at every moment, but without any point of reference independent of ourselves that would give certainty to our descriptions and cognitive assertions. Indeed the whole mechanism of generating ourselves, as describers and observers tells us that our world, as the world which we bring forth in our coexistence with others, will always have precisely that mixture of regularity and mutability, that combination of solidity and shifting sand, so typical of human experience when we look at it up close.«
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der Erfahrung. Sie kommt nicht durch Denkakte zustande, indem ich in das Erfahrungsfeld eindringe, etwas methodisch herausgreife, beobachte, beurteile […].«160 Um im Bild zu bleiben: schon vor jeder kognitiven Weiterverarbeitung ist der Eindruck oder eben richtiger: der Ausdruck durchsetzt mit jenem lebensweltlichen Einschlag, der ihn zum Ausdruck für uns werden lässt. »Der ›psychophysische Vorgang‹ ist also nicht vom Typ der ›mundanen‹ Kausalität, das Gehirn wird zum Ort einer ›Formgebung‹, die sich noch vor dem kortikalen Stadium vollzieht und sogleich beim Eingang eines Reizes in das Nervensystem das Verhältnis von Reiz und Organismus beeinflusst. Die Erregung wird von transversalen Funktionen erfasst und reorganisiert, die ihr bereits eine Ähnlichkeit mit der Wahrnehmung verleihen, die sie veranlassen wird. Diese im Nervensystem selbst sich abzeichnende Formgebung, als Entfaltung einer Struktur, kann nicht als eine Reihe von Vorgängen dritter Person, als Übertragung der Bewegung oder Bestimmtheit von einer Variablen auf eine andere vorgestellt werden.«161 Für den Empirismus sind Wahrnehmungsphänomene nur äußerlich verbunden und auf die Frage, wie und warum es gerade dieser oder jener Gegenstand, dieser oder jener Anblick vermag, unsere Aufmerksamkeit zu erregen, bleibt er uns die Antwort schuldig. Für ihn ist nichts an dem Gegenstand selbst aversiv oder abstoßend, anziehend oder unheimlich, sondern es ist unsere subjektive Projektion, die ihn hierzu macht. »Eine große Pappdose scheint mir [aber nun einmal, R.Z.] schwerer als ein kleinerer Karton aus derselben Pappe, und einfach an das Phänomenale sich haltend, möchte man sagen, man fühle ihn zum Voraus schon schwerer in der Hand.«162 Die irrtümliche Angleichung von Wahrnehmung und Urteil müsste uns zudem in die Lage versetzen, den Eindruck, den etwas auf uns macht, willentlich nachzukorrigieren. Doch unser Wissen um das Zustandekommen von »Sinnestäuschungen« ändert ja gerade nicht die Art und Weise, wie sie uns erscheinen. Unser Wissen um die »gleiche« Länge bspw. der Müller-Lyerschen Geraden kann gerade nicht verhindern, dass wir sie weiterhin als nicht gleich lang sehen.163 Erst, wenn wir Hilfslinien einfügen, um uns davon zu überzeugen, dass sie »tatsächlich« (im Sinne der angenommenen Konstanz) gleich lang sind, sehen wir sie auch solche. Sprich: erst, wenn die Figur durch die Linien in ein neues Wahrnehmungs-Feld und einen neuen Wahrnehmungskontext eingerückt wird 160 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 67. 161 Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 99. 162 Ebd., S. 56. 163 Vgl. Crane, T.: The nonconceptual content of experience, a.a.O., S. 151: »Perceptions are resilient to conlcusive counterevidence […] They are not revisable in the light of either other perceptions or beliefs that the perceiver has.« Vgl ebenfalls Crane, T.: The Waterfall Illusions, in: Analysis 48 (1988), S. 142 – 147.
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und so für diese eine neue Wahrnehmungsumgebung entsteht, erfährt auch ihr Wahrnehmungssinn eine Veränderung, sodass »die Hilfslinien eine neue Bedeutung in die Figur hineintragen, die sie nunmehr durchdringt und nicht mehr von ihr zu lösen ist.«164 Die Anbringung der Hilfslinien an der Müller-Lyerschen Täuschung fügen der alten Zeichnung nicht einfach einen weiteren Aspekt hinzu, sondern unterwerfen das Dargestellte einer völlig abgewandelten Integration und Modifikation. Durch diese ist die Empfindung als Ganzes berührt, es ist, wie Merleau-Ponty schreibt, »als gehörten sie nicht mehr zu derselben Welt«.165 Wahrnehmung ist in einem jeder ihrer Akte schöpferisch anstatt bloß passiv registrierend, da sie zu einer jeweils unterschiedlichen Integration der Phänomene untereinander führt, was nicht das Einfügen in eine übergreifende Ordnung bedeuten kann, Subsumption von sich gegenseitig nicht weiter berührenden Elementen, die lediglich verschieden koordiniert würden. Integration bedeutet eine Veränderung des eigentlichen Kerns des Phänomens und damit sinnliche Implikationen, die als Ausdruckwerte erfahren werden können: als die Schwere des Wagens, als Sprödigkeit der Faser, als Glätte des zugefrorenen Sees. Diese schöperische Seite der Wahrnehmung, das Sich-Aufbauen und Zusammenschließen von Wahrnehmungseindrücken zu wahrgenommenen Zuständen, scheint mir nur die Kehrseite unserer persönlichen (Handlungs-)Freiheit zu sein. Denn nur, wo eine Entkopplung von Reiz und direkter Reaktion vorliegt, kann es zu jenen Freiräumen kommen, die ein Handeln auszeichnen, das nicht völlig präformiert ist. »Empfindung und Auslösung sind [beim Menschen, R.Z.] dissoziiert. Dies bedeutet, dass das organische System nicht ständig handeln muss, sondern den Reiz als Empfindung gleichsam auf sich beruhen lassen kann […]. Bewusstsein ist nicht nur eine Instanz der ständigen Verarbeitung von Reizen, sondern auch eine Fähigkeit zum reaktiven Aufsichberuhenlassen von Reizen. Anstelle des entsprechenden Rezeptors ist das interne Aufsichberuhenlassen eines schon rezipierten Reizes getreten, der auf seine Integration gleichsam wartet.«166 Doch dieser Zusammenschluss, die Integration und Rekonfiguration findet auf der Ebene der (bewussten) Wahrnehmung und nicht erst in einer kognitiven und nachträglichen Verarbeitung statt. Der eigentliche »Ort« dieser (bewussten) Kopplung ist nunmehr unser phänomenologisch verstandene Leib, d.h. unsere körperliche Existenz selbst und kein davon losgelöstes (Selbst-)Bewusstsein oder reines Denken; denn es ist alles andere als »gewiss, dass ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann.«167 Nur, weil wir inkarnierte Subjekte sind, so die hier verfolgte These, sind wir im Gegenteil schon immer 164 165 166 167
Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O, S. 57. Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O, S. 58. Blumenberg, H.: Beschreibung des Menschen, a.a.O., S. 554f. Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1992, S. 79.
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mit unserer Umwelt »verwoben«168 , ihr immer schon körperlich mit all unseren Sinnen überantwortet und ausgesetzt. Nur aufgrund unserer Leiblichkeit »haben« wir eine Welt und sind »in« dieser Welt.«169
5.5
Leibliche Existenz
Wenn wir philosophisch über unser Dasein nachdenken, geht es uns nicht um einen hier oder dort vorfindlichen (biologischen) Gegenstand, dem im Nachhinein noch Subjektivität zugesprochen würde, die in dessen Kopf oder anderenorts im wörtlichen Sinne »dingfest« gemacht werden könnte. Sondern es geht uns um die Bestimmung eines spezifisch menschlichen (Welt-)Verhältnisses, das dadurch gekennzeichnet ist, dass es sich (wie weiter oben beschrieben) ekstatisch realisiert, d.h., immer schon in zeitliche und räumliche Verhältnisse »um«- oder »ausgelegt« hat, in raum‐zeitlichen Strukturen »bewegt« und von diesem Verständnis ausgehend auch das Sein der Dinge erschlossen findet.170 Unsere eigene Existenz kann nicht einfach mit den objektivierbaren, raum‐zeitlichen Koordinaten unserer (biologischen) Körperausmaße identifiziert werden, noch mit einem substanzlosen Denken, das irgendwo »in« dieser Materie herumgeistert. Weder hat (unser) Dasein den Charakter von (dinglicher) Substantialität, noch die Eigenart einer völlig entdinglichten, reinen Geistigkeit, die von ihrem statischen, extra‐mundanen Null-Punkt aus die Welt in sicherer Distanz beobachten würde oder auch nur könnte. Unser Verhältnis zur Welt ist nicht derart exzentrisch, dass wir es uns leisten könnten, die Vorgänge der Realität lediglich zur Kenntnis und damit kontemplativ zur Erkenntnis zu nehmen.171 Unsere eigene Existenz ist nicht derart voyeuristisch, sondern unser eigener »Ort«, der Ort unseres selbstbewussten Erlebens und 168 Vgl. ebd., S. 76. 169 Alle unsere Bezüge zur Welt sind daher im Grunde gar keine »Bezüge«, wenn darunter ein Abstand oder eine Kluft verstanden wird, die erst noch überbrückt werden müsste. Vgl. Wiesing, Lambert: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, a.a.O., S. 61: »Der Mythos des Mittelbaren entwirft ein Bild vom Dasein, in dem das Subjekt nicht ein Teil der Welt ist, sondern der Welt gegenübersteht, und sich Gedanken macht, wie es einen Zugang zu dieser jenseitigen Welt bekommen kann.« Eine Vorstellung, die ihren deutlichsten Gegenentwurf philosophiegeschichtlich freilich durch Heideggers Dasein erfahren hat und nicht erst durch Merleau-Pontys leibliches Zur-Welt-Sein. 170 Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, a.a.O., S. 57: »Der Mensch ›ist‹ nicht und hat über dies noch ein Seinsverhältnis zur ›Welt‹, die er sich gelegentlich zulegt. Dasein ist nie ›zunächst‹ ein gleichsam in‐sein-freies Seiendes, das zuweilen die Laune hat, eine »Beziehung« zur Welt aufzunehmen.« 171 Vgl.: Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik, a.a.O., S. 41: »Nur »ein rein geistiges Wesen zu sein [sic!], kann es sich so zusagen leisten, denn die einzige Aufgabe, die ihm ex-
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Wahrnehmens ist inmitten der Welt. »Es gibt dieses berühmte Bild von Mach, in dem er zuerst wiedergibt, was er sieht, und dann sich selbst mit ins Bild setzt. Er zeichnet auf, wie er auf der Couch im Zimmer liegt, doch von wo er sich da liegen sieht, dieses Wo geht nicht in das Bild ein, außer als ein Loch im Abgebildeten, als eine leere Stelle im Bildraum.«172 Doch sind wir wirklich jenes »Loch« im Sein, wie Hegel es uns unterstellt hat? Oder jenes »Nichts«, mit dem Sartre uns unüberbrückbar von den an sich seienden Dingen unterschieden sehen möchte?173 Denn es kann ja »nicht einfach darum [gehen], dass dort, wo sich seine Augen und sein Kopf befindet, eine Leerstelle ist, dass Kopf und Augen ausgespart sind, sondern [dass] der Ort des Sehens nicht im Bild [ist].«174 Und der »Ort des Sehens«, unsere eigene, erlebte Position als »Ich‐hier [meint] nicht einen ausgezeichneten Punkt des Ichdinges, sondern versteht [sich] als In-Sein aus dem Dort der zuhandenen Welt, bei dem Dasein als Besorgen sich aufhält.«175 Was die klassische Vorstellung von der Position des Subjekts radikal umkehrt – sollte es zuvor überhaupt eine gehabt haben. Denn die von Descartes vorgenommene Verlegung des Denkens in eine ausdehnungslose Substanz (die res cogitans) bleibt die Verlegung des Denkens in eine ortlose, nirgendwo lokalisierbare und immaterielle Substanz. »Das cartesische Cogito wahrt noch einen Zipfel der Zeit, da es nur Bestand hat, solange (quamdiu) wir denken, doch einen eigenen Ort hat es nicht.«176 Doch gehen wir von unserem eigenen Erleben aus, so ist es wenig überzeugend zu behaupten, dass ein unverorteter Ich-Punkt die Welt aus sich hervorgehen ließe, denn vielmehr erleben wir die uns umgebende Welt als dasjenige, das unentwegt unser Ich und unseren eigenen Ort, unsere jeweilige Perspektive hervorgehen lässt. »Ist es nicht wahr, dass unsere Stellung im Raume immer nur indirekt ist, d.h., dass sie durch den perspektivischen Aspekt der Dinge widergespiegelt wird, der den Standpunkt anzeigt, der unserer sein muss?«177 D.h. der Ort sein muss, an dem wir »sind«, d.h. an dem wir uns bewusst befinden und selbst einfinden? »Das Hier meint nicht das Wo eines Vorhandenen, sondern das Wobei eines entfernenden Seins bei… ineins mit dieser Ent-Fernung. Das Dasein ist gemäß seiner Räumlichkeit zunächst nie hier, sondern dort, aus welchem Dort es auf sein Hier zurückkommt.«178 Der eigene, räumlich erlebte Standpunkt ist in ständiger Um- und Herausbildung begriffen und erhält
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plizit übertragen ist, ist die der Weltbeobachtung, und zur Erfüllung dieser Aufgabe scheinen ausschließlich kognitive Fähigkeiten auszureichen.« Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 31.Siehe Abb. 3. Vgl. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 74. Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 35. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 2006, S. 119. Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, Frankfurt a.M. 2009, S. 18. Merleau-Ponty, Maurice: Lob der Philosophie, in: Ders., Das Auge und der Geist, a.a.O., S. 190. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, a.a.O., S. 107.
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seine Erlebnisqualität korrelativ zu der perspektivischen Ausrichtung der uns umgebenden Dinge und deren instrumentellen Handhabe, ihren sich immer wieder neu formierenden Angriffspunkten, die von einer Welt aufgeboten werden, die uns umgibt. Unser Dasein entwirft weniger »die« Welt (im Sinne eines radikalen Konstruktivismusʼ), als sich selbst in der Welt, mit und über die Welt. Es entwirft seinen eigenen Platz, seine eigene Lage und seine eigene Perspektive unter ständigem Rückbezug auf seine Umgebung. Und erst dadurch erkennt es Möglichkeiten, die Möglichkeiten sind von hier aus gesehen und (potenziell) von dort aus ergriffen. »Wir erfahren gleichzeitig Nähe und Ferne, Innen und Außen, Selbst und NichtSelbst, weil unsere Erfahrung diese Umkehr (ist), die uns weit weg von ›uns‹ in die Anderen, in die Dinge platziert‹ […]. Die Erfahrung ist diese paradoxe Bewegung, die uns gleichzeitig in uns selbst und in den Dingen platziert, an diesem Punkt, an dem die ›Absonderung‹ von Außen und Innen stattfindet.«179 Indem unser Dasein sich zuallererst aus dieser Art der weltlichen Zerstreutheit, seinem »AufgegangenSein« in der Welt, wie es Heidegger nennt, »losreißt«, erscheint es sich selbst aus einem Dort her, weist sich so zusagen seinen eigenen Ort, sein eigenes »Zwischensein« (sein »Inter-Esse« im Wortsinne) innerhalb der erfahrenen Dinge zu, indem es sich von den erfahrenen Dingen her unterscheidet; so zusagen über den Umweg einer Umwelt, auf die es sich fortwährend verwiesen sieht.180 »In dem, was wir die Welt des Unmittelbaren nennen können, die sich unserem unreflektierten Bewusstsein darbietet, erscheinen wir uns also nicht zunächst, um danach in Unternehmungen geworfen zu werden. Sondern unser Sein ist unmittelbar ›in Situation‹, das heißt, dass es in Unternehmungen auftaucht und sich zunächst erkennt, insofern es sich auf diesen Unternehmungen spiegelt. Wir entdecken uns also in einer von Forderungen bevölkerten Welt, mitten in Entwürfen ›auf dem Weg zur Realisierung‹«.181 Unser erlebtes Hier und unser gelebtes Jetzt entspringt über/via den »Durchgang« einer von Anforderungen bevölkerten, gelebten und belebten lebensweltlichen Räumlichkeit, sodass wir unsere eigene Position unablässig in Wechselwirkung 179 Dastur, Françoise: Merleau-Pontys Begriff von Erfahrung, in: Phänomenologie der Sinnereignisse, a.a.O., S. 220. 180 Das mag ein wenig an strukturalistische Thesen erinnern, auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen kann. Denn deren Fokus liegt im Allgemeinen auf der Frage, ob außerindividuelle Strukturen letztlich für eine Subjekt-Konstitution verantwortlich sind oder das Subjekt diese Strukturen quasi im Alleingang setzt. Heidegger scheint (in Sein und Zeit) Letzteres zu favorisieren, lässt aber durch seine (spätere) Insistenz auf eine intentionslose Welterschließung Interpretationsspielraum, an den Strukturalismus und Dekonstruktivismus bekanntlich angeschlossen haben. 181 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 107.
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von den »besorgten« Dingen und dem Stand ihrer jeweiligen Realisation her angewiesen bekommen. »Das wahre cogito ist nicht das intime Zusammensein des Denkens mit dem Denken dieses Denkens: beides begegnet sich allererst durch die Welt hindurch. Nicht ist das Weltbewusstsein gegründet auf das Selbstbewusstsein, sondern beide sind gleichursprünglich: Eine Welt ist für mich da, weil ich nicht ohne Wissen von mir selbst bin; und ich bin mir selbst nicht verborgen, weil ich eine Welt habe.«182 Und es ist unser »Leib« (verstanden als die von uns gelebte, phänomenologische Einheit all unserer Empfindungen, Kognitionen und Handlungsintentionen), der diesen »Durchgang« über/durch die Welt ermöglicht. Er ist es, der gemäß MerleauPonty die eigentliche Schnittstelle zwischen Ich und Welt darstellt oder vielmehr: der unser Ich ist. Er ist es, der uns in der Welt verankert, er ist der eigentliche Ort, an dem dieser Umschlag stattfindet, die gesuchte Ver-Mittlung sich ereignet. In seinem Vermittlungsreichtum eröffnet dabei der Leib, wie er in seinen frühen Arbeitsentwürfen schreibt »eine ›dritte Dimension‹, diesseits von reinem Bewusstsein und reiner Natur, von Aktivität und Passivität, von Autonomie und Dependenz, diesseits auch von reflexivem und positivem Wissen.«183 Wenn wir diesen Zwischenbereich analog zu Heideggers Dasein nicht zum (physischen) Gegenstand unter (physischen) Gegenständen erklären, nicht fragen, »was ist der Leib, welche Eigenschaften hat er, wie sieht er aus?«, sondern »was tut der Leib, was leistet der Leib, wie funktioniert er?«184 , dann denken wir nicht »ausgehend von einem Dualismus, der dann doch nicht ganz dualistisch ist, sondern ausgehend vom Leib als einer besonderen Existenz und einer besonderen Struktur, in der zugleich die Welt hervortritt.«185 Denn gerade unser Leib selbst bekundet ja deutlich sein eigenes Eingelassenheit in seine eigene Umgebung, bleibt Ausdruck seines persönlichen Zur-Welt-Seins, wie es an Mimik, Gestik und Verhalten eines jeden Menschen in jedem einzelnen, lebendigen Moment erfahren werden kann. 182 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 346. Während in Sein und Zeit all diese Momente bereits mit hineinspielen, erlaubt uns erst Merleau-Pontys Konzeption des (phänomenologisch verstandenen) Leibes, die hier verfolgte »Bewegung« weiter aufzuklären und Heideggers Dasein so zusagen eine konkretere »Basis« zu verschaffen, die dieses in der Welt »verankert« . Heidegger selbst sieht den ausstehenden Klärungsbedarf einer Räumlichkeit von Dasein, lässt dies aber in Sein und Zeit noch weitgehend offen. Vgl. Sein und Zeit, a.a.O., S. 108: »Die Verräumlichung des Daseins in seiner ›Leiblichkeit‹, die eine hier nicht zu behandelnde Problematik in sich birgt, ist mit nach dieser Richtung ausgezeichnet.« 183 Waldenfels, Bernhard: Einführung in die Phänomenologie, Paderborn 1992, S. 59. 184 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 42. 185 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 42.
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Unter den Händen einer mechanistischen Erklärung der Wahrnehmung degeneriert dagegen auch diese Art des spiegelbildlichen Ausdrucks des eigenen weltlichen Eingebettetseins zur bloßen Impression. Das »Empfinden wird abgelöst von Affektivität und Motorik, [wird] zur bloßen Rezeption einer Qualität«186 und der »Leib [ist] nicht mehr mein Leib, sichtbarer Ausdruck eines konkreten Ich, sondern nur mehr ein Gegenstand unter anderen.«187 Begreifen wir Wahrnehmung dagegen als Vollzugs- und Realisationsform eines körperlich existierenden, handelnden, planenden und fühlenden Wesens, so ist dem wissenschaftlichen Versuch, uns selbst und unser Bewusstsein in die Reihe des An‐sich-Seins einzugliedern, eine klare Absage zu erteilen. Dazu müssen wir dem Dualismus Descartes eine Alternative entgegensetzen, die uns nicht mit einem »hinter« oder »über« der Welt befindlichen, (bloß) denkenden Ego und seinen Bewusstseinsleistungen identifiziert, noch dürfen wir uns selbst in kognitionswissenschaftlicher Manier auf unsere neuronalen Zustände reduzieren oder einem sonstigen Materialismus und Reduktionsmus das Wort reden. Denn in der an Descartes anschließenden Reflexionsund Bewusstseinsphilosophie und funktionalistischen Theorien des Geistes sind unsere gelebten Erfahrungen in der Regel so konzipiert, als könne man von unserer leiblichen und lebensweltlichen Bedingt- und Gebundenheit absehen, um die Einheit der Wahrnehmung alleine einem »Ich denke« anzuvertrauen. Wenn »Ich« aber mehr ist als unser Denken, wenn wir ebenfalls unser Körper sind und dieser das »Mittel überhaupt eine Welt zu haben«188 , wenn unser Leib kein Gegenstand unter anderen ist, sondern unser gelebtes, leibliches Dasein selbst und die ihm korrespondierende, qualitativ erschlossene Umwelt, dann lässt sich auch nicht behaupten, dass das Bewusstsein unseres Leibes ein Denken im hergebrachten Sinne wäre. Der Leib ist nicht Teil unserer Vor-Stellungswelt, sondern das Milieu, das diese Vorstellungswelt trägt und mit der Wirklichkeit konfrontiert. Daher ist die phänomenale Gegebenheitsweise unseres eignen Körpers auch nicht diejenige der intentionalen Gegenstände, sondern er selbst ermöglicht eine fungierende Intentionalität, »eröffnet verschiedene Dimensionen der Erfahrung. Er verankert uns im jeweiligen Hier, von dem aus sich Spielräume der Bewegung auftun und ein jeweiliges Jetzt der Erfahrung konstituieren, das mal länger mal kürzer, mal unendlich lang, mal verschwindend gering ausfallen kann. Empfindend steht er in unmittelbarem Einklang oder Missklang mit den Rhythmen des weltlichen Geschehens, wahrnehmend erkundet er die Vielfalt der Dinge.«189 Er ist integraler Bestandteil unseres bewussten (Er-)Lebens und Ursprung der variablen »Transparenz« unserer Wahrnehmung, in die sich die unterschiedlich gewichteten 186 187 188 189
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 79. Ebd., S. 79. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 176. Vgl. Waldenfels, Bernhard: Einführung in die Phänomenologie, a.a.O., S. 60.
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Sinneseindrücke eingliedern (können) und zu einer einzigen Wahrnehmungswelt zusammenschließen. Dass wir inkarnierte Subjekte sind, bedeutet, dass wir durch unseren Leib schon immer der Welt überantwortet und uns mit ihr konfrontiert sehen, wodurch die Kategorie der Handlung überhaupt erst aufgerufen ist. Denn »auch die Freiheit der Handlung ist verwiesen auf Situationen, auf die sie antwortet und eingefügt in Strukturen, in denen sie sich verkörpert. Ein Handlungsfeld legt dies nahe, erschwert jenes, schließt anderes aus, ohne einem Gesetz des alles oder Nichts zu gehorchen, das nur erträumte Handlungen zuließe.«190 Dabei greift »das Empfinden selber […] sozusagen auf das Empfundene über, im Empfinden erlebt der Empfindende sich selbst […] und die Welt, d.h. er erlebt sich in der Welt mit der Welt […] Wenn ich sage, ›Ich freue mich‹, so bin ich nicht der Gegenstand meiner Freude, dieses ›sich‹ bedeutet eine Art von Reflexivität, eine Selbstbezüglichkeit im Affekt selbst. Darin ist eingeschlossen, dass das Empfinden auf die Welt übergreift und die Dinge eine verschiedene Färbung annehmen, je nachdem in welcher Stimmung ich mich selbst befinde.«191 Die Einheit unseres Körper- und Weltbewusstseins ist ein einziger, fließender Übergang und bezeichnet eine Interaktion und Integration, die einer Synchronisation mit der Welt und ihren Gegenständen gleichkommt. »Ding und Welt sind mir gegeben mit den Teilen meines Leibes, nicht dank einer natürlichen Geometrie, sondern in lebendiger Verknüpfung, vergleichbar oder vielmehr identisch mit der, die zwischen den Teilen meines Leibes selbst herrscht«192 , wie Merleau-Ponty sagt. Diese Verknüpfung, ihr Wirken und ihre Auswirkungen auf unser Erleben lässt sich einzig dadurch näher bestimmen, dass wir ihre »Bewegung« genauer nachzeichnen, die Bewegung, »in der die Existenz [unser leibliches Dasein, R.Z.] sich eine faktische Situation zu eigen macht und verwandelt.«193 Denn der regelrecht depersonalisierte Zustand, in den wir durch unsere Wahrnehmung versetzt und durch den wir in eine Umwelt »über‐setzt« werden, gleicht mehr einer »Verzauberung«194 oder einem Eingenommen-Sein durch die Sinne als einem intentionalem Tun, auch wenn wir es selbst sind, die sich in der Welt wahrnehmend 190 Waldenfels, Bernhard: Einführung in die Phänomenologie, a.a.O., S. 61. 191 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 87. 192 Ebd., S. 241. Auch »schließen« wir ja (im Normalfall) nicht auf die Postion unserer eigenen Gliedmaßen, noch müssten wir uns diese intentional zur Vorstellung bringen. Nur in Fällen (wie wir sie weiter unten noch mit dem Fall »Schneider« kennenlernen werden) ist diese Art der bereits egozentrisch‐verorteten »Gegebenheit« und axiale Ausgerichtetheit gestört und bedarf aktiver und vorstellender Nachkorrekturen. Vgl. hierzu auch Anscombe, G.E.M.: On Sensation of Position, in: Analysis 22 (1962), S. 55 – 58 sowie Wittgenstein, L.: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Frankfurt a.M. 1984, § 770 – 771 & 798. 193 Ebd., S. 202. 194 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 251.
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orientieren (müssen) und dadurch unterschiedliche Wahrnehmungszustände »heraufbeschwören«. Merleau-Ponty »gebraucht das Wort ›Verzauberung‹, um anzudeuten, dass Sinneserfahrung eben nicht besagt, dass ich das, was mir begegnet, in der Hand habe, dass ich bestimmten Regeln folge oder nicht; Verzauberung bedeutet, dass ich etwas tue unter dem Einfluss eines anderen, von dem ich keinen Abstand gewinne.«195 Eine adäquate Bestimmung des Gehalts der Wahrnehmung muss daher die Art und Weise ins Auge fassen, wie uns die Welt (räumlich) erschlossen ist und sich für unsere Erfahrung verdichtet und weitet, öffnet oder vor unseren Vorhaben verschließt, sich neu gewichtet und umstrukturiert, während wir bei all dem (unweigerlich sensitiv) mit »dabei« sind. Sie muss versuchen, eine (transzendentale) Bewegung nachzuzeichnen, die einem handelnden Zurückweichen und (weiterem) Eindringen gleicht, einem Angehen und Angegangenwerden durch eine (Um-)Welt, die deutliche Spuren von dieser Bewegung zurückbehält, die wir als Ausdruckswerte erfahren können, die den Gegenständen dieser Welt ein menschliches Gesicht verleihen. Eine Bewegung, die einem Einverleiben und Einverleibtwerden ähnelt und die einen Stil, einen Zusammenhang stiftet, eine Formgebung inauguriert und immer auch Ansatzpunkte für unsere sprachlichen Unter-Stellungen schafft, die das Gegebene durch Identifizierungen auf seinen (sprachlich) idealisierten Sinn hin übersteigen. Setzungen, Platzierungen, die zwischen uns und der Welt einen (zeitlichen) »Abstand« etablieren, weil wir die möglichen Realisationen von »etwas« in einer Situation abschätzen und verstehen können und ihm so eine bestimmte Position und einen angemessenen Platz einräumen können. Damit wird aber jede Situation immer auch ein Stück weit virtualisiert, weil wir sie einer kontextübergreifenden Vorstellung vom Stand der Dinge unterwerfen (können), die das mögliche (kausale) Aus- oder Eingreifen der Dinge antizipiert und damit Platz für unsere eigenen Vorhaben und unsere Einbildungskraft schafft, die der Situation unseren eigenen, imaginierten (Spiel-)Raum an Möglichkeiten unterschiebt. »Ich öffne die Augen über meinem Tisch: mein Bewusstsein saugt sich voll mit Farben und konfusen Reflexen, es unterscheidet sich kaum von dem, was ihm begegnet, es verbreitet sich durch seinen Leib hindurch in diesem Schauspiel, das ein Schauspiel noch von nichts ist. Plötzlich aber fixiere ich diesen Tisch, der selbst noch nicht da ist, gewinne ich den Abstand eines Hinblicks […]. So vermag ich das Etwas, das mich berührte, auf seinen Platz in der Welt zu verweisen, da ich, zurückweichend in die Zukunft, den ersten Angriff der Welt auf meine Sinne zurückweisen kann in die unmittelbare Vergangenheit und also mich auf den bestimmten Gegenstand als eine nächste Zukunft hin orientieren kann.«196 195 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 88. 196 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 279f.
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Diese Bewegung entspricht dabei mehr der von Merleau-Ponty beschworenen leiblichen »Kommunion« oder Synchronisation mit den Dingen, so wie es in anderen Sprachen wie dem Englischen wesentlich weniger mystisch zum Ausdruck kommt, wenn bspw. von communication die Rede ist, welche ihrerseits mehr eine Art Modulation unserer Existenz meint. Der aktive Anteil einer jeden Wahrnehmung spricht sich in dieser Perspektive in der Idee aus, dass unsere Existenz sich (wie bereits bei den sprachphilosophischen Überlegungen gesehen) auf die wahrgenommenen Dinge einstellt anstatt sie bloß zu registrieren, sie vorzeichnet, ihnen den Boden bereitet, indem sie sich aufgrund dieser grundlegenden Einstellung als empfänglich oder selbst zugänglich erweist für das, was sie zugänglich machen soll. »So stellt das Sinnliche im Begriff, empfunden zu werden, meinem Leib gleichsam ein verworrenes Problem. Ich muss die Einstellung finden, die es ihm ermöglichen wird, sich zu bestimmen[…].«197 Wahrnehmung ist in einem doppelten Sinne »von« der Welt: sie ist über die Gegenstände dieser Welt und durch die Gegenstände dieser Welt das, was sie ist. Sie richtet sich in der Welt ein und diese für uns aus. Sie macht sich gezielt vor dem Hintergrund unserer körperlichen Verfassung, unserer condition beeinflussbar und bereitet so vor, was überhaupt der von der Wissenschaft als konstant angesetzte Wahrnehmungs-Reiz (für sie) sein kann. Wahrnehmen bedeutet, die Realisationen der Realität, »mitzumachen«, sie mitzuvollziehen und sie dadurch überhaupt erst in einer gewissen Intensität als diesen oder jenen Wider-Stand und damit Gegen-Stand mit hervorzubringen. »Das Sinnliche [hat] nicht allein motorische oder lebensmäßige Bedeutung, sondern ist nichts anderes als eine je bestimmte Weise des Zur-Welt-Seins […].«198 So wie unser Denken ist Wahrnehmung eine uns orientierende Befähigung, eine variable, steigerbare oder abstumpfende Befähigung eines Organismus, der diejenigen (senso‐motorischen) Rückmeldungen aus einer und d.h. seiner Um-Welt »empfängt«, die er aufgrund seiner eigenen Verfassung empfangen kann und das heißt gewissermaßen (für sein eigenes Fortbestehen und erfolgsorientiertes Handeln) empfangen sollte. Der so verstandene »Empfang« liegt nicht alleine auf Seiten des Subjekts, das wie ein Kofferradio Signale oder Reize empfängt, sondern ebenso auf Seiten der Welt, die diesem als Um-Welt, als seine Um-Welt immer schon einen gewissen Empfang bereitet. »Der Organismus lässt sich eben nicht vergleichen mit einer Klaviatur, auf der äußere Reize spielen und ihre eigentümliche Gestalt abzeichnen, aus dem einfachen Grunde, weil er selbst dazu beiträgt, die Gestalt zu bilden.«199 Doch diese Abstimmung auf unsere körperliche Konstitution ist ihrerseits nicht konstant und ein für alle Mal festgeschrieben, sondern unterliegt u.a. (Ein-)Gewöhnungen und 197 Ebd. S. 251. 198 Ebd., S. 249. 199 Merleau-Ponty, Maurice: Die Struktur des Verhaltens, a.a.O., S. 13.
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damit einer gelernten Einstimmung, die einem völlig passivem Gestimmt-Werden ebenfalls entgegenläuft. Wenn wir wissen, auf was wir uns einlassen (müssen), weil wir ihm wahrnehmend ausgesetzt sein werden, fällt der Eindruck, den etwas auf uns macht und mit dem wir uns konfrontiert sehen, ja entschieden anders aus als ohne diese Einstellung, vor allem, was seine Intensität anbelangt. Nirgendwo wird dies anschaulicher als bei solch grundlegenden Einstimmungen wie dem eigenen Temperaturempfinden, das durch das (ganze bisherige) Leben geprägt sich in einem gewissen Toleranz-Bereich eingepegelt hat und sich bei der Konfrontation mit einer neuen Lebensumgebung erst wieder umgewöhnen, erst wieder um-stellen muss. So ist der ehemalige Bewohner skandinavischer Länder bereits im T-Shirt zu sehen, während alle anderen Passanten noch immer die Wintermäntel übergestreift haben und der neue Mitbewohner, der sein bisheriges Leben in einem nordafrikanischen Land zugebracht hat, ist noch lange Zeit in der Daunenjacke anzutreffen, während seine deutschen Nachbarn mit kurzer Hose und Sandalen an den Füßen bereits den Beginn des Sommers einläuten. Gleiches gilt für alle anderen Empfindungen, ob nun für unser Sehen, unser Hören oder unseren Geschmack. Derjenige, der die letzten Jahre über an einer vielbefahrenen Hauptstraße gewohnt hat und trotz des vorherrschenden »Geräuschpegels« geistiger Arbeit nachgehen musste, ist es gewohnt, diesen Umgebungslärm »auszublenden«, er ist anders auf diesen Umgebungslärm eingepegelt, sprich: er hat sich an ihn gewöhnt. Was aber nichts anderes heißt, als dass er ihn nicht mehr wie zuvor wahrnimmt. Wahrnehmung »übermittelt« keine gleich bleibenden, konstanten Eindrücke, sondern sie ver‐mittelt uns und die Dinge in einem auf uns abgestimmten Lebensraum und ist damit immer auch die Etablierung eines gewissen »Standardniveaus« möglicher Wahrnehmungsintensität. Und bei einem allerersten Kontakt, einer ersten Konfrontation setzt sie so zusagen lieber »zu hoch«, zu intensiv an (wie beim kalten Wassern, in das wir springen), als dass sie riskieren würde, einen eventuell schädigenden Einfluss (»auf Leib und Leben«) unberücksichtigt sein zu lassen. Wahrnehmbare Differenzen sind jedoch nur möglich vor einem bereits etablierten Wahrnehmungs-Hintergrund, der uns als Kontrast für diese Differenzen dienen kann. Für ein endliches Wesen mit begrenzten (kognitiven und sensitiven) Ressourcen ist Wahrnehmung nicht Abspiegelung, sondern der fortwährende Versuch einer möglichst umfassenden Übersicht, die nichts Entscheidendes unberücksichtigt lassen möchte und dafür möglichst viel unberücksichtigt lassen muss. Werfen wir daher einen kurzen und weiterführenden Blick auf die Etablierung eines Standardniveaus, wie wir es von den Phänomenen der Gewohnheit und des Geschmacks her kennen, bevor wir zur »Bewegung« unserer Existenz zurückkehren und den Übergang zu ästhetischen Fragen in Angriff nehmen.
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Geschmack, Gewohnheit und Kontrast
»Der erste Autor in der Geschichte der Wahrnehmungstheorie, der diesen Gedanken deutlich gegen den Empirismus ausgespielt hat, ist meines Wissens William James, der in seinen Prinzipien der Psychologie den Gedanken äußert: Wahrnehmen ist eine discrimination, ein Unterscheidungsakt. Sehen lernen heißt, dass man lernt, Differenzen zu sehen, und das gilt für alles Lernen.«200 Wahrnehmung ist nicht statisch, sondern kann ausgebildet werden, so wie Geschmack ausgebildet werden kann, der sich auf eine ausdifferenzierte Wahrnehmung stützt, diese anleitet und im Gegenzug durch diese »verfeinert« wird. Mit jedem Erfahrungsgewinn geht eine weitere Ausdifferenzierung des Erfahrungs-»Gebietes« einher, in dem sich unsere Sinne bisher betätigt haben und diese genauere Differenzierung schließt sich wiederum zu einem modifizierten Gesamteindruck bei erneuter Begegnung mit einem Gegenstand aus diesem Gebiet zusammen, den wir dadurch in einem qualitativ veränderten Zustand gewahren. Durch eine differenziertere Wahrnehmung verändert sich so zusagen der Maßstab, den unsere Wahrnehmung an die Dinge anlegt, die Skala der sinnlichen Bewertung, die durch das veränderte InErscheinung-Treten der Dinge selbst verwirklicht ist und (anschaulich) kenntlich wird. Wahrnehmung ist daher durchaus normativ zu nennen, denn ganz so neutral sind ihre Eindrücke verstanden als Ausdrücke ja gerade nicht. In einen Wahrnehmungsgehalt, der das Spiegelbild unserer körperlichen Konstitution und damit unserer Befähigungen bleibt, ist bereits die Zu- oder Abträglichkeit für unseren Organismus mit eingeschrieben und er zieht seine Energien ebenfalls zu einem großen Teil aus vergangenen Erfahrungen, wodurch er einen Kontrast zu damaligen Wahrnehmungen aufbietet. Wie schon weiter oben angesprochen, ist es keine bzw. keine vorwiegende Sache des Denkens, wenn wir nach Jahren der Einübung in die Koch-Kunst oder auch nur der bewussten Ernährung uns in einer hiesigen Kaffeehaus-Kette einfinden und der Blick auf die Kuchenauslage uns das Grauen lehrt. Mag uns derselbe Kuchen auch vor nicht allzu langer Zeit noch genießbar vorgekommen sein, so sehen wir ihm nun schon vor seiner Verköstigung an, wie es um ihn steht und wie es um uns stehen würde, würden wir ihn tatsächlich essen. Da ist die schon etwas gelbliche Kruste und ihre Art, wie sie sich vom Rest des Stück Kuchens abzulösen beginnt, der Anschnitt, der durch seine Trockenheit auch die Konsistenz des restlichen Teiges preisgibt, die Größe und Sprödigkeit der abgefallenen Krümel, die unnachgiebige Starre, mit welcher das Stück gegen die übrigen angelehnt verharrt. Durch unsere vergangenen Erfahrungen, durch die Schulung unserer Sinne hat sich unser sinnliches Differenzierungsvermögen weiter ausgebildet, hat sich unsere Fähigkeit zu sehen verfeinert, sodass der Eindruck, den der Kuchen auf 200 Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst, a.a.O., S. 68.
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uns macht, ein anderer geworden ist, weil der Eindruck, den er auf uns machen kann, ein anderer ist. Es wäre eine unlautere Verkürzung hierin bloß das Wirken einer unterschiedlichen Aufmerksamkeit zu erblicken, die lediglich etwas anderes in den Blick rückt, das vorab schon so anzutreffen gewesen wäre. So, wie wir bspw. auf etwas aufmerksam gemacht werden können, das uns schlicht »entgangen« ist, indem wir es durch einen entsprechenden Hinweis gezeigt bekommen. Denn wir können noch so sehr auf das Stück Kuchen zeigen und unserem Bedenken verbal Nachdruck verleihen, dass »der keinen guten Eindruck macht« und dabei vielleicht auf die beschriebenen Zusammenhänge zwischen Kruste, Krümel und Teig eingehen, ohne dass unserem kulinarisch unerfahrenen Gegenüber diese Qualität zugänglich würde, sie sich für seine Sinne abheben und damit überhaupt für seine Aufmerksamkeit auffällig werden könnte. Ihm fehlt die entsprechende Vergleichsbasis, die sich erst hätte herausbilden müssen, damit sich ihm ein vergleichbarer Kontrast ergeben kann. Durch die gesteigerte Ausdifferenzierung der Sinne unterliegt das Sinnliche einer Modifikation, die jedoch nicht alleine den »feinen Unterschieden«, den sublimen Unter- und Zwischentönen gilt, den Details, sondern sie gilt ebenso den gewandelten Übergängen und Vermittlungen, dem Zusammenspiel der Differenzen untereinander. Sie zeichnet sich trotz des Namens nicht nur durch eine gesteigerte Separation, sondern gerade auch durch eine qualitativ gesteigerte Integration aus. Sie ist ebenso Synthese wie Differenzierung und führt zu der angesprochenen, veränderten Physiognomie, zu einem abgewandelten »Stil«, einem qualitativ veränderten Zustand des Wahrgenommenen. Und für gewönhlich befinden wir ja darüber, dass etwas keinen »Stil hat«, wenn dessen Zusammen-Stellung fragwürdig ausfällt, etwas auch hier nicht den richtigen Platz einnimmt, nicht am richtigen Ort ist in diesem Zusammenhang und daher falsch aufeinander abgestimmt scheint; es einer Koordinierung unterliegt, die nicht »ausgewogen« wirkt, die die falschen Gewichtungen vornimmt oder die falschen »Akzente« setzt. Etwas, das in diesem Zusammenhang »zu dick aufträgt« oder »nicht richtig rauskommt«, im Gesamtzusammenhang »untergeht« oder zu sehr »hervorsticht«. Ob nun ein Lippenstift, ein Farbton in einem Gemälde, ein gewisser Klang oder eine säuerliche Note im Dessert: durch einen differenzierteren Geschmack fächert sich unsere Wahrnehmung nicht nur weiter auf, sondern schließt sich auch zu einem veränderten Gesamteindruck zusammen. Es mag zwar stimmen, dass der Kenner, der connaisseur jemand ist, der besser als alle anderen Nuancen herausschmecken, -hören oder -sehen kann, diese »vereinzeln« kann, aber nur, weil ihm auch das Ganze anders erschlossen ist, in dem diese Abweichungen für ihn und seine Wahrnehmung »greifbar« werden. Der derart Erfahrene ist aber auch meist derjenige, der um ihre gegenseitige Verflechtung weiß, um ihre Beeinflussung untereinander, ihre Möglichkeit zur gegenseitigen Steigerung oder Abschwächung, Unterstützung oder Beeinträchtigung. Der Gourmet kann schmecken, bei welchen Zutaten der Koch besser ein wenig gespart hätte oder mit welchen
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er wiederum zu sparsam umgegangen ist. Nicht unbedingt, weil er den Geschmack dieser Zutat mehr im Vordergrund sehen möchte, sondern, weil er um deren Einfluss auf das geschmackliche Gesamtergebnis weiß, das von jener Zutat ausgehen würde, sodass etwas anderes hervortritt oder zurückgedrängt wird, unterbunden oder befördert, sich mit den übrigen Geschmäckern vermengt und diese qualitativ für unser Erleben modifiziert. Ebenso der Musiker, der einen Ton als »schief« empfindet oder eine einzelne Passage als zu »schrill« und der im selben Moment (für sich) denkt, dass man das Stück hätte besser »ausklingen« lassen sollen, um so daran anschließen zu können. Nicht anders ergeht es dem Grafiker, der vor der Plakatwerbung in der Unterführung bemerkt und d.h. bemerken kann, dass man besser daran getan hätte, ein anderes Rot zu wählen und die Überschrift ein wenig weiter nach rechts zu rücken, damit der Kopf der abgebildeten Person »besser zur Geltung gelangt«, er mehr Raum neben der Schrift einnimmt. Das Rot, die Schrift und der abfotografierte Kopf sind auch für den in graphischen Dingen Unversierten sichtbar, nur ihre Beziehungen zueinander sind es nicht. Er kann noch so sehr darauf hingewiesen werden, dass dieses Rot an dieser Stelle eindeutig zu »orange« ausfällt, doch wird er das nicht sehen können. Und entsprechend wüsste er auch nicht zu benennen, wie man das ganze korrigieren könnte, um eine bessere Wirkung zu erzielen. Er wüsste nicht anzugeben, wie man in das Ganze gewinnbringend eingreifen kann, um es in die gewünschte »Richtung« zu lenken.201 Genauso wie der Tourist im Sternerestaurant nicht angeben kann, warum es ihm nicht schmeckt, während der Koch beim Probieren feststellt, dass »eindeutig« Oregano fehlt, um das Ganze noch zu »retten«. Was einen Hinweis darauf abgibt, dass wir es auch hierbei nicht mit rein sinnlichen Phänomenen zu tun haben, sondern dass ebenfalls unsere sprachlichen Fähigkeiten im Verbund mit unserer Vorstellungskraft bei derartigen Beurteilungen gefragt sind. Nur kommen diese nicht »vom Fleck«, wenn ihnen die Möglichkeit zum Vergleich fehlt, die nur durch die sinnliche Erfahrung mit etwas gewonnen werden konnte. Der Grafiker musste tausende Bilder sehen, der Musiker tausende Lieder hören, der Koch tausende von Gerichten probieren, um seinen Geschmack und seine Sinne entsprechend zu »schulen«. Sie alle mussten sich innerhalb ihres Betätigungsfeldes mit diesen »Dingen« aktiv (sinnlich) auseinandersetzen, damit ihnen diese nunmehr verändert auseinander‐gesetzt, und das heißt eben: ausdifferenziert begegnen. 201 Vgl. John Dewey allerdings unter Ausklammerung des kognitiven Aspekts und unter Betonung des körperlichen Mittvollzugs, in: ders., Kunst als Erfahrung, a.a.O., S. 116: »Der ist ein erfahrener Chirurg, der die kunstfertige Vorführung eines anderen Chirurgen zu schätzen weiß; mitfühlend folgt er ihr mit seinem ganzen Körper, wenn auch nicht nach außen sichtbar. Wer etwas von den Beziehungen zwischen den Bewegungen eines Klavierspielers und der erzeugten Musik versteht, wird etwas hören, das der bloße Laie nicht vernimmt – ebenso, wenn ein Virtuose die Musik ›fingiert‹, während er die Partitur studiert.«
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Doch die einzelnen, ästhetischen (Betätigungs-)Felder müssen nicht zwangsläufig ineinander übergreifen. »So wie in praktischen Kontexten jede Erfahrung auf ein Erfahrungsfeld begrenzt ist, so gibt es auch kein ästhetisches Erfahrensein an sich. Der Weinkenner hat nicht automatisch einen erlesenen Musikgeschmack. Wer sich stilvoll kleidet, muss damit noch lange keinen Blick für Malerei besitzen.«202 Denn »die dem Geschmack inhärente Beschränktheit entspringt seinem Vergleichsprinzip, insofern man nur ähnliche Ereignisse miteinander vergleichen kann […].«203 Dem Laien fehlt diese Vergleichsmöglichkeit, er hat nicht genügend Erfahrung sammeln können, wie und auf welche Weise Farben, Formen, Töne oder Geschmäcker vor dem Hintergrund einer gegebenen Größe (als Bild), Zeitdauer (als Melodie) oder Konsistenz und Volumen (als Dessert) zusammenwirken können, wie sie ineinandergreifen und einander bedingen und entsprechend wird für ihn auch nicht (sprachlich) »fassbar«, wie diese Verhältnisse bei einer gegebenen Konstellation ausfallen. Für ihn stellt sich kein Kontrast ein, der die Einflussnahme der einzelnen Bestandteile (anschaulich) kenntlich machen würde. Doch bleibt dabei nicht nur das simultane Moment entscheidend, sondern oftmals (wenn nicht immer) auch das sukzessive. Auch wenn der Materialismus für diesen Gedanken niemals empfänglich sein wird, so ist bei sich aufbauenden Sinneseindrücken, die das Produkt einer Interaktion eines mit seiner Umwelt sich auseinandersetzenden Lebewesens sind, die Reihenfolge des (ästhetischen) Auftretens der einzelnen Eindrücke für die Gesamtwirkung alles andere als unerheblich. Was unbestreitbar für Melodien und Musikstücke, Schnittsequenzen in Spielfilmen oder die Blickführung in einem Gemälde gilt, findet sich schon außerhalb des künstlerischen Kontextes. Ganz im Sinne des hermeneutischen Zirkels ist auch das ästhetische Empfinden grundsätzlich von Vorgriffen und Erwartungshaltungen geprägt, welches schon beim ersten Kontakt einen (qualitativen) Maßstab zugrundelegt, der die Skalierung von allem Nachfolgenden bestimmt. Werden wir beim Eintritt in ein Restaurant bereits von einem »seltsamen Geruch« oder einer »geschmacklosen Einrichtung« empfangen, so werden es die Speisen wesentlich schwerer haben, uns kulinarisch von ihrer Qualität zu überzeugen als ohne diesen Einstieg in die darauffolgende Wahrnehmungssituation. Fällt der erste Eindruck hingegen positiv aus, wird ein höher angesetztes Ausgangsniveau für eine Art »Vertrauensvorschuss« sorgen, der auch andernfalls zweifelhafte Eindrücke in einem besseren Licht dastehen lässt, als es vielleicht angebracht oder »verdient« gewesen wäre. Und es wird schon ein wenig dauern, bis unsere Wahrnehmung umspringt und das belebt fröhliche Treiben vom Anfang der Einkaufsstraße sich nicht mehr den Seitenstraßen mitteilt, in die wir uns unwillentlich verirrt haben. Langsam beginnen wir, uns unsicher zu fühlen, weil genau jenes Vertrauen vom Anfang nicht 202 Lehmann, Harry: Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, a.a.O., S. 29. 203 Ebd., S. 29.
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mehr auf unsere Umgebung ausstrahlt und uns entsprechend auch nicht mehr von ihr ver‐mittelt wird. »Erste Eindrücke« sind nicht deshalb so entscheidend, weil sie ausschließlich das aktuell Wahrgenommene betreffen, sondern weil sie ein gewisses Standardniveau etablieren, an dem sich nun auch alles andere bemisst, was in den Umkreis dieses ersten Eindrucks gerät und seine sinnliche Bewertung von ihm her empfängt. Immer wird es uns schwerfallen, von den Marmorsäulen eines Hoteleingangs, der Garderobe der anwesenden Gesellschaft, den Rahmenbedingungen von Feierlichkeiten oder anderweitiger Inszenierungen zu abstrahieren, um die Dinge zu sehen, wie sie »wirklich« sind, d.h. ohne diese Aufmachung. Denn, was hier »in Szene« gesetzt wird, ist das wahrnehmbare Umfeld, in das uns unsere Wahrnehmung unwillkürlich hinein‐versetzt, noch bevor wir uns bewusst von diesem Schauspiel ab‐setzen und d.h. (wahrnehmend) distanzieren können.204 Das Standardniveau unseres sinnlichen Bewertungsmaßstabes ist dasjenige, was durch die Ausbildung des eigenen Geschmacks in ständiger Aus- und Fortbildung begriffen ist. Daher haftet »der Entwicklung des eigenen Geschmacks [auch] oft etwas Peinliches an. Wenn man sich ein ästhetisches Feld erschließt, dann ist es unausweichlich, dass man sich zunächst die einfach zugänglichen und einfach erfassbaren ästhetischen Phänomene attraktiv findet und sich später den eigenen Vorlieben – d.h. von seinem eigenen schlechten Geschmack – wieder lossagen muss […]. Ein erfahrener Betrachter hätte von vornherein das gesamte ästhetische Feld mit seinen Extremen im Blick gehabt und verfügte damit über eine Referenzskala, die ihn vor solchen Fehleinschätzungen bewahrt.«205 Dass die angesprochenen, ästhetischen Verhältnisse dabei nicht ohne weiteres kommunizierbar sind, ist etwas anderes als zu behaupten, sie seien generell nicht sprachfähig. Alles und nichts kann kommuniziert werden, wenn der Adressatenkreis ein ähnliches Vorwissen, eine ähnliche Referenzskala mitbringt und man sich darauf versteht, die richtigen Worte zu wählen. Den Fastfood-Liebhaber mit den Vorzügen der haute cuisine vertraut machen zu wollen, ist ein ebenso hoffnungsloses Unterfangen wie dem rebellierenden Teenager etwas »vom Leben« erzählen zu wollen. Nicht, weil diese Dinge nicht kommunizierbar wären, sondern 204 Wäre dem nicht so, wäre es wohl schlecht bestellt um einen Großteil der Güter der »Kulturindustrie« und die mögliche Wirkung von omnipräsenter (visueller) Werbung. 205 Lehmann, Harry: Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, a.a.O., S. 30. Vgl auch Waldenfeld, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel, a.a.O., S. 130: »Alle große Kunst ist widerspenstig; produktives Lernen beginnt nicht mit dem Eingängigen, sondern damit, dass man sich in Schwieriges ein‐hört, ein‐sieht, ein‐liest, ein‐spielt.«
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weil sie ihnen nicht kommunizierbar sind. Die Vorstellung, die sich der Jugendliche vom Stand der Dinge macht, misst vielem noch eine Bedeutung zu, die es später (für ihn) verlieren wird. Er nimmt Gewichtungen vor, die einer späteren Umgewichtung unterliegen, die ihren Stellen-Wert einbüßen oder eintauschen. Was er früher vielleicht für nebensächlich erachtet hat, gewinnt plötzlich an Bedeutung, was ehemals bedeutungsvoll war, gerät mehr und mehr ins Hintertreffen. Was nichts anderes heißt, als dass sich deren wahrnehmbarer Zustand für ihn verändert, die Dinge anders auf ihn wirken, anders präsentieren, weil er sich für deren Wirken nunmehr empfänglich zeigt. Wie hätte auch etwas auf ihn einen derartigen Eindruck machen können, wenn er dessen Gewicht zuvor für die Gesamtsituation als irrelevant eingestuft hat? Wie kann er etwas sehen, das seine Situationseinschätzung gerade (vorab) als nebensächlich abgetan hat? Doch hat er erst einmal begonnen, die Dinge auf diese Weise zu sehen, so »lässt sich auch mit ihm reden«. Oft müssen wir erst »ein Auge« für etwas entwickeln, um den Einfluss mancher Dinge erkennen zu können. Doch sind wir erst einmal dazu vorgestoßen, deren Treiben zu gewahren, fällt es uns nicht selten schwer, sie fortan »auszublenden«. Wir können uns nicht mehr in einer ehemaligen Vorstellung und der von ihr angeleiteten Wahrnehmung »verlieren«, weil nunmehr etwas in den Vordergrund drängt, das dieser Absicht (wahrnehmbar) »entgegensteht«. Kehren wir nach einem längeren Aufenthalt im Ausland oder auch nur einem kurzweiligen aber an fremden Eindrücken reichen Urlaub an vertraute Orte unseres einstigen Alltages und Wirkens zurück, finden wir diese ja nicht selten stark verändert vor. Freilich nicht, weil sie zwischenzeitlich einer materiellen Umgestaltung unterlegen hätten, sondern weil unsere Wahrnehmung uns in der Zwischenzeit in einer anderen Umgebung eingerichtet hatte, die nun die Referenzskala für die ehemals vertraute Umgebung abgibt und uns diese im Kontrast, im Vergleich zu dem ehemaligen Zustand wahrnehmen lässt. Unser wortwörtliches Wahrnehmungs-Niveau hat sich verändert, die »Höhe« oder »Ebene«, von der aus wir den neuen und ehemals alten Eindrücken begegnen, hat eine Veränderung erfahren. Denn unversehens ist unser Lieblingscafé zum Ort »abgestiegen«, an dem es plötzlich Stühle mit abgegriffenen Lehnen gibt, an dem die Böden dreckig sind und das Personal auch schon mal freundlicher war; der Kaffee unverhältnismäßig teuer, zu heiß, zu kalt, zu schwach ist, an dem Schrauben angezogen und Sessel auch mal wieder ausgetauscht werden müssten und der Geräuschpegel geradezu absurd laut ist, um dort auch nur ein einziges Wort lesen geschweige denn, einen einzigen, vernünftigen (philosophischen) Gedanken fassen zu können – obwohl wir dies bisher immer und sogar vorzugsweise dort getan hatten. Inzwischen sind wir anderes gewöhnt, d.h. haben uns (aktiv) an anderes gewöhnt, weil wir uns in einen anderen Zustand hineingelebt haben, der unsere (Wahrnehmungs-)Umwelt geworden ist. Genauso, wie wir an einer Aufgabe wachsen können, so wachsen wir auch durch das Anforderungsniveau einer fremden Umgebung und dadurch nicht selten über
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uns hinaus. Finden wir uns zum allerersten Mal inmitten der Häuserschlucht Manhattans wieder, so werden wir regelrecht von der Monumentalität der uns umgebenden Gebäude »erschlagen« und von dem Tempo der Stadt in anhaltende Alarmbereitschaft versetzt. Und es braucht schon eine gewisse Weile, bis wir uns die neue Umgebung zu Eigen gemacht haben, in ihr heimisch geworden sind. Der Übergang vollzieht sich langsam und doch fließend und irgendwann bemerken wir, dass der Alltag in unsere Verrichtungen, unsere Wege und Handlungen Einzug gehalten hat und das Andrängen der Umgebung, die Hektik der Passanten und die Lautstärke des Verkehrs vom Anfang einer Rhythmik gewichen ist, die unserem eigenen Lebensrhythmus entspricht. Ohne dass wir es eigens bemerkt hätten, haben wir uns mit der neuen Umgebung »synchronisiert«, folgen ihrem Takt und geben unserem Leben selbst einen Takt vor, der mit der neuen Lebens(um)welt harmoniert und anders mit dieser »kommuniziert«. Aus der uns überwältigenden Begegnung des Anfangs ist eine Begegnung auf Augenhöhe geworden; wir haben gelernt, den Dingen »die Stirn zu bieten«, sie (in unserer Orientierung) auf ihren Platz zu verweisen, ihre Intensität einzuregeln, durch die sie nun eine gebundene, durch ihren Stellenwert (von uns) zugewiesene Präsenz entfalten. Unsere sich neu zusammenschließende und ausweitende Orientierung zieht immer größere Kreise, reichert unsere Vorstellung(en) immer weiter an, die Schneisen unserer Grundausrichtung verzweigen sich, erlauben die vorstellende Verknüpfung von zuvor weit auseinander liegenden Gebieten, die uns »in Fleisch und Blut übergehen«. Wir haben gelernt, unsere Vorhaben in den Zeiträumen dieser nunmehr vertrauten Umgebung unterzubringen, weil wir entsprechend (wahrnehmend) in ihr untergebracht sind. Wir können abschätzen, wie lange eine Fahrt von einem Ort zum anderen aller Wahrscheinlichkeit nach dauern wird und ob ein Vorhaben sich im Anschluss an diese Fahrt überhaupt noch lohnt und sich damit realisieren lässt. Unsere lebenspraktischen Überlegungen zielen auf eine Umgebung ab, deren »Maßstab« wir verinnerlicht haben, sodass wir mit dem Anforderungsniveau der nunmehr vertrauten Umwelt »zurechtkommen«. »Die Orte des Raumes bestimmen sich nicht als objektive Positionen im Verhältnis zur objektiven Stelle unseres Leibes, sondern zeichnen um uns her die wandelbare Reichweite unserer Gesten und Abzweckungen in unsere Umgebung ein. Sich an einen Hut, an ein Automobil oder an einen Stock gewöhnen heißt, sich in ihnen einrichten, oder umgekehrt, sie an der Voluminösität des eigenen Leibes teilhaben lassen. Die Gewohnheit ist der Ausdruck unseres Vermögens, unser Sein zur Welt zu erweitern oder unsere Existenz durch Einbeziehung neuer Werkzeuge in sie zu verwandeln.«206 206 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 173.
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Kehren wir dann in die Provinzhauptstadt zurück aus der wir kamen, so scheint die Zeit dort regelrecht »stillgestellt« zu sein, der (Lebens-)Raum geradezu unerträglich komprimiert, die Menschenmassen der über die Hauptstraßen drängenden Passanten ist einzelnen, vorbeihuschenden Gestalten auf ansonsten verlassenen Seitenstraßen gewichen. Alles ereignet sich in ungeahnter Langsamkeit, die Abstände, Straßen und Wege sind fühlbar zu »eng«, zu schmal und zu klein, sodass wir uns das ein oder andere Mal eingeengt oder »erdrückt« vorkommen. Der von uns gelebte, durch unser Körperschema mitbedingte Maßstab, den wir durch unsere leiblich verkörperte Existenz an die Dinge anlegen und in den sie sich einfügen, fällt zu groß aus, wird von ihnen nicht ausgefüllt und damit fühlbar unterschritten. Doch dann leben wir uns auch hier in die ehemals gewohnte und nunmehr vorerst neue Umgebung ein, »passen uns an« und alles nimmt wieder seinen gewohnten Gang, die Grundausrichtungen greifen wieder, unsere Orientierung eicht sich ein und die Präsenz der Dinge wird einer funktionalen Normierung unterworfen, die kaum noch an die Faszination der ersten touristischen Schritte und die Sicht vom Anfang heranreicht.
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Die Bewegungsfreiheit der Existenz
All diese Phänomene sind aber nur möglich, weil sprachliche Bedeutung, Wahrnehmungs- und Vorstellungsgehalte und die mit ihnen einhergehenden Handlungsmöglichkeiten niemals getrennt voneinander ihre Arbeit aufnehmen. Rationalität und Kognition sind keine Art Überbau, auf dem das spezifisch Menschliche unserer Existenz aufruhen würde, wie es die aristotelische Definition des Menschen als animale rationale ausspricht, noch ist unsere Wahrnehmungsfähigkeit ein letztes und blindes Residuum aus animalischer Vorzeit. Das spezifisch Menschliche liegt vielmehr in der Art und Weise, wie alle diese Momente zusammenwirken, wie Wahrnehmung, Vorstellung und sprachliche Bedeutung in eine Bewegung geraten, voneinander instruiert und durcheinander koordiniert werden. »Konkret genommen, ist der Mensch nicht ein Psychismus, verbunden mit einem Organismus, sondern das Kommen und Gehen der Existenz, die bald sich körperlich sein lässt, dann wieder in persönlichem Handeln sich zuträgt. Psychologische Motive und körperliche Anlässe können sich miteinander verschlingen, da keine Bewegung des lebendigen Leibes psychischen Intentionen gegenüber absolut zufällig ist, aber auch kein psychischer Akt, der nicht in physiologischer Anlage wenigstens seinen Keim oder seine allgemeine Vorzeichnung hätte. Nie gibt es das unverständliche Zusammentreffen von zweierlei Kausalitäten, nie auch den Zusammenstoß kausaler und finaler Ordnung. Vielmehr mündet in unmerklicher
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Wendung ein organischer Prozess in menschliches Verhalten ein, schlägt instinktives Tun in ein Gefühl um, oder fällt umgekehrt ein menschliches Tun gleichsam in Schlaf und verlängert sich im Reflex.«207 Unsere unterschiedlichen (kognitiven und sensitiven) Vermögen laufen in keinem abstrakten »Ich denke« zusammen, sondern finden sich vielmehr unter einem konkreten »Ich kann« koordniert, das durch keine reine Vernunft, sondern durch unsere gelebte, körperliche Existenz und ihre jeweiligen Fähigkeiten realisiert wird. Durch sie erhalten alle perspektivischen Qualifizierungen erst ihren eigentlichen Sinn, denn sie etabliert jenes (Wahrnehmungs-)Niveau, vor dessen Hintergrund diese Vergleiche und Kontraste überhaupt möglich werden. Denn »welchen Sinn vermöchte das Wort ›auf‹ für ein Subjekt zu haben, das nicht durch seinen Leib einer Welt gegenüber situiert wäre?«208 Es ist unser körperliches Dasein, durch das wir zum Reagieren gezwungen und zum Agieren befähigt werden und durch das ein realer Standpunkt seine Koordinaten in eine ihn umgebende, auf ihn räumlich abgestimmte Welt eingräbt, Perspektiven und Möglichkeiten zum ergreifenden Handeln sich auftun und die Gefahren eines potenziellen Ergriffenenwerdens hervortreten. Wie gesehen, ist Konstanz eine zu erringende Größe, kein simples Faktum, nicht der Ausgangspunkt, sondern der sich immer wieder neu einstellende Zielpunkt unserer Erkenntnis, die in keinem »Sachbezug« kulminiert, sondern in einer kohärenten Auskenntnis ihr Auskommen hat.209 Entsprechend gilt auch für das Nachdenken über Wahrnehmung, 207 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 113. 208 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 126. Vgl. auch Fingerhut, Joerg et al., in: ders., Philosophie der Verkörperung, a.a.O., S. 25: »Der Leib wird insofern zum Lokus der Kognition, als eine bestimmte Form der Erkenntnis, nämlich die Erkenntnis von Objekten im Raum, [die]ohne Verkörperung nicht möglich wäre.« Vgl. auch Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, a.a.O., S. 67: »Der Körper ist für die Seele ihr Ursprungsraum und die Matrix jedes anderen vorhandenen Raumes.« Vgl. für eine mehr kognitivistische Sichtweise und von einer repräsentierenden »mind map« ausgehend: Evans, Gareth: The Varieties of Reference, a.a.O., S. 163ff. Ebenfalls Krämer, Sybille: Operative Bildlichkeit. Von der ›Grammatologie‹ zu einer ›Diagrammatologie‹? Reflexionen über erkennendes ›Sehen‹, in: Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 99. 209 Wie schon im Abschnitt zum sprachlichen Kohärentismus angesprochen, liegt »Konstanz« in den Relationen, nicht »in« den Dingen. Die Anhänger Parmenides sollten es sich nicht nehmen lassen, einen kurzen Gedanken darauf zu verwenden, welches Ringen erforderlich ist für die Auffindung von (vermeintlich omnipräsenter) »Konstanz« in einer von ihnen unterstellten Welt unwandelbaren Seins. Besonders ersichltich bspw. in dem Übergang von dem materiell verfertigten Urmeter in Paris als zugrundegelegtem Referenzwert für die Maßeineinheit »Meter« zu dessen Definition als: »das 1.650.763,73-Fache der Wellenlänge der von Atomen des Nuklids Krypton beim Übergang vom Zustand 5d5 zum Zustand 2p10 ausgesandten, sich im Vakuum ausbreitenden Strahlung«, da diese sich für unser momentanes Dafürhalten als einziges »konstant« genug verhält, um diesen Maßstab zu etablieren.
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dass »the unanswered question of sense perception is how an observer, animal or human, can obtain constant perceptions in everyday life on the basis of […] continually changing sensations?«210 Eine Aufgabe, die uns immer wieder neu gestellt ist und der wir versuchen, durch die Etablierung des angesprochenen »Standardniveaus« nachzukommen. »Einen Gegenstand umkehren, heißt, ihm seine Bedeutung [für die Wahrnehmung, R.Z.] nehmen. Sein Gegenstand‐sein ist nicht Sein‐für‐ein denkendesSubjekt, sondern ist ein Sein für den Blick, dem er unter einem gewissen Blickwinkel begegnet und nur so kenntlich ist. Darum hat jeder Gegenstand ›sein‹ Oben und ›sein‹ Unten, für ein gegebenes Niveau seinen ›natürlichen‹ Ort anzeigend, den er einnehmen ›muss‹. Ein Gesicht sehen, heißt nicht, die Idee eines bestimmten Konstitutionsgesetzes erfassen, dem dieser Gegenstand in allen Orientierungen invariabel unterworfen bleiben muss; es heißt einen bestimmten Halt an ihm finden, auf seiner Oberfläche eine bestimmte Wahrnehmungsbahn mit ihrem Auf und Ab verfolgen können, einen Weg, der in umgekehrter Richtung so unkenntlich wird, wie der Berg, den ich soeben mich zu besteigen abmühte, wenn ich in großen Schritten wieder hinabsteige […]; die Orientierung im Raum ist nicht lediglich kontingenter Charakter des Gegenstandes, sie ist selber das Mittel, vermöge dessen wir ihn erkennen und seiner als Gegenstand bewusst sind […].«211 Doch was ist, wenn dieser (An-)Halt an der Welt, unser räumliches Zur-Welt-Sein und unsere grund‐legende Orientierung selbst gestört wird? Wenn ein Unfall oder eine Krankheit den dauerhaften Ausfall eines unserer Sinnes- und Erkenntnisvermögen zur Folge hat? Wenn es wirklich eine Bewegung ist, in die unsere (Erkenntnis-)Kräfte bei unseren lebenswetlichen Entwürfen geraten, dürfte zu erwarten stehen, dass die Desintegration eines der »Teile« sich auch auf das Funktionieren des Ganzen auswirkt. Eine Annahme, die Großteile der klassischen Physiologie als auch Psychologie ablehnen. Für diese ist (unter Beibehaltung der Konstanzhypothese) der Ausfall eines unserer Sinnesvermögen mit dem Wegfall einer bestimmten, alleine durch diese Art des »Inputs« charakterisierten Funktion (beispielsweise des Sehens) gleichzusetzen, was die »Zulieferung« durch die anderen Sinnesorgane hingegen unberührt lässt. In Wahrheit aber »verursacht eine Verletzung der Zentren oder selbst der Leiter nicht den Verlust gewisser sinnlicher Qualitäten oder bestimmter Sinnesdaten, sondern eine Entdifferenzierung der betreffenden Funktion […]. Unabhängig vom Ort der Verlet210 Gibson, J. J.: The Senses Considered as Perceptual Systems, London 1968, S. 3. 211 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 295ff.
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zung auf den Sinneswegen und von ihrer Entstehung tritt z.B. eine Auflösung der Farbempfindlichkeit auf; zunächst modifizieren sich sämtliche gesehenen Farben, ihr Grundton bleibt derselbe, doch ihr Sättigungsgrad nimmt ab; sodann vereinfacht sich das Spektrum […]. Die fortschreitende Zerstörung der Nervensubstanz beseitigt also nicht der Reihe nach fertige Inhalte, sondern äußert sich in wachsender Unsicherheit der aktiven Differenzierung der Erregungen […]. Zentrale Verletzungen scheinen die Qualitäten nicht anzutasten, indessen sie die räumliche Organisation des Gegebenen und die Wahrnehmung der Gegenstände modifizieren […].«212 Die Beeinträchtigung kann jedoch so weit gehen, dass auch diese räumliche Organisation nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Anschaulich wird dies beispielsweise am Phänomen des sogenannten »Phantomarms«. Auch wenn der Arm des Amputierten physisch nicht mehr vorhanden ist, so wird er von dessen Körperschema trotz allem noch immer »präsent« gehalten, er zählt sozusagen für seine praktischen, sich über seinen Leib realisierenden Intentionen noch immer mit. Was abermals keine Angelegenheit eines rein thetischen, geistig operierenden Bewusstseins wäre, sondern nur durch unser körperliches Zur-Welt-Sein selbst verständlich wird. Denn »der Phantomarm ist nicht die Vorstellung eines Armes, sondern die ambivalente Gegenwart des Armes selbst.«213 Die Art der gelebten Situationsoffenheit ist nach wie vor eine, die mit dem nicht mehr vorhandenen Arm und seinen ehemaligen Möglichkeiten des Greifens »rechnet«, in der Summe eine Um-Welt ist, die den ehemaligen Aktionen des Arms den entsprechenden Raum offenhält und die gewohnten Angriffspunkte bietet, deren »Angebot« aber nunmehr zurückgewiesen bzw. »ausgeschlagen« werden muss.214 »Den Phantomarm haben, heißt für alles Tun, dessen allein der Arm fähig ist, offen bleiben, heißt das vor der Verstümmelung besessene praktische Feld sich bewahren […]. Im gleichen Augenblick, in dem die gewohnte Welt in mir meine habituellen Intentionen erweckt, kann ich doch, meines Armes beraubt, mich nicht mehr wirklich ihr zugesellen; handhabbare Gegenstände wenden sich, eben als Gegenstände des Hantierens, fragend an eine Hand, die ich nicht mehr besitze. So grenzen sich im Ganzen meines Leibes Regionen des Schweigens aus.«215 Die habituellen Gewohnheiten des verloren gegangenen Arms werden nach wie vor durch unser Körperschema aufgerufen, finden aber keine Umsetzung mehr in unserer Welt, können nicht mehr auf diese »übergreifen«. All dies verweist seinerseits auf die Räumlichkeit unserer Existenz, die durch die Amputation betroffen 212 213 214 215
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 98. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 106. Vgl. den Abschnitt über (Umgebungs-)«Kälte«. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 106.
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ist und in der auch unsere restlichen Bewegungsintentionen ihren Niederschlag finden. Denn »die verschiedenen Teile des Leibes und seine visuellen, taktilen und motorischen Aspekte sind nicht einfach bloß koordiniert. Sitze ich an meinem Tisch und will ich nach dem Telephon greifen, so umschließen einander die Bewegung meiner Hand auf den Gegenstand zu, die Aufrichtung des Rumpfes und die Kontraktion der Beinmuskeln; ich will ein bestimmtes Ergebnis, und von selbst verteilen die Aufgaben sich unter den beteiligten Segmenten […].«216 Diese Verteilung ist jedoch das Ergebnis einer Räumlichkeit, die nicht diejenige eines Raums an sich ist, in den sich physiologische Vorgänge »eintragen« würden, welche ihren Ausgang von kognitiven (Gehirn-)Zuständen eines welt- und damit raumlosen Subjekts nehmen. Sondern diese virtuelle Räumlichkeit entspricht der aufgezeigten räumlichen Um-Welt, unserer räumlichen Umwelt, die als Feld praktischer Intentionen weltliche Anforderungen und subjektive Ansprüche schon im Vorfeld miteinander ausgleicht. Und im Falle des Phantomarms ist es eine habituell gewordene Räumlichkeit, die (körperlich fühlbar) ein Interaktionspotenzial verspricht, die der abhanden gekommene Arm selbst nicht mehr einzulösen und damit zu verwirklichen im Stande ist. Seine ehemaligen Befähigungen werden quasi fälschlicherweise noch immer in den senso‐motorischen Kreislauf aktueller Bewegungsintentionen und deren projektiver Räumlichkeit mit eingespeist und suggerieren eine Handhabe, die letztlich unerfüllt bleiben muss. Es ist unser gelebter, ein der Welt immer schon »untergeschobener« Vermittlungsraum eines dynamisch sich auslegenden, unterschiedlich ausdifferenzierenden Körperbewussteins, der das Andrängen der Realität durch die Einregelung eines gewissen Wahrnehmungsniveaus für unsere Intentionen auf Abstand hält und in dem unsere Einstellungen und Verhaltungen zu den Dingen »Fuß fassen« können. »In der Tat ist seine Räumlichkeit [des Leibes, R.Z.] nicht wie die äußerer Gegenstände oder auch die der ›Raumempfindungen‹, eine Positionsräumlichkeit, vielmehr Situationsräumlichkeit. Wenn ich, an meinem Schreibtisch stehend, mich mit den Händen auf seine Platte stütze, so sind allein meine Hände akzentuiert, und mein ganzer Körper hängt ihnen gleichsam bloß an wie ein Kometenschweif.«217 216 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 179. 217 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 125. Diese unterschiedliche Akzentuierung unserer Körperregionen und unseres bewussten Körpererlebens durch unser Körperschema wird innheralb der Psychologie mal als Grafik mal als 3D-Modell durch den so »Homunculus visualisiert. Jedoch wird dieser nicht der Dynamik gerecht, die uns das eine Mal »ganz Ohr« sein lässt, solange wir angestrengt zuhören, das andere Mal ganz unser kleiner Zeh, wenn wir in einen Nagel getreten sind.
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Wird nun diese Situationsräumlichkeit gestört, wirkt sich diese Beeinträchtigung auf unsere Handlungsmöglichkeiten im Allgemeinen aus, was Merleau-Ponty am Beispiel des Patienten »Schneider« illustriert: eines von der klassischen Psychologie so betitelten »Seelenblinden«, der u.a. damit Probleme hat, Gegenstände oder Gesichter zu erkennen. Auch befindet sich Schneider nicht in der Lage, »abstrakte Bewegungen« auszuführen, wie Merleau-Ponty sie nennt, weil es ihm nicht mehr gelingt, sich in jenem virtuellen Feld praktischer Intentionen zu bewegen, das einem Gesunden ohne weiteres für seine beabsichtigten Handlungen offen steht. Etwas, das sich schon daran zeigt, dass er sich als unfähig erweist, einer vermeintlich so simplen Aufgabe nachzukommen, wie derjenigen, auf etwas zu zeigen. »Ein Kranker, aufgefordert, mit dem Finger einen Teil seines Körpers zu zeigen, z.B. die Nase, ist dazu nur imstande, wenn ihm erlaubt wird, danach zu greifen. Weist man ihn an, die Bewegung vor Erreichen des Ziels zu unterbrechen, oder soll er seine Nase mit Hilfe eines hölzernen Lineals berühren, so wird ihm die Bewegung unmöglich […]. Die Greifbewegung ist von Anfang an auf magische Weise an ihrem Ziel, sie beginnt nur mit der Antizipation ihres Endes, denn das Verbot des Anfassens genügt, um sie unmöglich zu machen […].«218 Merleau-Ponty interpretiert dies dahingehend, dass alleine schon die Handlung des Zeigens der Möglichkeit des Entwurfs eines projektiven, eines virtuellen Raums bedarf, der über den habituell gewordenen Raum eines wortwörtlich »eingefleischten« und in der aktuellen Umgebung verankerten Leibbewussteins hinausreicht und sich auf potenzielle Situationen hin öffnet, in dem sich unsere Handlungsabsichten imaginierend einrichten können. Ohne dieses räumliche Ausgreifen, ohne die »Orientierung auf Mögliches hin«, die eben mehr bedeutet als eine bloß geistige Antizipation, werden wir zurückgeworfen auf die Faktizität eines Hier und Jetzt, dem wir keinen Spielraum gegenüber zurückbehalten (können) und damit der Möglichkeit beraubt werden, unsere Vorstellungskraft als auch unser begriffliches Überlegen überhaupt zum Zuge kommen zu lassen. Denn jede Art von Ausdeutung, »Verobjektivierung« oder sprachlicher Operation bedarf einer Art Distanznahme gegenüber der eigenen Situationsverankerung. Etwas, das sich auch daran zeigt, dass unter Wegfall der Mög218 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 129. Vgl. zur Beschreibung des »Greifens« ebd., S. 176: »Ich will einen Gegenstand ergreifen und schon erhebt sich an einem Raumpunkt, an den ich nicht dachte, jenes Greifvermögen, das meine Hand ist, diesem Gegenstand entgegen. Meine Beine bewege ich nicht, insofern sie im Raum achtzig Zentimeter von meinem Kopf entfernt sich befinden, sondern insofern ihr Gehvermögen meine Bewegungsintention nach unten hin verlängert.« Vgl. auch ders., Das Auge und der Geist, a.a.O., S. 279: »Alle meine Ortsveränderungen treten prinzipiell an einem Platz in meiner Umgebung auf, sie sind in der Karte des Sichtbaren eingetragen. Alles, was ich sehe, ist prinzipiell in meiner Reichweite, zumindest in Reichweite meines Blickes, vermerkt auf der Karte des ›ich kann‹«.
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lichkeit zu derart abstrakten Bewegungen dem Patienten Schneider nur konkrete Interaktionen mit seiner Umwelt verbleiben, die jeglichen projektiven Moments entbehren. »Konkret« bedeutet hier, dass er sich in keinerlei imaginative, d.h. rein vorgestellte Situation mehr hineinversetzen kann, da er genau jene Vorstellungen im weiter oben beschriebenen Sinne nicht mehr leisten kann. D.h. er bleibt einer Situation verhaftet, die eben keine Distanz gegenüber den aktuellen Anforderungen gestattet, weil sie mit keinem aktiven, imaginierenden Überlegen abgeglichen werden kann. »Der Kranke […] kann in keine Situation eintreten, ohne sie in eine wirkliche zu verwandeln: er unterscheidet ein Rätsel nicht von einem Problem.«219 Eine Charakteristik, wie sie als Lebenswirklichkeit von der Philosophie gerne dem »nicht vernunftbegabten« Leben zugesprochen wird, das seinerseits in einen konkreten Lebensumkreis eingespannt bleibt, ohne sich über diesen erheben zu können. Denn dafür müssten die betroffenen Lebewesen gerade über Begriffe verfügen bzw. über eine begrifflich instrumentierte Wahrnehmung und Vorstellungskraft, in die sich ein individuierter und konkretisierter, sprich benennbarer Gegenstand als (virtuelle) Zielvorgabe integrieren lässt. Die Biene stellt nicht das Vorhandensein von Honig fest, wie Heidegger prominent in den Grundbegriffen zur Metaphysik bemerkt (denn zu begrifflichen Fest-Stellungen ist sie ja gerade nicht befähigt), sondern sie ist »vielmehr einfach von dem Futter hingenommen. Diese Hingenommenheit ist nur möglich, wo triebhaftes Hin‐zu vorliegt […]. Gerade die Hingenommenheit vom Futter verwehrt dem Tier, sich dem Futter gegenüberzustellen.«220 Das Tier »vernimmt« die Objekte seiner Umwelt nicht als Vorhandenes geschweige denn Zuhandenes, zu dem es sich (frei) verhalten könnte (denn ein bewusstes Verhalten impliziert, wie gesehen, die begriffliche Antizipation einer zukünftigen, räumlichen Realisation), sondern wird vielmehr von diesen eingenommen, von ihnen »benommen«, wie die Motte vom Licht. »Weil das Tier aufgrund seiner Benommenheit und aufgrund des Ganzen seiner Befähigung innerhalb einer Triebmannigfaltigkeit umgetrieben ist, hat es grundsätzlich nicht die Möglichkeit, auf das Seiende, das es nicht ist, sowie auf das Seiende, das es selbst ist, sich einzulassen. Aufgrund dieser Umgetriebenheit hängt das Tier gleichsam zwischen sich selbst und der Umgebung, ohne dass das eine oder das andere als Seiendes erfahren würde.«221 Das Tier kann sich nicht frei zu dem verhalten, was es derart umtreibt, es bleibt von dem Umkreis seiner Umwelt »umringt«, dem es durch die eigenen Triebe »zu‐getrieben« wird.222 So schlimm steht nun zwar um den armen Patienten Schneider freilich nicht und auch dessen Dasein ist nicht derart »weltarm«, wie 219 220 221 222
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 163. Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik, a.a.O., S. 353. Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik, a.a.O., S. 361. Vgl., ebd., S. 363.
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das der Tiere (wenn wir Heideggers Analyse Glauben schenken dürfen), doch gelingt es auch ihm nicht, Abstand von einer konkreten Situation zu gewinnen, in der er sein Handeln unterbringen könnte. Nicht, weil ihm die Begriffe hierzu fehlten, sondern weil ihm durch die Störung seines Körperschemas die Möglichkeit genommen ist, sein begriffliches Verständnis in einem nur antizipierten, einem virtuellen Raum möglicher Vorstellungen wirksam werden zu lassen.223 Wird er angewiesen, bspw. einen militärischen Gruß zu vollziehen, imaginär einen Nagel in die Wand zu schlagen o.Ä., so kann er dies nur, indem er diese Situation für sich zur konkreten Situation werden lässt, zur Umgebung, die genau dasjenige Anforderungsniveau enthält, das auch die reale Situation ihm abverlangen würde. Er kann die nur vorgestellte Situation nicht im eigentlichen Sinne durchspielen, sondern sie vielmehr nur für sich selbst verbindlich werden lassen – quasi mit allem, was dazu gehört. Ihm wird durch die Situation mehr mitgespielt, als dass er sie spielen im Sinne von darstellen würde; ohne den nötigen Abstand kann er nicht sondieren, auf was es ankommt und auf was nicht, sein Handeln ist von der ihn umgebenden Situation befangen oder eben eingenommen, sodass ihm ein wesentliches Moment an Freiheit dieser gegenüber abhandenkommt.224 Denn ein persönlicher Freiraum gegenüber einer Situation lässt sich für uns nur dadurch erzielen, dass wir diesen der Situation abgewinnen, indem wir uns selbst in die »Maschen des Determinismus« einfügen, wie es weiter oben mit Sartre hieß. Jedoch tun wir dies zugleich mit dem Ziel, uns gerade nicht in diesen Maschen zu verfangen. Konkrete Freiheit kann für eine verkörperte Existenz wie die unsere aber kein abstraktes Freisein meinen, wie es Sartre selbst dem Folteropfer noch zugesteht, das dieses ja (vermeintlich) noch immer anderes wollen könnte, immer noch eine Selbstwahl hat, obwohl ihm ansonsten sämtliche Handlungsoptionen genommen sind. Konkrete Freiheit ist nicht einfach durch unsere Art der (selbstbewussten) Existenz gegeben, sondern verwirklichte Freiheit meint immer auch einen Freiraum inmitten von bestimmenden Situationsvariablen, bedeutet (handelnde) Bewegungsfreiheit, die der Welt erst abgerungen oder »abgetrotzt«, dieser abgewonnen werden muss; 223 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 129: »Dem Kranken ist sein Körperraum bewusst als Schlacke seines habituellen Tuns, nicht aber als objektives Milieu, sein Leib ist ihm verfügbar als Mittel, sich einzufügen in eine vertraute Umgebung, nicht aber als Ausdrucksmittel zweckfreien, räumlichen Denkens.« 224 »Der militärische Gruß verbindet sich mit allen anderen äußeren Zeichen der Ehrenbezeugung. Der Geste der rechten Hand, die gleichsam die Bewegung des Haarekämmens macht, gesellt sich die der linken zu, die den Spiegel hält, der Geste der rechten Hand, die einen Nagel einschlägt, die der linken, den Nagel zu halten. Die gegebene Anweisung ist also ernstgenommen, nur dann ist der Kranke auf Aufforderungen zu den konkreten Bewegungen imstande, wenn er im Geiste sich in die wirkliche Situation versetzt, der sie entsprechen.« Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 130.
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quasi aus der Mitte ihres kausalen Geflechts heraus. Und nur, wenn wir den Anforderungen der Welt durch unsere Befähigungen etwas »entgegenzusetzen« haben, wie es weiter oben hieß, unsere Möglichkeiten ihr »einfügen« können und uns nicht einfach ihrem Einfluss fügen müssen, kann die Welt unseren Absichten stattgeben, kann sie ihnen »entgegenkommen«. Nur, wenn wir ihre Kausalität unseren Befähigungen gemäß nutzbar machen können, ergibt sich ihr gegenüber jener Freiraum, den wir zu unserem eigenen Lebensraum um‐gestalten können – wozu es jedoch vorstellende Voraussicht braucht. Und genau diese hat Schneider eingebüßt, wodurch ihm jede Art »abstrakter Bewegung« verwehrt bleibt, währenddessen er nicht das geringste Problem damit hat, Bewegungen auszuführen, die das aktuell Gegebene nicht übersteigen, da sie so zusagen im phänomenal direkt erfahrbaren Innenraum seines eigenen Leibempfindens verbleiben, bspw. beim Kratzen einer ihn juckenden Stelle. Er gerät erst dann in Schwierigkeiten, wenn er diesen phänomenalen Bereich »ausweiten« muss und mit einer konkreten Stelle im objektiven Raum verbinden soll, wenn er sie räumlich verorten und damit in Beziehung auf sich selbst (fest-)setzen soll, um sie so für sein weiteres Verhalten verbindlich werden zu lassen. »Von einer Mücke gestochen, muss der Kranke die gestochene Stelle nicht erst suchen, er findet sie unverzüglich, da es ihm nicht darum geht, sie in Bezug zum Koordinatensystem des objektiven Raumes zu setzen, sondern nur darum, seine phänomenale Hand an eine schmerzende Stelle seines phänomenalen Leibes zu führen, und weil im natürlichen System des eigenen Leibes zwischen der Hand als Kratzvermögen und der gestochenen Stelle als Stelle zu kratzen ein Verhältnis erlebt und gegeben ist. Die ganze Handlung spielt sich im phänomenalen Bereich ab und nimmt durch die objektive Welt keinen Durchgang.«225 Denn dieser Durchgang durch die objektive Welt erfordert das reibungslose Funktionieren unseres »Setzungsvermögens«, d.h. unseres Vermögens zur (vorstellenden und sprachlich abgefertigten) »Einsetzung« von (begrifflichen) Platzhaltern und deren antizipierten Wirkungsspektrums. »Z.B. kann ein Kranker an die Tür klopfen, kann es aber nicht mehr, wenn die Tür verborgen oder wenn sie sich auch nur nicht in Berührungsreichweite befindet. In diesem letzten Falle kann der Kranke die Geste des Klopfens oder Öffnens nicht im Leeren ausführen, auch wenn er die Augen offen und auf die Tür gerichtet hat.«226 Seine Existenz hat an Spiel und damit an Spiel-Raum eingebüßt. Denn eine Bewegung auf Mögliches hin ist ihrerseits nur möglich, wenn wir Gegen-Ständen als »anstehenden Potenzialitäten« der 225 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 131. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 143. 226 Ebd., S. 143.
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Handhabe und Aufgabe einen objektiven Ort in einer objektiven Umgebung zuweisen können, in denen sie zu (affektiven) »Polen« unserer praktischen Intentionen werden und ihrerseits unser Verhalten und unser Handeln ausrichten und anleiten, ohne dass diese Wahrnehmungs-Rückkopplung selbst noch einmal bewusstseinspflichtig wäre. Sie findet Eingang in unsere Wahrnehmungswelt als Modifikation unserer Wahrnehmungsumgebung; in der Erweiterung, der Virtualisierung unserer Bewegungsentwürfe, die sich im Möglichen, im Fiktiven einer SituationsVorstellung situieren können. Dem Kranken fehlt diese Erweiterung, diese Befähigung zur räumlich‐objektiven Lokalisierung, da sein Lebensraum, seine räumliche Welterschlossenheit nicht (mehr) jene Flexibilität zulässt, die dem Gesunden wortwörtlich offensteht. Sein »Besitz des Raumes, seine räumliche Existenz ist gestört«,227 was sich auch daran ersehen lässt, dass er sich dort aktiv und kognitiv behelfen muss, wo andere nicht‐intentional einer Aufgabe alleine durch die Intaktkeit ihre Wahrnehmungsumwelt nachkommen können. »Der Kranke bemüht sich um eine explizite Wahrnehmung nur, um einen Ersatz zu finden für eine gewisse Gegenwartsweise von Leib und Gegenstand, die dem Normalen gegeben ist […].«228 D.h. aber, dass seine gesamte Existenz(weise) von der Einschränkung betroffen ist und nicht nur eine getrennt davon (wissenschaftlich) bestimmbare »Funktion«, die auf ihren Bereich, bspw. denjenigen des Sehens beschränkt bliebe. Denn die Einschränkung einer unserer (erkenntnis-)Fähigkeiten wirkt sich auf den Vollzug aller unserer (Erkenntnis-)Fähigkeiten aus, auf die Bewegung verstanden als Bewegungsfreiheit unserer Existenz, die sich über/via/mithilfe der Gesamtheit ihrer Befähigungen in der Welt realisiert und dadurch ihren eigenen Freiraum absteckt, der wie im Falle Schneiders spürbare Einschnitte erfahren kann und auch weiterhin »hinnehmen« muss, weil er ihnen nichts »entgegenzusetzen« hat. Denn eine Steigerung adaptiver Fähigkeiten bedeutet ja im Grunde nichts anderes als die Steigerung unseres Freiheitsgrades, den wir gegenüber der Kausalität der Welt zurückbehalten, während eine Verringerung unserer Befähigungen bedeutet, dass wir den Anforderungen der Welt eben weniger »entgegenzusetzen« haben, uns ihren Vorgaben mehr und mehr fügen bzw. bezogen auf unsere gelebte Räumlichkeit: einfügen müssen. Umso weniger wir selbst aufzubieten haben, desto mehr müssen wir fremden Einflüssen gegenüber einlenken, während wir (vorab) durschaute Zusammenhänge immer auch ein Stück weit (um-)lenken können, sie gewinnbringend kanalisieren können. Denn in den meisten Fällen können wir uns ja gegenüber den vorherrschenden Situationsfaktoren nicht gänzlich abschotten und sie völlig auf Abstand halten. Doch, was wir tun können, ist einen neuen Umgang mit ihnen zu erlernen, sodass in der Folge auch mit uns anders umgegangen wird, wir 227 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 135. 228 Ebd., S. 133f.
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am Ende ein anderes »Auskommen« erzielen können, ein Gleichgewicht, das dem Umfang unseres Freiheitsgrades entspricht. Schwimmen zu können, bedeutet ja nicht, den Wirkungen des Wassers nicht länger zu unterliegen, diesen »enthoben« zu sein, sondern sie gezielt wirksam werden zu lassen für die eigenen Absichten (wie derjenigen der eigenen Fortbewegung) und sich so eine völlig neue (Wahrnehmungs-)Umwelt zu (er-)schaffen, in der weiterführendes Handeln möglich bleibt, anstatt durch unüberwindbare Widerstände dauerhaft unterbunden zu werden. Was bei pathologischen Störungen wie derjenigen Schneiders hervortritt, ist eben eine gewisse Rücknahme, ein Rückzug der eigenen Möglichkeiten aus der eigenen (Wahrnehmungs-)Umwelt, die in der Folge erlebbar anderes strukturiert an ihn herantritt, andere Hindernisse aufbietet und im Ganzen anders und nur unter Zuhilfenahme explizit kognitiver Strategien zu bewältigen ist. Sie ist durch einen geringeren Freiraum gekennzeichnet, weil sie weniger leiblich zuhanden ist als ihr Pendant: die Umwelt des Gesunden. Sie muss aktiv (und damit bewusstseinspflichtig) gehandhabt werden und bindet im Gegensatz zu ihrem Pendant dadurch geistige Ressourcen, die andernfalls hätten dafür aufgewendet werden können, den projektiven Kreis persönlicher Einflussnahme im Vorfeld (virtuell‐vorstellend) zu erweitern. Was Merleau-Ponty betont, ist, dass Schneiders Einbußen (wie in der klassischen Neuropsychologie als Erklärungsprinzip beliebt) nicht zu erklären und nicht gleichzusetzen sind mit dem Wegfall einzelner oder mehrerer, klar umrissener Zuständigkeiten gewisser Hirnregionen und damit korrelierend mit eindeutigen (Sinnes-)Qualitäten, deren »Zulieferung« nunmehr gestört wäre. Denn anstatt fixe Aufgabenbereiche des Gehirns zu postulieren, ist es nämlich wahrscheinlicher, »dass komplex fluktuierende kortikale und subkortikale Netzwerke in einem höchst dynamischen Zusammenspiel aus gegenseitiger Aktivierung und Hemmung unser bewusstes Erleben ermöglichen. Biologische Grundlage unseres Bewusstseins scheint eine ganze Anzahl miteinander verbundener paralleler Netzwerke zu sein.«229 D.h., dass die kognitive Architektur des Menschen nicht in einer zugrundegelegten »Blaupause« ihr wesentliches Auskommen hat, die strikt vorgibt, auf welchem Weg unsere Neuronen unser bewusstes Erleben bedingen, sondern dass diese Architektur »aus dynamisch miteinander interagierenden Teilsystemen besteht, die erst durch ihre Wechselwirkung ihre Funktionalität erhalten.«230 229 Hassler, Felix: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 2012, S. 54f. 230 Kiefer, Markus: Zusammenwirken kognitiver Systeme: Kognitionspsychologische und neurophysiologische Befunde zur Rolle des semantischen Gedächtnisses bei der Informationsverarbeitung, in: Psychologische Rundschau, 59, S. 93.
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Gestört im Sinne von gehindert und damit verhindert ist daher nicht ein einzelner Aufgabenbereich eines vermeintlich streng arbeitsteiligen Gehirns, kein reines Gegenstandsbewusstsein, sondern vielmehr die räumliche Weite selbst von Schneiders leiblicher Existenz, der »Umfang« seiner qualitativ als Ganzes erschlossenen Um-Welt: jene Offenheit, die sein direkter Lebensumkreis ist. Denn selbst einfachste Analogien wie: »das Fell ist für die Katze, was das Gefieder für den Vogel231 kann er nicht mehr verstehen, denn zu eben jenen visuellen Verknüpfungen, zur anschaulichen Räumlichkeit und räumlichen Vorstellbarkeit von Wirkungen und Auswirkungen aufeinander ist er nur noch über den Umweg aktiven Schlussfolgerns in der Lage. Ihm »inkarniert« sich keine (sinnliche) Bedeutung mehr, denn dem Eindruck, den die Dinge auf ihn machen könnten, ist nunmehr der Resonanzboden entzogen und sie beginnen, sich jenen mehr oder weniger »objektiven« und »stummen Impressionen« anzunähern, die die Wissenschaft als den Normalfall eines jeden Wahrnehmungsvollzuges ansetzt. Doch der Gesunde muss sich nicht derart aktiv den Ausdruckswert von Dingen erschließen, sondern bei ihm finden seine Intentionen »einen Widerhall im Wahrnehmungsfeld, polarisieren dieses, drücken ihm ihren Stempel auf, lassen mühelos in ihm eine Welle von Bedeutungen sich erheben. Beim Kranken [hingegen] hat das Wahrnehmungsfeld diese Plastizität eingebüßt.«232 Und diese Plastizität meint hierbei nichts anderes als die Möglichkeit zu jenen permanenten Umgewichtungen und Akzentuierungen, die durch die Aufgabenstellung und die Anforderungssituation selbst gegeben sind. Sie meint eine Art mitlaufende und vorauslaufende, motorische Differenzierung, die die Umgebung einem anderen Rhythmus unterwirft und uns durch Situationen hindurchleitet anhand von Physiognomien, derer wir gewahr werden, noch ehe uns das Spezifische einzelner Dinge zu Bewusstsein kommen muss. Jene haben für Schneider ihren affektiven Wert eingebüßt, haben ihre grundlegende Erschlossenheit für seine Körperlichkeit verloren, die den Normalen etwas ohne (kognitive) Umwege als anziehend oder abstoßend, verführerisch oder unheimlich, ekelerregend oder beängstigend erfahren lassen. Sprich, jenes Vermögen hat eine Einbuße erfahren, das uns erlaubt »in der gegebenen Welt Grenzen zu ziehen, Richtungen festzuhalten, Kraftlinien abzuzeichnen, Perspektiven zu eröffnen. Kurz, nach einem Augenblicksprinzip die Welt zu organisieren, auf die geographische Umgebung ein Milieu des Verhaltens und ein Bedeutungssystem zu gründen, das im Außen die innere Aktivität des Subjekts ausdrückt.«233 Dazu dürfen aber Wahrnehmung und Handlung, Wahrnehmung und (begriffliche) Vor-Stellung nicht parallel zueinander verlaufen. Sie müssen sich vielmehr gegenseitig überlagern oder untermauern, sich eben in einem eminenten Sinne 231 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 155f. 232 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 159f. 233 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 138.
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ergänzen können.234 Dass die eine die jeweils andere beeinflusst, ist als Erklärung nicht hinreichend, sondern auf was es ankommt, ist quasi ihre »Parallelschaltung«, die Möglichkeit ihrer gegenseitigen Aufgehobenheit in jeweils anderen Fähigkeit. »In die volle Welt, in der die konkrete Bewegung sich abspielt, gräbt die abstrakte Bewegung eine hohle Zone der Reflexion und Subjektivität, sie überschiebt dem physischen Raum einen virtuellen oder menschlichen Raum. Die konkrete Bewegung ist zentripetal, die abstrakte Bewegung ist zentrifugal, die erste hat statt in der Wirklichkeit oder im Sein, die zweite im Möglichen oder im Nicht-Sein, die erste heftet an einem gegebnen Hintergrund sich an, die zweite entfaltet ihren Hintergrund selbst«.235 Und was es konkret bedeutet, seinen eigenen (Wahrnehmungs-)»Hintergrund« zu entfalten, dessen Stellen neu »besetzt« und (um‐gewichtet) werden und der sein eigenes Standardniveau an Wahrnehmungsintensität und seinen eigenen (semantisch gestützten) Verweisungszusammenhang ausbildet, von dem aus sich ein Kontrast zu unseren eingespielten Erfahrungen Sichtweisen ergibt, wird nirgendwo so anschaulich, wie bei den Phänomenen ästhetischer Gestaltung selbst, mit deren Beschreibung ich diese Arbeit beschließen möchte.
234 Wie wäre es auch sonst erklärlich, dass im Wahn oder unter Drogeneinfluss die Grenzen zwischen Fantasie und »Realität«, d.h. zwischen Wahrnehmung und Vor-Stellung derart verschwimmen können, dass ihr jeweiliger Beitrag für das Gesamtergebnis unseres Erlebens nicht mehr zu unterscheiden ist? 235 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 137.
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6 Die Gestaltung der Welt
6.1
Kunst, Wahrheit und Humor »Die Kunst reißt die Hüllen herunter, die den Ausdruck der Dinge der Erfahrung verbergen.« - John Dewey
»Ja, genau so ist es!« Wenn wir uns herzhaft amüsieren und als Begründung nur jenen allzu bekannten Ausspruch anführen können, dann war meist nicht ein einfacher, verbal mitgeteilter Witz die Ursache unserer Erheiterung, sondern die humoristische Darstellung von etwas, bei der es auf das Timing, die Platzierung und die Details der Szene gleichermaßen ankam. Welches Beispiel wir hierzu wählen, ist im Grunde gleichgültig, denn auf was es uns im Folgenden ankommen soll, ist, etwas durchaus Allgemeingültiges über die »Funktionsweise« solcher Darstellungen aufzudecken und dazu muss auch ein zweitrangiges Beispiel aus einer Zeichentrickserie für »wahren Humor« genügen.1 Die Szene (frei nacherzählt) ist die folgende: Homer Simpson befindet sich an seinem Arbeitsplatz in Sektor 7G und wir sehen, wie er (mal wieder) schläft, bis über ihm eine Warnleuchte in grellem Rot und schrillem Ton ihn aus dem Schlaf reißt. Eine computergenerierte Stimme informiert alle Anwesenden eindringlich und doch zugleich überaus sachlich von der bevorstehenden »Kernschmelze« in »genau 5 Minuten«. Aufgeschreckt versucht er sich damit zu beruhigen, dass, »wer immer für das Problem zuständig ist, 1 Ein Vorhaben, das selbstverständlich von vielen bestritten werden dürfte, die nicht glauben, man könne so etwas wie das »Wesen« von Humor im Allgemeinen (er)fassen – also werde ich es tunlichst unterlassen, dergleichen zu behaupten. Da einem dieser Einwand allerdings nicht minder auch bei der näheren Bestimmung von Sprache, Wahrnehmung und ästhetischer Gestaltung entgegenschlägt, befindet man sich mit einem solchen Vorhaben in bester Gesellschaft wohlvertrauter Relativismen. Und da es die Proponenten dieser Auffassungen sind, die notorisch eine Antwort auf diese Frage schuldig bleiben, was es denn nun des genaueren mit Sprache, Wahrnehmung und Ästhetik auf sich hat, liegt die Beweislast, wie es so schön heißt, nicht bei demjenigen, der einen vermeintlich zu starken Definitionsvorschlag anbietet, als bei demjenigen, der überhaupt keinen anzubieten hat.
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es schon in den Griff bekommen wird«, bis er bei einem Blick auf seine eigenen Armaturen realisiert, dass er der Verantwortliche ist – was ihm den Aufschrei entlockt, dass sie alle verloren sind! Der Sektor wird automatisch abgeriegelt und wir sehen eine Überblende in das Nachrichtenstudio von Springfield, in dem der Nachrichtensprecher seinem Team letzte Anweisungen erteilt, wie er wünscht, für die Sendung zurecht gemacht zu werden, bevor er bemerkt, dass er bereits live auf Sendung ist und dadurch schlagartig in den professionellen Modus der sachlichen Berichterstattung überwechselt und das bestehende Problem erläutert, als handele es sich nicht um eine bevorstehende Kernschmelze, sondern um x‐beliebige Nachrichten vom anderen Ende der Welt. Nach einführenden Informationen wird ihm nun auch der Betreiber des Atomkraftwerks der Stadt per Telefon in die Sendung zugeschaltet, Mr. C. Montgomery Burns, der allerdings nur per eingeblendetem Foto zu sehen ist, auf dem er sichtlich jünger, mit deutlich erkennbarem (durch eine andere Farbe hervorgehobenem) Toupet und erzwungenem Lächeln die Zuschauer darüber informiert, dass »überaus kundiges Fachpersonal schon längst dabei ist, eine ganz und gar unbedeutende, nicht weiter erwähnenswerte Störung im ansonsten reibungslosen Ablauf des Kraftwerks zu beheben.« Ein unmittelbarer Schnitt setzt uns Zuschauer allerdings ohne Umweg davon in Kenntnis, wie diese »fachkundige Behebung« vor Ort und damit als raum‐zeitlich realisierte tatsächlich aussieht: sämtliche Arbeiter halten sich schreiend die Hände an den Kopf, laufen ziellos wie aufgescheuchte Hühner im Kreis, plündern den Automaten der Cafeteria und finden sich zusammen zum letzten Gebet, das von einem selbsternannten Priester aus ihren eigenen Reihen gehalten wird, der einen Bierkasten zur Kanzel umfunktioniert hat. Bei der letzten Szene dieser Schnittfolge, bei der hunderte von Ratten gezeigt werden, die panisch aus dem Kraftwerk flüchten und eine Sirene ertönt, die an einen Fliegeralarm erinnert, hören wir erneut Montgomery Burns aus dem Off sagen, dass er der Öffentlichkeit versichern könne, dass »von dem Zwischenfall nicht die geringste Gefahr ausginge und sich die Dinge gar nicht in besserer Verfassung befinden könnten«, dass sie, wie es noch spielerischer im englischen Original heißt, »couldn’t be more in shipshape.« Noch bevor er den Satz zu Ende spricht, sehen wir ihn bis zum Hals in einem Strahlenschutzanzug stecken, den Telefonhörer in der einen Hand, dessen Muschel er kurz mit der anderen bedeckt, als ihn sein Assistent fragt, wo denn sein Anzug wäre, worauf Burns wütend entgegnet, »woher er das wissen solle«, während wir ein closeup von ihm und seinem Anzug sehen, auf dem ein großes Namensschild angebracht ist, auf dem nicht »Burns« sondern »Smithers« (der Name des Assistenten) zu lesen ist. Die Szene endet damit, dass Homer sich nicht anders zu helfen weiß, als einen Kinderreim aufzusagen, der ihn am Ende einen Knopf drücken lässt, der die Kernschmelze in letzter Sekunde abwendet, was ihm auch die Computerstimme bestätigt und ihm daraufhin noch »einen schönen Tag« wünscht. Was an dieser Szene lustig ist (sollte man sie denn
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überhaupt als solche empfinden) ist im Grunde nicht schwierig zu sehen: da ist das Sachliche der Computerstimme, die einen Countdown für eine Kernschmelze ansetzt als handele es sich um ein alltägliches Messen der Zeit und nicht um den größten, anzunehmenden Unfall, auf den sie alle unwillkürlich zusteuern; da ist Homer, der erst in Panik gerät, als er bemerkt, dass das Problem nicht zu beheben ist, weil es an ihm wäre, es zu lösen; da ist Mr. Burns, der gekonnt die Medien zum Narren hält und seinen Assistenten in einer für ihn lebensbedrohlichen Angelegenheit belügt und der Nachrichtensprecher, dem sein Aussehen wichtiger ist als der Informationsgehalt der Sendung, von dem er wissen müsste, das er alles andere in den Schatten stellt. Aber so beschrieben klingt es schon gar nicht mehr so lustig. Man ist im Gegenteil eher versucht zu sagen, dass es doch traurig ist, bedauernswert, dass es sich so verhält und die dargestellten Personen sich in dieser Situation so verhalten. Liegt es also am Kontrast, dass wir die Darstellung als lustig empfinden, an dem »performativen Widerspruch« zwischen Gesagtem und Gezeigten, zwischen den Informationen, die den Zuschauern zugespielt werden und den Informationen, die an den Nachrichtenzuschauer in der Szene ergehen, von denen wir wissen, dass er sie nicht mit dem abgleichen kann, was wir zu sehen bekommen? Mag sein, dass dies der Gehalt war, über den wir einst gelacht haben, doch warum lachen wir noch immer – selbst noch nach Jahren? Das Prinzip bloßer Gegenüberstellung und Aneinanderreihung genügt hier als Erklärung nicht. Die alleinige Zusammen-Stellung von einzelnen Versatzstücken, auch wenn sie womöglich stark miteinander kontrastieren, ergibt in der Summe lediglich das, was Literaturkritiker bezogen auf das Sujet »Kolportage« nennen. Und diese ist bei weitem kein Garant für Humor, eher noch ein Zeichen für schlechten Geschmack, bei dem die Einheit des Narratives nicht aus dem Thema heraus gewonnen wird, sondern vielmehr künstlich erzwungen ist. Ist es folglich vielleicht das Durchkreuzen einer bestimmten Erwartung und das Enttäuschen einiger von uns bis dato gehegten Überzeugungen, wie wir es ganz zu Anfang bei unseren hermeneutischen Überlegungen schon kennengelernt haben?2 Mit Sicherheit spielt auch das eine Rolle, doch inwiefern lässt sich behaupten, es hätte vor allem mit unserer Erwartungshaltung zu tun und mit uns vorenthaltenden Informationen und einer bestimmten und vor allem überraschenden Auflösung der Szenefolge, dass wir etwas lustig finden, obwohl wir die betreffende Folge vielleicht »in und auswendig« kennen? Sind es daher Anspielungen, die den Schlüssel zum (humoristischen) Erfolg abgeben? Dann bliebe die Frage entscheidend, auf was angespielt wird und zwischen was sich der Kontrast abzeichnet. Wird lediglich auf etwas und in einer Art angespielt, die pures Wiedererkennen erfordert, reiht sich dieses Stilmittel nämlich über kurz oder lang unter die Kolportage 2 Vgl. hierzu Lipps, Theodor: Die befriedigte und enttäuschte Erwartung, in: Texte zur Theorie der Komik, Stuttgart 2005, S. 89 – 94.
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ein. Wer es bereits lustig findet, jemand oder etwas als etwas anderes dargestellt zu sehen und sich am Feststellen des bloß Nicht-Zusammenpassenden erfreut, versäumt das hier beschriebene Phänomen ebenfalls. Denn ich kann mich hier nicht der Meinung und dem Empfinden anschließen, dass es bereits (in dem hier gesuchten Sinne) lustig sei, bspw. eine prominente Persönlichkeit, die als integer und willensstark gilt, kurzum als jemanden darzustellen, der sämtliche Hemmungen fallen lässt und sein Geld in den Dienste seiner niederen Gelüste stellt. Dass also das Komische gerade in »diesem Beobachten des Gegenteils« liegt3 oder sich das Komische »durch die Beziehung auf eine Regel [ergibt], der es widerstreitend gegenübertritt […].«4 Von einem solchen Humor würden wir vielmehr (umgangssprachlich) sagen, er sei »platt«. Denn auch dieses Vorgehen würde nur im Dienste eines künstlich erzwungenen Kontrastes stehen, ohne, dass es die Sache sozusagen von sich aus »hergibt«. Doch was bedeutet das? Was bedeutet es, dass Humor im Gegensatz zu seinem platten Gegenstück auch eine gewisse »Tiefe« aufweisen kann? Tiefe wohin oder zu was? Ein erster Blick auf die Funktionsweise der Darstellung‐als scheint geeignet, uns einen Hinweis hierauf zu liefern und ein wesentliches Prinzip ästhetischer Gestaltungen in einem ersten Anlauf zu umreißen. Denn jede Darstellung‐als bewirkt eine gewisse De-Platzierung und Re-Platzierung des Dargestellten, eine DeKontextualisierung und Re-Kontextualisierung. Wenn wir einen Prominenten als zügellosen Lebemann darstellen möchten, so bleibt uns ja nichts anderes übrig, als seine Umgebung (im weitesten Sinne) mit einzubeziehen, die sich wiederum (wie weiter oben beschrieben) ohne Umwege auf unsere Wahrnehmung und Auffassung von ihm auswirkt, weil wir nie etwas für sich genommen wahrnehmen. Entweder wir alternieren seine Kleidung, sein Aussehen und gewisse Attribute, etwas, das ihn unmittelbar umgibt und damit als zu seiner Erscheinung wesentlich zugehörig erlebt wird, d.h. etwas, das überall dort anzutreffen ist, wo auch er wahrgenommen werden kann. Oder wir alternieren das Umfeld, in dem er sich (tagtäglich) bewegt und zu dem er sich affirmativ oder ablehnend verhält, wodurch (für unsere Einschätzung) hervortritt, ob es sich um seine ihm »natürliche« Umgebung handelt, was wiederum Rückschlüsse auf ihn selbst und seinen Charakter erlaubt. Nicht umsonst sagen wir ja, etwas wirke »deplatziert«, wenn es nicht dort anzutreffen ist, wo wir es für gewöhnlich erwarten, also eingelassen in eine für ihn typische Umgebung. Sich den ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten in einem beliebigen Vergnügungs-Etablissement vorzustellen oder ihn dort bildlich darzustellen, dürfte zB. definitiv deplatziert wirken.5 3 Pirandello, Luigi: Der Humor, Mindelheim 1986, S. 162. 4 Jünger, Georg, Friedrich: Über das Komische, Frankfurt a.M. 1948, S. 13. 5 Bei dem gegenwärtig amtierenden Präsidenten scheint diese Aussage wiederum anzweifelbar.
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Doch sind wir mit dieser Beschreibung wirklich einen Schritt weiter? Ist es nicht wieder nur eine Art von (unspezifischem) Kontrast, der durch eine solche De-Platzierung bewirkt wird und welche den humoristischen Effekt bedingt? Das mag für die platte Variante von Humor zutreffend sein, doch wenn wir auf unseren Ausspruch vom Anfang zurückkommen, zeigt sich schnell, dass eine reine De-Platzierung noch keine gekonnte und stimmige Re-Platzierung (in einem veränderten ästhetischen Sinn-Zusammenhang) bedeuten muss. Dass also eine reine Zusammen-Stellung, eine bloße Komposition oder Konstellation von uns noch keine Um-Stellung unserer Sichtweise erfordert, mit der wir uns »arrangieren« können und müssen, um die Sichtweise des ästhetischen Gebildes nachvollziehen zu können. Doch was genau wird re‐platziert? Es. Und wie wird »es« umgestellt und neu platziert? Genau so. Denn es gilt ja: ja, genau so ist es! Auf was hier »angespielt« wird, was die Folie für den Kontrast abgibt, was in dieser Zusammenstellung gegenüber‐gestellt wird, ist nicht einfach ein anderes Element aus demselben Sinnzusammenhang oder eine identifizierbare, einzelne »Bezugs«-Person, die der Darstellung‐als ihren Halt gibt. Sondern (und das ist die in der philosophischen Ästhetik oft bemühte und genauso häufig überstrapazierte These) »es« ist eben das Hintergründige von hintergründigem Humor, von dem wir sagen, dass es durch diese Dar-Stellung für uns erfahrbar und durch die Her- und Aus-Stellung in diesem Zusammenhang für unser Erleben »greifbar« wird, d.h. zur Abhebung gelangt. Oder mit dem in der philosophischen Ästhetik an dieser Stelle gerne bemühten Gestus: »es« ist Wahrheit, die für uns auf diesem Wege anschaulich wird. Was für ein nachmetaphysisches Denken, das jeder Art von semantischem Objektivismus abgeschworen hat, freilich keine überzeitlichen ewigen Wahrheiten bedeuten kann, das Hegelsche Erscheinen der Idee oder die Schopenhauerische Kontemplation ideeller Wesenheiten, welche die Anschauungswelt und das Denken in Kausalzusammenhängen hinter sich lässt, sondern im Gegenteil und geradezu widersprüchlich klingend kontingente, historisch gewachsene, situative Wahrheiten im Plural meinen muss: dasjenige, das wir »unsere« Wahrheit genannt haben, d.h. unsere eigene Situation, den Brennpunkt gewisser uns grundlegend orientierender Koordinaten, unsere lebensweltliche Ausgangsposition oder kurz: unser In‐der-Welt-Sein, unser In-Situation-Sein. »Es« ist nicht das Seiende (und auch nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, wie in marxistisch argumentierenden Ästhetiken anzutreffen6 ), das sich uns geschichtlich »gelichtet« bei der Rezeption von gelungenen Werken der Kunst in seinen Grundzügen »zuspricht«, wie es auch Heidegger nach seiner Kehre veranschlagt, um falsche Subjektivierungen des Ästhetischen zu vermeiden.7 Denn Wahrheit kann in unserem Zusammenhang nicht das »Sich‐ins-Werk-Setzen der 6 Vgl. für eine Kritik Bubner, Rüdiger: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989, S. 20 – 30. 7 Vgl. Heidegger, Martin: Die Zeit des Weltbildes, in: ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 2003. Vgl. ebenfalls ders., Der Ursprung des Kunstwerks, a.a.O., S. 91.
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Wahrheit des Seienden« bedeuten und dessen Heraustreten aus der »Unverborgenheit seines Seins«.8 Und trotz dieses überhöhten Wahrheitsbegriffs, den Heidegger gegen bloße »Richtigkeit«9 ausspielt, lässt sich genau so gut an seine Beschreibungen anknüpfen, wenn wir sie nur liberal genug und um Anschluss bemüht auslegen, um der hier aufgeworfenen Frage nachkommen zu können. Denn auch er weist in seinem Kunstwerk-Aufsatz nachdrücklich darauf hin, dass einen ästhetischen Werkzusammenhang auszubilden, diesen auf- und her‐zustellen nicht bedeutet, ein diskriminierbares Etwas abzubilden, sondern einen ganzen Bereich, einen Sinnzusammenhang zu eröffnen und anschaulich werden zu lassen. Das ästhetische Gebilde schildert nicht bloß ab, indem es auf (wiedererkennbare) Dinge und Begebenheiten anspielt, auf diese verweist oder »referiert«, sondern es rückt diese in einen anschaulich erfahrbaren Sinnhorizont ein, bei dem sie sich von einer gewissen Seite her zeigen und andere Seiten dabei bedeckt halten. Das berüchtigte (und irrtümlich Van Gogh zugeschriebene) Gemälde, das Heidegger für seine Interpretation heranzieht, zeigt ja vergleichsweise die (ganze) Welt einer Bäuerin. Aber es zeigt diese eben nicht nur, es stellt sie »auf« und damit anschaulich aus: »Werksein heißt: eine Welt aufstellen. Aber was ist das, eine Welt? […] Welt ist nicht die bloße Ansammlung der vorhandenen abzählbaren, bekannten und unbekannten Dinge. Welt ist aber auch nicht ein nur eingebildeter, zur Summe des Vorhandenen hinzu vorgestellter Rahmen […]. Welt ist nie ein Gegenstand, der vor uns steht und angeschaut werden kann. Welt ist das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen, solange die Bahnen von Geburt und Tod, Segen und Fluch uns in das Sein entrückt halten. […] Der Stein ist weltlos. Pflanze und Tier haben gleichfalls keine Welt […]; dagegen hat die Bäuerin eine Welt, weil sie sich 8 Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks, a.a.O., S. 30. Man muss an dieser Stelle hinzufügen, dass die hier anzutreffende Variante einer Wahrheitsästhetik ein Topos ist, der sich bereits bei Baumgarten findet. Sah Baumgarten doch in den »niederen Erkenntnisvermögen«, die auf die begriffliche »Abstraktion« verzichten, einen bis dato zu Unrecht vernachlässigten Zugang zur einer eigenen »Wahrheit der Dinge«. Vgl. bspw. Baumgarten, Alexander G.: Ästhetik, Hamburg 2009, § 560: »Doch schon fragt man sich, ob die metaphysische Wahrheit einem solchen Allgemeinen so entsprechen mag, wie sie dem Individuum entspricht, das unter demselben enthalten ist? Ich meine in der Tat, dass es dem Philosophen nunmehr im höchsten Maße offenkundig sein kann, dass in der Vorstellung und in der logischen Wahrheit nur mit einem Verlust an vieler und großer materieller Vollkommenheit zurechtzubringen war, was auch immer an formaler Vollkommenheit innewohnt. Denn was ist die Absonderung, wenn nicht ein Verlust? Ebenso brächtest du aus einem Marmor aus unregelmäßiger Form keine Marmorkugel heraus, wenn nicht wenigstens durch soviel Einbuße an Material, in welchem Maße sie der höhrere Wert der Rundheit verlangen wird.« 9 Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks, a.a.O., S. 34. Für eine Kritik dieser Auffassung und für ein Plädoyer eines komplementären Verständnisses von Aussagenwahrheit und welterschließender Funktion s. Seel, Martin: Über Richtigkeit und Wahrheit. Erläuterungen zum Begriff der Welterschließung, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 41, S. 509 – 524.
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im Offenen des Seins aufhält. Das Zeug gibt in seiner Verlässlichkeit dieser Welt eine eigene Notwendigkeit und Nähe. Indem eine Welt sich öffnet, bekommen alle Dinge ihre Weile und Eile, ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge.«10 Mit einem solchen Welt-Begriff sollten wir uns nach den vorangegangenen Beschreibungen arrangieren können. Doch braucht eine solche Welt ein »Fundament«, auf dem dieser eröffnete Sinnhorizont »aufruhen« kann und das Heidegger (etwas kryptisch) »Erde« nennt. Um auch diese Beschreibung ein wenig anschlussfähiger zu gestalten, ließe sich auch sagen, dass die gelungenen Werke der Kunst anschaulich den lebensweltlichen Hintergrund rekonstruieren und rekonfigurieren, auf dem unser (alltäglicher) Handlungs- und Orientierungsraum fußt und in dem unsere kulturellen Praktiken fundiert sind, ohne dass dieser selbst dabei thematisch würde, weil er seinerseits unsere begrifflichen Orientierungen überhaupt erst ermöglicht. »Die Erde herstellen heißt: sie ins Offene bringen als das sich Verschließende«,11 wie es in der berühmten Formulierung hierzu heißt. Oder, wie wir im Anschluss an unsere eigenen Überlegungen nun auch sagen können: ästhetische Gebilde stellen einen gewissen weltlichen Zustand aus, oder noch kürzer: sie sind die Darstellung von Welt-Zuständen. Die Art und Weise, wie uns ein solcher Weltzustand präsentiert wird, die Art und Weise, die Gestalt, in der dieser uns erscheint, ist dabei so zusagen als »Potenzial«; als Potenzial, diesen oder jenen (Lebens-)Welten ihren Halt geben und unsere alltäglichen Verrichtungen »tragen« zu können, sie als solche »aufrecht« zu erhalten. »Indem aber eine Welt sich öffnet, kommt die Erde zum Ragen. Sie zeigt sich als das alles Tragende, als das in sein Gesetz geborgene und ständig Sichverschließende.«12 Um dieser Funktion nachkommen zu können und dem her‐gestellten Sinngefüge und dem dar‐gestellten Weltzustand Be-Stand verleihen zu können, bedarf dieser eines »materiellen« Moments, in das sich die eröffnete Welt und der anschaulich freigegebene Sinnhorizont »zurückstellen« kann, wodurch dieser eine eminent qualitative Dimensionierung erfährt, auf welcher er »aufruht«. Nur in der Welt der Bäuerin hat die Erde ja jene Qualität, die Heidegger anhand des Gemäldes beschreibt und welche auch die Dinge dieser Welt prägt; sie zeigt sich an diesen Dingen, sie wird durch diese und anhand dieser Dinge dargestellt: »Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend […]. Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. Aus diesem behüteten Zugehören ersteht das Zeug selbst zu seinem Insichruhen.«13 Die »Elemente« einer ästhetischen Konfiguration befinden sich dabei im »Streit« zwischen partieller Erschlossenheit 10 11 12 13
Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks, a.a.O., S. 41. Ebd., S. 44. Ebd., S. 63. Ebd., S. 28.
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durch die Eingliederung in einen spezifischen weltlichen Zustand, der ihnen gewisse Seiten abfordert und der Behauptung ihrer (materiellen) Eigenständig- und Eigengesetzlichkeit gegenüber dieser Welt, in der sie nicht völlig aufgehen und sich etwas von ihrem (materiellen) »Eigengewicht«, ihrer »Potenz« zurückbehalten, die immer auch für andere Welten und andere Weltzustände die nötige Grundlage abgeben können.14 Ob dadurch nun in der Kunst ein eigenständiges und nicht vom Subjekt aus gedachtes »Wahrheitsgeschehen« am Werke ist oder ob sich diese letzte Deutung nicht »vielmehr einer fundamentalen Skepsis der nachidealistischen Philosophie gegenüber dem begrifflichen Denken [verdankt], die den Wunsch nach einer metarational fundierten Wahrheit keimen läßt«15 , sei dahingestellt. Dass (gelungene) ästhetische Gebilde jedoch in der Lage sind, gerade jenes Hintergründige zu thematisieren und aufscheinen zu lassen, das auch dem Hintergründigen in der gesuchten Art von gelungenem Humor zu entsprechen scheint, scheint mir überzeugend. Humor, der eine gewisse Tiefe aufweist, weist unsere »Tiefe« auf, unser Verstricktsein in gewisse Situationsumstände und -konstellationen, unser Eingebettetsein in weltliche Zustände, denen wir uns nicht einfach entziehen können und denen wir in unseren alltäglichen Verrichtungen ausgesetzt bleiben. Die Wahrheit, die hier in Anschlag gebracht wird, entspricht dabei klarerweise nicht dem Informationsgehalt der dargestellten Szene, der »Verlässlichkeit« des Gezeigten, sondern der Verlässlichkeit, d.h. der Grundlage, welches das Gezeigte im Kontrast überhaupt ermöglicht. Denn ganz offensichtlich würde über eine bevorstehende Kernschmelze nicht mit solcher Nüchternheit berichtet werden, die Mitarbeiter würden nicht augenblicklich Automaten zerschlagen und plündern, man würde kein Foto für ein Fernsehinterview wählen, das ganz klar das Toupet seines Trägers kenntlich machte usf. Und doch gilt es »wie immer in der Kunst, [zu] lügen, um die Wahrheit zu sagen«.16 Entsprechend lautet die in hermeneutischen Kreisen bekannte These, »dass Kunstwerke im kategorischen Gegensatz zu bloßen Darstellungen die Mittel der Darstellung in einer Weise gebrauchen, die nicht erschöpfend spezifiziert ist, wenn 14 Vgl. Rebentisch, Juliane: Aesthetics of Installation Art, Berlin 2012, S. 231: »Yet because the material of the work of art can never authentidate these formations of interrelation and meaning, any possible formation of meaning is referred back to the facticity of the material, which, for its part, always already suggests latent meaningfulness and invites new formation and meaning.« Im Gegensatz zu Rebentisch und einer Ästhetik der ewigen Sinnverweigerung und -verschiebung, gehe ich jedoch davon aus, dass »the facticity of the material« nicht nur einen latenten Sinn nahe legt, sondern ihn aus den dargelegten Gründen hat bzw. ausdrückt. 15 Schmücker, Reinold: Was ist Kunst? Eine Grundlegung, a.a.O., S. 35. Vgl. ebd., S. 38: »Auch die Wahrheit, die eine überbietungstheoretische Wahrheitsästhetik ihnen [den Kunstwerken, R.Z.] unterstellt, können sie daher nur demjenigen präsentieren, der sich für sie öffnet, indem er ein Werk deutet und es so von seiner monadischen Stummheit erlöst.« 16 Sartre, zit.n. Merleau-Ponty, Maurice: Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, a.a.O., S. 78.
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man das Dargestellte erschöpfend spezifiziert hat.«17 Sozusagen auf den identifizierbaren Informationsgehalt erster Ordnung können wir uns nicht verlassen, ihn können wir nicht in Stellung bringen, um uns mit einer anstehenden Situation zu konfrontieren und uns in ihr zu orientieren, (genau) ihm entspricht nichts in unserer Lebensrealität – und doch zeigt uns das humoristisch-ästhetische Gebilde gerade dadurch, über diese Abweichung etwas ganz entscheidendes über unsere Lebensrealität: etwas über uns und unsere Situation, indem es etwas über die Situation des Dargestellten zeigt, es einen Inhalt »zweiter Ordnung« aufweist. Es zeigt nicht nur etwas, sondern es zeigt darüber hinaus die Art und Weise wie es dieses etwas präsentiert, es präsentiert »den Inhalt in einer Weise […], die etwas über den präsentierten Inhalt zeigt.«18 Und es präsentiert dies im Falle von hintergründigem Humor, indem es übertreibt, die Reaktionen und Verhaltensweisen der dargestellten Dinge und Personen über das normale, uns bekannte (Aus-)Maß (eines standardisierten Wahrnehmungs- und Begriffsniveaus) »hinaustreibt«, indem es die Dinge (wie es für eine Zeichentrickserie sehr treffend heißt) überzeichnet. Doch genau dies ist der springende Punkt: die humoristische Darstellung ist eine Über-Zeichnung, keine völlige Ver-Zeichnung bestehender Verhältnisse, sodass wir nichts an ihnen wiedererkennen würden und uns mit dem gänzlich »anderen« konfrontiert sähen, wie es viele Ästhetiken jüngeren Datums für ästhetische Gehalte geltend machen, die von einer »Differenz zum Symbolischen« ausgehen, die uns zwingt, uns dem erratischem Moment, dem »Rätselcharakter«19 des Kunstwerkes auszuliefern, sein autonomes, sinnentblößtes Erscheinen schlicht hinzunehmen und uns mit seiner genuinen »Alterität«, dem »Durchriss auf eine Alterität hin«20 zu konfrontieren. Für diesen Strang ästhetischer Theorie bedeutet ein mögliches Verstehen bereits Heräsie, weil jeder Versuch einer kognitiven Durchdringung einer Infiltrierung mit sprachlichen Mitteln gleichkommt, die einem begrifflichen Diskurs entstammen, die dem ästhetischen Gebilde gegenüber zwangsläufig heteronom verbleiben müssen. Was in künstlerischen Gebilden diesen Auffassungen gemäß anschaulich werden und sich uns als einziges darbieten kann, ist die 17 Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, a.a.O., S. 226. 18 Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, a.a.O., S. 225. Vgl. hierzu insb. das Kapitel »Kunstwerke und reine Darstellungen«, in: ders., Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, a.a.O., S. 209 – 252. Vgl. für den Topos der Selbstverständigung Feige, Daniel M.: Kunst als Selbstverständigung, Münster 2012. 19 »Dass Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselchrakter unter dem Aspekt der Sprache«, wie es bekanntlich hierzu bei Adorno heißt. Adorno, Theodor W.:Äshtetische Theorie, a.a.O., S. 182. Vgl. auch den Versuch Wolfgang Isers, das Komische als »Kipp-Phänomen« begreiflich zu machen, das vorerst opponierende Positionen in die gegenseitige Negation treibt. Iser, Wolfgang: Das Komische ein Kipp-Phänomen, in: Das Komische, hg. v. Wolfgang Preisedanz u. Rainer Warning, München 1976, S. 399-401. 20 Mersch, Dieter: Ereingis und Aura, Frankfurt a.M. 2002, S. 143.
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»Phänomenalität des ›Daß‹ (quod), nicht im Sinne der einfachen Faktizität des Existierenden, sondern als Ereignis von Ex‐sistenz, das (sich) zeigt, (sich) gibt, noch bevor etwas ausgezeichnet oder ›als‹ etwas identifiziert ist. Die Ontologie des Aisthetischen erfüllt sich in solchem Ereignen […]. Nicht wir sehen oder hören und textuieren das Gehörte oder Erblickte, vielmehr werden wir durch das Ge-Gebene allererst angeschaut oder angesprochen. Der Richtungswechsel impliziert den Übergang von der actio zur passio. Er setzt sich den Phantasmen der Souveränität entgegen, impliziert die Umkehr der Orientierung, einen ›Sprung‹ vom Intentionalen zum Nichtintentionalen.«21 Gegenüber dieser Mystifizierung ästhetischen Gehalts, sollte das angeführte Beispiel darstellerisch verfahrenden Humors auf die Kontinuität aufmerksam machen, die sich in den Begriffen des Übertreibens und Überzeichnens, der Re-Platzierung und Re-Konfiguration ausspricht. Denn, was »über das Maß hinausgetrieben« wird, bleibt eben auf denselben (lebensweltlichen) Maßstab bezogen und legt ihn noch immer (hintergründig) an. Entsprechend gleichen ästhetische Darstellungen vielmehr der Aus-Stellung und Her-Stellung einer (Kon-)Figuration auf einem Alternativmaßstab, als dass sie sämtliche Vergleichsmöglichkeiten untergraben würden.22 Denn wir erkennen ja sehr wohl noch immer etwas in der ästhetischen Darstellung wieder: nämlich dasselbe Muster, Denk- und Argumentationsfiguren, gewisse Abgrenzungen, Analogien und Vergleiche, miteinander verwandte Gebiete und Eingrenzungen, wie es weiter oben zu den sprachkohärentistischen Überlegungen hieß. Und diese wirken in der nunmehr veränderten Konstellation »lächerlich«, weil sie eine Überdimensionierung, eine Re-Intensivierung und sinnliche Präsentierung erfahren haben, die sie bis hin zur annähernden Unkenntlichkeit »verflacht« oder künstlich »überhöht« – jedoch eben nur annährend. 21 Mersch, Dieter: Ereingis und Aura, a.a.O., S. 143. 22 Auch sei an dieser Stelle auf die umgekehrte Kontinuität hingewiesen, d.h. auf den Einfluss, den ästhetische Gestaltungen auf unsere Alltagswahrnehmung haben. Denn diese ist nicht nur bei jüngeren Personen häufig ein direkter Abkömmling künstlerisch initiierter Vorstellungswelten. Man denke z.B. an Künstler wie Claude Lorain und ihre ästhetische Nobilitierung eines zuvor eher als profan erlebten Objektes wie eine naturbelassene Landschaft und wie er diese als ästhetisch eigenständiges Phänomen für unseren Alltagsblick überhaupt etabliert hat. Gerade die Deutsche Romantik und ihre besondere Zuwendung zum und Verklärung des Naturschönen (und insbesondere des Waldes) sind hier ebenfalls exemplarisch zu nennen. Vgl. Gombrich, E.H.: The Story of Art, London 2001, S. 303: »It was Claude who first opended people’s eyes to the sublime beauty of nature, and for nearly a century after his death travellers used to judge a piece of real scenery according to his standards. If it reminded them of his visions, they called it lovely and sat down to picnic there. Rich Englishmen went even further and decided to model the pieces of nature they called their own, the gardens on their estates, on Claude’s dreams of beauty.«
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Das Aus- und Dargestellte ist in dieser Zusammenstellung sozusagen neu zur Dis-Position gestellt. Es ist (neu) ein‐gestellt, (neu) »eingeregelt« und bietet über diese ästhetische Operation, über seine sinnliche Gestaltung ein abweichend ausgehandeltes Erscheinen dar, einen Kontrast zu unseren gewohnten und eingespielten Sichtweisen. Es ist eine Entgegen-Setzung, deren Kontrastpotenzial jedoch noch immer von demjenigen zehrt, dem es entgegengesetzt wird. »Das Kunstwerk durchschlägt die Sicherungen unserer gewohnten Wahrnehmungs- und Denkweisen und eröffnet dadurch einen neuen Sinn.«23 Doch wie sollte sich ein neuer Sinn eröffnen, wenn nicht in Abgrenzung und unter Berücksichtigung der Menge an Erfahrungen und Kenntnissen, die wir bisher gesammelt und uns angeeignet haben und die auch jede fortgesetzte Orientierung ermöglichen und mitbedingen? Vergleichbar kann etwas nur sein, wenn beide Glieder der Relation nicht völlig disparaten Sphären angehören. Daher sagen wir ja auch gelegentlich: »Das kannst Du nicht vergleichen. Er befindet sich in einer völlig anderen Situation als Du!« Und meinen damit genau das: dass die Lebenswirklichkeit der anderen Person sich in keiner Kontinuität mit unserer Situation befindet, dass wir beide in völlig getrennten Welten leben. Doch derart getrennt ist die Welt der Kunst gerade nicht – denn sie bleibt der Ausdruck unserer Welt. Sie gibt uns durch die Darstellung ihrer Welt etwas ganz wesentliches über unsere Welt zu verstehen, indem sie uns ermöglicht, von der Situation, die sie als Werk her- und aus‐stellt reflektierend auf unsere eigene Situation zurückzukommen und uns dieser anschaulich zuzuwenden. Ein künstlerisch gehaltvolles Gebilde zu verstehen, heißt daher im Allgemeinen, wie Danto meinte, »die Metapher erfassen, die immer da ist […]. Künstlerische Metaphern sind jedoch insoweit anders, als sie in gewisser Weise wahr sind: sich selbst als Anna [Karenina] zu sehen heißt in gewisser Weise, Anna zu sein und das eigene Leben als ihr Leben zu sehen, so dass man durch das Erlebnis, sie zu sein, verändert wird. Somit hat der Gedanke, dass die Kunst ein Spiegel ist (ein konvexer Spiegel!), schließlich doch eine gewisse Substanz […], sie sind Instrumente der Selbstenthüllung.«24 Wir finden unsere Welt in der Welt ästhetisch gestalteter Gebilde »aufgehoben«, weil diese in Kontinuität zu unserer Situation stehen und uns dadurch erlaubt 23 Wellmer, Albrecht: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt a.M. 1985, S. 65. 24 Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, a.a.O., S. 262f. Vgl. auch Bertram, Georg W.:Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, a.a.O., S. 39ff. Allerdings müssen diese Verhältnisse eben anschaulich werden und damit erscheinen können. Etwas, das Danto gerade dadurch unterschlägt, dass er die inhärente Metaphorik von ästhetischen Gebilden überbetont und dieses kognitive Moment zum Alleinstellungsmerkmal von künstlerischen Darstellungen erhebt.
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wird, denjenigen Blick auf uns selbst zurückzuwenden, mit dem wir ihre Konfiguration (ästhetisch) nachvollzogen haben. »Die Erfahrung der Kunst zehrt von der Erfahrung außerhalb der Kunst – und hier gerade von ästhetischen Erfahrungen in den Räumen der Stadt und der Natur, in denen die Koordinaten der Weltgewandtheit und des Weltvertrauens durcheinandergeraten.«25 Das Reich der Fiktion und der künstlerischen Imagination ist kein Blick in den Abgrund des Irrationalen, kein Reich sui generis, das den Schleier der Maya für uns lüftet, sondern es »ist das Reich ursprünglicher Sinnbildungen, die den Menschen die Leitbilder ihres Selbst- und Weltverständnisses liefern. Die Fiktion transzendiert die Wirklichkeit und behält doch alles, was die Wirklichkeit allererst zu menschlichen Lebenswelten macht […].«26 Nur, weil Kunst uns (unsere) Wahrheit über die Ausstellung von Welt-Zuständen zur Anschauung bringen kann, kann sie uns auf der anderen Seite ja auch so wunderbar über unsere eigene Lage und Situation betrügen. Wie sonst wäre die Verblendung unserer selbst, die »Vorspiegelung falscher Tatsachen«, das Zurschaustellen von unmöglichen oder zumindest unrealistischen Scheinwelten, das »falsche Versprechen« der Kunst möglich, das von so vielen geglaubt und von noch mehr angestrebt wird? Die Wahrheit der Kunst wird genau dann »unbequem«, wenn sie uns mit einer Vorstellung, einer Zusammen-Stellung und Her-Stellung von Begebenheiten und Zuständen konfrontiert, die wir noch immer mit unserer Lebensrealität vergleichen können und die wir nicht reibungslos mit unseren Vorannahmen in Einklang bringen können und dadurch zur Ein-Sicht in den inneren Aufbau (und gegebenenfalls Widerspruch) unserer eigenen Vorstellungswelt gelangen. Wenn wir den Wahrheitsanspruch des Kunstwerks ernst nehmen, müssen wir uns selbst umstellen und uns auf dessen Wahrheit ein‐stellen, uns auf dessen Welt einlassen, sodass ein bestimmter Sinnzusammenhang nunmehr im richtigen, d.h. reflektierten und über sich selbst aufgeklärten Licht erscheint, das sich erst im Kontrast zu einer abweichenden Vorstellungswelt ergibt. Kritischer Humor, d.h. »bissiger« Humor ist demaskierend, weil er genau diejenigen Mechanismen auszuleuchten im Stande ist, die normalerweise dafür sorgen, dass sich ein bestimmtes Phänomen gerade nicht auf sie zurückführen lässt. Dass wir etwas überzeichnen, bedeutet, dass wir die verborgenen Wirkursachen sozusagen übers Ziel hinausschießen lassen, womit sie selbst ihr Treiben für uns zu erkennen geben, sodass wir vielleicht versucht sind zu sagen: nun gut, so extrem ist es nun auch wieder nicht: es ist nicht so extrem, d.h., es ist in Ansätzen sehr wohl genau so, nur nicht in dieser Ausprägung, in dieser Intensität. 25 Seel, Martin: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung, in: ders., Die Macht des Erscheinens, a.a.O., S. 66. 26 Fellman, Ferdinand: Phänomenologie als ästhetische Theorie, a.a.O., S. 196.
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Ja, so ist es – so ist es um uns bestellt, so sieht »es« aus, d.h. unsere Situation aus, wenn wir sie selbst überblicken könnten und sie nicht nur aus der Innenperspektive heraus (er)leben müssten: wir alle wiegen uns in dem Glauben, dass alles gut gehen wird, weil die Experten der ausufernden Expertenkultur schon wissen, was im Bedarfsfall zu tun ist; auch in Zeiten von »Fake News« glauben wir an den objektiven Gehalt von (öffentlich‐rechtlichen) Nachrichtenanstalten und lassen uns beruhigen von der Rechtfertigungsrhetorik desjenigen, von dem wir eigentlich wissen, dass er gar nicht anders kann, als die Machenschaften seines Unternehmens schönzureden und sich dabei noch von seiner vorteilhaftesten Seite zu präsentieren, die einen ersten Vertrauensvorschub für seine fadenscheinigen Argumente leisten muss; statt von einem »Super-Gau« sprechen wir wie Mr. Burns lieber von einem »ungeplanten Leistungs-Surplus«; statt rational‐berechnend an ein Problem heranzutreten, agieren wir gerade dann, wenn es darauf ankommt, höchst irrational. Und statt unsere ausgewiesene Expertise zu Wort kommen zu lassen, handeln wir häufig auf gut Glück und nicht besser als jeder andere, der nicht die geringste Erfahrung in unserem Tätigkeitsbereich vorzuweisen hat. Fragwürdig ist nicht das »Aufscheinen von Wahrheit« im Kunstwerk, sondern unsere Reaktion darauf: Wir lachen darüber. Warum? Weil wir glauben, es mit der Ausnahme von der Regel zu tun zu haben und nicht mit dem Aufscheinen der Regel selbst. Wir lachen über die Wahrheit, wo sie uns in der Kunst begegnet, weil wir sie aufgrund ihrer Überzeichnung, ihrer Abweichung für »unrealistisch« und damit für eine Ausnahmeerscheinung halten. Und wir schenken lieber der Unwahrheit falscher Kunstwelten und den Helden unserer Lieblingsserie unseren Glauben, die uns versichern, dass alles in Ordnung ist. Denn bekanntlich haben wir ja die Kunst, damit wir an der Wahrheit nicht zu Grunde gehen.27
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Kontinuität vs. Negativität
»Sofern ästhetisches Verstehen die ästhetisch immanente Prozessualität als formoder sinnbildende entwirft, versteht sie sie notwendig im Bezug auf vorgängige nicht-ästhetische Sinnerfahrungen […]. Ohne irgendeine Anbindung an außeräs-
27 Vgl. darüber hinaus ebenfalls Friedrich Nietzsches berühmtes Zitat aus der »Geburt der Tragödie«, in: ders., Die Geburt der Tragödie, in: Kritische Studienausgabe Bd. 1, München 1999, S. 57: »In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche […] des Seins […]. Es ekelt ihn. Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche […] des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt.«
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thetisch sinnhafte Strukturen verliert der Begriff des ästhetischen Sinns seinen Halt.«28 Und weiter: »Der im ästhetischen Zeichen verkörperte Horizont ist eine Perspektive des Erfahrens, die sich nur auf dem Hintergrund derjenigen Erfahrung erfahren lässt, die der ästhetische Betrachter bereits in seinem eigenen Horizont gemacht hat. Die Alterität des ästhetisch Erfahrenen gegenüber dem eigenen Horizont des Betrachters besteht aber nicht, wie im historischen Verstehen, im eigenen Blick auf Fremdes, sondern im fremden Blick auf Eigenes. Das ästhetische Verstehen des bedeuteten Horizontes ist zugleich der Gewinn eines verfremdenden Blicks aufs Eigene, das dadurch erst als Eigenes erfahren wird.«29 Was hier so überaus affirmativ klingt und das im vorherigen Abschnitt thematisierte Anschaulichwerden der eigenen Ausgangssituation im Kontrast nochmals in andere Worte fasst, ist in Wirklichkeit einem Zusammenhang entnommen, der genau das in Abrede stellt: dass dasjenige, was wir im Kontakt mit ästhetischen Gebilden und ihren darstellerischen Mitteln oder besser: durch das Gewahrwerden der Wirkung ihrer Ausdrucksmittel erleben können, durch Verweis auf unsere außerästhetische Lebenswirklichkeit erklärt oder zumindest in Ansätzen aufgeklärt werden kann. Doch damit nicht genug. Die Behauptung soll zurückgewiesen werden, dass ästhetische Gebilde überhaupt eine verständliche Bedeutung besitzen, dass sie, gleichgültig aus welcher theoretischen Perspektive betrachtet, »sinnvoll« genannt werden können. Daher sei es auch ein hoffnungsloses Unterfangen, ästhetischen Gehalt hermeneutisch erklären zu wollen; denn dieser lasse sich alleine durch seine »Negativität« bestimmen bzw. gerade nicht bestimmen – durch seine Subversion sämtlicher Verstehensbemühungen, die zwangläufig an seinem »Entzugsmoment« scheitern und seiner ständigen »Sinnverzögerung«30 zum Opfer fallen. Wie kommt es zu einer solch radikalen Einschätzung, wenn die hermeneutische (Gegen-)These selbst noch in der Rekonstruktion des Opponenten eine solch intuitive Attraktivität ausübt? Wie kommt es zur Leugnung sämtlichen Gehalts ästhetischer Gebilde, wenn vorderhand der hermeneutischen Einsicht beigepflichtet wird, dass »die Tatsache der Nichtaussagbarkeit des Ästhetischen [es] nicht rechtfertigt, es als jedem gelingenden Verstehen entzogen zu denken. Die Felder des möglichen Verstehens und möglicher Aussagbarkeit des Verstandenen [sich nicht] decken?31 Die Antwort liegt für Christoph Menke, dessen Argumentationslinie wir hier stellvertretend für 28 Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt a.M. 1991, S. 113. 29 Ebd., S. 116. 30 Vgl. ebd., S. 65, S. 93, S. 111. 31 Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, a.a.O., S. 101.
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den angeführten Typus von Negativitäts- Ästhetik aufgreifen wollen, in der unterschiedlichen Deutung des Vollzugscharakters der ästhetischen Erfahrung, »genauer: durch die je unterschiedliche Konstellation von Resultat und Vollzug.«32 Beide, hermeneutische als auch Negativitätsästhetik gingen zwar richtig davon aus, dass »ästhetisches Verstehen nicht im Feststellen von Beziehungen zwischen signifikanten Elementen, sondern im Nachvollzug des Prozesses [besteht], in dem sie sich so verknüpfen, dass sie Bedeutung gewinnen«33 ; doch nur die Negativitätsästhetik zöge daraus nicht den irrigen Schluss, dass es sich dabei noch immer um eine Art des gelingenden Verstehens handeln würde. Den Grund hierfür sieht Menke in einer semiotischen, also zeichentheoretischen Reformulierung34 des semantischen Grundgeschehens gegeben: der Bedeutungsbildung. Diese ergibt sich für ihn (aufbauend auf den Analysen Ferdinand de Saussures) ausschließlich durch die Beziehung bzw. Verknüpfung von Signifikant und Signifikat, also dem, was bezeichnet (dem Zeichen) und dem, was bezeichnet wird (dem Bezeichneten), wobei diese Zuordnung durch die Konventionen der Sprache geregelt würden. »Bedingung der Verbindung von Signifikat und Signifikant ist ihrer beider Identifizierung durch Anwendung der im Kode gespeicherten Regeln.«35 Daher ist für Menke der ästhetische Gegenstand neben seiner »Materialität« vor allem ein ästhetisches Zeichengefüge, bei dem nicht anderes sondern anders (und am Ende überhaupt nicht) verstanden wird. »Primär ist nicht die möglicherweise auftretende Abweichung des ästhetischen Zeichengefüges von den Normen der nicht-ästhetischen Verwendung, sondern die Desautomatisierung des Vollzugs seines Verstehens. Und genau diese modale, desautomatisierende Verfremdung des automatischen Verstehens ist der Akt ästhetischer Negativität«.36 Das bedarf einer (weiteren) Klärung: Automatisches Verstehen ist nach Menke mit resultatorientiertem Verstehen gleichzusetzen, bei dem es zu einer fixen Zuordnung von Signifikat und Signifikant kommt bzw. kommen könnte (also zur Identifizierung der beiden Dimensionen), die durch eine »kodifizierte Kontiguität«37 gewährleistet ist, die für gewöhnlich durch unsere Umgangssprache etabliert wird bzw. schon immer (sozial) etabliert ist. »Automatisch ist jedes Verstehen, das in einer zugleich bedeutungsfestlegenden Entscheidung darüber, welche Eigenschaften eines bedeutungstragenden Materials signifikant sind, endet; ›identifizierend‹ im Sinne Adornos ist es, da es die bedeutungsrelevanten Züge eines dinglichen Materials selegiert und es darin zum Signifikanten macht.«38 Der ästhetische Verstehens-Vollzug sei da32 33 34 35 36 37 38
Ebd., S. 50. Ebd., S. 68. Ebd., S 51. Ebd. S. 52. Ebd. S, 51. Ebd. S,. 52. Ebd., S. 55.
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gegen gerade dadurch gekennzeichnet, dass er sein Resultat überdauere, ohne zu einem Abschluss zu kommen, zu einem »identifizierenden Ende; er [der ästhetische Vollzug, R.Z.] konstituiert die Paradoxie eines Daseienden, das seinem Sinn nach Werden ist‹«39 , wie Menke sich erneut auf Adorno beruft. Etwas, das die hermeneutisch argumentierende Ästhetik eklatant ignoriere und somit die entscheidende Differenz zwischen ästhetischem und nichtästhetischem Verstehensvollzug verfehle. Die hermeneutische Ästhetik mache sich des Versuchs schuldig, den sich ständig aufschiebenden Sinn und seine Verzögerung, sein »Zaudern« zu einem feststehenden Sinn zu »finalisieren«, obwohl sie nicht anzugeben vermag, welches die Kriterien für eine Selektion sein könnten, um aus einem unselegierten Material (dem ästhetisch wahrgenommenen Gegenstand) die zu selegierenden Signifikanten auszuwählen oder herauszulösen, die nötig sind, um einen (eindeutigen) Bezug zu ihrem Signifikat herstellen zu können. Und ohne eine solche Auswahl sei nicht verständlich zu machen, wie der ästhetische Gegenstand sinnvoll zu nennen sei. »Ohne geteilte Kontextannahmen kann über die Richtigkeit von Signifikantenbildungen gar nicht befunden werden, da allein aus dem Material, auf das sie sich selegierend richtet, wohl Hinweise, aber keine Kriterien gewonnen werden können.«40 Dagegen stünden »ästhetische Zeichen in keinem Kontext. Es gibt nicht einmal einen Bezugspunkt für Annahmen darüber, in welchem Kontext ästhetische Darstellungen verwendet werden können […]. An die Stelle der im Kontextwissen von nichtästhetischen Interpreten begründeten automatischen Signifikantenbildung tritt im ästhetischen ihr immanenter Nachvollzug. Nicht Subsumtion unter kontextuell erschlossene Bedeutungen, sondern schrittweise Wiederholung des selegierenden Konstitutionsprozesses der Signifikanten aus ihrem Material bestimmt den Modus dieses ästhetischen Vollzugs […]. Wenn dem Material selbst keine Kriterien für die an ihm vorzunehmenden Selektionen zu entnehmen sind und kein Kontext sie umschließt, dann ist der ästhetisch prozessuale Nachvollzug der Signifikantenbildung zugleich ihr Scheitern«.41 Der prozessuale Nachvollzug hält sich dabei nur noch sozusagen pro forma an ein verstehendes Moment; denn in Wirklichkeit ist er dem rein immanenten Aufbau des ästhetischen Gebildes gewidmet, dem Nachvollzug seines »energetischen Prozess[es] der Bedeutungsbildung«42 , was ihn letzten Endes zu einem »mimetischen« Vorgang werden lässt.43 Wir haben keine Wahl: wir müssen unseren Nachvollzug 39 Ebd., S. 50. 40 Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst, a.a.O, S. 73. 41 Ebd., S. 74. Vgl. ebenfalls Bertram, Georg, W.: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, a.a.O., S. 28. 42 Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst, a.a.O Ebd., S. 126. 43 Vgl., ebd., S. 122.
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dem ästhetischen Gebilde mimetisch angleichen; denn alle anderen (verstehenden) Zugangsweisen würden andernfalls einen heteronomen Vorentscheid darüber enthalten, auf was hin wir das ästhetische Objekt interpretieren (wollen), obgleich es selbst nichts anderes als interne Verweisungen enthält, die keinen (definitiven) externen Bezug zu einer »stabilisierenden« Bedeutungsgrundlage in einem regelgeleiteten Zeichensystem gestatten. Die prozessuale Erfahrung der Bedeutungsgenese kann daher kein Blick hinter die Kulissen, keine Aufdeckung einer uns ansonsten verborgen bleibenden Dimension unserer lebensweltlichen Orientierung sein, sondern ist das Andere am Verstehen, eine »Erfahrung, die das Verstehen über seine eigenen Füße stolpern sieht« und in einer »resultatslosen Prozessualtität« endet.44 Was hat eine hermeneutisch argumentierende Ästhetik hierzu zu sagen, was erwidert sie auf diese Einwände? Nicht viel; denn sie wisse sich nicht anders zu helfen, als auf außer-ästhetische Kontexte zurückzugreifen, deren Auswahl genauso arbiträr bliebe wie die Auswahl der Signifikanten aus dem ästhetisch erfahrenen »Material«. Und die von ihr angenommene Bedeutung, die sie in ästhetischen Gebilden verwirklicht sieht, belaufe sich bloß auf ein Zitat und die Wiederholung von außerästhetisch bereits »vorliegendem« Sinn.45 Sie erschleicht sich so zusagen den Status von Bedeutung, obwohl es im ästhetischen Gebilde zu keiner Bedeutungsbildung kommen kann und höchstens etwas durch den mimetischen Nachvollzug der jeder Bedeutung vorausliegenden Prozesse gezeigt wird.46 »Das zeigende Moment, das in der verfremdenden Distanzierung des Ästhetischen enthalten ist, darf jedoch nicht mit dem Begriff ästhetischen Bedeutens verwechselt werden […]. Das im ästhetischen Objekt Gezeigte ist nicht das, was es im Sinne eines Begriffs ästhetischer Bedeutung zu verstehen gibt, sondern was als Resultat des Zerfalls ästhetischen Verstehens immer erst noch wieder ästhetisch verstanden werden muss (und nie verstanden werden kann).«47 Also bleibt den Signifikanten, die es nicht wirklich schaffen, Signifikanten zu werden, nichts anderes übrig als immer wieder aufs Neue »auf den semiologischen Status des Materials zurückzufallen, an dem signifikante Selektionen erst noch vorgenommen werden müssen, bevor es in Zeichen eingehen kann.«48 In diesem Rückzug ins Materielle liege letzten Endes auch die Autonomie des ästhetischen Gegenstandes begründet, der jede deutende Vereinnahmung durch diese sinnabweisende Bewegung abzustreifen weiß. 44 Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, a.a.O, .S. 129. 45 Vgl. ebd., S. 80: »An die Stelle unseres Wissens über Verwendungskontexte, die Garantien eines automatischen Verstehens sind, tritt das Zitat von Kontextannahmen. Die Kontexte der Verwendung, die wir für ästhetische Elemente in Anschlag bringen, können als zitierte niemals die Geltung stabiler Folien gewinnen.« 46 Vgl. ebd., S. 122. 47 Ebd., S. 81. Vgl. auch ebd., S. 91. 48 Ebd., S. 82.
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Nun können und wollen wir an dieser Stelle nicht einzeln auf die möglichen Kritikpunkte eingehen, die sich nach dieser sehr gedrängten Übersicht fairerweise anführen ließen. Was wir allerdings tun können, ist, die formulierten Einwände mit den bisher erarbeiteten Einsichten abzugleichen und zu sehen, ob wir durch die dargelegten Einwände unseren eigenen Beschreibungsvorschlag vorgewarnt vor allzu groben theoretischen Schnitzern bewahren können, auf welche die Negativitätsästhetik aufmerksam macht. Denn, was trotz dieser kursorischen Übersicht als erstes ins Auge fällt, ist die generelle Engführung des Bedeutungsbegriffs bei Menke auf eine semiotische Refomulierung und damit eine Engführung von bedeutungsvollem Verstehen überhaupt auf Zeichenprozesse. Fragen wir uns vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchung also folgendes: Lässt sich die Art des Verstehens, die beim ästhetischen Nachvollzug gefordert ist, wirklich als zum Scheitern verurteilte Subsumption eines bezeichneten Dings unter seinen entsprechenden Begriff beschreiben, eines Signifikats unter einen Signifikanten? Oder ähnelt es nicht vielmehr jenem nachvollziehendem Überlegen, wie wir es weiter oben kennengelernt haben, das hauptsächlich der Berücksichtigung raum‐zeitlicher Konstellationen und gerade auch materieller Verhältnisse gilt, denen es sehr wohl und gerade auch im ästhetischen Gebilde begegnet und diesen dadurch sogar in einem gesteigerten Maße zugewandt ist, wenn es hier nicht auf Altbekanntes trifft? Ist eine semiotische Identifizierungsleistung dementsprechend wirklich eine notwendige und hinreichende Bedingung jeglicher Art von Verstehen oder bleibt nicht gerade einem praktischen Überlegen immer auch etwas »Luft« und damit »Spiel« gegenüber jeglichen »endgültigen Festlegungen« (auf die es ebenfalls sich festlegt) durch das Entwerfen von provisorischen (begrifflichen) Platzhaltern, mit denen es die Verteilung seiner Ergebnisse auf konkrete Zeichen auch zu einem späteren Zeitpunkt sozusagen noch »nachholen« kann?49 Denn was heißt es schon, dass wir etwas »ganz und gar nicht« verstehen, nur weil wir nicht jedes Detail eines Vorgangs als etwas identifizieren können? Ha49 Nennen wir denn nicht gerade denjenigen einen »praktischen Menschen«, der Abweichungen zu tolerieren vermag und der eine gewisse »Ambiguitätstoleranz« aufweist, d.h. etwas auch als etwas anderes durchgehen lässt, wenn die Situation dies erfordert und wenn weder die Ressourcen, noch die Zeit oder der Platz zur Verfügung stehen nach einem altgedienten Schema mit den dafür vorgesehenen (sprachlichen) Mitteln zu verfahren? Ist dieser jemand überhaupt nicht »im Bilde«, nur weil er keine starren »Zuordnungen« vornehmen kann? Ist Denken nicht genau dann praktisch und vor allem effektiv, wenn es »bedarfsgerecht« versteht, auf was es ankommt? Wenn es überblickt, welche Wirkungen durch ehemals vorhandene Mittel wie befördert wurden und dies zu imitieren weiß, auch wenn es noch nicht weiß, wie genau? Nennen wir nicht denjenigen »praktisch veranlagt«, der »Mittel und Wege« findet? Und ist unpraktisches Denken nicht genau dasjenige, das kleinbeigibt, sobald seine Identifizierungsbemühungen nicht dasjenige ausfindig machen, was den vorgefassten Erwartungen entspricht und das sich keine Alternativen vorstellen kann, weil es die Dinge nicht neu zusammen‐zustellen weiß?
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ben unsere bisherigen Überlegungen nicht allesamt darauf abgezielt und am Ende auch tatsächlich ergeben, dass unsere Fähigkeit, etwas zu verstehen als Teil unserer Erkenntniskräfte und damit als Bestandteil unserer Freiheit als handelnde Wesen begriffen werden muss, die sich vor allem dadurch auszeichnet, mit Neuem, Unvorhergesehenen zurechtzukommen? Wo wäre uns außer bei der reinen (technisch‐medialen) Übertragung von Zeichen ein automatisches Verstehen begegnet, das bereits mit (erfolgreicher) Kommunikation gleichzusetzen wäre? War Verstehen nicht immer ein aktives Unterfangen, ein tentatives, probeweises Zusammenstellen und nachkorrigierendes Verwerfen von Vorannahmen, die Anreicherung eines immer umfangreicher werdenden »Bildes« und nicht der Einsatz eines starren Verstehens-Mechanismus, der aus der Spur springt, sobald etwas nicht sprachlich »aufgespeicherten« Regeln entspricht? Hat sich erfolgreiche Kommunikation nicht dadurch ausgezeichnet, dass sie auf einen Adressenkreis bezogen blieb und von der komplexen Satzaussage bis hin zu wenigen andeutenden Worten reichen konnte, um jemandem »etwas« zu verstehen zu geben und damit zu kommunizieren? Wann wäre mit der reinen Identifizierung von zur Kommunikation herangezogenen Zeichen der Verstehensvollzug bereits zu seinem Abschluss gelangt und in objektives Wissen übergegangen? Wie könnten wir in einem solchen Bild überhaupt Neues lernen? Was genau ist ein »finalisierter« Sinn, wenn Bedeutungen niemals objektiv, im Sinne des semantischen Objektivismusʼ dinglich vorliegen und weder durch Referenz noch durch einen (starren) Sachbezug endgültig in ihrer Dynamik stillgestellt werden können? War Bedeutung nicht immer als eine Art temporäres Gleichgewicht zu verstehen? Und war Verstehen daher nicht immer ein Prozess? Immer »prozessualisiert«, wie es Menke alleine dem ästhetischen Objekt vorbehalten sehen möchte? Und kam dieser Prozess alleine schon dadurch zu seinem Ende, dass wir Zeichen und Bezeichnetes aufeinander abbilden konnten und wussten, welche »Selektion an Signifikanten« wir vorzunehmen haben? War das Bild, das wir uns von einer Situation machen können, nicht durch die einzelnen (Teil-)Aussagen bedingt, denen ein gewisser Stellen-Wert im Gesamtgefüge zukam, ohne dass diese jemals völlig ausgedeutet waren? Ist der ästhetische Gegenstand also überhaupt angemessen zwischen den Polen Zeichen und Material verortet – ist er vor allem ein Zeichengefüge? Oder muss er nicht vielmehr überhaupt erst in einer gewissen Weise erscheinen, um eine darauf aufbauende semiotische Dimension entfalten zu können? Ist das ästhetische Gebilde daher nicht in erster Linie ein »Sichtbarkeitsgebilde«50 (bzw. »Hörbarkeitsgebilde« etc.)? Und wenn ja, greifen dann nicht auch all jene Wahrnehmungs-Dynamiken, die wir beschrieben haben und weisen damit einem möglichen Verstehen ganz entschieden den Weg? Umfasste die Beschreibung unseres In-Situation-Seins und unserer sprachlichen 50 Fiedler, Konrad: Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, in: Schriften zur Kunst, Bd. I, hg. v. Gottfried Boehm, München 1991, S. 192.
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Koordination nicht immer auch ein projektives Moment; ist unser Eingestelltsein nicht immer ein Eingestelltsein auf mögliche Situationen und räumliche Verhältnisse, die sich an ihren Rändern zwangsläufig im Vagen verlieren? Was ist mit den virtuellen, räumlichen Verhältnissen, in denen wir uns immer schon bewegen und wie wir sie mit Merleau-Pontys Analysen eines sich dynamisch auslegenden Körperschemas kennengelernt haben? Was entscheidet über den richtigen Kontext in dem von Menke veranschlagten automatischen Kontextverstehen? Lief das Beispiel zu dargestelltem Humor darauf hinaus, dass das ästhetische Gebilde bloß einen außerästhetischen Sinn wiederholte, ihn lediglich zitierte, als ob wir ihn genau so und vor der Begegnung mit dem ästhetischen Objekt bereits in dieser Ausprägung hätten erfahren können? Können wir uns also Dieter Merschs Einschätzung anschließen, dass die »Künste weniger zum ›Zuwachs‹ der Erkenntnisse und deren vermeintlichen ›Wahrheiten‹ [beitragen] als zur Unterbrechung oder Destabilisierung ihrer dominanten Wissenscodes«51 ? Hat jedes ästhetische Gebilde durch seine Sinnverweigerung letzten Endes genau dieselbe Bedeutung, nämlich am Ende keine Bedeutung?52 Ist es nicht vielmehr eine sinnvolle Sinnverweigerung, die durch die Bestreitung eines eindeutigen Sinnes die ganze Bandbreite unserer epistemischen Vermögen aktiviert, anstatt diese außer Gefecht zu setzen? Gibt es keinerlei Art von Verbindlichkeit, die für Kunstschaffende bei der Verfertigung handlungsleitend ist und die sich bei der »Anordnung der Elemente« als federführend erweist, auch wenn sich dieser Vorgang weder verbalisieren noch vorab planen lässt, sondern seine jeweilige Ausgestaltung in (wahrnehmender) Interaktion mit dem jeweiligen Objekt erfährt? Ist der künstlerische Gestaltungsprozess nicht nachgerade dadurch gekennzeichnet, dass er zusammenstellt, verwirft, neu ansetzt, revidiert, ergänzt und rückgängig macht? Zwar ohne einen vorab gefassten Plan in die Tat umzusetzen, jedoch in inniger Wechselwirkung mit dem sich formierenden Objekt, das mehr und mehr Gestalt annimmt und damit die Richtung seiner eigenen Verfertigung, das Arrangement seiner Elemente und seine eigene Ausdifferenzierung anleitet und vorantreibt? Ist künstlerisches Schaffen nicht vor allem ein »Prozess der Figuration, der Gestaltbildung mit all dem, was aus der Gestalttheorie als Abhebung von Figur und Grund, als Prägnanz der Form, als Ergänzung unvollendeter Gestalten oder als Kontrastwirkung bekannt ist«53 , ein 51 Mersch, Dieter: Epistemologien des Ästhetischen, a.a.O., S. 29. 52 Vgl. auch Bertram, Geog W.: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, a.a.O., S. 35.: »Nun rächt sich, dass eine solche Kunstphilosophie den Wert der Kunst mit dem Begriff der Unbestimmtheit erläutert. Das hat nämlich zur Folge, dass sie der Bestimmtheit ästhetischer Praktiken nicht in angemessener Weise Rechnung zu tragen vermag. Salopp gesagt: Das ist der Preis für die einseitige Betonung der ästhetischen Autonomie. Ein hoher Preis, was sich schon daran zeigt, dass es nur eines einzigen Kunstwerkes bedürfte, damit das Spiel dunkler Kräfte zum Ausdruck kommt. Mehr braucht es eigentlicht nicht.« 53 Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, a.a.O., S. 31.
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Prozess »kreativer Verdichtung«, bei dem jedem einzelnen Element ein unverrückbarer Platz im Gesamtbild zukommt? Können diese wirklich »ausgetauscht oder in anderer Reihenfolge durchgeführt [werden] bzw. durch andere ersetzt werden, sodass es keine Notwendigkeit gibt«54 ? Was soll es bedeuten, dass das »Material«, das in einem Kunstwerk zur Anwendung gelangt, ohne spezifische Selektion von Signifikanten bedeutungslos (ver)bleibt und beim Nachvollzug auf seinen rein materiellen Status zurückfällt? Wählen Kunstschaffende nicht genau jene Materialien aus, von denen sie sich eine bestimmte Wirkung erhoffen, weil diese schon immer in einem allgemeinen Sinn (für uns als wahrnehmende, in kulturellen Zusammenhängen stehende Akteure) bedeutungsvoll sind – und erhält sich dann nicht etwas von dieser Bedeutung auch in der neuen Konstellation des ästhetischen Objekts und trägt gerade aus diesem Grund zu dessen Gesamtwirkung bei? »Im historischen, kulturellen und erst recht im speziellen künstlerischen Kontext haben bestimmte Materialien immer schon eine mehr oder weniger festliegende Signifikanz oder Symbolik; hierauf wird der Künstler reagieren und hiermit wird er operieren.«55 Und welchen Sinn ergibt es, von einer Subversion von Sinn zu sprechen, wenn dieser erst gar nicht dazu kommt, sich aufzubauen? Fängt Kunst jedes Mal »von Neuem an«?56 Oder sieht sie sich nicht vielmehr gezwungen, sich jedes Mal neu zu erfinden, gerade weil sie in Kontinuität mit öffentlich wirksamen, ästhetischen Praktiken steht (mit diesen genau so »verfranst« ist wie mit anderen Kunstrichtungen), deren Stil- und Gestaltungsmittel sich regelmäßig verbrauchen oder »abnutzen« und der momentan vorherrschende »Look« (eine bestimmte Farbstimmung im Spielfilm, eine gewisse Aufmachung in der Mode oder Bildgestaltung etc.) nicht mehr »funktioniert«, d.h. ästhetisch verwirkt ist, davor aber in sämtlichen Varianten durchgespielt wurde? Müssen Kunstschaffende nicht die möglichen Bedeutungen mit einkalkulieren, die sie ihren Werken verleihen möchten und wirken diese Möglichkeiten nicht entschieden auf die Auswahl ihrer Mittel und auf die Formgebung ihres Werkes selbst zurück?57 Haben wir es hier nicht letzten Endes auch mit Bedingungen für eine mögliche Wirkung zu tun? Selbst wenn Kunstschaffende alle überkommenen 54 55 56 57
Mersch, Dieter: Epistemologien des Ästhetischen, a.a.O., S. 12. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 174. Vgl. Mersch, Dieter: Epistemologien des Ästhetischen, a.a.O., S. 29. Vgl. Beardsley, Monroe C.: An Aesthetic Definition of Art, in: What is Art?, a.a.O., S. 59: »So normally the artist has a seroius purpose: there is something he wants to do in producing what he produces; and he will have reason to believe that success is possible. If, for example, it is unlikely that a painter could believe that by closing the art gallery and placing a sign on it he would produce something capable of satisfying the aesthetic interest, then it is unlikely that in closing the art gallery and placing a sign on it he was producing an artwork.« Vgl. ebenfalls Iseminger, Gary: An Intentional Demonstration?, in: Intention and Interpretation, hg. v. Gary Iseminger, Philadelphia 1992, S. 85 und S. 87; vgl. ebenso Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, a.a.O, S. 285
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Ausdrucksmöglichkeiten bewusst zurückweisen, so weisen sie doch nicht selten genau diese Ausdrucksmöglichkeiten zurück, d.h., ihr eigener Ausdruck wird oftmals nur verständlich unter Berücksichtigung der zurückgewiesenen Ausdrucksmittel. Ist der mimetische Nachvollzug eines Kunstwerkes daher wirklich in das subjektive Belieben eines jeden Rezipienten gestellt oder besteht das künstlerische Medium nicht vielmehr in »sinnlich wahrnehmbaren Differenzen, die in das Spiel einer nichtbeliebigen zeichenhaften Konfiguration gebracht worden sind«?58 Bleibt ein mimetischer Nachvollzug nicht nur eine etwas extravagantere Umschreibung von (ästhetischer und leiblich involvierter) Wahrnehmung unter Beteiligung unserer Vor-Stellungkraft? Sollte die Leitfrage für eine Ästhetik und Kunstphilosophie daher nicht vielehr lauten, wie ästhetischer Gehalt in Kontinuität mit unserer Lebenswirklichkeit und unseren restlichen Erkenntnisvermögen steht und nicht ob? Und wenn ja, lässt sich dann trotz aller Unkenrufe ein Blick in die »blackbox« ästhetischer Gestaltung(en) werfen? Verhält es sich wirklich so, dass sich im dichterischen Prozess ein »Verlust an Subjektivität« ereignet und sich künstlerische Gestaltungen nicht philosophisch begreifen lassen, weil diese keine »Leistung in Anwendung subjektiver Vermögen«59 sind? Ist das nicht selbst ein heteronomer Vorentscheid über das Vermögen unserer Vermögen?
6.3
Manifestation, Erscheinung und Darstellung
Manifestationen erleben wir als materiell (im weitesten Sinne) und damit als kausal wirksam. Sie zeichnen sich durch ihr »materielles Gewicht« aus, d.h. durch ihre Physikalität, ohne die sie keine Einwirkungs- und damit auch keine möglichen (und befürchteten) Auswirkungsmöglichkeiten auf ihre Umgebung haben können. Sie treten in Erscheinung, d.h. alleine durch ihre räumliche Anwesenheit verschiebt sich die (antizipierte) Topographie möglicher Kausalzusammenhänge einer ganzen Umgebung, auch wenn sie real noch keine Wirkung entfaltet haben oder dies zukünftig tun werden. So, wie die plötzlich gezogene Waffe ein ganzes Situationsgefüge auf die Mündung ihres Laufes zu konzentrieren weiß, ihr möglicher Aktionsradius die räumlichen Koordinaten aller von diesem Einzugsgebiet Betroffenen neu besetzt und die Beschaffenheit der Umgebungsmaterialien ihren Widerstandskoeffiezienten in Hinblick auf mögliche abgefeuerte Projektile an den Tag legen, auch wenn der Abzug niemals betätigt wird. Im Gegensatz hierzu ist die (pure) Erscheinung von etwas von vornherein aus dem Kausalzusammenhang der Dinge herausgenommen bzw. hat sich diesem niemals (im Wortsinne) wirklich integriert, d.h. als zu einer Wirkung befähigt eingefügt. Sie ist nicht einmal 58 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 177. [Meine Hervorhebung]. 59 Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst, a.a.O., S. 23.
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potenziell räumlich wirksam. Oder wie Hans Jonas in Hinblick auf bildliche Repräsentationen sagt: diese sind »herausgehoben aus dem Kausalverkehr der Dinge.«60 Die einzige Konsequenz und damit Wirkung, die eine (bildliche) Erscheinung zeitigen kann und die sie zu erzielen befähigt ist, ist diejenige, die sie auf denjenigen ausübt, dem sie erscheint, d.h. der sie wahrnimmt. Doch nicht nur Bildern eignet diese Art der Existenz, sondern sämtlichen Arten der ästhetischen Darstellung (von etwas) ist diese Art der Immaterialität zu eigen: bei ihnen allen handelt es sich um einen Fall von (räumlich) entkörperlichter Anwesenheit, von »entdinglichter« Präsenz, die wahrgenommen werden kann, aber nicht zwangsläufig für unsere Situationsorientierung wahrgenommen (im Sinne von berücksichtigt) werden muss.61 Insofern ist es nicht ganz zutreffend, wenn Hans Ulrich Gumbrecht auch der »Produktion von (artifizieller) Präsenz« das Vermögen zuspricht, uns körperlich anzugehen oder »berühren« zu können. Denn die in medialen Kommunikationsprozessen eingesetzten Mittel sind gerade ihrer materiellen Dimension beraubt, die eine solche (reale) Berührung verständlich machen und ermöglichen könnte. Sie sind gerade kein Fall von greifbarer Präsenz, weil sie kein Fall von ausgreifender (uns potenziell angreifender) materieller Präsenz sind.62 Denn schon in unserem Alltag bedeutet, sich ästhetisch zu etwas zu verhalten, etwas ästhetisch wahrzunehmen, gerade jenes materielle (Eigen-)Gewicht, d.h. die physische Möglichkeit, reale Wirkungen anstoßen oder erzielen zu können, ausblenden zu können, da wir uns in keiner räumlichen Kontinuität mit dem Erscheinenden befinden oder dies zumindest berechtigterweise glauben und für unsere 60 Zit. nach Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz, Frankfurt a.M. 2005, S. 28. 61 Dass ästhetische Objekte eine intersubjektiv zugängliche Realität aufweisen und dafür auf einen materiellen »Träger« angewiesen bleiben, darf nicht zu derAuffassung verleiten, diese selbst seien nichts anderes als dasjenige materielle Objekt, durch das sie zur Erscheinung gelangen und mit dem sich die enstprechenden, ästhetischen Erfahrungen machen lassen. Die Auffassung, ein ästhetisches Gebilde wie ein Kunstwerk würde mit seinem materiellen Träger zusammenfallen, lässt sich zusammenfassend als »Physikalismus« beschreiben. Für den (kunstphilosophischen) Physikalismus sind Kunstwerke und ästhetische Objekte physische Gegenstände, d.h. er identifiziert das ästhetische Objekt mit dem Material, aus dem es gemacht ist. Für eine Übersicht zu Einwänden und zur Bestimmung des ästhetischen Objekts als »intersubjektiv‐instantial« vgl. Schmücker, Reinold: Identität und Existenz. Studien zur Ontologie der Kunst, Paderborn 2009 sowie ders., Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998. Vgl. auch Danto, Arthur C.: Appreciation and Interpretation, in: ders., The Philosophical Disenfranchisement of Art, a.a.O., S. 35. 62 Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik, a.a.O., S. 33: »Dass jeder Form von Kommunikation eine solche Produktion von Präsenz impliziert, dass jede Form von Kommunikation durch ihre materiellen Elemente die Körper der kommunizierenden Personen in spezifischen und wechselnden Weisen ›berühren‹ […].« Es sind zwei verschiedene Dinge zu behaupten, dass wir emotional durch eine leiblich mitvollzogene Darstellung von etwas »berührt« werden oder dass wir uns im Einzugsbereich einer realen Kausalwirkung aufhalten.
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Situationseinschätzung verbindlich werden lassen können. Erst, wenn ein wahrnehmbarer, mehrere Meter tiefer Graben uns von den Löwen in ihrem Gehege trennt, können wir uns »getrost«, d.h. situational rückversichert auf das Farbenspiel ihres Felles einlassen, auf die Bewegtheit ihrer Mähne im Wind, auf die Grazie, mit der sich ein solch massiver Körper fortzubewegen weiß. Ohne, dass eine zentimeterdicke Glasscheibe aufgerichtet bleibt zwischen uns und dem hunderte Kilo schweren Hai in seinem Bassin, werden wir uns kaum mit Staunen jenen mehreren Zahnreihen seines furchterregenden Gebisses zuwenden können, die wir derart auf sichere Distanz zu sehen bekommen. Und das ist der springende Punkt: es ist räumliche Distanz, die als solche vorhanden sein und auch erkannt werden muss, die eine ästhetische Wahrnehmung von etwas de facto erlaubt und damit ermöglicht. Zwar kann »prinzipiell […] alles, was sensitiv wahrgenommen werden kann, auch ästhetisch wahrgenommen werden,«63 doch aus lebenspraktischer Klugheit und moralischen Gründen sollte es das in vielen Fällen klarerweise nicht. Erst wenn wir ein Ereignis als räumlich diskontinuierlich erfahren und als solches einschätzen können, als etwas, das keine möglichen kausalen Auswirkungen auf unsere räumliche Situation haben kann, legt sich uns eine ästhetische Einstellung zu den Dingen nahe und aus einer vorher abstrakten Möglichkeit wird eine konkrete Option, die wir gerne und häufig ergreifen. Natürlich könnten wir den vor uns stehenden und von keinerlei Gehege umzäunten Löwen auch rein ästhetisch wahrnehmen, so wie wir den Ertrinkenden vom Flussufer aus lediglich »zur Kenntnis« nehmen könnten, um ästhetisch seine wedelnden Arme und das aufspritzende Wasser als wilde Choreographie zu genießen, in die sich seine verzweifelten Hilferufe als die passenden Kontrapunkte einfügen und die das Wilde des Schauspieles nur noch unterstreichen – doch klarerweise sollten wir das nicht und könnten es damit auch de facto nur, wenn wir entsprechend emotional distanziert sind. Wir sollten vielmehr im Gegenteil schnellstmöglich räumliche Distanz zwischen uns und dem Löwen schaffen und sie vergrößern, während wir sie im Falle des Ertrinkenden möglichst schleunigst aufheben und verringern sollten. Wir sollten dafür sorgen, dass eine mögliche Kausalwirkung zwischen uns beiden eintreten kann, die ihn aus seiner Misere befreit, während wir sie im Falle des Löwen unter allen Umständen (räumlich) verhindern sollten. Nur bei einem kausal impotenten Etwas, wie wir es weiter oben genannt haben, ist es uns von vornherein erlaubt, es rein ästhetisch zu vergegenwärtigen, so wie es meist (aber nicht immer) um ein räumlich immobiles Etwas steht, solange dieses keinerlei Fernwirkung (auf uns) entfalten kann. Wenn wir uns nicht im Einzugsbereich seiner Möglichkeiten wähnen, uns in seinem Wirkungskreis aufhalten und wir nicht darauf zu reagieren brauchen, können wir im 63 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 46.
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Gegenteil aus freien Stücken und damit (rein) ästhetisch darauf reagieren. Ein solches Etwas können wir in aller Ruhe auf uns wirken lassen, weil uns bewusst ist, dass es nicht räumlich‐materiell auf uns einwirken kann, es ausgreifen und uns damit physisch angreifen und betreffen kann – und es uns daher auch nichts »anzugehen« braucht. Für unsere funktionelle Orientierung gilt hingegen der genau umgekehrte Fall: sie bleibt auf die Vergewisserung einer räumlichen Kontinuität angewiesen und auf den Anschluss an räumliche Grundkoordinaten, auf sie sie nicht verzichten kann. Solange wir uns in dem Zustand der Orientierungslosigkeit befinden und keine (gedankliche und vorstellende) Verbindung zu vertrauten Eckpunkten und möglichen Fluchtpunkten in unserer Umgebung ausbilden können, wir uns in einer uns unbekannten Umgebung »verloren« haben, können wir uns nicht gezielt an diese ästhetisch verlieren. Wenn uns das Grundvertrauen in die eigenen Handlungsmöglichkeiten in einer (uns unbekannten) Umgebung genommen sind und wir nicht wissen, wie wir diesem Zustand (potentiell) ein Ende bereiten können, können wir nicht in einen ästhetischen Zustand überwechseln, der diese Begebenheit willentlich ignoriert, weil er sie ignorieren kann. Wenn es plötzlich spät wird, wir nicht mehr wissen, in welcher Richtung die nächste U-Bahnstation lag, wir kein einziges Taxi mehr auf der Straße sehen und Gestalten die Gehwege säumen, die auch schon freundlicher ausgesehen haben und aus einem vertrauten Ort unverortetes Ausgesetztsein, ein »Unort« wird. Wenn wir derart »verloren« sind, dann geht uns das übergreifende, globale Grundvertrauen in unsere unmittelbare Umgebung und unsere Grundlagenorientierung verloren; dann können wir nicht mehr einschätzen, von wo aus was zu erwarten ist, fühlen uns potenziell von allem »angegangen«, weil plötzlich alles fühlbar in Bewegung gerät und unsere ansonsten unhinterfragten Feststellungen in die Schwebe geraten. Solange, bis die vertraute Leuchtreklame (wieder) auftaucht und das dahinter liegende Lebensmittelgeschäft, von dem wir jetzt wieder wissen, dass es in direkter Verlängerung zur Bahn-Station lag, in die noch volle zwei Stunden Züge einfahren, die uns von hier wegbringen. Jetzt können wir uns wieder orientiert besten Gewissens einer Umgebung zuwenden, die durch ihren Anschluss an Grundkoordinaten Richtungen und Ausrichtungen aufweist und eine Orientierung erlaubt, in der sich uns Handlungsfreiräume ergeben, die ohne diese Absicherung, diesen »Zufluchtsort« schlicht für uns nicht existieren könnten.64 Die aufgezwungene 64 Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, a.a.O., S. 103: »So etwas wie Gegend muss zuvor entdeckt sein, soll das Anweisen und Vorfinden von Plätzen einer umsichtig verfügbaren Zeugganzheit möglich werden. Diese gegendhafte Orientierung der Platzmannigfaltigkeit des Zuhandenen macht das Umhafte, das Um‐uns-herum des umweltlich nächstbegegnenden Seienden aus […]. Alle Wo sind durch die Gänge und Wege des alltäglichen Umgangs entdeckt und umsichtig ausgelegt, nicht in betrachtender Raumausmessung festgestellt und verzeichnet.«
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Orientierungslosigkeit konfrontiert uns, angreifbar und ausgesetzt wie wir sind, mit einer unbewältigten Realität und Situationsräumlichkeit als deren Teil wir uns gewahren müssen und der wir Abhilfe schaffen müssen, bevor wir uns anderem in dieser Situation zuwenden können. Hier sind wir zum existenziellen Reagieren gezwungen, ob wir wollen oder nicht und ästhetisch werden wir uns erst wieder den Dingen zuwenden können, wenn jenes Grundvertrauen wieder etabliert ist und wir ihnen einen ersten Vertrauensvorschuss entgegenbringen können. Oder anders: Die ästhetische Wahrnehmung muss, um sich in luftige Höhen begeben zu können, mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen stehen. Weder dürfen wir orientierungslos einer uns unbekannten Umgebung ausgesetzt sein, noch uns in Kontinuität zu einer räumlich ermöglichten, schädigenden Kausalwirkung wähnen. Eine Voraussetzung, die nunmehr (und das ist hier der springende Punkt) paradigmatisch durch ästhetische Darstellungen geschaffen wird. »Da sind keine Vampire und da scheinen auch keine zu sein«65 , wie es Martin Seel über das Geschehen auf der Kinoleinwand festhält und damit einer jeden Nachahmungstheorie in der Kunst eine Absage erteilt. Denn wir werden von einer filmischen, graphischen, auditiven oder generell audiovisuellen Darstellung von etwas (wenn wir sie als solche identifizieren können) nicht zu dem irrtümlichen Schluss genötigt, das Dargestellte hätte sich alleine durch sein Wahrgenommenwerden auch tatsächlich physisch manifestiert, auch wenn diese Täuschungsabsicht oft genug das erklärte Ziel Kunstschaffender über die Jahrhunderte hinweg im Hinblick auf eine möglichst naturgetreue mímēsis war. Es handelt sich hierbei um eine »durschaute Illusion«66 , keine reale Täuschung. Und sollten wir uns zu der gegenteiligen Einschätzung veranlasst sehen, so handelt es sich für uns eben um keine (ästhetische) Darstellung mehr und wir werden gerade nicht »interesselos« darauf reagieren können. Der lange währende Strang der Nachahmungstheorie, der das Denken über die Kunst und ihre Fähigkeit zur Repräsentation über Jahrhunderte hinweg bis zum Aufkommen der abstrakten Kunst dominiert hat67 , rückt das Realitätverhältnis zwischen Nachahmung und Nachgeahmten ins falsche Licht. Denn ein Bild von einem Gegenstand, ist nicht dieser Gegenstand: »Ceci n’est pas une pipe«, wie es René Magritte selbst mit darstellerischen Mitteln auf den Punkt gebracht hat. 65 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 115. 66 Seel, Martin: Realismus und Anti-Realismus in der Theorie des Films, a.a.O., S. 158. Vgl. ebenfalls Allen, Richard: Projecting Illusion. Film Spectatorship and the Impression of Reality, Cambridge 1995, S. 82. 67 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Die Aktualität des Schönen, a.a.O., S. 10: »Die naive Selbstverständlichkeit, dass das Bild ein Anblick ist – so wie der Anblick, den uns unsere tägliche Lebenserfahrung von der Natur oder der von Menschen gestalteten Natur verschafft –, ist offenkundig gründlich zerstört.«
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Die Nachahmung schafft nicht ein weiteres Glied in der Menge der realen, d.h. physisch manifesten und kausal wirksamen Dinge. Deren Materialität überträgt sich nicht auf ihre Darstellung und letztere verbleibt kausal wirkungslos. »Wie sehr auch immer ein Bild dem gleichen mag, wovon es ist, es bleibt doch eine Entität einer davon logisch verschiedenen Ordnung […].«68 Denn sosehr das Dargestellte auch dem Vorbild ähneln mag, es unterscheidet sich in der alles entscheidenden Hinsicht von diesem, dass es nicht als jenes (weiter oben beschriebene) Wirkungszentrum von uns erlebt wird, das sich in eine reale Situation einbringt und dadurch in der Lage wäre, immer auch andere Seiten von sich zu realisieren, sollte sich der Stand der Dinge entsprechend verändern oder dies erfordern. Demgemäß realisiert es sich auch nicht, nur weil wir dessen Darstellung zu Gesicht, Gehör etc. bekommen, sondern es erscheint – punktum. Und dieses Erscheinen ist vorab arrangiert, komponiert, es ist gezielt durch das künstlerische Arrangement in Form gebracht, d.h. es ist gestaltet, es unterlag einem Gestaltungsprozess, der die Auswahl des Materials angeleitet und dirigiert hat und seinerseits durch das verwendete Material weiter aus‐gestaltet wurde, d.h. in seinem konrekten Erscheinen durch dieses ermöglicht und individualisiert – ohne, dass das ästhetische Objekt dadurch einen wiedererkennbaren Bezug zu irgendwelchen realen Vorbildern unterhalten müsste. Daher haben wir es bei Erscheinungen im eigentlichen Sinne auch nicht mit »Dingen« zu tun, sondern mit (reinen) Fällen von Sichtbarkeits- bzw. Hörbarkeitsgebilden, mit einer Art rein »artifiziellen Präsenz.«69 Dasjenige, das bspw. auf einem Bildträger (der Leinwand, der Buchseite, dem Monitor etc.) sichtbar wird und erscheint (das »Bildobjekt«70 ) ist nicht real, sondern nur »artifiziell präsent, das heißt reduziert auf seine Sichtbarkeit«71 – es ist quasi »entkörperlicht«, wie Sartre sagen würde.72 Wenn wir eine Fotografie oder eine Video-Aufzeichnung von etwas 68 Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, a.a.O., S. 134. 69 So auch der Titel einer von Lambert Wiesing eigens hierzu veröffentlichten Studie. Vgl. ders.,: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a.M. 2005. Vgl. auch ders., Was ist ein Medium?, in: Was ist ein Medium?, a.a.O., S. 246: »Das von Medien sichtbar gemachte ist prinzipiell anderer Art als das, was ohne Medien sichtbar ist. Man sieht dem, was von einem Medium sichtbar gemacht wurde, an, dass es von einem Medium sichtbar gemacht wurde: Medien machen etwas sichtbar, hörbar und lesbar, was nicht physikalisch exisitiert.« 70 Zu einer eingehenden Bestimmung des Begriffs vgl. den Abschnitt »Wenn Bilder Zeichen sind: das Bildobjekt als Signifikant«, in: Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz, a.a.O., S. 37 – 81. 71 Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz, a.a.O., S. 70. [Meine Hervorhebung]. Vgl. ebenfalls ders., Phänomene im Bild, München 2000, S. 22 – 25. 72 Vgl. Sarte, Jean-Paul: Die Transzedenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1939, Reinbeck 1982, S. 325. Vgl. auch Beardsley, Monroe C.: Aesthetics.Problems in the Philosophy of Criticism, a.a.O., s. 529: »Aesthetic objects have a peculiar, but I think important, aspect: they are all, so to speak, objects manqués. There is something lacking in them that keeps them from being real, from achieving the full status of things – or, better, that prevents the question of reality from arising. They are complexes of qualities, surfaces. The characters of the novel or lyric have truncated histories, they are no more than they show. The music is movement without anything solid that
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sehen, so ist es ja nicht das dargestellte, real anwesende Ding, das in Erscheinung tritt, sondern es ist das Arrangement verteilter Farbpunkte und -linien (ob nun digital auf dem Monitor oder analog auf dem Fotopapaier erzeugt), die in ihrer Zusammenstellung dasselbe räumliche Raster oder Muster ergeben wie beim Original. Was wir realiter durch Kameras oder Tonbandgeräte aufzeichnen können, d.h. im wörtlichen Sinne »auf‐nehmen«, ist (wie schon bei der originären Wahrnehmung) die Wechselwirkung eines Dinges mit dem Licht oder der Luft, sodass wir wiederum die in Schwingung versetzte Luft mit einem Tonband interagieren lassen können oder die reflektierten Lichtstrahlen mit Fotorezeptoren auf einem Digitalchip, einem Farbfilm o.Ä. Geben wir das Tonband bzw. die Videoaufzeichnung dann zu einem späteren Zeitpunkt wieder, so werden unsere Computerboxen oder unser Monitor zum Ursprungsort derjenigen Erscheinung, die durch die Schalloder Lichtemission erzeugt wird.73 Je nach Aufnahmequalität oder Auflösung wird unseren durch das jeweilige Medium designierten Sinnen (unserem Sehen, unserem Hören oder beidem) etwas anschaulich vergegenwärtigt, das nicht real anwesend ist, sondern das sich in der dargestellten, sinnlichen Dimension und dem arrangierten Wahrnehmungszusammenhang erschöpft. Die Computerlautsprecher versetzen die Luft auf eine ähnliche Weise in Schwingung, wie es auch die Stimmbänder des Löwen getan haben, unser Monitor emittiert Lichtstrahlen auf eine Art und Weise, wie es auch durch die Lichtbrechung auf dessen Körperoberfläche zuwege gebracht wurde usw. Hier haben wir es mit den wahren Repräsentationen zu tun, welche die Sinnesdaten-Theorie für den Gehalt auch unserer originären Wahrnehmungseindrücke reklamiert, denn hier wird etwas tatsächlich wieder‐vergegenwärtigt, d.h. re-präsentiert. Denn, was wir so zu sehen und zu hören bekommen, unterscheidet sich ja in Hinsicht auf die qualitative Dimension des jeweiligen Sinneseindruckes (je nach dem technischen Stand der Dinge) vielleicht gar nicht unbedingt grundsätzlich von dem aufgezeichneten Original,74 außer eben in der alles entscheidenden Hinmoves; the object in the painting is not a material object, but only the appaerance of one. Even the lifelike statue, though it gives us the shape and gesture and life of a living thing, is clearly not one itself. And the dancer gives us the abstraction of human action […].« 73 Wie genau dieses Verhäntnis bewirkt wird, ist nicht weniger rätselhaft als das Verhältnis des Wahrnehmens zu dem wahrgenommenen Gegenstand selbst. Vgl. Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz, a.a.O., S. 52: »Wie ein Bildträger in der Lage ist, das Bewusstsein eines ›gegenwärtig sich präsentierenden Bildobjektsʼ beim Betrachter zu erzeugen, ist zumindest derzeit unerklärlich – und das ist auch nicht verwunderlich, denn hätte man eine Erklärung, so hätte man nichts Geringeres als eines der großen Rätsel der Menscheit gelöst. Die Beziehung zwischen Bildträger und Bildobjekt ist die Beziehung zwischen einem physikalischen und einem intentionalen Objekt.« 74 Worin ja auch der besondere Reiz der heutigen »Stellvertreterkultur« und der »Virtualisierung« aller Lebensbereiche liegen dürfte, die kaum erklärlich wäre, könnte die Darstellung nicht in
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sicht, das dieses nicht (mehr) real anwesend zu sein braucht, um diesen Eindruck auf uns ausüben zu können, weil wir dessen damaliges In-Erscheinung-Treten medial aufzeichnen konnten, sprich: dessen über die Luft oder das Licht vermittelte Einwirkung auf ein (Speicher-)Medium festhalten konnten, welches seinerseits diese Einwirkung bei seiner eigenen Wiedergabe in eine mechanische, visuell und auditiv wirksame Auswirkung auf die Luft und das Licht rückzuübersetzen im Stande ist. Und diese kann von einem entsprechend sinnlich disponierten Rezipienten ähnlich wahrgenommen werden, wie die Auswirkung, die von der (damaligen Original-)Quelle ausging. »Der Fotoapparat ist eine Sichtbarkeitsisoliermaschine: Er trennt die Sichtbarkeit von der anwesenden physikalischen Substanz einer Sache.«75 Statt der Sache ist jetzt nur (noch) deren artifiziell erzeugte Präsenz zu sehen und zu hören und wir können uns eine Seite ihres In-Erscheinung-Tretens vergegenwärtigen, die dadurch zum bloßen Erscheinen wird. Hier liegen die wahren »Phänomene ohne Referenz« vor; denn dieses Erscheinen verweist gerade nicht mehr auf eine zugrundeliegende Realität, auf eine physisch manifeste Dinglichkeit, die in unserem eigenen Lebensraum ihre Zelte aufschlagen würde oder sich dort abspielte. Daher ist es auch nicht wirklich zutreffend in diesem Fall von einer »Anwesenheit ohne Gegenwart«76 zu sprechen; denn vielmehr haben wir es umgekehrt bei (ästhetischen) Darstellungen mit Gegenwarten ohne Anwesenheit zu tun oder, wie es Sartre über Objekte der Imagination sagt, mit Dingen, die »anschaulich‐abwesend« sind. Denn vergegenwärtigen können wir uns durch (mediale) Darstellungen ja sehr wohl etwas und sogar recht viel: so vergegenwärtigen wir uns das Lächeln der Freundin, indem wir ein Foto von ihr betrachten oder ihre Stimme, indem wir ihre letzte Mailbox-Nachricht abhören; wir vergegenwärtigen uns die Farbe unseres Autos durch die Handy-Aufnahme von letztem Samstag und den Straßenlärm Berlins durch einen Anruf bei unserem Freund, der gerade auf dem Weg nach Hause ist usw.77 wesentlichen Hinsichten für das Original »einstehen«. Dass wir vor Ort dann oft feststellen müssen, dass der Wahrnehmungseindruck unterschiedlich ausfällt und doch so »ganz anders« ist als auf dem Foto oder im Radio liegt natürlich an vielen weiteren Faktoren. Bspw. daran, dass die Wahrnehmung vor Ort sich von einer ganz anderen Situation umstellt sieht, die auch von allen übrigen Sinnen und unserer Köperlichkeit wahrgenommen wird. Zudem kann das Dargestellte ja auch schlicht derartig individuell ausfallen, dass dergleichen in genau diesem Licht, diesem Schattenwurf, unter diesem Sonnenstand, in diesen Farben und vor diesem Hintergrund usw. überhaupt nicht mehr vor Ort angetroffen werden kann, weil er unwiederruflich der Vergangenheit angehört. 75 Wiesing, Lambert: Was ist ein Medium?, a.a.O., S. 248. 76 Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 11. 77 Der Übersichtlichkeit halber sind hier Phänomene vesammelt, die sich noch einmal untereinander dadurch unterscheiden ließen, dass ihr Wahrnehmungskontakt jeweils ungleich »gebrochen« ist. Denn die Fotografie oder die Mailbox-Nachricht unterscheiden sich ja vom aktuellen
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All diese Darstellungen sind in der Lage, wesentliche Eigenschaften des Originals zu »exemplifizieren«78 , wie Nelson Goodman sagen würde, weil sie diese mit jenen teilen (und darüber hinaus auf sie »Bezug« nehmen),79 was in den meisten Fällen ja überhaupt ihre raison d’être abgibt. Doch bleibt entscheidend, dass diese Art der Gegenwart, wenn sie ästhetisch gestaltet wird (und damit nicht selten jeden wiedererkennbaren Bezug zu realen Vorbild lockert oder versucht, völlig abzustreifen) nicht nur eine Gegenwart (unter vielen) ist, sondern eine qualitativ einzigartige Gegenwart; denn sie wird dadurch eigens (medial) dargestellte, dargebotene Gegenwart. Was bedeutet, dass sie einer gewissen Still-Stellung unterliegt, einer FestStellung, die diesmal nicht begrifflich, sondern explizit räumlich verstanden werden muss. Denn, was uns derart dargeboten wird, bleibt ja unweigerlich an seinen Ort gebunden, weil es überhaupt keinen realen und damit empirischen Ort in unserer (Um)Welt einnimmt, sondern erst durch den geliehenen Raum unserer Vorstellungskraft und unserer gelebten, virtuellen Räumlichkeit zustande kommt und erscheint. »Es würde mir wahrlich Mühe bereiten zu sagen, wo sich das Bild befindet, das ich betrachte. Denn ich betrachte es nicht, wie man ein Ding betrachtet, ich fixiere es nicht an seinem Ort […]. Ich sehe eher dem Bild gemäß oder Anruf bei dem Freund, der in diesem Moment durch die Straßen Berlins läuft, in demjenigen, was man das Moment der »Echtzeit« nennen könnte. Während das Geschehen auf Fotografien und Tonbandaufnahmen immer mehr in die Vergangenheit abrückt, ihnen so zusagen der Index einer zunehmenden Historizität anhaftet, ist der Anruf oder auch die live-Schaltung oder live-Übertragung im Fernsehen ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie (trotz einer gewissen Zeit-Verzögerung) quasi den Kontakt zu demjenigen halten, was sich tatsächlich in diesem Moment irgendwo real ereignet. Was auch die besondere Faszination für derartige (Live-)Übertragungen erklären dürfte. Doch trotz allem haben wir es auch hier mit Darstellungen zu tun; denn das Gezeigte ist nach wie vor »entkörperlicht«, nicht real anwesend, sondern bloß gezeigt, d.h. als solches vorgezeigt und sichtbar gemacht, ohne körperliche Anwesenheit in unserer (unmittelbaren) Umgebung zu implizieren. 78 Was wir gemäß der Leitmetaphorik unserer Arbeit auch so ausdrücken können (um den Begriff des »Bezugs« zu vermeiden), dass jene für diese (für unsere Erkenntnis und Vorstellungskraft) »ein‐stehen« (können) Vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 60. 79 Was nichts anderes heißt, als dass wir sie auch als Zeichen für etwas auffassen müssen. Denn Dinge können sich ja immer in wesentlichen Hinsichten gleichen, wie bspw. die Teller und Tassen eines Geschirrservices, ohne dass der eine Teller dadurch bereits zur Darstellung des anderen würde. Das könnte er wiederum erst durch seinen zeichenhaften Gebrauch, was seinerseits laut Goodman dadurch ermöglicht wird, dass er Teil eines Symbolsystems wird, welches erlaubt anzugeben, auf welche Eigenschaften des Dargestellten es in diesem Zusammehang ankommt. Vgl. ebd., S. 60: »Welche Eigenschaften eines Symbols nun gerade exemplifiziert werden, hängt davon ab, welches besondere Symbolsystem in Kraft ist. Die Probe des Schneiders funktioniert normalerweise nicht als Probe von einer Probe eines Schneiders; sie exemplifiziert normalerweise bestimmte Eigenschaften eines Materials, aber nicht die Eigenschaft, solche Eigenschaften zu exemplifizieren.«
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mit ihm, als dass ich es sehe.«80 Denn das Bild als ästhetische Darstellung existiert ausschließlich durch sein Wahrgenommenwerden für uns und gleichgültig, wie nahe wir der Darstellung von etwas kommen oder diese sich uns nähern lassen: das Dargestellte bleibt unverrückbar von uns entfernt, weil es keine physische Realität besitzt oder geltend macht.81 Es erscheint weniger in unserem Raum als dass es seinen eigenen Raum über/via unser Raumerleben entfaltet, sodass wir den tatsächlichen, uns umgebenden Raum für die Zeit seiner Entfaltung nicht selten vergessen, da wir von den erscheinenden, räumlichen Verhältnissen des ästhetischen Objekts (dem Spielfilm auf der Leinwand, dem Gemälde in der Galerie) regelrecht absorbiert werden, uns der »Immersionskraft«82 des dargestellten Weltzustandes völlig hingeben. Was dazu beiträgt, dass wir diesen auf eine Weise begegnen lassen und damit vergegenwärtigen können, wie es ansonsten und unter Annahme eines Restbestandes an (kausal wirksamer) Realität kaum möglich wäre. Denn, etwas, das sich in unserer realen Umgebung manifestiert, das konfrontiert uns immer auch zugleich mit seiner Anwesenheit und konkurriert damit um den von uns belebten und erlebbaren Raum und die von uns erfahrbare Zeit. Das aus seinem Käfig ausgebrochene Raubtier, der entgleiste Zug, der Hilfe suchende Passant, das unter Sireneneinsatz sich uns nähernde Einsatzfahrzeug, üben einen gewissen Anspruch aus auf unser Verhalten und die Situation, in der wir uns befinden. Sie nötigen uns zur Reaktion, womit sie eine gewisse Zeit- und »Raumhoheit« für sich beanspruchen, die wir nicht einfach ignorieren können und der wir uns vorerst fügen müssen. Der Raum, in dem sie sich manifestieren und damit realisieren, wird zum Raum, den sie je nach Befähigungslage »dominieren«; er wird zum DominanzRaum ihrer jeweiligen Möglichkeiten, ihres Einflussgebietes und eines von ihnen ausgehenden Aktions-Potenzials. Der aus seinem Käfig ausgebrochene Tiger schlägt unsere komplette Welt in seinen Bann und richtet sie auf genau jenes Zentrum hin aus, das er selbst ist, womit unser Raum bis in die letzten Winkel hinein von seiner Anwesenheit heimgesucht wird und die Beziehungen zwischen den Gegenständen sich merklich verschieben und auf seine Möglichkeiten hin 80 Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, a.a.O:, S. 282. Vgl. auch Sartre, Jean-Paul: The Imaginary, a.a.O., S. 37. 81 Auch, wenn es durchaus über eine intersubjektive Realität verfügt; denn es kann ja als solches beliebig vielen Rezipienten erscheinen, die über eine gleichgeartete Sinnesausstattung und -disposition verfügen. 82 Vgl. Belting, Hans: Image, Medium, Body. A New Approach to Iconology, in: Critical Inquiry 31 (2005), S. 302 f: »Images are neither on the wall (or on the screen) nor in the head alone. They do not exist by themselves, but they happen; they take place whether they are moving images [.] or not.« Für eine Analyse von »Immersionseffekten« vgl. Curtis, Rubin: Immersionseffekte. Intermediale Involvierung in Film und digitalen Medien, in: Ausweitung der Kunstzone, hg. v. Erika Fischer-Lichte et.al., Bielefeld 2010, S. 201 – 222.
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ausrichten. Diese erhalten eine andere, auf ihn bezogene Qualität, eine neu ausgehandelte Nähe und Ferne und Operationalität, die um ihn herum gruppiert ist, wie es Sartre in seinem berühmten Kapitel über den »Blick« und die Anwesenheit eines anderen Menschen in das »Sein und das Nichts« festhält. »Ihn dagegen als Menschen wahrnehmen heißt, eine nicht additive Beziehung des Stuhls zu ihm zu erfassen, eine distanzlose Organisation der Dinge meines Universums um diesen bevorrechtigten Gegenstand herum registrieren […]. Die Distanz entfaltet sich von dem Menschen aus, den ich sehe, und bis zu dem Rasen als das synthetische Auftauchen einer einseitigen Beziehung. Es handelt sich um eine Beziehung ohne Teile, die mit einem Schlag gegeben ist und innerhalb deren sich eine Räumlichkeit entfaltet, die nicht meine Räumlichkeit ist, denn statt eine Gruppierung der Gegenstände auf mich hin zu sein, handelt es sich um eine Orientierung, die mich flieht […]. Ein ganzer Raum gruppiert sich um den Anderen herum, und dieser Raum ist mit meinem Raum gemacht; es ist eine Umgruppierung aller Gegenstände, die mein Universum bevölkern, der ich beiwohne und die mir entgeht.«83 Das Raubtier, der Einsatzwagen haben zwar kein Für‐sich-Sein und damit nicht die Art von Transzendenz, deren Auswirkungen Sartre hier phänomenologisch beschreibt und die bedingt, dass »sogar die Qualität des Gegenstandes, sein tiefes und kräftiges Grün in direkter Beziehung zu diesem Menschen [steht]« und ihm eine Seite zuwendet, »die mir entgeht«84 , weil das Für‐sich-Sein der anderen Person (ihr Bewusstsein) diesen Gegenstand und seine Qualitäten eben für diese sein lässt. Doch wie gesehen, entscheiden bereits die möglichen, vor‐gestellten und damit antizipierten lebensweltlichen Kausalzusammenhänge und -konstellationen und unsere Interaktionsmöglichkeiten darüber mit, welche Seiten der Dinge jeweils gefordert sind, d.h. wie und auf welche Weise diese sich in eine Situation einbringen. Doch nicht nur die Gegenpartei kann das Feld dominieren, auch wir können die Dinge mit unseren Absichten und Vorhaben konfrontieren und ihnen damit unsere Zeit und unseren Raum diktieren, bzw. dies bis zu einem gewissen Grad versuchen. Denn, um den Lauf der Dinge zu manipulieren und um eine gewisse von ihnen ausgehende Wirkung veranlassen zu können, müssen wir sie immer auch ein Stück weit gewähren lassen, wie es weiter oben hieß, um uns ihres eigentlichen Movens zu bedienen. Ob nun der primäre Anspruch von Gegenstands- oder Subjektseite ausgeht: in beiden Fällen sind es ausgehandelte räumliche und zeitliche Verhältnisse, die einen weltlichen Zustand und seine entsprechende Dimensionierung bedingen. Aus dieser lebensweltlichen Konfrontation wird im ästhetischen 83 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 459ff. 84 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 461.
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Nachvollzug nunmehr eine (freiweillige) Begegnung – sozusagen eine Begegnung auf Augenhöhe. Denn hier findet keine Konkurrenz mehr um raum‐zeitliche Verhältnisse statt, keine (möglichen) Kausalwirkungen und erzwungenen Reaktionen. All diese Verhältnisse sind bereits ausgehandelt und zur Darstellung gebracht, sie sind gestaltet und dadurch einer medialen Still-Stellung unterworfen. Hier ist es uns möglich, die beiden entscheidenden Faktoren für alles real Existierende auszublenden, die im Normalfall die Oberhand darüber behalten, was und wie uns etwas zu Bewusstsein gelangt: nämlich Raum und Zeit. Dadurch, dass das Gesehene und Gehörte nicht anwesend, sondern nur sichtbar und hörbar ist, können wir uns alle Zeit der Welt lassen (sollten wir sie denn haben) d.h., wir können es ästhetisch begegnen lassen, können gezielt hinhören und hinsehen, da wir nicht in einem praktischen Sinne darauf reagieren müssen, nicht mit ihm hantieren, d.h. in einem auf ein Ergebnis zielendem Sinne mit ihm interagieren. Während in der lebensweltlichen Auseinandersetzung mit unserer Umwelt die Dinge gerade aufgrund ihres materiellen Eigengewichts verschiedentlich in den von uns gelebten Wahrnehmungszusammenhang mit eingehen und als Zielpunkte unserer praktischen Intentionen von uns ein gewisses Wirkungsrecht eingeräumt bekommen (womit sie sich, wie gesehen, höchst unterschiedlich und je nach Position und Wahrnehmungskontakt bemerkbar machen und damit realisieren), so erfährt in der (ästhetischen) Darstellung nicht nur das Moment ihres In-Erscheinung-Tretens eine Verschiebung hin zu ihrem bloßen Erscheinen, sondern auch das Moment der (möglichen) Interaktion verlagert sich hin zum sinnlichen Nachvollzug. Denn, was zur Darstellung gebracht wird, ist bereits das Produkt einer gewissen Interaktion, ist ein ausgehandelter Wahrnehmungszusammenhang und der Abkömmling eines gewissen Standpunktes innerhalb einer priorisierten und nach bestimmten Gesichtpunkten angeordneten und ausgerichteten, d.h. perspektivierten Wahrnehmungssituation, die unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und durch den Wahrnehmungszusammenhang hindurch zu lenken weiß. Während unser begriffliches Verständnis unter einem präventiven Gesichtspunkt im alltäglichen Fall darüber mitentscheidet, was uns zu Bewusstsein zu kommen braucht, da es dem Wirken einer handfesten und damit materiellen Realität unter Einbezug unserer Vorstellungskraft einen gewissen Entfaltungsraum gewährt bzw. gewähren muss, auf den wir uns versuchen (möglichst schnell) einzustellen, so steht dieser selbe Raum im ästhetischen Geschehen nun zur (wortwörtlichen) Dis-Position. Er kann anders ver‐messen und be‐messen, anders dimensioniert und re‐konfiguriert werden, andere Ausmaße annehmen und Ausrichtungen zulassen, für dasjenige, das immateriell durch ihn zur Erscheinung gelangen soll. Denn durch die Irrealität von etwas bloß Erscheinendem, dessen Distanz durch seine Entkörperlichung so zusagen absolut gesetzt ist, sehen wir uns nicht (mehr) genötigt, den Raum, den ein (zukünftiges) Ereignis einnehmen könnte, präventiv einzudämmen. Was, wie gesehen, dadurch erreicht werden kann, dass
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wir dessen Auswirkungen unter Berücksichtigung aller »Begleitumstände« in entscheidener Hinsicht (vorstellend) vorweg sind, um sie in die von uns gewünschten Bahnen lenken zu können. Die Reaktionszeit, die wir gezwungen sind, bei unseren alltäglichen Verrichtungen einzukalkulieren, kann beim ästhetischen Nachvollzug ebenso freigestellt werden wie die Koordinaten räumlicher, nunmehr bloß dargestellter und damit eigens her‐gestellter Verhältnisse. Und auch die Dauer eines anschaulich werdenden Phänomens kann neu verhandelt und (untereinander) ausgehandelt werden, einer neuen Einregelung unterliegen und damit quasi neu »temporalisiert«, d.h. intensiviert oder de‐intensiviert werden. Das zeitlich ausgedehnte Jetzt und das räumlich ausgedehnte Wo eines Erscheinens kann eine neue Dimensionierung erfahren und dadurch eine gesteigerte oder abgeschwächte Gegenwart und Präsenz zulassen, die eine veränderte Wahrnehmungsqualität aufgrund dieser Konstellation erzeugt. Eine andere, qualitative wie räumliche Gegenwart als es in einem instrumentellen (Zeug-)Zusammenhang der Fall sein könnte, der immer auch bestrebt bleiben muss, die Dimensionen der Zeit und des Raumes zu kontrollieren, innerhalb derer sich die Dinge abspielen (werden). Durch die Begegnung mit einer äshetischen Darstellung (von etwas) können wir auf diese Kontrolle gezielt verzichten, können uns dem (rein dargestellten) Geschehen auf der Leinwand, dem Monitor, auf der Bühne, dem Bild oder dem Konzertsaal überlassen und uns dadurch auf dessen bloß dargestelltes Ereignen bewusst einlassen, das diese »Maßregelung« schon durch seine eigene Gestaltung vorweggenommen hat. In der ästhetischen Rezeptionshaltung können wir uns Zeit nehmen für die individuellen, sich in dieser Situation entfaltenden Erscheinungen, für die wir uns (durch deren ausbleibende, räumliche Manifestation) diese Zeit nehmen können. Der (kausal) stillgestellte und medial hergestellte Wahrnehmungszustand erlaubt ein spielerisch explorierendes Verhalten, das nicht wie bei realen Situationen von dem Vertrauensvorschuss zehren muss, ob die eigenen, begrifflichen und immer nur vorläufigen Feststellungen auch wirklich Stand halten werden, womit die Nötigung zu einer pragmatischen, situationsgerechten Augenblicksbewältigung aufgehoben ist. Es kann zu dem kommen, was in der ästhetischen Tradition in Anlehnung an Kants »interesseloses Wohlgefallen« als »selbstzweckhafte Begegnung«85 beschrieben wird; denn im ästhetischen Vernehmen von etwas sind wir nicht mehr (primär) an der (Handlungs-)Kontrolle eines Ereignishergangs interessiert, sodass 85 Vgl. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 62. Vgl. ebd., S. 44: »In einer Situation, in der ästhetische Wahrnehmung wachgerufen wird, treten wir aus einer allein funktionalen Orientierung heraus. Wir sind nicht länger darauf fixiert (oder nicht länger allein darauf fixiert), was wir in dieser Situation erkennend und handelnd erreichen können. Wir begegnen dem, was unseren Sinnen und unserer Imagination hier und jetzt entgegenkommt, um dieser Begegnung willen.«
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verschiedene Wahrnehmungs-Eindrücke bloß als Verifikationen oder Falsifikationen von Vorannahmen über den (zukünftigen und/oder herbeizuführenden) Stand der Dinge zu Wort kommen, sondern sich ästhetisch auf ein Wahrnehmungsphänomen einzulassen bedeutet im Gegenteil, sich dessen Erscheinen um seiner selbst willen zuzuwenden. »In diesem Innehalten liegt zugleich eine Enthaltung – ein Abstand von allen Vollzügen, in denen wir in einer Orientierung an Zuständen aufgehen, die wir in der Zukunft herbeiführen oder erreichen wollen. Dieses ausschließliche Bestimmen und Bewirken lassen wir in der äshtetischen Anschauung sein. Wir machen uns von seinen Fixierungen frei. Wir enthalten uns zur Gegenwart. Wir lassen uns zur Gegenwart entführen. Ästhetische Anschauung ist eine radikale Form des Aufenthaltes im Hier und Jetzt.«86 Doch diese selbstzweckhafte Vertiefung und Hinwendung zu einer Gegenwart im Hier und Jetzt ist im Zusammenhang ästhetischer Darstellungen keine Konzentration auf ein Erscheindenes simpliciter. Sie ist eine Aufmerksamkeit für eine Gegenwart, die nicht bei der Betrachtung purer Sinnlichkeit oder »nackter Materialität« stehen bleibt (sollte es derer überhaupt geben), sondern durch die Praktiken, denen ästhetische Gestaltungen unterliegen, durch ihre öffentlich zugängliche Präsentation, durch ihre Selbstpräsentation sorgen sie dafür, dass sie auch wieder über sich selbst hinausweisen, indem sie auf ihre eigene sinnliche Konfiguration ver‐weisen und so etwas (von sich selbst) vor‐weisen, es vorzeigen und damit auf‐weisen. »Der Weg zur Weltpräsentation, falls diese vorhanden ist, führt über die Selbstpräsentation des Werks, seines Materials, seiner internen Konfigurationen, seiner Perspektiven usf.«87 86 Vgl. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 62. Zwar kann eine ästhetische Wahrnehmung durchaus zweckgeleitete Verrichtungen begleiten – das in ihr erscheinende Objekt in seiner sinnlichen Präsenz kann indessen nicht auf einen solchen (äußerlichen) Zweck hin wahrgenommen werden, ohne dass es aufhörte, ästhetisch wahrgenommen zu werden. D.h. es kann nicht primär instrumentalisiert werden, was eben nicht bedeutet, dass man sich die Erscheinung nicht als Erscheinung dienstbar machen könnte, wie es ja gerade in den Künsten und bei ästhetischen Gestaltungen der Fall ist, die als sinnliche Gestaltung einem weiterführenden Zweck zugeführt werden (bspw. in der Werbung etc.). Vgl. Kant, Immanuel: KdU, B7 Fußnote: »Ein Urteil über einen Gegenstand des Wohlgefallens kann ganz uninteressiert, aber doch sehr interessant sein, d.i. es gründet sich auf keinem Interesse, aber es bringt ein Interesse hervor […]«. Vgl. auch Davies, Stephen: The Philosophy of Art, a.a.O., S. 61. Diese Differenz verkennt bspw. Noël Carroll, wenn er in seiner Zusammenschau verschiedener Konzipierungen der ästhetischen Wahrnehmung dem (in seiner Terminologie) affect‐oriented approach und dem axiological approach die Plausibilität abspricht. Vgl. Carroll, Noël: Aesthetic Experience Revisited, in: British Journal of Aesthetics, Vol. 42, No. 2, April 2002, S. 145 – 168. 87 Seel, Martin: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung, in: ders., Die Macht des Erscheinens, a.a.O., S. 61.
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Ästhetische Darstellungen präsentieren und inszenieren sich, indem sie den Spielraum unseres Zur-Welt-Seins gezielt und in unterschiedlichen Graden für ein selbstzweckhaftes Verweilen nutzbar machen. Sie nehmen unsere Zeit für die Dauer ihrer Rezeption bewusst in Anspruch, um sich in der Zeit, die wir ihnen derart widmen, für unser sinnliches Erleben zur Geltung zu bringen und entfalten zu können und damit wiederum eine gestaltete, d.h. ihre gestaltete Zeit und ihren gestalteten Raum für uns erlebbar werden zu lassen.88 »In allen diesen Verfahren leihen uns die Künste eine andere Zeit. Das ist der Sinn ihrer Form – die Form ihrer Werke gibt uns Zeit; sie lässt uns die Zeit ihrer Form erfahren. Sie verstrickt uns in den Rhythmus ihrer Gestalten. Dadurch nimmt sie uns Zeit, die wir nicht länger zur Verfügung haben. Sie übernimmt ihre Gestaltung für die Weile, in der wir ihrer Bewegung ausgesetzt sind. Die Form der Kunst also gibt uns Zeit, indem sie uns Zeit nimmt, und nimmt uns Zeit, indem sie uns Zeit schenkt.«89
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Simultaneität, Präsenz und Materialität
Etwas, dem wir uns wahrnehmend um seiner selbst willen zuwenden, dem begegnen wir zudem im Modus der Simultaneität und Momentaneität90 ; denn Sukzession, Linearität, die zeitliche Abfolge von sich gegenseitig ablösenden und in der Zeit ausschließenden Alternativen, ist den Wahrnehmungs- Stationen vorbehalten, anhand derer wir uns orientierend eine Situation zu eigen machen und uns durch diese als Ganzes hindurch manövrieren. Unter Vorgabe eines zu erreichenden Ziels und eines umzusetzenden Zwecks entscheidet unser begriffliches Verständnis als stets mitlaufende Ergebniskontrolle 88 Daher behält Beardsley nur bedingt Recht, wenn er schreibt, dass »an Artwork is something produced with the intention of giving it the capacity to satisfy the aesthetic interest.« Denn dies bleibt nur Voraussetzung für ein zu befriedigendes Gehalts-Interesse, so zusagen ein »content interest«, das durch dieses transportiert und zugänglich gemacht wird, sich aber nicht auf ersteres reduzieren lässt. Siehe Beardsley, Monroe C.: An Aesthetic Definition of Art, in: What is Art?, hsrg. V. Hugh Curtler, New York 1983, S. 58. 89 Seel, Martin: Form als eine Organisation der Zeit, in: ders., Die Macht des Erscheinens, a.a.O., S. 45. 90 Vgl. Seel, Martin: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung, in: Die Macht des Erscheinens, a.a.O., S. 57: »Ästhetische Wahrnehmung besteht demnach in einer Aufmerksamkeit für das Erscheinen von Erscheinendem. Dies ist eine Aufmerksamkeit dafür, wie etwas hier und jetzt für unsere Sinne anwesend ist. Diese Aufmerksamkeit kann mit Phänomenen des Scheins und der Imagination vielfach verbunden sein. Ihr Grundbegriff jedoch hebt das synästhetische Vernehmen der Simultaneität und Momentaneität sinnlicher Erscheinungen hervor, das alle weiteren und alle komplexeren ästhetischen Vollzüge begleitet.«
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im Regelfall in wesentlicher Hinsicht darüber mit, was uns als Wahrnehmungseindruck jeweils gelten kann, um so gezielt auf eine weitere Ausdifferenzierung eines sich aufbauenden Wahrnehmungseindrucks verzichten zu können. Eine gezieltere und genauere Hinwendung zu sich vervollständigenden Sinnes-Eindrücken, zu einem sich situativ nahelegenden Wahrnehmungs-Ansatz ist ja im Regelfall nur dann von Nöten, wenn sich Unsicherheiten einstellen, von denen wir uns erhoffen, sie durch diesen »genaueren«, d.h. (unter Vermeidung eines falschen Essentialismus) umfassenderen Eindruck ausräumen zu können, dem wir uns gerade nicht um seiner selbst willen zuwenden. Diesem widmen wir uns nur insoweit, als dass wir an ihm die erfolgreiche Realisierung der materiellen Konsequenzen unserer Absichten ablesen können und aufgezeigt bekommen. »Wiedererkennen bedeutet Wahrnehmung, die zum Stillstand kommt, bevor sie die Gelegenheit zur freien Entfaltung findet.«91 Die ästhetische Wahrnehmung nimmt von dieser Komprimierungsleistung eines auf Effizienz bedachten und zur Ökonomisierung ihrer zur Verfügung stehenden Mittel angehaltenen Wahrnehmungsvollzugs jedoch bewusst Abstand und gewährt gerade dadurch eine gesteigerte Präsenz desjenigen, dem in diesem Zusammenhang ein frei‐gestellter Raum und eine eigens ein‐geräumte Dauer eröffnet wird. »Es geht nicht mehr darum, so viel wie nötig, sondern so viel wie möglich wahrzunehmen.«92 Die ästhetische Einstellung zeichnet sich durch ihre Aufmerksamkeit für das Zusammenspiel der Wahrnehmungseindrücke aus, die ihre Gewichtung nicht durch unsere (lebens)praktischen Interessen erfahren, sondern durch die Gestaltung selbst. Im außerästhetischen Fall bleibt unsere instrumentell eingestellte Wahrnehmung meist bestrebt, zugunsten der eigenen Realisationsmöglichkeiten immer auch den Umfang ihrer Kapazitäten zu steigern, was unter der Prämisse begrenzter Ressourcen für ein endliches Wesen nur dadurch erreicht werden kann, dass sie die Übersicht steigert und dafür auf eine tiefergehende »Einsicht« in spezifische Zusammenhänge verzichtet und die sich zu Wort meldenden Wahrnehmungs-Ansätze sozusagen möglichst kompakt hält. Im ästhetischen Zusammenhang wird aus dieser (um Steigerung ihres Umfangs bemühten) Übersicht jedoch eine Art für die Details aufmerksame(re) »Einsicht«. »An aesthetic experience is one in which attention is firmly fixed upon heterogeneous but interrelated components of a phenomenally objective field.«93 Freilich auch hier keine (kontemplative) Einsicht in das Wesen der Dinge, sondern eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die vorherrschenden und sich (vor unseren Augen 91 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, a.a.O., S. 66. 92 Lehmann, Harry: Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, Paderborn 2016, S. 25. 93 Beardsley, Monroe C.: Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism, New York 1981, S. 527.
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und Ohren) abspielenden Wahrnehmungszusammenhänge und Wahrnehmungsübergänge, die dasjenige perzeptive (Um-)Feld beherrschen, dem wir durch seine Aus- und Herstellung nun eigens unsere Aufmerksamkeit widmen, weil wir sie ihm widmen können und bewusst zuwenden wollen. In der ästhetischen Hin- und Zuwendung geht es uns um die Prozessualität des Erscheinenden selbst, nicht um das lebenspraktisch und diachron angelegte Prozessieren unseres ständig sich verschiebenden Wahrnehmungskontaktes, bei dem eine Wahrnehmungsumgebung die andere ablöst und die vorherrschenden Zusammenhänge unter dem Gesichtspunkt eines zu erreichenden Zwecks möglichst effizient verhandelt, d.h. ausgehandelt werden und dabei einer variablen Intensität an möglichem In-ErscheinungTreten unterworfen sind. Diese spezifische Zuwendung zu einem Erscheinendem als Erscheinung erfordert aber auch eine Abstandsnahme, wenn auch keine völlige Suspendierung von vorab erbrachten, begrifflichen Feststellungen und Identifizierungsversuchen. Denn nach wir vor ist »da etwas als etwas gemeint […], auch wenn es nichts Begriffliches, Sinnvolles [oder, R.Z.] Zweckhaftes ist […]«.94 Oder sagen wir besser unter Berücksichtigung des herausgestellten, präventiven Zuges unserer begrifflichen Vermögen und ihrer realitäts‐aufschließenden Funktion: nichts begrifflich Vorher-Bestimmtes und dadurch vorab als mit einem bestimmten Zweck Aufgefasstes. Denn welche Tatsachen sich aus dem in Gang gebrachten und nun mitverfolgten Erscheinen ergeben, das lassen wir uns jetzt vielmehr eingeben, als dass wir es der Wahrnehmungsinteraktion mit unserer Umwelt vorstellend vorgeben würden.95 Und genau dadurch kann es zu neuen Sinnstiftungen und Sinnbildungsvorgängen kommen, die unsere begrifflich informierte Aufmerksamkeit wachruft und die von einer Vorstellung begleitet wird, die bestrebt ist, auf dem Laufenden zu bleiben und den anschaulichen Rahmen für das Erlebte bereitzustellen. Gehen wir unseren alltäglichen Verrichtungen nach, interagieren wir mit unserer Umwelt gemäß unserer alltäglichen Routine, so ist jeder einzelne Wahrnehmungsansatz durch seine erwartungskonforme Verortung in seinem In-Erscheinung-Treten bereits auf ein gewisses Standardniveau eingeregelt und unsere Aufmerksamkeit widmet sich nicht den sinnlichen Übergängen innerhalb einer Situation, sondern vielmehr dem sinnlichen Übergängen zwischen den sich abwechselnden (Wahrnehmungs-)Situationen. Die Simultaneität der Wahrnehmungseindrücke dient hier quasi nur einer Linearität einer möglichst effizienten Situationsbewältigung. Doch beginnen wir, von dieser (Wahrnehmungs-)Routine Abstand zu gewinnen, bspw. da ein unerwartetes (und als nicht‐bedrohlich eingestuftes) Objekt oder Ereignis unversehens beginnt, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, so gewinnt ein einzelnes, simultan zugängliches Wahrnehmungs(um)feld an Raum, 94 Gadamer, Hans-Georg: Die Aktualität des Schönen, a.a.O., S. 32. 95 Vgl. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 84.
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dessen Zusammensetzung nun als bewusstes Zusammenspiel von uns mitverfolgt wird, ohne auf einen äußerlichen Zweck hin befragt zu werden, womit zugleich ein in diesem inbegriffenes Etwas an Zeit gewinnt und damit an intensiviert erfahrener Gegenwart, die seine sinnlichen Eigenschaften zu bewusst ästhetisch erfahrenen Eigenschaften werden lassen, deren Präsenz sich uns nun durch diese »Entriegelung« ihres Standardniveaus regelrecht aufdrängt. »[They] strike us with their presence […].«96 Doch heißt das nicht, dass unsere begrifflichen und vorstellenden Vermögen nun zum Schweigen gebracht wären, weil »das Wovon des Getroffenseins, das Prozesse in Gang setzt, und das Worauf des Antwortens, in dem der jeweilige Prozess Gestalt und Sinn annimmt«97 nicht zusammenfallen, sondern dass sie sich eines Vorentscheids darüber enthalten, was warum und wie etwas im Fortgang für unsere Orientierung (in dieser Situation) in welchem Ausmaß (höchstwahrscheinlich) zur Erscheinung gelangen wird. Wenn wir in der ästhetischen Haltung (vor allem gegenüber ästhetisch bereits gestalteten Gebilden) unsere bisherigen Herangehensweisen selbst überdenken (müssen) und neu aushandeln, d.h., wenn wir unsere Praktiken, mit denen wir den Begebenheiten unserer Welt bis jetzt begegnet sind, bewusst aufs Spiel setzen, so sind wir gerade in einer besonderen Weise gefragt, aktiv zu werden, anstatt uns an das Wahrgenommene in selbstvergessener Passivität zu verlieren.98 »Um ganz von einer Sache erfüllt zu sein, müssen wir uns zuerst in sie versenken. Verhalten wir uns einem Ereignis passiv gegenüber, so werden wir von ihm überwältigt, und mangels entsprechender Handlung nehmen wir nicht wahr, was uns überwältigt. Um aufzunehmen, müssen wir Energie aufbringen und sie auf die entsprechende Wellenlänge einstellen […]. Denn um [ästhetisch, R.Z.] zu perzipieren, muss der Betrachter Schöpfer seiner Erfahrung sein. Und das, was er geschaffen hat, muss Beziehungen einschließen, die vergleichbar sind mit jenen, die der Autor des Werks empfand.«99 Für unsere Subjektivität als ästhetisch Wahrnehmende bedeutet dies, dass »das Aufs-Spiel-Setzen nicht zu einem Selbstverlust [führt] – ein solcher liegt nur dann vor, wenn das, was aufs Spiel gesetzt werden könnte, aufhörte zu existieren, also gar nicht mehr aufs Spiel gesetzt werden könnte. Wer ästhetisch Erfahrungen als eine des Selbstverlusts zu denken sucht, kann also nicht verständlich machen, dass 96 Shelley, James: The Problem of Non-Perceptual Art, in: British Journal of Aesthetics, Bd. 43, Nr. 4 (2003), S. 372. 97 Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel, a.a.O., S. 23. 98 Ein ähnliches Verhalten ist uns bereits bei den weiter oben angeführten Überlegungen begegnet, bei denen wir dazu aufgefordert wurden, ein Vorurteil bewusst aufs Spiel zu setzen, um uns das Neue eines Gedankens überhaupt erschließen zu können. 99 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, a.a.O., S. 68.
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Rezipierende in ihrer Auseinandersetzung mit Kunstwerken aktiv werden müssen.«100 Instruktiv für den Nachvollzug ästhetisch gestalteter Objekte sind bereits jene Alltagsbegebenheiten, bei denen eine ästhetische Wahrnehmung mehr oder weniger »über uns« kommt, weil wir uns wahrnehmend und (versuchsweise) verstehend etwas gegenüber sehen, das uns völlig in seinen Bann schlägt. Bspw. auf unserem Nachhauseweg, bei dem die nächtliche und Baustelle eine hell erleuchtete Maschine unbekannten Zwecks unübersehbar in unser Gesichtsfeld rückt, von der wir weder genau wissen, was sie ist, noch genau, wie sie wirkt, d.h., was ihre konkrete Funktion und daher ihre mögliche Auswirkung auf diese Situation sein könnte. Wenn wir uns dieser ästhetisch zuwenden, so ist es nicht der Blick des Technikers, der auf sie fällt und der nach einem Fehler im Getriebe sucht und auch nicht der Blick des Statistikers, der eine Auflistung der auf der Baustelle vorhandenen Gerätschaften anstrebt. Denn beide sind bereits »im Bilde«, um was es sich bei dieser Maschine handelt und wie diese Maschine handelt. Um den Fehler im Getriebe finden zu können, muss der Techniker bereits genauestens über das Ineinandergreifen der einzelnen Bestandteile unterrichtet sein und der Statistiker muss die Maschine vorab als Modell »AH-107b« klassifizieren können, um seine Auflistung vervollständigen zu können. Der ästhetisch Wahrnehmende ist hingegen erst im Begriff, sich von beidem ein Bild zu machen, wozu er sehr wohl auch und gerade praktische Überlegungen anstellen muss, bei denen er dem Szenario versuchsweise semantisch aufgeladene Konzepte unterstellt und aufmerksam bleibt für mögliche Kausalzusammenhänge, die eine Umstellung oder Nachkorrektur dieser probeweise veranschlagten Begrifflichkeiten erfordern, eine vorstellende Erweiterung des angenommenen Wirkungskreises oder dessen Einschränkung. Ein Vorgang, bei dem die Materialität des in Betracht genommenen Objekts eigens hervortritt, wie es in der ästhetischen Theorie als Topos ebenfalls häufig anzutreffen ist. Denn die »Materialität« eines Gegenstandes oder Ereignisses wird bei dieser Art des (begrifflich gestützten und vorstellenden) Nach- und Mittvollzugs eines sich erst aufbauenden und jederzeit nachkorrigierenden Verständnisses vom Zusammenwirken der verschiedenen Bestandteile eigens anschaulich und ist damit in einem verstärkten Ausmaße (für unsere Wahrnehmung) in ihrer Eigentümlichkeit präsent. Als Situationsvariable in einer übergeordneten (Situations-)Vorstellung in 100 Bertram, Georg W.: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, a.a.O., S. 174f. Obwohl bei der ästhetischen Wahrnehmung von Kunst noch andere Momente greifen als bei der bloßen ästhetischen Wahrnehmung alltäglichster Begebenheiten, möchte ich hier bewusst diesen Unterschied in der Beschreibung teilweise übergehen, um so allererst die Gemeinsamkeiten hervortreten lassen zu können. Zudem sei daran erinnert, dass es mir (primär) auch nicht um den notorisch unklaren und umstrittenen Begriff der Kunst zu tun ist, sondern vielmehr nach wie vor um äshtetische Gestaltungen, unter die ebenfalls Phänomene fallen, denen manche Kritiker gerade jene Weihe der Kunsthaftigkeit gerne vorenthalten sehen möchten.
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Anschlag gebracht, ist dem klassifizierten Gegenstand im Standardfall unserer lebensweltlichen Orientierung immer schon ein gewisses und damit immer auch beschränktes, d.h. antizipiertes Wirkungsrecht zugemessen, welches im ästhetischen Nachvollzug nunmehr neu zur Disposition steht und neu »ausgemessen« wird. D.h., dass es beginnt, seine Wirkungen und Einwirkungen in dieser Konstellation auf den internen Zusammenhang wahrnehmbar an den Tag zu legen und so überhaupt erst Position für unser Verständnis zu beziehen. Aber es ist nicht einfach ein beliebiges Spiel unserer Erkenntniskräfte, das derart in Schwung versetzt wird, sondern es ist eben ein in Gang gesetztes ZusammenSpiel, das nach wie vor bestrebt bleibt, uns auf das wahrgenommene Geschehen hin zu verständigen. So verfolgen wir ästhetisch mit, wie das unbekannte Fahrzeug beginnt, seine Arbeit aufzunehmen und gewahren in gesteigertem Maße (verglichen mit dem Fall, wir wüssten bereits, mit was wir es zu tun haben), was das (kausale) Potenzial der in Gang gebrachten Materialien ist, die dort vor unseren Augen und unseren restlichen Sinnen zur Anwendung gelangen. So sehen wir, wie sich die riesige Metallplatte (ist es auch wirklich eine Metall-Platte?) auf den Boden senkt, über den das Fahrzeug sich langsam und unter sichtbaren Mühen hinwegschiebt, sehen, wie dessen Schwere sämtliche Widerstände einebnet, was neben dem Gewicht auch das Verdienst ihrer Härte scheint, eben weil die Platte aus Metall ist oder zumindest (im Moment) so aufgrund des verfolgten Zusammenspiels der verschiedenen Eindrücke auf uns wirkt. Diese Massivität, vererbt sich auch auf das Aussehen derjenigen Komponenten, die mit dieser Platte interagieren (müssen), spiegelt sich in der Gespanntheit des Keilriemens, der zum »Zerreißen gespannt« über mehrere Zahnräder verläuft und für das Anheben und Senken der Platte sorgt, womit sich unser Verständnis dieser Zusammenhänge weiter de‐finiert, sprich vorerst ausweitet und damit zurechtrückt. Auch hören wir den Zustand des Materials, dessen Schwere, Härte und völlige Unnachgiebigkeit, wie es selbst von einem derart steinhart wirkenden Boden bei seinem Fortschreiten nicht aufgehalten werden kann. Dieses »Hervortreten von Materialität« ist jedoch weder hier noch im Falle ästhetisch dargestellter und artifiziell produzierter Präsenz mit dem Erscheinen (begrifflich nicht einzuholender) purer »Faktizität« gleichzusetzen, dem »Sich-Entbergen des Seins« wie gerne analog zur generellen Negativität ästhetischen Gehalts behauptet wird. Die »Performativität«101 dieses Sich-Gebens und Hervortretens von Materialität bleibt auch und gerade im ästhetischen Kontext eingebettet in diejenige Konstellation und Konfiguration, die der Materialität des ästhetischen Objekts ihr Gepräge verleiht. Das Spannungsverhältnis zwischen »Sinneffekten und Präsenzeffekten«102 ist darin gegründet, dass sie aufeinander 101 Vgl. für eine ausführliche Abhandlung des Begriffs Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. 102 Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik, a.a.O., S. 35.
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verweisen, nicht dass sie sich gegenseitig ausschließen oder ihren Platz streitig machten. Der von Heidegger diagnostizierte »Streit«, der von den Elementen des ästhetischen Gebildes ausgetragen wird und in einem gewissen »Aufriss« mündet, ist kein Widerstreit, bei dem die Parteien unversöhnlich auseinander treten würden, sondern es ist eine Auseinander-Setzung, bei der sie zuallererst zusammenfinden müssen. Die Elemente einer ästhetischen Konfiguration befinden sich in aktiver, sinnlich anschaulicher Auseinander-Setzung, welche eine Zusammen-Setzung bleibt zwischen partieller Erschlossenheit durch die Eingliederung in ein Sinngefüge, eine Welt, die ihnen gewisse Seiten abgewinnt und über die jeweilige Konstellation abgewinnen kann und der (anschaulichen) Behauptung ihrer (materiellen) Eigenständigkeit, die sie nicht in genau dieser oder jener Konfiguration aufgehen lassen, obwohl sie jener augenscheinlich ihre Stabilität als »Fundament« verleihen. Doch bedeutet dies nicht, dass in ästhetischen Gebilden eine ungerichtete und ziellose »Oszillation« zwischen einer Sinn- und einer Präsenzdimension ihr Unwesen treiben würde103 , sondern es ist eine richtungsweisende und ausgerichtete Anordnung und Komposition, welche die Sinn- und Präsenzeffekte jeweils an sich und ihre Bewegtheit zu binden weiß, sie einander zu-, wenn auch nicht unterordnet. »Der Sinn des szenischen Geschehens nimmt seinen Weg über den ›formalen, syntaktischen Wert‹ der Gesamtkomposition. Es sind ›Richtungswerte‹ und ›Iterationswerte‹«, die hier den Ton angeben«, wie es Bernhard Waldenfels für die bildliche, d.h. »ikonische Sinnverdichtung«104 festhält. Die Bedeutung, der Gehalt eines ästhetischen Gebildes ist durch die gezielte Gestaltung be‐stritten und er‐stritten, nicht zer‐stritten und damit kategorisch entzweit. Sondern er ist singulär und individuell in diesem Aufriss vereint – und gerade infolgedessen bleibt er überhaupt (für weitere Darstellungen) (be-)streitbar. Die Form des Kunstwerks ist nicht »deshalb ›energiegeladen‹, weil seine [substanzielle] Präsenz ›externalisiert, aktualisiert‹ worden […]«105 wäre, sondern im Gegenteil, weil seine »Energien« (ausschließlich) in den internen Verweisungszusammenhang des (dargestellten) Welt-Zustandes (anschaulich) »eingespeist« bleiben und keine externen Auswirkungen haben können. Von lebensweltlichen (kausalen) Auswirkungen behalten wir im ästhetischen Geschehen anschauliche Einwirkungen zurück, denen wir durch ihre Virtualisierung und Entköperlichung freien Lauf lassen können, um ihr sinnliches, aber nicht materiell‐manifestes Wirken bewusst mitzuverfolgen, das in den simultan‐konstellativen Zusammenhang, dem es unterliegt gezielt eingelenkt worden ist. 103 Vgl. ebd., S. 35. 104 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel, a.a.O., S. 68. 105 Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik, a.a.O., S. 79.
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Es ist völlig richtig, dass real existierendes »Sein Substanz hat und somit Raum einnimmt«, was »die Möglichkeit impliziert, dass es eine Bewegung entfaltet«106 . Doch auf nur erscheinendes und damit nicht manifestes Sein trifft dies gerade nicht zu. Nur, weil dieses unseren Raum nicht (gewaltsam und kausal wirksam) einnimmt und damit unser Verhalten und unsere Reaktion unweigerlich mitbestimmt, können wir unser Raum- und Zeiterleben bewusst von ihm einnehmen lassen. Nur Manifestationen sind real lokalisiert und verortet und können damit als »Ex‐istenz im Wortsinne«107 aus sich »Herausstehen«, wie es Dieter Mersch auch und gerade für das Ästhetische einfordert. Doch durch die mediale und damit kausale Still-Stellung einer dargestellten Materialität steht diese jedoch gerade nicht aus sich heraus, sondern vielmehr für sich ein und damit sozusagen in sich und die eigene Gestaltung »hinein«. Sie macht die verschiedenen Beeinflussungsrichtungen anschaulich, denen der dargestellte Weltzustand durch ihren Einsatz unterliegt, ohne dass dieser selbst für unser Verhalten in einem (über)lebenspraktischen Sinne verbindlich werden müsste. Auch, wenn es nicht an Versuchen gemangelt hat, diese Grenze zu unterlaufen, Kunst Realität werden zu lassen und den Unterschied zu nivellieren, indem man die zuvor hauptsächlich passiven Zuschauer in völlig anderem Ausmaße durch Performances, Happenings, Installationen und Events in das Kunstgeschehen zu integrieren suchte, so beudetet mit der Grenze zu spielen ein Spielen mit der Grenze – es hebt diese nicht auf, sondern es setzt sie voraus.108 Es nicht Materialität und ihre Trägheit als solche, die sich im Kunstwerk als Materie »entbirgt«, es nicht die Substanzialität von Sein, die sich jeglicher überformender (begrifflicher oder kultureller) Konstruktionen entschlagen hat, um sich als Materie simpliciter zu präsentieren und uns somit als Widerfahrnis oder Heterogenität zuzustoßen, die uns als einzig mögliches Ergebnis die Grenze unserer subjektiven Vermögen erfahren lässt. Sondern ästhetisches Sein stößt uns nur insofern zu, als dass wir willentlich zu ihm dazustoßen, uns auf es einlassen und sein (rein) ästhetisches Wirken gezielt zulassen. Es ist Realität, die uns umfängt und der wir durch unsere leibliche Existenz und Wahrnehmungsfähigkeit ausgesetzt bleiben, ohne dass sie als solche von unserem Zuspruch abhängig bleibt. Diese ist es, die uns unter den gegebenen Umständen widerfährt, noch bevor wir uns genügend auf sie einstellen konnten. Das Widerfahrnis der Realität ist »als solches […] unaufhaltsam, es fragt nicht nach Bereitschaft, es geschieht mir. Es ›widerfährt‹ eben. Ich kann ihm vielleicht in gewissen Grenzen ausweichen, aber nur soweit ich es voraussehe; aber ich kann nicht 106 Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik, a.a.O., S. 88. 107 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, a.a.O., S. 10. 108 Vgl. exemplarisch für einen solchen Versuch der Grenzaufhebung Elfriede Jelineks Stück »Über Tiere« und die Interpretation von Barbara Gronau in: Dies., Aufgeführte Räume. Interferenzen von Theater und Bildender Kunst, in: Ausweitung der Kunstzone, a.a.O., S. 73 – 91.
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ausweichen, ohne handelnd einzugreifen und damit neues Widerfahrnis heraufzubeschwören.«109 Als medial entdinglichte, als aus- und dargestellte Materie im ästhetischen Kontext bleibt diese jedoch wahrgenommene, erscheinende Materialität für ein körperlich disponiertes und nachvollziehendes Verstehen, das sie (weiterhin) auf ihre Potenzialität hin befragt und gerade im künstlerischen Kontext als solche erschlossen findet. Wir sehen nicht einfach eine bleierne Platte, sondern »das Bleierne einer Platte, das uns in dem ›materiellen Sichverhalten von Blei‹ entgegentritt.«110 Und dieses Sich-Verhalten ist gerade etwas, das sich an unser begriffliches Verstehen und unsere vorstellende Imagination richtet, von ihr selbst unterrichtet wird und unser weiteres Verhalten ausrichtet. Wir gewahren nicht einfach »die Blöße eines Sich-Zeigens, das (sich) ›gibt‹, ohne ›als etwas‹ gegeben zu sein«;111 die »Gabe« eines »Gegebene[n]«112 , sondern durch das künstlerische Arrangement, dem es unterliegt, ist die Art und Weise berührt, wie es sich gibt, wie seine Gegebenheitsweise ausfällt.113 Bei artistisch ausgestelltem, ästhetischem Erscheinen handelt es sich um keinen Fall von ungelenktem, naturwüchsigem, sinnlichem Sich-Ereignen und damit »allein um Augenblicke des Auftauchens selbst, um das Entspringende, das noch kein ›Als‹ oder ›Was‹ bei sich trägt und im selben Moment wieder verlöscht«, sodass wir als Rezepienten »allein verwiesen [bleiben] auf ein ›Daß‹ (quod)«114 seines Erscheinens. Aber es ist auch kein Fall von Autopoiesis, von selbstschöpferischem Sinn, der eigenständig aus einem Substrat von Material »aufsteigt«115 . Die »Ent-Stellung (transposition) und Überprüfung der gewohnten Haltung«116 im ästhetischen Geschehen ist keine (finale) Verstellung, sondern das Erfordernis einer gewissen Umstellung unserer gewohnten und außerästhetisch erworbenen Sichtweisen und führt durch die Exposition des Werkzusammenhangs zu einer neuen Disposition unserer eigenen Verhaltungen, die durch das Werk selbst angestoßen und neu arrangiert werden. Es ist keine (ergebnislose) »Entsetzung«, sondern eine Versetzung unseres Erlebens in den eröffneten Wahrnehmungszusammenhang, der dafür die Verantwortung trägt, dass wir dessen Standpunkt nachvollziehen können, der sich durch den ausgestellten Weltzustand Geltung verschafft. Es ist kein (unspezifisches) »Zustehendes«, das »sich der Wahrnehmung [hierbei, R.Z.] öffnet«117 , sondern ein ge109 Hartmann, Nicolai: Grundlegung der Ontologie, a.a.O., S. 166. 110 Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel, a.a.O., S. 49. 111 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, a.a.O., S. 45. 112 Vgl. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura, a.a.O., S. 58. 113 Vgl. den Abschnitt zu »Zustand, Position und Eigenschaft«. 114 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura, a.a.O., S. 19. Vgl. ebd., S. 50. Vgl. ebenfalls ders., Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 133 – 185. 115 Vgl. Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, a.a.O., S. 9. 116 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura, a.a.O., S. 27. 117 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura, a.a.O., S. 51.
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wisser (Welt-)Zustand, in dem sich unsere Wahrnehmung einrichtet und unsere Vorstellungen sich neu ausrichten. Das ästhetische Gebilde zeigt so zusagen auf, woher die ausgestellte Welt ihre Energien bezieht und hält durch die Aus- und Herstellung derart anschaulich werdender Materialität deren Potenzialität, deren kausales Vermögen für unser Verständnis und unsere Einbildungskraft offen, zeigt, wie dieses sich in seinen unterschiedlichen, bloß dargestellten Realisationen verzweigt und auf den Komplex des dargestellten Weltzustandes als Ganzes verteilt und was diesem Treiben dabei zugrunde liegt. In der ästhetischen Wahrnehmung und dem ihr korrespondierenden Objekt werden räumlich ausgreifende Manifestationen (einer materiellen Wirklichkeit) zu einem (rein) erscheinendem Eingreifen in ausgestellte Wahrnehmungszusammenhänge und -übergänge. Zur Illustration hierzu soll abermals kein Grenzfall ästhetischer Gestaltung gewählt werden, sondern erneut ein möglichst simples und künstlerisch womöglich weniger anspruchsvolles oder (in den Augen mancher) gar weniger wertvolles Beispiel, namentlich das schon etwas betagte Musikvideo zu »Stranger in Moscow«118 (Nick Brandt, USA 1997) von Michael Jackson. Denn es ist m.E. wenig zielführend zu glauben, an jenen Ausnahmefällen ästhetischer Gestaltung, wie sie die moderne und avantgardistische Kunst bereithält, müsse sich erweisen lassen, was auch der Gehalt aller anderen ästhetischen und künstlerischen Phänomene ist bzw. überhaupt sein könnte. Denn von jenen Grenzphänomenen wie Happenings, Performances, Installationen, Events etc. die eigenen Überlegungen ihren Ausgang nehmen zu lassen und verallgemeinern zu wollen, ist in den meisten Fällen damit erkauft, keine geeignete Antwort mehr auf die (Ausgangs-)Frage finden zu können, was denn den Gehalt auch aller anderen (darstellenden) Bilder, Spielfilme, Fotografien, Gemälde, Karikaturen, Zeichnungen, Grafiken, Theateraufführungen, Werbeund Musikvideos etc. überhaupt sein könnte, die nicht nur (notorisch) ihren eigenen Kunststatus oder ihre eigene »Medialität« verhandeln, sondern klarerweise einen realisierten, fiktiven und artistisch imaginierten Weltzustand für unser Erleben eröffnen. Wenn wir verstehen, dass selbst eine solche Produktion von Präsenz wie ein Musikvideo einen Weltzustand darzustellen vermag, in dem sich unterschiedliche Materialitäten, räumliche und zeitliche Verhältnisse simultan zu Wort melden und gegenseitig durchdringen und das Dargestellte in Szene setzen, legt sich uns vielleicht auch ein Verständnis dafür nahe, auf welche gestalterischen Operationen die (vermeintlich) höherklassigen Vertreter ihrer Zunft zurückgreifen und überhaupt zurückgreifen können. Beschreiben wir also das Video anhand der 118 https://www.youtube.com/watch?v=pEEMi2j6lYE(Stand: 11.08.2018). Dass ich mich in meiner Beschreibung alleine an die optischen Qualitäten und Zusammenhänge halte, liegt alleine daran, dass ich nicht über genügend Vorwissen in musiktheoretischen Fragen verfüge, noch mir zutraue, von meinen eigenen Beschreibungen ausgehend auf solche verallgemeinern zu können, obwohl sich mir der ein oder andere Kommentar sicherlich nahegelegt hatte.
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bisher erarbeiteten Zusammenhänge etwas genauer und greifen dabei auch hier bewusst auf dasjenige Vokabular zurück, das wir eigens für unsere lebenspraktischen Kontexte herausgearbeitet haben und das hier für eine rein erscheinende Welt ebenfalls seine Zuständigkeit beweisen und damit auf die Kontinuität zwischen diesen Sphären aufmerksam machen: Klarerweise beginnt das Video mit der Eröffnungsszene, bzw. richtiger mit dem Eröffnungsschuss, dem (oftmals entscheidenden) »opening shot«, der durch eine einzige, gleitende Kamerabewegung vom Stand- ins filmische Bewegtbild überwechselt, das sich Stück für Stück dem Gesicht eines am Fenster stehenden Mannes nähert und dieses durch die Aufbietung eines eigens zugeschnittenen Wahrnehmungs(um)feldes in den Fokus unserer Aufmerksamkeit rückt, wobei auch sein gedankenverlorenes Stochern in einer geöffneten Konservendose sichtbar wird. Alleine schon hierüber, über die wahrnehmbare Darstellung und anschauliche Ausstellung eines Gesichts-Ausdruckes, der Lokalisierung in einer bestimmten Umgebung und dem wahrnehmbaren Verhalten zu dieser Umgebung, durch das Anschaulichwerden bestimmter Lebens-Umstände ist das Niveau einer ganzen Welt eingeregelt, das diese (Lebens-)Umstände bedingt und damit den Rahmen aufspannt für alles, was sich im Folgenden in diesem abspielen wird. Durch das Zurschau-Stellen mehrerer, miteinander verschränkter Zustände, dem zerfurchten und sich mit der Kamerabewegung synchronisierenden Gesichtsausdruck des Mannes, seiner räumlichen Position (hinter dem Fenster) und seiner Interaktion mit dieser Umgebung, erscheint (unterstützt durch unsere Vorstellungskraft) der Aufriss einer ganzen Welt, in der nun alle weiteren Begebenheiten innerhalb dieses diegetischen Universums ihren Platz einnehmen werden und ihren Stellenwert im Abgleich zu dem zugrundegelegten Maßstab erhalten. Dabei bleibt natürlich auch die auffällige Farbstimmung ein entscheidender Faktor: alle Farben sind bis auf bloße Grautöne entsättigt und nähern sich einem trostlosen Schwarz-Weiß an, das sich mit dem Trostlosen der Situation des Mannes am Fenster verbindet und zugleich mit dem Weltzustand außerhalb dieser Szene, der alles andere als »farbenfroh« ist und uns unweigerlich auf das berüchtigte »Alltagsgrau« einstimmt, das den nachfolgenden Szenen seinen Grundtenor verleihen wird. Eine solche Monochromie ist zudem ein oft eingesetztes (und oftmals überstrapaziertes) Gestaltungsmittel, um die Kontrastwirkung erhöhen zu können und (wortwörtlich) flächendeckend die Strukturen der abfotografierten Materialien hervortreten zu lassen, die hinter einer überlagernden oder »überstrahlenden« Farbigkeit nicht selten Gefahr laufen, unterzugehen. Doch dient dieses Hervorkehren von Materialität hier sicherlich keinem Selbstzweck oder dazu, »die Dinge in ihrer Konkretheit zu präsentieren«119 , sondern es ist eine materielle Konkret119 Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films. Verkörperte Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung im Kino, München 2011, S. 66. Zudem impliziert die Rede von der Konkrektheit ein priviligiertes In-
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heit, die eine optische Konzentration auf Oberflächenbeschaffenheiten und damit auf das Phänomen von Oberfläche selbst ist, die hier ebenfalls zur Grenze wird: zum Kontrast zwischen einem Innen und einem Außen, wie sie von der räumlichen Einteilung und der Position der dargestellten Personen eröffnet, fortgeführt, aufgenommen und ihrerseits realisiert ist. Sowohl der Mann in der Wohnung als ebenfalls die »entgeistert« dreinblickende, mit sich selbst und ihren Gedanken beschäftigte Frau im Café befinden sich hinter einer (regelrecht so zu nennenden) Fensterfront, die sie gegen die Außenwelt abschirmt oder richtiger: von dieser abschneidet, womit einmal mehr ihre Isolierung hervorgekehrt wird, die durch diese räumliche Platzierung und örtliche Positionierung so zusagen noch einmal materielle, anschauliche Rückendeckung erfährt und die sich in ihrem Verhalten fortschreibt – beide interagieren auf eine rein mechanische, geistesabwesende Art mit den Objekten ihrer Umgebung, aus der sämtliches Leben gewichen scheint; sie essen und trinken im Grunde nicht wirklich, denn dies sind für gewöhnlich sehr basale und damit immer auch vitale Verrichtungen, die hier, in dieser Welt keinen Platz finden und keinen Ort haben können, hier nicht stattfinden und damit sich als solche nicht ereignen können. Beide üben vielmehr eine monoton wirkende Tätigkeit, eine »Verrichtung« von Handlungen aus, die sich als rein funktionale »Nahrungsaufnahme« beschreiben lässt und die damit einer weiteren, nicht weiter nennenswerten Alltags-Verrichtung entspricht, die sich in dieser zum Automatismus erstarrten Routine erschöpft. Eine Routine, die ihrerseits einen Ausblick auf die Handlungsmöglichkeiten der Protagonisten in dieser Welt eröffnet, wie es auch der kurze und verhaltene Blick der Frau aus dem Fenster zu bestätigen scheint, der sich seiner eingefahrenen Situation lediglich zu versichern weiß, anstatt ihr neue Horizonte zu eröffnen; ein Blick, der weniger Aus-Blick als Ein-Blick in die eigene Situation und Lage zu sein scheint. Der obdachlose Mann in der vierten Einstellung mag sich zwar auf offener Straße befinden, doch sind sein eigener Platz, seine Position in dieser Welt und damit seine Handlungsmöglichkeiten noch lange nicht diejenigen von jemandem, der sich im Freien befindet. Auch er ist (gefangen) in seinem eigenen, genau abgegrenzten Raum innerhalb des Gesamtaufrisses des dargestellten Weltzustandes, welcher sich nur (sehr) flüchtig öffnet, als ihm von einem der Passanten im Vorübergehen eine Geldmünze zugeworfen wird, die diese Umgrenzung zeitweilig durch- und damit unterbricht. Bei dieser »Grenzüberschreitung« und dem Übertritt der Münze in dessen Welt, gelangt diese durch eine Großaufnahme nun zur vollen Geltung und rückt diese Erscheinung-Treten, das es so, wie weiter oben argumentiert, nicht geben kann. Vgl. ebenfalls Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Erretung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1985, S. 384 und S. 393.
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sowohl in die Aufmerksamkeit des obdachlosen Mannes als auch in diejenige des Zuschauers. Durch diese optische Gewichtung gibt uns das Kamerabild anschaulich zu verstehen, wie der einzige Kontakt ausfällt und in Erscheinung tritt, der die Welt des Obdachlosen mit der ihn umgebenden Außenwelt verbindet und wie dieser sich her‐stellt und zustande kommt. Wir sehen, wie sich das für ihn überlebensnotwendige Objekt über diesen Kontakt vermittelt realisiert, wenn es in dessen Welt »eintritt«, dort zum Einsatz kommt und damit seine Bedeutung für ihn und für uns als Zuschauer nachvollziehbar entfaltet. Es ist dieser kurze, ebenso gleichgültige wie entscheidende Moment, in dem Berührungspunkte und Anhaltspunkte sich ausbilden, die diese Lebenswelten miteinander in Beziehung setzen und die im gleichen Augenblick auch schon wieder zurückweichen und den Kontakt abreißen lassen, die der Münze den nötigen Raum und die nötige Zeit für ihren Auftritt bereit‐gestellt haben. Die einzige Interaktion, die hier gefordert ist und sich verwirklichen kann, ist das automatisierte und seinerseits mechanisch ablaufende Handaufhalten des Obdachlosen, in dem diese nach ihrem Flug und einem kurzen Rotieren um die eigene Achse landet. Doch trotz dieser Routinehandlung, die im Normalfall bedingen würde, dass ein beliebiges Wahrnehmungsobjekt so gut wie keinen Widerstand mehr an den Tag legen und damit als solches von uns wahrgenommen würde, bleibt hier die materielle Präsenz der Münze nicht nur als solche erhalten, sondern wird sogar eigens auffällig, womit ein Wahrnehmungs- und Verständniskontrast etabliert ist, welcher der Szene ihre eigentliche ästhetische Spannung verleiht, ihren »Widerstreit« initiiert, in dem dieses Spannungsverhältnis be‐stritten und »ausgetragen« wird. Nicht besser steht es eine Szene zuvor um den Mann, der die Tauben füttert. Auch er interagiert nicht wirklich mit seiner Umgebung, integriert sich dieser nicht, sondern in einer geradezu aufgezwungenen, ästhetischen Distanz, ja regelrechten Apartheit, verfolgt er lediglich mit, wie eine Taube genau an seinem Gesicht vorbei Richtung Gehweg fliegt, um sich dort neben ihm niederzulassen. Dass dies keinerlei identifizierbare Reaktionen bei ihm hervorruft, obwohl die Materialität der Taube und die Beschaffenheit ihres Gefieders in Aktion durch die Zeitlupenaufnahme dabei in aller Deutlichkeit und für eine alltägliche Wahrnehmungssituation geradezu unrealistisch stark hervortritt, betont seinen eigenen Abstand zu den Begebenheiten seiner Umwelt nur noch zusätzlich. Im Gegensatz zu dem Obdachlosen, der eine Szene zuvor eine einzelne Biene in ihrem Flug ungläubig‐staunend mitverfolgt, von der er sich nicht erklären zu können scheint, wie sie sich in den (Lebens-)Umkreis seiner Welt hat verirren können, um ausgerechnet dort eine geradezu »unverstellte« (oder zumindest äußerst ungewöhnliche) Präsenz als Biene zu entfalten. Ein Stilmittel, das uns in dieser Einstellung eindrücklich und regelrecht im Umkehrschluss die ansonsten an ästhetischen Eindrücken nicht gerade reiche, ja an erfreulichen Sinneseindrücken höchstwahrscheinlich stark depravierte Welt anschaulich »einsehen« lässt, welcher
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der Obdachlose in seiner Situation ausgesetzt ist und weiterhin ausgesetzt bleiben wird. Diese Temporalisierung und Neu-Einregelung von Zeit findet sich bereits in der vorherigen Einstellung, von wo aus sie sich auf die nachfolgenden Szenen »vererbt« und auf die anschließenden, räumlichen und materiellen Verhältnisse und Konstellationen auswirkt, die hier die Eröffnung eines Art (räumlichen) Korridors veranlassen, in den Michael Jackson höchstpersönlich »eintritt«. Engelsgleich lamentierend bahnt er sich seinen Weg durch eine ihm ebenfalls fremd gewordene und ihm gegenüber anonym verbleibende Welt, deren kausales Gefüge (durch die extreme Zeitlupenaufnahme) wahrnehmbar und künstlich mancherorts fast zum Still-Stand gelangt, um sich in der gefühlten Wirkungslosigkeit zu verlieren – so wie es spiegelbildlich auf sämtliches Leben zutrifft, das sich dort abspielt bzw. gerade nicht abspielt, d.h. dort nicht stattfindet, sich dort nicht ereignen und damit »einbringen« kann und in seinen Vorhaben, Absichten, seinen Ambitionen und Fähigkeiten »ausgebremst« und damit unterbunden sieht. Durch diese allgemeine Gestaltung von Zeit gewinnt auch der jeweilige (Handlungs-)Raum der einzelnen Protagonisten im Gegenzug erst seine eigentliche Dimensionierung. Unbeeindruckt von den sich nur am Rand abwickelnden Kausalverhältnissen, welche diese jeweiligen (Privat-)Räume kaum berührt, geschweige denn »durchdringt«, weisen sich hier räumliche und zeitliche Dimensionen gegenseitig ihren Platz zu; eingeräumt von einer materiellen Präsenz, die durch ihre anschauliche Unwirksamkeit diese Freiräume oder in diesem Fall besser: »Isolationsräume« überhaupt erst hervorbringt. Dieses (festgefahrene, kausale) Gefüge wird erst durchbrochen, nachdem innerhalb dieser Abgrenzungen die Potenzialität, das kausale Vermögen gewisser Dinge aus den Fugen gerät, das durch seine alltägliche, seine standardisierte (Ausgangs-)Position in einen gewissen Be-Stand »eingehegt« war: Beginnend mit dem Kaffee, der versehentlich verschüttet einem Sturzbach gleich sich über den Tisch und dessen Kante ergießt und damit eine Seite seiner materiellen Beschaffenheit als Flüssigkeit realisiert, die sich nicht mehr im Rahmen eines vorab kulturell domestizierten Kausalzusammenhangs ereignet, sondern geradezu »grenzüberschreitend« aus dieser Alltagsroutine und -monotonie ausbricht und damit auch die Abgrenzung zu dem umgebenden Weltzustand durchbricht, was durch die Weitwinkelaufnahme, auf die der Kaffee frontal und unaufhaltsam zustürzt veranschaulicht wird. Ebenso verhält es sich mit dem in der anschließenden Szene geschlagenen Baseball, der in Zeitlupentempo die Glasscheibe unter Einbezug ihres wahrnehmbar materiellen Widerstandes, ihres dinglichen Gegen-Standes durchschlägt und so auch diesen Raum auf das angrenzende Weltgeschehen hin überschreitet und »freigibt«, das nun seinerseits ein Motiv aktiviert und aufgreift, das bereits die ganze Zeit über latent in verschiedenen Graden zugegen war: nämlich Wasser. Als Regen und damit als das sprichwörtlich »flüssige Element«, das aufgrund dieser Beschaffenheit der kausalen Beeinträchtigung der restlichen Umgebung zu
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entgehen scheint, fällt dieses nun unaufhaltsam in alle zuvor separiert gehaltenen Räume und bildet deren gemeinsamen »Boden« aus und erweist sich darüber hinaus als »elementar« im Wortsinne. Während ein plötzlich aufkommender Regenschauer uns für gewöhnlich in unsere eigenen vier Wände flüchten lässt (wie es die übrigen Passanten auch schlagartig tun), ist es hier das Wasser als Regen, das die zuvor gegeneinander abgegrenzten Lebensräume zu einem einzigen, einem gemeinsamen Weltzustand zusammenschließt. Unaufhaltsam bricht es in die bereits zuvor porös gewordenen Lebenswelten ein und vereint als raumgreifender und übergreifender Regenschauer diese zugleich, wobei er sich jeweils als eine Mehrzahl einzelner, großer und in ihrer haptischen Qualität hervortretender Topfen realisiert, die von einem jeden der nunmehr (räumlich) freigestellten Protagonisten in ihrer materiellen Beschaffenheit eigens wahrgenommen und bewusst gespürt werden, indem sie symbolträchtig mit der eigenen Hand mit diesem (und damit überhaupt mit irgendetwas in dieser Welt) in einem selbstinitiierten Sinne interagieren. Im Gegensatz zu den übrigen Passanten, die mithilfe von Regenschirmen und anderen Maßnahmen die Wirkungen des Regens »zurückzudrängen« versuchen, was u.a. durch die Tropfen veranschaulicht wird, die an diesen wahrnehmbar abprallen, setzen sich die in dem neu eröffneten Weltzustand vereinten Protagonisten der Wirkung des Regens als Regenschauer bewusst aus. Ja, es ist diese Seite des Regens, die sie überhaupt aus ihren abgeschotteten Welten hervorkommen lässt, sie aus diesen »hervortreibt«, sie von unbeteiligten Zuschauern zu lebendigen Akteuren in einer Welt werden lässt, in die sie sich (wieder) handelnd einbringen (können). Denn er ist hier die »treibende Kraft«, das Potenzial und das (kausale) Vermögen hinter dieser neu entstandenen Realität, dasjenige, das diesem Weltzustand »zugrunde« liegt und sich in ihm seine Geltung verschafft. Bewusst lassen sich die Befreiten bis auf die Knochen durchnässen, geben sich mit geschlossenen Augen und mit in den Nacken gelegtem Kopf der sinnlichen Einwirkung kugelrunder, zerberstender Regentropfen hin. Ein Geschehen, das inszeniert ist durch Kameraeinstellungen und -fahrten, die den Blick »freigeben« auf genau jenes Ereignis, diese Interaktion, die diese Realität für die Betroffenen überhaupt erst entstehen lässt und hervorbringt. Michael Jackson, der sich zwischenzeitlich unter einen Dachvorsprung geflüchtet hat, scheint vorerst noch von all dem unberührt, jedoch nur, um das Geschehen musikalisch kommentieren und selbst noch einmal potenzieren zu können, indem er sich letztlich doch noch und leibhaftig in die Mitte des Treibens dieser Naturgewalt platziert und dort sichtbar zu ihr Stellung bezieht. Wütend tritt er in das inzwischen knöchelhohe Wasser, um es noch spürbarer, noch »realer« in seinen Auswirkungen als Wasser in dieser Situation werden zu lassen. Mit offenen Armen und christlich anmutender Büßergeste heißt er dieses Reinigungsritual willkommen, das die künstlich geschaffenen Grenzen zwischen
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den Menschen niederzureißen und das sie aus ihrer Isolation und ihren zuvor gegeneinander abgegrenzten Welten zu »befreien« weiß.
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Es ist diese Zusammenführung und der Zusammenschluss von einzelnen TeilZuständen zu einem neu konfigurierten, neu arrangierten und in dieser Zusammenstellung neu erfahrbaren Gesamt-Aufriss und damit zu einem simultan erfahrbaren Weltzustand, der die Bestimmung gestalteten, ästhetischen Gehalts umreißt. Um diesen nachvollziehen und überhaupt derart erscheinen lassen zu können, muss sich diese Art von Bedeutung jedoch in Kontinuität mit unseren restlichen Erfahrungen und dem Wirken einer von uns er- und belebten Realität, einer be- und ausgehandelten Wirklichkeit befinden, deren bereits gehaltvolle Erlebnisqualitäten im ästhetischen Gebilde gelockert, re‐komponiert und neu konfiguriert werden (können). Denn vor dem Hintergrund einer ästhetischen Präsentation werden alle diese Verhältnisse nicht bloß symbolisiert, sondern sie werden »handfest« als inkarnierte Bedeutungen, als »verkörperte Sichtbarkeit«120 für ein Denken und eine Vorstellungskraft zur Erscheinung gebracht, die sich in praktisch-überlegenden Zusammenhängen und raum‐zeitlichen sowie materiellen Verhältnissen bewegen, orientieren und ausrichten kann. Ästhetische Bedeutung wird zwar entkörperlicht medial vermittelt und entledigt sich dabei ihrer »Erdenschwere«, d.h. ihrer physischen Materialität, doch bleibt sie der Abkömmling eines eminent körperlichen Lebens- und Bedeutungsumfeldes und einer verkörperten Existenzweise, unserer verkörperten Existenzweise, für die es diese Phänomene, diese Zustände als solche in dieser qualitativen Ausprägung, dieser Dimensionierung, dieser Intensität und mit dieser Gefühlsprägung und erschlossen auf diese Perspektive überhaupt gibt. »Noch den sublimsten Kunstprodukten und Kunstgenüssen haftet ein sinnlich‐materieller Erdenrest an. Reine Sinnlichkeit und reine Kunst wären bloße Spaltungs- oder Abstraktionsprodukte.«121 120 Vgl. Waldenfels, Bernhard: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a.M. 1985, S. 234. Vgl. auch Merleau-Ponty, Maurice: Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, a.a.O., S. 77: »Wie sollte der Maler oder der Dichter etwas anderes aussagen als ihre Begegnung mit derWelt? Wovon spricht denn selbst die abstrakte Kunst, wenn nicht von einer Ablehnung oder Zurückweisung der Welt? […]. Immer also sagt das Gemälde etwas aus, ist es ein neues Äquivalenzsystem, das gerade diese Umwälzung erfordert, und im Namen eines wahreren Verhältnisses zwischen den Dingen werden ihre gewöhnlichen Beziehungen aufgelöst. Ein endlich freies Sehen und Handeln hebt im Falle der Maler die gewöhnliche Anordnung de Dinge auf und gruppiert sie neu […].« 121 Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel, a.a.O., S. 11.
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Und das bedeutet auch, dass ästhetischer Gehalt nur für ein Bewusstsein anschaulich und erlebbar werden kann, das selbst weltlich involviert ist und daher leiblich »nachvollziehen« kann, was es heißt und damit für es bedeuten würde, »am eigenen Leib« die dargestellten Zustände erfahren zu müssen, sich selbst in derartigen Zuständen zu befinden, von diesen Um-Ständen umgeben und ihnen aus‐gesetzt zu sein, von ihnen angegangen zu werden und die faktisch vorherrschende »Sachlage« für die eigene Existenz »übernehmen« zu müssen. Die Darstellung von ästhetischen (Welt-)Zuständen richtet sich nicht an ein abstraktes, lediglich mit Zeichen oder Symbolen operierendes, rein begriffliches oder mit Informationen hantierendes »Denken«, sondern die Aufforderung zu ästhetischem Verstehen richtet sich an alle unsere Erkenntnisvermögen gleichermaßen und damit auch an eine Wahrnehmung, die als unsere Wahrnehmung bestrebt bleibt, uns in dem dargestellten Weltzustand (trotz seiner materiellen Abwesenheit und Irrealität) »einzurichten«, ihn für uns herzurichten, uns und das Erlebte miteinander auszugleichen, sodass das derart Erfahrene nach wie vor eine leibliche Dimension, eine körperliche Signifikanz für uns entfaltet, wir nach wie vor die dargestellte Enge oder Weite, Kälte oder Wärme, das Behagliche oder das Bedrohliche sinnlich nicht nur nach-, sondern mitvollziehen können durch die Dynamiken eines sich umakzentuierenden Körperschemas, unseres sich einbringenden Leibbewusstseins, das sich immerfort auf die mögliche Interkation mit Dingen in seiner Umgebung »vorbereitet« und sich deren mögliche (Aus-)Wirkungen selbst vorzeichnet. Eine Wahrnehmung, die daran arbeitet, sich auf das für sie Erlebbare einzustellen, ihm einen gewissen »Empfang« zu bereiten, es sich zu eigen zu machen, ihm ihren eigenen Raum zu leihen, um es so in unserer Welt in Erscheinung treten zu lassen, es durch die Eröffnung und Sensibilisierung ihres Sensoriums mit einem Index der leiblichen Betroffenheit zu versehen. »Das Empfinden verleiht jeder Qualität einen Lebenswert, erfasst sie zunächst in ihrer Bedeutung für uns, für jene schwere Masse, die unser Leib ist, und so enthält es stets einen Verweis auf unsere Leiblichkeit.«122 Auch im ästhetischen Kontext wird diese Wechselbeziehung nicht aufgegeben, doch muss es hier bei diesem Versuch bleiben: unsere Wahrnehmung versucht das Wahrgenommene in unseren Lebensumkreis zu integrieren und es für uns mit den entsprechenden Attributen zu realisieren, doch manifestiert es sich dabei nicht, sondern erscheint lediglich. »Denn die Wärme, die ich beim Lesen des Wortes ›warm‹ empfinde, ist ja keine wirkliche Wärme. Mein Leib macht sich nur auf Wärme gleichsam gefasst und zeichnet sich sozusagen deren Gestalt vor. In gleicher Weise fühle ich, nennt man mir einen Teil meines Leibes oder stelle ich ihn mir vor, am entsprechenden Punkt 122 Merlaeu-Ponty, Maurice: Die Phänomenolige der Wahrnehmung, a.a.O., 76.
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eine Quasi-Empfindung von Berührung, die nichts anderes ist als ein Emportauchen dieses Körperteils aus dem Gesamtkörperschema.«123 Doch Wahrnehmbarkeit bleibt nur eine Voraussetzung. Denn ästhetisch gehaltvolle Phänomene werden ebenfalls nur für eine Vorstellungskraft fasslich, deren außerästhetische Aufgabe und existenzielle »Funktion« es bleibt, eine potenzielle Bandbreite an Realisationen durch den Einsatz von begrifflichen und intersubjektiv verbürgten Konzepten abzuschätzen und »abzusehen«, um diese letzten Endes in ihrer genauen und situational verankerten Ausprägung möglichst genau vorherzusehen, um so den Kreis unserer eigenen Handlungsoptionen möglichst auszuweiten. Diese Art der Vorstellung trifft nun im ästhetischen Nachvollzug umgekehrt auf anschaulich vorgegebene Verhältnisse und Realisationen, die sie so zusagen im Umkehrschluss auf unter‐stellte, begriffliche Konzepte (neu) verteilen muss und diese dabei in ihrem genauen Stellen-Wert neu überschlagen, neu ver- und be‐messen. Während der instrumentell gehandhabte Weltzustand immer auch von einer imaginierten Vorstellung vom (möglichen) Gang der Dinge an den Rändern gesäumt wird, treibt der ästhetisch wahrgenommene (Welt-)Zustand seine eigene, übergeordnete Vorstellung durch unsere probeweise veranschlagten begrifflichen Unterstellungen hervor, in der diese ihr (vorläufiges) Auskommen finden, aber in ihrer Dynamik nicht stillgestellt, sondern bewusst in der Schwebe und damit offen gehalten werden für mögliche Ein- und Umschreibungen ihres Gehalts, die sich nach wir vor an dem Dargestellten orientieren.124 Deren De-Finition, d.h. ihre Reich- und Trag-Weite, ihr Bedeutungsumfang wird hier gezielt den Begebenheiten und Geschehnissen situationsgerecht abgewonnen, deren Richtungsvorgaben und Sinnansätze unsere Vorstellungskraft und unser begriffliches Denken bewusst aufgreift und imaginierend fortführt, diese fortschreibt, einschätzt, an welchem Punkt einer Entwicklung sich ein dargestelltes Etwas aufgrund seines anschaulichen Zustandes wohl befindet, in welche Richtung es sich wohl noch entwickeln wird und wie viel »Potenzial« es dabei zurückbehält oder noch aufbringt oder von den Umgebungsfaktoren »ausgestochen« und unterbunden wird. Die »positiven Aussparungen« für reale Ereignisse und der ansonsten imaginierte und ausgesparte Entfaltungsraum für die kausalen Möglichkeiten von real verwirklichten Dingen in einer realen Umwelt, sind hier bereits vorgegeben und fordern ein korrespondierendes und dynamisches Vorstellungs-Bild heraus, das 123 Merlaeu-Ponty, Maurice: Die Phänomenolige de Wahrnehmung, a.a.O., S. 276. 124 Martin Seel spricht in diesem Zusammenhang von »gebundenen Imaginationen«. Gebundene Vorstellungen entfalten sich gerade an einem intersubjektiv zugänglichen Objekt, welches das ästhetisch gestaltete Objekt ist. Sie nehmen seine sinnlichen Rhytmen und kognitiven Ansätze und Darstellungsqualitäten bewusst in sich auf und lassen sich von diesen anleiten. Vgl., ders.: Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 135ff.
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die wahrgenommene Intensität und Wirkungsmacht auf unterstellte Tatbestände zurückführt, sie untereinander in Beziehung setzt und ausgleicht. Eine Dynamik und aktives (imaginierendes) Mitgehen, wie es bspw. examplarisch von unseren Erkenntnisvermögen in Horrorfilmen und suspense movies gefordert wird. Denn hier ist ebenfalls unsere Fähigkeit zum Hypothetischen, zum Möglichen, zur Stellvertretung und zur Perspektivübernahme gefragt. Denn hier bekommen wir ja meist nur vereinzelt die (materiellen) Ein- und Auswirkungen von etwas zu Gesicht, ohne das wir »es« zu sehen bekämen. Oder wir bekommen »es« zu sehen, wissen aber trotzdem bis zuletzt nicht, was sein (vollständiges) Vermögen innerhalb der dargestellten Situation und des veranschlagten Welt-Zustandes ist, weil »es« mit keinem von uns bekannten Gegenstand zusammenfällt, obwohl es lauter uns bekannte Züge aufweist und dadurch Seiten von sich realisiert, die wir versuchen, vorstellend in ein neu entworfenes Gesamtbild zu integrieren und mit unserem Vorverständnis auszusöhnen, das wir jederzeit nachkorrigieren und auf dem Laufenden halten. Die Bandbreite der zu verstehenden Begebenheiten zeigt sich hier (wie sonst auch im Leben) durch seine Ein- und Auswirkungen auf eine Umwelt und die direkte Umgebung, über das Verhalten und die Zustandsveränderung der Dinge, auf die »es« Einfluss nehmen kann und die sich innerhalb seines »Aktionsradius« befinden und von diesem mit einbezogen werden (können). Dabei ist jeweils auch eine andere Seite der Dinge gefragt, ein materieller Eigenschaftskomplex, der in dieser Konstellation nun zum Tragen kommt und der durch die Konfrontation mit der fremden »Wirkungsmacht« herausgefordert wird und diese seinerseits durch seinen materiellen Widerstand entsprechend ihres eigenen Vermögens herausfordert. Immer nur partiell und d.h. in Ansätzen und über die verschiedenen Situationen und Handlungstationen verteilt lässt »es« etwas von seinem Aktionspotenzial (anschaulich) »durchblicken«, indem es materiell wirksam wird, sich über die Interaktion mit der dargestellten Umwelt realisiert, wobei all jene sinnlichen Eigenschaften filmisch zum Ausdruck gelangen, die genau jene Einwirkungsmöglichkeiten in das Sinnliche zurückspielen und von diesem ausgedrückt werden: wir hören ein Knarren auf den Dielen, das nur von einer ungeheuren, trägen Masse herrühren kann, sehen ein Zerbersten einer zentimeterdicken Holztür, wie es nur eine Kraft zu Stande bringt, die uns alleine über diese Einwirkung und ohne sichtbaren Akteur das Fürchten lehrt. In Horrorfilmen und suspense movies sind wir wahrnehmend dabei, wie einem Etwas mehr und mehr ein »Gesicht« verliehen wird, wie es weiter oben hieß, d.h., dass wir sehen, wie es »zugeht«, wenn es auf anderes trifft und wir es in Aktion erleben können und dadurch eine Idee davon erhalten, was wohl seine (weiteren) Möglichkeiten in der weiteren Folge der Ereignisse sein werden. Wir haben gesehen, wie »es« dieses oder jenes zuwege gebracht hat und entwickeln nun eine Vorstellung davon, was es noch alles zuwege bringen wird, wenn es auf ähnliche Weise ein‐gesetzt wird, es vergleichbare Realisationen in Interaktion mit etwas anderem »hervortreibt«.
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Durch dieses Verständnis wird wiederum sein Erscheinen von uns anderes wahrgenommen werden, es wird einen anderen Eindruck auf uns machen, je nachdem, wo es wahrnehmbar platziert wird, da der Eindruck, den es auf uns macht, der Ausdruck seiner (aktiven) Möglichkeiten bleibt und welche wir ja bereits in Ansätzen kennengelernt haben und nunmehr in den gefletschten Zähnen, in den verrückten Augen und in dem entschlossenen Verhalten sehen. Denn sich eine Vorstellung und ein Bild von einer Situation machen, bedeutet ja, ein mögliches Geschehen, ein Ereignis oder einen Ablauf zu antizipieren, der sich zwischen, mit und aufgrund der in Stellung gebrachten Gegenstände (höchstwahrscheinlich) so abwickeln wird. Und da seine Auswirkungen lediglich (Ein-)Wirkungen auf den dargestellten Wahrnehmungszusammenhang sind, auf die dargestellte Welt und nicht auf unsere eigene Welt, die Welt des Zuschauers, können wir lustvoll mit »dabei« sein, d.h. unserer Schaulust frönen, weil es eben kein Geschehnis ist, das uns betrifft, uns zustößt oder auch nur zustoßen könnte, sondern ein rein dargestelltes, immaterielles, ein gespieltes Geschehen, kein sich realisierendes. Während Wahrnehmung im Normalfall bedeutet, der sich‐ereignenden Realität körperlich aus‐gesetzt zu sein, werden wir im Falle einer dargestellten Irrealität lediglich in einen (medial) dargestellten Zustand hineinversetzt; hier gibt es keine Existenz im Sinne eines (räumlichen) Herausstehens, sondern nur ein In-Stehen, ein in sich selbst zurückgenommenes »Hineinstehen« von erscheinenden materiellen Zusammenhängen. Diese zeitliche Entfaltung, das mögliche Sich-Ereignen, das in einem Ausdruck bereits antizipiert ist, unterliegt durch die Aus-Stellung in einem ästhetischen Zusammenhang gewissermaßen einer »Einfaltung« in den dargestellten Weltzustand selbst. Doch ohne, dass wir um das (kausale) Potenzial des Großteils der dargestellten Dinge (begrifflich instrumentiert) wüssten, könnten wir sie auch niemals in einem ästhetisch re‐arrangierten und re‐konfigurierten Wahrnehmungszusammenhang aufgehoben finden, um sie dort in einem anderen, einem modifizierten Zustand zu gewahren, welcher der Situation andere Möglichkeiten abfordert oder abgewinnt. Ohne Vorwissen und lebensweltliche Erfahrungen im Umgang mit Dingen und Ereignissen und d.h. ohne Kontrast zu eingespielten Praktiken und lebensweltlichen Orientierungen könnten wir uns auch niemals ästhetisch orientieren und erst hierüber an das Dargestellte bewusst verlieren. »Beim Übergang von der Ordnung der Ereignisse zu der des Ausdrucks wechselt man nicht die Welt: Dieselben Gegebenheiten, die hingenommen wurden, werden zu einem bedeutsamen System.«125 Ohne Erfahrung mit realen Gegebenheiten könnten wir keine Autoverfolgung im Actionfilm, keine unheimliche Begegnung der dritten Art, keine Übertreibung und keine Verfremdung, keine Abweichung und keine imaginierte Fortführung und keine Anspielung auf bereits erworbene Sichtweisen wahrnehmen. Die ästhetischen 125 Merleau-Ponty, Maurice: Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, a.a.O., S. 88.
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»Informationen« müssen dabei aber in den dargestellten Verhältnissen selbst enthalten sein, sie müssen über ihr Wirken und ihre Auswirkungen, ihre anschauliche Interaktionen für uns zur Geltung gelangen, sie müssen dieses Potenzial vorzeigen und ausspielen. Und verkörpert finden wir sie in diesen Vorgängen nur, weil wir sie auch bis zu einem gewissen Grad als Ausdruck gewisser Vermögen verstehen, und so den »Twist« der in Stellung gebrachten Begebenheiten und deren Wahrnehmungsübergänge nachvollziehen können, d.h., den Ausdruck den diese Begebenheiten in dieser Konstellation annehmen (können). »Ein Roman drückt sich ebenso stillschweigend aus wie ein Gemälde. Sein Sujet kann ebenso wie das Gemälde erzählen. Worauf es ankommt, ist nicht so sehr, dass Julien Sorel, als er hört, dass Madame de Renal ihn verraten hat, nach Verrières geht und sie zu töten versucht, sondern vielmehr jenes Schweigen nach der Nachricht, jene Traumreise, jene gedankenlose Gewissheit […]. Ein ›Julien dachte‹, Julien wollte‹ ist unnötig. Um es auszudrücken, genügt es, dass sich Stendhal in Julien hineinversetzt und die Gegenstände, Hindernisse, Mittel und Zufälle in der Geschwindigkeit der Reise vor unseren Augen erscheinen lässt […]. Der Wille zu töten findet sich deshalb nirgends in Worten: Er ist zwischen ihnen, in den Höhlungen des Raumes, der Zeit, der Bedeutungen, die sie umschreiben […]. Was er [der Schriftsteller, R.Z.] zu sagen hat, setzt er als bekannt voraus, er versetzt sich in das Verhalten einer Person und vermittelt dem Leser nur deren Signatur, die unruhige und fortlaufende Spur in der Umgebung […].«126 Denn selbstverständlich ist Ausdruck in der Kunst und in ästhetischen Gestaltungen keine Äußerung einer subjektiven Gefühlslage oder ein sonstiger »expressiver« Vorgang, der die innere Welt des Künstlers zum Ausdruck brächte, sodass wir behaupten könnten, dass »an artist imbues an artwork with a certain human quality […]. The artist fashions the expressive artwork in such a way that it exemplifies the relevant human quality.«127 Denn es gibt nicht zuerst ein neutrales Material, dem wir dann künstlerisch einen »humanen Touch« oder eine menschliche Note verpassen und es so von seinem (rein) dinglichen in einen menschlichen und letztlich in einen ästhetischen Zustand überführen. »Mit diesem traditionellen Ansatz hat die Gestalttheorie aufgeräumt. Es gibt kein neutrales Rohmaterial, es gibt nichts, was nicht schon auf diese oder jene Weise geformt wäre. Die minimale Differenz, ohne die wir gar nichts und gar nicht sehen würden, besteht aus einer Figur vor einem Hintergrund. Die weitere Ausdifferenzierung führt zu Farb- und Tonskalen, zu Tastfeldern, Farbniveaus, Vor- und Nachbildern und ähnlichen Organisationsweisen. Diese Wahrnehmungssyntax 126 Merleau-Ponty, Maurice: Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, a.a.O., S. 106. 127 Carroll, Noel: Philosophy of Art, a.a.O., S. 89. [Meine Hervorhebung].
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enthält bereits wichtige Elemente einer pikturalen Syntax, nämlich Farbflecken, die sich ausbreiten; Linien, die ihren Weg suchen; Farbkontraste, die ein Flimmern erzeugen; Gestalten, die sich überdecken oder durchschimmern; Bewegungen, die das Sehfeld in Unruhe versetzen […]. So können wir auch von Vorgestalten der Malerei sprechen.«128 Ausdruck, der sich aus einer Zusammenstellung ästhetisch ergibt, verdankt sich dem in Stellung gebrachten Ausgangsmaterial, den »Vorgestalten«, auf deren Ausdruckspotenzial der Künstler bei seiner Gestaltung reagiert und auch reagieren muss und die er in den Prozess seiner Formfindung mit einbezieht, die er aufgreift, neu gewichtet, ihre (sinnliche) Geltung neu »einregelt« und so verändert zur Erscheinung gelangen lässt. Auch wenn Kunstschaffende eine (sehr allgemeine) Vorstellung davon haben, was das Gebilde am Ende ausdrücken soll, bspw. eine gewisse »kindliche Freude« oder eine geradezu »starrhalsige Entschlossenheit« oder am Beispiel von »Stranger in Moscow« eine gewisse Verlorenheit oder Einsamkeit, eine Weltabgewandtheit, so ist es auch hier (wie bei allen von uns untersuchten Gehalten) kein bereits individuiertes Etwas, das sich nur noch über das entsprechende Medium veräußern und damit verobjektivieren müsste. Denn das herangezogene Material und das durch es selbst aufrufbare Ausdruckspotenzial bestimmt den Weg seiner eigenen Ausformung; es eröffnet ein mögliches Vorgehen und bestimmte Ausdrucksmöglichkeiten und schränkt wiederum andere ein, es spannt selbst den Rahmen auf für seine mögliche Vervollständigung und einsetzende Zäsuren. Ästhetische Gestaltung bedeutet nicht, Farben, Töne, Formen und andere neutrale Materialien zu versubjektivieren, sondern bedeutet, auf Versatzstücke einer bereits leiblich erschlossenen (Um-)Welt zurückzugreifen und auf diese so zu reagieren, wie es prinzipiell auch ein Dritter könnte. »Selbst wenn der Künstler in völliger Abgeschiedenheit arbeitet […], [ist] das Werk im Werden, und der Künstler muss zum Vertreter des aufnehmenden Publikums werden. Er kann erst eine Aussage machen, wenn er das Werk auf sich wirken lässt wie auf jemanden, der von dem, was er wahrnimmt, angesprochen wird. Er beobachtet und versteht so, wie ein Dritter sehen und interpretieren würde […]. Der Stoff, aus dem sich ein Kunstwerk zusammensetzt, gehört eher der allgemeinen Welt als dem Ich an […]. Das zum Ausdruck gebrachte Material kann nicht im Verborgenen existieren; dies ist die Situation im Irrenhaus.«129 128 Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel, a.a.O., S. 138. 129 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, a.a.O., S. 125f. vgl. auch a.a.O., S. 167: »Der Künstler ist gezwungen, Experimentator zu sein, denn er muss durch Mittel und Materialien, die der allgemeinen, öffentlichen Welt angehören, eine im hohen Maße individuelle Erfahrung zum Ausdruck bringen.« Vgl. Wollheim, Richard: Objekte der Kunst, a.a.O., S. 50: »Es ist [also, R.Z.] plausibler, zu glauben, der Maler denke in Vorstellungsbildern der Farbe oder der Bildhauer in Vorstellungsbildern von Metall, eben weil diese in unabhängiger Weise die Kunstmedien sind: sein Denken
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Auch ein ästhetisch dargestellter Welt-Zustand muss an ein Vorverständnis anknüpfen können und Anhaltspunkte bieten, um von potenziellen Rezipienten entsprechend angeeignet und in die eigene Vorstellungswelt integriert werden zu können und sich für einen leiblichen Nach- und Mitvollzug zu öffnen. Auch dieser muss sich in seiner beabsichtigen Wirkung seinen Adressaten »anbequemen«, muss sich an ein mögliches Publikum wenden und damit intersubjektiv realisiert sein. Ästhetische Gestaltung bedeutet daher, einen gewissen Gestaltungsprozess anzuleiten und fortzuführen, der seinen Durchgang durch unser leibliches (Nach-)Empfinden dieser Materialien nimmt und welcher sich in diesem Tun zur Ausdrucksgebärde verlängert, die ihren Niederschlag in einem ästhetischen her‐gestellten Wahrnehmungszusammenhang finden kann. »›Der Maler bringt seinen Leib ein‹ […]. Und in der Tat kann man sich nicht vorstellen, wie ein Geist malen könnte. Indem der Maler der Welt seinen Leib leiht, verwandelt er die Welt in Malerei«130 , wie Merleau-Ponty sagt. Das Sehen des Malers ist ein Sehen, das sich mit dem Gesehenen verschwistert und nicht von ihm absieht, sondern genau hinsieht, sich dem konkreten, sinnlichen In-Erscheinung-Treten wahrnehmend »mit Haut und Haaren« verschreibt, dem ansonsten unbemerkt bleibenden Spiel der Schatten, der Vibration der Farbe eigens annimmt und sie gewinnbringend für die eigene Gestaltung einzusetzen weiß. Kunstschaffende wollen nicht einfach ihre Sicht der Dinge vermitteln oder »etwas« zur Sprache bringen, sondern die Dinge (in ihrem Ausdruck) für sich sprechen lassen; doch gerade dafür müssen sie nicht selten von ihnen ablassen, sie in ihrer Wirkung belassen, abwarten, was sich aus einem bestimmten (Wirkungs-)Ansatz, einer bestimmten Zusammenstellung ergeben könnte. Was aber nicht bedeutet, dass sie nichts ergeben könnten oder bedeutungslos wären. Kubrick dreht keine Szene 127 Mal und zum Verdruss aller Beteiligten, weil sie alle gleich gewirkt hätten oder das Gleiche bedeuteten, nämlich am Ende nichts und damit immer nur dasselbe »Scheitern« von Sinn ausstellen. Cézanne braucht nicht »hundert Arbeitssitzungen für ein Stillleben und hundertfünfzig Mal musste man ihm Modell sitzen für ein Porträt«,131 weil seine Bilder sich von selbst gemalt und er seine Subjektivität dabei hinter sich gelassen hätte. Ästhetisch etwas zu gestalten bedeutet, dass »die ›Konzeption‹ dabei der Ausführung nicht vorangehen darf. Vor dem Ausdruck gibt es nur ein unbestimmtes Fieber und erst das fertige und verstandene Werk wird zeigen, dass dort etwas war, und nicht nichts.«132 Denn in Wirklichkeit ist dem Künstler nämlich setzt voraus, dass bestimmte Aktivitäten in der Außenwelt, wie etwa das Auftragen von Farbe auf der Leinwand oder das Schweißen bereits die beglaubigten Prozesse der Kunst geworden sind.« 130 Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, a.a.O., S. 278. 131 Merleau-Ponty: Der Zweifel Cézannes, in: ders., Das Auge und der Geist, a.a.O., S. 3. 132 Ebd., S. 17.
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»an dem Endergebnis als der Ergänzung des Vorangegangenen gelegen und nicht wegen seiner Konformität oder mangelnden Konformität mit einem vorgegebenen Schema. Er ist bereit, das Endergebnis der Angemessenheit jener Mittel zu überlassen, aus denen es hervorgeht, und deren Summe es ist. Wie der wissenschaftliche Forscher, so lässt auch er den Gegenstand seiner Wahrnehmung zusammen mit den durch sie aufgezeigten Problemen den Ausgang festsetzen, anstatt auf seiner Übereinstimmung mit einem Schluss zu beharren, über den von vornherein entschieden wurde.«133 Ästhetische Gebilde sind die poetische Ausformung und Umformung, die ästhetische Ausgestaltung und Umgestaltung weltlicher Zustände, die wir durch ihr pures Erscheinen aufeinander übergreifen und ineinander eingreifen lassen können, sie ineinander überführen und auseinander herleiten, die wir sich gegenseitig abschwächen oder verstärken lassen können. Ästhetische Gestaltung bedeutet, Ausdruckswerte zu hemmen oder zu steigern, ihnen mehr Raum und mehr Zeit zur Verfügung zu stellen oder ihnen diesen Raum und diese Zeit zu entziehen, damit sie entweder ihren Einfluss geltend machen können oder ihr Einfluss unterbunden und zurückgedrängt wird. Wir können »das Florale« wie im Jugendstil rankenartig auf Treppengeländer, Häuserfassaden und Dachgewölbe übergreifen lassen oder wir können im Gegenteil (und wären wir Tamara de Lempicka) einen blockig wirkenden, geometrisch‐harten und doch bewegt‐stillen, verschatteten und zugleich metallisch‐glänzenden Zustand auf die gesamte Bildfläche ausdehnen, alles derart Inbegriffene dieser Art der »kohärenten Deformierung«134 unterwerfen, sodass jedes Element des Bildes »wie hundert Zeiger auf hundert Ziffernblätte[r] dieselbe Abweichung aufzeigt«135 und es zudem mit einer semantischen Bedeutungsebene ergänzen oder kontrastieren, die über eine mögliche Identifikation des Bildsujets ins Spiel kommt und damit in dieses Spiel kommt. Wir können in einem rein dargestellten Welt-Zustand die Dinge um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren lassen, sie für unsere Wahrnehmung untereinander wetteifern lassen, weil wir hier ihre Präsenz durch ihre anschauliche Darbietung neu einregeln können, weil die Dinge hier keiner lebensweltlichen Priorisierung zu unterliegen brauchen. Was nicht heißen soll, dass das Ästhetische keine (sinnlichen) Priorisierungen kennt; denn im Gegenteil ist es ja oft ein gewisser Stil oder eine bestimmte Atmosphäre, welche die kohärente Verformung als solche charakterisiert und das Dargestellte vornehmlich unter diesem Gesichtspunkt, in dieser (Grund-)Stimmung präsentiert. Doch liegt die Freiheit des Ästhetischen nicht zuletzt darin begründet, sich diesem allgemeinen »Gesichtpunkt« auch enthalten zu 133 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, a.a.O., S. 161. Vgl. auch Wollheim, Richard: Objekte der Kunst, Frankfurt a.M. 1982, S. 49. 134 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, a.a.O., S. 74. 135 Ebd., S. 83.
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können und gerade den Kontrast von verschiedenen Zuständen anzustreben und anschaulich werden zu lassen und auf diese Weise gerade eine oftmals besondere ästhetische Spannung zu erzeugen, die einen besonderen Reiz auf uns ausübt. So können wir bspw. die wunderschöne, vitale »Frische« der jugendlichen Geliebten inmitten einer morbiden und im Verfall befindlichen Friedhofslandschaft ansiedeln oder den vereinzelten Filmhelden, den sprichwörtlichen Einzelgänger und Einzelkämpfer aufrecht, entschlossen und voller Tatendrang inmitten einer schier unendlichen Anzahl, einer regelrechten Übermacht von Feinden zeigen, was uns an seiner eigenen Wirkungsmacht vielleicht einen Moment lang zweifeln lässt – wüssten wir es nicht besser. Ein gestalterisches Vorgehen, wie es auch gerne auf Filmpostern angewendet wird. Dort sehen wir ja nicht selten die Filmhelden und -heldinnen mit umgeschnalltem Gewehr, umgriffener Axt, gezücktem Messer, umgeben von zuckenden Blitzen, einem tosenden Meer oder vor einer lodernden Feuersbrunst mit eiserner Miene diesen Begebenheiten »die Stirn« bietend, wodurch sich die gezeigten Teil-Zustände so zusagen die Waage halten und in diesem »Aufriss« vereint bleiben, ohne dass zu diesem Zeitpunkt zu entscheiden wäre, wessen Potenzial hier die Oberhand behalten wird: ob das tosende Meer den Protagonisten nicht doch noch verschlingt oder ob es nicht vielmehr seine Welt ist, in der er »das Sagen« behält. Wir können über Installationen unser Raumerleben selbst erlebbar werden lassen und dieses Erleben gezielt steuern, wir können durch eine skulpturale Darstellung Laokoon und seine Söhne in einem Zustand zeigen und diesen still- und damit auf Dauer stellen, der in Wirklichkeit nur den Bruchteil einer Sekunde andauern würde. Wir können uns kubistisch den in seine Einzelteile zerlegten Gegenstand von allen Seiten zugleich vorzeigen lassen und damit eine Perspektive einnehmen, die wir so aufgrund unseres standortgebundenen Sehens niemals einnehmen könnten. Wir können gestaltend Farben vertauschen, Flächen aushöhlen, Details ausradieren oder dazudichten, können ansonsten weiche Körper stahlhart wirken lassen oder einen andernfalls stahlharten butterweich. Können Grenzen verschieben und Zeiten neu einregeln, Ereignisse neu temporalisieren und sie mit anderen Ereignissen auf diese Weise synchronisieren oder sie gezielt mit diesen in ihrem Ablauf kontrastieren; wir können ästhetisch Dinge um‐dimensionieren und sie immaterialisieren. Können durch spezielle Konstruktionen es für unser Erleben so wirken lassen, als ob ein mehrerer hundert Kilo schwerer Eisenkörper auf seiner Spitze balanciert, sein ganzes Gewicht in dieser Spitze fühlbar ausläuft und kulminiert und wir können auch diesen Eindruck als besonderen Zustand verewigen. Doch was wir nicht können, ist Ausdruck erzeugen (und damit nicht selten Eindruck schinden), der nicht seinen Anfang in unserer Lebenswelt genommen hätte und der sich nicht an unsere gesamte leibliche Situation und damit auch an unsere Erkenntnisvermögen wendet und damit an unser Vorwissen und unsere Vorerfahrungen anknüpfen würde. Es ist die Realisation in Situation, die das ästhetische
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zum Thema hat und die es eigens zum Thema macht, und die alle unsere Erkenntnisvermögen zum Thema haben, auch wenn sie uns jeweils anderes auf die Realität verständigen. Bei der ästhetischen Wahrnehmung können wir unsere Erkenntniskräfte bewusst in Schwung versetzen und unser Erleben entrücken lassen, d.h. für die Dauer der Rezeption unsere Erkenntnisvermögen ins Spiel bringen und dabei im Spiel halten, weil wir uns einem Vorentscheid darüber enthalten, was als nächstes zu tun ist und uns dadurch frei zu dem verhalten (können), was uns (real) zu keinerlei Reaktion zwingt. Weil im ästhetischen Geschehen durch eine Fehlinterpretation und eine ausbleibende, möglichst effiziente Situationsbewältigung nicht wirklich etwas für uns auf dem Spiel steht, können wir unser Erkennen bewusst aufs Spiel setzen, doch setzten wir es dabei nicht aus. Das Spiel, das unsere Erkenntniskräfte »haben«, wird im ästhetischen Zusammenhang in ein Zusammenspiel umgelenkt und überführt, das mit diesen gespielt wird, sodass ihnen durch den ästhetischen Nachvollzug in einem bestimmten Sinne mitgespielt wird, ohne dass sie dabei endgültig zer‐spielt würden. Auch ästhetische Wahrnehmung und Gestaltung ist kein Verlust an Subjektivität, sondern gerade ein Zusammenspiel unserer Erkenntnisvermögen. Ästhetische Gestaltung ist die gelenkte (wenn auch nicht geplante, weil nicht planbare), Dimensionierung dieses Spielraumes und unseren Zur-Welt-Seins, unserer sinnlichen, kognitiven wie imaginierenden Vermögen.
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Abbildungen
Abb. 1