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German Pages [179] Year 2021
Kristin Theresa Drechsler
Zartheit der Dinge
KONTEXTE
Das poetische Moment der Wahrnehmung
ALBER PHÄNOMENOLOGIE https://doi.org/10.5771/9783495825228
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B
ALBER PHÄNOMENOLOGIE
A
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PHÄNOMENOLOGIE Texte und Kontexte Herausgegeben von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und Walter Schweidler
KONTEXTE Band 30
https://doi.org/10.5771/9783495825228 .
Kristin Theresa Drechsler
Zartheit der Dinge Das poetische Moment der Wahrnehmung
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495825228 .
Kristin Theresa Drechsler Tenderness of things The poetic moment of perception The book brings philosophical (especially Heidegger and MerleauPonty) and artistic positions (Rilke, Ponge, Cézanne, Morandi and others) into conversation with each other and illuminates the question of whether it is necessary for human beings to encounter things in their singleness. With this questioning, a step is taken back behind the current ›thing debates‹. The decisive observation is that the perception of things also has an ethical component. Thing appears as a place of encounter of opposing movements – not as a persistent interchangeable object, but in its tenderness.
The author: Kristin Theresa Drechsler, born 1984, is a research assistant at Leuphana University Lüneburg.
https://doi.org/10.5771/9783495825228 .
Kristin Theresa Drechsler Zartheit der Dinge Das poetische Moment der Wahrnehmung Das Buch bringt philosophische (bes. Heidegger und Merleau-Ponty) und künstlerische Positionen (Rilke, Ponge, Cézanne, Morandi u. a.) miteinander ins Gespräch und beleuchtet die Frage, ob es für den Menschen notwendig ist, den Dingen in ihrer Einzigkeit zu begegnen. Mit dieser Fragestellung wird ein Schritt hinter die aktuellen ›DingDebatten‹ zurückgegangen. Entscheidend ist die Beobachtung, dass Dingwahrnehmung auch eine ethische Komponente birgt. Ding erscheint als Ort der Begegnung gegenläufiger Bewegungen – nicht als beharrlicher austauschbarer Gegenstand, sondern in seiner Zartheit.
Die Autorin: Kristin Theresa Drechsler, geb. 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie lebt in Hamburg und ist dort u. a. als philosophische Praktikerin und Musikerin tätig.
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Originalausgabe Zugl.: Dissertation, Leuphana Universität Lüneburg, 2019 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49184-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82522-8
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»Um Dinge wahrnehmen zu können, müssen wir sie erleben.« Maurice Merleau-Ponty
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Inhaltsverzeichnis
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemstellung und Ausgangspunkt . . . . . . Bemerkung zur gegenwärtigen Ding-Konjunktur Vorgehensweise und Aufbau . . . . . . . . . .
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13 13 23 27
I
Zu den Dingen . . . . . . . . . . . . . . . . I.1 Die Augen des Herrn Palomar . . . . . Widerspenstigkeit des Leibes . . . . . . Vieldeutige Rede vom Ding . . . . . . I.2 Nach dem Ding fragen . . . . . . . . . Überspringen des Dinges . . . . . . . . Mit dem Leib nach dem Ding fragen . . I.3 Unsere Welt? – Welthaftigkeit der Dinge
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30 31 34 39 42 44 47 49
II
Zuhause in den Dingen . . . . . . . . . . . . . II.1 Vertrauen in die Verlässlichkeit der Dinge II.2 Einwohnen des Leibes in den Dingen . . . II.3 Vertrauensbruch der Dinge . . . . . . .
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57 59 64 69
III
Kunst als Weg zum Ding in statu nascendi . . . . . III.1 Zeugenschaft der Dinge (Rilke) . . . . . . III.2 Das Zittern der Dinge (Cézanne) . . . . . . III.3 Versiegelung des Unscheinbaren (Morandi) III.4 Im Namen der Dinge (Ponge) . . . . . . . III.5 Sichhineinversenken in die sinnliche Welt .
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. 77 . 80 . 91 . 98 . 106 . 116
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Inhaltsverzeichnis
IV
Das poetische Moment der Wahrnehmung IV.1 Appellstruktur der Dinge . . . . . IV.2 Tasten mit dem Blick . . . . . . . . IV.3 Kunstwerk als Ort der Sinngenese .
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118 121 126 134
V
Zartheit der Dinge . . . . . . . . . . V.1 Verweilen und Lassen . . . . . V.2 Das Herzzerreißende der Dinge V.3 Ding als Ort der Begegnung . .
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140 147 152 159
VI
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
166
VII Literaturverzeichnis Primärliteratur . . Sekundärliteratur . Ausstellungskataloge Wörterbücher . . .
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Danksagung
Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2018 von der Fakultät Kultur der Leuphana Universität Lüneburg als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt vor allem meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Christoph Jamme, der mir bei Fragen stets zur Seite stand und mir die Freiheit gelassen hat, meinen eigenen Gedankengang zu entfalten. Weiterhin geht mein Dank an meinen Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Roberto Nigro sowie an Herrn Prof. Dr. Günther Seubold, der an meiner Disputation als dritter Prüfer mitwirkte. Meinen Eltern danke ich für ihre anhaltende Unterstützung. Ein ganz besonderer Dank geht an Marius.
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Einleitung
Problemstellung und Ausgangspunkt Die folgenden Überlegungen sind von der Frage motiviert, ob es für den Menschen notwendig ist, den Dingen in ihrer Einzigkeit zu begegnen. Dass wir ständig von Dingen umgeben und diese für unsere alltäglichen Beschäftigungen nötig sind, ist kaum zu übersehen. Von daher scheint diese Frage auf den ersten Blick merkwürdig zu sein, da sie doch ganz offensichtlich mit ›Ja‹ zu beantworten ist und keine weitere Auseinandersetzung erfordert. Halten wir jedoch bei ihr inne, deutet sich an, dass es so einfach mit ihrer Beantwortung nicht ist. Zwar gebraucht der Mensch täglich Dinge für seine Zwecke, womit sie offenbar in irgendeiner Weise für ihn notwendig sind. Doch die Frage lautet nicht, ob es für ihn notwendig ist, die Dinge zu gebrauchen, sondern ihnen zu begegnen, genauer, ihnen in ihrer Einzigkeit zu begegnen. Es steht hier also nicht der Mensch als Hervorbringer oder Benutzer der Dinge infrage und – so zumindest lässt sich im Umkehrschluss vermuten – auch nicht die Gebrauchsgegenstände. Schließlich kommen jene in Gebrauchsvollzügen gerade nicht in ihrer Einzigkeit in Sicht, sondern sind eingebettet in ein dichtes Geflecht aus Bezügen und Verweisungen. Einem Ding in seiner Einzigkeit zu begegnen, könnte demnach bedeuten, dass dieses hier nicht gebraucht, sondern als etwas Besonderes und Unersetzliches wahrgenommen wird. Ding fungiert gemeinhin als Sammelbegriff für das Nichtmenschliche, Leblose, Objekthafte, Materielle, also dasjenige, dem kein Wert an sich zukommt, dem aber ein Wert durch uns zugeschrieben werden kann: zum Beispiel ein Tauschwert, Geldwert oder ein persönlicher, individueller, emotionaler Wert. Das Attribut der Einzigkeit könnte sich darauf beziehen, dass es hier um die Dinge geht, für die es deshalb keinen Ersatz gibt, weil sie auf die spezifische Bedeutung, die eine andere Person für uns hat, verweisen: zum Bei13 https://doi.org/10.5771/9783495825228 .
Einleitung
spiel Geschenke, Erbstücke oder so genannte ›Übergangsobjekte‹, die einem Kind beim Abgrenzungsprozess von den Eltern helfen. 1 Dies sind Dinge, deren Bedeutung nicht primär durch die in ihnen angelegten Zweckzusammenhänge bestimmt ist, sondern denen ein ›Mehr‹ an Bedeutung, also ein Bedeutungsüberschuss, zukommt. Und doch stellt sich die Frage: Sind sie für den Menschen notwendig? Das Kuscheltuch, das als ›Ersatz‹ für die Mutter fungiert, der Ring der verstorbenen Großmutter oder die Goldkette, die zur Konfirmation geschenkt wurde, sind – trotz ihres Bedeutungsüberschusses – zwar mögliche Attribute des menschlichen Daseins, ob sie für dieses notwendig sind, lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres behaupten. Dies zumindest nicht, wenn unter dem Menschen dasjenige Wesen verstanden wird, das sich durch seine Unterscheidung von den Dingen auszeichnet und das die Dinge im Innersten gerade nicht angehen. 2 So vermag der Mensch sich zwar auf Dinge zu beziehen, ihnen einen Wert oder Zweck zuschreiben 3, sie aber für sein Menschsein als konstitutiv anzusehen scheint abwegig. Schließlich kommt einzig ihm – im Gegensatz zum Ding – ein Wert an sich zu, womit ihn per se Einzigkeit und Besonderheit auszeichnen. Vor allem in dieser Hinsicht ist die hier gestellte Frage merkwürdig, da in ihr eine für die moderne Weltordnungsvorstellung als grundlegend erachtete Verhältnisbestimmung – die Trennung von Subjekt und Objekt – scheinbar herumgedreht wird. Schließlich gründet jene auf der Auffassung, dass der Mensch, als Subjekt verstanden, dem Ding, als Objekt verstanden, gegenübersteht. Dieses ›Gegenüber‹ konkretisiert sich wiederum in einer Hierarchisierung von Verstand und Sinnenwelt, Innen und Außen, Geist und Körper. Der Begriff geht auf Donald W. Winnicott zurück. Siehe u. a. ders.: Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse, Gießen 2008; Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, Gießen 2006; Das Baby und seine Mutter, Stuttgart 1990. 2 Mit Hannah Arendt ließe sich hingegen sagen, dass das Herstellen von Dingen durchaus ›wesenhaft‹ für das Menschsein ist, da es zu dessen Grundbedingungen zählt. Versteht man Dinge einzig unter dem Aspekt der Herstellung, wäre also relativ leicht zu sagen, dass sie insofern notwendig sind, als der Mensch ein herstellendes Wesen ist. Siehe dies.: Vita Activa. Vom tätigen Leben (1981), München 2013, S. 161 f. Dass damit jedoch das Verhältnis zu den Dingen gerade nicht erschöpft ist, wird sich im Laufe der vorliegenden Überlegungen zeigen. 3 Bei Hans Jonas heißt es: »Dies ist so bei allen leblosen Geräten: der ihnen als Kunstprodukten wesentliche Zweck ist doch nicht der ihre; ihrer totalen Zweckhaftigkeit ungeachtet – oder gerade wegen ihrer – sind sie eigener Zwecke bar.« Ders.: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M. 1984, S. 108. [Herv. i. Orig.] 1
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Problemstellung und Ausgangspunkt
Ding meint hier nicht nur im engeren Sinne ein handgreifliches Gebrauchsding, sondern auch jegliches, was wir unter den Begriff des ›Natürlichen‹ fassen: Tiere, Pflanzen, Mineralien, aber auch unser Körper. Von einem Ding in seiner Einzigkeit zu sprechen, hat hier buchstäblich keinen Raum, da ›Ding‹ gerade nicht ein Besonderes meint, sondern vielmehr Seiendes in Bezug auf ein ihm zugrundeliegendes Allgemeines oder Prinzipielles. Im ›Kleinen‹ zeigt sich die Hierarchisierung und Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt wiederum im alltäglichen Umgang mit den Dingen. Dieser gründet sich ebenfalls auf der Auffassung einer Getrenntheit von den Dingen. Hierbei spielt es keine Rolle, ob wir sie beispielsweise mit den Händen gebrauchen, da schon dieser Gebrauch von der Grundannahme geleitet ist, dass wir es sind, die etwas mit den Dingen anstellen, nicht anders herum. In der Frage, ob die Begegnung einer Einzigkeit der Dinge für den Menschen notwendig ist, schwingt also auch eine Infragestellung der Annahme, dass sich unser Verhältnis zu den Dingen in Gegenüberstellungen erschöpft, mit. Im Folgenden soll es darum gehen, dieser Verhältnisbestimmung nachzugehen und zu zeigen, dass zwischen Mensch und Ding kein Verhältnis der Gegenüberstellung, sondern eine generative Verflochtenheit besteht. Schon der Terminus Begegnung deutet auf eine spezifische Verhältnisbestimmung hin und fungiert hier als Kontrastbegriff zu Besitz, Gebrauch und Herstellung. Begegnung ist eine Übersetzung des lateinischen Begriffs occursus und drückt »entweder das Etwas aus, auf das man stößt, oder den Vorgang des Zusammentreffens selbst, welcher ursprünglich als ein Stoß auf einen Wider-Stand begriffen wird« 4. Zudem verweist der Begriff auf »eine unmittelbare Ableitung von der Präposition gegen« 5. Einem Ding zu begegnen kann demnach bedeuten, das Ding als Widerstand zu erfahren. Mehr noch, deutet sich eine Verflechtung von Begegnung und Widerstand an. Schließlich kann die Begegnung selbst als »das Etwas, auf das man stößt«, begriffen werden. Hier klingt an, dass der Begegnung ein Moment des Zufälligen, Unvorhersehbaren und Unbestimmten innewohnt. Zwar wird auf etwas gestoßen, aber dieses ›Etwas‹ ist auch selbst ›Stoß‹. So lässt sich sagen, dass eine Begegnung keine geplante, geTidona, Giovanni: Ding und Begegnung. Sprach- und Dingauffassung im dialogischen und existenzialen Denken, Freiburg/München 2014, S. 37. 5 Ebd. 4
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Einleitung
steuerte oder kalkulierte Hinwendung auf etwas ist, sondern ein Widerfahrnis. In der Begegnung – als »Vorgang des Zusammentreffens selbst« – fallen die Modi Von-etwas-getroffen-sein und Auf-etwas-stoßen in eins. Dieses Zusammentreffen ist wiederum ein Moment, in dem das Unbestimmte eine – zumindest vorläufige – Gestalt annimmt. Schon im Alltagsverständnis klingt an, dass eine Begegnung, wenngleich sie kurzweilig und momenthaft sein kann, dadurch gekennzeichnet ist, dass sie in irgendeiner Weise ›Spuren‹ hinterlässt und sich in ihr etwas mitteilt oder zeigt. So sprechen wir zum Beispiel in einer krisenhaften Situation auch davon, uns selbst – oder einem anderen Menschen – ›neu‹ zu begegnen und manchmal ist die Rede von übersinnlichen Begegnungen, so genannter ›Begegnungen der dritten Art‹. Eine Begegnung kann ›freudig‹ sein, aber auch ›schicksalhaft‹ oder ›merkwürdig‹. In jedem Fall bezeichnet sie einen Modus der Erfahrung, der erschüttert, bewegt, berührt, trifft und bestimmt, aber auch einen Moment, in dem etwas bislang Ungesehenes in Sicht rückt. Dingen in ihrer Einzigkeit zu begegnen heißt also nicht, wie zunächst angenommen, dass die Dinge als etwas Besonderes oder Unersetzliches für uns wahrgenommen werden. Mehr noch kann von einer Begegnung in den erwähnten Beispielen bedeutsamer Dinge gerade nicht die Rede sein, da Begegnung auf eine Erfahrung des Unbestimmten verweist und Ding wiederum zum Bereich des Gedeuteten gehört. Ob wir Dingen begegnen können, erscheint so gesehen fraglich. Mehr noch ist unklar, wie von einer Begegnung der Einzigkeit der Dinge die Rede sein kann, da dies doch scheinbar bereits eine Bestimmung des einzelnen Dinges erfordern würde – dass Einzigkeit und Bestimmung gerade nicht das gleiche sind, wird sich im Verlauf der folgenden Überlegungen herausstellen. Welcher ›Art‹ die Dinge sind, die hier infrage stehen, muss somit zunächst offen gelassen werden. Da obendrein danach gefragt ist, ob die Begegnung ihrer Einzigkeit für den Menschen notwendig ist, muss nicht nur offen gelassen werden, welcher ›Art‹ die Dinge sind, die hier infrage stehen, sondern auch, wie genau ›Mensch‹ hier verstanden wird. Notwendig meint dann nicht für den Menschen im Sinne des Gebrauches oder Besitzes notwendig, sondern bezieht sich auf die Bestimmung dessen, was ›Mensch‹ heißt. Vorläufig lässt sich festhalten, dass dieser hier auf eine Weise in Erscheinung treten würde, in der er nicht durch seine Unterscheidung von den Dingen be16 https://doi.org/10.5771/9783495825228 .
Problemstellung und Ausgangspunkt
stimmt wäre, sondern beide in der Begegnung so aufeinandertreffen, dass sich erst eine mögliche Bestimmung ihres Verhältnisses herausstellt. Ein Anhaltspunkt, dem die Frage hier zu folgen hat, deutet sich in der bereits erwähnten Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt an. Begegnung steht im Zusammenhang mit einem spezifischen Moment, einer spezifischen Örtlichkeit und verweist also auf eine körperliche Verortung des Geschehens. Dem Ding zu begegnen und diese Begegnung zum Gegenstand des Philosophierens zu machen bedeutet somit, bei der sinnlichen und leiblichen Seite der Erfahrung anzusetzen. Diese ›Seite‹ hat zunächst in der abendländischen Denktradition wenig Raum. Schließlich geht es dieser vor allem darum, zu einer Erkenntnis zu gelangen, die von den Sinnen ungetrübt ist. Was der Mensch »anrühren, sehen und mit den andern Sinnen wahrnehmen« 6 kann, sei im Verhältnis zu den »immer auf gleiche Weise sich verhaltend[en]« 7 Ideen lediglich ›Schein‹ oder ›Abbild‹. Sofern das sinnlich Wahrgenommene eigens befragt wird, erweist es sich als unzuverlässige Erkenntnisquelle. Wie beispielsweise das Wachsstück in René Descartes’ Meditationen: Nehmen wir zum Beispiel dieses Wachs: Gerade eben ist es aus dem Bienenstock herausgezogen worden; noch hat es nicht allen Geschmack seines Honigs verloren; es behält ein wenig von dem Geruch der Blumen, aus denen es gesammelt worden ist; seine Farbe, Gestalt, Größe sind handgreiflich; es ist hart, es ist kalt, es läßt sich leicht berühren, und es gibt einen Ton von sich, wenn Du mit dem Knöchel auf es schlägst; mit einem Wort, alles ist vorhanden, was erforderlich zu sein scheint, damit es äußerst deutlich als ein bestimmter Körper erkannt werden kann. 8
Zwar gelangt das Wachs zunächst als sinnlich erfahrener Gegenstand in den Blick. Nachdem es sich in der Nähe des Feuers verflüssigt hat, hält Descartes jedoch fest, dass die körperlichen Eigenschaften des Gegenstandes der Erkenntnis keine verlässliche Grundlage bieten. Was sich mit Sicherheit sagen lasse, sei, dass das Wachsstück »allein
Platon, Phaidon, 79a. Ebd. 8 Descartes, René: Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch-Deutsch. Hrsg. u. übers. v. Christian Wohlers, Hamburg 2008, S. 59. 6 7
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Einleitung
mit dem Geist« 9 erfasst werden könne und die einzig evidenten Merkmale Ausdehnung und Bewegung sind: »[…] schauen wir, was übrigbleibt, wenn wir alles entfernen, was nicht zum Wachs gehört: nämlich nichts anderes als ein ausgedehntes Etwas, biegsam und veränderlich« 10. Es bleibt hier kein mit der Erkenntnis unvereinbarer ›sinnlicher Rest‹ am Ding – und auch nicht am Menschen. 11 So wird hier nicht nur der ›Körper‹ des Wachsstücks, sondern – und das ist entscheidend – auch der des Philosophen, der das Wachs betastet, an ihm riecht, seinen Klang vernimmt, dem Verstand unter- und der res extensa zugeordnet. ›Körper‹, so Descartes, könnten »selbst nicht eigentlich durch die Sinne oder durch das Vorstellungsvermögen der Einbildungskraft, sondern durch den Verstand allein erfaßt werden« und zwar nicht, weil »sie berührt oder gesehen werden, sondern allein dadurch, daß sie eingesehen werden, so erkenne ich sehr genau, daß nichts leichter oder auch evidenter von mir erfaßt werden kann als mein Geist«. 12 Und doch kommt auch der Versuch, von der ›trügerischen‹, sinnlichen Seite der Dinge abzusehen, nicht umhin, sich dieser zumindest gewahr zu werden. So sieht Immanuel Kant in der Erfahrung der »Gegenstände, die unsere Sinne rühren« 13 den entscheidenden Beweggrund des Erkenntnisinteresses, »diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen« 14. Demnach bestünde gar kein Zweifel daran, »daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange« 15. Eine Einzigkeit der sinnlich erfahrenen Dinge kann hier jedoch ebenfalls nicht in Sicht rücken. Zwar gibt es für Kant einen ›uneinholbaren Rest‹ am Ding, dieser verweist jedoch nicht auf eine Einzigkeit der sinnlich erfahrenen Dinge, sondern steht für einen Bereich des Noumenalen: das so genannte Ding an sich. Das An-sich der Dinge sei wiederum die »intelligible Ursache […] der Erschei-
Ebd., S. 63. Ebd., S. 61. 11 Siehe hierzu: Kellerer, Sidonie (Hrsg.): Descartes bei den Neukantianern, Husserl und Heidegger, Konstanz 2013. 12 Descartes, Meditationen, S. 67. 13 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 1. Teil. Werke in zehn Bänden. Bd. 1 Hrsg. v. Weischedel, Wilhelm, Darmstadt 1983, S. 38/B1. 14 Ebd. 15 Ebd. 9
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Problemstellung und Ausgangspunkt
nungen« 16, womit die sinnliche Erfahrung der Vorstellungskraft untergeordnet ist. Bei den Sinnendingen innezuhalten und dem ›erfahrenen Ding‹ in dessen jeweiliger Besonderheit philosophische Aufmerksamkeit zu schenken wird erst Anfang des 20. Jahrhunderts, ausgehend von Edmund Husserls Versuch eines Rückgangs auf die Erfahrung der »Sachen selbst« 17, möglich. 18 Für Husserl hat jegliches Erfahrbare einen dinglichen Charakter. In der Erfahrung ist das Ding jedoch nicht als bereits Vorhandenes da, sondern wird erst in der erlebenden Bezugnahme des Menschen. Besonders die an Husserl anknüpfende Leibphänomenologie Maurice Merleau-Pontys sowie die Neubefragung der Dinge bei Martin Heidegger sind für die folgenden Überlegungen wegweisender Ausgangspunkt. Der Leib ist für Merleau-Ponty kein mögliches Attribut des Menschseins, sondern dessen Grundkonstitution, Ding wiederum ist bei Heidegger kein beliebiger austauschbarer Gegenstand, aber auch kein allgemeines Prinzip, sondern etwas, das den Menschen in seinem Wesen angeht, ihn in Anspruch nimmt und seine Weise in der Welt zu sein bestimmt. Es ist einerseits Inständiges, Insichruhendes, aber auch ein Bezugsgeschehen, womit sich wiederum eine Brücke zum phänomenologischen Leib schlagen lässt. Heidegger widmet sich dem Ding an verschiedenen ›Stationen‹ seines Denkens, das als Versuch, diesem ein »philosophisches Heimatrecht« 19 einzuräumen, verstanden werden kann. Als einschlägig sind die Zeuganalysen in Sein und Zeit (1927) 20, die im Wintersemester 1935/36 gehaltene Vorlesung Die Frage nach dem Ding: Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen 21 sowie Der Ursprung
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A539/B567. Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Zweiter Band, Erster Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis (Husserliana, Bd. XIX/ 1), Den Haag 1984, S. 10. 18 Hierzu auch der Artikel zum Ding im Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe. Hrsg. v. Helmuth Vetter, Hamburg 2004, S. 115–116. 19 Gadamer, Hans-Georg: Der Weg in die Kehre, in: ders.: Heideggers Wege, Tübingen 1983, S. 112. 20 Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), Tübingen 2006. 21 Heidegger, Martin: Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen (1935/36), Frankfurt a. M. 1984. 16 17
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Einleitung
des Kunstwerkes 22 (1935/36) und die späten Vorträge Das Ding 23 (1950) und Bauen, Wohnen, Denken 24 (1951) anzusehen. Heidegger fragt nach einer Inständigkeit der Dinge, die ihm zufolge im Verlauf des abendländischen Denkens in Vergessenheit geraten sei. Es müsse nach der Dingheit der Dinge gefragt werden, wenn wir uns nicht mit gewohnten Bedeutungszuschreibungen und den in ihnen enthaltenen Verhältnisbestimmungen zufriedengeben wollen. Für Merleau-Ponty spielt der Gedanke einer generativen Verflochtenheit von Ding und Leib eine tragende Rolle, wofür besonders seine Untersuchungen zur leiblichen Verankerung des Menschen mit der Welt (der Dinge) und seine Überlegungen zu einer monde sauvage – der Modus primordialer Wahrnehmung 25 – zentral sind. Dinge treten vor dem Hintergrund des Primats der Leiblichkeit als appellierende »Beinahe-Kameraden« 26 in Erscheinung, die sich einer letztgültigen Bestimmung verweigern. Zwar scheine, wie Husserl herausgestellt hat, mit der Wahrnehmung des Dinges gleichsam seine dingliche Umgebung, die Zusammenhänge mit anderen Dingen und Körpern auf, 27 das ›generelle Ding‹ 28 gehe jedoch in diesem Verhältnis nicht auf: »Wenn jemand […] das Ding wahrgenommen hat, so ist dies für seinen Sinn als Ding nicht konstitutiv, da dieser ja im Gegenteil darin besteht, in der Indifferenz, in der Nacht der Identität und als reines An-sich da zu sein« 29. Das ›An-sich‹ ist hier kein Noumenales, sondern verweist vielmehr auf eine präreflexive Struktur der Wahrnehmung, in der die Bestimmung ›Ding‹ noch im Werden ist. Zwar widmet Merleau-Ponty dem Ding keine eigene Abhandlung. Seine Entfaltung einer Phänomenologie der Leiblichkeit ist jedoch grundlegend an eine Revision des Verhältnisses zu den Dingen gekoppelt. So bilden die Dinge in der Phänomenologie der Wahrneh-
Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege (1950). GA 5, Frankfurt a. M. 2003. 23 Heidegger, Martin: Das Ding (1950); in: Vorträge und Aufsätze, Teil II, 3. Aufl., Tübingen 1967. 24 Heidegger, Martin: Bauen, Wohnen, Denken (1951); in: Ebd. 25 Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964), München 2004 sowie ders.: Das Auge und der Geist (1961), Hamburg 2003, S. 275–318. 26 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 234. 27 Husserl, Edmund: Ding und Raum. Vorlesungen 1907 (Husserliana Bd. XVI), Den Haag 1973, S. 80–82. 28 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 183. 29 Ebd., S. 77. 22
20 https://doi.org/10.5771/9783495825228 .
Problemstellung und Ausgangspunkt
mung 30 (1945) einen wichtigen Bezugspunkt, um das Besondere der leiblichen Wahrnehmung herauszustellen. Sie treten als ›erfahrene‹ und ›erlebte‹ Dinge in Erscheinung, die den Leib in ihrer Einzigkeit angehen. So gelangen nicht einzelne »›Eigenschaften‹ der wahrgenommenen Dinge, […] sondern die einzigartige Weise des Seins, die je sich ausdrückt in den Beschaffenheiten des Kiesels, des Glases oder des Wachsstücks« 31 in Sicht. Zudem sind seine Auseinandersetzungen mit der künstlerischen Wahrnehmung in Der Zweifel Cézannes 32 (1945), Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 33 (1952) sowie Das Auge und der Geist 34 (1961) für die vorliegende Arbeit entscheidend. Mit der Kunst wird eine präreflexive Wahrnehmung der Dinge sinnfällig, die wiederum Rückschlüsse über die Bedeutung der Dinge für den Leib ermöglicht. Auch Heidegger sieht in der Kunst einen möglichen Weg zum Ding. 35 So sei das Kunstwerk kein im gewohnten Sinne verstandener Gegenstand, sondern Geschehen einer Sichtbarmachung der verborgenen Zusammenhänge von Ding, Mensch und Welt. Beide sehen in der Kunst einen Ort, an dem eine Inständigkeit der Dinge in Sicht rückt, wobei diese Inständigkeit wiederum nicht auf einen jenseitigen Sinn der Dinge verweist, sondern im Vollzug der Erfahrung wahrnehmbar wird, was wiederum an eine spezifische Weise der Bezugnahme des Menschen gekoppelt ist. Dass hier der Kunst eine Sonderstellung in Bezug auf die Dingproblematik zugeschrieben wird, deutet auch darauf hin, dass nicht erst die Phänomenologie, sondern zunächst die Kunst das Verhältnis zu den Dingen und die Ordnung von Subjekt und Objekt kritisch in den Blick nimmt. So sind diesbezüglich Paul Cézannes und Rainer Maria Rilkes Versuch einer ›Rettung der Dinge‹ als wegweisend anzusehen. Mehr noch, finden sich zahlreiche künstlerische Beispiele in der Zeit um 1900, die sich dezidiert gegen ein Selbstverständnis des Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), Berlin 1974. Ebd., S. 15. 32 Merleau-Ponty, Maurice: Der Zweifel Cézannes (1945), in: Ders., Sinn und NichtSinn, München 2000, S. 3–29. 33 Merleau-Ponty, Maurice: Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens (1952), in: Ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 111–177. 34 Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist (1961), in: Ebd., S. 275–318. 35 Siehe hierzu auch: Pöggeler, Otto: Bild und Technik. Heidegger, Klee und die Moderne Kunst, Bonn 2002 sowie Seubold, Günter: Kunst als Enteignis – Heideggers Weg zu einer nicht mehr metaphysischen Kunst, Bonn 1996. 30 31
21 https://doi.org/10.5771/9783495825228 .
Einleitung
Menschen als ›Maß aller Dinge‹ stellen. Sie antworten einer eindimensionalen Sicht auf die Dinge mit der Hervorhebung einer gleichzeitigen Vieldeutigkeit und Unverfügbarkeit der Dinge. Diesbezüglich können folgende Zeilen Rilkes aus dem zweiten Teil der Sonette an Orpheus programmatisch gelesen werden. Dort heißt es von der Rose: »Uns aber bist du die volle zahllose Blume, / der unerschöpfliche Gegenstand« 36. Bei Hugo von Hofmannsthal klingt es ähnlich: »Ein Ding ist eine unausdeutbare Deutbarkeit« 37. 38 In derartigen Formulierungen klingt die Erfahrung einer Gleichzeitigkeit von Erscheinung und Entzug wider, die wiederum für einen phänomenologischen Zugang zu den Dingen grundlegend ist. Jedes Aufkommen von Bedeutung gründet sich demnach auf einem »Sich-nicht-zeigen« 39. Die Bereiche des Unbestimmbaren (›Ding an sich‹) und der konkreten ›Erscheinung‹ (Sinnenwelt) 40 fallen hier so zusammen, dass der ›konkreten‹ Erscheinung selbst ein unsagbares Element zugeschrieben wird. Während in der vorbereitend verfassten Magisterarbeit Der Anspruch der Dinge und die Kunst – Zur Veränderung der Dingwahrnehmung um 1900 der Wandel der Dingwahrnehmung unter kulturgeschichtlichen und kunstwissenschaftlichen Gesichtspunkten in den Blick genommen wurde, gilt es an dieser Stelle die dortigen Überlegungen zu vertiefen. Wurde dort vor allem die künstlerische Thematisierung einer Appellstruktur der Dinge aufgegriffen, ist nun zu fragen, welche Konsequenzen sich schließlich aus diesen Erfahrungen für die Bewertung des Verhältnisses von Ding und Mensch ergeben. Kunst erweist sich diesbezüglich nicht als Bebilderung einer Theorie, sondern als ein parallel zur Theorie liegender »Verstehensweg« 41. Entsprechend wird an dieser Stelle der in der Vorarbeit beleuchtete ›Ding-Diskurs‹, der sich in der Kunst entfaltet hat, dem philosophischen Fragen an die Seite gestellt. Das Ziel ist entsprechend Rilke, Rainer-Maria: Die Sonette an Orpheus (1922), Frankfurt a. M. 1955, S. 40. [Herv. i. Orig.] 37 Hofmannsthal, Hugo v.: Reden und Aufsätze III, Buch der Freunde, Frankfurt a. M. 1986, S. 263. 38 Hierzu Bamberg, Claudia: Der Dichter und die Dinge, Heidelberg 2011. 39 Heidegger, Sein und Zeit, S. 29. [Herv. i. Orig.] 40 Siehe Fick, Monika: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychologische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 1993. 41 Schürmann, Eva: Erscheinen und Wahrnehmen – eine vergleichende Studie zur Kunst von James Turrell und der Philosophie Merleau-Pontys, München 2000, S. 71. 36
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Problemstellung und Ausgangspunkt
nicht, eine systematische Abhandlung der ›Dingphilosophie‹ Heideggers und der ›Leibphänomenologie‹ Merleau-Pontys vorzunehmen. Vielmehr sollen einzig die Aspekte ihres Denkens aufgegriffen werden, die für die Entfaltung der leitenden Frage fruchtbar sind und diese wiederum in Resonanz mit künstlerischen Referenzen gebracht werden. Ein besonderes Augenmerk liegt hier, neben Rilke und Cézanne, auf Giorgio Morandi und Francis Ponge, in deren Besinnung auf die Dingwahrnehmung mit dem Ziel, von diesen die gewohnten Bedeutungen abzutragen, die Blickwendung Cézannes und Rilkes widerklingt. In der wechselseitigen Konturierung der vier Künstler, die noch nicht in gemeinsamer Verbindung behandelt wurden, lichtet sich eine erweiterte Sicht auf die Bedeutung der Dinge. Bei ihnen steht die radikale Hinwendung zu den Dingen immer schon unter dem Vorzeichnen einer existenziellen Dringlichkeit und Notwendigkeit.
Bemerkung zur gegenwärtigen Ding-Konjunktur Die in Kunst und Phänomenologie in Gang gebrachte Neubefragung des Verhältnisses zu den Dingen und die Rehabilitation der sinnlichen Wahrnehmung strahlt bis in die heutige Debatte 42 um eine ›Agenshaftigkeit der Dinge‹ hinein. In Anbetracht dieser ›Ding-Konjunktur‹ erscheint das Anliegen der vorliegenden Arbeit rückständig. Schließlich steht doch längst fest, dass die Dinge »mit unseren Kollektiven und den Subjekten verwoben sind« 43. Entgegen der Auffassung, dass das Verhältnis zu den Dingen einseitig bestimmt ist, wonach »von den Dingen, auf die man sich bezieht […] keine Bezugnahme zurück« 44 kommt, gelangt das Ding nunmehr als mit den Menschen interagierend und an sie appellierend in den in den FoSiehe u. a.: Balke, Friedrich / Muhle, Maria / von Schöning, Antonia (Hrsg.): Die Wiederkehr der Dinge, Berlin 2012; Bamberg, Claudia: Der Dichter und die Dinge, Heidelberg 2011; Liessmann, Paul Konrad: Das Universum der Dinge: zur Ästhetik des Alltäglichen, Wien 2011; Frank, Michael C. / Gockel, Bettina / Hauschild, Thomas / Kimmich, Dorothee / Mahlke, Kirsten (Hrsg.): Zeitschrift für Kulturwissenschaftlichen: Fremde Dinge, Heft 1/2007; Därmann, Iris (Hrsg.): Kraft der Dinge. Phänomenologische Skizzen, Paderborn 2013. 43 Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 2008, S. 10. 44 Figal, Günter: Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Heidelberg 2015, S. 96. 42
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Einleitung
kus. 45 Vor dem Hintergrund des Anspruchs, »die gesamte Unterscheidung von Subjekt und Objekt« 46 außer Kraft zu setzen, wird versucht, den »Anteil der Dinge« 47 im Menschlichen zu rekapitulieren. Dinge werden hier zu Beteiligten oder Trägern von Handlungen deklariert und rücken als nicht-menschliche Akteure in den Vordergrund. 48 So fragt beispielsweise Bruno Latour: »Sind sie nicht unsere Brüder? Verdienen sie nicht unsere Achtung?« 49 und hebt die »von den Türangeln und Scharnieren geleistete Arbeit« 50 oder »die moralische und ethische Dimension mechanischer Vorrichtungen« 51 hervor. 52 Schon die vorangehende Skizzierung der ›Eliminierung‹ der sinnlich erfahrbaren Seite der Dinge zeigt, dass die Hinwendung Siehe u. a. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2006; Daston, Lorraine: Objektivität, Frankfurt a. M. 2007; Kimmich, Dorothee: Lebendige Dinge in der Moderne, München 2011; Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge: eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt a. M. 2006. 46 Balke et. al., Die Wiederkehr der Dinge, S. 8. 47 Latour, Wir sind nie modern gewesen, 2008, Umschlagtext. 48 Vgl. Macho, Thomas: Dinge ohne uns, in Adamowsky, Natascha / Felfe, Robert / Formisano, Marco / Töpfer, Georg / Wagner, Kirsten (Hsrg.): Affektive Dinge. Objektberührungen in Wissenschaft und Kunst, Göttingen 2011, S. 184–198, hier: S. 189. 49 Latour, Bruno: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996, S. 73. 50 Ebd., S. 63. 51 Ebd., S. 68. 52 Auch in anthropologischen Forschungen ist die Rede von einer eigenen Kraft der Dinge. So betont Hartmut Böhme in seiner Auseinandersetzung mit dem Fetischismus, dass die Beziehung von Mensch und Ding nicht einseitig ist und den Dingen eine spezifische Kraft zukommt und weist »auf die geheimnisvollen Kehrseiten der veränderten quantitativen und qualitativen Dynamik der ›Gesellschaft der Dinge‹« hin. Aus dem von Böhme konstatierten Zusammenhang von Moderne und Fetischismus ergibt sich die Forderung »einer Theorie, die mit Dingen Warenverblendung, Primitivität, Aberglaube, letztlich Sozialpathologie assoziiert.« Böhme, Fetischismus und Kultur, S. 19. Ebenfalls von einer Eigendynamik der Dinge ausgehend ist Igor Kopytoffs Vorschlag, von einer »Biografie der Dinge« zu sprechen. Ähnlich der Biografie einer Person könnten auch bezogen auf Dinge Fragen nach Herkunft, verschiedenen Entwicklungsstufen oder einer Veränderung des lebensweltlichen Kontexts gestellt werden: »In the homogenized world of commodities, an eventful biography of a thing becomes the story of the various singularizations of it, of classifications and reclassifications in an uncertain world of categories whose importance shifts with every minor change in context. As with persons, the drama here lies in the uncertainties of valuation and of identity.« Kopytoff, Igor: The Cultural Biography of Things. Commodization as Process, in: Appadurai (Hg.): The Social Life Of Things. Commodities in Cultural Perspective, Campbridge 1986, S. 64–91. 45
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Problemstellung und Ausgangspunkt
zum Ding mehr bedeutet als die Ergründung und Absteckung neuer Themengebiete und für einen Wandel epistemischer Ordnungsvorstellungen steht. So wird heute nicht ohne Grund von einem Material Turn 53 gesprochen. Und doch gilt es an dieser Stelle nicht an den aktuellen DingDiskurs anzuknüpfen, sondern vielmehr einen Schritt zurück zu gehen und sich auf die ›erste Welle‹ einer Neubefragung des Verhältnisses zu den Dingen zu konzentrieren. Der Grund besteht darin, dass in der gegenwärtigen Diskussion eine ›Agenshaftigkeit der Dinge‹ scheinbar die einzige Möglichkeit ist, die Trennung von Subjekt und Objekt in Bewegung zu bringen – und möglicherweise zu überwinden. Dinge sind Akteure, ihnen kommt ein Eigensinn zu, sie fordern uns auf, zu handeln. Es fragt sich, ob nicht auch hier eine mögliche Begegnung des Dinges übersprungen wird. Sie kann zumindest nicht infrage stehen, da bereits die Positionsverschiebungen von Subjekt und Objekt bzw. das Aufbrechen der Ordnung paradigmatisch geworden ist. Dies spiegelt sich auch in der Verwendung so genannter »neuer Dingbegriffe« 54 wie Quasi-Objekt oder Hybrid wider. Eine kurze Anmerkung zum Begriff des Quasi-Objekts soll dies verdeutlichen. Ein Quasi-Objekt, so Michel Serres, sei »kein Objekt, und es ist dennoch eines, denn es ist kein Subjekt, weil es in der Welt ist; es ist zugleich auch ein Quasi-Subjekt, weil es ein Subjekt markiert oder bezeichnet, das dies ohne es nicht wäre« 55. Hier wird zum einen die gegenseitige Abhängigkeit der Einordnung in die Kategorie Subjekt oder Objekt hervorgehoben, aber vor allem geht es darum, die Positionen nicht als im Vorhinein feststehend vorauszusetzen, sondern sie als sich erst im Vollzug eines Aufeinandertreffens herausbildend zu verstehen. Serres veranschaulicht seine Gedanken anhand des Ballspiels. 56 Hier stehe nicht von vornherein fest, wie die Vgl. Hicks, Dan: The Material-Cultural Turn: event and effect, in: Hicks, Dan / Beaudry, Mary C. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Material Culture Studies, Oxford 2010, S. 25–98. So steht fest, dass das Interesse an den Dingen längst nicht mehr auf so genannte »Material bezogene Wissenschaften wie Archäologie, Völkerkunde, Volkskunde aber auch Kultur- und Kunstgeschichte« beschränkt ist. Vielmehr scheint die Befragung der Bedeutung der Dinge ein transdisziplinäres Problem zu sein. 54 Roßler, Gustav: Kleine Galerie neuer Dingbegriffe. Hybriden, Quasi-Objekte, Grenzobjekte, epistemische Dinge, in Kneer, Georg / Schroer, Markus / Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M. 2008, S. 76–107. 55 Serres, Michel: Der Parasit, Frankfurt a. M. 1987, S. 346. 56 Schon bei Rilke rückt ein Ball als subversive Ordnungsinstanz ins Zentrum. Rilke, 53
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Einleitung
Machtverhältnisse zwischen Ball und Spielenden organisiert sind, sondern erst im Vollzug des Spiels ergeben sich die Zuschreibungen ›Quasi-Objekt‹ oder ›Quasi-Subjekt‹. Das ›Quasi‹ verweist darauf, dass der jeweilige Zustand nur vorläufig ist und sich jederzeit ändern kann. So ist der Ball nicht per se Objekt, sondern vermag sich im Verlauf des Spiels zum Quasi-Subjekt zu wandeln, da er wiederum die Subjekte – bzw. Quasi-Subjekte – ordnet: Der Ball ist nicht für den Körper da, genau das Gegenteil ist wahr: Der Körper ist das Objekt des Balls, das Subjekt kreist um diese Sonne. […] Spielen heißt nichts anderes, als sich zum Attribut des Balls als der Substanz zu machen. Die Gesetze sind für ihn geschrieben […] und wir beugen uns diesen Gesetzen. 57
Diese Verschiebung der Ordnung, die mit einer Uneindeutigkeit von Subjekt und Objekt einhergeht, kann zwar auf den ersten Blick im Sinne der oben skizzierten Beschreibung als Begegnung verstanden werden, da hier die Positionen nicht im Vorhinein feststehen, sondern im Verlauf des Spiels fortwährend ausgelotet werden. Und doch sticht hier besonders eine Umkehr der Machtpositionen heraus: »Spielen heißt nichts anderes, als sich zum Attribut des Balls […] zu machen«. Wenngleich diese Radikalität im Hinblick auf die oben skizzierte Eliminierung des Dinges und der Deutungshoheit des Subjekts nachvollziehbar ist, fragt sich jedoch, ob die gegenwärtige Rede von fetischisierten, agierenden, lebendigen oder beredsamen Objekten die einzig mögliche Alternative zur Dichotomie von Subjekt und Objekt ist. Mehr noch, ob nicht hierin lediglich eine Verschiebung, nicht aber eine Überwindung des Dualismus anklingt. Setzt nicht den ›Anteil der Dinge‹ im Menschlichen zu rekapitulieren voraus, von beidem bereits einen Begriff zu haben? Für die folgenden Überlegungen ist deshalb zunächst die in Phänomenologie und Kunst initiierte Blickwendung aufzunehmen, um von hier aus zu zeigen, dass sich ein weiterer Weg zum Ding abzeichnet, der den aktuellen Debatten nicht entgegensteht, sondern seinen Ort woanders hat. So wird in Kunst und Phänomenologie vor allem Rainer Maria: Neue Gedichte. Der neuen Gedichte anderer Teil (1907/08), Frankfurt a. M. 1974, 158 f. Zum Gedicht siehe auch Freeman, Ralph: Dichtung und Bildende Kunst in den Neuen Gedichten – Rilke, Rodin, Baudelaire, in: Unglaub, Erich / Paulus, Jörg (Hsrg.): Rilkes Paris 1920–1925, Göttingen 2010, S. 185–196, hier: S. 186. 57 Serres, Der Parasit, S. 347.
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Problemstellung und Ausgangspunkt
die Erfahrung einer vorbegrifflichen Welt sinnfällig. Von hier aus deutet sich an, dass die Konsequenz aus einer Kritik an der SubjektObjekt Dualität nicht allein darin bestehen muss, die Dinge entweder als Dialogpartner dem Menschen an die Seite zu stellen oder jenen den Dingen unterzuordnen. Vielmehr öffnet die Blickwendung in Kunst und Phänomenologie eine Möglichkeit, über »das Moment, bevor das Ding zum Objekt und also mit Eigenschaften, Funktionen, spezifischen Deutungen versehen wird« 58, nachzudenken und von dort aus die Ordnung von Ding und Mensch zu befragen.
Vorgehensweise und Aufbau Sowohl für das Dingverständnis Heideggers als auch für den Leibbegriff Merleau-Pontys gilt, dass diese sich einer positiven Bestimmung widersetzen und sich vielmehr durch eine produktive Inkonsistenz und Offenheit auszeichnen. Diese ›Offenheit‹ ist Ausdruck einer spezifischen Denkhaltung, in der das Fragen nicht als ein geradliniger Weg, sondern als Öffnung eines Raums verstanden ist, in dem das Infrage-stehende so hervorkommen kann, dass es möglich wird, sich zu diesem in ein Verhältnis zu setzen. Es wird hier also nicht nur befragt, sondern Fragender und Befragtes konturieren einander wechselseitig. Dass hierbei etwas von der Art des Fragens in die Antwort einfließt, ist kein Mangel, der zu beseitigen wäre, sondern Ausdruck eines Denkens, dass die eigenen Voraussetzungen nicht zu ›vertuschen‹ versucht. 59 In Anlehnung an Theodor W. Adorno kann diese Weise der Annäherung ein ›zurückgenommenes Denken‹ genannt werden, das dem Gegenstand in »wechselnde[n] Versuchsanordnungen« 60 die Möglichkeit gibt, zur Sprache zu kommen, also an den »Sachen selbst« die Weise ihrer Behandlung auszubilden. 61 Denken, so Adorno, sei »weder emsiges Tummeln noch stures sich Verboh-
Körte, Mona: Ding Ding Ding. Heimsuchungen in der Haushaltung, in Mechlenburg, Gustav / Sdun, Nora (Hrsg.): Ding Ding Ding, Kultur & Gespenster Nr. 17, Hamburg 2016, S. 71–87, hier: S. 84. 59 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Lob der Philosophie (1953), in ders.: Vorlesungen I, Berlin 1973, S. 21. 60 Adorno, Theodor W.: Über die Sprache des Philosophen, in: Philosophische Frühschriften (GS1), Frankfurt 2003, S. 335. 61 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 27. 58
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Einleitung
ren« 62. Vielmehr sei ein Moment des philosophischen Denkens, sich dem Objekt anzuschmiegen, sich ihm geduldig, langsam und behutsam zu nähern. 63 Diese sich hiermit abzeichnende Denkhaltung steht wiederum in enger Korrespondenz mit der künstlerischen Neubefragung der Dinge. Kunst und Philosophie hier zusammenzubringen ist somit keine nachträgliche Entscheidung gewesen. Vielmehr stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer Begegnung von Ding und Mensch erst in ihrer Zusammenführung und lässt sich wiederum allein von ihrer wechselseitigen Konturierung ausgehend beantworten. Da es an dieser Stelle, wie angedeutet, vor allem um die sinnliche Wahrnehmung der Dinge geht, soll die leibliche Erfahrung hier Dreh- und Angelpunkt der Überlegungen sein. Auch diesbezüglich genügt an dieser Stelle nicht die Bezugnahme auf philosophische Positionen. Diese erlangen vielmehr erst dann Kontur, wenn sie mit der künstlerischen Revision der Dinge konfrontiert werden, wobei Kunst und Philosophie einander befruchten. Die Bezugnahme auf künstlerische Referenzen ist also bereits Ausdruck eines am Gegenstand orientierten Denkens. So gilt für den folgenden Denkweg, was Merleau-Ponty zum Grundsatz phänomenologischer Reflexion auserkoren hat: Es geht nicht darum, »das in die Dinge hineinzulegen, was sie später in ihnen zu finden vorgibt«, sondern darum das »Geheimnis unserer wahrnehmungsmäßigen Bindung an die Welt in ihr selbst auf[zu]suchen« und sich darum zu bemühen, »diese vorlogische Bindung auszusprechen«, in dem das Denken sich in die Welt versenkt, sie befragt und im Fragen »in den Wald von Bezügen, den unser Fragen in ihr entstehen läßt« eintritt. 64 In einem ersten Schritt wird die Schwierigkeit Zu den Dingen (I) in ihrer Einzigkeit zu gelangen thematisiert, hier wird zugleich der Rahmen für die Auseinandersetzung abgesteckt. Denn es zeigt sich, dass es, sofern es um die Begegnung mit den Dingen geht, einer Hinwendung zum Ding in seiner Welthaftigkeit bedarf, womit schließlich der alltägliche Umgang mit den Dingen, also ein Modus, der Zuhause in den Dingen (II) genannt werden kann, in den Blick zu Adorno, Theodor W.: Anmerkungen zum philosophischen Denken, in: Stichworte, Kritische Modelle 2 (GS10, 2) Frankfurt a. M. 1977, S. 602. 63 Ebd. 64 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 61. 62
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Problemstellung und Ausgangspunkt
nehmen ist. Hier zeichnet sich eine Ambiguität im Verhältnis zu den Dingen ab. Diese sind einerseits als vertraute Gebrauchsgegenstände jederzeit verfügbar, uns also nahe. Zugleich gelangen sie hierbei jedoch nicht in Sicht. Sie sind uns buchstäblich zu nah. Der künstlerische Blick auf die Dinge erweist sich diesbezüglich als aufschlussreich. So zeigt sich mit der Kunst, eine ›Rückseite‹ der Lebenswelt, also eine leibliche Verflochtenheit von Ding und Mensch, die zwar Grundlage für den alltäglichen Umgang ist, hier jedoch nicht eigens in Sicht zu rücken vermag. Kunst als Weg zum Ding (III) erweist sich auch als ein Weg zum Leib. So sind nicht nur die Dinge im Alltag ›unsichtbar‹, sondern auch der Leib und hierbei insbesondere das poetische Moment der Wahrnehmung (IV). Mit der Kunst wird das poetische, also schöpferische Moment in dreifacher Hinsicht sinnfällig: Zum einen in der Erfahrung einer Vieldeutigkeit der Dinge, die wiederum genuin an die Erfahrung einer Appellstruktur der Dinge (IV.1) gebunden ist, weiter in einer generativen Verflechtung von Leib und Ding, die sich in Bezug auf das leibliche Sehen, das Merleau-Ponty ein Tasten mit dem Blick (IV.2) nennt, näher beschreiben lässt. Schließlich erweist sich das Kunstwerk hier als Ort der Sinngenese (IV.3), in dem wiederum das poetische Moment der Wahrnehmung und hiermit eine Grundbestimmung der Wahrnehmung sinnfällig wird. Wahrnehmung erweist sich vor diesem Hintergrund als stilisierend, womit deutlich wird, dass es nicht eine Weise gibt, das Ding in seiner Einzigkeit zu erfahren, sondern verschiedene. Im künstlerischen Weg zum Ding und in der Besinnung auf die leibliche Erfahrung der Dinge zeichnet sich eine Nuance der Dingerfahrung ab, die Zartheit der Dinge (V) genannt werden kann. Zartheit steht hier zugleich für eine sinnliche Erfahrung und einen spezifischen Umgang, in dem eine Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit der Dinge in Sicht rückt, womit sich andeutet, dass Dingwahrnehmung auch einen ethischen Gehalt hat. Dinge zeigen sich dann nicht als Gegenstände, sondern als Orte der Begegnung (V.3).
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I
Zu den Dingen
Einerseits scheint es keiner besonderen Anstrengung zu bedürfen, sich den Dingen zu nähern. Als Gegenstände unserer Umgebung sind sie jederzeit verfügbar. Hier bedeutet mit geschlossenen Augen ins Leere zu greifen, in Kontakt mit einer Fülle an Gegenständen zu treten, die unserem Bedürfnis, sie zu erforschen oder zu gebrauchen für gewöhnlich widerstandslos nachzukommen scheinen. Zu den Dingen zu gelangen braucht so gesehen nicht einmal eine Veränderung der eigenen Position, da sie meist buchstäblich in greifbarer Nähe sind. Und doch fragt sich, ob wir ihnen hier wirklich nahe kommen oder aber lediglich das Echo dessen vernehmen, was wir einst in sie hineingelegt haben. Dieses ›Echo‹ ist einerseits die Spur einer Geschichte der Auslegungen dessen, was unter einem ›Ding‹ verstanden wird, die sich bis zum Anbeginn des abendländischen Denkens zurückverfolgen lässt. Sie reicht über die Wahrnehmung eines einzelnen Gegenstandes hinaus und betrifft auch das Verständnis unserer Position in der Welt. Auch die kulturelle oder symbolische Bedeutung der Dinge führt vom Einzelding hin zu einer Geschichte kultureller Praktiken und Symboliken. Darüber hinaus bergen die Dinge eine individuelle Geschichte leiblicher Weltaneignung, die unserem Umgang mit ihnen aufgeprägt ist. Des Weiteren können in ihnen Geschichten emotionaler Verbundenheit aufbewahrt sein und ein einfacher Gegenstand Statthalter eines vergangenen Lebensabschnittes, eines geliebten Menschen oder Verstorbenen sein: »das Gewand, das der Urgroßvater ausgezogen und niedergelegt hat, als er auf immer fortging, welches Gewand nun rührend und naiv Bruchstücke von der Geschichte dieses Urgroßvaters erzählt« 65. So lässt sich bezüglich des alltäglichen Umgangs mit den Dingen sagen, dass sich ihre Bedeutung hier zwischen den Polen reiner 65
Stifter, Adalbert: Aus dem alten Wien, Frankfurt a. M. 1986, S. 133.
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Die Augen des Herrn Palomar
Zweckmäßigkeit und existenzieller Unersetzlichkeit erstreckt. Diese Extreme können in einem Gegenstand zusammenfallen: Der Sessel, auf dem einst die verstorbene Großmutter ihre Sonntagszeitung gelesen hat, dient vielleicht jetzt einem jungen Ehepaar als Ablagefläche hingeworfener Kleidung. Die Spuren, die wir in den Dingen hinterlassen haben, und der Widerklang dieser Spuren sind vielfältig. Zu den Dingen führt so gesehen kein geradliniger Weg, sondern vielmehr gilt es, sich durch ein dichtes Gestrüpp an Bezügen und Verweisen zu bewegen und von dort aus den Raum für die Dinge auszuweiten. Bei diesem Versuch geht es darum, eine Ebene an ihnen aufzudecken, die sich nicht in ›Menschliches‹ in dem angedeuteten Sinne rückübersetzen lässt. Dieses Vorhaben, an den Gegenständen gewohnte Perspektiven auszuklammern, »ist schwierig, weil es bekanntlich leichter ist zu lernen als zu vergessen« 66. Zugleich vermag es schon allein der Versuch, unbeachtete Aspekte an den Dingen freizulegen und somit das Verhältnis zu ihnen in ein anderes Licht zu rücken. Zu den Dingen meint also eine doppelte Bewegung des Absehens und Hinsehens zu vollziehen. Das heißt, sich durch die in den Dingen aufbewahrten Spuren hindurchzubewegen, um eine Ebene ›vormenschlicher‹ Bedeutung freizulegen, wobei der jeweilige Gegenstand stets im Blick zu behalten ist. Es geht hierbei um einen Perspektivwechsel mit dem Ziel, die Dinge so zu sehen, dass sie »nur sich selbst bedeuten, nichts anderes« 67. Dieser Schwierigkeit, die Dinge mit nicht-menschlichem Blick zu betrachten, stellt sich Italo Calvinos Herr Palomar.
I.1 Die Augen des Herrn Palomar Dem leicht kurzsichtigen Herrn Palomar passiert es »immer wieder, daß sich bestimmte Dinge – eine Mauer, eine Muschelschale, ein Blatt, eine Teekanne – in sein Blickfeld drängen« 68. Es ist »als bäten sie ihn um eine längere minutiöse Aufmerksamkeit«, so dass er ge-
66 Flusser, Vilém: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München 1993, S. 53. 67 Calvino, Italo: Herr Palomar, München 1988, S. 133. 68 Ebd., S. 131.
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Zu den Dingen
zwungen ist, sie zu betrachten. 69 Im Verlauf seiner episodischen Beobachtungsübungen sieht er sich mit diversen Hindernissen konfrontiert, die wiederum für das Verständnis des jeweiligen Gegenstandes wesentlich zu sein scheinen. Beispielsweise scheitert sein Versuch, eine Welle zu lesen, da dies erfordern würde, »die vielfältigen Aspekte mit einzubeziehen, die zu ihrer Bildung zusammenwirken, desgleichen die ebenso vielfältigen, die sie von sich aus bewirkt« 70. Der von ihm erfahrenen Unmöglichkeit, mittels genauer Beobachtung die Komplexität der Welt in den Griff zu bekommen und die Dinge zu studieren, antwortet er mit dem Ziel, »seine Aufmerksamkeit zu verdoppeln« 71. Was ihn hierbei hemmt, ist das fortwährende Ringen um die richtige Beobachterposition, da er sich immer wieder selbst in die Quere kommt. Neben seiner Kurzsichtigkeit hindert ihn besonders sein ungeduldiges Temperament daran, dem Betrachten »die Bedeutung zu geben, die es verdient« 72. So rückt im Vollzug seiner Hinwendung zu den Dingen dadurch, dass sie ihn an seinem Vorhaben hindert, seine eigene Position in den Vordergrund. Diese vermeintliche Störung bringt ans Licht, worauf Merleau-Ponty im Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung hinweist, wenn er meint, dass die Krux des phänomenologischen Programms, auf ›die Sachen selbst‹ zurückzugehen, darin bestehe, dass es im Grunde nicht durchführbar sei. So wäre die »wichtigste Lehre der Reduktion […] die Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion« 73. Diese Unmöglichkeit äußert sich bei Herrn Palomar darin, dass er sich immer wieder an seiner eigenen Beobachterposition stößt. Zwar sucht er sich »für jede seiner Handlungen einen begrenzten und klar umrissenen Gegenstand« 74 aus, den er mit seinem Blick zu fassen versucht, stößt damit aber letztlich auf ein unauflösliches Zusammenspiel von Selbst, Welt und Dingen. Sein vermeintliches Scheitern bringt zum Vorschein, dass er nicht von den Dingen und der Welt losgelöst, sondern selbst ein Teil des Weltausschnitts, den er ins Feld der Aufmerksamkeit zu heben versucht, ist. Die Dingbetrachtung erweist sich somit nicht als ein Akt der sekundären Ver-
69 70 71 72 73 74
Ebd. Ebd., S. 8. Ebd., S. 131. Ebd. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 11. Calvino, Herr Palomar, S. 7.
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Die Augen des Herrn Palomar
knüpfung zweier sich gegenüberstehender Pole, sondern als Türöffner, eine Situiertheit in der Welt wahrzunehmen: Gewöhnlich meint man, das Ich sei jemand, der aus den eigenen Augen herausschaut wie aus einem Fenster, um die Welt zu betrachten, die sich in ihrer ganzen Weite vor ihm erstreckt. Also gibt es ein Fenster, das sich zur Welt auftut. Draußen ist die Welt. Und drinnen? Auch die Welt, was denn sonst? […] Gut, was bleibt nun draußen vor dem Fenster? Noch immer die Welt, die sich auf einmal verdoppelt hat in eine betrachtende und eine betrachtete Welt. Und er, auch Ich genannt, also Herr Palomar? Ist nicht auch er ein Stück Welt, das ein anderes Stück Welt betrachtet? […] Ja, um sich selbst zu betrachten, braucht die Welt Augen: die Augen (und Augengläser) des Herrn Palomar. 75
Herr Palomars Augen sind buchstäblich in den Dingen verfangen, weil sie selbst Teil der Welt sind, die sie zu betrachten versuchen. Auf den ersten Blick ist der Versuch, die Dinge so in den Blick zu bringen, dass sie »nur sich selbst bedeuten, nichts anderes« 76, zum Scheitern verurteilt. Dies jedoch nur, wenn man den Weg zum Ding als einen linearen, vom Subjekt ausgehenden Akt versteht, wobei von den Dingen, als passive Gegenüber verstanden, nach und nach mehr aufgedeckt werden würde. Hier verhält es sich jedoch anders: Je näher Herr Palomar den Dingen rückt, desto mehr wird er ihrer unerschöpflichen Oberfläche gewahr, in die er selbst eingewebt ist: Erst, wenn man die Oberfläche der Dinge kennengelernt hat, kann man sich aufmachen, um herauszufinden, was darunter sein mag. Doch die Oberfläche der Dinge ist unerschöpflich. 77
Dass es nicht möglich ist, die Dinge vom Betrachter abzutrennen und somit keine von diesem losgelöste Sicht zu erlangen, konterkariert sein Ziel, sich ihnen zu nähern, jedoch nicht. Vielmehr lichtet sich gerade im Scheitern seines Versuchs eine Spur zum erfahrenen Leib. Die leibliche Situiertheit in der Welt bliebe im Hintergrund, wäre Herr Palomar den »Anrufen, die er von den Dingen erhält« 78, nicht gefolgt. So hat er auf diesem Umweg auch über ein ›Selbst‹ der Dinge etwas erfahren: Je näher er ihnen zu kommen versucht, desto fremder und rätselhafter werden diese. Ihr ›Selbst‹ gibt sich hier nicht als be-
75 76 77 78
Ebd., S. 132. Ebd., S. 133. Ebd., S. 59. Ebd., S. 131.
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Zu den Dingen
stimmbarer Wesenskern, sondern als »unausschöpfliche Wirklichkeit, die sich nie völlig preisgibt« 79.
Widerspenstigkeit des Leibes Das Anliegen der mikrologischen Dingbeobachtungen Herr Palomars scheitert. Je konzentrierter er sich auf die Besonderheiten der von ihm ausgewählten Gegenstände zu fokussieren versucht, desto mehr sieht er sich mit einer Widerspenstigkeit konfrontiert: nicht der Dinge, sondern des Leibes. Sein Leib schiebt sich zwischen ihn und die Welt der Dinge, auf die sein Erkenntnisinteresse gerichtet ist. Er stört, beunruhigt und begrenzt seine Sicht. Auch durch die Erwähnung der Kurzsichtigkeit Herr Palomars wird unterstrichen, dass der Leib dieser ›Sicht‹ nicht hilfreich ist. So ist er hier nicht verfügbares Konglomerat an den Körper gehefteter Sinnesorgane, derer sich ein in diesem Körper wohnendes Bewusstsein bedienen könnte, sondern tritt als widerspenstiges Anderes in Erscheinung. Nichtsdestotrotz wird Herr Palomar nicht müde, den Dingen die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihnen seiner Ansicht nach gebührt. Vor diesem Hintergrund kann man ihn »geradezu als einen leidenschaftlichen Anwalt einer unbequemen Sinnlichkeit verstehen« 80. Der von Husserl initiierte Versuch einer ›Rückkehr zu den Sachen selbst‹ kann als fortwährendes Ausloten dieses Problems verstanden werden, mit dem sich grundsätzliche Hindernisse und Herausforderungen des phänomenologischen Anliegens zeigen. In Bezug auf die Dingwahrnehmung stellt sich das Problem des Leibes insofern, als gerade hier eine merkwürdige Doppelexistenz des Wahrnehmenden in Erscheinung tritt, die einerseits für die Wahrnehmung der Dinge grundlegend ist, ihr aber zugleich bei jener im Wege steht. So stellt Husserl zunächst fest, dass »der Leib als Wahrnehmungsorgan des erfahrenden Subjektes« bei »der Erfahrung von raumdinglichen Objekten« immer mit dabei ist. 81 Diese Feststellung mutet auf Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 19. Meyer-Drawe, Käte: Parteinahme für die Dinge, in: Gethmann-Siefert, Annemarie / Weisser-Lohmann, Elisabeth (Hrsg.): Wege zur Wahrheit. Festschrift für Otto Pöggeler zum 80. Geburtstag, München 2009, S. 73–84, hier: S. 76. 81 Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (Husserliana Bd. IV), Den Haag 1952, S. 159. 79 80
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Die Augen des Herrn Palomar
den ersten Blick banal an. So braucht es eigentlich keiner Anstrengung, um zu bemerken, dass unsere Wahrnehmung der Gegenstände sich in erster Linie zwischen Körper und Ding abspielt. Wie sonst wäre Wahrnehmung möglich? Husserl geht es jedoch nicht darum, diese unverkennbare Nähe des Körpers zu den Dingen lediglich zu bestätigen, sondern vielmehr zu fragen, ob vor diesem Hintergrund unseres Anhalts in der Welt eine Erkenntnis von den Dingen überhaupt möglich ist. 82 Die Lösung kann hier jedoch nicht sein, den Leib als trügerischen Widerpart eines reinen, von den Sinnen befreiten Erkennens auszuschalten. Dies würde dem Projekt des ›Rückgangs zu den Sachen selbst‹ nicht gerecht werden, da es diesem Rückgang schließlich darum geht, auf die Erfahrung der Gegenstände im Bewusstsein zu rekurrieren. Dass dieses Bewusstsein in der Welt ist, heißt also, dass es sich diesem beunruhigenden ›Aufeinandertreffen‹ von Selbst und Dingen stellen muss. So spricht Husserl zwar vom Leib auch als »Nullpunkt der Erfahrung« 83. Diese ›Null‹ ist jedoch keine, wie man annehmen könnte, Leerstelle oder ›tabula rasa‹, sondern ein Ort der Überkreuzungen, Berührungen, Verschiebungen und Unschärfe. 84 Als ›Nullpunkt‹ verweist er immer auch in einen Bereich der Negativität und des Unbestimmten. So kann festgehalten werden, dass jede Dingwahrnehmung unauflöslich an einen ›Negativraum‹ gebunden ist. Die Befragung der Dinge betrifft einerseits die konkrete Erfahrung eines Einzelgegenstandes, der jedoch wie die
Den Gedanken der phänomenologischen Reduktion entwickelt Husserl erstmals in: Ders.: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen (1907), (Husserliana, Bd. II), Martinus Nijhoff, Den Haag 1973. 83 Husserl, Ideen II, S. 56. 84 Da es zum Hauptthema dieser Arbeit gehört, sich mit diesem Problem in Bezug auf die Dingwahrnehmung zu befassen, werden diese Aspekte hier nicht weiter vertieft. Es sei jedoch an dieser Stelle auf die umfassende Auseinandersetzung von Bernhard Waldenfels verwiesen, der sich dem Problem der Leiblichkeit ausgehend von Merleau-Ponty genähert hat. Siehe ders.: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M. 1999; Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge, Göttingen 2001; Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt a. M. 2000; Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt a. M., 1980. Eine Einführung in das Thema der Leiblichkeit bietet der von Thomas Bedorf, Emmanuel Alloa, Christian Grüny und Nikolaus Klass herausgegebene Band: Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen 2012 sowie der von Michael Staudigl herausgegebene Band: Gelebter Leib – verkörpertes Leben: Neue Beiträge zur Phänomenologie der Leiblichkeit (Orbis Phaenomenologicus Perspektiven N.F., Band 27), Würzburg 2012. 82
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Welle in Herrn Palomars Betrachtung nicht von seiner Umgebung zu trennen ist, zu der auch der eigene Leib gehört. Die Beobachtung, dass in der Wahrnehmung der Dinge der Leib mit im Spiel ist, verweist somit auf eine ›Rückseite‹ des Bewusstseins, das sich in der Wahrnehmung immer mitwahrnimmt. Das Bewusstsein bzw. jene körperliche Seite des Bewusstseins kann sich in der Wahrnehmung also auch selbst befragen, sofern »der räumlich erfahrene Körper, der mittels des Leibes wahrgenommen wird, der Leibkörper selbst ist« 85. Hier zeigt sich die Widerspenstigkeit des Leibes besonders deutlich, denn »gewisse Körperteile kann ich nur in eigentümlicher perspektivischer Verkürzung sehen, und andere (z. B. der Kopf) sind überhaupt für mich unsichtbar« 86. Während schon die Wahrnehmung der Dinge ein unbehagliches Empfinden hervorrufen kann, wie Herr Palomar schmerzlich erfahren muss, scheint die Selbstwahrnehmung des Leibes dieses Unbehagen zu verstärken. So deutet die Feststellung, dass der Leib sich im genannten Sinne nur bruchstückhaft wahrnehmen kann, auf dessen grundsätzliches Außer-sich-Sein hin. In der Berührung seiner selbst zeigt sich dies auf besondere Weise: Wenn meine rechte Hand meine linke berührt, empfinde ich sie als ein ›physisches Ding‹, aber im selben Augenblick tritt, wenn ich will, ein außerordentliches Ereignis ein: Auch meine linke Hand beginnt meine rechte Hand zu empfinden, das Ding verändert sich, es wird Leib, es empfindet. […] Ich berühre mich also berührend, mein Leib vollzieht ›eine Art Reflexion‹. 87
Was an dieser Beschreibung in Sicht rückt, ist jedoch nicht nur ein Außer-sich-Sein des Leibes, sondern vielmehr, dass dieses Außersich-Sein zugleich eine Art ›Narzissmus‹ ist. Die Selbstberührung, die zugleich eine Fremdberührung ist, zieht die Erfahrung dieser Fremdheit in die Selbsterfahrung zurück: »Ich berühre mich also berührend.« So lässt sich sagen, dass die Leiberfahrung eine paradoxe Erfahrung ist: »Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmung dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege und ist ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding« 88. Husserl, Ideen II, S. 144. Ebd., S. 159. 87 Merleau-Ponty, Maurice: Der Philosoph und sein Schatten, in ders.: Zeichen, Hamburg 2007, S. 233–264, hier: S. 243. 88 Husserl, Ideen II, S. 159. 85 86
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Sofern der Leib als Ausgangspunkt der theoretischen Reflexion vorausgesetzt und, wie Husserl herausstellt, »nicht weniger, aber auch nicht mehr als die Möglichkeitsbedingung der Sache« 89 ist, birgt er das Potenzial eines fundamentalen Wandels epistemischer Ordnungen: »Der Leib ist in der modernen Onto-Anthropologie am Werk wie eine ›Unruh‹, die den Gang der Dinge mit regelt, sich aber andererseits einer eindeutigen Regelung entzieht« 90. Damit die philosophische Reflexion nicht als ein »kleines Werkund Spielzeug« vor der »großen Vernunft« 91 des Leibes zurückbleibt, darf sie der von ihr ausgehenden »Provokation« 92 weder ausweichen noch vor ihr kapitulieren, sondern muss sich vielmehr der Herausforderung stellen, ihre Fragen unter Bezugnahme des leiblichen Anhalts an der Welt in Bewegung zu halten. Für die Frage nach den Dingen ist die ›Provokation‹ des Leibes befruchtend. Dies insofern, als mit ihm die »Architektur des Erkennens« 93, die auf der Scheidung von Sinnlichkeit und Ratio, Welt und Selbst, Subjekt und Objekt, innen und außen, aktiv und passiv gründet, brüchig wird. Der Leib schlägt sich auf keine dieser Seiten, sondern bleibt ein uneinholbares Zwischen: Da »jedes Erscheinen in der Sinnlichkeit geschieht« und »mit dem dichten Schatten des Körpers verbunden« 94 ist, bleibt Wahrnehmung »ein Kontakt auf Distanz und kann sich also nicht als Koinzidenz mit der einmaligen Faktizität des Unreflektierten ausgeben« 95. Diese Zwischenposition ermöglicht es, nach dem Verhältnis zu den Dingen und ihrer Wahrnehmung auf eine Weise zu fragen, in der die Antworten von den Dingen mitgeformt werden. Diese können, sofern der Leib bei der Betrachtung anwesend bleibt, nicht in Begriffskorsagen eingefügt werden, sondern gelangen als erlebtes, beMerleau-Ponty, Maurice: Das Primat der Wahrnehmung, Frankfurt a. M. 2003, S. 263. 90 Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M. 1999, S. 16. 91 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, Krit. Studienausgabe Bd. 4, Berlin 1980, S. 39. 92 Meyer-Drawe, Käte: Der Leib – ›Ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding.‹, in: Jamme, Christoph / Pöggeler, Otto (Hrsg.): Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestag von Edmund Husserl, Frankfurt a. M. 1989, S. 291–307, hier: S. 297. 93 Ebd. 94 Novotný, Karel: Neue Konzepte der Phänomenalität, Würzburg 2012, S. 49 f. 95 Ebd., S. 53. 89
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rührtes, begegnendes, bedeutsames, vergnügliches und erlittenes Anderes in den Blick – oder in Herrn Palomars Worten: »Ein Ding tritt aus der Masse der anderen Dinge hervor, um etwas zu bedeuten« 96. Warum das ›Bedeuten‹ der Dinge nicht in feststehende Konzepte oder Begriffe überführt werden kann, liegt wiederum an der Merkwürdigkeit und Widerspenstigkeit des Leibes, der sich nicht nur als Widerpart der Wahrnehmung, sondern auch als stummer Fürsprecher der Dinge entpuppt. Seine Zwischenposition ist nicht einfach ein verbindendes Drittes, von dem aus sich Objekt und Subjekt sorgfältig auftrennen ließen. Zwar vollzieht er »die Synthesis der wahrgenommenen Welt«, ist hierbei jedoch »kein pures gegebenes und kein passiv hingenommenes Ding« 97. Merleau-Ponty weist hier auf eine entscheidende Bestimmung des Leibes hin, die sich bereits mit den Überlegungen zum merkwürdigen Narzissmus der Berührung andeuteten. Schon in sprachlicher Hinsicht verweist der Leib auf etwas anderes als bloße Körperlichkeit. Während der Terminus Leib auf das mittelhochdeutsche lîp zurückgeht und sowohl Körper als auch Leben meint, klingt im Körper als corpus eine Verwandtschaft mit dem Leichnam an, was im englischen corpse deutlich hervorsticht. Der Leib ist allein als erfahrener Leib, womit er nicht einfach der erfahrene Körper ist. Er widersetzt sich dem Versuch, ihn von einer naturwissenschaftlich verstandenen Körperlichkeit her zu bestimmen und kann nicht als »pures gegebenes« 98 Ding verstanden werden. Aber eben auch nicht als ein »passiv hingenommenes Ding« 99, da er nicht nur die Voraussetzung für die »Erfahrung einer Dingwelt« 100 ist, sondern sein Wahrnehmen von dieser affiziert wird: »Nichts bestimmt mich von außen, aber nicht weil mich nichts in Anspruch nähme, sondern im Gegenteil weil ich selbst schon außer mir bin und der Welt erschlossen bin« 101. So steht der Leib im Wesentlichen für die Erfahrung, dass etwas ankommt, auf uns zukommt, auf das dieser reagiert: »Unsere Sinne
Calvino, Herr Palomar, S. 133. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 279. 98 Ebd., S. 279. 99 Ebd. 100 Husserl, Edmund: Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908– 1921), (Husserliana XXXVI), Dodrecht 2003, S. 133. 101 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 517. 96 97
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befragen die Dinge, und diese antworten ihnen« 102. Für den Leib ist zunächst nicht eindeutig, was genau mit Ding gemeint ist. Vielmehr deutet sich in der leiblichen Wahrnehmung eine Polysemie des Dinges an, die sich für Heidegger in der vieldeutigen Rede vom Ding ausdrückt.
Vieldeutige Rede vom Ding Bis auf die Ausnahme eines Pantoffels sind die Dinge, denen sich Herr Palomar zuwendet, keine Gebrauchsgegenstände, sondern vorwiegend momenthafte Begebenheiten und situative Konstellationen, wie zum Beispiel das Pfeifen der Amseln, Schildkröten bei der Paarung oder der Mond am Nachmittag, der Bauch eines Geckos, die Sterne am Himmel, ein Sandbeet oder der Lauf der Giraffen. Hier wird eine Polysemie des Dingbegriffs sinnfällig, dessen verschiedene Implikationen sich nach Heidegger wie folgt unterscheiden lassen: »Ding im engeren Sinne meint das Greifbare, Sichtbare u. s. f., das Vorhandene. Ding im weiteren Sinne meint jegliche Angelegenheit, solches, um das es so und so bestellt ist, die Dinge, die in der Welt geschehen, Begebenheiten, Ereignisse« 103. Zwar räumt Heidegger ein, dass unsere gewöhnliche Sicht auf die Dinge diese im engeren Sinne als Vorhandenes versteht. Jedoch ist in philosophischer Hinsicht nicht eindeutig, wovon die Rede ist, wenn von Dingen gesprochen wird. 104 So können hiermit Naturdinge, Artefakte, Sinneseindrücke, Vorstellungen, Ideen oder Ereignisse gemeint sein, womit der Terminus Ding zunächst alles zu umfassen scheint, »was überhaupt und irgendwie etwas ist« 105. Aber auch im alltäglichen Wortgebrauch kann der Dingbegriff in einem weiteren Sinne verwendet werden, wenn beispielsweise ein spontaner Einfall oder etwas Unbegreifliches als Ding bezeichnet werden – man denke hier an Redensarten wie »Das ist ja ein Ding!« oder auch an die FestEbd., S. 369 ff. Heidegger, Die Frage nach dem Ding, S. 5. 104 Siehe hierzu Flasch, Kurt: Ding, in: Ritter, Jörg (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie (Bd. 2), Basel 1972; Nuzzo, Angelica, Ding/Ding an sich; Ding/Eigenschaft, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie (Bd. 1), Hamburg 2010. 105 Heidegger, Martin: Das Ding (1950); in: Vorträge und Aufsätze, Teil II, 3. Aufl., Tübingen 1967, S. 178. 102 103
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stellung, dass etwas »ein merkwürdiges Ding« sei. Diese Vieldeutigkeit des Dingbegriffs weist auf einen ideengeschichtlichen Wandel hin. Dass das ideengeschichtliche Gebäude wiederum vom Alltagsverständnis nicht als hermetisch abgeriegelter Wissensraum getrennt ist, sondern sich mit dem Ding vielmehr zeigt, wie verflochten Wissenschaft, Philosophie und Alltagsbewusstsein sind, deutet sich bereits an, wenn man dem herkömmlichen Verständnis des Dinges als Gebrauchsgegenstand nachgeht. Ein Gebrauchsgegenstand ist für uns ein handgreifliches Vorhandenes, mit dem wir nach Belieben hantieren, es verrücken, abnutzen, reparieren oder wegwerfen können. Auf diese Bedeutungsdimension weist auch die Rückübersetzung von Gegenstand ins lateinische obiectum hin. Ursprünglich bezeichnet dies etwas, »das hingeworfen wurde gegen mich« 106. Dinge sind für uns jedoch nicht allein materielle Gegenstände. Auch das Universum, die Liebe oder ein Unfall können ein Ding genannt werden. Diese Dinge sind dem Alltagsverständnis – aber auch der Wissenschaft und Philosophie – meist ein unlösbares Problem. Auch hier öffnet sich eine weitere Bedeutungsebene des Dinges, die schon im Begriff angezeigt ist. So gelangt man vom Objekt zum Problem: »Griechisch heißt ob-iectum πρόβλημα (pro-blema)« 107. Universum, Unfall und Liebe, aber manchmal auch die einfachsten handgreiflichen Gebrauchsgegenstände können zum Problem werden. Man streitet sich zum Beispiel darüber, ob die Erde sich um die Sonne dreht oder anders herum, der Liebe kann der Streit belebendes oder vernichtendes Element sein, ein Unfall entfacht meist einen Streit darüber, wem die Schuld zukommt und auch die Gebrauchsgegenstände, die wir meist als unseren Besitz deklarieren, können zum Streitfall werden. Bei einem Streit geht es häufig darum, zu dessen Ursache zurückzugehen, in der Hoffnung hier eine Lösung für das Problem zu finden. Hier deutet sich eine weitere Bedeutungsdimension des Terminus Ding an: Sache (lat. causa, franz. chose, span. cosa, engl. cause/thing). Wie angedeutet, schwingt hier schon die Bedeutung der Ursache und damit auch des Zusammenspiels von Ursache und Wirkung mit: Kausalität. Causa,
106 Flusser, Vilém: Kommunikologie weiter Denken. Die Bochumer Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2009, S. 91. 107 Ebd., S. 91.
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die lateinische Rückübersetzung von Sache, meint das, »was der Fall ist« 108. Hier klingt an, dass es nicht nur ein Streiten um die Dinge gibt, sondern vielmehr in der terminologischen Bedeutung des Dinges per se eine Verbindung zum Streit enthalten ist. Im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm heißt es zur Sache: »[…] die älteste bedeutung des wortes wird seiner etymologischen verwandtschaft gemäsz ›streitigkeit, zwist‹ sein. gern wird es bezogen auf den vor dem richter zum austrag kommenden streit [sic!].« 109 Als Streitsache oder Verhandlung verstanden, verweist das Ding wiederum auf die altdeutschen Begriffe thing und dinc, die das nennen, »was den Menschen in irgendeiner Weise anliegt, sie angeht, was demgemäß in Rede steht« 110. Es braucht zu einem Streit mindestens zwei Pole, die einander gegenläufige Positionen vertreten. Im alten Wort thing akzentuiert sich diese Bedeutung. Hier meint Ding Versammlung oder auch Angelegenheit. 111 Der Streit um die Dinge – besonders um die Liebe und das Universum – ist häufig ein Streit um die richtige Vorstellung, wobei meist eingeräumt wird, dass es in der Sache liegt, hier zu keinem endgültigen Ergebnis kommen zu können. Hier klingt eine weitere Bedeutung an, die für die philosophische Frage nach dem Ding entscheidend ist: das Ding als das Unbestimmte und Unbestimmbare. So ist beispielsweise Meister Eckhart das Ding der Name »für etwas, das überhaupt ist« 112. Das, was überhaupt ist, sind bei Eckhart wiederum die Seele und Gott, die beide im dinc genannt werden. Kant überführt, wie schon in der Einleitung erwähnt, eine Seite des Dinges in den Bereich des Noumenalen. Das Ding an sich sei zwar Grundlage allen Erkennens, jedoch der menschlichen Vorstellungskraft entzogen.
Heidegger, Das Ding, S. 177. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. 110 Heidegger, Das Ding, S. 176. 111 Dem heutigen alltäglichen Gebrauch und Verständnis des Wortes lassen sich einige dieser Spuren noch nachweisen, so ist beispielsweise in Sprichwörtern vom Ding als Angelegenheit zu lesen. Geläufige Redensarten sind: »aller guten Dinge sind drei«, »jedes Ding hat zwei Seiten«, »gut Ding will Weile haben«, »krumme Dinger machen«, »über den Dingen stehen« etc., siehe: Duden. Das Stilwörterbuch, Bd. 2, Mannheim 2010, Eintrag zum Ding, S. 242. 112 Heidegger, Das Ding, S. 178. 108 109
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So zeigt schon ein kurzer etymologischer Aufriss, dass die Verwendung des Dingbegriffs für vermeintlich weit voneinander liegende Wirklichkeitsbereiche ideengeschichtlich plausibel ist: »Dinge an sich und Dinge, die erscheinen, alles Seiende, das überhaupt ist, heißt in der Sprache der Philosophie ein Ding« 113. Während im Alltag diese Begriffe unreflektiert nebeneinanderstehen können, ist in philosophischer Hinsicht zunächst einzugrenzen, worüber gesprochen wird, wenn vom Ding die Rede ist. Aber warum soll überhaupt nach dem Ding gefragt werden und damit, wie angedeutet, nach einem Gegenstand, der sich einer eindeutigen Antwort verweigert?
I.2 Nach dem Ding fragen Angesichts der Polysemie des Dingbegriffs erweist sich die Frage danach, was ein Ding ist, als problematisch. Genau besehen kann man mit ihr, wenn sie »im Umkreis dessen, was uns tagtäglich zunächst umgibt und begegnet[,] gestellt« 114 wird, »eigentlich nichts anfangen« 115. Gerade dies weist sie nach Heidegger als genuin philosophisch aus: Unversehens sind wir durch die Kennzeichnung der Frage nach dem Ding zu einer Andeutung über das Eigentümliche der Philosophie gelangt, die jene Frage stellt. Philosophie ist jenes Denken, womit man wesensmäßig nichts anfangen kann. 116
Das Eigentümliche des philosophischen Denkens zeige sich gerade bei unsinnigen Fragen wie der nach dem Ding, womit diese sich als eine metaphilosophische Frage entpuppt. 117 Dies zum einen, weil sie auf die ideengeschichtlichen Implikationen des Dingbegriffs verweist und somit verschüttete Bedeutungsebenen des Dinges – und hiermit des eigenen Denkens – zum Vorschein zu bringen vermag, aber vor allem auch, weil sie ins Licht rückt, worin sich das philosophische und das wissenschaftliche Fragen unterscheidet. Das philosophische Denken zeichne sich im Unterschied zum wissenschaftlichen Vorstellen Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 5. Heidegger, Die Frage nach dem Ding, S. 131. 115 Ebd., S. 2. 116 Ebd., S. 3. 117 Zum Verhältnis von Metaphilosophie und Frage siehe: Fraisopi, Fausto: Philosophie und Frage. Über Metaphilosophie, Freiburg 2016. 113 114
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Nach dem Ding fragen
durch eine besondere Art des Fragens aus, die in der Frage nach dem Ding sinnfällig wird. 118 Zwar ist mit der Frage nach dem ›Was‹ der Dinge nichts anzufangen, da sie so allgemein gestellt zu keinem eindeutigen Ergebnis zu führen vermag: »Ein solches Denken hat kein Ergebnis. Es hat keine Wirkung« 119. Doch gerade dies weist darauf hin, dass Fragen hier kein Mittel ist, um zu einer Antwort zu gelangen, sondern eine Weise, sich zur Welt in ein Verhältnis zu setzen – auch das rechnende Vorstellen setzt sich zur Welt in ein Verhältnis, entscheidend ist jedoch, dass dieses Verhältnis nicht eigens befragt wird: »Die Wissenschaft erforscht nicht das, wovon sie ausgeht, was ihr unbefragter Boden ist« 120. Auch Merleau-Ponty hebt einen grundlegenden Unterschied zwischen philosophischem und wissenschaftlichem Fragen hervor: Die Philosophie ist nicht Wissenschaft, denn die Wissenschaft glaubt ihr Objekt überschauen zu können und hält die Wechselbeziehung zwischen Wissen und Sein für gesichert, während die Philosophie der Inbegriff jener Fragen ist, bei denen der Fragende durch sein Fragen selbst infrage gestellt wird. 121
Was es heißt, sich selbst im Vollzug des Fragens infrage zu stellen, deutete sich in den Bemerkungen zur Leiblichkeit, aber auch denen zur Polysemie des Dinges an. So ist schon das Erinnern der ideengeschichtlichen Spuren, die einer Betrachtung des Dinges anhaften, ein Relativieren der eigenen Position. Dies insofern, als dass hier das vermeintliche Wissen über das Ding nicht als gesicherter Erwerb, sondern als geworden und damit auch veränderbar in Sicht rückt. Die Unschärfe und Vieldeutigkeit des Dingbegriffs ist dann kein Hindernis, das zu überwinden ist, um zu einer klar abgegrenzten Begriffsbestimmung zu kommen, sondern ein Hinweis darauf, dass das 118 Diese Unterscheidung kann jedoch nicht generell für die Philosophie veranschlagt werden, sondern ist vor allem für eine von Husserl ausgehende phänomenologische Denkrichtung, und besonders für Heidegger, von Belang. Husserl weist auf den Unterschied auch in der Krisis-Schrift hin, wo deutlich wird, worauf sich die Kritik am wissenschaftlichen Vorstellen bezieht. Hierbei geht es vor allem um die kritische Auseinandersetzung mit der Mathematisierung der Natur. Siehe ders.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), Hamburg 1996, S. 22 ff. 119 Heidegger, Martin: Über den Humanismus (1949), Frankfurt a. M. 2010, S. 50. 120 Biemel, Walter: Reflexionen zur Lebensweltproblematik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1996, S. 97–131, hier: S. 104. 121 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 47.
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Ding »in verschiedenen Wahrheiten steht« 122. So weist Heidegger darauf hin, dass beispielsweise zwischen einem Tisch 1 und Tisch 2 unterschieden werden könne, wobei der Tisch 1 »der seit der Kindheit bekannte Tisch« und Tisch 2 der wissenschaftliche Tisch sei. 123 Der Tisch kann sowohl physikalischer Gegenstand als auch der Tisch sein, an dem der Erwachsene einst als Kind seine ersten Schreibversuche, das weihnachtliche Plätzchenbacken oder das tägliche Abendbrot erlebt hat. Die erfahrene Wirklichkeit des Tisches ist hier jeweils eine andere. Dem Physiker bedeutet der Tisch vermutlich etwas Anderes als dem, der emotional mit diesem verbunden ist. Und doch würde man deshalb nicht von zwei Tischen sprechen, sondern davon, dass es hierbei um einen Tisch geht, der in unterschiedlicher Weise erlebt werden kann. Eine auf den ersten Blick ebenso banale Einsicht, ähnlich der, dass in der Wahrnehmung der Leib anwesend ist. Diese Banalität verkompliziert sich, wenn es darum geht, nach dem Ding zu fragen. Denn wonach wäre dann hier zu fragen? Nach welchem Tisch? Oder ist nicht die Frage ungenau, da nicht geklärt ist, was mit Ding eigentlich gemeint ist? Den Tisch als Ding anzunehmen würde ja bereits ein spezifisches Dingverständnis voraussetzen, das jedoch zunächst herauszustellen wäre. Folglich muss sich die Frage nach dem Was des Dinges hier in die nach dem Wie des Dinges wandeln, so dass es darum geht, zu fragen, wie der Tisch als Ding ist, nicht ob Tisch 1 eher einer ›Tischwirklichkeit‹ nahekommt als Tisch 2.
Überspringen des Dinges Das Beispiel des Tisches veranschaulicht, wie leicht es ist, die leibliche Erfahrung zu überspringen. Dieses Überspringen verweist wiederum auf die gewordenen Auslegungen des Dinges, die sich in der Auseinandersetzung in den Vordergrund schieben. Bei der Befragung der Erfahrung des Dinges vom Leib aus geht es darum, diese Vorannahmen nicht ungefragt hinzunehmen, sondern zu versuchen, sie einzuklammern. Hierzu ist notwendig, sich diese Vorannahmen zunächst ins Bewusstsein zu heben.
122 123
Heidegger, Die Frage nach dem Ding, S. 11. Vgl. ebd., S. 13.
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Nach dem Ding fragen
Heidegger unterstellt dem abendländischen Denken drei Weisen des Überspringens der Dinge: in der Auffassung, dass das Ding ein Träger von Merkmalen sodann die Einheit des in den Sinnen Gegebenen und schließlich ein Zusammengesetztes aus Stoff und Form ist. 124 Besonders die erste Auslegung, die auf Aristoteles zurückreicht, würde unserer alltäglichen Sicht auf die Dinge entsprechen und könne als dominierende Dingvorstellung angesehen werden. Das Ding ist hier als das, was »weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird noch an einem Zugrundeliegenden auftritt« 125 (hypokeimenon), verstanden. Es ist das Dauerhafte, »das in allem Wechsel der Akzidenzien, im Wechsel der Erscheinungen, unverändert, dauerhaft, beständig da ist« 126. Bezogen auf die Frage, wie es dazu kommt, den Tisch als Ding zu klassifizieren und was dies im Umkehrschluss für die Dingheit des Dinges aussagt, hilft diese Dingbestimmung jedoch nicht weiter. Was das Ding als Ding ausmacht, kann sich so nicht zeigen, da die Bestimmung, ein Träger von Merkmalen zu sein, »jederzeit auf jedes Ding« 127 passt und mehr noch jegliches Seiendes betreffen kann, also auch jenes, von dem wir gemeinhin nicht als Ding sprechen würden: zum Beispiel ein Mensch. Infrage steht jedoch »jenes Eigenwüchsige und Insichruhende« 128 des Dinges. Als Insichruhendes ist das Ding als erfahrenes Ding gegeben. Es geht also darum, nach dem Ding in der Erfahrung zu fragen. Auf den ersten Blick erscheint hier der zweite Dingbegriff (aistheton) naheliegend, der das Ding als Vielheit des in den Sinnen Ge124 An dieser Stelle wird auf eine detaillierte Erörterung zu Heideggers Analyse der drei Weisen das Ding zu überspringen verzichtet. Siehe hierzu: Biemel, Walter: Die Entfaltung von Heideggers Ding-Begriff, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1. Schriften zur Philosophie, Stuttgart 1996, S. 353–378, sowie Held, Klaus: Heideggers Weg zu den ›Sachen selbst‹, in: Coriando, Paola-Ludovika (Hrsg.): Vom Rätsel des Begriffs. Festschrift für Friedrich-Wilhelm von Herrmann zum 65. Geburtstag, Berlin 1999, S. 31–45. 125 Aristoteles, Kategorien, 2a11–11. »Wesenheit ist im eigentlichen Sinne und in unmittelbarster Erfassung und in stärkstem Maße ausgesprochen als die, welche weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird noch an einem Zugrundeliegenden auftritt, z. B. dieser bestimmte Mensch, dieses bestimmte Pferd.« Übersetzung von Hans Günter Zekl, in: Organon. Band 2: Kategorien, Hamburg 1998, S. 9. 126 Gadamer, Hans Georg: Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage, GW8, Tübingen 1993, S. 241. 127 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 9. 128 Ebd.
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Zu den Dingen
gebenen bestimmt: »Was wir ein Ding nennen, ist ein gewisser gesetzmäßiger Zusammenhang von zusammengehörigen Empfindungen« 129. Zwar spielt in der leiblichen Erfahrung des Dinges die Empfindung eine entscheidende Rolle. Jedoch würde auch hier das Dinghafte des Dinges verschwinden, da es buchstäblich zu nahe gedacht ist. Seine Dinghaftigkeit lässt sich nicht in Sinnesreize auflösen: »Zunächst hören wir nie und nimmer Geräusche und Lautkomplexe, sondern den knarrenden Wagen, das Motorrad« 130. Das Ding als das Konglomerat unserer sinnlichen Empfindungen aufzufassen würde bedeuten, dieses zu eliminieren. Der dritte Dingbegriff, also die Vorstellung des Dinges als eines geformten Stoffes bietet auf den ersten Blick einen Ausweg aus den Problemen der ersten beiden. So scheint hier die konkrete Dingerfahrung weder übersprungen werden noch auf jegliches Seiendes bezogen werden zu können. Gleichwohl ist hiermit noch nicht geklärt, was ein Ding als Ding ausmacht. Letztlich könnte auch von einem Baum oder einem Menschen gesagt werden, dass jene aus einem ›Stoff‹ geformt sind. Das Ding, so Heidegger, könne nur dann in Sicht kommen, wenn es von sich selbst her zum Vorschein kommt. Es sei demnach kein Gemachtes oder Bewirktes, sondern ein von sich her Aufgehendes (antikeimenon). 131 Um zu erfahren, »was die Dinge in Wahrheit sind, nämlich nicht ein Material, das gebraucht und verbraucht wird, nicht ein Werkzeug, das benutzt und beiseite gelegt wird, sondern etwas, das in sich Bestand hat und ›zu nichts gedrängt‹ ist« 132, braucht es folglich den richtigen Abstand. 133 Die Inständigkeit des Dinges ist entsprechend nicht mit der Gegenständlichkeit des Gegenstandes zu verwechseln: »Von der Gegenständlichkeit des Gegenstandes und des Selbststandes führt kein Weg zum Dinghaften des Dinges« 134. Hiermit ist wieder auf den Ausgang der Überlegung verwiesen, wo die Frage nach dem Ding als Infragestellung der eigenen Position ausgewiesen wurde. Der Abstand zu den Dingen stellt sich allein
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie (1910), Zürich 1980, Ding. Heidegger, Sein und Zeit, S. 163. 131 Vgl. Heidegger, Martin: Seminare (1951–1973), GA 15, Frankfurt a. M. 1986, S. 375. 132 Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 68. 133 Siehe hierzu das Kapitel V der vorliegenden Arbeit. 134 Heidegger, Das Ding, S. 169. 129 130
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Nach dem Ding fragen
dann ein, wenn auch die Verortung der eigenen Frage-Position nicht als im Vorhinein feststehend, sondern als erklärungsbedürftig gilt. 135
Mit dem Leib nach dem Ding fragen Husserl stellt heraus, dass mit der Wahrnehmung des Dinges gleichsam seine dingliche Umgebung, die Zusammenhänge mit anderen Dingen und Körpern, aufscheine 136 und Merleau-Ponty zufolge sei »das generelle Ding« 137 nur mittels einer Besinnung, bezogen auf unsere Verflochtenheit mit diesem, zu erfassen. Sofern es hier darum geht, nach der erlebten, leiblichen Erfahrung des Dinges zu fragen, hat die Auseinandersetzung darauf zu achten, diese Zusammenhänge nicht aus dem Blick zu verlieren. Wird im Vorhinein zwischen dem Ding als erfahrenem Ding und dem gedachten Ding unterschieden oder zielt die Betrachtung darauf, diese Unterscheidung vorzunehmen, muss die leibliche Erfahrung des Dinges übersprungen werden, da jene einer Trennung von Sinnlichkeit und Ratio widerspricht. Wie mit Herr Palomar gezeigt wurde, findet der Leib, der sich fragend auf die Dinge zubewegt, keine verfügbare Dingwelt vor, sondern ein Feld aus sich zeigendem Sichtbaren. Die Dinge ›antworten‹ auf seine befragende Hinwendung. Vor diesem Hintergrund kann die Frage nach dem Ding vom Leib aus als ein gegenseitiges Befragen verstanden werden. Sie ist als Weise, sich zur Welt in ein Verhältnis zu setzen, dann genaugenommen ein wechselseitiges Ins-Verhältnissetzen von Ding und Fragendem, kein einseitiges. Die Dinge begegnen, »während Substanzen lediglich einfach da oder vorhanden sind, bloß vorkommen« 138. Sie begegnen, wie sich zeigen wird, gerade dadurch, dass sie sich einer finalen Bestimmung entziehen. 135 Mit dem Leib ist für Merleau-Ponty in Bezug auf die Spaltung des wissenschaftlichen Feldes in Empirismus und Intellektualismus die Möglichkeit einer »dritten Dimension« angezeigt. In seiner Schrift für die Kandidatur am Collège de France (1951/ 52) heißt es: »in unserer Arbeit über die Phänomenologie der Wahrnehmung wohnen wir nicht mehr dem Auftreten wahrnehmender Verhaltensweisen bei, sondern richten uns in ihnen ein [nous nous installons en elles], um damit das einzigartige Verhältnis von Subjekt, Leib und Geist gründlicher zu analysieren«. Merleau-Ponty, Schrift für die Kandidatur am Collège de France, in: Ders., Vorlesungen I, S. 402 f. 136 Vgl. Husserl, Ding und Raum, S. 80–82. 137 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 183. 138 Guzzoni, Ute: Unter anderem: die Dinge, Freiburg/München 2008, S. 21. [Herv. im Original]
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In diesem Sinne lässt sich sagen, dass eine Befragung der Dinge vom Leib aus, deren Vieldeutigkeit, Verflochtenheit und Uneindeutigkeit nicht nur miteinbeziehen, sondern zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung machen muss. Das heißt, davon auszugehen, dass Dinge nicht losgelöst von Situationen und Sinnzusammenhängen, in denen sie begegnen, verstanden werden können: »Wollen wir die Dinge nicht als Substanzen, sondern als Dinge betrachten, so haben wir sie in ihrem welthaften Zusammenhang zu nehmen.« 139 Es fragt sich, wie und ob es möglich ist, einerseits die Welthaftigkeit 140 der Dinge nicht zu überspringen, also in der Erfahrungsebene zu bleiben, und zugleich das Ding nicht zu überspringen. Hierin einen Widerspruch zu vermuten, zeigt bereits, wie entscheidend es ist, im Vollzug des Fragens wachsam zu bleiben, denn es könnte sein, dass sich die Trennung von Erfahrungsebene und Ding gerade nicht aufrechterhalten lässt. Entsprechend kann es hierbei nicht darum gehen, positiv zu bestimmen, was z. B. ein Tisch, ein Stuhl oder eine Tasse ist. Vielmehr gilt es, in die Begebenheiten, in denen ein Ding erfahrbar wird, einzutauchen. Doch hier deutet sich abermals ein Dilemma an, dem sich die Betrachtung stellen muss, denn auf die Erfahrung des Dinges zurückzugehen bedarf gleichwohl einer Vorannahme dessen, was Ding meint. Da es aber gerade darum geht, in der Reflexion nicht »das in die Dinge hineinzulegen, was sie später in ihnen zu finden vorgibt«, gilt es, den Gang der Reflexion nicht im Vorhinein festzusetzen, sondern vielmehr die Vorannahme im Vollzug der Reflexion in Bewegung zu bringen und die notwendigen Stationen der Untersuchung mit dem Gegenstand auszuloten. Das bedeutet, offen zu sein für mögliche Abzweigungen, Kreisgänge, Sackgassen oder Stolpersteine. Der Leib als der grundlegende Bezugspunkt unseres Zur-WeltSeins, ist dadurch bestimmt, dass er als erfahrend-erfahrener Leib auf Dinge bezogen ist, von diesen affiziert wird. Das bedeutet, dass sich unser Verhältnis zur Welt nicht unabhängig von den Dingen denken lässt. Die Bedeutung der Dinge liegt für ihn außerhalb ihrer reinen Zweckbestimmungen. Sie sind für ihn Scharnierstelle, an der sich Ebd., S. 26. »Der traditionellen Metaphysik konnte und sollte es nicht um die Dinge in ihrer Welthaftigkeit gehen, nicht um die erfahrenen, erlittenen, erahnten, geliebten oder verabscheuten Dinge, nicht um die Dinge mit denen wir konkret etwas anfangen, die sich in einer gemeinsamen Geschichte mit uns befinden usw.« Guzzoni, Unter anderem: die Dinge, S. 23. 139 140
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Welt und Selbst treffen. Auf diese Verflochtenheit ist Herr Palomar bei seinen Versuchen, die Dinge in den Blick zu nehmen, gestoßen. Doch ist er in diesem Moment bereits in einen reflektierenden Modus gewechselt, der die unmittelbare Erfahrung der Dinge verlassen hat. Wir erfahren die Dinge jedoch nicht erst in der Reflexion, sondern in ihren welthaften Zusammenhängen: sie liegen uns vor Augen, sind uns vielleicht abhanden gekommen, wir können etwas mit ihnen anfangen oder empfinden sie als lästig und störend, wir können sie gebrauchen, sie machen unsere Umgebung zu einer sachlichen, kalten, einschüchternden oder zu einer anheimelnden, vertrauten, gemütlichen usw. 141
Auch wenn, wie gezeigt, in philosophischer Hinsicht zunächst nicht klar ist, was unter den Terminus Ding zu fassen ist, lässt sich sagen, dass sich der Bereich des Fragens im Hinblick auf die leibliche Erfahrung des Dinges insofern eingrenzen lässt, als hier zunächst die Dinge infrage stehen, mit denen wir im gewohnten Umgang zu tun haben und die unserem Sein in der Welt Kontur geben.
I.3 Unsere Welt? – Welthaftigkeit der Dinge Wenn wir im alltäglichen Sinne von der Welt sprechen, verwenden wir hierfür häufig auch das Possessivpronomen ›unsere‹. Wir deuten damit an, dass es hierbei um etwas geht, das nicht nur mittelbar mit uns zu tun hat, sondern unmittelbaren Bezug zu unserem Leben hat. So heißt es auch, dass wir mit der Geburt 142 das ›Licht der Welt‹ erblicken, ›zur Welt gebracht‹ werden und diese mit dem Tod verlassen. 143 ›Welt‹ verweist auch auf eine private Ebene, ›jeder lebt in sei-
Guzzoni, Unter anderem: die Dinge, S. 20. Vgl. Schües, Christina: Philosophie des Geborenseins, Freiburg/München 2008. 143 Auch in der Philosophie ist die Welt traditionell positiv bestimmt, als das, was ist. So meint Welt hier die Summe alles Seienden, den Kosmos. Zum Weltbegriff in der Philosophie siehe: Löwith, Karl: Der Welt-Begriff in der neuzeitlichen Philosophie, 2. Aufl. Stuttgart 1968; Prauss, Gerold: Die Welt und wir (Sprache – Subjekt – Zeit), Stuttgart 1990; Scherer, Georg: Natur oder Schöpfung?, Darmstadt 1990; Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Berlin 1981 sowie ders.: Die Genesis der kopernikanischen Welt, Berlin 1975; Welsch, Wolfgang: Mensch und Welt: Philosophie in evolutionärer Perspektive, München 2012. 141 142
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ner eigenen Welt‹ – und diese ›eigenen Welten‹ können manchmal auch aufeinander ›prallen‹. Zugleich übersteigt ›Welt‹ das einzelne Leben, was schon in der Formulierung ›in die Welt geboren zu werden‹ anklingt. Sie überdauert, so Hannah Arendt, »das tägig bewegte, aufsteigende und wieder verschwindende Leben sterblicher Menschen« 144. Im Kontrast dazu können die Dinge als flüchtig, sich abnutzend und unstet gelten. Dies ist jedoch nicht immer der Fall. Im Gegenteil vermuten wir auch in den Dingen eine gewisse Dauerhaftigkeit. Doch auch die Welt scheint gegen Veränderungen nicht immun zu sein. So sprechen wir in als bedrohlich empfundenen Situationen auch davon, dass ›unsere Welt‹ aus den Fugen geraten ist, erschüttert wurde oder droht einzustürzen. Dies deutet auf eine Doppeldeutigkeit des Weltverständnisses hin, wonach sie einerseits ein das einzelne Leben überdauernder Orientierungs- und Ankerpunkt, aber auch veränderbar und verwundbar ist. Auf eine ›verwundbare‹ Seite der Welt weist auch Rilke hin, wenn er in der Ersten Duineser Elegie davon spricht, »daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt« 145. Auf den ersten Blick mutet diese Formulierung widersprüchlich an, da doch Deutung und Verlässlichkeit aufeinander in komplementärer Weise bezogen sind. So gilt gemeinhin die Formel, dass, was gedeutet, also verstanden, ist, auch verlässlich ist. Bei Rilke steht dieser Zusammenhang jedoch infrage. Demnach befinden wir uns zwar in einer gedeuteten Welt, sie scheint jedoch kein verlässlicher Ort zu sein. Inwiefern diese ambigue Struktur ›unserer‹ Welt in Bezug zum Verhältnis zu den Dingen steht, deutet sich an, wenn man dem alltäglichen Umgang mit den Dingen nachgeht. Dieser gründet sich auf einer Dingvorstellung, die Ausdruck einer »Trennung in Lebendiges (Menschen und Tiere) und Totes (Dinge)« 146 ist. Dinge stellen demnach »in ihrer Gesamtheit das Gebilde von Menschenhand« 147 dar. Hier klingen die oben skizzierten Dingbegriffe an. Als »Gebilde von Menschenhand« wären die Dinge ein Zusammengesetztes aus Stoff und Form oder eine beständige Substanz, die mit unterschiedlichen Merkmalen versehen ist. In dieses Gebilde aus ›gemachten‹ Dingen 144 145 146 147
Arendt, Hannah: Vita Activa. Vom tätigen Leben (1981), München 2013, S. 114. Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien (1923), München 1997, S. 7. Kimmich, Dorothee: Lebendige Dinge in der Moderne, München 2011, S. 12. Arendt, Vita Activa, S. 114.
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würde der Mensch sich als »weltlich und weltbildend« 148 einrichten. 149 Es zeichnet sich ab, dass Welt einmal als Horizont 150 verstanden werden kann, der das einzelne Leben, aber auch das einzelne Ding überdauert und zugleich als etwas, das sich im Umgang mit den Dingen entwickelt und herausbildet. Die ambigue Struktur ›unserer‹ Welt, die nicht so verlässlich ist, wie es scheint, verweist also im Umkehrschluss auch auf eine spezifische Auslegung der Dinge. So lässt sich sagen, dass in der gedeuteten Welt »die Natur in bestimmter Richtung entdeckt« 151 ist. Heidegger spricht auch von einer neuzeitlichen »Eroberung der Welt« 152, die sich ihm zufolge als »uneingeschränkte Gewalt der Berechnung, der Planung und der Züchtigung aller Dinge« 153 äußert: 154 Ein gedeckter Bahnsteig trägt dem Unwetter Rechnung, die öffentlichen Beleuchtungsanlagen der Dunkelheit, d. h. dem spezifischen Wechsel der An- und Abwesenheit der Tageshelle, dem ›Stand der Sonne‹. In den Uhren ist je einer bestimmten Konstellation im Weltsystem Rechnung getragen. Wenn wir auf die Uhr sehen, machen wir unausdrücklich Gebrauch vom ›Stand der Sonne‹, darnach die amtliche astronomische Regelung der Zeitmessung ausgeführt wird. 155
Dieser als gewaltsam empfundene Zugriff auf die Dinge drückt sich auch in folgendem Gedicht Rilkes aus, das als Kritik an der Annahme einer möglichen »Berechenbarkeit von allem, was im Experiment zugänglich und nachprüfbar ist« 156, gelesen werden kann:
Ebd. Siehe hierzu die anschließenden Ausführungen zum Vertrauen in die Verlässlichkeit der Dinge. 150 Für Husserl ist die Welt »der Gesamthorizont möglicher Forschungen«. Husserl, Ideen I, S. 10. 151 Heidegger, Sein und Zeit, S. 71. 152 Heidegger, Martin: Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, S. 87. 153 Ebd., S. 94. 154 Siehe auch Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), Hamburg 1996 sowie Leiss, William: Naturbeherrschung. Die größte politische Tragödie der Neuzeit?, in: Böhme / Manzei (Hrsg.): Kritische Theorie der Technik und der Natur, München 2003. 155 Ebd. 156 Heidegger, Martin: Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens (1967), in: Jaeger / Lüthe (Hrsg.): Distanz und Nähe. Reflexionen und Analysen zur Kunst der Gegenwart, Würzburg 1983, S. 11–23, hier S. 16. 148 149
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Ich fürchte mich so vor des Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus: Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort. Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott. Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um. 157
Das menschliche ›Wort‹, das hier in einem Kontrast zum Gesang der Dinge 158 steht, wird als furchterregend, gewaltsam, übergriffig und einengend umschrieben. In ähnlicher Weise spricht auch Walter Benjamin vom Wort der Wissenschaft, das keinen Raum für eine Sprache der Dinge lasse: Alle die neuentdeckten Planeten spielen in den Horoskopen keinerlei Rolle mehr, und es gibt auch eine Menge neuer Steine, alle gemessen und gewogen und auf ihr spezifisches Gewicht und ihre Dichte hin geprüft, aber sie verkünden uns nichts mehr und bringen auch keinerlei Nutzen. Ihre Zeit mit den Menschen zu sprechen ist vorüber. 159
Die innere Verwandtschaft der angeführten Belege zeigt sich vor allem darin, dass hier ein vorgreifender Entwurf der Welt und die Erfahrung einer eigenen Sprache der Dinge einander gegenüberstehen. 160 An dieser Stelle ist an die Bemerkungen zum Unterschied von wissenschaftlichem Vorstellen und philosophischem Denken zu erinnern und an die Bestimmung der Befragung der Dinge als gegenseitiges Ins-Verhältnis-Setzen. Sofern die Welt als Horizont oder Ganzheit der in ihr gedeuteten Dinge verstanden ist, wäre sie die Voraussetzung, dass uns Dinge erRilke, Rainer Maria: Gedichte 1859 bis 1910, hrsg. von M. Engel und U. Fülleborn, Berlin 1996, S. 106. 158 Zum Orphismus bei Rilke siehe Ziolkowski, Theodore: Die Welt im Gedicht, Würzburg 2010. 159 Benjamin, Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows (1936), in: Ders.: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, Frankfurt a. M. 2007, S. 103–129, hier: S. 116. 160 Siehe hierzu auch der Abschnitt II.3 der vorliegenden Arbeit. 157
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scheinen können. Die Bedeutung der Dinge wäre dann von vornherein darauf zugeschnitten, was innerhalb dieses Horizonts als Ding gilt: »Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, / und hier ist Beginn und das Ende ist dort.« Ein wechselseitiges Verhältnis, so deutet sich an, würde hingegen Abstand brauchen: »Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.« Rilke deutet auf eine andere Möglichkeit, das Verhältnis von Welt und Ding zu denken, hin und weist so einen Ausweg aus dem im Gedicht angesprochenen Problem. In seinem Rodin-Vortrag spricht er von einer »Welthaftigkeit« 161 der Dinge. Hier fragt er: »Wo beginnen die Dinge?« und antwortet: »Die Dinge beginnen mit der Welt; sie sind die Welt« 162. Die Frage danach, wo die Dinge beginnen, hat einen anderen Klang als die danach, was die Dinge sind. Hier deutet sich zwar eine Situierung der Dinge an, was man auch als Feststellung verstehen könnte, aber da die Dinge zugleich mit der Welt beginnen und sie mehr noch sind, lässt sich hier nicht davon sprechen, dass die Dinge lediglich in eine definierte Weltordnung eingefügt werden. So spielt diese Formulierung auf den Vollzug einer Weltbildung in und mit den Dingen an, also auf einen Bereich der Erfahrung. Demnach können Ding und Welt nur in ihrer Bezogenheit aufeinander verstanden werden, womit der Dingbegriff im Sinne des Vorhandenen und der Weltbegriff als Horizont sich als nicht hinreichend erweist. Auch Heidegger versteht Welt nicht als Horizont oder Summe der sich in ihr befindlichen Gegenstände, sondern vielmehr als ein offenes Bezugsganzes. 163 Wie die Dinge sei auch sie »nie ein Gegenstand, der vor uns steht und angeschaut werden kann« 164. In der Achten Duineser Elegie bringt Rilke ebenfalls komplementär zur Welt den Begriff des Offenen in Anschlag: MIT allen Augen sieht die Kreatur das Offene. Nur unsre Augen sind wie umgekehrt […] Vgl. Guzzoni, Unter anderem: die Dinge, S. 23 ff. Rilke, Rainer Maria: Auguste Rodin (1913), Frankfurt a. M. 1984, S. 124. [Herv. im Original] 163 Ebd., S. 132. 164 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 30. Heidegger grenzt sich mit dieser Auffassung sowohl von einem vorkritischen, dogmatischen, als auch von einem kritischen, transzendental-idealistischen Welt-Begriff ab. Vgl. Von Herrmann, FriedrichWilhelm: Heideggers Philosophie der Kunst, Frankfurt a. M. 1980, S. 129 ff. 161 162
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Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag, den reinen Raum vor uns, in den die Blumen unendlich aufgehn. Immer ist es Welt und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine, Unüberwachte, das man atmet und unendlich weiß und nicht begehrt. 165
Mit dem Offenen seien, so Rilke, »nicht Himmel, Luft und Raum«, die »für den Betrachter und Beurteiler, Gegenstand und somit ›opaque‹ und zu« sind, gemeint. 166 Vielmehr deutet sich mit ihm ein Bereich der Unbestimmtheit an, worauf auch Heidegger hinweist, demzufolge das Offene nicht als »Unverborgenheit des Seienden« 167 misszuverstehen sei. Das Offene kann verstanden werden als »[…] die Möglichkeit einer freien Lebendigkeit […]: das selber noch ungestaltete Prinzip, nicht das Fertige, sondern das noch im Werden Begriffene« 168. Folgt man der Annahme, dass mit den Dingen die Welt beginnt und jene als Werdende verstanden sind, ist mit ›Welt‹ kein statisches Bedeutungsgefüge gemeint oder ein »nur eingebildeter, zur Summe des Vorhandenen hinzu vorgestellter Rahmen« 169. Aber auch die Bedeutung der Dinge lässt sich so gesehen nicht von der Summe ihrer möglichen Eigenschaften, die ihnen im welthaften Umgang zukommen, ableiten. Eher kann von einem ›Welten der Welt‹ gesprochen werden, das sich in und mit den Dingen vollzieht. 170 Ding und Welt sind, »was sie sind, im Zusammenspiel mit dem je anderen« 171. Das hiermit angedeutete, dynamische Verhältnis von Ding und Welt findet bei Heidegger und Merleau-Ponty in der Rede vom Inder-Welt-sein und Zur-Welt-sein eine begriffliche Entsprechung. Zwar beziehen sich diese zusammengesetzten Termini auf den Menschen und sein Verhältnis zur Welt, vor dem Hintergrund der vorangehenden Überlegungen ist jedoch zu sagen, dass das Sein-zur-Welt immer schon ein »Sein-unter-den-Dingen« 172 ist. Mehr noch sind die Rilke, Duineser Elegien, S. 39. Zit. in: Betz, Maurice: Rilke in Frankreich. Erinnerungen – Briefe – Dokumente, Wien – Leipzig – Zürich 1938, S. 289. 167 Heidegger, Wozu Dichter?, in: Holzwege, S. 284. 168 Bollnow, Otto Friedrich: Rilke, Stuttgart 1956, S. 166, 168. 169 Heidegger, Ursprung des Kunstwerkes, S. 30. 170 Ebd. 171 Guzzoni, Unter anderdem: die Dinge, S. 25. 172 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 402. 165 166
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phänomenologischen Analysen des In-der-Welt-seins bzw. Zur-WeltSeins auch an eine Revision des Verhältnisses von Ding und Mensch gekoppelt. 173 Analog zu Rilke spricht Merleau-Ponty von der Welt als der »Wiege aller Bedeutung« 174, was jedoch keinen Erwerb an Wissen meint, auf den lediglich zurückzugreifen wäre. Vielmehr hebt er hervor, dass Leib und Welt in einem sich gegenseitig hervorbringenden Verhältnis zueinanderstehen. Demnach ist die Welt nicht, »was ich denke, sondern das, was ich lebe, ich bin offen zur Welt, unzweifelhaft kommuniziere ich mit ihr, doch ist sie nicht mein Besitz sie ist unausschöpfbar« 175. Ohne den Leib dem mit Rilke angedeuteten Bündnis von Welt und Ding überzustülpen, lässt sich sagen, dass das Zusammenspiel von Welt, Ding und Offenem einhergehend mit der Ablehnung eines Verständnisses von Welt und Ding als Besitz oder Erwerb im Leibkonzept einen fruchtbaren Widerklang findet. Schließlich ist dieser nach Merleau-Ponty der Ort, mit und in dem sich die Beziehung von Ding und Welt herausbildet und erhält. Zugleich ist er selbst nicht losgelöst von der Welt, sondern mit ihr ›verquickt‹. Diese »Verquickung mit der Welt« 176 bezeichnet ein fortwährendes Ein- und Ausrichten des Leibes innerhalb der Welt, »die für mich täglich neu beginnt, sobald ich die Augen öffne« 177. Diese Skizzierung weist darauf hin, dass es ›weltlose‹ Dinge vom Leib aus für uns nicht geben kann. Dinge sind entweder eingefügt in die Welt oder unser Umgang mit ihnen ist selbst weltbildend. Welt als gedeutete Welt ist so gesehen immer auch eine Kulturwelt, was sich in Heideggers Beobachtung, dass in unserem alltäglichen Umgang mit den Dingen die Natur in bestimmter Richtung entdeckt ist, widerspiegelt. Hiermit ist die Vermutung, dass die Dinge in der gedeuteten Welt als Substanz oder Konglomerat aus Stoff und Form vorhanden sind, zurückzuweisen. Vielmehr begegnen uns die Dinge immer schon als weltliche, uns vertraute Dinge. Mehr noch bedarf es für gewöhnlich keiner besonderen Aufmerksamkeit, um festzustellen, dass es kaum einen Mo-
173 174 175 176 177
Siehe Heidegger, Sein und Zeit, S. 63–79. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 489. Ebd., S. 14. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 57. Ebd.
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ment gibt, an dem wir nicht mit Dingen zu tun haben: »Die Dinge meiner Umgebung sind meine Bedingung« 178. So sind sie nicht nur mögliches Beiwerk alltäglicher Verrichtungen, sondern für jene konstitutiv. Doch auch die Welt ist allein als erfahrene Welt. Sie lässt sich nicht vergegenständlichen, ist immer schon die bewohnte Welt, in der wir uns einrichten, wobei die Dinge nicht nur Teil dieser Welt sind. Vielmehr vollzieht sich mit ihnen und in ihnen ein ›Einrichten‹ in der Welt, womit sich sagen lässt, dass unser weltliches Zuhause ein Zuhause in den Dingen ist.
178
Flusser, Dinge und Undinge, S. 9.
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II Zuhause in den Dingen
Die Dinge Der Stock, die Geldmünzen, der Schlüsselbund, das gehorsame Schloss, späte Notizen, die die wenigen Tage, die mir bleiben, nicht lesen werden, die Karten, das Schachbrett, ein Buch, zwischen den Seiten das gepreßte Veilchen, Erinnerung an einen Abend so unvergeßlich und bereits vergessen, westlich der rote Spiegel, darin flammt ein Trug von Morgenröte. Wieviel Dinge, Feilen, Schwellen, Atlanten, Becher, Schlüssel, die uns als stumme Sklaven dienen, die blind sind und dazu sonderbar verschwiegen! Wenn wir vergessen sind, werden sie dauern und nie wissen, daß wir gegangen sind. 179
Das Gedicht Die Dinge von Jorge Louis Borges kann als Skizze eines Querschnittes durch die vorangehend skizzierte semantische Dichte der Dinge gelesen werden. Dinge, das sind hier zum einen die handgreiflichen Gebrauchsgegenstände, wie Stock, Schloss, Karten, Buch, Spiegel, Feilen, Atlanten, Becher, Schlüssel. Doch sieht man genauer hin, deuten sich feine Nuancierungen an. Hier ist die Rede von einem Trug von Morgenröte, der im Spiegel ›flammt‹, den späten Notizen, in denen eine Ahnung der Sterblichkeit anklingt, das gepresste Veilchen, in dem die Erinnerung an einen Abend aufbewahrt ist. Das Zusammenspiel aus Gegenständlichkeit und Atmosphäre entfaltet sich aus den Kontrastbegriffen »Schwellen« und »stumme Sklaven«. Dinge sind einerseits das Beständige: »wenn wir vergessen sind, werden sie dauern und nie wissen, daß wir gegangen sind«, aber sie sind auch prismatische Konzentrationspunkte, in denen Stimmungen, Atmosphäre, Augenblickserfahrungen und eine Empfindung von Zeitlichkeit sichtbar werden. Diese hier angedeuteten Nuancen der Dinge
Borges, Jorge Louis: Schatten und Tiger. Gedichte 1966–1972, Frankfurt a. M. 1994, S. 44 f.
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Zuhause in den Dingen
weisen auf ein Zusammenspiel von Wahrnehmungswelt und Gewohnheitswelt hin. 180 Während die Dinge im alltäglichen Umgang meist »nur unter dem Blickwinkel der menschlichen Tätigkeiten, die in, mit oder an ihnen vorgenommen werden können« 181, betrachtet werden, zeichnet das Gedicht ein komplexeres Bild alltäglicher Gegenstände. Zuhause in den Dingen meint dann nicht allein den Aufenthalt in den ›eigenen vier Wänden‹, wobei die Dinge ein Attribut dieses Wohnraums wären, das in diesen eingefügt wurde, sondern vielmehr einen Modus, in dem wir nicht voneinander abgetrennte Gegenstände vor uns haben, sondern immer schon innerhalb eines Zusammenspiels »von Empfindungen, sinnlichen Eindrücken, Verhältnissen« 182 sind, wobei sich unser Umgang mit den Dingen innerhalb dieser Zusammenhänge vollzieht. So deutet die Präposition ›in‹ in der Überschrift Zuhause in den Dingen auf eine Verflechtung des Verhältnisses zu den Dingen und dem Empfinden, zuhause zu sein, hin. In Anlehnung an Heideggers Bestimmung des »In-Seins«, wonach der Mensch als Dasein nicht erst für sich ist und dann »zuweilen die Laune hat, eine ›Beziehung‹ zur Welt aufzunehmen« 183, lässt sich sagen, dass auch das Zuhausesein nicht gelegentlich an einen Umgang mit den Dingen gebunden ist, sondern immer schon ein Sein-in-den-Dingen ist. Wie vielschichtig dieses Sein-in-den-Dingen ist, deutet das vorangestellte Gedicht an. An dieser Stelle vermag lediglich eine Skizzierung dieses komplexen Geflechts vorgenommen zu werden. Zu zeigen ist, dass das Zuhause in den Dingen von einer ambiguen Struktur gekennzeichnet ist. Einerseits sind uns die Dinge vertraut, verlässlich, zuhanden und dienlich. Zugleich, wie schon in den Überlegungen zum Gedicht anklingt, scheint es eine Seite an ihnen zu geben, die nicht in Zweckzusammenhängen aufgeht.
180 Wie dieses Verhältnis verstanden werden kann wird im Verlauf der Auseinandersetzung entfaltet. Siehe hierzu besonders die Kapitel III und IV. 181 Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 21. 182 Guzzoni, Unter anderem: die Dinge, S. 28. 183 Heidegger, Sein und Zeit, S. 57.
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Vertrauen in die Verlässlichkeit der Dinge
II.1 Vertrauen in die Verlässlichkeit der Dinge Das von Rilke im oben zitierten Gedicht beklagte wissenschaftliche Umgrenzen des Dinges nimmt in der alltäglichen Einstellung als Vertrauen in die Verlässlichkeit der Dinge Gestalt an. Hier wird meist davon ausgegangen, dass sie mit den Funktionsweisen, die ihnen aufgeprägt sind, deckungsgleich sind. Doch schon eine kurze Besinnung auf den Begriff des Vertrauens legt nahe, dass dieses von einer ambiguen Struktur gekennzeichnet ist. Im Vertrauen steckt das Wort Trauen. Sich trauen beschreibt einerseits das Eingehen einer partnerschaftlichen Verbindung, die auf dem Versprechen basiert, das Vertrauen des anderen nicht zu verletzen. Zugleich meint sich etwas zu trauen, den Mut zu haben, ein Wagnis einzugehen, also etwas zu tun, dessen Folgen nicht gänzlich erwogen werden können: Es braucht Vertrauen, um sich zu trauen. Das Ungewisse scheint dem Vertrauen immer schon eingeschrieben zu sein. Zwar rückt diese Doppelstruktur gemeinhin in den Hintergrund, was sich in der spontanen Bestürzung über so genannte ›Vertrauensbrüche‹ äußert. Doch bedeutet jemandem oder etwas zu vertrauen stets, sich der Gefahr auszusetzen, dass dieses Vertrauen auch gebrochen werden kann. So lässt sich sagen, dass die Möglichkeit des Bruches im Vertrauen selbst angelegt ist und jenes kein einmal erworbener gesicherter Zustand ist. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein komplexes zeitliches und räumliches Geflecht, dessen Gegenwart sich aus Vergangenem speist und das Zukünftige zu umfassen versucht. Wie diese Einlassung andeutet, ist Vertrauen nicht denkbar ohne ein anderes, dem vertraut wird und das wiederum selbst eine Haltung des Vertrauens entgegenbringt. Vor allem im Horizont menschlicher Bündnisse zeigt sich diese Notwendigkeit des Anderen. Aber auch im Gottvertrauen ist Vertrauen durch seine Bezogenheit auf etwas gekennzeichnet sowie in der Rede davon, sich selbst zu vertrauen oder einer Situation zu vertrauen. Hier deutet sich eine intentionale Struktur der Vertrautheit an. Diese Struktur besagt auch, dass das Vertrauen auf die Antwort des Vertrauten angewiesen ist – ganz gleich, ob es sich hierbei um ein menschliches Gegenüber, eine Begebenheit oder etwas Göttliches handelt. So liegt es nahe, auch von einem Vertrauen in die Dinge zu sprechen. Zugleich ist fraglich, ob die Dinge vertraut sein können, da dies im eben genannten Sinne bedeuten würde, dass von ihnen etwas zurückkommt, das die Struk59 https://doi.org/10.5771/9783495825228 .
Zuhause in den Dingen
tur einer Antwort hätte und es obendrein hieße, dass sie das Vertrauen verletzen oder enttäuschen könnten. Entsprechend gilt es im Folgenden zu fragen, inwiefern und ob mit den Dingen eine Ambiguität des Vertrauens sinnfällig wird. Im alltäglichen Umgang haben wir es mit Kulturgegenständen 184 zu tun. Diesen ist das menschliche Tun buchstäblich aufgepfropft. Das Ding ist hier von »einer menschlichen Atmosphäre« umgeben: »Ich habe nicht nur eine physische Welt, lebe nicht nur in einer Umwelt von Erde, Luft und Wasser, mich umgeben Wege, Forste, Dörfer, Straßen, Kirchen, Werkzeuge, eine Klingel, ein Löffel, eine Pfeife« 185. In diesem Sinne kann mit Benjamin davon gesprochen werden, dass der Wohnraum »den Abdruck seines Bewohners« 186 trägt. So vermutet man in den Dingen für gewöhnlich eine stabile Einrahmung alltäglicher Beschäftigungen. Hier gehen wir davon aus, dass sie nicht die von uns zugewiesenen Positionen verlassen. Ganz gleich, ob wir uns im Wach- oder Schlafzustand befinden oder den Blick von ihnen abwenden, verlassen wir uns darauf, dass beispielsweise ein Stuhl am Nachmittag noch da steht, wo er am Vormittag abgestellt wurde oder ein Buch am Morgen noch genauso neben dem Bett liegt, wie es am Abend zuvor abgelegt wurde: »Auch, wenn ich die Augen schließe oder den Kopf wende, oder wenn es dunkel geworden ist, scheint mir das Vorhandensein der Dinge meiner Umwelt gewiß, unabhängig von mir und davon, daß ich sie sehe« 187. Diese Auffassung deutet insofern bereits auf eine Doppelseitigkeit des Vertrauens hin, als dass hier eine Verlässlichkeit der Dinge angenommen wird, die jedoch nicht allein davon abzuhängen scheint, dass wir uns mit ihnen beschäftigen, sie wahrnehmen oder gebrauchen. So wird davon ausgegangen, dass die Dinge auch unabhängig von unseren Verweisungsbezügen da sind. Es scheint gleichgültig zu sein, ob wir in spezifischen Gebrauchszusammenhängen ›aktiv‹ auf die Dinge ausgerichtet sind oder ob wir uns in einem ›Modus der Passivität‹ befinden. Mit ›aktiv‹ wären die Merleau-Ponty bezeichnet nicht nur Dinge als Kulturgegenstände, sondern auch den Leib und die Sprache. Siehe ders. Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 398 ff. 185 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 398. Auffällig ist die Ähnlichkeit dieses Abschnitts in der Phänomenologie der Wahrnehmung zu Heideggers Ausführungen zur Alltäglichkeit in Sein und Zeit. Merleau-Ponty spricht hier auch vom Man und von Werkzeugen ohne allerdings Heidegger explizit zu nennen. 186 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, GS V, I, Frankfurt a. M. 2006, S. 291 f. 187 Grote, Bernhard: Die Welt der Dinge, Hamburg 1948, S. 10. 184
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Vertrauen in die Verlässlichkeit der Dinge
Modi gemeint, in denen wir direkt darauf bedacht sind, mit den Dingen etwas zu bewirken, zum Beispiel sich auf den Stuhl zu setzen, um mit dem Messer das Brot zu schneiden, das auf dem Tisch liegt. ›Passiv‹ würden wir die Dinge in Gebrauch nehmen, wenn wir uns indirekt auf ihre Verlässlichkeit stützen: zum Beispiel im Schlaf, beim Lesen, beim Fernsehen oder beim Blick aus dem Fenster. Auch hier ist es nötig, sich auf die Dinge verlassen zu können, wozu, wie im ›aktiven Modus‹, ebenfalls gehörte, dass diese, je besser sie ihre Dienste erfüllen, desto mehr in den Hintergrund rücken: Ist das Fenster zu schmutzig, um durch es hindurch zu sehen, stört es und geht in diesem Moment nicht mehr im Gebrauchszusammenhang auf. Auch wenn die Unterscheidung von ›aktiv‹ und ›passiv‹ auf den ersten Blick naheliegend scheint, ist sie in Frage zu stellen, suggeriert sie doch, dass sich im ersten Fall ›bewusst‹ auf die Dinge ein- oder ausgerichtet wird, während die ›passiven Modi‹ sich ›unbewusst‹ abspielten. Doch auch der Gebrauch der Dinge im Wachzustand kann als ein »Automatismus der Wahrnehmung« 188 interpretiert werden. Victor Sklovskij führt dies anhand eines Tagebucheintrags Tolstois beispielhaft vor: Ich war dabei, in meinem Zimmer aufzuräumen, und als ich bei meinem Rundgang zum Sofa kam, konnte ich mich nicht mehr erinnern, ob ich es saubergemacht hatte oder nicht. Weil diese Bewegungen gewohnt und unbewußt sind, kam ich nicht darauf und fühlte, daß es unmöglich war, sich noch daran zu erinnern. 189
Der Modus, in dem sich dieses Zusammenspiel von Mensch und Ding vollzieht, kann mit Bernhard Grote als eine »unaufdringliche Verdecktheit automatischen Ablaufs« 190 bezeichnet werden. Allein diese »unaufdringliche Verdecktheit« ermögliche einen reibungslosen Umgang mit den Gebrauchsgegenständen, wobei es gerade nicht darauf ankomme, »ob ich auf sie besonders achtsam und mit ihnen betrachtend, denkend, fühlend, wollend beschäftigt bin oder nicht« 191. Anders gesagt brauchen »die Vorstellungen von dem, was zum Ding gehört, und von denen auf die Erscheinung des Dinges hin das Ver188 Sklovskij, Victor: Kunst als Verfahren (1916), in Striedter, Jurij (Hrsg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1971, S. 5–35, hier: S. 13. 189 Zit. n. Sklovskij, Kunst als Verfahren, S. 13. 190 Grote, Die Welt der Dinge, S. 96. 191 Husserl, Ideen I, S. 57.
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halten zu ihm getragen wird, nicht irgendwie dabei in Sicht kommen« 192. Das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Dinge ist demnach daran gebunden, dass diese im Vollzug alltäglicher Handlungen nicht eigens in Sicht rücken. So wird man »normalerweise auch ohne besondere Überlegung von vornherein nicht darauf verfallen, einen Füllfederhalter als Hausschlüssel zu verwenden« 193. Auch Gegenstände, die über eine »hohe innere Komplexität« verfügen, wie zum Beispiel ein Auto oder technische Geräte, sind »durch dicke Schichten« der Gewöhnung verdeckt. 194 Heidegger akzentuiert die Besonderheit des alltäglichen Umgangs mit den Dingen, indem er nicht von Dingen, sondern von ›Zeug‹ spricht. Er erinnert hiermit an den altgriechischen Terminus πράγματα, was das meint, »womit man es im besorgenden Umgang (…) zu tun hat« 195. Während die Griechen ihm zufolge den »spezifisch ›pragmatischen‹ Charakter der πράγματα im Dunkeln« ließen und »sie ›zunächst‹ als ›bloße Dinge‹« bestimmen, betont Heidegger einen Unterschied von Zeug und Ding. Bezeichne das »Dinghafte des Dinges, jenes Eigenwüchsige und Insichruhende« 196, liege das »Zeughafte des Zeuges« in dessen »Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit und Handlichkeit« 197 begründet. Entscheidend ist, dass die Gebrauchsvollzüge, gerade weil sie unthematisch bleiben, für die Zuhandenheit des Zeugganzen konstitutiv sind. 198 Erst das Aufgehen in den Verweisungsbezügen begründe eine »Vertrautheit mit Welt«, in der sich »das Dasein an das innerweltlich Begegnende verlieren« kann. 199 Das Vertrauen in die Dinge geht also notwendig mit einem ›Vergessen‹ der Dinge einher, was sich auch im Tolstoi-Zitat andeutet, wenn er davon spricht, dass er sich nicht mehr erinnern könne, ob er das Sofa bereits »saubergemacht hatte oder nicht«. Die Verlässlichkeit der Dinge erhält und aktualisiert sich im Gebrauch, in dem diese in der Struktur des Um-zu – also als Zuhandenes – verhaftet sind, womit auch auf einen inneren Zusammenhang der 192 193 194 195 196 197 198 199
Grote, Die Welt der Dinge, S. 95. Ebd., S. 96. Flusser, Dinge und Undinge, S. 7. Heidegger, Sein und Zeit, S. 68. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 9. Heidegger, Sein und Zeit, S. 68 Vgl. ebd., S. 76. Ebd.
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Vertrauen in die Verlässlichkeit der Dinge
Dinge verwiesen ist: »Ein Zeug«, so Heidegger, »›ist‹ strenggenommen nie«. Vielmehr sei es »immer aus der Zugehörigkeit zu anderem Zeug: Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch, Lampe, Möbel, Fenster, Türen, Zimmer« 200. Der alltägliche Umgang mit den Dingen bezeichnet demnach ein »In-Bezug-stehen«, also ein »Sichaufhalten-bei und ein Mitgehen-mit den Gegebenheiten: d. h. ein Sein, das immer schon in einem Verweisungszusammenhang steht« 201. Hiermit lässt sich sagen, dass die Dinge im alltäglichen Umgang nicht als Substanz oder Konglomerat aus Stoff und Form vorhanden sind. Sie sind keine leblose Materie, der nachträglich verschiedene Attribute angehängt werden. Vielmehr sei nach Heidegger die erste Seinsweise der Dinge, dass diese als »Zuhandenes« in Gebrauchszusammenhängen stehen: Die Seinsart des Seienden ist die Zuhandenheit. Sie darf jedoch nicht als bloßer Auffassungscharakter verstanden werden, als würden dem zunächst begegnenden ›Seienden‹ solche ›Aspekte‹ aufgeredet, als würde ein zunächst an sich vorhandener Weltstoff in dieser Weise ›subjektiv‹ gefärbt. 202
Vor diesem Hintergrund scheint es naheliegend, von einer Passivität zu sprechen, die dem aktiven Umgang mit den Dingen eingeschrieben ist. Hierauf deuten auch Formulierungen, wie die von Grote und Heidegger hin, in denen von Vorstellungen die Rede ist, die im Gebrauch der Dinge nicht in Sicht zu kommen brauchen (Grote), oder von unthematischen Verweisungsbezügen, in denen das Dasein benommen sei (Heidegger). 203 Dass hiermit die Unterscheidung von ›passiv‹ und ›aktiv‹, die in derjenigen von Schlaf- und Wachmodus eine Entsprechung findet, zurückzuweisen ist, liegt nahe. Entscheidend ist jedoch, dass sie nicht nur zurückzuweisen ist, weil dem Wachzustand Momente der Passivität eingeprägt sind. Vielmehr ist darauf hinzuweisen, dass der Unterscheidung von ›aktiv‹ und ›passiv‹ das Verständnis einer Dichotomie von Bewusstsein und An-sich-Sein der Dinge zugrunde liegt. Diese Unterscheidung erEbd., S. 68. Aum, Pil S.: Wege zum Ding. Heideggers hermeneutische Phänomenologie des Dingseins, Wuppertal 2007, S. 29. 202 Heidegger, Sein und Zeit, S. 71. 203 Bei Merleau-Ponty heißt es ähnlich: »Beständig benommen von der Welt, gelingt es uns schwer, uns von ihr zu lösen […].« Ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 23. 200 201
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Zuhause in den Dingen
weist sich jedoch im Hinblick auf den Zusammenhang von Leib, Welt und Dingen als unzureichend. 204 Von dort aus lässt sich sagen, dass in den Bezugnahmen auf die alltäglichen Gegenstände eine Ebene, die der Unterscheidung von ›aktiv‹ und ›passiv‹ vorangeht, wirkt. Das Dingvertrauen konstituiert sich, so gesehen, nicht im thetischen Akt eines den Dingen gegenüberstehenden Bewusstseins. Vielmehr ist mit dem Leib, wie gezeigt, jenes Bewusstsein stets perzeptives Bewusstsein 205, das heißt in den Dingen und im Leib verankertes Bewusstsein.
II.2 Einwohnen des Leibes in den Dingen Wenngleich es auf den ersten Blick naheliegend scheint, den gewohnheitsmäßigen Umgang mit den Dingen als einen ›Automatismus der Wahrnehmung‹ zu identifizieren, greift dies im Hinblick auf das leibliche Verhältnis zu den Dingen zu kurz. Vom Leib ausgehend ist der gewohnheitsmäßige Umgang mit den Dingen nicht das automatische Wiederholen einer einst gelernten Tätigkeit. Vielmehr ist es ein »Wissen, das in den Händen ist, das allein der leiblichen Betätigung zur Verfügung steht, ohne sich in objektive Bezeichnung übertragen zu lassen« 206. Dieses »Wissen« bezieht sich sowohl auf unser Verhältnis zu den Dingen als auch zu unserem Leib. Wie wir wissen, »wo sich jedes unserer Glieder befindet, im Wissen einer Vertrautheit, die uns nicht eine Stelle im objektiven Raum gibt« 207, sind uns auch die Dinge keine ›äußerlichen Objekte‹ des Leibes. Exemplarisch zeigt sich dies am Verhältnis zum Blindenstock: »Ist der Stock zum vertrauten Instrument geworden, so weicht die Welt der Gegenstände zurück und beginnt nicht mehr an der Haut der Hand, sondern erst am Ende des Stockes« 208. In diesem Sinne bezeichnet Merleau-Ponty die Gewohnheit auch als »Ausdruck unseres Vermögens, unser Sein zur Welt zu erweitern« 209. Diese Erweiterung ist keine Eroberung und Absteckung neuer Territorien, sondern ein permanentes ›Einwohnen‹ des Leibes 204 205 206 207 208 209
Siehe hierzu auch Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 400 ff. Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 398. Ebd., S. 174. Ebd. Ebd., S. 182. Ebd., S. 173.
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Einwohnen des Leibes in den Dingen
in den Dingen: »nicht also dürfen wir sagen, unser Leib sei im Raume, wie übrigens ebenso wenig, er sei in der Zeit. Er wohnt Raum und Zeit ein« 210. Dass die Erinnerung an das Saubermachen des Sofas abhandenkommt, wäre demnach kein Resultat eines Automatismus, sondern vielmehr ein Beleg dafür, dass das Sofa und die Bewegung im gewohnten Raum kein vom Ich losgelöstes Element sind, wonach sich dem Sofa in der Bewegung genähert würde. Vielmehr sind Zimmer und Sofa in den Hintergrund gerückt, weil sie zum Umkreis und zu einer Sinneszone des Leibes geworden sind: Die Orte des Raumes bestimmen sich nicht als objektive Positionen im Verhältnis zur objektiven Stelle unseres Leibes, sondern zeichnen um uns her die wandelbare Reichweite unserer Gesten und Abzweckungen in unsere Umgebung ein. 211
Unsere Bewegung in den Dingen vollzieht sich demnach nicht als eine Abfolge verschiedener nachträglich zusammengefügter Einzelschritte. Vielmehr lässt sich mit Merleau-Ponty sagen, dass die Dinge uns im alltäglichen Gebrauch buchstäblich auf den Leib gerückt sind. Dies insofern, als dass sie nicht nur Teilhaber unserer Gesten und Bewegungen sind, sondern vielmehr an der »Voluminosität des eigenen Leibes teilhaben« 212. Die Räumlichkeit des Leibes 213 sei nicht die einer »Positionsräumlichkeit«, sondern »Situationsräumlichkeit«: Auf meinen Leib angewandt, bezeichnet das Wort ›hier‹ nicht eine im Verhältnis zu anderen Positionen oder zu äußeren Koordinaten bestimmte Ortslage, sondern vielmehr die Festlegung der ersten Koordinaten überhaupt. 214
In den Dingen zuhause sein, in ihnen wohnen, sich auf sie zu verlassen bedeutet demnach, sich fortwährend in ihnen zu engagieren und zu orientieren. Der vertraute Umgang spiegelt folglich nicht das Ausführen einer einst erlernten Tätigkeit wider und ist kein Rückgriff auf einen einmal erworbenen Wissensbestand, sondern eine sich stets von neuem vollziehende Bewegung in den Dingen: »Endlich ist Ebd., S. 169. [Herv. i. Orig.] Ebd., S. 173. 212 Ebd. 213 »Leib sein, so sahen wir, heißt an eine bestimmte Welt geheftet sein, und unser Leib ist zunächst im Raum: er ist zum Raum.« Ebd., S. 178. 214 Ebd., S. 125. 210 211
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Zuhause in den Dingen
mein Leib für mich so wenig nur ein Fragment des Raumes, daß überhaupt kein Raum für mich wäre, hätte ich keinen Leib« 215. Zwar ist es möglich, sich innerhalb des Raumes einzelnen ›Punkten‹ zuzuwenden, diese sind jedoch allein im Zusammenhang mit einer »Erfahrungsverkettung« 216 gegeben und stehen zunächst nicht für sich. Für das Einwohnen des Leibes in den Dingen kommt der Bewegung eine besondere Rolle zu: »Der Erwerb einer Gewohnheit ist die Erfassung einer Bedeutung, aber die motorische Erfassung einer Bewegungsbedeutung« 217. Die Bewegungserfahrung ist für das Verständnis der leiblichen Gewohnheit entscheidend und verweist zugleich auf die eingangs gestellte Frage, inwiefern von einer Doppelseitigkeit des Vertrauens in die Verlässlichkeit der Dinge gesprochen werden kann. So heißt es bei Merleau-Ponty, dass die Bewegungserfahrung uns »eine Weise des Zugangs zur Welt und zu Gegenständen« eröffnet, »die es als eigenständig, ja vielleicht als ursprünglich anzuerkennen gilt«. 218 Und weiter: »Mein Leib hat seine Welt oder begreift seine Welt, ohne erst den Durchgang durch ›Vorstellungen‹ zu nehmen oder sich einer ›objektivierenden‹ oder ›Symbol-Funktion‹ unterordnen zu müssen« 219. Die Andeutung, dass sich in der Bewegungserfahrung des Leibes ein ursprüngliches Weltverhältnis ausdrückt, ist entscheidend. So ist der oben zitierte Ausspruch Merleau-Pontys, dass mit dem Leib die Welt täglich neu beginnt sobald ich die Augen öffne, eine Absage an die Annahme, dass unser Verhältnis zu den Dingen sich innerhalb einer fertigen Ordnung abspielt. Im Gegenteil versteht Merleau-Ponty diese ›Ordnung‹ als eine Ordnung im Vollzug, wobei sich dieser Vollzug zwischen Dingen und Leib figuriert. Der Leib »ist sowohl in der Welt als auch zur Welt, er hält sich im Raum auf, verhält sich jedoch stets dazu, er ist raumgreifend, stiftet aber auch einen Umraum. […] Er ist immer ge- und erlebter Leib« 220. Diesbezüglich erweist sich Calvino erneut als aufmerksamer Beobachter unseres Verhältnisses zu den Dingen. So spricht er in seiner
Ebd., S. 127. Ebd. 217 Ebd., S. 172. 218 Ebd., S. 170. 219 Ebd., S. 169–172. 220 Kristensen, Stefan: Maurice Merleau-Ponty – Körperschema und leibliche Subjektivität, in: Alloa, Bedorf et. al., Leiblichkeit, S. 23–37, hier: S. 24. 215 216
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Einwohnen des Leibes in den Dingen
Auseinandersetzung mit dem »Hinausschaffen des Mülls« 221 davon, dass das Leben in der Küche auf »einem musikalischen Rhythmus« 222 beruhe. Die Bewegungen, die sich im Küchenraum inmitten der Dinge vollziehen, seien »wie bei Tanzschritten« 223 miteinander verbunden. Die Bewegung ist demnach keine Abfolge einzelner unverbundener Schritte, sondern eine dynamische Verflechtung des Leibes in den Dingen. Die leibliche Bewegung in den Dingen als Tanz zu verstehen deutet auf die feineren Nuancen des Zusammenspiels von Dingen und Welt hin, auf die einleitend in Bezug auf das Gedicht von Borges hingewiesen wurde. Ein Tanz lässt sich nicht dadurch bestimmen, seine einzelnen Schritte aufzutrennen. Dies würde bedeuten, den Bewegungsfluss zu unterbrechen und ihm seine Lebendigkeit zu nehmen. Er ist allein als erlebte Erfahrung: als ein Zusammenspiel aus rhythmischen Übergängen, ein Einstimmen auf eine bestimmte Atmosphäre, ein Einlassen auf Klänge. Die Bewegungen zu zerteilen, hieße ihn im Sinne Rilkes so anzurühren, dass er »starr und stumm« wird. Sein Beginn ist nicht ›hier‹ und das Ende ›dort‹. Er ist vielmehr stets ganz der Ort, an dem er gerade ist, mit seinen Bewegungen wechselt auch dieser Ort. Der Tanz ist hier also nicht allein ein beliebiges Bild, das Verhältnis zu den Dingen zu umschreiben. Vielmehr ist die Erfahrung des Tanzes ein besonderes Beispiel, in dem unser leibliches Verhältnis zu Raum, Zeit, Dingen und Welt anschaulich wird. 224 Für den Modus des Zuhause-seins ist kennzeichnend, dass die Dinge, je besser sie sich in die Gebrauchszusammenhänge einfügen, umso weniger beachtet werden. Das Vertrauen in ihre Verlässlichkeit basiert auf einer gleichzeitigen Verfügbarkeit und ›Unsichtbarkeit‹ der Dinge. Der Hintergrund für dieses Zusammenspiel erweist sich als eine wechselseitige Beziehung von Leib und Ding: »Seinen Leib bewegen heißt immer, durch ihn hindurch auf die Dinge abzielen, ihn einer Aufforderung entsprechen lassen, die an ihn ohne den Umweg über irgendeine Vorstellung ergeht« 225. 226 Calvino, Italo: Die Mülltonne und andere Geschichten, München 1997, S. 77. Ebd. 223 Ebd. 224 Hierzu siehe Fischer, Miriam: Denken in Körpern. Grundlegung einer Philosophie des Tanzes, Freiburg i. Br. 2010. 225 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 168. 226 Zur Appellstruktur der Dinge siehe Abschnitt IV.1 der vorliegenden Arbeit. 221 222
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Zuhause in den Dingen
Die Bewegung in den Dingen als Tanz verstanden ist nicht die Abfolge einer feststehenden Choreographie. Dies würde bedeuten, die Verbindung zur Welt, zum Leib und zu den Dingen zu verlassen und sie aus einer künstlichen Distanz zu betrachten – es wäre dann das Studium einer Choreographie, nicht aber ihr Vollzug. Das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Dinge, das Empfinden einer Geborgenheit, ist erlebte, ausgeführte und sich formierende Choreographie zugleich. Diese ist hier Entwurf und Ausdruck unseres leiblichen Zur-Welt-seins. Gewohnheit, in der die Dinge zu einer Sinneszone des Leibes geworden sind, ist so gesehen kein starr umgrenztes Feld, sondern ein offenes Bezugsgeschehen. Wie beim Tanz ist in jenem offenen Bezugsganzen die Möglichkeit enthalten, hinfallen zu können, aus dem Takt zu kommen, sich zu verletzen oder der Erschöpfung anheim zu fallen. Zwar ist es oft ein Leichtes, ein Ding zu reparieren, wenn es nicht mehr reibungslos funktioniert oder für dieses Ersatz zu finden, wenn es abgenutzt oder defekt ist. So bleibt das ›gewohnte Ding‹ auch bei Störungen alltäglicher Abläufe in einen umfassenden Verweisungszusammenhang eingebettet. Zugleich öffnet sich in jenen Momenten, in denen sich die Dinge nicht länger als verlässliche Stützen unseres Zur-Welt-seins geben, das dichte Geflecht der Vertrautheit. Vor allem in literarischen Referenzen klingt eine Erfahrung an, in denen die gedeuteten Dinge sich als widerspenstiges Anderes entpuppen und der Annahme, dass man sie »ohne Maß, ohne Grenze, ausspähen, ausforschen, ausbeuten« 227 könne, trotzen. Zwar könnte man der Literatur unterstellen, dass sie die Störungsmomente der Dinge lediglich fingiert. In Bezug auf die hier eingeschlagenen Überlegungen ist jedoch zu sagen, dass sie das Problem der Störungsmomente gerade in ihren Übertreibungen besonders deutlich herausstellt und einen Zugang zur ›Rückseite‹ unseres gewohnten Umgangs mit den Dingen ermöglicht. Dies besonders, da im Umkreis des alltäglichen Umgangs, der als Einwohnen des Leibes in den Dingen bestimmt wurde, das Band zu den Dingen in Momenten der Störung nicht durchtrennt wird, sondern es einer Abstandnahme bedarf, um jenen nachzugehen. Die Literatur ›zoomt‹ so gesehen einerseits aus der alltäglichen Nähe heraus und ermöglicht durch den gewonnenen Abstand wiederum eine Annäherung an die oben gestellte Frage, ob 227 Kästner, Erhart: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen, Frankfurt a. M. 1973, S. 161.
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Vertrauensbruch der Dinge
von den Dingen etwas zurückkommt, das man als Antwort identifizieren kann, womit von einer Ambiguität des Vertrauens gesprochen werden könnte.
II.3 Vertrauensbruch der Dinge Zu Beginn des Kapitels wurde das Gedicht Die Dinge von Borges zum Anlass genommen, sich der hiermit angedeuteten semantischen Dichte der Dinge vor der Folie unseres Umgangs mit ihnen anzunähern. Einerseits ist jener von einem Vertrauen in die Verlässlichkeit der Dinge getragen. Diesem Modus sind wiederum Momente der Störung eingeschrieben, so dass naheliegend ist, von einem ›Vertrauensbruch der Dinge‹ zu sprechen. Dies würde jedoch keine Aufhebung oder eine reine Negation des vertrauten Umgangs bedeuten, sondern vielmehr auf eine Doppelseitigkeit des Zuhause-seins verweisen. So lässt sich mit Benjamin sagen, dass das Zuhause als »Futteral des Menschen« 228 einerseits »den Abdruck seines Bewohners« 229 trägt und Geburtsstätte ›ungezähmter Dinge‹ ist, die seine Bewohner »sacht aber beharrlich von sich ab[stoßen]« 230. Benjamin spricht diesbezüglich auch von einem ›Schwinden der Wärme aus den Dingen‹. 231 Hier deutet sich an, was Erhart Kästner einen Aufstand der Dinge nennt. Dieser schreibt den Dingen die Fähigkeit der Selbstbestimmung, des Fühlens und des Wollens zu: Die Dinge für grenzenlos unterdrückbar, rechtlos, willenlos, fühllos und unbedürftig der Selbst-Bestimmung zu halten, das kann bloß, wer meint, daß sie weder Leben noch Macht hätten. Sie haben sie. 232
Mit der Annahme einer ›Eigenmacht der Dinge‹ ist Kästner nicht allein. Vielmehr rahmt sein Kommentar eine Vielzahl an Zeugnissen ein, in denen ein Eigenleben der Dinge thematisiert wird. Exemplarisch spricht Ernst Bloch davon, dass die wirkliche Bedeutung der Dinge gerade nicht in den menschlichen Bestimmungen liegt: Benjamin, Das Passagen-Werk, S. 292. Ebd. 230 Ebd. 231 Benjamin, Walter: Einbahnstraße. Berliner Kindheit um 1900, Frankfurt a. M. 2011, S. 24. 232 Kästner, Aufstand der Dinge, S. 160–161. 228 229
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Zuhause in den Dingen
Man kennt nur die Vorderseite oder Oberseite ihrer technischen Dienstwilligkeit, freundlichen Eingemeindung; niemand weiß auch, ob ihre (oft erhaltene) Idylle, Lockung, Naturschönheit das ist, was sie verspricht oder zu halten vorgibt. 233
Das wahre Gesicht komme dann zum Vorschein, wenn wir uns von ihnen abwenden und sie nicht dem ordnenden Blick menschlicher Zuschreibungen unterworfen sind. Derartige Überlegungen können als Kritik an der Vorstellung, dass die Bedeutung der Dinge in ihrer Mess- und Nutzbarkeit liegt, verstanden werden. Besonders die Literatur erweist sich als Seismograph eines Aufstands der Dinge. So heißt es beispielsweise in der Erzählung Die Dinge von Alfred Polgar: Niemals öffne ich nachts, heimkehrend, die Wohnungstür, ohne ein wenig absichtlichen Lärm zu machen. Ich will nicht überraschen, besser: ich will nicht überrascht werden. Wurde meine Abwesenheit vielleicht von den Dingen benützt, um Unfug zu treiben, so sollen sie, rechtzeitig von meiner Nähe unterrichtet, noch Zeit haben, wieder in ihre gewohnte dreidimensionale Ordnung zurückzuschlüpfen. Ich will nicht erfahren, daß es den Dingen, wenn sie unbeobachtet sind, am Ende möglich wäre, aus der Disziplin der Naturgesetze zu springen. 234
Allein die Vermutung, dass es den Dingen möglich sein könnte, die Ordnung der menschlichen Welt zu verlassen, genügt hier, das Vertrauen ins Wanken zu bringen. So steht infrage, ob es den Dingen, »wenn sie unbeobachtet sind, am Ende möglich wäre, aus der Disziplin der Naturgesetze zu springen« und es ist von einer dreidimensionalen Ordnung die Rede, in die die Dinge für gewöhnlich eingebettet seien. Diese Ordnung steht wiederum in einem direkten Zusammenhang mit der Anwesenheit des Menschen. Entscheidend ist nunmehr die Befürchtung, dass die Dinge auch ohne ihr menschliches Gegenüber auskommen könnten und mehr noch, in dessen Abwesenheit in ihre eigene Ordnung zurückzufallen vermögen. Sobald Polgars Erzähler seinen Blick von den Dingen abwendet, besteht ihm zufolge die Gefahr, dass diese buchstäblich aus der Form fallen. Doch auch wenn er sich in seinem Zuhause aufhält, fühlt er sich inmitten der Dinge nicht sicher: »Ich liebe die Einsamkeit, aber 233 Bloch, Ernst: Der Rücken der Dinge, in: Ders., Spuren, Frankfurt a. M. 1969, S. 172–175, hier: S. 175. 234 Polgar, Alfred: Die Dinge in: Reich-Ranicki, Marcel (Hrsg.): Kleine Schriften, Bd. 2 Kreislauf, Reinbek/Hamburg 1983, S. 17–21, hier: S. 17 f.
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Vertrauensbruch der Dinge
die Einsamkeit meines Zimmers liebe ich nicht. Weil ich tiefes Mißtrauen gegen die Dinge in ihm, gegen Wände, Möbel, Bilder habe und mich ihnen ausgeliefert fühle. Es sind viele gegen einen« 235. Ähnliche Bedenken artikuliert der Erzähler in Franz Hessels Von den Irrtümern der Liebenden – Eine Nachtwache 236. Diesen überkommt eine Hemmung, früher als gewöhnlich sein Atelier zu betreten. Schließlich waren die Gegenstände »doch nicht darauf gefaßt, nicht vorbereitet, daß ich so früh käme. Vielleicht lagen und standen sie nicht mehr oder noch nicht wieder so, wie ich sie verlassen hatte« 237. Es ist die Annahme einer Rückseite der Dinge, von der auch Bloch spricht, die hier Unbehagen erzeugt. Doch auch innerhalb des Verweisungszusammenhangs, folgt man dem literarischen Blickwinkel, vermögen die Dinge etwas von einem Eigenleben preiszugeben. Hier werde »die einfachste Handlung im von Ketten, Vorhängen, Kordeln, Kästchen und Pflanzen verstellten Raum« 238 zu einer komplexen Angelegenheit, die eine genaue Justierung des Menschen an die Ordnung der Dinge voraussetzt: »Der geringste Fehler, ein kleiner Stoß o. ä. kann eine Kettenreaktion ingangsetzen, bei der die Dinge selbstständig nach den zerstörerischen Gesetzen der Schwerkraft agieren« 239. Während die Dinge einerseits als Gebrauchsgegenstände dem Verbrauch, der Abnutzung und somit der Vorläufigkeit anheimfallen, bleibt der umfassende Gebrauchszusammenhang über das einzelne Ding hinaus erhalten. Zugleich vermag ein störrisches Einzelding das dichte Geflecht lebensweltlicher Bezüge zu lockern, wie zum Beispiel ein einfacher Knopf, dem man seine »Verruchtheit« auf den ersten Blick nicht ansehe, aber: ein solcher Racker hat mir neulich folgenden Possen gespielt. Ich ließ mich gegen alle meine Grundsätze zur Teilnahme an einem Hochzeitsschmaus verleiten; eine große silberne Platte, bedeckt mit mehrerlei Zuspeisen, kam vor mich zu stehen; ich bemerkte nicht, daß sie sich etwas über den Tischrand heraus gegen meine Brust hergeschoben hatte; einer Dame, meiner Nachbarin, fällt die Gabel zu Boden, ich will sie aufheben, ein Knopf meines Rockes hatte sich mit teuflischer List unter den Rand der Platte gemacht, Ebd. Hessel, Franz: Von den Irrtümern der Liebenden – Eine Nachtwache, Berlin 1923. 237 Ebd., S. 134–135. 238 Asendorf, Christoph: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen 1984, S. 95. 239 Ebd., S. 96. 235 236
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Zuhause in den Dingen
hebt sie, wie ich schnell aufstehe, jäh empor, der ganze Plunder, den sie trug, Saucen, Eingemachtes aller Art, zum Teil dunkelrote Flüssigkeit, rollt, rumpelt, fließt, schießt über den Tisch, ich will noch retten, schmeiße eine Weinflasche um, sie strömt ihren Inhalt über das weiße Hochzeitkleid der Braut zu meiner Linken, ich trete der Nachbarin rechts heftig auf die Zehen; ein andrer, der helfend eingreifen will, stößt eine Gemüseschüssel, ein dritter sein Glas um – o, es war ein Hallo, ein ganzes Donnerwetter, kurz ein echt tragischer Fall: die zerbrechliche Welt alles Endlichen überhaupt schien in Scherben gehen zu wollen […]. 240
Der Protagonist im Roman Auch Einer (1879) von Friedrich Theodor Vischer wird Zeuge so genannter ›Tücken des Objekts‹. Die »zerbrechliche Welt alles Endlichen«, der Modus des Vertrauens in die Dinge, erweist sich hier nicht als beständig und stabil, sondern als fragil und unsicher. Besonders deutlich spricht sich dies in José Saramagos Erzählung Dinge aus, wo Polgars Furcht und Vischers Humor gewissermaßen eine Synthese bilden. Hier heißt es zu Anfang: »Die hohe schwere Eingangstür streifte beim Schließen den rechten Handrücken des Beamten und fügte ihm einen tiefen roten Kratzer zu, der allerdings kaum blutete« 241. Was zunächst als zufälliges Missgeschick daherkommt, entpuppt sich im Verlauf der Erzählung als Ankündigung einer Reihe von merkwürdigen und bedrohlichen von Dingen verursachten Situationen. Hier ist es nicht nur eine zufällige Verkettung ungünstiger Ereignisse, sondern vielmehr scheinen sich die Dinge gegen den Menschen verschworen zu haben und ein generelles Missverhältnis von Mensch und Ding zu bestehen. Dinge stoßen den Menschen nicht nur von sich weg, wie die Tür, die scheinbar zufällig denjenigen verletzt, der durch sie hindurchgeht, sondern entziehen sich teilweise gänzlich ihrer Funktionsbestimmung. So ist beispielsweise die Rede von einem fieberkranken Sofa, dem auch stündliche Injektionen nicht zur Besserung verhelfen würden: Der Arzt hat es sich gleich angeschaut, aber bisher keine Diagnose gestellt. War auch nicht nötig. Ein nützlicher Bürger kam und beschwerte sich, das Sofa gäbe zu viel Wärme ab. Und er hatte Recht. Ich konnte mich selbst davon überzeugen. […] Ich gebe ihm stündlich eine Spritze, kann aber bis-
240 Vischer, Friedrich Theodor: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft (1879), Stuttgart 1924, S. 16 ff. 241 Saramago, José: Dinge, in: Ders., Der Stuhl und andere Dinge, Hamburg 1997, S. 91.
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Vertrauensbruch der Dinge
her noch keine Veränderung feststellen. Gerade ist es Zeit für eine Injektion. 242
Vor dem Hintergrund der veränderten Dingwahrnehmung in der Literatur sticht Saramagos Erzählung deshalb heraus, weil die Dinge hier buchstäblich erkrankt sind. Rilkes im weiter oben zitierten Gedicht ausgesprochene Mahnung, den Dingen nicht zu nahe zu rücken, da sie sonst starr, stumm und am Ende ermordet werden könnten, klingt in Saramagos Erzählung auf eigentümliche Weise wider. Hier sind die Dinge mutiert, feindselig und vor allem auch verwundet – auch verschwinden nach und nach die Gegenstände und mit ihnen löst sich auch die Welt des Menschen auf. Auch in seiner Erzählung Der Stuhl kehrt sich das Verhältnis von Ding und Benutzer auf fatale Weise um. Hier wird das Vertrauen in die Verlässlichkeit des Dinges zum Verhängnis, da auch ein Stuhl ›erschöpft‹ sein kann: Der Stuhl ist noch nicht gefallen. Verurteilt geht es ihm wie einem Menschen, der nahe daran ist, das äußerste Maß der Erschöpfung zu erreichen: er kann sich kaum noch auf den Beinen halten. […] Von weitem sieht ihn der Alte, dann aus immer größerer Nähe, falls er ihn überhaupt sieht, denn aufgrund der Tausende und Abertausende Male, die er darauf sich niedergelassen hat, sieht er ihn wahrscheinlich nicht mehr, und genau das ist sein Fehler, war es schon immer, die Stühle, auf die er sich setzt, nicht zu sehen, da er annimmt, ein jeder sei ein Thron und zu thronen obliege ihm ganz allein. 243
Der »Alte« kann hier als Personifizierung der Annahme, die Dinge »für grenzenlos unterdrückbar, rechtlos, willenlos, fühllos und unbedürftig der Selbst-Bestimmung zu halten« 244 verstanden werden. Im Verlauf der Erzählung bricht der Stuhl schließlich unter seinem Gewicht zusammen: »Das Bein bricht durch, zuerst knarrt es, dann geht es unter der Wirkung des ungleichen Gewichts entzwei […]« 245. Die verhängnisvolle Kluft, die sich bei Saramago zwischen Dingen und Menschen auftut, führt einen Modus vor Augen, den Heidegger auch als »Un-zuhause« bezeichnet. 246 Hiermit ist keine Negation der Vertrautheit gemeint, sondern vielmehr wohnt dieser Modus 242 243 244 245 246
Ebd., S. 92 f. Ebd., S. 25. Kästner, Aufstand der Dinge, S. 160–161. Saramago, Der Stuhl und andere Dinge, S. 27. Heidegger, Sein und Zeit, S. 189.
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dem In-der-Welt-sein inne. Das Erschreckende und Unbehagliche ist demnach dem Heimischen und Vertrauten eingeprägt. Während die Verlässlichkeit des Zeuges den Modus der Vertrautheit bewahrt, rückt in Momenten der Störung, die Heidegger auch die »Modi der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit« 247 nennt, eine Kehrseite der Vertrautheit in den Blick. Hier ist das Zeug nicht mehr dienlich, handlich oder verwendbar und kann sich von einem Zuhandenen zu einem Vorhandenen wandeln: »Die Modi der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit haben die Funktion, am Zuhandenen den Charakter der Vorhandenheit zum Vorschein zu bringen« 248. Dass das Zuhandene sich jedoch nicht zwangsläufig in den genannten Störungsmodi zu einem Vorhandenen transformiert, zeigt sich besonders bei Saramago. Zwar sind die Dinge hier auffällig, aufdringlich und aufsässig, nichtsdestotrotz bleiben sie auf ihr menschliches Gegenüber bezogen. So entziehen sie sich zwar den Funktionssinnen, bleiben jedoch als Angreifende dem Menschen zugewandt. So lässt sich sagen, dass die Dinge einerseits durch die Störung der gewohnten Funktionsweisen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, wobei zugleich infrage steht, ob sie von hier aus in ihrer bloßen Vorhandenheit wahrgenommen werden können. Vielmehr gehört das Changieren zwischen Bruch und Wiederherstellung der gewohnten Ordnung zum Modus der Verlässlichkeit dazu. Zugleich lässt sich sagen, dass die Dinge, die nicht mehr reibungslos funktionieren, abgenutzt oder defekt sind, ein Hinweis darauf sind, dass es eine Rückseite der Lebenswelt gibt, die sich in den Momenten der Störung buchstäblich ›meldet‹. Die Dinge, die hier, mit Heidegger gesprochen, nicht mehr ›dienlich‹ sind, werden zu einem Durchgangsort, an dem sich die gedeutete Welt und eine Welt der Dinge treffen. Diese Nähe von ›gedeuteter Welt‹ und ›Welt der Dinge‹ wird in der Erzählung Die Sorge des Hausvaters von Franz Kafka sinnfällig. 249 Hier treibt ein Ding, das sich gänzlich in den »Schlupfwinkel der Unbegreiflichkeit« zurückgezogen hat, sein Unwesen: Odradek.
Ebd., S. 74. Ebd. 249 Kafka, Franz: Die Sorge des Hausvaters, in: Ders., Erzählungen, Frankfurt a. M. 1983. 247 248
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Von Benjamin auch als »sonderbarster Bastard« 250 der Moderne bezeichnet, widersetzt Odradek sich jedem Versuch, ihn zu bestimmen. Zunächst abwechselnd »auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen und im Flur« zugegen und dann wieder »monatelang nicht zu sehen«, erweist er sich als »außerordentlich beweglich und nicht zu fangen«. 251 Diese Beweglichkeit entspricht auch den Verwandlungen, die sich im Laufe der Erzählung vollziehen. Zunächst ist die Rede von Odradek als einem befremdenden Wort, dessen Ursprung und Bedeutung schwerlich auszumachen seien. Im ersten Absatz heißt es, Odradek »stamme aus dem Slavischen« oder »aus dem Deutschen, vom Slavischen sei es nur beeinflußt«. Auch sein Aussehen von der Art einer flachen, sternartigen Zwirnspule gibt keinen Aufschluss über einen möglichen Ursprung oder Zweck. Mutierend »vom ›es‹ aus weiblicher Spule und männlichem Stern zum ›er‹, zu einem kleinen männlichen Wesen«, nimmt Odradek im Laufe der Erzählung allmählich menschliche Züge an und transformiert »zum sich verweigernden Gesprächspartner des Hausvaters« 252: Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fragen, sondern behandelt ihn – schon seine Winzigkeit verführt dazu – wie ein Kind. ›Wie heißt du denn?‹ fragt man ihn. ›Odradek‹, sagt er. ›Und wo wohnst du?‹ ›Unbestimmter Wohnsitz‹, sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie wenn man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. 253
Der Hausvater muss sich damit abfinden, dass dieses widerspenstige Ding, das sich gänzlich seinen Beherrschungsversuchen entzieht, inmitten seiner vertrauten Welt existiert. Scheinbar bewohnt die sprechende Spule aber nicht nur ›seine‹ Welt. So verbergen sich hinter der Formulierung »Unbestimmter Wohnsitz« Abwesenheit und NichtWohnen einerseits sowie die stets ungewisse Rückkehr in die menschliche Welt andererseits. Bezeichnend sind hierfür auch die Orte, an denen Odradek sich aufhält, denn auch wenn er sich im Haus 250 Benjamin, Walter: Franz Kafka, in: Ders., Aufsätze, Essays, Vorträge, GS II, Frankfurt a. M. 1977, S. 409–438, hier: S. 431. 251 Kafka, Die Sorge des Hausvaters, S. 129–130. 252 Liska, Vivian: Odradeks Schwestern, in: Ecker, Gisela / Breger, Claudia / Scholz, Susanne (Hrsg.): Dinge – Medien der Aneignung – Grenzen der Verfügung, Königstein/Taunus 2002, S. 276–290, hier: S. 278 und S. 281. 253 Kafka, Die Sorge des Hausvaters, S. 130.
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befindet, hält er sich meistens nur in Zwischenräumen »wie ›Flur‹, ›Treppenhaus‹, ›Gängen‹ oder ›Dachboden‹ auf. So ist er nicht ganz zu Hause, nicht ganz bei sich« 254. Dieser unangenehme Mitbewohner ist zugleich außerhalb und innerhalb gewohnter Bezüge. Schließlich ist seine Vergangenheit ungeklärt, gegenwärtig ist sein Wesen nicht fassbar und so beunruhigt den Hausvater am meisten, ob diese Spule ihn möglicherweise überleben könnte: »[…] aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche« 255. Odradek weckt zwar die Aufmerksamkeit des Hausvaters, verweigert sich jedoch zugleich einem Gespräch. Er hält sich so gesehen in einem Spannungsfeld von Entzug und Appell. Dieser Erfahrungsskizze ist im Folgenden nachzugehen. Es lässt sich sagen, dass die ›ungezähmten Dinge‹ auf eine ›Innenseite‹ des vertrauten Weltverhältnisses verweisen. Zwar drängt sich auf, von einer Außenseite oder Rückseite der Lebenswelt zu sprechen. Dies ist jedoch ungenau, da der Leib den Dingen nicht äußerlich ist, sondern sich, wie gezeigt, im Kontakt zu den Dingen ein Umraum bildet. Innerhalb dieses Umraums können jedoch unterschiedliche Modi der Begegnung von Leib und Ding ausgemacht werden. Die Appellstruktur der Dinge, die sich mit der Literatur andeutet, kann nicht bedeuten, hinter oder vor die Dinge zu treten, sondern vielmehr innerhalb des Verhältnisses zu ihnen einen Wechsel der Perspektive zu versuchen. Ein radikaler Perspektivwechsel auf die Dinge vollzieht sich in den im nächsten Kapitel im Zentrum stehenden künstlerischen Referenzen.
254 Han, Byung-Chul: Abwesen. Zur Kultur und Philosophie des Fernen Ostens, Berlin 2007, S. 37. 255 Kafka, Die Sorge des Hausvaters, S. 130.
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III Kunst als Weg zum Ding in statu nascendi
Wenn ich zurückfinde zur wirklichen Welt, so wie sie unter meinen Händen, vor meinen Augen und um meinen Leib herum existiert, so finde ich mehr als nur ein Objekt: ein Sein nämlich, an dem mein Sehen teilhat, eine Sichtbarkeit, die älter ist als meine Operationen oder meine Akte. Aber das bedeutet nicht, daß ich mit ihm verschmelzen oder koinzidieren würde: im Gegenteil es liegt daran, daß mein Leib sich durch eine Art Aufklaffen ins Zwiegeteilte öffnet und es zwischen ihm als Gesehenem und Sehendem, zwischen ihm als Berührtem und Berührendem zu einer Überlappung oder einem Übergreifen kommt und man schließlich sagen muß, daß die Dinge in uns eingehen, so wie wir auf die Dinge eingehen. 256
Als ›wirkliche Welt‹ bezeichnet Merleau-Ponty an dieser Stelle nicht eine ›richtig‹ interpretierte oder definierte Welt, sondern die Welt der Wahrnehmung »in statu nascendi« 257. Es ist eine Welt, in der Ding und Leib nicht sind, sondern werden, eine Welt in einem Modus fortwährender Geburt. Dieses Werden vollzieht sich im Moment einer Berührung, die von ihm unter anderem als ›Überlappung‹, ›Überkreuzung‹, ›Chiasmus‹ 258 oder ›Nicht-Koinzidenz‹ 259 bezeichnet wird. Berührung ist hier also nicht das Aufeinandertreffen zweier – oder mehrerer – in sich abgeschlossener Instanzen, sondern eine Verflochtenheit, der wiederum ein generatives Moment innewohnt. Schon im oben zitierten Beispiel der sich selbst berührenden Hände klingt dieser Gedanke einer generativen Verflochtenheit an. Der sich selbst berührende Leib öffnet und verschließt sich zugleich. Er bewegt sich auf ›sich‹ zu und im gleichen Moment entfernt er sich. Berührung heißt hier immer auch Trennung, wobei diese Trennung zugleich ein Hervorbringen ist. 260 Mehr noch: In der Berührung öffnet sich ein Raum des Zwischen, in dem Bedeutung entsteht. Man Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 164. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 18, 232, 257. 258 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 172. 259 Ebd., S. 165. 260 Hier deutet sich ein Verständnis der Grenze als Ort der Sinngenese an, auf das in Abschnitt IV.3 eingegangen wird. 256 257
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kann diesen Raum einen ›poetischen Raum‹ nennen – poetisch im Sinne des Vollzugs einer Hervorbringung, Sichtbarmachung und Vervollkommnung. Dieser ›poetische Raum‹ ist keine geographisch bestimmbare Lokalität, sondern eine momenthafte Zusammenballung gegenläufiger Bewegungen, ein sprunghaftes Geschehen. Zur Öffnung dieses Raumes gehört immer auch ein Verschließen und Zurückhalten. So wird im Berühren der eigenen Hände der Leib gerade deshalb, weil er sich zugleich auf sich hin öffnet und verschließt. Zwar wird er in der Berührung seiner ›Selbst‹. Dieses ›Selbst‹ ist jedoch kein Inneres, das sich genügt, sondern eine in sich geschlossene Öffnung ins Außen: »eine Art Aufklaffen ins Zwiegeteilte«. Der Leib als »Feld der Erfahrung« 261 endet nicht an der Grenzscheide der Haut – was auch in den obigen Ausführungen zum Einwohnen des Leibes in den Dingen deutlich wurde. Genau genommen ist seine ›Haut‹ gerade keine Trennungslinie, sondern mannigfaches Geflecht potenzieller Berührungspunkte. Dies drückt sich auch in jenen Beschreibungen Merleau-Pontys aus, wonach der Leib »in der Welt wie das Herz im Organismus« 262 sei. Weiter schreibt er, dass jener eher mit einem Kunstwerk als mit einem physikalischen Gegenstand vergleichbar wäre: »Er ist ein Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen, nicht das Gesetz einer bestimmten Anzahl miteinander variabler Koeffizienten« 263. Entsprechend ist das Ding für den Leib immer schon ›mehr‹ als ein Gebrauchsgegenstand oder Vorstellungsinhalt. Es ist für ihn kein mögliches Gegenüber, sondern notwendiges Anderes. Ding und Leib sind »nicht dank einer ›natürlichen Geometrie‹, sondern in lebendiger Verknüpfung« 264 aufeinander bezogen. Diese »Verknüpfung« setzt Merleau-Ponty analog zum Verhältnis des Leibes mit »seinen Teilen« 265. Besonders aus diesem Vergleich spricht eine Notwendigkeit des Verhältnisses von Leib und Ding. Sofern Ding und Leib analog zum Leib und seinen Teilen in »lebendiger Verknüpfung« miteinan261 Orlikowski, Anna: Merleau-Pontys Weg zur Welt der rohen Wahrnehmung, Paderborn 2012, S. 59. 262 »Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus: er ist es, der alles sichtbare Schauspiel, unaufhörlich am Leben erhält, es innerlich ernährt und beseelt, mit ihm ein einziges System bildend.« Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 239. 263 Ebd., S. 181 f. 264 Ebd., S. 241. 265 Ebd.
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der verbunden sind, brauchen sie einander, wie der Leib seine Organe braucht. Wie notwendig die Dinge laut Merleau-Ponty für den Leib sind, drückt sich auch darin aus, dass er Wahrnehmung als eine »Paarung unseres Leibes mit den Dingen« 266 versteht. 267 Erst in der Hinwendung zum Ding wird Leib: »Der Leib für sich genommen, der Leib im Ruhezustand, bleibt eine dunkle Masse, als bestimmtes und identifizierbares Sein nehmen wir ihn erst wahr, wenn er sich auf die Dinge zu bewegt« 268. So lässt sich sagen, dass auch die Dinge in »lebendiger Verknüpfung« weder ganz ›für sich‹ noch ganz ›für uns‹ sind. Vielmehr sind hier Ding und Wahrnehmender unablöslich aneinandergebunden. Zwar ist der Leib in genau diesem Sinne Fundament unseres Zur-Welt-seins und die Grundlage des alltäglichen Umgangs mit den Dingen. Entscheidend ist wiederum, dass sich diese Potenzialität in letzterem gerade nicht zeigt. Eher kann die Gewohnheit als ein »verarmtes Abbild« 269 der generativen Verflochtenheit von Leib und Ding verstanden werden. Die künstlerische Wahrnehmung hingegen lässt sich als ›Prototyp‹ leiblicher Wahrnehmung in statu nascendi verstehen. 270 Während im alltäglichen Umgang mit den Dingen »die Erfindung einer beherrschten Welt« sinnfällig wird, von der wir meinen, dass sie sich »ganz und gar in unserem Besitz« befindet, spricht sich in der Kunst eine »geheime Gegenwart« 271 der Dinge aus. An diesen geheimen Ort gelangen wir allein, wenn wir »unseren stummen Kontakt mit den Dingen ausdrücken, solange diese Dinge noch unausgesprochen sind« 272. So schreibt Merleau-Ponty von der Malerei Cézannes, dass hier eine »Welt ohne Vertraulichkeit« sinnfällig wird, »in der man sich unwohl fühlt, und die sich gegen alle menschlichen Gefühlsäußerungen sperrt« 273. Hiermit ist darauf verwiesen, dass, sofern das Ebd., S. 370. Wie diese ›Paarung‹ zu verstehen ist, wird anschließend in Bezug auf das leibliche Sehen vertieft. 268 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 372. 269 Ebd., S. 490 270 Vgl. Huber, Lara: Der Philosoph und der Künstler. Das ästhetische Fundament der ontologischen Neuorientierung Maurice Merleau-Pontys, Tübingen 2003, S. 118. 271 Merleau-Ponty, Maurice: Die Prosa der Welt (1952), München 1984, S. 166. 272 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 60. 273 Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 22. 266 267
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lebendige Band zwischen Leib und Ding aufgesucht wird, nicht nur das ›Menschliche‹ und ›Gewohnte‹ vom Ding, sondern ebenso vom Leib abgetragen wird. Zwar kann künstlerische Wahrnehmung generell als Ausdruck unseres leiblichen Zur-Welt-Seins verstanden werden. Dennoch sind besonders die im Folgenden im Fokus stehenden Referenzen diesbezüglich als wegweisend anzusehen.
III.1 Zeugenschaft der Dinge (Rilke) Archaischer Torso Apollos Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. 274
»Du mußt dein Leben ändern.« Mit diesem schlichten und sich dadurch besonders einprägenden Imperativ beschließt Rilke sein spätes Gedicht Archaischer Torso Apollos, das am Anfang des zweiten Teils der Neuen Gedichte steht. Es deutet auf das im Zentrum der späten Gedichte stehende Ziel eines ›sachlichen Sagens der Dinge‹ hin. Die Tragweite dieses Anspruchs kommt hier gewissermaßen in ›komprimierter Form‹ zum Ausdruck. Das Gedicht setzt ein mit einer Betrachtung des Gegenstandes, die hier jedoch nicht ›neutrale‹ Beschreibung ist, sondern eher als Einfangen einer momenthaften Begegnung von Betrachter und Ding
274
Rilke, Neue Gedichte, S. 83.
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verstanden werden kann. Im Gedicht findet das Ephemere ein Gegengewicht, das es jedoch nicht festhält, sondern in einer Bewegung belässt. Der Torso »glüht noch«, »glänzt«, kann »blenden«. Glänzen und Glühen resultieren hier nicht aus einem äußeren Lichteinfall, sondern der Gegenstand selbst scheint zu leuchten. Einem Stern gleich bricht er »aus allen seinen Rändern aus«. Nicht der Betrachter verfügt hier über den Gegenstand, sondern jener blickt zurück: »da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.« Das Zurückblicken des Gegenstandes widersetzt sich dem Versuch einer Vereinnahmung und gemahnt, Abstand zu halten. Vor diesem Hintergrund kann der Appell »Du mußt dein Leben ändern« mit Husserl als »Seinsanmutung« 275 des Gegenstandes selbst verstanden werden. So schält sich diese Forderung aus der dichten Atmosphäre der Beschreibung, dem Innenraum des Gedichtes, hervor und ist nicht nur Schlussakkord, sondern auch Wegmarke. Das ›Fazit‹ beschließt zwar einerseits die Betrachtung, aber öffnet diese zugleich auch dem Leser: »denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.« Aus dem Gedicht spricht das erklärte Ziel Rilkes, einem Anspruch der Dinge in seiner Arbeit gerecht zu werden, und verweist auf eine existenzielle Notwendigkeit dieses Anliegens. Rilke geht es darum, in ein ›geschwisterliches Verhältnis zu den Dingen‹ einzutreten. Diese würden die Forderung stellen, »bedeutend hervorgebracht zu sein« 276. Es wäre »der Wunsch der Dinge, seine Sprache zu sein« 277. Entsprechend gelte es, von Tag zu Tag erneut seine Aufmerksamkeit am Gegenstand zu schulen. In seinen Tagebüchern schreibt er hierzu: »Diese tägliche Aufmerksamkeit, Wachheit und Bereitwilligkeit der nach außen gewendeten Sinne, dieses tausendfach Sehen und immer von sich Fortsehen« 278. Die Dringlichkeit, die dieses Vorhaben antreibt, spricht aus dem folgenden Abschnitt der Neunten Duineser Elegie, der diesbezüglich programmatisch gelesen werden kann:
275 Husserl, Edmund: Analysen zur passiven Synthesis, Husserliana Bd. XI, Den Haag 1966, S. 42. 276 Rilke, Rainer-Maria: Briefe, Bd. 2, Wiesbaden 1950, S. 51. 277 Rilke, Rainer-Maria: Aufzeichnungen über Kunst, in: Ders., Werke, Bd. 4, S. 91. 278 Rilke, Rainer Maria: Tagebücher aus der Frühzeit, Frankfurt a. M. 1973, S. 223.
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Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus, Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, – höchstens: Säule, Turm … Aber zu sagen, verstehs, oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals innig meinten zu sein. 279
Hier sticht hervor, dass es Rilke um die lebensweltlich erfahrenen, die handgreiflichen, zuhandenen Dinge geht. So sind »Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster« im oben genannten Sinne ›gedeutete Dinge‹. Im Sagen dieser weltlichen Dinge, wie sie selber »niemals innig meinten zu sein« wird der Grund menschlichen Daseins vermutet: »Sind wir vielleicht hier, um zu sagen …«. Mehr noch: Nicht nur die Dinge brauchen uns, sondern auch wir, »die Schwindendsten« brauchen die Dinge, um uns innerhalb unseres endlichen Daseins verwirklichen zu können: Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das seltsam uns angeht. Uns, die Schwindendsten. Ein Mal jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nichtmehr. Und wir auch ein Mal. Nie wieder. Aber dieses ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal: irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar. 280
Die Unwiderrufbarkeit des einmaligen Hierseins auszudrücken, kann als Grundmotiv des dichterischen Sagens der Dinge verstanden werden. Sagen bildet so gesehen einen Gegenbegriff zum wissenschaftlichen Wort, das den Dingen ihre Möglichkeit, als ›singende Dinge‹ in Erscheinung zu treten, raubt. Dies insofern, als sich im wissenschaftlichen Vorstellen auch ein spezifisches Verhältnis zur Welt und zu den Dingen ausdrückt, dem Rilke mit seiner Dichtung etwas entgegenzusetzen versucht. 281 Massenhaft gefertigte Gegenstände nennt er leer und gleichgültig: Sie seien Schein-Dinge, mehr noch »LebensAttrappen« 282. Die belebten, »uns mitwissenden Dinge« 283 würden
Rilke Duineser Elegien, S. 44. Ebd., S. 43. 281 Siehe hierzu Fischer, Luke: The Poet as Phenomenologist: Rilke and the New Poems, Sydney 2015. 282 Rilke, Rainer Maria: Über Dichtung und Kunst, Frankfurt a. M. 1974, S. 268 f. 283 Ebd. 279 280
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verloren gehen. 284 Darin, diesem Schwund der Dinge etwas entgegenzusetzen, sieht er die Aufgabe der Kunst. Das Sagen lässt sich so gesehen als ein Beschützen der Dinge vor den Vereinnahmungen der gedeuteten Welt – oder im erläuterten Sinne: dem Überspringen des Dinges – verstehen. Dieser Schutz bedeutet hier jedoch keine erneute Eingrenzung oder Abschottung des Dinges, sondern dessen Befreiung und Überführung in einen künstlerischen Raum lebendiger Erfahrung, was in Rilkes Unterscheidung von Ding und Kunstding zum Ausdruck kommt. 285 Im Kunstding, so Rilke, würden »neue Zusammenschlüsse, Verhältnisse und Gleichgewichte« 286 entstehen. Ein künstlerisches Ganzes müsse »nicht notwendig mit dem gewöhnlichen Ding-Ganzen zusammenfallen« 287. Ding ist hier als Werdendes »in der Form von Übergängen, Umschlägen und Verwandlungen« 288 verstanden. Es ist zugleich Vorhandenes und Geschehen. Aufgrund dieser hiermit anklingenden Vieldeutigkeit des Dinges kann man auch von einem »dynamische[n] Dingbegriff« 289 Rilkes sprechen. Diese Dynamik und Uneindeutigkeit dessen, worauf sich der Terminus ›Ding‹ bezieht, ist kein Mangel, sondern kann bereits als eine Absage an eine Eingrenzung des Dinges verstanden werden. Die Dinge zu sagen bedeutet hier nicht, sie zu benennen oder zu bezeichnen, sondern meint vielmehr, mittels der Kunst einen Raum zu schaffen, in dem das Ding in dieser Uneindeutigkeit hervorkommen kann. Kunst kann in diesem Sinne als In-die-Ferne-stellen der zuhandenen Dinge verstanden werden, wobei entscheidend ist, dies nicht im engeren Sinne als eine Übertragung der Dinge in die Kunst zu verstehen, sondern vielmehr als Eintauchen in die Erfahrung des Gegenstandes einerseits mit der gleichzeitigen Sichtbarmachung und Generierung einer eigenen Dingordnung. Dies spiegelt sich in der folgenden Beschreibung einer Skulptur Rodins wider: 284 Die Zeit um 1900 ist der geschichtliche Ort, wo industriell gefertigte Dinge zunehmend den Alltag bestimmen und gleichzeitig die Rede von einem Verlust der Dinge laut wird. Siehe hierzu: Asendorf, Batterien der Lebenskraft sowie Selle, Gert: Siebensachen. Ein Buch über die Dinge, Frankfurt a. M. 1997. 285 Siehe Fischer, The Poet as Phenomenologist, S. 227 f. 286 Rilke, Rodin, S. 31. 287 Ebd., S. 17. 288 Engel, Manfred (Hrsg.): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2004, S. 298. 289 Ebd.
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Es war ein Ding, das für sich allein bestehen konnte, und es war gut, ihm ganz das Wesen eines Dinges zu geben, um das man herumgehen und das man von allen Seiten betrachten konnte. Und doch musste es sich irgendwie von den anderen Dingen unterscheiden, den gewöhnlichen Dingen, denen jeder ins Gesicht greifen konnte. Es musste irgendwie unantastbar werden, sakrosankt, getrennt vom Zufall und von der Zeit, in der es einsam und wunderbar wie das Gesicht eines Hellsehers aufstand. Es musste seinen eigenen, sicheren Platz erhalten, an den nicht Willkür es gestellt hatte, und es musste eingeschaltet werden in die stille Dauer des Raumes und in seine großen Gesetze. In die Luft, die es umgab, musste man es wie in eine Nische hineinpassen und ihm so Sicherheit geben, einen Halt und eine Hoheit, die aus seinem einfachen Dasein, nicht aus seiner Bedeutung kam. 290
Kunstdingen, so Rilke, kann man nicht ›ins Gesicht greifen‹, sie sind vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass sie »irgendwie unantastbar« geworden sind. Sie bedürfen so gesehen keiner ›äußeren‹ Bedeutung mehr, sondern sind bedeutsam allein dadurch, dass sie in ihrem »einfachen Dasein« sind: »Was die Dinge auszeichnet, dieses Ganz-mitsich-Beschäftigtsein […]« 291. Die Verschlossenheit des Kunstdinges ist keine hermetische Abriegelung des Gegenstandes, sondern findet vielmehr in Rilkes Rede von der unerschöpflichen Oberfläche der Dinge seine Korrespondenz. Demnach sei alles, was der Künstler machen könne, eine auf bestimmte Weise geschlossene, an keiner Stelle zufällige Oberfläche herzustellen, eine Oberfläche, die, wie diejenige der natürlichen Dinge, von der Atmosphäre umgeben, beschattet und beschienen ist, nur diese Oberfläche – sonst nichts. 292
Der Innenraum des Gegenstandes ist hier zugleich Außenraum: »Ist nicht alles Oberfläche was wir kennen? Können wir Inneres anders wahrnehmen als dadurch daß es Oberfläche wird?« 293 Die Oberfläche kann als Begegnungsort von Welt und Dingwelt verstanden werden: »Das Licht, welches zu diesem Steine kommt, verliert seinen Willen: es geht nicht über ihn hin zu anderen Dingen; es schmiegt sich ihm an, es zögert, es verweilt, es wohnt in ihm« 294. Der Außenraum tritt im Kunstding in Erscheinung. Es ist ein Konzentrationspunkt, an 290 291 292 293 294
Rilke, Rodin, S. 16 ff. Ebd., S. 26. Ebd., S. 76. Ebd., S. 128. Ebd., S. 64.
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Zeugenschaft der Dinge (Rilke)
dem sich die flüchtige Welt und eine Welt der Dauer treffen. Erst in diesem Aufeinandertreffen ist das Kunstding in seinem Dasein bestätigt. Hier klingt die indirekte Forderung der Neunten Elegie wider, die Dinge so zu sagen, wie selber die Dinge niemals innig meinten zu sein. ›Sagen‹ meint also nicht im engeren Sinne, etwas aussprechen, sondern ein Zeugnis von der Gegenwart der Dinge abzulegen. Auch Rilkes ›Dinggedichte‹ 295 können in diesem Sinne als Kunst-Dinge verstanden werden. Hier wird die Berührung von Innen und Außenwelt, Dingwelt und ›unserer‹ Welt sinnfällig. In ihnen vollzieht sich eine doppelte Bewegung. Einerseits werden die Dinge in ihrer Einzigkeit in den Blick gerückt, worauf schon Titel wie Der Ball, Der Berg, Der Pavillon, Der Panther, Das Karussell, Der Balkon oder Der Turm hinweisen. Zugleich wird in ihnen ihre Verortung in einem bis dahin unsichtbaren Zusammenhang sinnfällig: »The thing does not come before the mind’s eye as a mere isolated object, but as a phenomenon whose meaning is revealed through the manner in which it takes part in a larger context« 296. Die Dinge sind allein in einem dichten Geflecht von Verweisungen, Wechselwirkungen, Übergängen, momenthaften Konstellationen und Sinnzusammenhängen. 297 Es geht um die Bedeutung der Dinge in ihrer Ganzheit, wobei Ganzheit nicht meint, dass sie als isoliertes, der Welt entrücktes Gegenüber verstanden sind, wie man beim ersten Lesen der oben zitierten Beschreibung der Skulptur Rodins vermuten könnte. Vielmehr ist das Ding hier zugleich der gewohnten Welt entrückt und ihr gegenüber in veränderter Weise offen. In diesem Wechselspiel aus Offenheit und Verschlossenheit können die feinen Verflechtungen mit seiner Umgebung in Sicht rücken. Das Gedicht ist hier im oben angedeuteten Sinne ein poetischer Raum, in dem das Ding in statu nascendi wahrnehmbar wird. Exemplarisch drückt sich dies in Die Rosenschale aus:
295 Zum Begriff ›Dinggedicht‹ siehe: Engel, Manfred (Hrsg.): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2004, S. 298–301. Sowie ders.: Rainer Maria Rilke. Gedichte 1895–1910, Frankfurt a. M./Leipzig 1996, S. 913 ff. 296 Fischer, The Poet as Phenomenologist, S. 228. 297 Fischer schreibt hierzu: »one can also speak of Rilke’s poems as offering a hermeneutic-phenomenological vision of things – hermeneutic in that the meaning of something is discovered through its relation to and place within a larger meaningful context, and phenomenological, as this meaning is incarnated in the appearances or the phenomena« Ders., The Poet as Phenomenologist, S. 228.
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Kunst als Weg zum Ding in statu nascendi
Lautloses Leben, Aufgehn ohne Ende, Raum-brauchen ohne Raum von jenem Raum zu nehmen, den die Dinge rings verringern, fast nicht Umrissen-sein wie Ausgespartes und lauter Inneres, viel seltsam Zartes und Sich-bescheinendes – bis an den Rand: ist irgend etwas uns bekannt wie dies? Und dann wie dies: daß ein Gefühl entsteht, weil Blütenblätter Blütenblätter rühren? Und dies: daß eins sich aufschlägt wie ein Lid, und drunter liegen lauter Augenlider, geschlossene, als ob sie, zehnfach schlafend, zu dämpfen hätten eines Innern Sehkraft. Und dies vor allem: daß durch diese Blätter das Licht hindurch muß. Aus den tausend Himmeln filtern sie langsam jenen Tropfen Dunkel, in dessen Feuerschein das wirre Bündel der Staubgefäße sich erregt und aufbäumt. […] Und sind nicht alle so, nur sich enthaltend, wenn Sich-enthalten heißt: die Welt da draußen und Wind und Regen und Geduld des Frühlings und Schuld und Unruh und vermummtes Schicksal und Dunkelheit der abendlichen Erde bis auf der Wolken Wandel, Flucht und Anflug, bis auf den vagen Einfluß ferner Sterne in eine Hand voll Innres zu verwandeln. Nun liegt es sorglos in den offnen Rosen. 298
Im Gedicht ist die Rede von einem »Aufgehn ohne Ende«, »Raumbrauchen ohne Raum von jenem Raum / zu nehmen, den die Dinge rings verringern« und von einem »fast nicht Umrissen-sein«. In diesem Raum, der ohne Ende aufgeht, der umrissen ist und doch nicht abgetrennt, verwandelt sich Inneres in Außen und Außen in Inneres. Analog zum oben beschriebenen Verhältnis von Leib und Ding stehen die »offnen Rosen« in einem generativen Wechselverhältnis zu »Wind und Regen und Geduld des Frühlings« und der »Dunkelheit der abendlichen Erde«. In den Rosen sammeln sich die unsichtbaren Regungen der Jahreszeiten, werden »in eine Hand voll Innres« verwandelt, das schließlich »sorglos« in ihnen daliegt, also sichtbar wird. 298
Rilke, Neue Gedichte, S. 77 f.
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Zeugenschaft der Dinge (Rilke)
Sie brauchen den Lauf der Zeit, das erdhaft Dunkle, das sie wiederum in ihrer Offenheit bewahren. Die Position des Künstlers spielt hierbei eine entscheidende Rolle. So kann man Rilkes Dinggedichte auch als Versuch einer Dichtung des ›ist‹, nicht des ›ich‹ 299, verstehen. In ihnen ist meist »kein Gegenüber, keine Anrede, kein Ich, kein Pronomen der ersten oder zweiten Form« zu finden. 300 Die Wahrnehmungsperspektive scheint zu schwanken und das Ding selbst den wahrnehmenden Blick zu steuern: Mit einem Dach und seinem Schatten dreht sich eine kleine Weile der Bestand von bunten Pferden, alle aus dem Land, das lange zögert, eh es untergeht. Zwar manche sind an Wagen angespannt, doch alle haben Mut in ihren Mienen; ein böser roter Löwe geht mit ihnen und dann und wann ein weißer Elefant. Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald, nur dass er einen Sattel trägt und drüber ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt. Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge und hält sich mit der kleinen heißen Hand dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge. Und dann und wann ein weißer Elefant. Und auf den Pferden kommen sie vorüber, auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge schauen sie auf, irgendwohin, herüber Und dann und wann ein weißer Elefant. Und das geht hin und eilt sich, dass es endet, und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel. 299 Fülleborn, Ulrich: Dichten und Denken. Bemerkungen zu Rilke und Heidegger, in: Fischer, Norbert / v. Herrmann, Friedrich W.: Heidegger und die christliche Tradition, Hamburg 2007, S. 245–265, hier: S. 245. 300 Berthold, Helmut: Lessings und Rilkes Karussell-Gedichte sowie Neugebauer, Jörg: »Auch noch das Entzücken wie ein Ding auszusagen«. Was sagt einem heutigen Lyriker Rilkes Poetik der ›Neuen Gedichte‹ ?, in: Unglaub / Paulus (Hsrg.), Rilkes Paris, S. 175–185, hier: S. 176; S. 245–261, hier: S. 250.
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Kunst als Weg zum Ding in statu nascendi
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet, ein kleines kaum begonnenes Profil -. Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet, ein seliges, das blendet und verschwendet an dieses atemlose blinde Spiel … 301
Die Suche nach einem Sprecher ist in Das Karussell für den Leser ein beinahe vergebliches Unternehmen. Der Dichter scheint gänzlich ins Geschehen eingelassen zu sein. Er tritt auf als »ein poetischer Zeuge« 302, dessen Bericht von einer wechselnden Perspektive gefärbt ist. Diese schwankt fast unmerklich zwischen der Sichtweise der Kinder, von denen allein her die Pferde ›mutig‹ und der Löwe ›böse‹ genannt werden dürfen, zwischen dem Beobachter, an dem das impressionistische Farbenspiel von rot und blau und weiß […] zerstäubt, und zwischen der Stimme jenes sachlichen Sagens, in dessen Zeichen die Neuen Gedichte stehen 303.
Das zentrale Darstellungsinteresse gilt hier »der scheinbaren Selbstbewegung als dem Grundzug des mechanischen Karussells« 304. Diese Bewegung, die dem Rhythmus des Textes entspricht, wird nicht durch eine eindimensionale Sicht getrübt. Vielmehr ist Rilkes Darstellung eine Umkreisung des Gegenstandes, eine solche allerdings, die nicht von außen, sondern von innen ihren Lauf nimmt. Dies bedeutet, dass das Ding, in diesem Falle das Karussell, nicht mittels im Vorfeld feststehender Bedeutungsraster analysiert und schematisiert wird, sondern selbst die Weise seiner Darstellung bestimmt. In diesem Sinne sei auf ein weiteres ›Dinggedicht‹ Rilkes verwiesen: Der Ball. Dieser entpuppt sich hier als subversive Ordnungsinstanz: Du Runder, der das Warme aus zwei Händen im Fliegen, oben, fortgiebt, sorglos wie sein Eigenes; […] zu wenig Ding und doch noch Ding genug, um nicht aus allem draußen Aufgereihten unsichtbar plötzlich in uns einzugleiten: das glitt in dich, du zwischen Fall und Flug
301 302 303 304
Rilke, Neue Gedichte, S. 56. Berthold, Lessings und Rilkes Karussell-Gedichte, S. 250. Ebd. Ebd., S. 251.
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Zeugenschaft der Dinge (Rilke)
noch Unentschlossener: der, wenn er steigt, als hätte er ihn mit hinaufgehoben, den Wurf entführt und freilässt –, und sich neigt und einhält und den Spielenden von oben auf einmal eine neue Stelle zeigt, sie ordnend wie zu einer Tanzfigur […]. 305
Der Ball vermag gerade in seinem Status als Vermittler von gegenständlicher Außenwelt und dichterischer Innenwelt (»zu wenig Ding und doch noch Ding genug«) ganz ohne Anstrengung, den Spielenden »eine neue Stelle« zu zeigen und sie zu ordnen »wie zu einer Tanzfigur«. Der Appell der Dinge, der für Rilke Dreh- und Angelpunkt seiner Arbeit ist, verweist darauf, dass das Sagen, also das Bezeugen der Dinge auch ein Sehen der Dinge ist. Dieses Sehen kann im Sinne Merleau-Pontys als ein leibliches Sehen verstanden werden, in dem die verborgenen Anblicke der Gegenstände den Blick affizieren. Ihm zufolge entspringt das Sehen einer verdeckten Ordnung der Dinge: So vermag ich einen Gegenstand zu sehen, insofern die Gegenstände insgesamt ein System, eine Welt bilden und ein jeder, gleichsam als Zuschauer seiner verborgenen Anblicke und als Bürgen ihres beständigen Daseins, andere um sich versammelt. 306
Zwar gelangen bei Rilke einzelne Gegenstände ins Feld der Aufmerksamkeit, diese zeigen sich jedoch allein vor dem Hintergrund ihrer Einbettung in einen mit ihnen sichtbarwerdenden Zusammenhang: »Wenn ich […] meinen Blick auf eine Einzelheit der Umgebung richte, so belebt und entfaltet sich dieses Detail, und die anderen Dinge rücken an den Rand oder verwischen sich völlig, doch bleiben sie beständig mit da« 307. Kein Ding »vermöchte sich zu zeigen, könnte es nicht auch sich hinter anderem oder in meinem Rücken verbergen« 308. Die Dinge sind demnach in der Wahrnehmung zugleich nah und fern. Sie entziehen und nähern sich in einer Bewegung. Wenn das Ding gänzlich erfasst würde, so Merleau-Ponty, »wäre es ohne
Rilke, Neue Gedichte, 158 f. Zum Gedicht siehe auch Freeman, Ralph: Dichtung und Bildende Kunst in den Neuen Gedichten – Rilke, Rodin, Baudelaire, in: Unglaub/ Paulus (Hsrg.), Rilkes Paris, S. 185–196, hier: S. 186. 306 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 92. 307 Ebd. 308 Ebd. 305
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Kunst als Weg zum Ding in statu nascendi
jedes Geheimnis vor uns ausgebreitet. So aber hörte es im gleichen Augenblick, in dem wir glaubten, ganz in seinem Besitz zu sein, als Ding zu existieren auf« 309. Demnach würde die Wahrnehmung der Dinge sich nicht potenzieren, wenn die verborgenen Seiten am Ding nach und nach aufgedeckt würden, sondern eliminieren. Diese Beschreibung entspricht der gleichzeitigen Verschlossenheit und Offenheit des Kunstdinges. Abschließend drängt sich die Frage auf, ob auch die »ScheinDinge« im Sinne Rilkes zu Dingen werden können. Einerseits klingt an, dass es ihm um das Bewahren einer Vergangenheit geht, die im Aufkommen einer modernen Weltordnung droht zu verschwinden, wie beispielsweise in Der Pavillon deutlich wird: Aber selbst noch durch die Flügeltüren mit dem grünen regentrüben Glas ist ein Spiegeln lächelnder Allüren und ein Glanz von jenem Glück zu spüren, das sich dort, wohin sie nicht mehr führen, einst verbarg, verklärte und vergaß. Aber selbst noch in den Stein-Girlanden über der nicht mehr berührten Tür ist ein Hang zur Heimlichkeit vorhanden und ein stilles Mitgefühl dafür –, […] auch das Wappen, wie auf einem Brief viel zu glücklich, überstürzt gesiegelt, redet noch. Wie wenig man verscheuchte: alles weiß noch, weint noch, tut noch weh –. […]. 310
Noch weiß das Ding, noch ist ein Glanz von Glück zu spüren, aber auch ein Schmerz. Das Ding, das hier zur Sprache kommt, entstammt einer anderen Zeit, von der zwar noch eine Ahnung in ihm aufbewahrt ist, die jedoch bedroht ist, sich gänzlich zu verflüchtigen. Gerade diesen schwindenden Dingen wendet sich Rilke zu. Zugleich geht es ihm darum, einen Bezug zum Gegenwärtigen zu stiften, so dass seine Dichtung als eine Scharnierstelle von Vergangenheit, Gegenwart und Künftigem verstanden werden kann.
309 310
Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 273. Rilke, Neue Gedichte, S. 151.
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Das Zittern der Dinge (Cézanne)
In seinen Aufzeichnungen zu Cézanne schreibt er zum Kunstding, dass dieses allein dann wirklich Kunstding sei, wenn sich sein Entstehen »am Äußersten« erprobt hat: Je weiter man geht, desto eigener, desto persönlicher, desto einziger wird ja ein Erlebnis und das Kunstding endlich ist die notwendige, ununterdrückbare, möglichst endgültige Aussprache dieser Einzigkeit. […] Wir sind also sicher darauf angewiesen, uns am Äußersten zu prüfen und zu erproben, aber auch wahrscheinlich gebunden, dieses Äußerste nicht vor dem Eingang in das Kunstwerk auszusprechen, zu teilen, mitzuteilen […]. 311
Auch die Schein-Dinge, also die gedeuteten Dinge, können als ein Äußerstes verstanden werden, an dem sich der Künstler zu prüfen hat. Zwar sieht Rilke in der Technisierung eine Bedrohung: »Alles Erworbne bedroht die Maschine« 312, aber er deutet auch darauf hin, dass es eine Möglichkeit gibt, dieser Bedrohung zu begegnen. Allein solange die Maschine »sich erdreistet, im Geist, statt im Gehorchen, zu sein« 313 gehe von ihr Gefahr aus. 314 Kunst als Zeugenschaft der Dinge, also als Fern-Kontakt zum Ding, vermag die Abstände zwischen Maschine und Dingen offen zu halten. Dies erfordert gerade ein aufmerksames Hinsehen, womit auch die Maschinendinge nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Allein, wenn sich der künstlerische Blick auch diesen Gegenständen zuwendet, zeigt sich, dass auch hier noch »das Dasein verzaubert« 315 ist.
III.2 Das Zittern der Dinge (Cézanne) »Früchte« erzählten »von den Feldern, die sie verlassen haben, von dem Regen, der sie genährt, von den Morgenröten, die sie erschaut«. Zuckerdosen, Gläser, Teller würden »unentwegt Vertraulichkeiten« austauschen. 316 Diese ›Geschichten‹, die Cézanne in den Dingen vernimmt, können leicht als anthropomorphisierende Projektionen Rilke, Rainer Maria: Briefe über Cézanne, Frankfurt a. M. 1952, S. 11 f. Rilke, Die Sonette an Orpheus, S. 44. 313 Ebd. 314 Dieser Gedanke klingt in Heideggers Rede vom gleichzeitigen Ja und Nein zu technischen Gegen-ständen wider. Siehe hierzu den Abschnitt V.1 der vorliegenden Arbeit. 315 Rilke, Die Sonette an Orpheus, S. 44. 316 Doran, Michael (Hrsg.): Gespräche mit Cézanne, Zürich 1982, S. 193 f. 311 312
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Kunst als Weg zum Ding in statu nascendi
missverstanden werden. Das Zusammenspiel der Dinge untereinander und ihre Einbettung in einen Lauf der Zeit wird ihnen hier jedoch nicht ›angedichtet‹. Vielmehr nennen diese Beschreibungen, was seine Bilder ausdrücken. In ihnen sind keine voneinander getrennten, in sich abgeschlossene Gegenstände zu sehen, sondern Verflechtungen, Übergänge, Bruchstellen, gegenläufige Bewegungen, Nahes fern und Fernes nah, ein umfassendes Zittern und Wabern, ein farbiges Anund Abschwellen der Dinge. Die Spuren kultureller oder alltäglicher Bedeutungen scheinen von den Dingen ›abgetragen‹ zu sein. So spricht zum Beispiel Rilke davon, dass bei Cézanne die ›Essbarkeit‹ der Früchte gänzlich aufhöre, »so sehr dinghaft wirklich werden sie, so einfach unvertilgbar in ihrer eigensinnigen Vorhandenheit« 317. Auch Merleau-Ponty meint, dass Cézannes Malerei »den Boden einer unmenschlichen Natur« 318 enthülle. Besonders das Verhältnis von Ding und Farbe spielt für den Eindruck einer Ordnung in statu nascendi eine maßgebliche Rolle. Farbe ist hier kein Attribut oder Akzidenz, das dem Gegenstand anhängt, sondern eine »äußere Bekundung der inneren Struktur der Dinge« 319. Farbe und Gegenstand sind allein in Bezug aufeinander. So erweckt es den Eindruck als wäre beides »wie auf eine Waage gelegt: das Ding hier, und dort die Farbe; nie weniger, als das Gleichgewicht erfordert« 320. Und doch liegt auch diesem Eindruck noch eine Unterscheidung von Farbe und Ding zugrunde, die in der Performanz des Bildes aufgehoben ist. Das Bild unterscheidet nicht. Die Dinge sind hier allein als farbig erlebte Dinge. ›Erlebt‹ meint wiederum nicht, dass sie erlebt wurden, bevor sie ins Bild übertragen wurden. Vielmehr lässt sich sagen, dass das Bild selbst das Moment, in dem das Ding erlebt wird, sichtbar macht: »Was im Gemälde gemalt ist, ist der Körper, und zwar nicht sofern er als Objekt wiedergegeben, sondern sofern er erlebt wird als einer, der diese Sensation erfährt […].« 321 Die ›Sensation‹, die das Ding erfährt, ist die Farbe. Sie allein garantiert »die Stabilität des Bildaufbaus« 322, bindet Nähe und Ferne aneinander. Diese Stabilität ist keine starre Struktur, in die die Dinge einge317 318 319 320 321 322
Rilke, Briefe über Cézanne, S. 29. Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 21. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 268. Rilke, Briefe über Cézanne, S. 38. Deleuze, Gilles: Francis Bacon. Logik der Sensation, München 1995, S. 27. Adriani, Götz: Paul Cézanne. Gemälde, Köln 2002, S. 23.
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Das Zittern der Dinge (Cézanne)
fügt sind. Vielmehr bildet sich die Ordnung hier in Form von Abstufungen, Kontrastbildungen und Nuancierungen heraus. Während in der Zentralperspektive, so Merleau-Ponty, »die Erfindung einer beherrschten Welt« 323 sinnfällig werde, von der wir meinen, dass sie sich »ganz und gar in unserem Besitz« 324 befindet, drücke sich in Cézannes Malerei eine erlebte Perspektive aus. Diesem gilt es, »vor dem Motiv« 325 zu arbeiten. Anders als diese Formulierung suggeriert, ist hiermit der Versuch bezeichnet, die vermeintliche Frontalstellung des Betrachters – und Malers – auszuhebeln und »alle Stimmen der Voreingenommenheit« in sich verstummen zu lassen. 326 Dieser Anspruch drückt sich in der inneren Ordnung der Bilder aus. Ihre Räumlichkeit generiert sich einzig durch die »eigenwilligen Farbkompositionen« 327. Damit weicht ein durch Umrisslinien definierter zentralperspektivischer Raum einer dezentralen Ordnung der Dinge. Diese ergänzen nicht als sekundäres Beiwerk einen ursprünglich ›leeren‹ Raum, sondern der Bildraum konstituiert sich einzig aus dem Zusammenspiel von Farbe und Ding. 328 Cézanne nennt den malerischen Prozess réalisation, also Verwirklichung. Es geht hierbei darum, sich einerseits ganz auf die Sinneswahrnehmung einzulassen, die jedoch bereits im Vollzug des Einlassens strukturiert und geordnet wird. Das Bild selbst kann hier als Ort verstanden werden, an dem sich diese Verwirklichung vollzieht. Es ist so gesehen nicht starre Fläche, auf die etwas gemalt wurde, sondern man kann eher von einem Gewebe sprechen, in dem eine »durch spontane Organisation entstehende Ordnung« 329 wahrnehmbar wird. Einerseits dürfe es in seinem Motiv, so Cézanne, »keine einzige lockere Masche geben« und die Leinwand müsse in »allen Teilen gleichzeitig« gelenkt werden: »ich nehme rechts, links, hier, dort, überall diese Farbtöne, diese Abstufungen, ich mache sie fest,
Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, S. 75. Ebd. 325 Doran, Gespräche mit Cézanne, S. 136. 326 Boehm, Gottfried: Paul Cézanne. Die Montagne Sainte-Victoire, Frankfurt a. M. 2000, S. 55. 327 Oster, Angela: Re-Formation des Auges. Peter Handkes Cézanne-Lektüre in Die Lehre der Sainte-Victoire, in: Hoffmann, Thomas (Hrsg.): Lehrer ohne Lehre. Zur Rezeption Paul Cézannes in Künsten, Wissenschaften und Kultur (1906–2006), Freiburg 2008, S. 213–241, hier: S. 226. 328 Siehe auch Oster, Re-Formation des Auges, S. 228. 329 Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 17. 323 324
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Kunst als Weg zum Ding in statu nascendi
ich bringe sie zusammen 330«. Zugleich ist der Bildraum von offenen Stellen, an denen die Leinwand sichtbar wird, durchzogen, auch finden sich, wo man für gewöhnlich eine »Grenze« erwartet, »lauter schwingende Übergänge« 331. Cézanne »markiert mit blauen Strichen mehrere Konturen« 332. Besonders diese pulsierenden Zwischenräume sind für die Stabilität des Bildaufbaus entscheidend. Die Farbflächen oszillieren, so dass zwischen den Dingen keine Demarkationslinie entsteht, sondern sich ein verbindender Raum entfaltet. Hierzu schreibt Rilke: »Es ist als wüßte jede Stellen von allen. […] Alles ist […] zu einer Angelegenheit der Farben untereinander geworden: Eine nimmt sich gegen die andere zusammen, betont sich ihr gegenüber, besinnt sich auf sich selbst« 333. Merleau-Ponty spricht von einem »sich wölbenden Rand« 334 der Gegenstände. Während der völlige Verzicht auf eine Kontur den Dingen ihre Identität rauben würde, bedeutete eine singuläre Demarkationslinie, die Tiefe zu opfern, »das heißt die Dimension, die uns der Gegenstand gibt, und zwar nicht als ein restlos vor uns ausgebreitetes, sondern als eine unausschöpfliche Wirklichkeit, die sich nie völlig preisgibt« 335. Das Verhältnis von Farbe und Ding ist für den Eindruck einer »unausschöpflichen Wirklichkeit« entscheidend. Nicht nur sind hier die Dinge aus Farbe, sondern auch die Farbe ist ganz dem Ding verhaftet. Da sind nicht erst Grün, Gelb, Rot, Blau, die einer runden Fläche hinzugefügt werden, woraus sich dann beispielsweise der Eindruck ›Melone‹ ergibt, sondern Grün, Gelb, Rot, Blau sind allein als Grün, Gelb, Rot, Blau der Melone und diese ist ganz und gar eine aus der Farbe hervorquellende Melone, die wiederum ein ›sich wölbender Rand‹ für einen anderen Dingeindruck zu sein vermag. So kristallisieren sich im Bildraum zwar ›Dinge‹ oder ›Farbflächen‹ heraus, jedoch stehen diese hier nie für sich, sondern kleben buchstäblich aneinander – so wie das Auge des Malers in den Dingen klebt: »Das geringste Versagen des Auges verdirbt alles. Und bei mir, das ist Doran, Gespräche mit Cézanne, S. 136. Rilke, Briefe über Cézanne, S. 32. 332 Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 19. 333 Rilke, Briefe über Cézanne, S. 59 f. Zum Einfluss, den Cézanne auf Rilke ausgeübt hat, siehe Günther, Friederike Felicitas: Cézanne als dionysischer Künstler. Sowie Wilke, Tobias: Überschriebene Präsenzen. Rilke vor/nach Cézanne. In: Hoffmann, Lehrer ohne Lehre, S. 123–169. 334 Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 19. 335 Ebd. 330 331
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Das Zittern der Dinge (Cézanne)
schrecklich, mein Auge klebt an einem Ast, einer Scholle. Ich leide darunter, wenn ich es davon losreiße, so sehr kann mich ein Ding fesseln« 336. Der Künstler, so Cézanne, müsse sich ganz auf die Empfindung einlassen: »Die Methode entsteht im Kontakt mit der Natur. Sie entwickelt sich aus den Umständen. Sie besteht darin, den Ausdruck für das, was man empfindet, zu suchen, die Empfindungen in einer persönlichen Ästhetik zu ordnen« 337. Die persönliche Ästhetik ist hier keine Manier, sondern eine im Gegenstand vollzogene Wahrnehmung. So ist Cézannes Auge im Vollzug des Malens kein vom Körper oder von der Welt getrenntes Auge. Vielmehr ist es, mit MerleauPonty gesagt, eingelassen ins »Fleisch der Dinge« 338. Es ist kein vom Körper und den anderen Sinnen abgetrenntes Auge, sondern ein leibliches, in der Welt verankertes Auge. Es verarbeitet nicht nur »Licht, Farben und Linien« 339, vielmehr gebärt sich der Blick im Kontakt mit dem Gegenstand. Diese Verflechtung von Auge und Ding entspricht der Verflechtung von Ding und Farbe im Gemälde. Sehen meint hier nicht durch vom Körper getrennte Augen auf die Dinge zu blicken, sondern vielmehr die Trennung der einzelnen Sinne zu überwinden: »Die Sinne kommunizieren untereinander, indem sie sich der Struktur eines Dinges eröffnen« 340. 341 Diese Verknüpfung der Sinne ist entscheidend. So lässt sich sagen, dass Cézanne versucht, sein gewohntes Sehen soweit abzubauen, bis es in eine synästhetische Wahrnehmungserfahrung umschlägt. 342 Sein Anspruch ist nicht, die Gegenstände im engeren Sinne zu sehen, sondern vielmehr das Zusammenspiel von hören, riechen, sehen, schmecken und tasten als Harmonie parallel zur Natur 343 im Bild zu verwirklichen, so dass auch noch der ›Geruch der Dinge‹ im Bild sichtbar wird. 344 Das Auge des Malers ist ein betroffenes, affiziertes
Doran, Gespräche mit Cézanne, S. 154. Ebd., S. 33. 338 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 193. 339 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 283. 340 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 268. 341 Siehe hierzu den Abschnitt IV.2 der vorliegenden Arbeit. 342 Für Merleau-Ponty ist Wahrnehmung zunächst immer synästhetisch, diese Gleichzeitigkeit der Sinne wird ihm zufolge jedoch im gewohnten Sehen ausgeblendet. Siehe hierzu auch Abschnitt IV.2 der vorliegenden Arbeit. 343 Doran, Gespräche mit Cézanne, S. 137. 344 Vgl. Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 20. 336 337
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Auge. Es sieht »die Tiefe, das Samtene, die Weichheit, die Härte der Gegenstände« 345: das Zittern der Dinge. Cézanne knüpft hiermit auch an das Vorbild eines vorbehaltlosen Sehens, das besonders in Charles Baudelaires Gedicht Ein Aas 346 sinnfällig wird, an. Im Zentrum des Gedichtes steht die Beschreibung eines Aases, das am Wegrand liegt: »Die Beine hochgestreckt nach Art lüsterner Frauen, / Von heissen Giften voll / Liess es ganz ohne Scham und frech den Leib uns schauen / Dem ekler Dunst entquoll.« 347 Diese Beschreibung ist beispielhaft für einen Blick, der nicht unterscheidet. So trifft hier Verfall auf Lebendigkeit, Ekel auf Schönheit, mehr noch: Erotik. Das Aas »streckt die Beine hoch nach Art lüsterner Frauen.« Die erotische Aufladung dieses eigentlich ekelerregenden Dinges lässt sich als Gegenpol zur Todesthematik des Gedichtes lesen. Die Sonne brennt noch auf das »verfaulte Leben«. Auch der Himmel unterscheidet hier nicht, sondern »blickte still auf dies Gefaule nieder / Wie er auf Blumen schaut.« Rilke sieht im Gedicht Ein Aas den entscheidenden Wendepunkt, der auch für sein sachliches Sagen der Dinge maßgeblich ist: »Erst mußte das künstlerische Anschauen sich soweit überwunden haben, auch im Schrecklichen und scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das, mit allem anderen Seienden gilt« 348. Es sei weder Auswahl noch Abwendung zugelassen. So gelte es, »auch das Hässliche, auch die Armen und Verlorenen in den vorbehaltlosen Blick mit einzubeziehen und nichts auszulassen« 349. Dinge sind hier nicht schön, hässlich, nützlich, groß, klein, überflüssig oder wie auch immer geartet. 350 Wie in Bezug auf dessen Dinggedichte hervorgehoben, rücken hier zwar einzelne Dinge in den Fokus, sie können jedoch nur deshalb als ›Singular‹ wahrgenommen werden, weil in ihnen ein unsichtbares Zusammenspiel von Innen und Außen, Werden und Vergehen, Ausdruck und Eindruck Gestalt annimmt. Ebd. Baudelaire, Charles: Die Blumen des Bösen, Stuttgart 2000, S. 23 ff. Hier wird die Widerwertigkeit eines Aases mit der Schönheit der Geliebten gleichgesetzt. Cézanne kannte Baudelaires Gedicht auswendig; Rilke macht das Projekt des vollständigen, selektionslosen Sehens aller, auch der Grauen erregendsten Gestalten der städtischen Wirklichkeit zum Programm seiner Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. 347 Ebd. 348 Rilke, Briefe über Cézanne, S. 51. 349 Günther, Cézanne als dionysischer Künstler, S. 139. [Herv. d. Verf.] 350 Ebd. 345 346
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Dieser vorbehaltlose Blick, der sich ganz auf die konkrete Erfahrung dessen, was ist, einlässt versucht und »die festen Dinge, die in unserem Sehfeld erscheinen, nicht von der flüchtigen Weise ihres Erscheinens« trennt, sondern »die durch spontane Organisation entstehende Ordnung« 351 auszudrücken versucht, steht auch in einem Zusammenhang mit dem Anspruch einer »Bergung der Dinge in Gefahr« 352. So stellt sich die erlebte Perspektive gegen die von Cézanne beklagte ›Zerteilung der Welt‹ : »Warum zerteilen wir die Welt? Ist es unser Egoismus, der sich darin spiegelt? Wir wollen alles zu unserem Gebrauch.« 353 Die Zerteilung der Welt findet für ihn auch in einer Haltung der Aneignung, Inbesitznahme und Beherrschung ihren Ausdruck. Dem gegenüber kann seine Arbeit als »ein radikaler Kommentar zu den Zerstörungen, die die instrumentelle Vernunft, der […] Triumph von Wissenschaft und Technik der Natur und den Menschen zugefügt hat« 354 verstanden werden. Cézanne will die Kluft von Mensch und Natur, aber besonders auch Kunst und Natur, überwinden und konfrontiert die ›gedeutete Welt‹ mit der sinnlichen Erfahrung der Dinge. So spricht er davon, dass es ihm darum geht, die Welt des Louvre wieder mit der Natur zu versöhnen: »Mit einem Apfel will ich Paris in Erstaunen versetzen!« 355 Und doch weiß er, dass er nicht ›unschuldig‹ ist: »Man muß durch die Natur zum Louvre kommen, und durch den Louvre zur Natur zurück.« 356 Bei Rilke und Cézanne ist der Versuch auf die leibliche Wahrnehmung zurückzugehen an eine existenzielle Notwendigkeit gekoppelt. Dingwahrnehmung ist hier nicht nur ein ästhetisches Problem, sondern birgt immer auch den Versuch einer Antwort auf die aufkommenden Veränderungen der eigenen Zeit.
Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 17. Handke, Peter: Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt a. M. 1980, S. 84. 353 Doran, Gespräche mit Cézanne, S. 194. 354 Jamme, Christoph: Der Verlust der Dinge, in: Jamme, Christoph / Harries, Karsten: Heidegger. Kunst-Politik-Technik, München 1992, S. 107. 355 Doran, Gespräche mit Cézanne, S. 21. 356 Ebd., S. 144. 351 352
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III.3 Versiegelung des Unscheinbaren (Morandi) Es sind gewöhnliche Haushaltsgegenstände, die das Zentrum der Malerei Morandis bilden. Über viele Jahre hat der Maler in seinem Atelier eine Vielzahl an Vasen, Flaschen, Krügen und Büchsen angesammelt, mit denen er sich in intensiven Malstudien eingehend befasste. 357 Wie langwierig diese Studien waren, legen Berichte nahe, wonach er teilweise tagelang auf das rechte Licht wartete bevor er überhaupt mit der Arbeit begann. 358 Weiter, dass er die Dinge, ehe sie in die Leinwand übertragen wurden, in einem langwierigen Prozess in Formation gerückt, sie teils bemalt, mit Materialien bespannt oder mit Farbe befüllt hat. Gelegentlich soll er auch ein Stück Pappe, wiederum entsprechend in den jeweiligen Farbklang getaucht, als »abschließenden Hintergrund« aufgestellt haben. 359 Diese ›choreographischen Übungen‹ – die besonders im Spätwerk der Jahre 1940–1964 kulminieren, in denen ca. 800 Stillleben entstehen (also 2/3 seines Gesamtwerks) – sind für ihn auch deshalb notwendig, da er so die von ihm gesehene Gefahr, sich zu wiederholen, einzudämmen hofft. In einem Interview mit Edouard Roditi spricht er davon, »mehr Zeit und Überlegung« darauf verwendet zu haben, jedes seiner »Bilder als Variation des einen oder anderen Vorwurfs zu konzipieren«. 360 Das hiermit angesprochene Prinzip der Serienbildung »bedeutete für Morandi die Gewähr für eine möglichst große Verinnerlichung des Motivs und damit auch die Möglichkeit über dieses in ständig wiederholenden Versuchen hinauszugelangen« 361. Die Bilder können auch als »sichtbar werdende Stationen eines Näherungspro357 Vgl. die dokumentarischen Abbildungen in: Giorgio Morandi. Ölbilder, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen, Kat. Haus der Kunst, München 1981, S. 95 f. 358 Ebd., S. 69. 359 Haftmann, Werner: Giorgio Morandi ein exemplarisches Malerleben, in: Giorgio Morandi. 1890–1964. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen. Kat. Kunsthalle Tübingen, Köln 1989, S. 9–23, hier: S. 12. 360 »Meine Vorwürfe waren seit jeher auf ein engeres Gebiet beschränkt als die der meisten anderen Maler, so daß ich größere Gefahr lief, mich zu wiederholen. Ich habe, wie mir scheint, diese Gefahr dadurch vermieden, daß ich mehr Zeit und Überlegung darauf verwandte, jedes meiner Bilder als Variation des einen oder anderen Vorwurfs zu konzipieren.« Roditi, Edouard: ›Giorgio Morandi‹, in: Ders., Dialoge über Kunst, Frankfurt a. M. 1991, S. 180–199, hier: S. 191. 361 Burger, Angelika: Die Stilleben des Giorgio Morandi. Eine koloritgeschichtliche Untersuchung, Hildesheim – Zürich – New York 2008, S. 5.
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zesses« 362 verstanden werden. Zum einen besteht zwischen ihnen eine ›intensive Korrespondenz‹ und man hat den Eindruck, »in der Vielzahl der Schöpfungen ein Werk« 363 vorzufinden. Zugleich bildet jedes Bild für sich eine »geschlossene Einheit« und »bedarf nicht der Einbettung und Bezogenheit auf die mit ihm locker in Verbindung stehende Serie« 364. Während das Stillleben in der Gattungshierarchie der Malerei traditionell »als die anspruchsloseste Bilderfamilie« 365 gilt, ist es Morandi der Prüfstein einer Schulung des Blicks, in der das Unscheinbare und Profane zum Zentrum des Interesses wird. Wenngleich es sich aufdrängt, seine kleinformatigen Studien innerhalb der Tradition des Stilllebens zu verorten, ist hervorzuheben, dass »das Karge und Lapidare« seiner Arbeiten in der Geschichte der Gattung »ohne Vorbild« 366 ist. Während den Dingen hier vorwiegend eine symbolische Bedeutung zukommt, 367 verweigern sich ›Morandis Dinge‹ einer derartigen Auslegung. Auch »im Zeithorizont der Moderne« scheint sein Werk »nach keiner Seite verbunden und beispiellos« 368. Dies zum einen, weil er auf »traditionellen Axiomen« der Malerei wie »Illusionismus, Perspektive, Proportion, Goldener Schnitt, Symmetrie, Bildeinheit« 369 beharrt und die für die Moderne charakteristische »Abkehr vom Kanon« 370 in seinem Werk keinen Niederschlag findet: »das Ich als ästhetisches Konstitutionsprinzip lag ihm ebenso fern wie Unbewusstes psychologisch zu durchleuchten oder gar politische Rebellion« 371.
362 Morat, Franz Arnim: Giorgio Morandi. Ölbilder. Aquarelle, Zeichnungen. Radierungen, Katalog der Sammlung F. A. Morat. Freiburg/Br. 1979, S. 12. 363 Growe, Bernhard: ›Cosiddetta realtà‹ : Die Unverfügbarkeit der Welt, in: Ölbilder, Aquarelle, S. 61–75, hier, S. 61. [Herv. i. Orig.] 364 Burger, Die Stilleben des Giorgio Morandi, S. 6. 365 Schmidt, Johann-Karl: Giorgio Morandi. Der Tod des Lichts, in: Giorgio Morandi. Licht und Farbe, Ausstellungskatalog, Städtische Galerie Schwenningen 2018, S. 13– 24, hier: S. 14. 366 Morat, Ölbilder, Aquarelle, S. 66. 367 Vgl. Schneider, Norbert: Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge. Die Stillebenmalerei der frühen Neuzeit, Köln 1994. 368 Schmidt, Johann-Karl: Giorgio Morandi. Der Tod des Lichts, in: Giorgio Morandi. Licht und Farbe, Ausstellungskatalog, Städtische Galerie Schwenningen 2018, S. 13– 24, hier: S. 14 369 Ebd. 370 Ebd., S. 19. 371 Ebd.
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Einzig dem Interesse an Raum, Licht, Farbe und Form verpflichtet, steht das Werk wie eine Insel in einer von Umbrüchen geprägten Zeit und antwortet dem Auf- und Abebben von Diskursen mit einer Konzentration auf die unscheinbaren Nuancen und Verflechtungen der Dinge. Und doch fragt sich, ob sich in dieser radikalen Besinnung auf das Unscheinbare nicht eine Art ›stiller Rebellion‹ andeutet, die in Bartlebys Formel 372 – »Ich möchte lieber nicht« – eine Entsprechung findet. Insofern wäre Morandis Konzentration auf die Grundkonstanten der Malerei nicht nur ein Rückschritt in Bezug auf die Diskurse und Umbrüche seiner Zeit, sondern auch ein Übertritt in eine Haltung des Lassens, deren Widerstandspotenzial gegenwärtig in Überlegungen zu einer Negativen Ethik ausgelotet wird. 373 Nicht nur in Bezug auf eine mögliche historische Verortung scheinen die Stillleben aus der Zeit gefallen zu sein. Mehr noch, ist in ihnen alles Organische, was auf ein Verhältnis zur Zeitlichkeit, verweisen würde, ausgeschaltet. Auch aus diesem Grund fällt eine Verortung in die Tradition des Stilllebens schwer, da hier besonders die Vergänglichkeit der Dinge ein Leitmotiv ist. Diese Art der Zeitlichkeit ist bei Morandi nicht zu finden. In ihnen sind weder Spuren alltäglichen Gebrauchs noch ein organischer Verfall erkennbar. Vielmehr scheinen die Dinge hier kein Davor, kein Danach und kein außerhalb des Werks zu kennen: Sie sind ganz und gar Dinge der Kunst und wirken buchstäblich still-gestellt. Zwar wirkt es auf den ersten Blick so, als wären in den Stillleben klar identifizierbare Gegenstände zu erkennen, wobei sich dieser Eindruck noch verstärkt, wenn man ihren ›Vorlagen‹ in seinem Atelier buchstäblich gegenüber steht, doch gibt es im Betrachten einen Punkt, an dem der Blick ›zu schwimmen‹ beginnt und sich an ihrer »geradezu schmerzhaften Präsenz« 374 stößt. Dieses Abstoßungsmoment steht in Verbindung mit einer eigentümlichen ›Stille‹ 375, die die Gemälde wie ein ›besonderes Gehäuse‹ zu umgeben scheint. 376 Zunächst lädt jener Eindruck von ›Stille‹, der unter anderem dem
Deleuze, Gilles: Bartlebys Formel, Leipzig 1994. Siehe hierzu Ottmann, Henning (Hrsg.): Negative Ethik, Berlin 2005. 374 Growe Cosiddetta realtà‹ : Die Unverfügbarkeit der Welt, S. 66. 375 Vgl. Raimondi, Giuseppe: Jahre mit Giorgio Morandi, Frankfurt a. M. 1990, S. 11 f. 376 Vgl. ebd., S. 11. 372 373
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harmonischen Gesamtton, 377 in den die Dingstudien gefasst sind, geschuldet ist, zu einer meditierenden, verweilenden Betrachtung ein. Mit der Zeit äußert sich jedoch eine beunruhigende Wirkung. So ist die Rede davon, dass Worte sich vor den Gemälden ›auflösen‹ 378 und es zeigt sich, dass die Stillleben auch als irritierend und beinahe gewaltsam empfunden werden – wie dies der belgische Maler Luc Tuymans sehr deutlich zum Ausdruck bringt: »The stillness of these objects, and their blaring silence irritates the hell out of me« 379. Es scheint fast so, als wäre die »friedliche Schar der Flaschen« 380, wie Morandis Weggefährte Giuseppe Raimondi es einmal formulierte, am Ende gar nicht so friedlich. Zwar laden die Bilder zunächst zu einer Kontemplation ein, doch gibt es einen Punkt, an dem sie Unbehagen erzeugen und den Betrachter einschüchtern, mehr noch: erschüttern. 381 Es fragt sich, ob und inwiefern die Erfahrung der ›Stille‹ durch die Performanz des Bildes evoziert und erhalten wird. Ähnlich Cézanne vollzieht sich Morandis Sehschulung und seine Suche nach den Elementen, die die Wahrnehmung strukturieren, in den Dingen. Diese sind hier nicht nur Instrumente, die Axiome der Wahrnehmung zu demonstrieren. Vielmehr zeigen jene sich überhaupt erst mit ihnen. Erst in der radikalen Reduktion und Konzentration auf die bloße Gegenständlichkeit der Dinge entwickelt er sein malerisches Konzept. Hierbei geht es ihm darum, die »konventionellen Bilder«, die unseren Umgang mit ihnen bestimmen, »niederzureißen« 382. Ihre Evidenz wird hierbei jedoch nicht infrage gestellt. Im Gegenteil kann eher davon gesprochen werden, dass diese in den Stillleben 383 versiegelt wird. Die Versiegelung vollzieht sich als Zusammenfallen gegenläufiger Bewegungen im Bild. Einerseits sind die ›Gegenstände‹ so nah in Blöcken zusammengerückt, dass sie sich überlagern und nur eine Ahnung dessen zulassen, was ›hinter‹ oder ›zwischen‹ ihnen liegt – Siehe hierzu Burger, Die Stilleben des Giorgio Morandi. Eine koloritgeschichtliche Untersuchung. 378 Vgl. Giorgio Morandi. A Retrospective, BOZAR Centre for Fine Arts, Brüssel 2013, S. 45. 379 Tuymans, Luc: My Name Is Nobody, in: A Retrospective, S. 195–199, hier: S. 195. 380 Raimondi, Jahre mit Giorgio Morandi, S. 16. 381 Vgl. Jaccottet, Philippe: Der Pilger und seine Schale, München 2005, S. 9. 382 Zudem wies er eine metaphysische oder symbolische Deutung seiner Bilder entschieden zurück. Vgl. Roditi, Dialoge über Kunst, S. 184 f. 383 Ich beziehe mich hier auf die späten Arbeiten der Jahre 1940–1964. 377
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teilweise lässt ein Farbfleck auf einen im ›Hintergrund‹ ›versteckten‹ Gegenstand schließen. Auch ist nicht immer klar erkennbar, ob es sich bei einer Fläche um einen Schatten oder ein ›Gefäß‹ handelt. Wie bei Cézanne lässt sich auch hier weder von einer Trennungslinie zwischen den Dingen noch von einem Verzicht auf eine Kontur der Dinge sprechen. An vielen Stellen ist nicht zu definieren, wo das eine ›Ding‹ endet und das andere beginnt. Die Ränder der Dinge sind zugleich Verbindungs- und Trennungsraum, aber auch Orte, an denen das Ding sich in den Hintergrund aufzulösen scheint. Weiter finden sich Stellen im Bild, an denen sich Farbflecken einschieben, die weder dem Hintergrund noch dem Ding zugeordnet werden können. Diese Farbflecke bilden ein undefinierbares ›Drittes‹. Auf den ersten Blick können Einzelgegenstände voneinander unterschieden werden. Sieht man jedoch genauer hin, zeigen sie sich miteinander aufs engste verzahnt. So spricht sich einerseits eine Verflechtung der Dinge aus, aber auch ein Streben nach Exklusivität. Im Sinne Merleau-Pontys zeigt sich hier eine »Welt von wimmelnden, exklusiven Dingen […], die jede für sich den Blick ansprechen« 384. Dieses Zugleich von Anwesenheit und Abwesenheit berührt eine Frage Wittgensteins: »Kann man ein Bild verneinen?« 385 Ihm zufolge gehe dies nicht, was jedoch nicht heißt, dass es sich positiv bestimmen lässt. Im Gegenteil liege das Eigentümliche des Bildes gerade darin, dass es einerseits ›verdammt‹ ist zu zeigen, wobei dieses ›Zeigen‹ keinen Referenzpunkt im Außen hat, sondern einzig innerhalb der Ordnung des Bildes zu verstehen ist. Je nachdem, wie sich das Auge in den Stillleben einrichtet und mit welchem Abstand man den Bildern gegenübersteht, schieben sich andere Nuancen in den Vordergrund. Aus der Nähe betrachtet, fallen die dicken, dynamischen Pinselstriche ins Auge und es zeigt sich, dass das Bild von offenen Stellen durchzogen ist, in denen die Leinwand hindurchscheint. So klebt hier einerseits alles zusammen, ist wie zusammengeschweißt und doch ›atmet‹ es, bewegt sich, wabert. Nicht nur zwischen den Dingen besteht ein Ort des Übergangs, sondern der gesamte Bildraum ist von Rillen und offenen Stellen durchzogen. Die
Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, S. 74. Wittgenstein, Ludwig: Tagebücher, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 123. Eintrag v. 26. 11. 1914. 384 385
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Bilder sind nicht nur versiegelt, sondern auch skizzenhaft, offen und durchlässig. Dass man das Bild nicht verneinen kann, lässt sich so verstehen, dass in ihm jeder Aspekt ins Sichtbare gerückt ist. So verstanden, gibt es weder offene Stellen noch verdeckte Dinge oder Hinter- und Vordergrund. Vielmehr lässt sich mit Rilke sagen, dass das Bild hier ganz Oberfläche ist. Und doch scheint in Morandis Stillleben gerade das Zwischenmoment aus Erscheinung und Verbergung eine besondere Rolle zu spielen, was der These, dass das Bild zur reinen Sichtbarkeit verdammt ist, nicht widerspricht, sondern diese vielmehr bekräftigt. So bezieht sich das gegenseitige Verdecken, das rillenförmige Wabern, in dem die Leinwand sichtbar wird, nicht auf einen eigentlich ›leeren Bildraum‹. Vielmehr ist das, was der gewohnte Blick als ›Leinwand‹ auslegt, Teil der Erfahrung, die das Bild figuriert. Die Bilder verweisen auf keinen Außenraum, sondern sind Szenarien einer Innenschau des Bildes, die sich ganz an der Außenseite der Welt abspielt. Ein ›Innen‹ der Dinge gibt es hier nur insofern dieses auf die Malerei selbst verweist. Doch ist diese Überlegung noch ungenau und orientiert sich am gewohnten Blick. Während dieser versucht, die Dinge vom Geschehen des Bildes abzutrennen, sie beispielsweise in ein Verhältnis zum Bildraum oder zur Farbe setzen will, ist vielmehr zu sagen, dass hier Bildraum und Dingraum unauflöslich miteinander verbunden sind. Das Gewebe, in dem die Dinge stehen, vermag nur mit ihnen und durch sie sichtbar zu werden und anders herum. Sie brauchen einander, keins könnte ohne das andere bestehen. Dieses Gewebe in seine Einzelteile zu zerlegen, würde die Bewegung des Bildes aufheben. Mit Merleau-Ponty gesagt wäre damit sein »Geheimnis« vor uns ausgebreitet, womit es aufhören würde »als Ding zu existieren« 386. Dem Bild gemäß erscheint deshalb eine Annäherung ›vom Rand aus‹, in einer eher ›stammelnden‹ als ›aussprechenden‹ Weise. Eine ›gröbere‹ Sicht auf die Bilder ist hier gegenüber einem verharrenden Blick im Vorteil: Rosa-graue, pastellige, eigentümlich verblichene Farben paaren sich mit einem von überall scheinenden milchigen Licht. Flächen deuten Gegenständliches hinter einem Schleier aus Farbstaub an. Ein verschwiegenes Nirgendwo der Dinge. Ein
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Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 273.
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Grauschleier, hinter dem die Dinge schlafen. Eine Art Schutzschild in grau. Eine immerwährende Dämmerung in rosa-grau. Was so in den Vordergrund tritt, ist eine spezifische Atmosphäre der Bilder. Während im vermeintlich ›genauen Hinsehen‹ vor allem die Konturen der Gegenstände und ihre ›Präsenz‹ wahrgenommen werden, treten bei einem Rückschritt und einer anderen, flüchtigeren Weise der Annäherung – wobei diese sich hier als die genauere erweist – die feineren Nuancen des Bildgeschehens in Sicht. Besonders die auf diese Weise herausstechende eigentümliche Helle wirft weitere Fragen auf: »jenes gleichmäßige, niemals flimmernde oder blendende Licht […] jenes niemals in grellen Strahlen oder aus Wolkenlöchern hervorbrechende, in das sie [die Dinge] getaucht sind« 387. Das Licht scheint hier zugleich »den Dingen innerlich« 388 und gegenstandslos zu sein. Nichts wird »von ihm beschienen oder bestrahlt« 389. Es ist »ohne Quelle« 390 und erweckt den Eindruck eines »stehenden Gewässer[s] aus stillem Licht« 391. Besonders die letzten Formulierungen scheinen der Erfahrung der Stillleben zu entsprechen, beziehen sich jedoch auf die Beschreibung des Lichtes in einem buddhistischen Tempel. Diese Bezugnahme ist wiederum kein Überspringen des Gegenstandes, sondern hat sich vielmehr aus der Annäherung ergeben und stellt eine fruchtbare Ergänzung dar. Im buddhistischen Tempel sammelt sich »stehendes Licht«, das nicht »von oben herab« fällt: Das stehende, ganz unbestimmt, in-different gewordene Licht unterstreicht nicht die Präsenz der Dinge. Es taucht sie in eine Abwesenheit. […] Dieses Licht der In-Differenz, dieses Zwischen-Licht versenkt alles in eine Stimmung der Leere und Abwesenheit. 392
Leere und Abwesenheit treffen bei Morandi auf eine unwiderrufliche Evidenz der Dinge. Beim kursorischen Blick ist jedoch nicht nur das Licht, sondern auch ein Schleier aus Grau auffällig geworden und es war von Farbstaub die Rede. Zeitzeugen berichten, dass Morandi eine Vorliebe für Staub hatte. 393 Er habe darauf geachtet, dass die Staub387 388 389 390 391 392 393
Jaccottet, Der Pilger und seine Schale, S. 36. Ebd., S. 39. Han, Abwesen, S. 47. Ebd., S. 65. Ebd., S. 47. Ebd., S. 49–50. Siehe die Dokumentation »La polvere di Morandi« (Giorgio Morandi’s Dust) von
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schicht der Dinge im Atelier nicht entfernt wird. Auch der Staub, der sich auf den Bildern niederlegt, bildete einen Teil der Vollendung des Werks. Der Staub, also die sichtbargewordene Zeit, paart sich hier mit dem »stehenden Gewässer aus stillem Licht« 394, das eingebettet in eine von Bunttönen befreite Farbpallette zu einem organischen Bildganzen erwächst. Einerseits scheinen die Stillleben Morandis die Evidenz der Dinge hermetisch abzuriegeln und sie vor jeder Infragestellung zu bewahren. Zugleich halten sie die Dinge in einer eigentümlichen Schwebe. So rückt sie der staubige Schleier aus milchiger Helle, von dem sie umgeben sind, in eine unerreichbare Ferne, wobei es genau genommen treffender scheint von einer unerreichbaren Nähe zu sprechen: »Die Wirklichkeit wird eingehüllt in eine traumhafte Schwebe. Die Dinge tauchen auf, um sich wieder in die Abwesenheit zurückzuziehen.« 395 Die Dinge rücken hier so in den Blick, dass sie zum einen »weit mehr ein Abstoßungs- als ein Anziehungspol« 396 sind, aber zugleich den Betrachter zwingen, immer wieder neu in das Gewebe des Bildes einzutauchen. Einerseits scheinen die Gegenstände aus dem Bildgrund hervorzukommen. Zugleich werden sie zurück- und zusammengehalten – so als wären sie nur im Begriff sich zu zeigen. Dieses Changieren zwischen Uneindeutigkeit und Evidenz lässt keinen Raum, etwas in die Dinge hineinzulegen bzw. in sie hinein zu interpretieren, aber eben auch nicht dafür, ihre Präsenz infrage zu stellen. Die Dinge sind nicht »in einem Raum arrangiert […], in den hineinzugreifen möglich wäre«, sondern »wie in die Fläche gebannt, in der ihr eigener Raum ist.« 397 Aus diesem Grund ist es nicht hinreichend, die Stillleben als Verfremdung oder Verklärung des Gewöhnlichen zu deuten, was sich in Anbetracht der ausgewählten Gegenstände aufdrängt. 398 Diese AusMario Chemello, die 2002 in Zusammenarbeit mit dem Museo Morandi entstanden ist. 394 Han, Abwesen, S. 47. 395 Ebd., S. 76. 396 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 274. 397 Gadamer, Ästhetik und Poetik, S. 318 398 Wie dies in einem Katalogbeitrag einer aktuellen Morandi-Ausstellung vorgeschlagen wird. Mutschler, Hans-Dieter: Giorgio Morandi. Die Verklärung des Gewöhnlichen, in: Giorgio Morandi. Licht und Farbe, Ausstellungskatalog Städtische Galerie Schwenningen 2018, S. 9–11, hier: S. 11.
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legung greift deshalb zu kurz, da in ihr ein spezifisches Dingverständnis vorausgesetzt wäre. Allein, wenn ein alltägliches Dingverständnis den Rahmen für die Frage nach der künstlerischen Dingwahrnehmung bildet, kann Kunst als eine spezifische Weise, sich zum Alltagsgegenstand zu verhalten, an diesem unbeachtete Aspekte aufzudecken oder es zu verfremden verstanden werden. Mehr noch, bleibt hier letztlich die alltägliche Sicht auf die Dinge der Prüfstein der Annäherung. Es ist an dieser Stelle jedoch notwendig nach dem Ding von der künstlerischen Wahrnehmung ausgehend zu fragen. Von hier aus ist man mit einem Zirkel aus Entstehen und Vergehen konfrontiert, wobei nicht auszumachen ist, wo diese Bewegung ihren Anfang nimmt und wo sie endet. Wenn der Dichter Philippe Jaccottet meint, dass die Stillleben Morandis ein wenig so seien, »als erblickte man das Zittern des letzten Wortes, das von menschlichen Lippen ausgesprochen werden kann« 399, so lässt sich ergänzen, dass sie genau genommen wie das letzte und erste Wort zugleich sind. Deshalb sind die Bilder so befremdlich, da wir einen Zustand hinnehmen müssen, der in uns Schwanken und Unsicherheit verursacht, da er kein Ende zu nehmen scheint und sich damit jeder Möglichkeit, ihn festzustellen, sträubt.
III.4 Im Namen der Dinge (Ponge) Die Frage, ob sich mit Morandi eine ›Art stiller Rebellion‹ andeutet, findet ihre Antwort in Francis Ponges Parteinahme für die Dinge. 400 Den Dingen zur Sprache zu verhelfen ist für diesen nicht allein poetisches, sondern auch politisches Anliegen. 401 Er sieht in der Hinwendung zu den Dingen ein revolutionäres Potenzial: Von daher überlege ich mir daß man in den Gefühlen des Menschen eine Revolution bewirken könnte einzig dadurch daß man sich den Dingen zu-
Jaccottet, Der Pilger und seine Schale, S. 64. Ponge, Francis: Im Namen der Dinge (1944), Berlin 2017. 401 »Das zur Menschenwelt–Kommen der einfachsten Dinge, ihre In–Besitz–Nahme durch den Geist des Menschen, das Er–Werben der einander ergänzenden Eigenschaften – eine neue Welt, wo die Menschen und die Dinge harmonisiert werden: das ist mein poetisches wie politisches Ziel.« Ponge, Francis: Das Notizbuch vom Kiefernwald und La Mounine, Frankfurt a. M. 1982, S. 71. 399 400
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Im Namen der Dinge (Ponge)
wenden würde, welche sogleich sehr viel mehr zu sagen hätten als die Menschen sie für gewöhnlich zu bedeuten heißen. 402
Ziel dieser Revolution wäre es, »eine neue Welt, wo die Menschen und die Dinge harmonisiert werden« 403, zu schaffen. Aufschluss darüber, wie diese ›neue Welt‹ aussehen könnte, gibt einerseits das Werk Ponges selbst, aber auch Rilke, Cézanne und Morandi können in diesem Sinne als Mitstreiter einer Revolte im Namen der Dinge gelten. 404 So nimmt, was bisher nur am Rande anklang, mit Ponge Kontur an: Der künstlerische Weg zum Ding birgt auch eine ethische Komponente. Die Grundpfeiler in Ponges ›Ding-Ethik‹ sind die Liebe und das Vergnügen. So heißt es exemplarisch in seiner knapp 40 Seiten langen Lobrede auf den Tisch: Ich muss anfangen, meine Liebe, meine Dankbarkeit gegenüber dem Tisch auszusprechen. Tisch, du wirst mir dringend Ja, ich erheitere mich, indem ich skizziere. Aber es gelingt mir kaum, mich über dich lustig zu machen, denn ich kann es nicht ohne deine Stütze. Du bist unverzichtbar für deine Skizzierung. 405
War der Tisch vormals lediglich die stumme Unterlage seiner schriftstellerischen Arbeit, ein ›zuhandenes Zeug‹, gilt es, diesem nun Dankbarkeit zu erweisen und seine Liebe für ihn zu bekunden. Welcher Art diese Liebe, die sich durch das gesamte Werk Ponges zieht, ist, lässt sich schon in diesem kurzen Abschnitt erahnen. Ponge erheitert sich im Schreiben, er vergnügt sich, aber dieses Vergnügen kann nicht in Überschwang ausarten, da die Liebe zum Tisch ihn hier buchstäblich in die Schranken weist. Schließlich wendet sich Ponge diesem nicht einfach so zu, sondern er ist ihm »dringend« geworden und fordert Ponge auf, ihn zur Sprache zu bringen. Ein Lachen über den Tisch würde dieser Dringlichkeit grundlegend widersprechen. Die Heiterkeit kann hier also eher als ein Rühmen oder eine Einweihung des Tisches verstanden werden, denn als eine Belustigung. Der Tisch 402 Ponge, Francis: Schreibpraktiken oder Die stete Unfertigkeit (1988), München 2010, S. 73. 403 Ponge, Das Notizbuch vom Kiefernwald und La Mounine, S. 71. 404 Es drängt sich auf, von hier aus eine Brücke zum Parlament der Dinge von Bruno Latour zu schlagen, wobei auch Erhart Kästners ›Aufstand der Dinge‹ mitberücksichtigt werden müsste. In der Kunst scheint sich dieser Weg zu einer ›Politisierung der Dinge‹ vorzubereiten. An dieser Stelle kann dieser Gedanke leider nicht weiterverfolgt werden. 405 Ponge, Francis: Der Tisch (1976), Klagenfurt 2011, S. 36.
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ist in dem Moment, in dem Ponge für ihn ›Partei ergreift‹ und versucht in seinem Namen zu sprechen, kein Gebrauchsgegenstand mehr. Vielmehr geht es darum, dessen ›Idee‹, also auch seinen Bezug zu Gebrauchszwecken, zu verjagen: »Ich möchte in Den TISCH nur das aufnehmen, was mir natürlicherweise vom Tisch kommt, die Idee des Tisches will ich verjagen.« 406 Um die Idee zu verjagen, setzt sich der Schriftsteller nicht wie gewohnt an seinen Tisch, um ihn für seine Schreibarbeit zu nutzen, sondern er kehrt die Perspektive um und lädt den Tisch ein, bei ihm Platz zu nehmen: Notizen für den TISCH Tisch, komm, nimm Platz, … Komm, Tisch, unter meinen linken Ellenbogen Tisch du wirst mir dringend Komm, Tisch, unter meinen linken Ellenbogen wie du es so oft getan hast, ohne dass in meinem Schreibzeug von dir die Rede war (ohne dass du, du selber in meinem Schreibzeug, vorgekommen bist.) Tisch, komm, nimm Platz unter meinem (linken) Ellenbogen, während dein Begriff in meinen Geist einkehrt. I Tisch, du wirst mir dringend Tisch, komm nimm Platz unter meinem (linken) Ellenbogen wie du es so oft getan hast, ohne dass in meinem Schreibzeug von dir die Rede war. Tisch, heute komm, um mir zu helfen, dich zu befragen, von dir eine Lektion zu erhalten. II Tisch, alles, was ich bis jetzt dank dir schreiben habe können – ja, das ist genug!« 407
Da der Tisch unverzichtbar für seine Skizzierung ist, ist Ponge darauf angewiesen, dass dieser ihm dabei hilft, ihn zu befragen. Hiermit nimmt die Weise, in der Ponge die Dinge liebt, weiter Kontur an. Er überfällt den Tisch nicht mit gewohnten Begriffen, sondern seine
406 407
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Sprache zerbröckelt vor der Präsenz des Dinges und scheint, so Sartre, »verfälscht, verhext zu sein« 408. Die Erfahrung des Gegenstandes lässt sich nicht mit gewohnten Begriffen widergeben, aber auch nicht in einer herkömmlichen Form. Ihr entspricht vielmehr ein »unruhiges Oszillieren zwischen Gegenstand und Wort« 409. Ponge lotet in fortwährenden Wiederholungen, Variationen, Skizzierungen, tagebuchartigen Einträgen und Formwechseln im Vollzug seiner Annäherung die Distanz zum Gegenstand immer wieder neu aus. Ähnlich Morandi ›umgarnt‹ er die Dinge, taucht in die sinnliche Erfahrung mit ihnen ein, um von dort aus, die dieser Erfahrung gemäße Darstellung hervorzubringen. So lässt sich sagen, dass er, ähnlich Rilke, als ›poetischer Zeuge‹ auftritt. Jedoch in anderer Weise als beispielsweise im oben angeführten Karussellgedicht, wo die Spur des Dichters nicht mehr zu erkennen ist und das Ding ganz in seiner Eigenbewegung belassen ist. Im Lichte Ponges erweist sich jedoch der Eindruck, im Karussellgedicht wäre niemand anwesend außer dem Karussell selbst, als Trugschluss. Ponge verschleiert das Zwiegespräch zwischen ihm und dem Ding nicht und lässt den Leser an seiner Begeisterung für das jeweilige Motiv teilnehmen. Auch Rilkes Blick ist nicht der eines neutralen Beobachters, vielmehr ist er affiziert, vom Ding gelockt und in Anspruch genommen. Allein deshalb erscheint es so, als würde sich das Karussell allein um sich selbst drehen, da dieses nicht frontal betrachtet wird, sondern der Gegenstand vielmehr von innen heraus sichtbar gemacht wird. Auch ›Cézannes Dinge‹, die sich gegenseitig ihren Raum streitig zu machen scheinen, sind Ausdruck eines huldigenden Blicks, der den Gegenstand nicht in Besitz zu nehmen, sondern sich ihm bis aufs Äußerste hinzugeben versucht. 410 Die richtige Benennung, Darstellung oder Wiedergabe der Dinge erfolgt hier stets im Vollzug der künstlerischen Suche nach einem ihnen gemäßen Ausdruck. Ponge spricht davon, dass es in dem Moment, in dem er versucht, einem Anspruch der Dinge gerecht zu werden, so sei, »als ob mein Schicksal von ihm abhinge […] als ob alles davon abhinge.« 411 Die Dankbarkeit dem Tisch gegenüber aussprechen zu wollen, resultiert erst daraus, dass dieser ihm immer schon mehr war als lediglich 408 409 410 411
Sartre, Jean-Paul: Der Mensch und die Dinge, Hamburg 1986, S. 107. Ebd. Vgl. ebd., S. 119. Ponge, Der Tisch, S. 15.
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ein in Gebrauchsvollzügen aufgehendes ›Zeug‹. Und doch löst Ponge den Tisch nicht aus den Verweisungsbezügen heraus, sondern taucht vielmehr in diese ein und kehrt von dort aus deren Innenseite nach außen. So kommt er beispielsweise in seiner Annäherung wiederholt darauf zu sprechen, dass der Tisch ihm vor allem eine Stütze sei: »Die Art und Weise, in der ich mich darauf stütze, ist bezeichnend« 412. Zum einen geht es um das gewohnte Abstützen auf dem Tisch, aber im Vollzug der Annäherung entblättert sich erst die darin verborgen liegende existenzielle Bedeutung der ›Tisch-Stütze‹ : »O Tisch, mein Sockel und mein Tröster, Tisch, der mich tröstet, wo ich Halt finde.« 413 Eine längere Abhandlung widmet er auch der Seife. Diese ist zwar auf den ersten Blick nur eine »Art Stein«, allerdings einer, der sich »von der Natur nicht mitspielen läßt: lieber schlüpft er einem durch die Finger und schmilzt zusehends, als sich von den Wassern überrollen zu lassen« 414. Ihrem Wesen gemäß erweist sich die Seife als ein besonders schwer zu fassender Gegenstand, denn sobald sie anfängt zu sprechen, verschwindet sie auch schon: »Über die Seife läßt sich viel sagen. Buchstäblich alles, was sie von sich selbst berichtet, bis zu ihrem völligen Verschwinden, bis zur Erschöpfung des Themas« 415. Erschöpft ist die Seife jedoch zu keinem Zeitpunkt bei Ponge, vielmehr spornt ihn ihr flüchtiges Wesen zu immer neuen Annäherungsversuchen an: »Die Seife hat viel zu sagen. Sie sage es mit Begeisterung, lasse ihre Suada hervorsprudeln. Wenn sie aufgehört hat zu sprechen, existiert sie nicht mehr.« 416 Ihn interessiert nicht der Zustand, in dem die Seife »träge und amorph in einer Schale ruht«, sondern er konzentriert sich vor allem auf das Moment, in dem »die Seife es in der Hand [hat], unsere Hände gefällig, willfährig zu machen, damit sie sich des Wassers bedienen, das Wasser bis ins Letzte für sich nutzen« 417. Erst, wenn Wasser, Luft, Hände und Seife sich berühren, wird aus dem ›amorphen Stein‹ ein »schwatzhafter Stein«, mehr noch, ein »Zauberstein«:
412 413 414 415 416 417
Ebd., S. 26. Ebd., S. 39. Ponge, Francis: Die Seife (1947), München 1969, S. 13. Ebd. Ebd. Ebd., S. 14.
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Im Namen der Dinge (Ponge)
Wenn ich mir die Hände damit einreibe, schäumt die Seife, jubelt sie … Je mehr sie die Hände willfährig macht, schmiegsam, glatt, weich, desto mehr schäumt sie, desto üppiger schäumt sie permutterglänzend auf … Ein Zauberstein! Desto schneller bildet sie mit Luft und Wasser explosive Trauben duftender Beere … Luft, Wasser und Seife greifen übereinander, springen Bock, gehen Verbindungen ein, weniger chemisch als physikalisch, turnerisch, akrobatisch … 418
Zwar wird die Seife gebraucht, dies jedoch allein, um ihr gerecht zu werden und sie zum Jubeln zu bringen: »Um den Eigenschaften dieses Gegenstandes gerecht zu werden, muß ich […] ihn vor Ihren Augen schäumen lassen« 419. Dass die Seife immer dasselbe sagt und »sich allen gegenüber in derselben Weise« 420 äußert, heißt wiederum nicht, dass sie dadurch definiert wäre. Im Gegenteil umspült sie das Wort buchstäblich mit ihrem schäumenden Wesen. Sie lässt sich von diesem nicht einfangen, so dass Ponge bemerkt, dass sein Stil im Laufe des Schreibens »gewissermaßen seifig geworden ist, sprudelnd, schäumend« 421. Hier rückt ein weiteres kennzeichnendes Motiv für Ponges Ding-Poetik in Sicht: die Unmöglichkeit ein Ding gänzlich zu erfassen – eine Erfahrung, die sich für den hier nachgezeichneten künstlerischen Weg zum Ding als entscheidend erweist. Exemplarisch schreibt er über den Kieselstein: Es ist gar nicht leicht, den Kieselstein richtig zu definieren. Begnügt man sich mit einer einfachen Beschreibung, so kann man zunächst sagen, daß es sich bei ihm um eine Form oder einen Zustand zwischen Fels und Kiesel handelt. Aber schon diese Äußerung impliziert einen Begriff Stein, der gerechtfertigt werden muß. Man mache mir keine Vorhaltungen, ich ginge in dieser Angelegenheit noch weiter zurück als bis zur Sintflut. 422
418 419 420 421 422
Ebd., S. 13. Ebd., S. 19. Ebd., S. 24. Ebd., S. 19. Ponge, Im Namen der Dinge, S. 81.
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Kunst als Weg zum Ding in statu nascendi
Ponge umkreist, entfernt und berührt die Gegenstände, aber er ist hierbei nicht darauf aus, diese zu definieren. Vielmehr zelebriert er das flüchtige und unfassliche Wesen der Dinge, denen er dadurch, dass er die Möglichkeit ihrer finalen Bestimmung zurückweist, eine ›Art von Würde‹ verleiht. So taucht er zwar in einen Innenraum der Erfahrung ein, was jedoch nicht bedeutet, dass er die Dinge von dort aus zu fassen versucht. Im Gegenteil strebt er danach, »ihrem Wert gemäß und um ihrer selbst willen« 423 zu sprechen. Gerade weil seine poetischen Versuche sich ihrer Struktur nach jedem Eindruck einer Konsistenz verweigern, halten sie den Raum für das Ding offen. Mehr noch wird auch hier die Unterscheidung von Darstellungsinhalt und Darstellungsweise, also dem Was und dem Wie des Kunstwerks vage. So sind seine Dichtungen weder Darstellung noch Verfremdung der Dinge, sondern vielmehr Ausdruck einer gesteigerten Aufmerksamkeit. Sie verhindern, dass die Dinge zu Objekten werden können. In seinem bekanntesten Werk, le parti pris des choses, das den deutschen Titel Im Namen der Dinge trägt 424, zeigt sich, dass es Ponge nicht nur um die Gebrauchsdinge geht, sondern sein an den Dingen orientierter Blick weiter reicht. So finden dort unter anderem Brot, Schmetterling, Muschel, Orange, Auster, Stein, Türen, Moos, eine Molluske, eine Zigarette, aber auch Regen, Bäume und Wasser Platz. Hierbei, so Sartre, kümmere Ponge »sich nicht um Eigenschaften« 425. Vielmehr sind seine Annäherungen von dem Versuch geleitet, sich ins Innere der Dinge hineinzubegeben und von dort aus die Worte aufkeimen zu lassen, die allein dem jeweiligen Dingzusammenhang entsprechen. Wort und Ding sind hier nicht in einem sekundären Schritt zusammengefügt, sondern bringen sich gegenseitig hervor – analog zum Verhältnis von Farbe und Ding bei Cézanne und Morandi. Besonders anschaulich beschreibt Ponge den Vollzug dieser ›Ding-Wort-Genese‹ an folgender Stelle: »An den typographischen Sträuchern, Bildungen des Gedichts auf einem Weg, der weder aus den Dingen heraus noch zum Geiste führt, bestehen gewisse Früchte aus einer Ballung von Kugelsphären, die ein Tropfen Tinte füllte« 426.
423 424 425 426
Ponge, Francis: Lyren. Ausgewählte Werke, Frankfurt a. M. 1965, S. 141. Siehe Anm. 399. Ebd., S. 119. Ponge, Im Namen der Dinge, S. 11.
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Wort und Ding versetzen sich bei Ponge gegenseitig in Schwingung, so dass der Gegenstand ein Eigenleben zu führen scheint. Seine Dichtungen geben »das Hervortreten des Dinges in der Welt und seine innere Gliederung« 427 wider: »Alle diese Wesen haben einen inneren Zusammenhang […]. Eine seltsam erstarrte Spontaneität […] diese Gegenstände sind verhext« 428. Die verhexten Gegenstände sind die Gedichte selbst bzw. das Zusammenspiel von Ding und Wort. 429 Die Dinge in Ponges Beschreibungen sind keine beliebigen Themen und auch nicht allein Resultat einer Reflexion auf die Grenzen sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten. 430 Zwar gilt seine »eigentliche Bemühung dem Benennen« 431 und er bezeichnet sich selbst als einen »Ex-Märtyrer der Sprache« 432. Und doch ist entscheidend, dass dem Entschluss, seine Arbeit in den ›Dienst der Dinge‹ zu stellen, nicht ein Nachdenken über die Sprache, sondern die Erfahrung eines Anspruchs der Dinge vorausgeht. So wird auch nachvollziehbar, warum in seinen Beobachtungen im Grunde jegliches Nichtmenschliche Eingang findet. 433 Er widmet sich den Dingen, die seiner Ansicht nach »brav« geworden sind, so dass sie »die Menschen überhaupt nicht mehr« beunruhigen und »von diesen nicht einmal mehr aus dem Augenwinkel zur Kenntnis genommen« werden. 434 Die Dinge seien »vollkommen domestiziert, dem Menschen zu Diensten der daraus zu seinem Nutzen Vorteil zieht« 435. Eine Weise, in der sich diese Gezähmtheit der Dinge zeige, seien die Namen, die ihnen ihre Lebendigkeit rauben würden. So gelte es für den Dichter, die Dinge wieder in Bewegung zu bringen: »wie macht er das? Indem er sie in ihrem Wesen wahrnimmt und indem er sie benennt« 436.
Sartre, Der Mensch und die Dinge, S. 121. Ebd., S. 132. 429 Vgl. ebd., S. 121. 430 Vgl. ebd., S. 107. 431 Ebd. 432 Sartre, Der Mensch und die Dinge, S. 107. 433 In Im Namen der Dinge finden sich auch ein Gymnastiklehrer und eine junge Mutter, die beide jedoch ebenfalls von ihren menschlichen Attributen losgelöst betrachtet werden. 434 Ponge, Schreibpraktiken oder die stete Unfertigkeit, S. 69. [Herv. i. Orig.] 435 Ebd., S. 69. 436 Ebd., S. 70. 427 428
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Die »poetische Benennung« 437 ist, wie die skizzierten Beispiele zeigen, etwas anderes, als die Dinge zu bestimmen. Es ist vielmehr die poetische Sichtbarmachung einer inneren Erfahrung der Dinge: In meinem Innersten habe ich (von der Mimose) eine Vorstellung, die es hervorzuholen gilt … Ich frage mich, ob nicht durch die Mimose meine Sinnlichkeit erweckt worden ist … Verzückt trieb ich auf den starken Wellen ihres Duftes. So daß mich jetzt die Mimose, sooft sie in meinem Innern erscheint, um mich erscheint, an all das gemahnt und sogleich verwelkt … Da ich nun einmal schreibe, wäre es unzulässig, wenn es von mir keine Schrift über die Mimose gäbe. 438
Das Innen, von dem Ponge an dieser Stelle spricht, kann mit Merleau-Ponty auch die Innenseite des Leibes genannt werden: »Der Blick ist nämlich selbst Einkörperung des Sehenden in das Sichtbare, Suche nach sich selbst im Sichtbaren, dem es zugehört.« 439 Ponge macht so gesehen das Moment der Wahrnehmung sichtbar, an dem Leib und Ding in einem generativen Verhältnis zu einander stehen. 440 Die Vorstellung von der Mimose ist sinnlich erfahrene Vorstellung. Allein vor dem Hintergrund einer Revitalisierung der sinnlichen Erfahrung mit dem Gegenstand zeigt sich, dass die Namen der Dinge nicht ausreichen um sie ihrem eigenen Maßstab getreu wiederzugeben. Exemplarisch schreibt er zur Muschel: »Eine Muschel ist ein kleines Ding, ich kann es aber ins Riesenhafte vergrößern, wenn ich es an seinen Fundort, die Weite des Sandes, zurückversetze […]« 441. Besonders dem vermeintlich ›Kleinen‹ schenkt Ponge seine Aufmerksamkeit. So wäre die Auster »eine hartnäckige verschlossene Welt«. Hat man es jedoch geschafft sie zu öffnen, »findet man eine ganze Welt, zu essen zu trinken: unter einem Firmament (im eigentlichen Wortsinn) aus Perlmutt«. 442 Ein Schmetterling entpuppt sich als kaum bemerkter Gegenspieler domestizierter Natur: »Ein winziger Segler der Lüfte, vom Wind als überflüssiges Blatt misshandelt, vagabundiert er im Garten.« 443 Um die Orange hinreichend zu beschreiben, fehlt es an Worten, »um die Bewunderung einzugestehen, Sartre, Der Mensch und die Dinge, S. 121. Zit. n. Sartre, Der Mensch und die Dinge, S. 107. 439 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 173. 440 Siehe hierzu das anschließende Kapitel zum poetischen Moment der Wahrnehmung. 441 Ponge, Im Namen der Dinge, S. 57. 442 Ebd., S. 19. 443 Ebd., S. 35. 437 438
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welche die Hülle des zarten, fragilen, rosigen Ballons von ovaler Form in diesem dicken, feuchten Löschpapierpropfen verdient« 444. Auch hier zeigt sich, dass die Liebe maßgebend für Ponges poetische Parteinahme für die Dinge ist. Indem er diese Liebe ausdrückt, verschwistert er sich mit den Dingen und errichtet nicht nur ihnen eine poetische Heimstätte, sondern auch sich selbst: Wenn ich schließlich doch mit dem Dasein einverstanden bin, so unter der Bedingung, es voll und ganz hinzunehmen, insofern es alles in Frage stellt; wie immer und so schwach meine Mittel auch sein mögen, […]; ich sehe nicht ein, weshalb ich nicht anfangen sollte, uneingeschränkt zu zeigen, daß es möglich ist, endlose Abhandlungen über die einfachsten Dinge zu schreiben, die aus ganz neuen, noch ungesagten Erklärungen bestehen würden, weil nämlich, um was es sich auch immer handelt, nicht allein noch nicht alles darüber gesagt worden ist, sondern noch beinahe alles darüber zu sagen bleibt. 445
Die Hinwendung zu den Dingen stellt sich gegen die Annahme einer Vormachtstellung des Menschen. Jener, so Ponge, sollte sein »Genie zur Anpassung benutze[n]« und »sein Trachten darauf richte[n] für Generationen eine Wohnstatt, nicht viel größer als sein Körper zu errichten« 446. Am Vorbild der Dinge sei es ihm aufgetragen, die eigenen Umgrenzungen wahrzunehmen und sich innerhalb dieser Grenzen in der Welt einzurichten. Dieses Einrichten in der Welt müsse jedoch im Umkreis der Dinge erfolgen: Es ist dem Menschen in jedem Augenblick eine Beschäftigung vorbehalten […], das Bemerken dessen, was ihn umgibt, und seines eigenen Standes inmitten dessen, was ihn umgibt. Er wird sogleich die Wichtigkeit eines jeden Dinges erkennen, und die stummen Flehen, die stummen Klagen, die sie erheben daß man sie sprechen möge, ihrem Wert gemäß und um ihrer selbst willen – außerhalb ihres gewohnten Bedeutungswertes – ohne die Auswahl und doch mit Maß aber welchem Maß: ihrem eigenen. 447
444 445 446 447
Ebd., S. 17. Ponge, Einführung in den Kieselstein, S. 145. Ponge, Lyren, S. 141. Ebd.
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Kunst als Weg zum Ding in statu nascendi
III.5 Sichhineinversenken in die sinnliche Welt Rilke, Cézanne, Morandi und Ponge haben sich zum Ziel gesetzt, sich ganz auf die leibliche Wahrnehmung und Erfahrung der Dinge zu besinnen. Wo der Hausvater bei Kafka verzweifeln muss, da die Unfasslichkeit Odradeks nicht mit seiner gewohnten Ordnung vereinbar ist, halten sich die vier Künstler an den Rändern gewohnter Wahrnehmung auf und tauchen in jenen sich bei Kafka abzeichnenden asymmetrischen Dialog mit dem Gegenstand ein. Es lässt sich sagen, dass sie sich an dem »Teil des Weges« 448 aufhalten, den Künstler und Phänomenologe laut Wilhelm Schapp zusammengehen. Diesen Wegabschnitt nennt er auch ein »Sichhineinversenken in die sinnliche Welt« 449. So wäre für den Phänomenologen die Hauptsache, daß diese Welt nicht irgendwie schematisch in Formeln eingezwängt wird, sondern, daß sie in der Ursprünglichkeit ihrer Gegebenheitsweise von Anfang bis zu Ende und bei jedem Schritt der Untersuchung gegenwärtig ist 450.
Demnach müsse »der Phänomenologe […] in gewisser Weise die Anlage eines Künstlers und der, der die Wahrnehmung untersucht, Anlage zum Maler haben« 451. Zwar sei »die Wegstrecke, die Phänomenologe und Maler zusammengehen, nur kurz« 452, jedoch sei es ein entscheidender Teil des Weges, der sie verbindet. Von einer Verwandtschaft von Kunst und Phänomenologie spricht auch Husserl in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal. Ähnlich Schapp sieht er diese darin, dass die phänomenologische Methode eine von der »natürlichen wesentlich abweichende Stellungnahme zu aller Objectivität« 453 verlange, die dem durch die Kunst evozierten Zustand reiner Anschauung ähnele: »Das Kunstwerk versetzt uns (erzwingt es gleichsam) in den Zustand rein ästhetischer, jene Stellungnahmen ausschließenden Anschauung« 454.
448 Schapp, Wilhelm: Beiträge zu einer Phänomenologie der Wahrnehmung, Wiesbaden 1976, S. 12. 449 Ebd. 450 Ebd. 451 Ebd. 452 Ebd. 453 Zit. n. Hirsch, Rudolf: Beträge zum Verständnis Hugo von Hofmannsthals, Frankfurt a. M. 1995, S. 275 f. 454 Ebd.
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Sichhineinversenken in die sinnliche Welt
In Anbetracht der vorangehenden Ausführungen ist hingegen zu sagen, dass diese Bestimmung sowohl für die Malerei als auch für die Dichtung veranschlagt werden kann. Zugleich hat sich gezeigt, dass das Eintauchen in die sinnliche Wahrnehmung gerade keine jegliche Stellungnahme ausschließende Anschauung ist, sondern vielmehr ein Moment der Sinnbildung. Im künstlerischen Weg zum Ding in statu nascendi rückt ein poetisches Moment der Wahrnehmung in Sicht.
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IV Das poetische Moment der Wahrnehmung
Die Welt der Wahrnehmung, das heißt die Welt, die sich uns durch unsere Sinne und durch die Lebenspraxis erschließt, scheint uns auf den ersten Blick bestens bekannt zu sein, da es keines Instrumentes und keiner Berechnung bedarf, um Zugang zu ihr zu haben, und es uns dem Anschein nach genügt, die Augen zu öffnen und uns dem Leben zu überlassen, um sie ergründen zu können. 455
Dass es nicht ›genügt‹ die Augen zu öffnen, um die Welt der Wahrnehmung zu erfahren, zeigt sich in der Kontrastierung der alltäglichen und künstlerischen Wahrnehmung der Dinge. Während das sinnliche Band zwischen uns und der Welt im Alltag zugunsten einer selektiven Sicht zerteilt wird, hält die Kunst bei diesem Band inne. In ihr offenbart sich eine »unbegrenzte Fruchtbarkeit jeder Gegenwart« 456 – mit anderen Worten: das poetische Moment der Wahrnehmung. Wahrnehmung meint hier weder »eine bloße Reaktion auf die Einwirkung äußerer Dinge auf unseren Leib« noch Ausdruck einer »Selbstständigkeit des Bewußtseins« 457. Sofern »ich einen Gegenstand mit dem einzigen Absehen, ihn existieren und die Fülle seines Wesens vor mir entfalten zu sehen« betrachte, »ist er nicht mehr nur Anspielung auf einen Allgemeintyp, und ich entdecke alsbald, daß eine jede Wahrnehmung […] stets aufs Neue zur Quelle ursprünglicher Einsicht wird […]« 458. Die oben zitierte bildhafte Beschreibung der Wahrnehmung als »Paarung unseres Leibes mit den Dingen« 459 ist somit wörtlich zu nehmen. Erst in der Berührung von Leib und Ding wird Wahrnehmung, die ihrerseits Ausdruck dieser Berührung ist. Hiermit ist sowohl die Auffassung eines im Inneren der Dinge verborgenen Bedeutungssinns, der zu dechiffrieren wäre, als auch, dass es einen letztgültigen Sinn der Dinge gibt, zurückgewiesen. Der Sinn des Din455 456 457 458 459
Merleau-Ponty, Maurice: Causerien 1948. Radiovorträge, Köln 2006, S. 13. Merleau-Ponty, Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, S. 139. Merleau-Ponty, Schrift für die Kandidatur am Collège de France, S. 3. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 66. Ebd., S. 370.
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Das poetische Moment der Wahrnehmung
ges existiert für den Leib nicht »für sich in der Welt, noch wird er dem Ding kraft einer konstituierenden Leistung verliehen« 460. Er ist »nur in unmittelbarem Kontakt zugänglich« 461. Dass er ›zugänglich‹ ist, besagt wiederum nicht, dass er lediglich zu entdecken wäre. Vielmehr ist jede Wahrnehmung »bereits ein Ausdruck« 462. Sie ist kein rezeptiver oder konstituierender, sondern ein generativer Akt. Im Leib als »Ausdrucksraum ausgezeichneten Sinnes« 463 gebärt und moduliert sich die sinnliche Welt in einer Bewegung. So lässt sich sagen, dass sich im Vollzug der Wahrnehmung das Verhältnis von Sinn und Nicht-Sinn fortwährend auslotet, womit auch von einem ›Sinn im Entstehen‹ 464 gesprochen werden kann. 465 Rilkes Evokation einer unerschöpflichen Oberfläche der Dinge, Cézannes Farbe, die die Dinge in einer pulsierenden Bewegung hält, Morandis Versiegelung der feinen Licht-Staub-Verbindungen, in denen die Dinge in einer entrückten Anwesenheit gehalten werden und Ponges Parteinahme für die kleinen Dinge, in der die Worte sich derart dem Gegenstand anschmiegen, so dass dessen leibliche Gegenwärtigkeit spürbar wird, sind Wege »das Objekt in statu nascendi wiederzufinden, die Urschicht der Ideen wie Dinge allererst entspringen« 466. Die primordiale »Vibration der Erscheinungen, die die Wiege der Dinge ist« 467, wird von ihnen nicht nur geordnet, sondern vielmehr das Moment, in dem Ordnung entsteht, eigens sichtbar gemacht. Kunst überspringt weder die »Welt in ihrer Dichte« 468 noch ist sie »als eine Schöpfung aus dem Nichts zu verstehen« 469. In ihr wird »die ursprüngliche Welterfahrung« reformuliert, womit sie im Sinne Merleau-Pontys »wahrer Ausdruck« ist. 470 Dies insofern, als das Aus460 Springstübe, Darja, Über Wahrnehmung und Ausdruck in der Philosophie Maurice Merleau-Pontys, Berlin 2013, S. 42. 461 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 181. 462 Merleau-Ponty, Die Welt der Sinnlichkeit und die Welt des Ausdrucks, in: Ders., Vorlesungen I, S. 54. 463 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 176. 464 Merleau-Ponty, Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, S. 154. 465 »[…] das Werk selbst ist ein werdender Sinn, der sich in Übereinstimmung mit sich selbst oder in Reaktion gegen sich selbst konstruiert […]« Merleau-Ponty, Lob der Philosophie, S. 24. 466 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 257. 467 Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 23. 468 Ebd., S. 19. 469 Orlikowski, Merleau-Pontys Weg zur Welt der rohen Wahrnehmung, S. 52. 470 Springstübe, Über Wahrnehmung und Ausdruck, S. 91.
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Das poetische Moment der Wahrnehmung
drücken für ihn »Poesie« sein muss, »das heißt, es muß unser reines Ausdrucksvermögen zur Gänze über die schon gesagten oder gesehenen Dinge hinaus wecken und versammeln« 471. In Anlehnung an André Malraux nennt Merleau-Ponty den Ausdruck auch eine »kohärente Deformierung« 472. Jeder Ausdruck sei demnach Veränderung und Neuformulierung, nicht Wiederholung, aber auch nicht vollkommene Neuschöpfung. Kunst, als Ausdruckshandlung 473 verstanden, bildet die sichtbaren Dinge so gesehen nicht ab, sondern macht sichtbar, was im profanen Sehen in den Hintergrund rückt: die unauflösliche Verflechtung und Koexistenz von Ding, Leib und Welt. Diese Verflechtung auszudrücken, bedeutet Verborgenes sichtbar zu machen, wobei der Vollzug der Sichtbarmachung in dem Sinne poetisch ist, dass hier eine Innenseite der Dinge sichtbar wird: »In Wahrheit ist jede Farbe ihrem innersten Wesen nach nichts als äußere Bekundung der inneren Struktur der Dinge.« 474 Hierbei ist entscheidend, dass dies nicht bedeutet, dass der Künstler ein rein erschautes Inneres der Dinge ungefiltert wiedergibt. Vielmehr ist Wahrnehmung immer schon stilisierend und jede Wahrnehmung bereits eine ›kohärente Deformierung‹ : Jedes inkarnierte Subjekt ist wie ein offenes Register, dessen künftige Eintragungen nicht im voraus erkannt werden können; – oder es ist wie eine neuartige Sprache, deren Schöpfungen unbekannt sind, die aber – wenn sie einmal zum Vorschein gekommen sind – nicht umhin können, wenig oder viel zu sagen, eine Geschichte oder einen Sinn zu haben. 475
Der Leib ist, so gesehen, poetischer Raum par excellence. Er lässt ein Außen in sich eingehen und drückt dieses in seinen Gebärden, Gesten und Bewegungen aus, wobei der künstlerische Ausdruck wiederum die Sichtbarmachung dieses leiblichen Ausdrucksvermögens ist. Wahrnehmung als Ausdrucksgeschehen zu verstehen bedeutet folglich nicht, dass in ihr ›etwas‹ durch ein anderes ausgedrückt wird, sondern vielmehr Wiederaufnahme, Reformulierung, Vergegenwärtigung, Sichtbarmachung oder Verwirklichung.
Merleau-Ponty, Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, S. 129. Ebd., S. 132 f. Siehe hierzu: Springstübe, Über Wahrnehmung und Ausdruck, S. 77. 473 Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 22 474 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 268. 475 Merleau-Ponty, Schrift für die Kandidatur am Collège de France, S. 6. 471 472
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Appellstruktur der Dinge
Im Folgenden gilt es, verschiedene Nuancen des poetischen Moments der Wahrnehmung, die mit der Kunst sinnfällig wurden, aufzugreifen und zu vertiefen. Zum einen deuten sich hier Berührungspunkte von künstlerischer und kindlicher Wahrnehmung an, die sich in der Erfahrung einer Appellstruktur der Dinge aussprechen. Appellierende Dinge sind vieldeutige Dinge, die dazu auffordern, sie in neue Bezugsketten zu überführen. Weiter verweist die primordiale Erfahrung auf ein generatives Wechselverhältnis der Sinne. Leibliche Wahrnehmung ist synästhetisch, womit Sehen hier immer schon ein Berühren und Abtasten der Umgebung, zu der wiederum die Dinge gehören, ist. Diese Verflechtung und Vieldeutigkeit drückt sich schließlich auf besondere Weise im Kunstwerk als Ort der Sinngenese aus.
IV.1 Appellstruktur der Dinge War weiter oben von einem Vertrauen in die Verlässlichkeit der Dinge die Rede, in dem die »unaufdringliche Verdecktheit automatischen Ablaufs« 476 die Dinge buchstäblich unsichtbar mache, erweist sich diese Sicht auf das Verhältnis zu den Dingen vor dem Hintergrund des künstlerischen Weges zum Ding als nicht hinreichend. Während im alltäglichen Umgang davon ausgegangen wird, dass wir etwas mit den Dingen ›anstellen‹, wird mit der Kunst eine Appellstruktur der Dinge sinnfällig. So steht beispielsweise Cézannes Arbeit sur le motif im Zeichen einer Inanspruchnahme durch die Dinge, die die Annahme einer einseitigen Bezugnahme auf die Dinge infrage stellt. Seine Malerei kann als Zeugnis eines Sehens verstanden werden, das versucht einem Appell der Dinge zu entsprechen: »mein Auge klebt an einem Ast, einer Scholle. Ich leide darunter, wenn ich es davon losreiße so sehr kann mich ein Ding fesseln« 477. Künstlerische Wahrnehmung äußert sich hier als ein Zwiegespräch mit den Dingen, wobei es darum geht: »Statt von den Dingen, mit den Dingen zu sprechen.« 478 Appellstruktur und Verlässlichkeit der Dinge stehen einander jedoch nicht diametral gegenüber. Vielmehr wird mit der Kunst sinnfällig, was im Alltag in den Hintergrund rückt. So kann 476 477 478
Grote, Die Welt der Dinge, S. 96. Doran, Gespräche mit Cézanne, S. 154. Rilke, Rainer Maria: Von Kunst-Dingen, Leipzig/Weimar 1990, S. 26.
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Das poetische Moment der Wahrnehmung
auch in Bezug auf die alltägliche Wahrnehmung davon gesprochen werden, dass das Handeln mit der Aufforderung der Dinge einsetzt: Diese Aufforderung geht von der Art und Weise aus, wie die Dinge uns entgegentreten. […] Die Treppe, die dazu reizt, nach oben zu gehen, die Tür, die geöffnet werden will, sie bringen beide etwas zum Ausdruck (die Möglichkeit einer Öffnung); sie appellieren an uns (indem sie zeigen, wie sie sind); […]. All dies deutet darauf hin, daß mein Handeln abhängt von der Art und Weise, wie die Dinge mir begegnen. Das Handeln beginnt mit der Aufforderung der Dinge […]. 479
Zugleich ist auch hier der Appell nicht allein ein Widerfahrnis, sondern, der Kunst gleich, eine Aufforderung zur Auseinandersetzung. So appellieren die Dinge nicht nur, »indem sie zeigen, wie sie sind«, sondern vor allem auch indem sie zeigen, wie sie sein könnten. Während sich im Alltag eine Vielzahl möglicher Verhaltungsweisen »zu einer einzigen Reaktionsgestalt auf das Ding hin« 480 verdichtet hat, rückt in der Erfahrung seiner Appellstruktur vor allem auch dessen Vieldeutigkeit in Sicht. Dies zeigt sich neben der Kunst besonders im Modus kindlicher Wahrnehmung. 481 Ähnlich dem Künstler ist das Kind ganz Antwort: »alles geschieht ihm, meint es, begegnet ihm, stößt ihm zu« 482. Dem Kind geht es nicht darum, mit den Dingen etwas zu bewirken, zu erledigen, sie für etwas zu gebrauchen, sondern sich ihnen vielmehr von ›innen‹ anzunähern und in ihre ›schlichte Anwesenheit‹ einzutauchen: »Der Tisch bietet sich an, zur Höhle zu werden, die das Kind umhüllt und vor der Fremde schützt. Ebenso bietet er sich an, ihn mit wachsendem Mut in eine Aussichtsplattform zu verwandeln« 483. Das Kind setzt die Dinge »in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander« 484. Ähnlich dem Sammler baut es sich eine Dingwelt, die ihren eigenen Gesetzen folgt:
Waldenfels, Das leibliche Selbst, S. 374–375. Grote, Die Welt der Dinge, S. 95. 481 Zur Annahme einer Appellstruktur der Dinge und der Relevanz für Pädagogik und Bildungstheorie siehe: Meyer-Drawe, Käte: Herausforderung durch die Dinge. Das Andere im Bildungsprozeß, in: Zeitschrift für Pädagogik 45 (1999) 3, S. 329–336. 482 Benjamin, Einbahnstraße, S. 42. 483 Stieve, Claus: Vom intimen Verhältnis zu den Dingen. Ein Verständnis kindlichen Lernens auf der Grundlage der asubjektiven Phänomenologie Jan Patočkas, Würzburg 2003, S. 45. 484 Benjamin, Einbahnstraße, S. 18. 479 480
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Appellstruktur der Dinge
Jeder Stein, den es findet, jede gepflückte Blume und jeder gefangene Schmetterling ist ihm schon Anfang einer Sammlung, und alles, was es überhaupt besitzt, macht ihm eine einzige Sammlung aus. […] ›Aufräumen‹ hieße einen Bau vernichten voll stachliger Kastanien, die Morgensterne, Stanniolpapiere, die ein Silberhort, Bauklötze, die Särge, Kakteen, die Totembäume und Kupferpfennige, die Schilde sind. 485
Beim Sammeln, so Benjamin, sei »das Entscheidende, daß der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird um in die denkbar engste Beziehung zu seines gleichen zu treten« 486. Das Verhältnis des Sammlers zu den Dingen sei dadurch bestimmt, dass dieser nicht ihren Funktionswert, Nutzen oder ihre Brauchbarkeit ins Zentrum rückt, »sondern sie als den Schauplatz, das Theater ihres Schicksals studiert und liebt« 487. So werden die Fundstücke mit penibler Sorgfalt studiert und »die Oberfläche, die Außenseite, die Gesichter der Dinge genau« 488 in den Blick genommen. Sammler »sind Spezialisten für die Stofflichkeit, für Form, Farbe, Geruch und Textur der Dinge, für deren Materialität, nicht für ihre Brauchbarkeit, ihre Funktion. […] Daher werden die so gesammelten Dinge auch nicht in herkömmlicher Weise geordnet« 489. Vielmehr verändert sich die Ordnung »in einer steten Offenheit gegenüber den Aufforderungen der Dinge« 490. Diese Offenheit für die Appellstruktur der Dinge widerspricht nicht, sondern korrespondiert mit einer Freiheit des Ausdrucks, die für Merleau-Ponty besonders in Kinderzeichnungen sinnfällig wird. Die Freiheit zeige sich darin, dass das Kind »einen Kubus zum Beispiel durch sechs ›getrennte‹ und auf dem Papier nebeneinandergerückte Vierecke auszudrücken« vermag oder »die zwei Seiten einer Spule ins Bild zu bringen und sie durch eine Art von verdrehtem Ofenrohr zu vereinigen« und »den Toten so darzustellen, daß er in seinem Sarg sichtbar wird, den Blick durch vom Kopf getrennte Ebd., S. 41 f. Benjamin, Walter: Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV, Hrsg. von Tillman Rexroth. Frankfurt a. M. 1972, S. 388–396, hier: S. 388 f. 487 Ebd. 488 Kimmich, Lebendige Dinge in der Moderne, S. 62. 489 Ebd. 490 Stieve, Sich von Kindern irritieren lassen. Chancen phäomenologischer Ansätze für eine Ethnographie der frühen Kindheit, in: Schäfer, Gerd / Staege, Roswitha (Hrsg.): Frühkindliche Lernprozesse verstehen. Ethnographische und phänomenologische Beiträge zur Bildungsforschung, Weinheim 2010, S. 28. 485 486
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Das poetische Moment der Wahrnehmung
Augen zu bezeichnen«, aber auch »die ›objektiven‹ Konturen der Allee oder des Gesichtes wegzulassen und dafür die Wangen mit einer Rundung anzudeuten« 491. Kinder haben noch keine gleichmäßig perspektivische Wahrnehmung, sondern nehmen etwas in den Blick, auf das sich alles andere ausrichtet. Sie haben noch nicht alles, was sie sehen, in ein Schema geordnet, in dem die Dinge in bestimmter Weise strukturiert wären 492.
Im kindlichen und künstlerischen Ausdruck wird der Gegenstand weder beherrscht noch wird vor seinen Appellen ›kapituliert‹. Vielmehr drückt sich hier aus, was Merleau-Ponty »bedingte Freiheit« 493 nennt. Demnach vermag einerseits das Verhältnis zu den Dingen verändert zu werden, wobei hiermit nicht die leibliche Verbindung zu ihnen aufgetrennt werden kann: »es gäbe kein Sich-losreißen, wäre die Freiheit nirgends festgelegt und wäre sie nicht immer darauf angelegt, sich anderswo zu fixieren« 494. Freiheit ist demnach situierte Freiheit, die aus den Dingen heraus agiert und diesen weder über- noch untergeordnet ist. Die kindliche Dingwahrnehmung ist keine Variation oder Vorstufe eines korrekten, erwachsenen Umgangs mit den Dingen, sondern eine Erfahrungsebene eigenen Rechts – was auch für die künstlerische Wahrnehmung gilt. So lässt sich sagen, dass Kinder sich an den Rändern der gedeuteten Welt des Erwachsenseins aufhalten. Hier geht es in erster Linie darum, die Dinge zu erfahren und in einen leiblichen Austausch mit ihnen einzutauchen. Die besondere Weise des kindlichen Ding-Erlebens deutet sich auch in Rilkes Gedicht Kindheit an: Es wäre gut viel nachzudenken, um von so Verlornem etwas auszusagen, von jenen langen Kindheits-Nachmittagen, die so nie wiederkamen – und warum? Noch mahnt es uns: vielleicht in einem Regnen, aber wir wissen nicht mehr was das soll; nie wieder war das Leben von Begegnen, von Wiedersehn und Weitergehn so voll
491 492 493 494
Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, S. 165. Stieve, Vom intimen Verhältnis zu den Dingen, S. 27. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 497. Ebd.
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Appellstruktur der Dinge
wie damals, da uns nichts geschah als nur was einem Ding geschieht […] 495
Das Gedicht stellt Kind und Ding auf eine Stufe: »nie wieder war das Leben von Begegnen, / von Wiedersehn und Weitergehn so voll / wie damals, da uns nichts geschah als nur / was einem Ding geschieht«. Die Welt stößt dem Kind zu, das, wie ein Ding, in das eingelassen ist, was im weiter oben zitierten Abschnitt aus den Duineser Elegien das ›Offene‹ genannt wurde. Im Raum des Offenen bietet sich das Wahrgenommene als Einladung zu einem spielerischen und zugleich bewahrenden Umgang dar. Rilke assoziiert das Offene auch mit dem »reinen Raum« 496. In der Erfahrung des ›reinen Raums‹ wird sich das Wahrgenommene nicht angeeignet oder in Besitz genommen. Vielmehr geht es hierbei um eine Haltung des Verzichts. 497 Dieses Verzichten ist zugleich eine Form der Verbundenheit und Aufmerksamkeit, in der die widersprüchlich scheinenden Modi der Passivität und Aktivität zusammenfallen: Der Appell der Dinge stößt dem Leib zu und zugleich wird das Ding im Vollzug der Wahrnehmung »von uns innerlich übernommen, rekonstruiert und erlebt« 498. Mit dem Appell der Dinge ist eine Ambivalenz angezeigt. Einerseits laden sie dazu ein, etwas mit ihnen anzustellen, widersetzen sich jedoch einer finalen Deutung, da sich mit der Appellstruktur auch ihre Polysemie andeutet. Die Appellstruktur der Dinge erschöpft sich folglich nicht darin, davon auszugehen, dass Dinge beispielsweise alltägliche Abläufe zu stören vermögen. Vielmehr öffnet sich mit ihr eine Möglichkeit, unser Zur-Welt-sein zu verstehen. Während sich, wie bereits angemerkt, die neuzeitliche »Eroberung der Welt« 499 als »uneingeschränkte Gewalt der Berechnung, der Planung und der Züchtigung aller Dinge« 500 äußert, rückt mit der Hervorhebung einer Appellstruktur der Dinge eine Parallelität von Ding und Mensch in den Fokus. Hiermit ist jedoch kein Verhältnis der Koinzidenz 501 oder Symmetrie angezeigt, sondern eine Bewegung der Annäherung und Rilke, Neue Gedichte, S. 38 f. Rilke, Duineser Elegien, S. 39. 497 Siehe hierzu Kapitel V der vorliegenden Arbeit. 498 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 377. 499 Heidegger, Zeit des Weltbildes, S. 87. 500 Ebd., S. 94. 501 Siehe hierzu Orlikowski, Merleau-Pontys Weg zur Welt der rohen Wahrnehmung. 495 496
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Das poetische Moment der Wahrnehmung
Distanznahme. So verweist die Rede von einer Appellstruktur der Dinge darauf, dass jene einerseits Einladungen sind, sich ihnen anzunähern, sie sich jedoch zugleich einer gänzlichen Verfügung entziehen. Ding und Wahrnehmender sind hier in einem Spannungsfeld aus Nähe und Distanz gehalten. Käte Meyer-Drawe bringt dies wie folgt auf den Punkt: »Dinge sprechen mich an, aber sie meinen mich nicht« 502. In ähnlicher Weise spricht Merleau-Ponty davon, dass das Ding »für uns viel mehr ein Abstoßungs- als ein Anziehungspol« 503 ist. In der Annahme einer Appellstruktur der Dinge geht es nicht darum, davon auszugehen, dass Dinge unsere Beschlüsse, Handlungen und Wahrnehmungen diktieren, sondern ihnen als sich entziehende und uns ansprechende eine maßgebliche Rolle an unserer Weise des Zur-Welt-seins zuzuschreiben: »Sie evozieren unser Wahrnehmen, Sprechen, Handeln und Denken. […] Sie lassen es zu, daß unsere Erfahrung an sie anknüpft« 504. Die Begegnung mit den Dingen wird weder »von meinen Beschlüssen, Entscheidungen und Setzungen regiert« noch stützt sie sich »auf fertige Lösungen in den Dingen« 505. Als offene Situation lässt sie vielmehr Möglichkeiten zu, was »uns immer wieder nötigt, neue Antworten zu erfinden« 506.
IV.2 Tasten mit dem Blick Der leibliche Blick sieht nicht wie durch einen Guckkasten auf die Welt und bewohnt kein vom Körper getrenntes geistiges Auge. Hingegen ist er »ins Gewebe der Dinge« 507 eingelassen. 508 Weder bewegt er sich aus diesem ›Gewebe‹ im Sehen hinaus noch hinein. Er ist allein als Moment einer Verflechtung von Ding und Auge, also als Überkreuzung von Anblick und Rückblick, Sichtbarem und Unsichtbarem, Vorder- und Hintergrund. Der vorangehend skizzierte künstlerische Wahrnehmungsvollzug macht jene Verflechtung des Auges Meyer-Drawe, Käte: Zur Sache der Dinge, in: Därmann, Iris (Hrsg.): Kraft der Dinge. Phänomenologische Skizzen, Paderborn 2014, S. 111–125, hier: S. 117. 503 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 374. 504 Meyer-Drawe, Herausforderung durch die Dinge, S. 332. 505 Waldenfels, Das leibliche Selbst, S. 375. 506 Ebd. 507 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 178. 508 Vgl. Ebd., S. 181. 502
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Tasten mit dem Blick
in den Dingen eigens sichtbar. Und doch ist zu sagen, dass nicht allein eine Kunst, die sich dezidiert der Sichtbarmachung einer eigenen Ordnung der Dinge widmet, Ausdruck eines leiblichen Sehens ist. Vielmehr, so Merleau-Ponty, wird im künstlerischen Ausdruck stets eine spezifische Auslegung des leiblichen Anhalts in den Dingen sinnfällig: »Wie sollten Maler oder Dichter etwas anderes aussagen als ihre Begegnung mit der Welt?« 509 Auch die so genannte ›Zentralperspektive‹, die mit Merleau-Ponty eine ›Domestikation des Blicks‹ genannt werden kann, ist, sofern man den Leib als ›Nullpunkt der Erfahrung‹ versteht, Ausdruck leiblicher Erfahrung. Der Unterschied zu den oben skizzierten künstlerischen Referenzen besteht darin, dass in jenen die Leiblichkeit eigens aufgesucht wird, wohingegen sie in klassischen Darstellungen zugunsten eines im Vorhinein an die Dinge herangetragenen perspektivischen Winkels ›verkürzt‹ ist. Diese ›Verkürzung‹ ist so gesehen weder Darstellung noch Abbild, sondern »eine mögliche Interpretation des spontanen Sehens« 510. Eine mögliche Interpretation ist sie jedoch nicht, »weil die wahrgenommene Welt ihre Gesetze verleugnet und uns andere aufzwingt, sondern vielmehr, weil sie keine verlangt und weil sie nicht zur Ordnung der Gesetze gehört« 511. Im Gegensatz dazu lässt sich sagen, dass beispielsweise Morandis Werk nicht nur aus der Erfahrung einer Überlappung von Auge und Ding entsteht, sondern Vollzug und Ausdruck ihrer Verflechtung ist – der Blick des Künstlers lässt hier buchstäblich nicht vom Ding ab. Wie die Dinge im gewohnten Umgang eine Sinneszone des Leibes geworden sind, findet Morandis Auge keine fertige Dingwelt vor. Es bewegt sich innerhalb mannigfacher Überlappungen von Empfindungen und Sinneseindrücken, die sich in ihm gebären und in dessen Sichtbarkeit es eingebettet ist: Gegeben sind also nicht etwa mit sich identische Dinge, die sich dem Sehenden im nachhinein darbieten würden, und ebenso wenig gibt es einen zunächst leeren Sehenden, der sich im nachhinein öffnen würde, sondern gegeben ist etwas, dem wir uns nur nähern können, indem wir mit dem Blick abtasten, Dinge, die wir niemals ›ganz nackt‹ zu sehen vermöchten, weil der Blick selbst sie umhüllt und sie mit seinem Fleisch bekleidet. 512
Vgl. Merleau-Ponty, Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, S. 135. 510 Ebd., S. 124. 511 Ebd. 512 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 173. 509
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Das poetische Moment der Wahrnehmung
Morandis Blick entkleidet und umhüllt die Gegenstände in einer Bewegung. Zwar entledigt er sie ihren gewohnten Bedeutungen, bekleidet sie jedoch zugleich mit einem allein für sie entworfenen ›Gewand‹ aus Staub, Farbe und Licht. Dieses Gewand umhüllt sie nicht nur, sondern gehört zu ihnen wie für uns die Wärme zur Sonne. Der Pinsel ist hier nicht nur Mittler von Auge und Ding oder Idee und Ausdruck, sondern Tastorgan einer »asubjektiven Sicht, in der nicht wir wahrnehmen, sondern wo die Perspektiven der Wahrnehmung vertauscht sind« 513. Entscheidend ist, dass diese ›absubjektive Sicht‹ als grundlegend für das leibliche Sehen verstanden werden kann. Kunst ›im Namen der Dinge‹ evoziert nicht nur den Eindruck einer asubjektiven Sicht auf die Dinge, sondern ist gleichsam ihr Ausdruck. ›Asubjektiv‹ bedeutet nicht, sich den Dingen neutral, desinteressiert oder nüchtern zuzuwenden. Im Gegenteil ist hiermit ein gespannter, aufmerksamer, affizierter, involvierter und engagierter Blick gemeint. Genauer gesagt kann diese Involviertheit erst dann zutage treten, wenn ein ›neutraler Beobachter‹ ausgeschaltet ist. Dann wird sinnfällig, was für Merleau-Ponty grundlegendes Kennzeichen leiblicher Wahrnehmung ist: »Mein Leib als sichtbares Ding ist im großen Schauspiel mitenthalten« 514. Sehen, als »Tasten mit dem Blick« 515 verstanden, empfängt und verarbeitet folglich nicht nur »Licht, Farben und Linien« 516, sondern ist vielmehr »Einrollen des Sichtbaren in das Sichtbare« 517. Ein tastendes Auge kann die Dinge nur deshalb berühren und ihren Aufforderungen entsprechen, weil es selbst Teil einer umfassenden Sichtbarkeit ist: »Denn weil die Dinge und mein Leib aus demselben Stoff gemacht sind, muß sich sein Sehen auf irgendeine Art in ihnen vollziehen, muß sich ihre Sichtbarkeit koppeln« 518. Der ›Stoff‹, aus dem Ding und Leib Merleau-Ponty zufolge ›gemacht‹ sind, ist nicht Materie, Geist oder Substanz, sondern Fleisch. 519 Im Fleisch spricht sich eine Ebene aus, die Leib und Ding zugleich einander annähert und auseinanderhält. Dies erinnert auch Orlikowski, Merleau-Pontys Weg zur Welt der rohen Wahrnehmung, S. 107. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 182. 515 Ebd., S. 177. 516 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 283. 517 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 185. 518 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 281. 519 Fleisch könne auch als »Element« bezeichnet werden. Siehe Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 183. 513 514
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Tasten mit dem Blick
an Merleau-Pontys Rede von einer »Urschicht des Empfindens […], die der Teilung der Sinne vorgängig ist« 520 – womit auch eine Aufspaltung des Dinges in einzelne zusammenfügte Qualitäten sowie die Trennung von Ding und Wahrnehmendem zurückgewiesen ist. In Bezug auf die Frage der Dingwahrnehmung lässt sich sagen, dass im Fleisch widerklingt, was Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung »ein gewisses unlösliches Band zwischen mir und den Dingen« 521 nennt. Dass der Blick, wie es im oben angeführten Zitat heißt, die Dinge mit seinem Fleisch bekleidet, kann so verstanden werden, dass im Vollzug einer Annäherung an die Dinge das ›gewisse unlösliche Band‹ zwischen Leib und Ding eigens sichtbar wird. Das ›gewisse unlösliche Band‹ zu beleben bedeutet, »wahrnehmenderfahrend […] in die Dichte der Welt« 522 einzutauchen, wobei gerade im Vollzug dieses Eintauchens jene Verbindung in Erscheinung tritt. Ohne das gemeinsame fleischliche Band gäbe es keinen Kontakt von Leib und Ding, zugleich bleibt dieser Kontakt stets Fern-Kontakt: Der Blick betastet die Dinge und im Vollzug dieses Tastens deckt er sie nicht nach und nach weiter auf, sondern verhüllt sie, da er selbst einer umfassenden Sichtbarkeit angehört, mit der er im Vollzug der Annäherung in Berührung kommt. Ein ›nacktes Ding‹ könnte sich nur einem Blick darbieten, der seiner Sinnlichkeit entkleidet wäre, wobei dies im hier genannten Sinne kein Blick mehr wäre. Wie ich den Leib stets »von innen« erlebe und »in ihn einbezogen« 523 bin, ist auch der Blick nur ein Blick, wenn ich mit ihm »gewissermaßen gemeinsame Sache mache und durch ihn mich dem Schauspiel hingebe« 524. Sofern ich auf das Sehen reflektiere und kritisch Distanz zu ihm nehme, steige ich bereits aus der Welt der Wahrnehmung aus. An die Stelle »einer umfassenden Sicht« tritt dann »eine beliebig gerichtete örtliche Sicht« 525. Erst in einer derart ›gerichteten Sicht‹ vermag zwischen Eigenschaften, Qualitäten und einem zugrundeliegenden Gegenstand unterschieden zu werden. Ein blauer Wollteppich wäre dann beispielsweise ein geknüpftes Wollgebilde, dessen Konsistenz weich oder rau ist, der nach etwas riecht und dem die Farbe Blau anhängt. In der 520 521 522 523 524 525
Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 266. Ebd., S. 299. Ebd., S. 240. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 300. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 265. Ebd., S. 265.
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Das poetische Moment der Wahrnehmung
primordialen Wahrnehmung hingegen sind Dinge und Eigenschaften nicht voneinander getrennt: »Eine Farbe ist niemals einfach nur eine Farbe, sondern immer Farbe eines bestimmten Gegenstandes; das Blau eines Teppich wäre nicht dieses Blau, wäre es kein wolliges Blau« 526. Das Ding ist für den Leib zunächst kein »System der den verschiedenen Sinnen dargebotenen und durch einen synthetisierenden Akt des Verstandes wieder zusammengefügten Qualitäten« 527. Vielmehr ist ihm jede Qualität eine »Enthüllung des Seins« des Gegenstandes: Das Saure der Zitrone ist gelb, das Gelb der Zitrone ist sauer; man ißt die Farbe eines Kuchens […] Die Flüssigkeit, die Lauheit, die bläuliche Farbe, die Wellenbewegung des Wassers eines Schwimmbeckens sind immer gleichzeitig das eine durch das andere gegeben […]. 528
Der Leib unterscheidet nicht zwischen Farbe, Geruch, Geschmack und Empfindung. Seine Wahrnehmung ist synästhetisch. In ihr vollzieht sich eine »Kommunikation mit der Welt, die älter ist als alles Denken« 529. Wie unsere Augen nicht erst zwei unterschiedliche Perspektiven einnehmen, die dann in einem zweiten Akt synthetisiert werden, übersetzten sich auch die Sinne »in einander, ohne dazu eines Dolmetschs zu bedürfen, sie begreifen einander, ohne dazu des Durchgangs durch die Idee zu bedürfen 530«. Das Tasten des Blicks ist hier also wörtlich zu nehmen: »In der primordialen Wahrnehmung gibt es keinen Unterschied zwischen Tast- und Gesichtssinn« 531. Hier erscheint alles »zunächst vermischt, und alles in Bewegung« 532. Das Auge ist somit nicht nur tastend, sondern auch mit den anderen Sinnen verbunden. Da der Leib »nicht eine Summe nebeneinandergesetzter Organe, sondern ein synergisches System ist«, kann von einem »Sehen von Tönen« und »Hören von Farben« gesprochen werden. 533 Die »Sinnesempfindungen existieren kompräsent« 534. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 362. Merleau-Ponty, Causerien, S. 25. 528 Sartre, zit. in: Merleau-Ponty, Causerien, S. 27. 529 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 296. 530 Ebd., S. 274. 531 Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 19. 532 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 261. 533 Ebd., S. 273. 534 Meyer-Drawe, Der Leib – Ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding, S. 296. 526 527
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Tasten mit dem Blick
Doch nicht nur die Sinne, sondern auch die Dinge existieren für den Leib kompräsent. Diese liegen »nicht als bloße, neutrale Objekte vor uns, die wir kontemplativ betrachten könnten« 535. Vielmehr sind sie hier analog zum Ineinander der Sinnesregungen wechselseitig aufeinander bezogen: Einen Gegenstand ›sehend‹ empfinde ich stets, daß da noch etwas jenseits des aktuell Gesehenen ist, und nicht allein noch weiteres sichtbares Sein, sondern ferner noch berührbares, durch das Gehör erfaßbares Sein; und nicht allein sinnliches Sein, sondern darüber hinaus eine Tiefe des Gegenstandes, die keinerlei sinnliche Aufnahme je zu erschöpfen vermag. 536
Das Ding ist hier ein Knotenpunkt lebendiger Erfahrung. Als Knotenpunkt ist es nie für sich, sondern steht in einem Zusammenhang mit anderen Dingen: »Die Gegenstände durchdringen sich gegenseitig … Sie hören nicht auf zu leben, verstehen Sie? … Sie breiten sich unmerklich um sich aus, durch ihren eigenen Widerschein, wie wir durch unsere Blicke und durch unsere Worte« 537. Was Cézanne an dieser Stelle beschreibt, nennt Merleau-Ponty eine ›Rivalität der Dinge‹ : »Was rätselhaft ist, ist die Verbindung, was zwischen ihnen ist – daß ich die Dinge jeweils an ihrem Platz sehe, eben weil sie sich gegenseitig verdecken, daß sie vor meinem Blick Rivalen sind, eben weil sie jeweils an ihrem Ort sind« 538. Demnach lasse sich ein Ding nur vor dem Hintergrund der Koexistenz anderer Dinge wahrnehmen: »Es muß verborgene Seiten der Dinge und Dinge ›hinter uns‹ geben, soll es ein ›Vorn‹ der Dinge geben, Dinge ›vor uns‹ und überhaupt Wahrnehmung geben« 539. Das heißt, dass hier die Koexistenz der Dinge dem Erscheinen eines einzelnen Dinges nicht entgegensteht, sondern diesem vielmehr zugrunde liegt. Folglich würde die Wahrnehmung der Dinge, wie schon in den Anmerkungen zum Kunstding bei Rilke deutlich wurde, sich nicht potenzieren, wenn ihre verborgene Rückseite nach und nach aufgedeckt würde, sondern auslöschen: Unsere Wahrnehmung kennte überhaupt weder Konturen, noch Figuren, noch Hintergründe, noch Gegenstände, sie wäre mithin Wahrnehmung von
535 536 537 538 539
Merleau-Ponty, Causerien, S. 28. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 254. Doran, Gespräche mit Cézanne, S. 194. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 303. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 323.
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Das poetische Moment der Wahrnehmung
nichts und wäre schließlich also gar nicht, wäre das Wahrnehmungssubjekt nicht jener Blick, der an den Dingen seinen Anhalt nur in einer bestimmten Orientierung ihrer findet; die Orientierung im Raum ist nicht lediglich kontingenter Charakter des Gegenstandes, sie ist selber das Mittel, vermöge dessen wir ihn erkennen und seiner als Gegenstandes bewußt sind. 540
Die verborgenen Seiten des Dinges sind nicht als variable Eigenschaften eines Gegenstandes zu verstehen, die sich von ihm unterscheiden ließen. Vielmehr ist hiermit angezeigt, dass »ein jeder Aspekt des Dinges, der in unsere Wahrnehmung fällt« über sich hinausweist und nicht mehr als »ein bloßer momentaner ›Anhaltspunkt‹ im Prozeß des Wahrnehmens« 541 ist. Wahrgenommene Dinge sind »keine vollkommenen und geometrischen Objekten vergleichbare Wesen« 542, sondern eine »offene und unerschöpfliche Mannigfaltigkeit« 543. Abgetrennte Qualitäten würden erst auftreten, wenn wir »das Band zwischen unserem Sehen und der Welt, zwischen uns selbst und dem Sehen auflösen, um es selbst zu erhaschen und zu beschreiben« 544. Aus diesem Grund kommt der Kunst diesbezüglich eine besondere Rolle zu, da diese sich gerade an jenem ›Band‹ aufhält, um »erlebend im Sehen aufzugehen« 545. So lässt sich mit Maurice Blanchot sagen, dass das Kunstwerk erscheinen lässt, »was im Gegenstand verschwindet« 546. Was im Gegenstand verschwindet, ist die Welt der rohen Wahrnehmung, »wo alles zugleich ist« und sich »mit einem Wort ausdrückt, indem man sagt: ein Ding ist da« 547. Die Erscheinung des Dinges steht dem Modus des ›alles zugleich‹ nicht entgegen, sondern beide sind einander Vorder- und Rückseite: […] während meine Augen an einem von ihnen haften blieben, spürte ich den Anspruch, den die anderen meinem Blick entgegenbrachten und der sie alle mit ersterem koexistieren ließ; ich war jeden Augenblick beschäftigt mit der Welt der Dinge und überflutet von einem Horizont sichtbarer
Ebd., S. 295. Ebd., S. 273. 542 Merleau-Ponty, Schrift für die Kandidatur am Collège de France, S. 6. 543 Ebd. 544 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 265. 545 Ebd., S. 265. 546 Blanchot, Maurice: Die Literatur und die ursprüngliche Erfahrung, in: Ders., Das Unzerstörbare, München/Wien, 1991, S. 31–79, hier: S. 47. 547 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 303. 540 541
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Tasten mit dem Blick
Dinge, die inkompossibel waren mit dem, das ich aktuell ins Auge faßte, die aber gerade dadurch mit diesem gleichzeitig waren. 548
Im Sehen drückt sich eine Verflechtung von Ding und Leib aus und damit eine Ordnung, die Merleau-Ponty auch ›wildes Sein‹ nennt: »Mein Ziel ist es, die Welt wiederherzustellen als einen Seinssinn, der sich absolut vom ›Vorgestellten‹ unterscheidet, nämlich als vertikales Sein, das keine der ›Vorstellungen‹ ausschöpft und das alle ›erreichen‹, als wildes Sein« 549. Das ›wilde Sein‹ ist durch »Beziehungen der Nachbarschaft, der Einschließung und Koexistenz« 550 gekennzeichnet und nicht durch Gegenüberstellungen, Unterscheidungen oder Hierarchisierungen. Der Blick ist hier »nicht mehr Aneignung, Bestimmung und Beherrschung, sondern in erster Linie Befragung« 551 der Dinge. Diese Befragung hat ihren Ausgang nicht in einem von den Dingen losgelösten Fragenden, sondern ist »berührende[s] Abtasten, wo der Fragende und das Befragte näher beieinander sind und wovon das Tasten des Auges schließlich eine bemerkenswerte Spielart darstellt« 552. Zwar sind Leib und Ding eingebettet in eine umfassende Sinnlichkeit 553, der Leib ist jedoch als »Hiatus« 554 oder »Drucknullpunkt« 555 bestimmt. Das heißt, er hebt sich als ›offene Stelle‹ auch aus dieser Sinnlichkeit heraus, kann hierbei jedoch nie das Band zur Welt und den Dingen durchtrennen. Dem Kunstwerk gleich, sei er »ein Gleichgewicht suchendes Ganzes erlebt-gelebter Bedeutungen« 556. Das Tasten des Blicks kann in diesem Sinne als fortwährendes Ausloten und Gleichgewichtssuche verstanden werden. Dem Blick schließt sich das Ding nicht nach und nach weiter auf, sondern Sehen meint hier stets, in ein Wechselspiel aus Entzug und Sichtbarmachung einzutauchen. Der Blick nimmt seinen Ausgang nicht in Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, S. 74. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 319. Siehe hierzu Orlikowski, Merleau-Pontys Weg zur Welt der rohen Wahrnehmung S. 102 f. 550 Ebd., S. 105. 551 Orlikowski, Merleau-Pontys Weg zur Welt der rohen Wahrnehmung, S. 105. 552 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 175. 553 Merleau-Ponty spricht davon, dass das Fleisch nicht Materie, Geist oder Substanz ist, sondern eher als »Element« bezeichnet werden kann. Siehe ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 183. 554 Ebd., S. 194. 555 Ebd. 556 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 184. 548 549
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Das poetische Moment der Wahrnehmung
einem von der Welt getrennten Ich, sondern generiert sich erst in der Überkreuzung von Anblicken und Angeblickt-werden. Das Auge des Leibes vollzieht eine »Metamorphose des Seins in seinem Sehen« 557.
IV.3 Kunstwerk als Ort der Sinngenese Cézanne will die Kontur und die Form der Gegenstände so hervorbringen, wie die Natur sie vor unseren Augen hervorbringt: durch Arrangement der Farben. Und daher kommt es, dass der Apfel, den er malt, den er mit unendlicher Geduld in seiner Farbtextur studiert, schließlich anschwillt und aus den Grenzen ausbricht, die ihm die wohlgeordnete Zeichnung vorgeben würde. 558
Bei Rilke, Ponge, Morandi und Cézanne wird eine Ordnung sinnfällig, die von Überlagerungen, Unschärfe und fluktuierenden Konturen geprägt ist. Die Kontur der Dinge ist hier ein Grenzraum, der weder verbindendes Drittes noch Demarkationslinie voneinander geschiedener ›Territorien‹ ist. Eher deutet sich hier ein Verständnis der Grenze an, das Heidegger in Rückbezug auf den altgriechischen Begriff peras herausstellt. Peras meint nicht nur den Endpunkt von etwas, sondern vielmehr auch Vollendung, Vollbringung und Vollziehung. In dieser Bedeutung sei die Grenze weder etwas, »was zum Seienden erst von außen hinzukommt« noch »ein Mangel im Sinne einer abträglichen Beschränkung«. 559 Die Grenze ist, so verstanden, Ort einer Sinngenese. Zugleich ist entscheidend, dass sie gerade in dieser Weise bestimmend ist, wobei Bestimmung dann nicht Feststellung meint, sondern Bewahrung eines Abstands, so dass das Umgrenzte hervorkommen kann. Sie »ist nicht nur Umriß und Rahmen, nicht nur das, wobei etwas aufhört« 560, sondern »jenes, von woher und worin etwas anfängt, aufgeht als das, was es ist« 561. Die Grenze ist hier ein Raum, in dem gegenläufige Bewegungen aufeinandertreffen, mehr noch: Ein Raum, in dem Bedeutung entsteht.
Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 285. Merleau-Ponty, Causerien, S. 21. 559 Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik (1935), Frankfurt a. M. 1983, S. 64. 560 Heidegger, Martin: Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens, S. 13. 561 Heidegger, Martin: Der Satz vom Grund, Stuttgart 2006, S. 125. 557 558
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Kunstwerk als Ort der Sinngenese
Das Werk selbst kann in diesem Sinne als Grenze, also als Ort der Sinngenese verstanden werden. Dieses wird erst im Vollzug der Annäherung. Analog zur Berührung von Leib und Ding, aus der heraus erst Wahrnehmung wird, die wiederum jene Berührung ausdrückt, generiert sich auch das Werk erst im erlebenden Kontakt. Zwar ist es beispielsweise möglich, ein Gemälde in seine ›Einzelteile‹ zu zerlegen und Farbe, Leinwand, die Wand hinter der Leinwand, die Lichtverhältnisse und die ›dargestellten‹ Gegenstände gesondert zu analysieren. Sowie auch der Leib in seine Organe, Knochen, Haut, Gliedmaßen, Blutströme usw. zerteilt werden kann. Doch was Leib und Kunstwerk sind, zeigt sich nicht in der Unterscheidung ihrer verschiedenen Attribute: Sie sind einzig in der Erfahrung. Sie zu zerteilen würde bedeuten, den Leib als Körper und das Kunstwerk als Gegenstand zu fixieren. Hiermit wären sie jedoch aus dem »lebendigen Zusammenhang« 562 der Wahrnehmung herausgetrennt. Das Kunstwerk kann nur in lebendiger Verknüpfung sein, was es ist: Ein Ort, an dem die Dinge nicht Gegenstände, sondern erlebte Dinge in statu nascendi sind. Wie wir um einen Gesichtsausdruck wahrzunehmen nicht erst die spezifische Anordnung von Nase, Mund, Wangen und Ohren studiert haben müssen, sondern dies den spezifischen Ausdruck vielmehr in den Hintergrund rücken würde, gilt auch für das Kunstwerk, dass sich uns sein Ausdruck nicht erst, nachdem wir es in seine Einzelteile zerlegt haben, in einem zweiten Schritt eröffnet: Die Idee eines Bildes oder eines Musikstücks kann sich auf keine andere Weise mitteilen als durch die Entfaltung der Farben und Töne selbst. Jede Analyse des Werks von Cézanne läßt mir, habe ich seine Bilder nicht gesehen, noch die Wahl zwischen verschiedenen möglichen Cézanne, erst die Wahrnehmung der Bilder gibt mir den einzig existierenden Cézanne, durch sie erst gewinnen alle Analysen ihren vollen Sinn. Nicht anders ist es bei einem Gedicht oder einem Roman, wenn sie gleich aus Worten bestehen. 563
Die lebendige Verbindung der verschiedenen Elemente wahrzunehmen, das, was Cézanne ›eine Harmonie parallel zur Natur‹ nennt und Rilke ›Kunstding‹, fordert einen Blick, der weder beschreiben noch sich dem Werk einschreiben will. Vielmehr müssen die Werke ein »zweites Dasein« 564 im Wahrnehmenden führen. Dann zeigt sich, 562 563 564
Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 181. Ebd. Ebd.
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Das poetische Moment der Wahrnehmung
dass Ausdruck und Ausgedrücktes unablöslich aneinandergebunden sind und beispielsweise die Farbe hier kein Attribut oder eine Qualität der ›dargestellten‹ Gegenstände ist, genau wie diese nicht Abbilder ›realer‹ Gegenstände sind. Das Kunstwerk ist vielmehr »sein eigener Archetyp, eine Weise, Sinn zu entdecken, nicht einfach zu illustrieren« 565. Der ›Sinn‹ des Dinges liegt hier nicht in einer bereits feststehenden ›weltlichen‹ Bedeutung des Gegenstandes, der vom Gedicht oder Gemälde lediglich wiederholt oder verfremdet würde. Ihr Inhalt lässt sich nicht ›übersetzen‹. Ding und Erscheinungsweise stehen in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis zueinander und halten sich gegenseitig in der Schwebe. Die Vasen, Flaschen, Krüge und Schalen in den Stillleben Morandis sind nur als von einem Mantel aus staubig-rosa-grauer-milchiger Helle umgebene. Ponges ›Seife‹ ist nur als »Zauberstein«, der der sprachlichen Form entgleitet, sich mit ihr auflöst, und, wenn sich doch etwas von ihr einfangen lässt, es beinahe immer gleich klingt. Das Ding ist hier unablöslich an den jeweiligen Ort und Zeitpunkt gebunden. Es lässt sich nicht von seiner Umgebung ablösen: »Das erlebte Ding wird nicht auf der Basis von Sinnesdaten konstruiert oder rekonstruiert, sondern bietet sich von Anfang an dar als das Zentrum, von dem sie ausstrahlen« 566. Das Werk macht somit sichtbar, was im profanen Sehen in den Hintergrund rückt: Die unauflösliche Verflechtung und Koexistenz von Ding und Leib. Diese Verflechtung auszudrücken bedeutet Verborgenes sichtbar zu machen. Hierbei ist entscheidend, dass dies nicht meint, dass der Künstler ein rein erschautes – oder erfühltes – Inneres der Dinge filterlos wiedergeben würde. Vielmehr ist der Vollzug der Sichtbarmachung immer schon stilisierend, wobei mit ›Stil‹ hier »kein direkter Ausdruck einer Persönlichkeit, sondern die spezifische Art des Verhältnisses zur Welt« 567 gemeint ist. So sei beispielsweise der Maler Merleau-Ponty zufolge mit nichts anderem beschäftigt als »sein Verhältnis zur Welt auszudrücken« 568. Stilisierung und Sinngenese sind in komplementärer Weise aufeinander bezogen. Jedes Kunstwerk – aber auch das philosophische 565 Boehm, Gottfried: Der stumme Logos. In: Métraux, Alexandre / Waldenfels, Bernhard (Hrsg.): Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986, S. 289–304, hier: S. 299. 566 Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, S. 20. 567 Merleau-Ponty, Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, S. 131. 568 Ebd.
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Kunstwerk als Ort der Sinngenese
Denken – teilt sich immer schon »in einem gewissen ›Stil‹ mit«. Innerhalb dieses Stils zeichnet sich wiederum erst ein Sinn ab: »so beginne ich eine Philosophie zu verstehen, indem ich mich ins Innere der Seinsweise dieses Denkens versetze, den Ton, den Akzent des Philosophen mir nahezubringen suche.« Dies gelte auch für die Kunst, »die zunächst kein Verständnis findet« und sich »endlich ihre Gemeinde selbst« schafft. 569 Jedes Werk vollzieht auf seine Art eine Metamorphose der gewordenen Bedeutungen. ›Stil‹ ist so verstanden eine Formulierungsweise und Modulationsweise, keine Manier. 570 Er ist »System von Äquivalenzen« 571, in dem das Verhältnis zur Welt reformuliert ist. So kann beispielsweise das Grün einer Vase Morandis nicht das Grün einer Vase von Cézanne sein. In beiden drückt sich eine andere Modulationsweise der Grünerfahrung aus, wobei erst die schöpferische Aufnahme dieser spezifischen Formulierung sinnbildend ist: Betrachte ich das schimmernde Grün einer Vase von Cézanne, so läßt es mich nicht denken an die Keramik, sondern macht sie mir gegenwärtig, sie ist da, mit ihrer dünnen, glatten Schale und ihrem porösen Inneren, in der eigentümlichen Modulationsweise des Grün. 572
Während ein »absoluter Beobachter« 573 die »Genese der Dinge« 574 im Vollzug der Wahrnehmung einer »analytischen Sehweise unterwirft« 575, zeigt sich mit der Kunst, in der das sinnliche Band zwischen uns und der Welt nicht zugunsten einer geordneten Perspektive zerteilt wird, eine »unbegrenzte Fruchtbarkeit jeder Gegenwart« 576. Dinge sind hier keine »Anspielung auf einen Allgemeintyp«, vielmehr wird sichtbar, »wie die Dinge zu Dingen und die Welt zur Welt werden« 577. Entsprechend meint Merleau-Ponty, dass das Sehen des Malers »eine fortwährende Geburt« 578 sei, wobei jener wiederum »in
Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 213. Vgl. Merleau-Ponty, Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, S. 131. 571 Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, S. 82. 572 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 381. 573 Merleau-Ponty, Causerien, S. 22. 574 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 308. 575 Merleau-Ponty, Causerien, S. 23. 576 Merleau-Ponty, Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, S. 139. 577 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 305. 578 Ebd., S. 287. 569 570
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Das poetische Moment der Wahrnehmung
den Dingen geboren« 579 werde. Hier klingt auch das für MerleauPonty einflussreiche Diktum Paul Klees wider: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar« 580. Demnach sei das Kunstwerk in »erster Linie Genesis« und »sich zur Schöpfung gleichnisartig« 581 verhaltend. Gerade in diesem Sinne verlangt es vom Betrachter eine Wiederaufnahme der in ihm angelegten Wege: »des Beschauers wesentliche Tätigkeit ist zeitlich. […] Dem gleich einem weidenden Tier abstastenden Auge des Beschauers sind im Kunstwerk Wege eingerichtet« 582. Die Wege, von denen Klee an dieser Stelle spricht, diktieren den Blick nicht, sondern öffnen sich nur einem »abstastenden Auge«. Hier klingt die oben skizzierte Bestimmung des leiblichen Sehens als ›Tasten mit dem Blick‹ wider, wobei das Bild des ›weidenden Tiers‹ unterstreicht, dass Sehen hier weder Aneignung noch Distanzierung ist. Mit dem Auge gleich einem weidenden Tier zu tasten bedeutet, dass das Bild den Blick buchstäblich nährt. Dieser betastet die Wege, die im Werk für ihn eingerichtet sind, weder kreiert er sie noch vermag er sie zu umgehen. Sehen mündet nicht in eine Aneignung des Werks, sondern ist ein »Habhaftwerden auf Entfernung« 583 – oder eine Annäherung »durch den Blick« 584. In der künstlerischen Erfahrung sind die Dinge noch im Werden. Mehr noch, ist auch der Wahrnehmende hier im Werden, wird ›in den Dingen geboren‹. Das Werk ist analog zum Leib »ein Feld der Erfahrung« 585, kein abgeschlossenes Ganzes. Dass die Dinge werden, kann so gesehen nicht meinen, dass sie vom Wahrnehmenden aus verschiedenen ihm vorhandenen Attributen geformt und dann in eine fertige Raumordnung hineingestellt werden. Weder ist der Raum in der Wahrnehmungswelt bereits vorhanden, noch ist es möglich »die Dinge und ihre Erscheinungsweise voneinander zu trennen« 586. ›Raum‹ ist hier vielmehr ein sinnlich wahrgenommener Raum, »in dem wir uns ebenfalls befinden, uns selbst nahe, organisch mit uns
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Ebd., S. 305. Klee, Schöpferische Konfession, Berlin 1920, S. 28. Ebd., S. 38. Ebd., S. 78. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 284. Ebd., S. 16. Orlikowski, Merleau-Pontys Weg zur rohen Wahrnehmung, S. 59. Merleau-Ponty, Causerien, S. 47.
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Kunstwerk als Ort der Sinngenese
verbunden« 587. Diese organische Verbundenheit ist keine Verschmelzung, sondern Koexistenz: Zwar sind wir nicht dieser Kieselstein dort; sobald wir ihn jedoch sehen, weckt er Resonanzen in unserem Wahrnehmungsapparat; – unsere Wahrnehmung scheint aus ihm zu stammen. Sie bringt ihn gleichsam zum Selbstsein hervor. Sie ist die Wiedergewinnung jenes stummen Dinges, das, sobald es in unserem Leben auftritt, sein implizites Sein entfaltet. Das Ding offenbart sich selbst durch uns hindurch. Was man als Koinzidenz gedeutet hat, ist Koexistenz. 588
In diesem Sinne kann die Wahrnehmung des Kunstwerks, wie weiter oben bemerkt, als ›Prototyp‹ einer leiblichen Wahrnehmung der Dinge gelten. Dinge sind hier erlebte Dinge. Und da wir den Leib erst wahrnehmen, »wenn er sich auf die Dinge zu bewegt« 589, ist auch der Leib hier erlebter Leib. So lässt sich genau genommen sagen, dass hier nie die Dinge ›selbst‹, sondern vielmehr die leibliche Wahrnehmung der Dinge in Sicht rückt – die jedoch wiederum allein in Kontakt mit dem Ding wird. Insofern liegt die Besonderheit der Kunst hier gerade darin, dass sie Zeugin und Geschehen einer Begegnung von Leib und Ding ist. In der Wahrnehmung gebärt sich die sinnliche Welt und drückt sich in den Gesten des Leibes oder aber im Kunstwerk aus, das wiederum das Geschehen des Ausdrucks bewahrt. An dieser Stelle ist an das Tischbeispiel zu Beginn der Arbeit zu erinnern. In der leiblichen Erfahrung weicht die Frage nach dem Was zunächst der nach dem Wie, aber mehr noch, ist zu sagen, dass hier vor allem auch das Wo und Wann eine tragende Rolle spielen: Leib und Ding sind in ihrer lebendigen Verknüpfung unablöslich an den jeweiligen Zeitpunkt und Ort ihrer Begegnung gebunden. Kunst wurde hier vor dem Hintergrund der Frage in den Blick genommen, wie sich in ihr ein Abtragen der gewohnten Bedeutungen, die den alltäglichen Umgang mit den Dingen bestimmen, vollzieht. Das dichte Netz gewohnter Sichtweisen und Auslegungen, das um die Dinge gespannt ist, löst sich jedoch im Kunstwerk gerade nicht auf, sondern wird vielmehr gelockert, so dass sich ein Grenzraum öffnet, in dem neue Sinnzusammenhänge entstehen können.
587 588 589
Ebd., S. 23. Merleau-Ponty, Lob der Philosophie, S. 23. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 372.
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V Zartheit der Dinge
Dinge. Indem ich das ausspreche (hören Sie?) entsteht eine Stille; die Stille, die um die Dinge ist. 590
Die Stille, die um die Dinge ist, ist der Raum, in dem Kunst und Philosophie sich begegnen. Auch der Philosoph, so Merleau-Ponty, stehe in Kontakt mit »jenem weiten stummen Land« der Stille, »von dem wir immerdar umgeben sind« 591. Sein ganzes Bemühen kreise darum, »ein gewisses Schweigen, das er in sich vernimmt, in Worte kleiden« 592 zu wollen. Dieses Schweigen auszudrücken sei zugleich Motivator und Hemmnis der Philosophie. 593 Denn sie kann dem Schweigen zwar vernehmend nachsprechen, aussprechen könne sie es jedoch nicht. Der Philosoph, so Merleau-Ponty, »schrieb, um seinen Kontakt zum Sein auszudrücken, er hat ihn nicht ausgedrückt und vermag dies auch nicht, denn dieser ist nichts als Schweigen. Also beginnt er von neuem …« 594. 595 Besonders in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Dingwahrnehmung, bei der man nach dem ›stummen Logos‹ 596 unseres Zur-Welt-seins fragt, zeigt sich die an dieser Stelle von Merleau-Ponty angedeutete Grenze des philosophischen Nachdenkens. So gilt, wie für das Schweigen, auch für das Ding: Es ist vernehmbar, aber nicht bestimmbar. Sein Sinn »erbaut sich unter unseren Augen auf, ein Sinn, den keine Verbalanalyse je zu erschöpfen vermag, der zusam-
Rilke, Rodin, S. 122. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 167. 592 Ebd., S. 166. 593 Ebd. 594 Ebd. 595 Heidegger spricht in den Beträgen zur Philosophie davon, dass das Sein nicht gesagt werden könne, sondern nur erschwiegen: »Wir konnen das Seyn selbst, gerade wenn es im Sprung ersprungen wird, nie unmittelbar sagen. Denn jede Sage kommt aus dem Seyn her und spricht aus seiner Wahrheit. Alles Wort und somit aIle Logik steht unter der Macht des Seyns. Das Wesen der »Logik« (vgl. SS. 34*) ist daher die Sigetik. In ihr erst wird auch das Wesen der Sprache begriffen.« Ders.: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt a. M., 1989, S. 79. 596 Siehe hierzu auch Boehm, Der stumme Logos. 590 591
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Zartheit der Dinge
menfällt mit der Offenlegung des Dinges in seiner Evidenz« 597. Die Evidenz des Dinges geht mit einem Versagen der Begriffssprache einher: »je mehr ich mich dem Ding nähere, desto mehr höre ich auf zu sein; je mehr ich bin, desto weniger gibt es Dinge« 598. Zugleich ist diese Grenze der begrifflichen Sprache kein Mangel, sondern ein Möglichkeitsraum, in der andere Weisen des Sprechens zum Vorschein kommen können. So birgt gerade ein Innehalten beim Schweigen einen Zugang zu einer poetischen, künstlerischen und kindlichen Art des Ausdrucks. Ähnlich Merleau-Ponty spricht auch Rilke im vorangestellten Zitat von einer vernehmbaren Stille. So fragt er seine Zuhörer, ob diese die Stille hören können. Stille zu hören ist nur scheinbar ein Widerspruch. Denn erst im Versuch sie auszusprechen öffnet sich der stille Raum, der um die Dinge liegt, womit sich zugleich alternative Weisen der Annäherung aufdrängen. Die vorangehenden Ausführungen haben gezeigt, dass dieser Raum der Stille kein Leerraum ist, sondern ein Ort der Sinngenese. Das begriffliche Denken trifft hier auf eine Welt »rohen Sinnes« 599 und wird »mit seinem eigenen präreflexiven lebendigen Beisein bei den Dingen« 600 konfrontiert. Stille ist dann erfahrene Stille: als Scheitern begrifflicher Einordnung, Erschüttern vor einer unverfügbaren Evidenz der Dinge, aber auch als Destruktion der unsichtbaren Imperative, denen der gewohnte Umgang mit ihnen folgt. An dieser Stelle ist an ein bisher noch nicht erwähntes – jedoch entscheidendes – Zeugnis einer Begegnung von Leib und Ding zu erinnern: Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos. 601 Lord Chandos erschien einst »das ganze Dasein als eine große Einheit«, in der »jede Kreatur ein Schlüssel der andern« zu sein vermochte. Gegenwärtig ist ihm jedoch »völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen« 602. Was er hingegen erfährt, sind Momente, in denen »die stummen Dinge« 603 zu ihm sprechen. Ihm wird dann »eine nichtige Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 374. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 162. 599 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 13. 600 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung., S. 53. 601 Hofmannsthal, Hugo v.: Ein Brief (1901), in: Ders.: Brief des Lord Chandos. Poetologische Schriften und erfundene Gespräche, Frankfurt a. M. 2000, S. 127–140. 602 Ebd., S. 130 f. 603 Ebd., S. 138. 597 598
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Zartheit der Dinge
Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkümmerter Apfelbaum, ein sich über den Flügel schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein« mehr, als ihm »die schönste, hingebendste Geliebte« je sein könnte. 604 Die Dinge sind hier, wie Dorothee Kimmich meint, »Boten einer anderen Weltordnung« 605, die zwar kein Verstehen, wohl aber Verständigung und Kooperation einfordern: »Dort, wo bisher der lesende und deutende Mensch stand, der auch die Dinge im Text las und deutete, stehen jetzt der Mensch und die – lebendigen – Dinge, die sich eine Welt teilen müssen« 606. Das ›Teilen der Welt‹ vollzieht sich im direkten Sinne in Form eines Ineinandergreifens von Lord Chandos’ Leib und »den stummen und manchmal unbelebten Kreaturen«, die sich ihm »mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen[strecken]«, dass sein »beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag«. 607 Hier laufen auf eindrückliche Weise die unterschiedlichen Fäden, die sich in den Überlegungen zur künstlerischen Wahrnehmung entfaltet haben, zusammen. Lord Chandos sieht ohne Unterschied. Wie Cézanne kann er nicht von den Dingen ablassen, sie nehmen ihn ›gefangen‹, wobei diese Gefangenschaft hier ein glückliches Ereignis ist, das an das vergnügliche Rühmen der Dinge bei Ponge erinnert, aber vor allem auch an dessen verzauberte Ding-Sprache. Was darüber hinaus besonders hervorzuheben ist, ist die Rede von den »manchmal unbelebten Kreaturen«. Lord Chandos sind die Dinge nicht nur in Hinsicht einer möglichen Wertigkeit gleich. Ob leblos oder organisch: sie sind für ihn gleichermaßen »Gegenwart der Liebe«. Gerade hierin liegt der entscheidende Anhaltspunkt, um die Frage danach zu beantworten, ob die Begegnung der Einzigkeit der Dinge für den Menschen notwendig ist. Von der Kunst aus, mit der wiederum unser leibliches Zur-Welt-sein zum Ausdruck kommt, ist diese Frage zu bejahen. Die Begegnung einer Einzigkeit der Dinge ist hier Erfahrung einer Bedeutsamkeit allen Seins, ganz gleich, ob es lebendig oder leblos ist. Aber vor allem ist es eine poetische Erfahrung, in der wiederum eine Haltung der Liebe sinnfällig wird. Mensch und Ding sind hier auf eine Weise nahe, in der sie sich gegenseitig befruchten, hervorbringen und mehr noch: am Leben halten. 604 605 606 607
Ebd., S. 135. Kimmich, Lebendige Dinge in der Moderne, S. 25. Ebd., S. 33. Hofmannsthal, Ein Brief, S. 135.
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Zartheit der Dinge
Dieses ›am Leben halten‹ ist kein biologisch verstandenes Lebendigsein, sondern verweist auf eine Bestimmung des Menschen als einem leiblichen, also schöpferischen Wesen, wobei Schöpfung, wie gezeigt, nicht meint, etwas aus dem Nichts zu kreieren, sondern in Kontakt mit einer Außenwelt zu treten, die zugleich seine Innenseite ist – und anders herum. Die Art und Weise, in der der Leib sich in der Welt situiert und engagiert, gestaltet sich im Kontakt mit den Dingen. Diese Wechselseitigkeit findet ihren Ausdruck vor allem in der oben angeführten Rede von einer ›bedingten Freiheit‹. So gesehen deutet sich im poetischen Moment der Wahrnehmung auch ein ethisches Moment der Wahrnehmung an, auf das auch Rilke in seinen Aufzeichnungen zu Cézanne hinweist, wenn er davon spricht, dass es für den Künstler zwei »Freiheiten der Mitteilung« gebe: »die angesichts des vollbrachten Dinges und jene innerhalb des eigentlichen täglichen Lebens, indem man sich zeigt, was man durch die Arbeit geworden ist […]« 608. Lord Chandos ist von den kleinen, einfachen und unscheinbaren Dingen so ergriffen, dass diese ihm buchstäblich die Sprache rauben. Zugleich ist es ihm in diesen Momenten der Ergriffenheit so als wäre sein »Körper aus lauter Chiffren« 609. Sein Körper ist hier, im erläuterten Sinne, ein poetischer Raum, in dem die gewohnten Begriffe sich in Bilder verwandeln: »die abstrakten Worte […] zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze« 610. Seine Worte entgleiten ihm, sie nehmen ein Eigenleben an: »Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt« 611. Der Mensch ist hier nicht von den Dingen getrennt, sondern wird in der Dingerfahrung. Von dieser Erfahrung ausgehend, die mit Merleau-Ponty ein generatives Überlappen von Ding und Leib genannt werden kann, deutet sich für Lord Chandos eine Ahnung an, wie eine Verbindung zu den Dingen aussehen könnte, in der ihre stummen Regungen nicht übergangen werden: »als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken« 612.
608 609 610 611 612
Rilke, Briefe über Cézanne, S. 12. Hofmannsthal, Ein Brief, S. 135. Ebd., S. 132. Ebd., S. 138. Ebd., S. 135.
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Zartheit der Dinge
Mit dem Herzen zu denken verweist in direkter Weise zu der bildlichen Sprechweise des Lord Chandos und konturiert die hier entfalteten Überlegungen zur künstlerischen, leiblichen und poetischen Wahrnehmung. Der Raum des Leibes ist nicht der Raum der begrifflichen, wissenschaftlichen Welt des Verstandes, sondern der Raum des Herzens. Es ist der sinnlich erfahrene Raum, in dem der Umgang mit den Dingen nicht einer des Verfügens und Gebrauchens ist, sondern ein bewahrendes Gestalten der Dinge. Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen, dass das Vernehmen der stummen Sprache der Dinge an ein Verstummen des Wahrnehmenden gebunden ist. Hiermit ist, worauf Gadamer hinweist, wiederum eine Weise zu sprechen angezeigt: Das Wort stumm hängt mit dem anderen Wort ›stammeln‹ zusammen, und die ergreifende Not des Stammelns besteht ja wahrlich nicht darin, daß der Stammelnde nichts zu sagen hätte, vielmehr darin, daß er viel, ja zu viel auf einmal sagen möchte und die Worte nicht findet angesichts der drängenden Fülle dessen, was zu sagen wäre. 613
In die leibliche Erfahrung der Dinge einzutauchen bedeutet, dieses Stammeln auszuhalten. Die Kunst kann diesbezüglich als wegweisend angesehen werden. Sie nimmt sich »der drängenden Fülle« der Dinge an und versucht diese zu sagen. Das Versagen der begrifflichen Sprache weicht dann einer leiblichen Sprache, die dem Ding gemäß zu sprechen versucht. So markiert Stille den Eingang in eine Welt des Stammelns, womit zugleich ein genaueres Hinhören auf die feinen Berührungspunkte zwischen Leib und Ding möglich wird. Dieser Grenzbereich öffnet sich im poetischen Moment der Wahrnehmung, in dem die Bedeutungen, Worte, Begriffe und Sinnzuschreibungen vom Ding abperlen, jedoch nicht so, dass dieses als beliebig auszufüllender Korpus zurückbleibt, aber auch nicht, weil es sich als starres unergründliches Gegenüber gebärt. Gerade Letzteres kann leicht angenommen werden, wenn man beispielsweise die Appellstruktur der Dinge nicht als Ausdruck einer Rivalität der Dinge versteht. Die Ordnung der Dinge, die Welt der Sinne, aus der erst ein Ding als appellierend hervorzukommen vermag, ist nur deshalb wahrnehmbar, weil der Leib nicht gegenüber, sondern inmitten der Dinge ist. Dinge können für ihn nicht Gegenstände sein. Von einer Gegenständlichkeit oder einem Widerstand der Dinge kann deshalb 613
Gadamer, Ästhetik und Poetik, S. 315.
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Zartheit der Dinge
nicht gesprochen werden. Vielmehr deutet sich eine Zartheit der Dinge an. Nicht widerspenstige Gegenstände appellieren an den Leib, sondern Dinge, die gesehen, berührt, geschmeckt und geliebt werden wollen, die sich dem Leib buchstäblich anschmiegen und »von außen und von innen seine Blicke und seine Hände« 614 tapezieren. Ein reines Gegenüber könnte nicht auf diese Weise in Kontakt treten. Da jener einzig deshalb möglich ist, weil die Dinge in einer Ordnung stehen, in die auch der Leib eingewebt ist. Diese ›Verwandtschaft‹ von Ding und Leib ist zart, weich und verwundbar, womit die Zartheit der Dinge auch auf eine Zartheit des Leibes verweist. Zartheit meint entsprechend kein Attribut oder eine Eigenschaft, wie zum Beispiel ein zerbrechliches Material, sondern verweist auf einen Erfahrungsmodus, in dem sich zwischen Ding und Leib ein Ort der Begegnung entfaltet. An diesem Ort vollzieht sich ein »Erwachen der Wahrnehmungswelt« 615. Wie in der Einleitung der vorliegenden Arbeit ausgeführt, deutet der Terminus Begegnung auf einen Moment des Zufälligen, Unvorhersehbaren und Unbestimmten hin. Auch wurde darauf hingewiesen, dass eine Begegnung keine geplante, gesteuerte oder kalkulierte Hinwendung auf etwas ist, sondern eher als Widerfahrnis bestimmt werden kann. Weiter, dass im Zusammentreffen das Unbestimmte eine Gestalt annimmt und etwas bislang Ungesehenes in Sicht rückt. Dingen in ihrer Einzigkeit zu begegnen, bedeutet, Zeuge einer Zartheit der Dinge zu werden und hiermit wiederum mit der eigenen leiblichen Zartheit in Berührung zu kommen. Hier sind wir zugleich berührt und berührend, sehend und gesehen, empfangend und gestaltend. Das Moment der Sinngenese ist nur als Begegnung, in der die Bedeutung der Dinge im Werden ist. Leib und Ding sind in dieser lebendigen Verknüpfung unablöslich an den jeweiligen Zeitpunkt und Ort ihres Aufeinandertreffens gebunden. Die Sonderstellung der Kunst liegt hier gerade darin, dass sie zugleich Zeugin und Geschehen einer Begegnung von Leib und Ding ist. Da wir uns daran gewöhnt haben, Dinge als feste, starre, beharrliche Gegenstände zu verstehen, ist die Rede von einer Zartheit der Dinge befremdlich. Doch wenn es auch leichter fällt, von einer Härte des Gegenstandes zu sprechen, bedeutet dies nicht, dass das eine ›richtiger‹ wäre als das andere. Mit Merleau-Ponty lässt sich vielmehr 614 615
Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 181. Merleau-Ponty, Causerien, S. 31.
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Zartheit der Dinge
sagen, dass sich in beiden Beschreibungen eine Interpretation der Erfahrung unseres Zur-Welt-seins ausdrückt – also ein Versuch dem Schweigen nachzusprechen. Wie der Eindruck einer ›Härte‹ und ›Beständigkeit‹ des Gegenstandes Ausdruck einer Ordnungsvorstellung ist, die der ›gedeuteten Welt‹ angehört, weist auch die Zartheit der Dinge auf einen spezifischen Umgang mit dem Ding und eine Haltung ihm gegenüber hin, die mit Rilke eine ›Liebe zum Rätsel‹ genannt werden kann: »Das ist alle Kunst: Liebe, die sich über Rätsel ergossen hat, – und das sind alle Kunstwerke: Rätsel, umgeben, geschmückt, überschüttet von Liebe« 616. Die Liebe zum Rätsel, die Rilke als Grundhaltung für den Künstler veranschlagt, entspricht einer langsamen, geduldigen und vorsichtigen Annäherung, die das Ding nicht gewaltsam an sich zu reißen versucht – sie korrespondiert mit jenem Moment des philosophischen Denkens, den Adorno einen langen gewaltlosen Blick auf den Gegenstand nennt. 617 Sofern die Dinge, und das gilt, wie gezeigt, auch für die ›Kunstdinge‹, »unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuß, sei’s an Freiheit des Verhaltens, sei’s an Selbständigkeit des Dinges zu dulden« 618, ist die Erfahrung des Dinges zu einem »Augenblick der Aktion« 619 verstellt. Das heißt, dass auch ein Zugang, der sich der zarten Seite der Dinge annimmt, sofern es ihm darum geht, sie aus der Ordnung der Zweckmäßigkeit herauszuheben, nicht vor den Zugriffen beengender Auslegungen bewahrt ist. Die Zartheit der Dinge zu bewahren – und damit unser lebendiges Verhältnis zur Welt – fordert vielmehr im angedeuteten Sinne eine Haltung der Liebe. Wie ›Liebe‹ in Bezug auf den Umgang mit den Dingen verstanden werden kann, soll abschließend umrissen werden.
Rilke, Rainer-Maria: Worpswede (1903), Frankfurt a. M. 1987, S. 41. Siehe hierzu Guzzoni, Ute: Der lange und gewaltlose Blick auf den Gegenstand. Überlegungen zum Denken bei Heidegger und Adorno, in: Raffelt, Albert (Hrsg.): Martin Heidegger weiterdenken, München/Zürich 1990 (Schriftenreihe der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg), S. 65–88. 618 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 2003, S. 17. 619 Ebd. 616 617
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Verweilen und Lassen
V.1 Verweilen und Lassen Auf den ersten Blick scheinen sich Verweilen und Lassen zu widersprechen. So deutet Verweilen eher auf Innehalten und Bleiben hin, wohingegen Lassen eher gegenteilige Assoziationen weckt: von etwas ablassen, jemanden verlassen, ziehen lassen, loslassen, freilassen, etwas auf sich beruhen lassen. Zugleich liegt schon im Terminus Verweilen, dass Innehalten hier gerade nicht an einem Ort zu bleiben meint, sondern »ein Aufenthalt für eine Weile« 620 ist. Mehr noch, kann Verweilen als Gegenbegriff zu einer Einschreibung in den Ort, an dem zum Bleiben angehalten wird, verstanden werden. Der Verweilende hält inne, er ruht sich aus, bleibt stehen, aber er verwurzelt nicht, sondern zieht weiter. Er bleibt, aber eben nur für eine Weile. Doch hiermit ist nur eine Facette des Verweilens angesprochen. So verstanden, könnte man es auch schlicht ›Unterbrechen einer Tätigkeit‹ nennen, eine Pause machen, einmal tief Luft holen und weitermachen, sich kurz einmal hinsetzen, um dann wieder in den gewohnten Takt seiner Tätigkeit einzustimmen. Verweilen ist jedoch nicht das Unterbrechen einer Tätigkeit, sondern vielmehr ein Modus, der sich nicht von dem alltäglichen Beschäftigt-sein ableiten lässt. Nimmt man das alltägliche Tun als Ausgangspunkt, wäre Verweilen allein Unterbrechung. In Anbetracht der vorangehenden Überlegungen kann Verweilen jedoch eher als eine Weise, bei den Dingen innezuhalten, verstanden werden, also sich dort aufzuhalten, wo Ding und Leib sich berühren: am Ort des poetischen Schweigens. Verweilen kann entsprechend als eine Weise, sich zur Welt zu verhalten, angesehen werden, wobei dieses Verhalten zugleich Enthaltung ist. Hier deutet sich an, dass das Verweilen in einer engen Verwandtschaft zur Gelassenheit steht, die häufig auch als Weltabgewandtheit verstanden wird. Doch Gelassenheit meint nicht nur, sich von der Welt abzuwenden, sondern birgt eine Handlungsebene. Schon die frühere Bedeutung von Gelassenheit bei Meister Eckhart 621 deutet auf eine doppelte Bedeutungsebene hin. Eckhart unterscheidet zwischen lassen und gelassen. Im Mittelhochdeutschen heißt lassen: gelazen han, also gelassen haben und gelassen im Sinne von gelazen 620 Held, Klaus: Vom Ansichsein der Dinge, in: Därmann, Kraft der Dinge, S. 83–99, hier S. 94. 621 Siehe Strässle, Thomas: Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt, München 2013, S. 36 ff.
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Zartheit der Dinge
sin entspricht gelassen sein. Gelassen haben beschreibt eine Handlungsebene und gelassen sein wiederum einen Seinszustand. Wirklich gelassen kann mit Eckhart nur genannt werden, wer beides vermag oder genauer: Man muss gelassen haben, will man gelassen sein. 622 Gelassenheit kann demnach auch als ein spezifisches Tun verstanden werden. 623 Auch im Verweilen lässt sich eine doppelte Bedeutungsebene ausmachen. Michael Theunissen spricht von ihm als »Eingehen auf etwas« und ergänzt: »eingehen können wir auf etwas nur, wenn wir es nicht an uns reißen, sondern uns ihm in aller Ruhe hingeben« 624. Sich in Ruhe hinzugeben, auf etwas einzugehen und es nicht an sich zu reißen heißt, sich einzulassen. Während die Unterbrechung einer Tätigkeit weiterhin in der Teleologie der jeweiligen Handlungskette verhaftet bleibt, vollziehen sich Verweilen und Lassen mit Heidegger gesprochen außerhalb der Ordnung des ›Um-zu‹. Heidegger versteht Gelassenheit auch als Aufenthalt. 625 Der Lassende lasse sich jedoch nicht einfach an einer spezifischen geographisch bestimmbaren Position nieder. Vielmehr kann der Modus der Gelassenheit selbst als Hervorbringung eines Ortes verstanden werden. Diesen Ort nennt Heidegger auch »die verweilende Weite« 626. In der ›verweilenden Weite‹ hätten die Dinge, »nicht mehr den Charakter von Gegenständen«, sondern würden »ruhend zum Liegen komEbd. S. 37–38. Heidegger spricht, allerdings unter anderen Voraussetzungen als Eckhart, davon, dass Gelassenheit ein »höheres Tun« sei. Siehe ders.: Erörterung zur Gelassenheit, S. 33. 624 Theunissen, Michael, Negative Theologie der Zeit, Berlin 1991, S. 287. 625 Das Gelassenheitsdenken steht bei Heidegger in einem direkten Zusammenhang mit der Frage nach der Technik. Da es an dieser Stelle jedoch nicht darum geht, dem Gelassenheitsdenken in Heidegger nachzugehen, sondern vielmehr die damit angezeigte mögliche Haltung den Dingen gegenüber für die Frage nach der ethischen Komponente der Dingwahrnehmung fruchtbar zu machen, also eher einer ›Denkfigur‹ der Gelassenheit nachzugehen, muss dieser Aspekt hier unberücksichtigt bleiben. Dass es jedoch bei der Neubefragung der Dinge in der Moderne stets darum geht, auf eine Technisierung der Welt zu reagieren, konnte in den Ausführungen zur Welthaftigkeit der Dinge angedeutet werden. Das ›gezähmte Ding‹ ist ein Ding, das technisch vorgestellt ist, also ein berechnetes Ding wie z. B. die Schein-Dinge und Lebensattrappen, von denen Rilke spricht. Zum Zusammenhang von Technik und Gelassenheit siehe: Denker, Alfred: Heimat, Technik und Gelassenheit auf Heideggers Denkweg. Eine Spurensuche, in: Heidegger, Martin: Gelassenheit (1955), hrsg. v. Alfred Denker und Holger Zaborowski, Freiburg/München 2015, S. 41–71. 626 Heidegger, Erörterung zur Gelassenheit, S. 40 622 623
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Verweilen und Lassen
men«. 627 Die Formulierung ›Ruhend zum Liegen kommen‹ und die Zurückweisung eines Dingbegriffs im Sinne von Gegenstand deutet auf ein Verhältnis der Parallelität hin. Entscheidend ist wiederum, dass sich die Gelassenheit Heidegger zufolge allein einem »unablässigen herzhaften Denken« 628 öffne. 629 Das herzhafte Denken, das er auch Besinnung nennt, stellt er wiederum einem rechnenden, technischen Denken entgegen: »So gibt es zwei Arten von Denken, die beide jeweils auf ihre Weise berechtigt und nötig sind: das rechnende Denken und das besinnliche Nachdenken.« 630 Was an der Rede von einem herzhaften Denken zunächst irritiert, ist die Verbindung zweier Pole, die gemeinhin getrennt werden: Herz und Verstand. Das Herz steht im abendländischen Denken für das Wankelmütige, Unstete und auch Unzuverlässige, es kann ergriffen sein und berührt, weshalb es einen klaren Verstand an seiner Seite braucht, der ihm Struktur verleiht. Dass gerade einem ›herzhaften Denken‹ sich ein Raum eröffnet, in dem die Dinge zum Liegen kommen, erscheint deshalb merkwürdig. Das Herz steht in einem Zusammenhang mit Gefühlen und Befindlichkeiten, das Denken wiederum mit Verstehen und Begreifen. Heidegger sieht jedoch gerade in der Besinnung und Befindlichkeit eine Grundlage des Verstehens: Sofern die pathe nicht nur ein Annex der psychischen Vorgänge sind, sondern der Boden, aus dem das Sprechen erwächst und in den hinein das Ausgesprochene wieder wächst, sind die pathe ihrerseits die Grundmöglichkeiten, in denen das Dasein sich über sich selbst primär orientiert, sich befindet. Das primäre Orientiertsein, die Aufhellung seines Seins-in-derWelt ist kein Wissen, sondern ein Sichbefinden, das je nach der Daseinsweise eines Seienden verschieden bestimmt sein kann. 631 Ebd. Heidegger, Gelassenheit, S. 27. 629 Yen-Hui Lee weist darauf hin, »dass das Denken im chinesischen Sinne immer schon ein Denken mit dem Herzen ist«. So sei das Wort Denken im Chinesischen »eine Komposition von Herz und Feld«. Denken bedeutet hier »immer schon ein Denken mit dem Herz, oder auch ein intuitives Denken«. Lee schlägt deshalb vor, Heideggers »herzhaftes Denken« als Denkweg zu verstehen, »in dem die Spaltung zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen Leib und Seele überwunden wird«. Ders.: Gelassenheit und Wu-Wei. Nähe und Ferne zwischen dem späten Heidegger und dem Taoismus, Freiburg 2001, S. 104 f. 630 Heidegger, Gelassenheit, S. 13. 631 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, Gesamtausgabe, Bd. 18, Frankfurt a. M. 2002, S. 262. 627 628
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Zartheit der Dinge
Was die Seinsweise des Menschen als Sein-in-der-Welt ausmache, sei nicht zunächst das begriffliche Erfassen eines einzelnen Seienden, sondern Befindlichkeit und Stimmung. Mit Stimmung ist hier wiederum keine individuelle Laune gemeint, sondern ein grundlegender Bezug zur Welt, ein Gestimmtsein. Wie der Leib nicht erst verschiedene Sinneseindrücke miteinander versammeln muss, um eine synthetische Erfahrung zu machen, sondern er zunächst synästhetisch wahrnimmt, ist auch die Stimmung nicht die Summe vereinzelter Sinnregungen, sondern geht jenen vielmehr voraus. So spricht Heidegger davon, »dass Hörbares zugleich erblickt werden kann« 632. Bezogen auf das Verweilen bei den Dingen lässt sich sagen, dass gerade das angesprochene ›Herzhafte‹ und ›Besinnliche‹ des Denkens darauf hinweist, dass es hierbei nicht allein um eine Haltung der Distanznahme oder Weltabgewandtheit geht, sondern vielmehr buchstäblich darum, sich von dem, was ist, stimmen zu lassen. Dieses Gestimmtsein meint also eher sich zu verlieren, als einer individuellen Laune zu folgen. Analog zum Leib kann hier von einem Berührt-sein von den Dingen gesprochen werden, wobei diese Berührung zugleich eine Abstandnahme ist und verhindert, dass die Dinge in Besitz übergehen können. Diese Haltung klingt auch im folgenden Tagebucheintrag Rilkes wider: Bei jedem Ding will ich einmal schlafen, von seiner Wärme müd werden, auf seinen Atemzügen auf und nieder träumen, seine liebe gelöste nackte Nachbarschaft an allen meinen Gliedern spüren und stark werden durch den Duft seines Schlafes und dann am Morgen früh, eh es erwacht, vor allem Abschied, weitergehen, weitergehen … 633
Weitergehen ist erst möglich, nachdem die »nackte Nachbarschaft« des Dinges gespürt wurde. Es bedarf, sich zunächst ganz auf die Begegnung mit dem Ding eingelassen zu haben, es an allen Gliedern zu spüren, aber nicht mit ihm eins zu werden, sondern genug Abstand zu halten, um weitergehen zu können. In Nachbarschaft zu den Dingen zu sein, also im Sinne Heideggers ›ruhend bei ihnen zum Liegen zu kommen‹, ist etwas Anderes als sie zu gebrauchen, verbrauchen, sich anzueignen oder zu besitzen. Es ist eine Nähe, die zugleich eine Ferne ist. Ähnlich drückt es Nietzsche in Also sprach Zarathustra aus: 632 633
Heidegger, Der Satz vom Grund, S. 89. Rilke, Tagebücher aus der Frühzeit, S. 131 f.
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Verweilen und Lassen
Glücklich zu sein im Schauen, mit erstorbenem Willen, ohne Griff und Gier der Selbstsucht […] und das heiße mir aller Dinge unbefleckte Erkenntnis, daß ich von den Dingen nichts will: außer daß ich vor ihnen da liegen darf wie ein Spiegel mit hundert Augen. 634
Den Dingen »mit erstorbenem Willen, ohne Griff und Gier der Selbstsucht« zu begegnen entspricht Rilkes nachbarschaftlicher Schlaf bei Dingen, in dem jene zum Liegen gekommen sind. Es geht nicht darum, sich bei den Dingen einzurichten, niederzulassen oder sesshaft zu werden, sondern vielmehr nur für eine bestimmte Weile bei ihnen innezuhalten. So lässt sich auch verstehen, warum Rilke schreibt, dass es gilt, »vor allem Abschied« weiterzugehen. Im Sinne Benjamins kann dies als Haltung verstanden werden, in der kein ›Abdruck‹ auf dem Ding hinterlassen wird – letzteres würde bedeuten, sie als verfügbare Bestandstücke in die gedeutete Welt einzugliedern. Sofern das Verweilen ein Aufenthalt für eine Weile ist und zugleich ein Einlassen auf etwas, kann das Kunstding selbst als ein Lassen des Dinges verstanden werden. Dies insofern, als dass hier eine Appellstruktur der Dinge sinnfällig wird, die zugleich ein Entzug ist. Das Werk als Ding ist so gesehen eine erlebte Reflexion auf die Erfahrung des Dinges selbst. Es stülpt sich dem Ding nicht über, sondern steht ganz im Dienste, dieses auf seine ihm bestmögliche Weise in Erscheinung zu bringen. Mit Merleau-Ponty lässt sich sagen, dass sich in ihm die »optimale Entfernung« des Gegenstandes auslotet: »Wie für jedes Bild in einer Gemäldegalerie gibt es für einen jeden Gegenstand eine optimale Entfernung, aus der er gesehen werden will, und eine Orientierung, in der er mehr von sich sehen läßt als in jeder anderen […].« 635 Die optimale Entfernung für den Gegenstand vollzieht sich nicht nur zwischen Werk und Rezipient, sondern im Werk selbst. Bei Cézanne und Morandi sind die Dinge nicht in eine vorstrukturierte Bildordnung eingefügt, sondern der Bildraum ordnet sich vom Ding aus. Zugleich bleibt diese Ordnung in Bewegung, da Ding und Bildraum in einem generativen Wechselverhältnis zueinanderstehen. So lässt sich sagen, dass nicht nur mit, sondern vor allem auch in den Kunstwerken die Dinge gelassen werden. Das Kunstwerk ist hier nicht als Dokument einer künstlerischen Auseinandersetzung mit
634 635
Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 133. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 350.
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Zartheit der Dinge
dem Gegenstand zu verstehen. Im Gegenteil lässt sich sagen, dass es selbst Vollzug eines lassenden Verweilens ist. Während es im alltäglichen Umgang darum geht, etwas mit dem Ding anzufangen, geht es dem Verweilenden allein darum, bei diesem zu bleiben ohne etwas von ihm zu wollen – also von ihm im Vollzug des Einlassens auch abzulassen. Weder unterwirft sich der Verweilende noch stellt er sich über die Dinge. Vielmehr lässt sich sagen, dass das Ding hier zugleich in Ruhe gelassen und im Blick behalten wird. Das Ding zugleich ›in Ruhe zu lassen‹ und im Blick zu behalten, bedeutet, es als uneinholbares Anderes zu bewahren, so dass es nicht in Besitz übergehen kann. So gesehen sind Lassen und Verweilen keine Unterbrechung einer Tätigkeit, aber auch nicht nur ein Innehalten an einem Ort, sondern Moment einer Begegnung und eines Ergriffenseins von den Dingen, in dem diese immer schon mehr als ›bloße Dinge‹ sind. Ein Pendant dieses Erfahrungsmodus findet sich im japanischen Begriff mono no aware. 636
V.2 Das Herzzerreißende der Dinge Während ein rein begriffliches Denken sich die Dinge auf Abstand hält, steht ein Denken mit dem Herzen für ein »Verweilen und lassen«, wo das Ding zugleich in Ruhe gelassen und im Blick behalten wird. Einen Niederschlag dieser Haltung und lassenden Bezugnahme auf die Dinge und der Bewahrung ihrer Einzigkeit findet sich im ostasiatischen mono no aware, ein Ausdruck der sich als das Herzzerreißende der Dinge 637, Pathos der Dinge oder auch »Ach-heit der Dinge« 638 übersetzen lässt. 639 Mono bedeutet ›Ding‹ oder ›Etwas‹. Ding meint hier nicht nur Ding im engeren Sinne, sondern immer auch »ein gewisses Etwas« 640. 636 Zur Entwicklung des Aware-Konzepts siehe Buck-Albulet, Heidi: Emotion und Ästhetik – Das »Ashiwake obune« – eine Waka-Poetik des jungen Motoori Norinaga im Kontext dichtungstheoretischer Diskurse des frühneuzeitlichen Japan, Wiesbaden 2005, S. 151 ff. 637 Vgl. Pörtner, Peter: mono – über die paradoxe Verträglichkeit der Dinge, in: Elberfeld, Rolf / Wohlfart, Günter: Komparative Ästhetik, Köln 2000, S. 211–226, hier: S. 222. 638 Arifuku, Kogaku: Deutsche Philosophie und Zen-Buddhismus: Komparative Studien, Berlin 1999, S. 14. 639 Siehe hierzu Pörtner, mono – über die paradoxe Verträglichkeit der Dinge. 640 Ebd., S. 221.
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Das Herzzerreißende der Dinge
Dieses ›Etwas‹ kann verlocken, erschrecken, beherrschen, helfen, nutzen, aber auch schaden und ist damit gleichermaßen »tremendum« und »fascinosum«. 641 Es ist erschreckend-faszinierendes Ballungszentrum einer Erfahrung der Abwesenheit. Mono meint »die Dinge in ihrer aufdringlichen Ungreifbarkeit oder in ihrer unerreichbaren Evidenz« 642. Sie sind das Verschwindende, das zugleich an die Unerschöpflichkeit alles Lebendigen erinnert: »je evidenter sie zu sein scheinen, desto unerreichbarer sind sie; je mehr sie sich zur Verwendung eignen und anbieten, desto rascher und erschütternder destabilisieren sie sich: mono no aware« 643. ›Aware‹ wiederum ist eine Interjektion: »Aware, on the one hand, is an affective term, stating spontaneously cognition, and there is an identification by the perceiver with the object« 644. Dinge berühren den Wahrnehmenden und treten im Moment dieser Berührung – oder Ergriffenheit – in Erscheinung. Das Ding ist hier Ort einer Erfahrung der Vergänglichkeit. Ein Widerklang dieser Erfahrung findet sich in Adalbert Stifters ›Dichtung des Plunders‹. Stifter lenkt den Blick auf die kleinen, unscheinbaren, vergessenen, ›mitwissenden‹ Dinge des alltäglichen Gebrauchs. So heißt es in Die Mappe meines Urgroßvaters: »Es gibt in jedem Hause Dinge, die man nicht weg wirft, weil doch ein Theil unseres Herzens daran hängt, die man aber gewöhnlich in Fächer legt, auf welche dann nie mehr ein Auge fällt« 645. Gerade in diesen vergessenen Dingen ist eine Erfahrung des Herzens aufbewahrt, die dem mono no aware entspricht: Wenn die Gebeine eines Gewesenen schon verkommen sind, oder zerstreut in einem Winkel und im Grase des Kirchhofes liegen, stehen noch seine bleichenden Schreine in der alten Wohnung, sind zuletzt die beiseite gesetzten ältesten Dinge, und werden so wieder die Gespielen der jüngsten, der Kinder. 646
Der schmerzliche Verlust vergangener Zeiten steckt hier in den Dingen. Mit Heidegger kann gesagt werden, dass jene ›gestimmte‹ Dinge Ebd., S. 223. Ebd., S. 225. 643 Ebd., S. 214. 644 Kato, Kazumitsu: Some Notes on Mono no Aware, Journal of the American Oriental Society. 1962, Vol. 82(4), S. 558–559, hier: S. 559. 645 Stifter, Adalbert: Die Mappe meines Urgroßvaters, Frankfurt a. M. 1989, S. 40. 646 Ebd., S. 33. 641 642
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Zartheit der Dinge
sind. Sie sind eingewebt in eine Atmosphäre des Todes, wobei der Tod hier durch sie ins alltägliche Leben hineinragt. Sie erinnern an die Endlichkeit des Daseins, allerdings auf eine zarte und gerade hierdurch erschütternde Weise: Es ist dies die Dichtung des Plunders, jene traurig sanfte Dichtung, welche bloß die Spuren der Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit prägt, aber in diesen Spuren unser Herz oft mehr erschüttert, als in anderen, weil wir auf ihnen am deutlichsten den Schatten der Verblichenen fort gehen sehen, und unsern eignen mit, der jenem folgt. […] Es ist etwas Rührendes in diesen stummen unklaren Erzählern der unbekannten Geschichte eines solchen Hauses. Welches Wehe und welche Freude liegt doch in dieser ungelesenen Geschichte begraben, und bleibt begraben. 647
Die ›Dichtung des Plunders‹ ist eine sanfte Dichtung, sie drängt sich nicht auf, sondern webt sich vielmehr ins Alltägliche ein, so dass nicht mehr eindeutig ist, wo die Ergriffenheit ihren Ausgangspunkt nimmt. Es ist nicht auszumachen, ob sie hier lediglich ein privates, dem Gegenstand auferlegtes Gefühl ist, oder aber ob nicht vielmehr die Ergriffenheit eine Atmosphäre ist, in der überhaupt erst die Gegenstände erfahren werden können. Im mono no aware ist diese Atmosphäre dem Gegenstand eingewebt. Die Wahrnehmung wird hier durch die ›ungreifbare Evidenz‹, also »die pathoserzeugende Qualität der Dinge« 648 angerührt, wobei diese Qualität den mono grundsätzlich zugeschrieben wird. Eine Weise, in der sich diese Ergriffenheit ausdrückt, findet sich in der japanischen Haiku Dichtung, wodurch auch verständlich wird, wie man ›Ding‹ in diesem Zusammenhang verstehen kann, was wiederum die Ausführungen der vorangehenden Kapitel in ein klareres Licht zu rücken vermag. Dichtung kann hier als Lebensabschreibung (shasei) verstanden werden. Hierbei geht es darum, einen »berührenden Zustand so in der Dichtung auszudrücken, wie er ist, dies bedeutet zugleich, den Zustand der Ergriffenheit so in ihr auszudrücken, wie er ist« 649. Nishida Kitaro hebt hervor, dass shasei nicht bedeutet, »das Äußerliche der Dinge nur abzuschreiben, sondern mit dem Leben das Leben abzuschreiben. Obwohl es beim Abschreiben Ebd., S. 32–33. Pörtner, mono – über die paradoxe Verträglichkeit der Dinge, S. 223. 649 Shimaki Akahiko, Kado-Shoken (die kleine Ansicht über den Weg der Dichtung), S. 28 f., zit. in: Sasaki, Masatoshi: Shasei. Dichten und Leben. Philosophische Überlegungen zur Möglichkeit der Dichtung, unveröffentlichtes Manuskript. 647 648
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Das Herzzerreißende der Dinge
schon dort eine Kluft gibt, muß es so sein, daß das Leben die Erscheinung des Lebens selbst sieht« 650. Hier deutet sich ein ähnliches Problem an, das auch betreffend der Reflexion, die auf das Präreflexive zurückzugehen versucht, angesprochen wurde. Auch hier wird trotz des Wissens um eine Kluft, die sich im Abschreiben des Lebens auftut, an dem Anliegen festgehalten. Mehr noch, wird deutlich, dass hier das Schreiben selbst gerade nicht als Entfernung vom Leben, also der Erfahrung der Ergriffenheit, verstanden wird, sondern es ist vielmehr davon die Rede, dass das Leben das Leben abschreibe. Schreiben selbst wird hier als Ausdruck des Lebens selbst aufgefasst. Im japanischen Haiku sind die Dinge eingebettet in einen Raum, von dem sie nicht abgeschnitten sind, sondern von diesem durchdrungen werden, ihn sichtbar machen und auf diese Weise selbst sichtbar werden. Zugleich fordert es die Distanznahme von einem herkömmlichen Dingbegriff ein. Zwar rücken hier einzelne Wirklichkeitsausschnitte ins Blickfeld, diese werden jedoch, ähnlich einer Bleistiftskizze, nur umrisshaft angedeutet. Anhand einiger ausgewählter Beispiele soll dies nachvollzogen werden. 651 Der Strom des Himmels Umfängt die Hinterbeine Vom Hund, der einschlief. 652
Das Haiku setzt ein mit einer Öffnung des Raumes: die Weite des Himmels. Zugleich zeigt sich lediglich eine bestimmte Facette des Himmels: sein Strom, die Sterne, der Lauf der Sterne. So öffnet sich nicht nur ein Raum, sondern auch ein spezifischer Zeitraum: der Abend oder die Nacht. Dieser Zeitraum umfängt die Hinterbeine des Hundes, womit das Weite hier in unmittelbare Nähe rückt und etwas Unscheinbares in den Fokus hebt. An den Hinterbeinen des Hundes treffen sich Himmel und Erde: das Endliche und Unendliche. Das Einschlafen wiederum kontrastiert die ›große Zeit‹ des Himmels mit der ›kleinen Zeit‹ des Hundes.
Kitaro, Nishida: Gesammelte Werke, Bd. 13, Tokyo 1966, S. 180, zit. in: Ebd. Diese Einlassung auf die Haiku Dichtung stellt lediglich einen Versuch dar, sich der japanischen Dingwahrnehmung zu nähern und folgt einzig meinen eigenen Überlegungen, die sich aus dem Gedankengang der vorliegenden Arbeit speisen. 652 Haiku. Japanische Dreizeiler. Ausgewählt und aus dem Urtext übertragen von Jan Ulenbrook, Wiesbaden 1960, S. 72. 650 651
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Zartheit der Dinge
Durch den Tulpenbaum Vorm Haus in der Hecke Geht plötzlich der Wind … 653
Auch hier öffnet sich der Raum zu Beginn des Gedichtes: Durch den Tulpenbaum. ›Durch‹ suggeriert bereits, dass der Tulpenbaum in einer Verbindung steht, er ist geöffnet, etwas kann durch ihn hindurch. Das »Haus«, vor dem die Hecke steht, bildet zu dieser Durchlässigkeit des Dinges einen Kontrapunkt. Mehr noch, entfaltet sich gewissermaßen durch diesen ›Zwischenschritt‹ der Augenblick, in dem der Wind »plötzlich« durch den Tulpenbaum geht. Das ›plötzlich‹ steht dem Fluss des Windes entgegen. Seine Bewegung streift den Tulpenbaum in genau dem einen hier eingefangenen Moment, aber der Wind lässt sich wiederum nicht auf diese momenthafte Begegnung beschränken. Die schönsten Falten Hat prunkend zur Schau gestellt Die Klatschmohnblüte! 654
Bei dem Versuch eine Mohnblume zu pflücken zeigt sich ihr zerbrechliches Wesen. Ihre Blätter fallen meist sofort allesamt vom Blütentegel ab. Die Mohnblume ist eine fragile Pflanze. Im Haiku verbindet sich ihr kurzweiliges und zartes Dasein mit einer unleugbaren Evidenz: »Die Klatschmohnblüte!« Sie ist da. Ihre Gegenwart lässt sich nicht zurückweisen. Ihre schönsten Falten sind hervorgekommen, die Blütenblätter sind aufgegangen und für einen Moment kann sie jetzt mit ihrer ephemeren Schönheit prunken. Die Trichterwinde, Kaum daß sie aufgegangen, Schon welk geworden. 655
Auch die Trichterwinde ist ein flüchtiges Ding. Kaum ist sie da, verschwindet sie auch wieder, wird welk. Wachstum und Verfall stehen hier unmittelbar nebeneinander. Und doch ist es nicht zu leugnen. Dieses eine Mal ist sie gewesen.
Ebd., S. 23. Haiku. Japanische Dreizeiler. Neue Folge. Ausgewählt und aus dem Urtext übertragen von Jan Ulenbrook, Stuttgart 1998, S. 48. 655 Ebd., S. 72. 653 654
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Das Herzzerreißende der Dinge
Dort steht die Hacke Und niemand ist zu sehen Bei dieser Hitze! 656
Die Hacke tut hier nichts außer da zu sein. Sie steht da. Allein ohne menschlichen Bezug. Denn »niemand ist zu sehen«. Der Gebrauchsgegenstand Hacke ist hier seinem Verweisungsbezug enthoben. Der Leser erfährt nicht, wo die Hacke steht, ob sie an eine Mauer gelehnt ist, ob sie in die Erde getaucht ist. All das bleibt verborgen. Alles, was wir erfahren, ist, dass sie dort steht. Das Dort ist hier zugleich bestimmt und unbestimmt, da niemand zu sehen ist, der bezeugen könnte, dass die Hacke da ist. Auch hier trifft das Kleine auf das Große: Die Hitze verweist auf den Lauf der Jahreszeiten. Diese Einlassungen zeigen, dass ›Dinge‹ hier ›Etwas‹ sind, an dem unsichtbare Zusammenhänge sichtbar werden. Sie sind da, aber dies als Orte der Begegnung gegenläufiger Bewegungen. Sie versammeln Kleines und Großes, Nähe und Ferne, Augenblick und Dauer, Werden und Vergehen. Sie sind hier selbst der Spannungsraum, in dem sich ihre eigene Bestimmung erst entfaltet und »auf die elementarste Formel gebracht, die Schnittmenge von Sein und Nichts. In ihnen schneiden und durchdringen […] sich Ab- und Anwesenheit […]« 657. Doch nicht nur die Dinge sind hier ›abwesende Anwesenheit‹, sondern das Haiku selbst ist Ausdruck einer Haltung, die sich ihrem ›Gegenstand‹ weder einschreibt noch ihn beschreibt. Vielmehr konzentriert sich hier, was bereits zu Kunst und Gelassenheit gesagt wurde: Der Wahrnehmende ist nicht gegenüber, sondern vielmehr so in das Geschehen eingeflochten, dass dieses sich entfalten kann. Die laterale Verbindung, also die Nachbarschaft von Ding und Wahrnehmendem, bietet erst den Raum, in dem das Ding als Ort in Sicht rücken kann. Allein dem Verweilenden zeigen sich die feinen Verflechtungen zwischen den Dingen und damit, dass auch die Dinge nicht an der Grenzscheide ihrer ›materiellen Außenseite‹ enden, sondern analog zum Leib ›Erfahrungsfelder‹ sind. War weiter oben davon die Rede, dass Wahrnehmung stilisiert, also im Vollzug des Einlassens auf das leibliche Zur-Welt-sein bereits eine Reformulierung und Übertragung der Erfahrung in ein neues Äquivalenzsystem erfolgt, fragt sich, inwiefern dies im Hinblick auf 656 657
Haiku. Japanische Dreizeiler. (1960), S. 65. Pörtner, mono – über die paradoxe Verträglichkeit der Dinge, S. 215.
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Zartheit der Dinge
die vorangehenden Überlegungen zur Haiku-Dichtung geltend gemacht werden kann. Das poetische Moment der Wahrnehmung wurde vorangehend in Bezug auf die Vieldeutigkeit, die produktive Überlappung von Auge und Ding und der Kunst als Ort der Sinngenese konturiert. Während dort bereits deutlich wurde, dass das Ding für den Leib kein Gegenstand sein kann, da beide einander wechselseitig hervorbringen, fragt sich, ob auch hier in diesem Sinne von einem poetischen Geschehen die Rede sein kann. Während die Wahrnehmung bei Ponge, Cézanne, Rilke und Morandi als ›multiperspektivisch‹ bezeichnet werden kann, ist sie im Haiku »ohne Richtung. Sie ist aperspektivisch. Kein Subjekt nimmt eine Position ein, von der aus ein Objekt angeblickt wird.« 658 Doch genau genommen ist auch die multiperspektivische Wahrnehmung aperspektivisch. Im Haiku geschieht zwar auf den ersten Blick nichts: »der abwesende Blick wirkt entleerend.« 659 Dies ist jedoch, wie ein Nachempfinden der inneren Bewegung der Gedichte zeigt, nur ein vorschnelles Urteil. Im Haiku geschieht ein Aufeinandertreffen gegenläufiger Bewegungen und eine Zusammenballung entfernter Gegenden. Gerade der abwesende Blick, von dem zunächst nicht ohne Weiteres gesagt werden kann, dass er im oben genannten Sinne ›stilisiert‹, schafft erst den Raum, in dem das momenthafte Zusammentreffen von Ding, Welt, Himmel, Erde und Mensch sichtbar wird. Der Mensch ist hier nur scheinbar abwesend, denn es bedarf eines wachen Betrachters, um die feinen Zusammenhänge zwischen den Dingen wahrzunehmen. Wachsamkeit, Verweilen und Lassen sind Weisen der Abwesenheit, die zugleich eine gesteigerte Form der Aufmerksamkeit ist. Die Dinge werden hier, mit Heidegger gesagt, nicht ausgesprochen, sondern ›erschwiegen‹. Hierzu schreibt er: »Das höchste denkerische Sagen besteht darin, im Sagen das eigentlich zu Sagende nicht einfach zu verschweigen, sondern es so zu sagen, daß es im Nichtsagen genannt wird: das Sagen des Denkens ist ein Erschweigen« 660. Sich in die Dinge zu versenken, sie zu ›erschweigen‹ bedeutet, an ihrer unergründlichen, dichten Oberfläche zu verweilen und in den Zwischenraum, an dem sich die gedeutete Welt und die Welt der Wahrnehmung treffen, einzutauchen. Diese Hingabe an das Ding ist zugleich eine Form der Aufmerksamkeit und eine Haltung der Zu658 659 660
Han, Abwesen, S. 122. Ebd., S. 42. Heidegger, Martin: Nietzsche, Bd. 1, Pfullingen 1961, S. 471 f.
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Ding als Ort der Begegnung
rücknahme. Das Ding wird hier nicht befragt und entdeckt, sondern vielmehr vor flüchtigen Zugriffen bewahrt. Es wird nicht losgelöst von räumlich-zeitlichen Gegebenheiten, sondern in diesen gehalten und in seinen eigenen Umgrenzungen sichtbar. Das Verweilen bei den Dingen markiert eine »von Grund auf andere Gegebenheitsweise als das […] flüchtige, nur auf die Behebung einer Störung des Gebrauchs bedachte Interesse an einem Ding« 661. Hier zeigt sich einmal mehr, dass der Kunst in Bezug auf die Dingfrage eine Sonderstellung zukommt. Dies gerade auch bezüglich der Frage nach einem Denken mit dem Herzen, in dem die Sprache der stummen Dinge vernehmbar wird. Dass die Kunst hier der Philosophie eine wichtige Weggefährtin ist, legt auch folgende Aufzeichnung Heideggers nahe, die er bei seinem Besuch der Provence schreibt: »diese Tage in der Heimat Cézannes wiegen eine ganze Bibliothek philosophischer Bücher auf. Wenn einer so unmittelbar denken könnte, wie Cézanne malte« 662. Unmittelbares Denken ist ein Denken, das seinen Ausgang nicht in einer von der Welt und den Dingen getrennten Vernunft hat, sondern vielmehr, mit Merleau-Ponty gesagt, ins ›Fleisch der Welt‹ eingehüllt ist – oder vielleicht könnte man auch sagen, ins Herz der Dinge? Die Dingerfahrung ist dann nicht mehr Erfahrung eines Gegenübers, sondern die eines Eingebettet-seins, womit sich zeigt, dass das Ding genaugenommen nicht ist, sondern wird als ›Ort der Begegnung‹.
V.3 Ding als Ort der Begegnung Eines der berühmtesten ›Dinge‹ der abendländischen Philosophiegeschichte ist ein Brunnen 663: So erzählte man sich von Thales, er sei, während er sich mit dem Himmelsgewölbe beschäftigte und nach oben blickte, in einen Brunnen gefallen. Darüber habe ihn eine witzige und hübsche thrakische Dienstmagd ausgelacht und gesagt, er wolle da mit aller Leidenschaft die Dinge am Himmel zu
Held, Vom Ansichsein der Dinge, S. 94. Buchner, Harmut: Fragmentarisches, in: Neske, Günther (Hrsg.): Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, S. 47–53, hier: S. 47. 663 Siehe hierzu Blumenberg, Hans: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt a. M. 1987. 661 662
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Zartheit der Dinge
wissen bekommen, während ihm doch schon das, was ihm vor der Nase und den Füßen liege, verborgen bliebe. 664
Der Brunnen zeigt sich erst in dem Moment, in dem Thales in ihn hineinfällt. Er tritt aus dem Hintergrund der Wahrnehmung ins Feld der Aufmerksamkeit. Als Störfaktor des Denkens erinnert er an eine verdeckte Verbindung des Philosophen zur Welt und konfrontiert diesen mit seiner eigenen Verletzlichkeit. 665 Er bringt das Denken hier buchstäblich zurück auf den Boden, denn er verweist auf eine Verbindung zur Erde, zum Wasser und dadurch auch auf die leibliche Situiertheit in der Welt. Aber auch das ›Himmelsgewölbe‹, das hier im Zentrum des philosophischen Interesses steht, zeigt gerade im Kontrast zur Tiefe des Brunnens seine Weite und Ferne. Einen Leib zu haben bedeutet zudem, Hunger und Durst zu empfinden. Der Brunnen ermöglicht einen Zugang zu Wasser, das getrunken und zum Wässern von angebauter Nahrung genutzt werden kann. Er ist eine Schwelle: Einerseits in der Tiefe der Erde verbunden, ragt er zugleich in die Welt des Philosophen und macht den Abstand von Himmel und Erde erfahrbar. Bei diesem Störfaktor innezuhalten würde bedeuten, das Ding ins Denken ›reinzuholen‹. Mehr noch, es würde heißen, keiner linearen Denkordnung zu folgen, sondern vielmehr offen zu sein für das, was sich im Vollzug des Denkens meldet. Das Lachen der Thrakerin wäre so gesehen dann nicht darauf zurückzuführen, dass sie sich auf die Angelegenheiten der Philosophie nicht versteht, sondern vielmehr darauf, dass sie Zugang zu einer leiblichen Verbindung mit den Dingen hat: »It is raising from the depths of her belly, from a wisdom that has remained in closer contact with the earth into which the well too is excavated, in its embodied origin« 666. Der Weg zum Ding ist der Weg zum Leib. ›Weg zum Ding‹ meint folglich nicht, sich schrittweise dem Ding zu nähern, sondern ein gleichzeitiges Näherrücken und Abstand nehmen, wobei das Näher-
Platon, Theatet. 174a-b in der Übersetzung von Heidegger, Die Frage nach dem Ding, S. 2. 665 Siehe hierzu Schües, Christina: Das Lachen der thrakischen Magd. Über die ›Weltfremdheit‹ der Philosophie, in: Bochumer philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 13, Bochum 2008, S. 15–31. 666 Benso, Silvia: The Face of Things. A Different Side of Ethics, New York 2000, S. xix–xxiii. 664
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Ding als Ort der Begegnung
rücken hier gerade kein vom Subjekt gesteuerter Vorgang ist, sondern vielmehr das Getroffen-sein von einem Anspruch der Dinge: Der Brunnen wurde nicht eigens aufgesucht, er trifft den Philosophen vielmehr unerwartet und plötzlich. Verweilen wurde als Modus ausgewiesen, in dem die Verbindung von Leib und Welt, Himmel und Erde, Nähe und Ferne in Sicht rückt. Dinge sind dann nicht als Gegenstände wahrgenommen, sondern als Orte der Begegnung. Dieser Ort ist kein positiv bestimmter Raum, in den Ding und Wahrnehmender eingefügt werden, sondern das Aufeinandertreffen von Ding und Leib ist selbst Hervorbringung eines Ortes. Ort meint hier keine geographisch bestimmte Position, sondern ein Geschehen: »ein ›Ort‹ kommt, ein Ort ist nicht voreingeschrieben ins Ganze der ›Objekte‹ der Welt« 667. In Anbetracht der einleitenden Überlegungen zur Welthaftigkeit der Dinge lässt sich sagen, dass Dinge so gesehen weder in der Welt noch außerhalb der Welt sind, sondern ›weltstiftend‹. 668 Das Erscheinen der Welt im Ding als Ort vollzieht sich vor dem Hintergrund gegenläufiger Bewegungen. Heidegger bringt als Kontrastbegriff für die Welt die Erde in Anschlag. Während die Erde das »wesenhaft Unerschließbare« 669 ist, sei die Welt das Offene. Beide sind »niemals getrennt« 670 und stehen nie unverbunden nebeneinander, lösen sich jedoch auch nicht zu einer Einheit auf. Hier klingt die oben angesprochene Bedeutung der Grenze wider. Erde und Welt brauchen einander und sind, was sie sind, allein im gegenseitigen Bezug aufeinander. Dass die Dinge nicht »nur an einen Ort« 671 gehören, sondern selbst Orte sind, wird, wie gezeigt, besonders mit der Kunst sinnfällig. Entscheidend ist wiederum, dass mit ihr auf diese Weise ein Zusammenspiel der ›weltlichen Dinge‹ mit ihrer Umgebung und ihrer Einbettung in einen Lauf aus Werden und Vergehen in Sicht rückt – wie neben dem Brunnen auch am Beispiel der Brücke nachvollzogen werden kann:
Escoubas, Éliane: L’espace pictural, zit. in: Gondek, Hans-Dieter / Tengelyi Lázló (Hsrg.): Neue Phänomenologie in Frankreich, Berlin 2011, S. 564. 668 Siehe hierzu auch: Seubold, Günter: Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg 1986, S. 151 f. 669 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 36. 670 Ebd., S. 38. 671 Heidegger, Martin: Die Kunst und der Raum (1969), Frankfurt a. M. 2007, S. 11. 667
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Zartheit der Dinge
Die Brücke versammelt die Erde als Landschaft um den Strom […]. Auch dort, wo die Brücke den Strom überdeckt, hält sie sein Strömen dadurch dem Himmel zu, daß sie es für Augenblicke in das Bogentor aufnimmt und daraus wieder freigibt […]. Die Brücke lässt dem Strom seine Bahn und gewährt zugleich den Sterblichen ihren Weg, daß sie von Land zu Land gehen und fahren […]. Ob die Sterblichen das Überschwingende der Brückenbahn in der Acht behalten oder vergessen, daß sie, immer schon unterwegs zur letzten Brücke […]. 672
Heidegger spricht an dieser Stelle nicht von einer beliebigen Brücke, sondern von einer konkreten, erfahrenen und in der Welt seienden Brücke. Die Brücke ist hier eingebettet in den Lauf von Leben und Tod, in dem die Sterblichen ihren Weg gehen. Zugleich ruft er auch eine mystische Bedeutung der Brücke auf, in dem er davon spricht, dass der Mensch unterwegs »zur letzten Brücke« sei. In seiner Beschreibung öffnet sich der Raum des Dinges, das hier nicht als Gegenstand, dem man sich bedienen könnte, aber auch nicht als außerhalb sinnlicher Erfahrung bestehende Idee gefasst ist. Hieß es weiter oben, dass das Ding in der leiblichen Berührung wird, erweist sich dies vor dem Hintergrund der vorangehenden Überlegungen noch als zu kurz gegriffen. Als Ort der Versammlung von Himmel, Erde, Welt und Sterblichen wird das Ding nicht, genau so wenig ist es einfach ›nur da‹. Es befindet sich nicht hier oder dort, ist auch kein vieldeutiges Erkundungsfeld, sondern Entzug, Abwesenheit, Verborgenheit und Unsichtbarkeit. Dies nicht in dem Sinne, dass seine Bedeutung oder sein innerer Wesenskern dem menschlichen Vorstellungsvermögen nicht zugänglich wäre. Sein Entzug ist nicht auf etwas gerichtet. Allein in dieser Weise vermag es die Menschen, wofür die Brücke ein besonderes Beispiel ist, buchstäblich zu ›tragen‹ und in der Welt zu halten. Das Unsichtbare ist kein Gegenpol zum Sichtbaren, Entzug und Abwesenheit nicht der Widerpart des Anwesenden, sie sind auch nicht einander Vorderund Rückseite oder unbestimmter ›Untergrund‹. Vielmehr erscheinen hier Beschreibungen Heideggers, wie zum Beispiel »das Ding dingt« oder »Der Krug ist ein Ding insofern er dingt« am ehesten zu greifen. 673
Heidegger, Bauen, Wohnen, Denken in: Vorträge und Aufsätze, Teil II, 3. Aufl., Tübingen 1967, S. 145–162, hier: S. 146–148. 673 Heidegger, Das Ding, S. 175. 672
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Ding als Ort der Begegnung
›Dingende Dinge‹ sind, anders als man diesen Formulierungen entnehmen könnte, nicht lediglich auf sich selbst bezogene Dinge. Vielmehr deuten sie auf eine Bewegung hin und ein versammelndes Geschehen, wobei das Ding, wie Brücke und Brunnen, aber auch die unterschiedlichen angeführten Kunstdinge zeigen, ein ›Konzentrationspunkt‹ dieses Geschehens ist. Hierbei ist es jedoch zu keinem Zeitpunkt nur ein möglicher Teil des Geschehens, sondern hält jenes vielmehr als dingendes Ding in Bewegung – oder genauer gesagt in einer ruhenden Bewegung. Im Ding treffen sich Innen und Außen, Ferne und Nähe, Tiefe und Weite, Ruhe und Bewegung, sie werden zugleich zusammen- und auseinandergehalten. Diese ›Bestimmung‹ des Dinges hat sich im Verlauf der Annäherungen bereits auf verschiedenen Ebenen angedeutet. Zum einen im Umkreis der künstlerischen Annäherung an die Dinge, wobei diese hier gerade nicht als solitäre Einzeldinge, sondern immer in einer spezifischen momenthaften Anordnung in Sicht rücken. Mehr noch wurde unterstrichen, dass das Kunstwerk kein abgeschlossener Gegenstand ist, sondern dieses vielmehr Geschehenscharakter hat. Dies insofern, als es an die Wiederaufnahme der in ihm aufbewahrten Bewegung gebunden ist: Das Kunstwerk ist nur als wahrgenommenes, erlebtes Ding – oder, mit Heidegger gesprochen, ist es nur als ›dingendes Ding‹. Vor diesem Hintergrund bekommt die einleitend formulierte Überlegung zum Verhältnis von Welt und Ding Kontur. So sei an dieser Stelle an den oben zitierten Ausspruch aus Rilkes Rodin-Vortrag erinnert. Dort heißt es: »Wo beginnen die Dinge? Die Dinge beginnen mit der Welt; sie sind die Welt« 674. Demnach sind nicht erst die Dinge und dann die Welt als Summe der in ihr vorhandenen Gegenstände oder umgekehrt erst die Welt als Bedeutungsrahmen, in den diese eingefügt werden, sondern beides ist allein in Bezug auf das je andere. Was für die vorliegende Arbeit entscheidend ist, deutet Rilke im weiteren Verlauf des Vortrags an: Wenn es ihnen möglich ist, kehren Sie mit einem Teile ihres entwöhnten und erwachsenen Gefühls zu irgendeinem ihrer Kinderdinge zurück […]. War es nicht ein Ding, mit dem Sie zuerst ihr kleines Herz geteilt haben wie ein Stück Brot, das reichen mußte für zwei? […] Dieses Etwas, so wertlos es war, hat ihre Beziehungen zur Welt vorbereitet […]. Sie erinnern sich dessen kaum mehr, und es wird ihnen selten bewußt, daß Sie auch jetzt noch 674
Rilke, Rodin, S. 124. [Herv. im Original]
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Zartheit der Dinge
Dinge nötig haben, die ähnlich wie jene Dinge aus der Kindheit, auf Ihr Vertrauen warten, auf Ihre Liebe, auf Ihre Hingabe. 675
Rilke appelliert an seine Zuhörer, zu versuchen, sich an die Beziehung zu den Dingen in ihrer Kindheit zu erinnern. Hier sei das Verhältnis zu ihnen ein ursprüngliches gewesen. Erst in der Hingabe an das Ding hätte sich das Band zur Welt geknüpft. Diese ist demnach nicht vorher da gewesen, vielmehr kann nicht unterschieden werden, was zuerst ist: Welt oder Ding? Zwar ist das Ding hier auch zunächst ein bloßer Gegenstand, ein »Etwas«, doch »so wertlos es war« auch mehr als das. Wie maßgeblich die Beziehung zu den Dingen für Rilke ist, zeigt sich auch daran, dass hier nicht Mutter oder Vater als Koordinaten gelten, von denen ausgehend sich die Beziehung zur Welt vorbereitet, wobei das Ding eine weitere Facette dieses Verhältnisses zur Welt wäre, sondern er behauptet, dass es ein Ding ist, mit dem zuerst das kleine Herz geteilt wird, »wie ein Stück Brot, das reichen mußte für zwei«. Erst aus dieser Zweisamkeit von Kind und Ding bildet sich eine Welt heraus. Entscheidend ist nunmehr, dass Rilke in diesem kindlichen Ding-Bezug mehr sieht als lediglich eine Vorstufe zum Erwachsensein. Letzteres nennt er ein ›entwöhntes Gefühl‹, das auch jetzt noch Dinge nötig habe, »die ähnlich wie jene Dinge aus der Kindheit, auf Ihr Vertrauen warten, auf Ihre Liebe, auf Ihre Hingabe.« Hier deutet sich an, dass das generative Verhältnis von Welt und Ding, das Rilke so klar vor Augen hat, in einer entwöhnten Sicht auf die Dinge in Vergessenheit gerät: »es wird ihnen selten bewußt, daß Sie auch jetzt noch Dinge nötig haben«. Die Verflechtung von Ding und Welt scheint dem entwöhnten Gefühl kaum noch bewusst zu sein. Sich dessen zu erinnern, sei wiederum für den Erwachsenen notwendig. Notwendig deshalb, weil der Kontakt mit den Dingen weltbildend ist. Wie der Leib lässt sich auch die Welt nicht vergegenständlichen, da sie einzig als bewohnte, erfahrene Welt ist. Dinge sind nicht nur mögliches Attribut dieser Welt, sondern mit ihnen und in ihnen wird Welt. Erst in der Begegnung generiert sich eine Ordnung, die man ›Zuhause‹ oder ›Welt‹ nennen kann. Das dingende Ding, das weltstiftende Ding, ist wiederum Voraussetzung einer Welt, in der der Mensch sich einrichten kann, es ist also auch ein Ort der Gemein675
Ebd., S. 78–81.
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Ding als Ort der Begegnung
schaft. Es betrifft immer schon mich in Bezug auf den Anderen, gerade diese Verbindung ist zart und verwundbar. So vermag der Umgang mit dem Ding weltbildend zu sein, jedoch nur, wenn ihm eine Haltung der Liebe, Hingabe und des Vertrauens zugrunde liegt. Auch Heidegger hebt hervor, dass sich die Dinge als Dinge »nicht durch die Machenschaft des Menschen« 676 zeigen. Das herzhafte Denken, in dem sich ein Raum öffnet, in dem die Dinge zur Ruhe kommen, kann als liebevolle Hingabe verstanden werden. Hierbei geht es um eine Annäherung, die keine Aneignung ist, womit sich auch zeigt, inwiefern davon die Rede sein kann, dass die Begegnung der Dinge für den Menschen notwendig ist. Dieser ist hier als der Sterbliche gefasst. Es bedürfe gerade der Wachsamkeit der Sterblichen, um die Dinge in ihrer Dingheit zu bewahren: Wann und wie kommen die Dinge als Dinge? Sie kommen nicht durch die Machenschaft des Menschen. Sie kommen aber auch nicht ohne die Wachsamkeit der Sterblichen. Der erste Schritt zu solcher Wachsamkeit ist der Schritt zurück aus dem nur vorstellenden, d. h. erklärenden Denken in das andenkende Denken […]. 677
Demnach braucht das Ding die Aufmerksamkeit und Wachsamkeit des Menschen, aber auch wir brauchen die Dinge, um auf der Erde zu wohnen und uns in der Welt einzurichten. Die vielfach angesprochene generative Überkreuzung von Leib und Ding ist somit Hervorbringung eines Ortes im Sinne des alten Wortes Ethos, was Aufenthalt und Wohnstätte meint: »Ethos bedeutet Aufenthalt, Ort des Wohnens« 678. 679
Heidegger, Das Ding, S. 173. Ebd. 678 Heidegger, Über den Humanismus, S. 46. 679 Siehe hierzu: Aurenque, Diana: Ethosdenken. Auf der Spur einer ethischen Fragestellung in der Philosophie Martin Heideggers, Freiburg 2011. Des Weiteren ist an dieser Stelle auf den Essay The Face of Things: A Different Side of Ethics von Silvia Benso hinzuweisen, in dem Heideggers Frage nach dem Ding und Levinas’ Ethik des Anderen so zusammengeführt werden, dass es der Autorin möglich ist, von einer Ethik der Dinge zu sprechen. Siehe: Benso, Silvia: The Face of Things: A Different Side of Ethics, New York 2000. 676 677
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VI Schluss
Die gegenseitige Verknüpfung aller irdischen Erscheinungen ist sehr viel größer, als man gemeinhin annimmt; da sich jedoch das Hin- und Her der unzähligen Wechselwirkungen im Geheimen vollzieht, erfährt man wenig darüber. Wollte man übertreiben, so ließe sich sagen, daß schlechthin Alles mit Allem zusammenhängt, doch das stimmt nicht ganz. Jenes heimliche Gewirk, in das wir versponnen sind, hat lockere und dichte Stellen. 680
Zu Beginn der Arbeit wurde konstatiert, dass eine philosophische Reflexion, die den Leib aus ihrem Denken nicht verbannen will, sich der Herausforderung stellen muss, ihre Fragen unter Bezugnahme des leiblichen Anhalts an der Welt in Bewegung zu halten. Es wurde auch bemerkt, dass der Leib für die Befragung der Dinge ›befruchtend‹ sei. Dieses Befruchtende zeigt sich unter anderem daran, dass er es nicht erlaubt, ›über ihn hinweg zu Denken‹. Er hemmt, so gesehen, ein zu schnelles Voranschreiten und fordert vielmehr ein langsames Einlassen auf den infrage stehenden Gegenstand: »Unsere Leiblichkeit ist Menetekel fragiler Erkenntnis, weil sie in ihrer Andersheit das Bewußtsein daran gemahnt, daß es nicht alles ist.« 681 Einzusehen, dass das Bewusstsein ›nicht alles ist‹, entlastet das Denken von dem Gewicht, letztgültige Wahrheiten ergründen zu müssen und öffnet es für die Begegnung mit den ›kleinen Dingen‹. Dass diese Begegnung mehr ist als eine Entdeckung und Absteckung neuer Themengebiete, hat sich im Verlauf der Auseinandersetzung herausgestellt. Hier zeigte sich, dass die ›kleinen Dinge‹ für den Leib nicht möglicher, sondern notwendiger Bezugspunkt sind. Ein leiblich erfahrenes Ding ist immer ein Ding, das trifft und bedeutsam ist. Dies nicht im Sinne einer möglichen semantischen Aufladung eines Gegenstandes, sondern in einer weiteren Bedeutung als Gewahr-werdung der filigranen Verflechtung von Welt, Ding und Leib – oder in den Worten Kurt
680 Kusenberg, Kurt: Ein gewisses Zimmer (1948), in: Ders., Mal was andres. Eine Auswahl seltsamer Geschichten, Hamburg 1954, S. 29. 681 Meyer-Drawe, Der Leib – ›Ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding.‹, S. 303.
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Schluss
Kusenbergs: »Jenes heimliche Gewirk, in das wir versponnen sind« und das wiederum ›lockere und dichte Stellen‹ hat. Bei den Dingen innezuhalten, still zu werden, öffnet einen Zugang zu den feinen Verflechtungen zwischen ihnen und uns. So werden ihre Konturen, je tiefer wir in die Erfahrung der Dinge eintauchen, zwar unschärfer, wobei diese Unschärfe notwendig ist, um zu erkennen, dass Dinge mehr sind als austauschbare Nebensächlichkeiten. Die ›sanfte Dichtung des Plunders‹, die filigranen Zusammenhänge im Haiku bekunden sich nur wachsam Hörenden 682, die es verstehen, die stummen Regungen der Dinge in sich widerklingen zu lassen. Je näher wir den Dingen zu rücken versuchen, scheint sich das Gestrüpp an Bezügen und Verweisen zu verdichten. Zugleich weitet sich der Raum des Dinges insofern aus, als dass vom Leib aus gesehen die Dinge nicht mehr allein im Hinblick auf Funktionsweisen, sondern auch in ihrer Unverfügbarkeit in den Blick zu rücken vermögen. So kann mit Flusser gesagt werden, dass auch das Scheitern des Versuchs, die ›menschlichen‹ Spuren von den Dingen abzutragen, »Überraschendes« 683 hervorbringt. Eine ›Überraschung‹, die sich an dieser Stelle herauskristallisiert hat, ist, dass sich vor dem Hintergrund unseres leiblichen Zur-Welt-seins von einer Notwendigkeit, den Dingen in ihrer Einzigkeit zu begegnen, sprechen lässt. Dies insofern als der Leib mehr ist als der domestizierte Begleiter unserer alltäglichen Beschäftigungen und auch die Dinge für ihn immer schon mehr sind als austauschbare Nebensächlichkeiten. Mit den Dingen lichtet sich die Potenzialität unseres leiblichen Verhältnisses zur Welt: Ein menschlicher Leib ist vorhanden, wenn es zwischen Sehendem und Sichtbarem, zwischen Berührendem und Berührtem, zwischen dem einen Auge und dem anderen, zwischen einer Hand und der anderen zu einer Art Überkreuzung kommt […]. 684
Es stellt sich die Frage, ob man vor diesem Hintergrund von einer ›Verantwortung‹ für die Dinge sprechen kann, oder genauer: einer Verantwortung dafür, die Möglichkeit nach leiblichen Dingerfahrungen offen zu halten. 685 Diese Frage könnte den Ausgangspunkt für Zur Phänomenologie des Hörens siehe: Espinet, David: Phänomenologie des Hörens. Eine Untersuchung im Ausgang von Martin Heidegger, Tübingen 2016. 683 Vgl. Flusser, Dinge und Undinge, S. 9 und S. 53. 684 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 281. 685 In diese Richtung geht der Ansatz Hartmut Rosas. Siehe ders.: Resonanz: eine 682
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Schluss
eine anschließende Auseinandersetzung bieten, in der die im letzten Abschnitt angeführten Überlegungen zur ethischen Dimension der Dingwahrnehmung fortzuführen wären. Dinge wurden dort als Orte der Begegnung ausgewiesen, die wiederum eine Haltung der liebevollen Pflege des Menschen brauchen, um in dieser Bedeutung aufscheinen zu können. Dahingehend scheint besonders der Blick nach Ostasien vielversprechend zu sein, der an dieser Stelle nur sehr vorsichtig angedeutet werden konnte. Hier kommt der Stimmung und Atmosphäre eine wichtige Rolle in der Dingerfahrung zu. Dass Stimmung und Ethik einander nicht ausschließen, stellt Paola Ludovika Coriando in Bezug auf Heidegger heraus und meint, dass das Ethische auf dem Grund der Stimmungen einen neuen Sinn erhält. Sie schlägt vor, Ethik als »verstehende Ausbildung der ursprünglich entgrenzenden Welthaltung« 686 zu verstehen. Diese ›entgrenzte Welthaltung‹, in der das Dasein sich seinem In-der-Welt-sein gewahr wird und hiermit auch die Dinge anders wahrnimmt, korrespondiert mit dem Ding als Ort der Begegnung. Von hier aus wäre darüber nachzudenken, ob sich in diesem Modus auch eine Pflicht zur Behütung der Einzigkeit der Dinge zeigt. 687 Aus diesem Blickwinkel gesehen, lässt sich die gegenwärtige Rede von einer Agenshaftigkeit der Dinge, mit der »die gesamte Unterscheidung von Subjekt und Objekt« 688 außer Kraft gesetzt werden soll, zwar als eine Verschiebung der Perspektive auf das Ding verstehen, jedoch nicht als eine Überwindung eines Dingverständnisses, das am Gegenstandsbegriff orientiert ist. 689 Zumindest dem hier vorSoziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016 sowie die Arbeiten von Andreas Weber. Ders.: Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften, Berlin 2007 (Neuauflage thinkOYA 2014); ders.: Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie, München 2014. 686 Coriando, Paola-Ludovika: Affektenlehre und Phänomenologie der Stimmungen, Frankfurt a. M. 2002, S. 144. 687 Auch an Immanuel Levinas’ Ethik des Anderen wäre hier zu denken. Dieser bezieht zwar Dinge nicht ein, da diese kein Antlitz haben können, dass die Ethik des Anderen aber durchaus in eine Verbindung mit der Dingphilosophie gestellt werden kann, zeigt Silvia Benso in ihrer Arbeit mit dem Titel: The Face of Things – The other side of Ethics. Sie verbindet die Heideggersche Dingfrage mit der Ethik des Anderen. 688 Balke et. al., Die Wiederkehr der Dinge, S. 8. 689 Es wäre jedoch denkbar, Ding als Ort der Begegnung in einen Zusammenhang mit Gilbert Simondons Konzept der ›offenen Maschine‹ zu bringen. Hier geht es gerade nicht um eine Machtumkehr, sondern ein Verhältnis wechselseitiger Bezugnahme einerseits, aber auch um eine Ebene der Verantwortlichkeit. Der Mensch könne in Bezug auf die technischen Geräte als Dirigent verstanden werden: »Der Dirigent« ist
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Schluss
genommenen Gedankengang bliebe das Verhältnis von Ding und Leib, Künstler und Ding oder auch Kind und Ding verschlossen, würde hier eine ›Eigenmacht der Dinge‹ proklamiert werden. Dinge, die appellieren, richten sich weder an noch gegen ›uns‹, sondern sprechen einen Leib an, der ›nicht ganz bei sich‹ ist. So sind gerade die skizzierten Störungsmomente, das, was Kästner einen Aufstand der Dinge nennt, stets Störungen innerhalb der ›gedeuteten‹ Welt, will man jedoch die ›gedeutete Welt‹ nicht als einzigen Maßstab für die Bedeutung der Dinge und unserem Verhältnis zu ihnen nehmen, sondern vielmehr nur als einen möglichen Ausdruck unseres Zur-Welt-seins, gilt es, ›anderswo‹ nach der Begegnung mit den Dingen zu suchen. Die Begegnung von Leib und Ding kann, wie gezeigt, selbst als dieser Ort verstanden werden. Kunst ist wiederum eine Weise, mit der diese Begegnung sinnfällig wird. Dort geht es nicht darum, dass mit dem Ding etwas gemacht werden soll, sondern erfahrend-erlebend in die Begegnung mit ihm einzutauchen – ohne etwas von oder mit ihm zu wollen. Es bedeutet zugleich, Partei zu ergreifen für das vermeintlich unnütze, unscheinbare, austauschbare Andere und sich im Sinne Ponges mit diesem zu solidarisieren: Was mich betrifft, so lege ich wert darauf zu sagen, daß ich […] zum Beispiel außer allen Eigenschaften, die ich mit der Ratte, dem Löwen und dem Netz gemeinsam habe, auf die des Diamanten Anspruch erhebe, und übrigens fühle ich mich ganz und gar solidarisch sowohl mit dem Meer als auch mit der Klippe, gegen die es brandet, und mit dem Kiesel, der dabei entsteht […]. 690
Sich mit dem Nichtmenschlichen zu verbünden bedeutet nicht, dieses zu anthropomorphisieren, sondern sich der eigenen leiblichen Weltverbundenheit gewahr zu werden, die unablöslich an den stummen Anspruch der Dinge gekoppelt ist.
»für jeden die sich bewegende und wandelnde aktuelle Form der Gruppe, wie sie gerade existiert; der Dirigent ist der wechselseitige Übersetzer aller in Bezug auf alle. So hat der Mensch die Funktion, der ständige Koordinator und Erfinder der Maschinen zu sein, die um ihn herum sind. Er ist mitten unter Maschinen, die mit ihm handeln und wirken.« Simondon, Gilbert: Die Existenzweise technischer Objekte, Zürich 1989, S. 11. 690 Ponge, Einführung in den Kieselstein, S. 147.
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VII Literaturverzeichnis
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