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German Pages 441 [444] Year 2007
CQMMUNICATI(
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Band 38
Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel
Helge Jordheim
Der Staatsroman im Werk Wielands und Jean Pauls Gattungsverhandlungen zwischen Poetologie und Politik
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007
Gedruckt mit Unterstützung des Instituts für Literatur, Kulturkunde und europäische Sprachen der Universität Oslo. Die vorliegende Arbeit erhielt den norwegischen Preis »H. M. Kongens Gullmedalje« - »Die Goldmedaille Ihrer Majestät des Königs« - als beste geisteswissenschaftliche Arbeit im Jahr 2006.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-63038-3
ISSN 0941-1704
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http:/'/www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Vorwort
»Man wird traurig, wenn man ein Buch endigt, weil man an alles denkt, was man noch endigen werde«, so Jean Paul an seinen besten Freund Christian Otto nach Abschickung des Manuskripts zu seinem ersten Roman. Trauer ist allerdings nicht das Wort, das meine Stimmung beim Beenden der vorliegenden Arbeit am besten beschreibt, sondern Freude. Diese Arbeit wurde im Frühjahr 2006 von der Humanistischen Fakultät der Universität Oslo als Dissertationsschrift angenommen. Für die Druckfassung sind das Manuskript noch einmal sprachlich und stilistisch überarbeitet worden. Ebenfalls sind einige Ergänzungen hinzugekommen, die ich vor allem meinen beiden Fachgutachtern, Prof. Wilhelm Voßkamp und Prof. Hans-Jürgen Schings, verdanke. Die Dissertation entstand unter der fachlichen Betreuung von Prof. Ivar Sagmo, dem ich fur seinen unerschütterlichen Glauben an das Projekt sowie für seine ständige Hilfsbereitschaft und fachliche Aufgeschlossenheit zu großem Dank verpflichtet bin. Dem ehemaligen Germanistischen Institut an der Universität Oslo sowie seinem Erben, dem Institut für Literatur, Kulturkunde und europäische Sprachen, möchte ich für ihre Gastfreundschaft und freundliche Unterstützung danken. Eine Reihe von guten Freunden, Kollegen, Kritikern und Lehrern, die ich alle nicht namentlich nennen kann, haben durch Kommentare, Kritik und Diskussion zur Entstehung und Durchführung dieses Forschungsprojektes beigetragen. Seit dem Herbst 2002 ist die Forschergruppe Text/Geschichte eine ständige Quelle für theoretische Anregungen und fachliches Engagement gewesen. Als Mitglied der Norwegischen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts habe ich an interessanten und ergiebigen Diskussionen teilnehmen dürfen und wichtige Anregungen bekommen. Nicht weniger wichtig waren allerdings die Gespräche, die im Rahmen des Fluberg-Kreises meine Arbeit begleitet haben. Danken möchte ich schließlich der Universität Oslo für das dreijährige Promotionsstipendium, das mir es erst ermöglichte, mich mit Wieland und Jean Paul zu beschäftigen, sowie für einen zusätzlichen Reisekostenzuschuss, der mich im Frühjahr 2002 nach Berlin brachte. Ein besonderer und herzlicher Dank geht an Michael Opitz und Charlotte Oldani, die unter großem Zeitdruck das ganze Manuskript gelesen haben und mir bei der sprachlichen Überarbeitung behilflich waren.
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Vorwort
Alles andere verdanke ich meiner Frau Anne, die durch ihre Intelligenz, Geduld und Liebe mir es erst möglich machte, die Freude des Beendens zu erleben. In den Jahren, die ich mit dieser Arbeit verbracht habe, sind wir eine kleine Familie geworden. Wer genau liest, wird auf den folgenden Seiten auch Marias und Ansgars Fingerabdrücke erkennen können. Oslo, im Herbst 2006 Helge Jordheim
Inhaltsverzeichnis
1. 1.1 1.2 1.3
2. 2.1 2.2 2.3 2.4
2.5
3. 3.1 3.2
Einleitung: Staatsroman und Gattungswandel Der Staatsroman im Wandel der Zeit Vier Fragestellungen zur Tragfähigkeit des Gattungsbegriffes »Staatsroman« Zum Aufbau der Arbeit: Gattungsgeschichte und Textinterpretation Staatsroman und Aufklärung: Gattungsverhandlungen und Politisierung im 18. Jahrhundert Ausgangspunkt: Telemaque in Deutschland Von Gattung zu Gattungsverhandlungen - zur Historisierung und Dynamisierung des Gattungsbegriffes Von Politik zu Politisierung — zur Historisierung und Dynamisierung des Politikbegriffes Der Staatsroman als Forschungsproblem 2.4.1 Staatsroman als Utopie/Utopie als Staatsroman 2.4.2 Die Aufspaltung der Gattungstraditionen: Staatsroman vs. Utopie 2.4.3 »Literatur ist Utopie« oder der Abschied vom Staatsroman im Kontext der Autonomieästhetik 2.4.4 Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung: Historischer Ort und systematische Stelle Narrative und diskursive Gattungsverhandlungen: Erzählparadigmen im Goldnen Spiegel und in der Unsichtbaren Loge.... 2.5.1 Erzählerrollen und Erzählsituationen 2.5.2 Der Erzähler und sein Gegenspieler Geschichte des Agathon·. Die Dekonstruktion des Staatsromans und die moralisch-politische Dialektik der »Anwendung« Der Abschied vom Staatsroman in den Vorreden zu Wielands Agathon Ausführung der Träume, Anwendung der Lehrsätze zur Politikkonzeption im Agathon
1 2 9 22
29 31 37 43 54 55 58 63 67 74 77 84
97 100 110
Inhaltsverzeichnis
VIII 3.3 3.4 3.5
4. 4.1 4.2 4.3
Versöhnung des Bildungsromans, Aporie des Staatsromans? — Gattungsverhandlungen der Agathon-Forschung Bildung zur Politik — im Brennpunkt zwischen narrativen und diskursiven Strategien »Hätte ich mich wie Hippias betragen« oder »Sprung aus dem Fenster«: Kontrafaktische und utopische Schwundstufen des Staatsromans
4.5 4.6
5.
5.1 5.2 5.3
6. 6.1 6.2 6.3
6.4 6.5 6.6
129
139
Der Goldne Spiegel·. Die Rekonstruktion des Staatsromans als Antwort auf die Krise des aufgeklärten Absolutismus Krise des Absolutismus und der Dialog zwischen Intellekt und Herrschaft »Eine so vollkommene Polizei«: Krise als Erzählproblem Intention, Konvention und Innovation - die »groteske
Kompromißhaftigkeit« des Goldnen Spiegels 4.4
122
Fürstenspiegel als Gattungsmaterial: Der gute Mensch und der böse Fürst Utopie als Gattungsmaterial: Rezeption und Politisierung Bildungsroman als Gattungsmaterial: Entpolitisierung des Staatsromans? Agathonscher Zweck und Sternescher Humor zur gattungsgeschichtlichen Kontinuität und Diskontinuität der Werke Wielands und Jean Pauls Adaption und Gattungsverhandlungen Der »Agathonsche Zwek« als Gattungsintention Von »Laune« zu »Witz«: Sternescher Humor als Politisierung der Welt
147 149 159
164 172 182 192
199 201 203 208
Die Unsichtbare Loge: Das Romanfragment und das Geheimbundmodell der Aufklärung Fragment und Gattungsverhandlungen Der Roman geht unter die Erde - von Kindheitshöhle zu Verschwörungshöhle Paratextuelle Gattungsverhandlungen 6.3.1 »Titelfabrikatur« und Gattungsverhandlungen 6.3.2 Die »geborne Ruine«: Verhandlungen über Unvollendetheit und Unvollendbarkeit Der Geheimbund zwischen Politisierung und Poetisierung Zum Geheimbundmodell im aufgeklärten Staatsroman: Inhalt und Funktion Die utopische Insel: Flucht aus dem Roman?
223 226 234 246 248 255 260 267 277
Inhaltsverzeichnis 7. 7.1 7.2 7.3 7.4
7.5
8. 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
IX
Hesperus: Über politischen und poetologischen Machiavellismus. . . . 283 Machiavellismus und Gattungsgeschichte: Der Lord, Staatsräson und Staatsroman 288 Narrative Notwendigkeit, moralische Unverantwortbarkeit: Über den Charakter des Lords 299 Politik und Poetologie: »Müssen Traktate gehalten werden, oder ist es genug, daß man sie macht?« 308 Die »Insel der Vereinigung«: Politische Metaphorologie zwischen Absolutismus und Aufklärung 321 7.4.1 Staat als Maschine 322 7.4.2 Macht als Geheimnis 332 »Thiermenschen« und »Gottmenschen«: Der Traum der Geschichtsphilosophie 338 Titart: Der Staatsroman und die Gegenwart als politischer Handlungsraum Titan und das Gattungsmaterial des Staatsromans Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Aporien der Gegenwart Zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Albanos Romreise Der Staatsroman als Roman der Gegenwart — zum Revolutionsmotiv im Titan »Thaten - diese entfernten Sterne der Nacht«: Staatsroman, Bildungsroman und politische Tat Entscheidung aus dem Nichts? - Staatsroman und politische Romantik
347 353 359 365 369 376 381
9. Zusammenfassung
399
Quellen- und Literaturverzeichnis
407
Personenregister
427
Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form Th. W.Adorno
1. Einleitung: Staatsroman und Gattungswandel
Als geschichtliche und thematische Umrahmung dieser Studie zur deutschen Romangeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts können Darstellungen aus zwei dichtungstheoretischen Klassikern dienen. In der vierten vermehrten und bis heute nachgedruckten Auflage von Johann Christoph Gottscheds einer
critischen
Dichtkunst
Versuch
von 1 7 5 1 finden sich die folgenden Beschreibungen
der Gattung des »Staatsromans«: Unter die erhabenen [Fabeln] gehören die Heldengedichte, Tragödien und Staatsromane: darinnen fast lauter Götter und Helden, oder königliche und fürstliche Personen vorkommen, deren Begebenheiten in einer edlen Schreibart entweder erzählet oder gespielet werden. 1 Endlich folgt die epische Fabel, die sich für alle Heldengedichte und Staatsromane schicket. Diese ist das vortrefflichste, was die ganze Poesie zu Stande bringen kann, wenn sie nur auf gehörige Art eingerichtet ist. 2 Etwa ein halbes Jahrhundert später gibt Johann Adam Bergk in seiner 1 7 9 9 erschienenen rezeptionsästhetischen Anleitung Die Kunst,
Bücher
zu lesen
die fol-
gende Darstellung des »historisch-politischen« Romans: Man läßt einen Helden auftreten, der irgend eine Rolle bei einer großen Weltbegebenheit gespielt hat, und legt ihm seine eigenen politischen Meinungen in den Mund: denn da es in der Politik keine mittlere Meinung giebt, weil jede entweder aristokratisch oder demokratisch ist, so frönt der Held allemal einer gewissen Partei. 3 Politische Stoffe sind daher gar nicht tauglich zur Bearbeitung von schönen Kunstwerken, weil sie kein uneigennüzziges Wohlgefallen zu erregen im Stande sind. [ . . . ] . Politische Romane sind eine Ausgeburt des Parteiengeistes, und keine Produkte des Genies. Sie sind daher weder originell, noch geistvoll, noch lieblich, sondern dem Parteihasse fröhnend, stürmisch, leidenschaftlich, und oft auch gedankenleer. 4
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Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Unveränderter photomechanischer Nachdruck der 4., vermehrten Auflage [1751], Darmstadt 1962, S. 154. Ebd., S. 165. Johann Adam Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller, Jena 1799, S. 257. Ebd.
Einleitung
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Am Anfang des hier zu behandelnden Zeitabschnittes stuft Gottsched den »Staatsroman« noch unter die Heldengedichte und Tragödien ein, die mit einer »erhabenen« Fabel und mit einem vom antiken Epos übernommenen Personal aus »Göttern und Helden« ausgestattet sind und einen Platz an der Spitze der Gattungshierarchie inne haben. Am Ende der Periode hat dagegen der »historischpolitische Roman« sowohl seine Erhabenheit als auch seine Spitzenposition in der zeitgenössischen Gattungshierarchie eingebüßt und ist zu einem reinen Ausdruck des »Parteigeistes« und »Parteihasses« degeneriert, der laut Bergk weder die ästhetischen noch die politischen Ansprüche an eine empfehlenswerte Literatur erfüllt. Zu fragen bleibt - und die Klärung dieser Frage ist ein Anliegen dieser Arbeit: Wie können wir den gattungsgeschichtlichen Wandlungsprozess verstehen, den die Gattung des historisch-politischen Staatsromans in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchgemacht hat und der diesen beiden konträren Urteilen Gottscheds und Bergks zugrunde liegt? Ziel der Arbeit ist, einen Prozess des Gattungswandels oder, weniger teleologisch formuliert, eine Reihe von Gattungstransformationen zu untersuchen. 5 Im Zentrum der Untersuchung wird die literatur- und gattungsgeschichtliche Interpretation von fünf Werken stehen, die in diesem Zeitraum entstanden sind. Durch diese Werkinterpretationen kann selbstverständlich kein vollständiges Bild des durch die Definitionsbestrebungen Gottscheds und Bergks abgesteckten Zeitraums in der Gattungsgeschichte des Staatsromans gegeben werden. In allen diesen Werken finden allerdings Transformationen im Gattungsmuster des Staatsromans statt, die einen möglichen Weg oder Verlauf dieses gattungsgeschichtlichen Prozesses darstellen.
1.1 Der Staatsroman im Wandel der Zeit Die fünf in dieser Arbeit zu besprechenden Romane, Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon (1766) und Der Goldne Spiegel (1772) sowie Jean Pauls Die Unsichtbare Loge (1793), Hesperus (1795) und Titan (1800-1803), sind keine heroisch-höfischen »Staatsromane« im Sinne Gottscheds, aber auch keine aus dem post-revolutionären Kampfgeist heraus verfassten »historisch-politischen Romane« im Sinne Bergks.6 Die von Gottsched und Bergk geprägten Gattungsbe-
Ich übernehme dabei eine Einsicht Michel Foucaults, man müsse in der Erforschung der modernen Geschichte den indifferenzierten Hinweis auf Wandel [changemeni\ durch die Analyse von Transformationen [transformations] ersetzen. Vgl. Michel Foucault: L'archcologie du savoir, Paris 1969, S. 224. In seinen Charakteristiken beider Autoren geht Bergk kaum auf die gattungsgeschichtlichen Merkmale ihrer Romane ein. Uber Wieland lautet das Urteil: »Sein Geist scheint mehr fur das Schöne, als für das Erhabene geschaffen zu sein. Schöne Stellen stoßen uns in allen seinen Schriften auf, selten aber solche, die das Gefühl des Erhabenen in
Der Staatsroman im Wandel der Zeit
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Zeichnungen sind eher als Meilensteine zu betrachten, die sowohl chronologisch als auch thematisch ein literarisch-politisches Feld abstecken, das als möglicher Kontext für die Romane Wielands und Jean Pauls angesehen werden kann. Die Entstehung dieser Romane umfasst den Zeitraum von 1 7 6 0 bis 1 8 0 3 . In dieser Periode deutscher und europäischer Geschichte erkennt man heute eine Umbruchszeit oder - mit Reinhart Koselleck — eine »Sattelzeit«, in der »sich die Herkunft zu unserer Präsenz wandelt«. 7 Zwischen 1 7 5 0 und 1 8 5 0 schwanden die »aristotelischen Bedeutungsgehalte, die noch auf eine naturale, wiederholbare und insofern statische Geschichtszeit verwiesen«. 8 Alte überlieferte Klassifikationen und Klassifikationssysteme - sei es in der Literatur, sei es in der Politik — gerieten in Bewegung, vorangetrieben durch ein neues Geschichtsdenken, welches gegen die Zukunft prinzipiell offen war. »Alte Worte, etwa Demokratie, Freiheit, Staat«, heißt es bei Koselleck weiter, aber auch alte, in der Tradition überlieferte literarische Gattungen, könnten wir hinzufugen, »bezeichnen seit rund 1 7 7 0 einen neuen Zukunftshorizont [...]; überkommene Topoi gewinnen Erwartungsgehalte, die ihnen früher nicht innewohnten«. 9 Es tauchen in steigendem Maße in den Begriffen sowie in den Gattungen »Bewegungskriterien« auf. 1 0 Sowohl in der Geschichte als auch in den Texten finden Prozesse, Transformationen statt,
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unserem Gemüthe anregen. Seine Gedanken sind Begriffe, und keine Ideen: er ergötzt daher und gefällt uns, aber er erhebt und rührt uns nicht: er belehrt unsern Verstand, aber er erschüttert nicht unser Herz.« Von Jean Paul ist er noch weniger angetan. Dieser Autor sei laut Bergk »ein Mann von großen Geistesgaben, aber ohne Geschmack. [...] Richter hat mehr Leser als solche, die ihn verstehen: denn seine Gedanken sind oft dunkel und zerfleischt, und seine Romane sind ein buntes Allerlei, das mit Phrasen und Kunstwörtern aus allen Wissenschaften und Künsten zugerichtet ist. Man kann seine Schriften mit einem schönen neuen Sammtkleide vergleichen, das hier und da mit alten buntschäckigen Lumpen überhangen ist.« Siehe Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen, S. 272, S. 278. Reinhart Koselleck: »Einleitung«, in Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Herausgegeben von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck. Band 1, Stuttgart 1972, S. XV. Ursprünglich in heuristischer Absicht konzipiert ist der »Sattelzeit«-Begriff zu einem Gemeinplatz der Geschichtswissenschaft geworden. Selbst hat Koselleck seine Neuprägung allerdings in anderen Aufsätzen relativiert und in Frage gestellt. Ebenfalls hat er den Vorschlag gemacht, dass »Schwellenzeit« möglicherweise eine bessere Bezeichnung wäre. Vgl. dazu ζ. B. Koselleck: »Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit«, in ders./Reinhart Herzog (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. Poetik und Hermeneutik XII, München 1987, S. 273; und ders.: »A Response to Comments on the Geschichtliche Grundbegriffe«, in Hartmut Lehmann/Melvin Richter: The Meaning of Historical Terms and Concepts. New Studies on Begriffsgeschichte, Washington, D.C. 1996, S. 69. Koselleck: »Uber die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft«, in ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main 2000, S. 303. Ebd. Ebd.
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Einleitung
die diesen Übergang in die »Neuzeit«, um einen anderen Begriff Kosellecks zu verwenden, veranschaulichen. 11 Diese Prozesse, diese Transformationen werden hier anhand einiger der wichtigsten Romanwerke der Periode untersucht. Als richtungweisend für die Geschichte des Romans im 18. Jahrhundert erweist sich dabei die folgende Beobachtung Barbara Potthasts, die sich zwar insbesondere auf die Geschichte des »inferioren« deutschen Roman zwischen 1750 und 1770 bezieht, die aber ebenso für die durchaus >superioren< — im Sinne von kanonischen - Romane Wielands und Jean Pauls Gültigkeit beanspruchen kann: In seiner Unabhängigkeit von antiken Gesetzen war er [der Roman] im permanenten Wandel begriffen und kann daher als sich selbst konstituierende Gattung beschrieben werden. Gattungen sind, und dies wird seit der Überwindung des alten ontologischen Textbegriffes in den siebziger Jahren nicht mehr bestritten, keine »Naturformen der Dichtung« im Sinne Emil Staigers, sondern labile Konventionen, die sich in einer historisch spezifischen Kommunikationssituation zwischen Autor und Rezipient prozeßhaft herausbilden. Sie sind permanent unstabil und in Umstrukturierungsprozessen begriffen. Gattungsbildung und -wandel findet statt in der komplementären Spannung zwischen Gattungserwartung und Werkantwort und sind Indizien ftir ideen-, bewußtseins- und sozialgeschichtliche Prozesse.12
In der Nachfolge dieser Feststellung Potthasts versteht sich die vorliegende Arbeit durchaus als ein Beitrag zur Gattungsgeschichte des deutschen Romans im 18. Jahrhundert. Im Zentrum der Studie steht die Gattung des Staatsromans, die im Gattungssystem des Barock ihren festen Platz hatte. Die Vertreter dieser Gattung, vor allem in der französischen und englischen Romanliteratur, verstanden ihre Werke - unter anderem die Amadis-Romane in der Nachfolge Des Essarts', Barclays Argenis (1626/31) und den für die deutsche Romangeschichte besonders wichtigen Telemaque Fenelons (1699) — in der Tradition der antiken Heldenepen. 1 3 Diese Einordnung des Staatsromans lebt bei Gottsched weiter. Gerade um 1750 - zu Beginn des hier zu beschreibenden Zeitabschnittes - erlebt der barocke Staatsroman, so Giles R. Hoyt, eine »Renaissance«, die als eine »Wiederbelebung barocker Romangestaltung« verstanden werden kann und zu einer Reaktualisierung der Gattung des Staatsromans bei den deutschen Autoren der Aufklärungsepoche fuhrt. 1 4 Es ist diese wieder belebte und reaktualisierte Gattung des Staatsromans, die für die Romane Wielands und Jean Pauls Gültigkeit beansprucht. Zugleich gerät aber der Staatsroman in den Strudel des in der
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Zum Begriff der »Neuzeit« vgl. ζ. B. Koselleck: »>Neuzeitinferioren< deutschen Roman zwischen 1750 und 1770, Hamburg 1997, S. 61. Vgl. ζ. B. Marian Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock, Stuttgart 1979, S. 369387. Giles R. Hoyt: »Rezeption des Barockromans in der frühen Aufklärung«, in Klaus Garber (Hg.): Europäische Barock-Rezeption. Teil I, Wiesbaden 1991, S. 358.
Der Staatsroman im Wandel der Zeit
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Entstehung begriffenen modernen Romans, in dem ganz andere und neue poetologische und politische Herausforderungen zur Sprache kommen. Aus diesem Konflikt zwischen traditionellen veralteten Gattungskonventionen und neuen, in die Zukunft gerichteten Gattungsintentionen entsteht eine Dynamik, die in der vorliegenden Arbeit anhand konkreter Texte nachgezeichnet wird. Die Gattung des Staatsromans führt seit Jahrzehnten eine Existenz am Rande des literatur- und gattungsgeschichtlichen Kanons des 18. Jahrhunderts. Ohne Ausnahme sind die gesamten hier zu untersuchenden Romane Wielands und Jean Pauls in einschlägigen Forschungsbeiträgen als »Staatsromane« bezeichnet worden, wobei dem Gattungsbegriff in der Interpretation der Werke - Wielands Goldnen Spiegel ausgenommen - jedoch so gut wie keine Bedeutung beigemessen wird. Aus diesem Desiderat bezieht diese Arbeit ihren wissenschaftstheoretischen Ansatzpunkt. Dabei ist keine Umbenennung dieser Romane als »Staatsromane«, als Ersatz für andere gängigere Etiketten wie »Individualromane«, »pragmatische Romane«, »anthropologische Romane« »Entwicklungsromane«, »Bildungsromane«, »sentimentale Romane«, »humoristische Romane« oder »enzyklopädische Romane« — um nur einige alternative Gattungsbezeichnungen zu nennen - beabsichtigt. Zu untersuchen ist nicht, ob oder inwiefern diese Werke in die Gattung des Staatsromans einzuordnen oder zu klassifizieren wären, sondern vielmehr, wie die Gattung des Staatsromans, oder richtiger, wie die darunter verstandenen Gattungsmuster oder Gattungskonventionen, in diesen Werken zur Geltung kommen. Als Gattungskonventionen wird zunächst auf eine Reihe thematischer Elemente Bezug genommen, die fortan als »Topoi« - im Sinne von literarischen Gemeinplätzen 15 - bezeichnet werden und zu denen vor allem der >verborgene
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Der Terminus »Topos« soll in der vorliegenden Arbeit in einem allgemein literaturgeschichtlichen, nicht in einem spezifisch rhetorischen Sinne verwendet werden. Einschlägig ist dabei die Definition Frank M. Chambers' in The New Princeton Encyclo-
peadia of Poetry and Poetics von 1993: »A conventionalized expression or passage in a text which comes to be used as a resource for the composition of subsequent texts« (S. 1294). Für diese Literarisierung des Toposbegriffs hat vor allem Ernst R. Curtius Pate gestanden, der in seinem klassischen Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von 1 9 4 8 den Toposfundus der alteuropäischen Geistesgeschichte zwischen römischer Antike und Moderne erforscht hat. Nachdem die antike Rhetorik »ihren ursprünglichen Sinn und Daseinzweck« verloren hat und dafür »in alle Literaturgattungen« eingedrungen ist, »gewinnen auch die topoi eine neue Funktion«. Sie werden, so weiterhin Curtius, »Klischees, die literarisch allgemein verwendbar sind, sie breiten sich über alle Gebiete des literarisch erfassten und geformten Lebens aus«. Neben der engen Verbindung zwischen Topos und literarischer Gattung übernehme ich von Curtius vor allem den Ansatz zu einer »historischen Topik«, die sich nicht zuletzt für die Topoi als Brennpunkte literatur- und gattungsgeschichtlichen Wandels interessiert - wobei ich jedoch im weit höherem Grade als Curtius das Element der Diskontinuität und der Transformation betonen werde. Siehe Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 1 9 6 7 [1948], S. 79f., S. 92.
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Einleitung
Prinzredliche Mann am Hofe«, die >FürstenerziehungHofkritikGeheimbund< und die >Staatsaktion< gehören. In den gesamten hier besprochenen Romanen tragen diese Topoi, wie in der Forschung verschiedentlich nachgewiesen, zum Aufbau der Handlung bei. Uber diese Topoi nehmen daher die Romane Wielands und Jean Pauls auf die Gattungstradition des Staatsromans Bezug. Zu den Gattungskonventionen des Staatromans gehört aber auch, wie in der Wortzusammensetzung des Gattungsbegriffes vorweggenommen, ein besonderer, näher zu bestimmender Bezug auf den Bereich der Politik oder des Politischen. In der Frage nach der Funktion und Rolle des Gattungsmusters des Staatsromans in den Werken Wielands und Jean Pauls ist daher die weit häufiger gestellte Frage eingeschlossen, in welchem Sinne diese Werke als »politische Romane« verstanden werden können. Während aber die Vorstellung vom »politischen Roman« ein Verhältnis zwischen der Literatur und etwas ihr Äußerlichem und Fremdem, dem Bereich der Politik, vorauszuschicken scheint, findet der Gattungsbegriff »Staatsroman« dieses Verhältnis im Kern des Literarischen, in der Gattungsfrage wieder. 16 In der Gattung des Staatsromans, so die weitere These dieser Arbeit, verknüpfen sich politische und poetologische Themen und Fragestellungen, die in den Romanen narrativ und diskursiv zur Entfaltung kommen. Mit dem oben angesprochenen Gattungssystem der Barockliteratur korrespondiert im Bereich der Politik das Herrschaftssystem des Absolutismus, in dem der Souverän an der Spitze einer statischen sozialen und politischen Hierarchie thronte, von der aus er mehr oder weniger uneingeschränkt seine Macht ausübte. Zentrum allen politischen Tuns war daher der absolutistische Hof, zu dem nur Personen adliger Herkunft Zugang fanden. Politik war mit anderen Worten dem Adel und letztendlich dem Fürsten vorbehalten. Der Aufbruch aus dem Herrschaftssystem des Absolutismus erfolgte im 18. Jahrhundert sozialgeschichtlich durch die Emanzipation des Bürgertums, geistesgeschichtlich durch die Freiheitsansprüche des sich von seiner Verankerung in der absolutistischen Staatsphilosophie frei machenden, von Philosophen und Dichtern als Vehikel der Gesellschaftskritik aktualisierten Naturrechtsdenkens. Zusammen machen diese beiden Bewegungen den politischen Inhalt des Epochenbegriffes »Aufklärung«
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Interessant in diesem Zusammenhang ist der Aufsatz Hildegard Emmels, der zwar im »politischen Konzept« ein »strukturbildendes Element der Romanfiktion« erkennen will, aber trotzdem an der Dichotomie zwischen Politik und Literatur haften bleibt. Am Anfang des Aufsatzes wird daher die Frage gestellt, ob man »in der deutschen Romanliteratur des 18. Jahrhunderts« Uberhaupt ein Werk finden kann, »dessen Gesamtstruktur von einem politischen Konzept bestimmt ist«, das sie später sogar als ein »handfeste[s] politische[s] Konzept« qualifiziert. In der Meinung der Autorin gibt es nur »einen einzigen«, nämlich von Loens Der redliche Mann am Hofe. Siehe Emmel: »Politisches Konzept als strukturbildendes Element der Romanfiktion. Von Loen und der Roman des 18. Jahrhunderts«, in Wolfgang Paulsen (Hg.): Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen, München 1977, S. 147.
Der Staatsroman im Wandel der Zeit
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aus. 17 Um zu einem historischen Gattungsbegriff »Staatsroman« zu gelangen, genügt es mit anderen Worten nicht, die darin implizierten Topoi aufzulisten, sondern die Gattung muss ebenfalls in Beziehung zum politischen Prozess der Aufklärung gesetzt werden. Sowohl diese jeweiligen Prozesse, die Emanzipation des Bürgertums und die Entstehung des modernen Romans, als auch ihre im 18. Jahrhundert stattfindende Konvergenz gehören zweifellos zu den meisterforschten Themen der deutschen Sozial- und Literaturgeschichte. Die vorliegende Arbeit will diese Forschungstradition weiterfuhren, wobei sie gezielt und oft etwas eigenwillig den Gattungsbegriff »Staatsromas« einsetzt, um diese konvergierenden Prozesse zu beschreiben und einige für sie als repräsentativ geltende Werke verständlich machen zu können. Den historischen Gattungsbegriff »Staatsroman« gab es schon im 18. Jahrhundert, belegt u. a. durch die oben zitierte Stelle bei Gottsched. In den literaturtheoretischen und poetologischen Schriften der Epoche fand er allerdings keine breite Verwendung. Als wissenschaftsgeschichtlicher Terminus geht »Staatsroman«, wie unten näher zu erörtern ist, auf einen 1845 veröffentlichten Aufsatz des Staatswissenschaftlers Robert von Mohl zurück, der darunter die literarische Form der politischen oder gar staatswissenschaftlichen Utopie versteht. 18 Ein eigenständiger, gattungsgeschichtlich begründeter Begriff des »aufgeklärten Staatsromans«, so wie er hier verwendet wird, steht der Forschung allerdings erst seit dem wegweisenden Aufsatz Hans-Jürgen Schings' zur Verfügung, in dem sowohl Wielands Agathon und Goldner Spiegel als auch Jean Pauls Titan Erwähnung finden und der wegen ihrer summarischen, aber auch sehr auf gattungsgeschichtliche Präzision bedachten Form den wichtigsten Ansatz für diese Arbeit bildet. 19 Aber auch nach dem bei Schings formulierten Neuanfang
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Zu »Aufklärung« als Epochenbegriff und ihren politischen Grundlagen in Deutschland vgl. ζ. B. Peter Pütz: Die deutsche Aufklärung. 4. überarb. und erw. Auflage, Darmstadt 1991, bes. S. 9 - 4 6 u n d S. 133-164; und Horst Stuke: Art. »Aufklärung«, in Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 2 4 4 - 2 4 7 . Robert von Mohl: »Die Staats-Romane. Ein Beitrag zur Literatur-Geschichte der Staatswissenschaften«, in Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 2/1845, Tübingen, S. 24-74. In seinem Ubersichtsartikel zu deutschen Staatsromanen und Fürstenspiegeln im 18. Jahrhunderts warnt H e l m u t J. Schneider davor, den wissenschaftsgeschichtlichen Begriff »Staatsroman« mit dem historischen zu verschränken. Er behauptet, beide Begriffe hätten miteinander »zunächst nichts zu tun«. Auch nach meiner Auffassung wäre die Annahme, es gehe schlechthin u m denselben Begriff, zurückzuweisen; die Anknüpfungspunkte sind allerdings - wie später in der vorliegenden Arbeit zu zeigen ist - zahlreich. Siehe H e l m u t J. Schneider: »Staatsroman und Fürstenspiegel«, in: Ralph-Rainer Wuthenow (Hg.): Zwischen Absolutismus und Aufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. 1 7 4 0 - 1 7 8 6 (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Herausgegeben von Horst Albert Glaser. Band 4), Reinbek bei Hamburg 1986, S. 171. Hans-Jürgen Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«, in H e l m u t Koopmann (Hg.): Handbuch des deutschen Romans, Düsseldorf 1983, S. 151-169.
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Einleitung
der Erforschung des aufgeklärten Staatsromans hat sich der Begriff in der Forschung nicht durchsetzen können. Die Gattungsgeschichte des Staatsromans im 18. Jahrhundert stellt daher ein ziemlich brach liegendes Terrain dar. Außer der Monographie Dietrich Naumanns 2 0 und den kursorischen literaturgeschichtlichen Darlegungen Helmut J. Schneiders und Götz Müllers 2 1 liegen nur einige vor dem Aufsatz Schings' entstandene Einzelstudien zu Romanen von Wieland, Albrecht von Haller, Johann Michael von Loen und Johann Gottfried Schnabel vor. 2 2 Für die nur zögernde Rezeption des »Staatsroman«-Begriffes in der Forschung gibt es indessen mehrere Gründe, die auch die wichtigsten Herausforderungen oder Probleme der vorliegenden Arbeit darstellen.
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Vgl. Dietrich Naumann: Politik und Moral. Studien zur Utopie der deutschen Aufklärung, Heidelberg 1977. Für Naumanns Monographie sowie fur viele der unten genannten Einzelstudien gilt, dass der Staatsroman als eine Variante des utopischen Romans betrachtet wird, was oft zur Verkennung der Eigenart der Gattung führt. Vgl. Schneider: »Staatsroman und Fürstenspiegel«; und Götz Müller: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur, Stuttgart 1989, S. 95-113 (»Staatsromane der Aufklärung«). Zu Wieland vgl. Peter Uwe Hohendahl: »Zum Erzählproblem des utopischen Romans im 18. Jahrhundert«, in Helmut Kreuzer (Hg.): Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaftliche Studien. In Zusammenarbeit mit Käthe Hamburger, Stuttgart 1969, S. 79-114; Herbert Jaumann: »Nachwort«, in C. M. Wieland: Der goldne Spiegel und andere politische Dichtungen. Anmerkungen und Nachwort von Herbert Jaumann, München 1979, S. 859-889; Jürgen Fohrmann: »Utopie, Reflexion, Erzählung: Wielands Goldner Spiegel«, in Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 3, Frankfurt am Main 1985 [1982], S. 24-49. Zu Haller: Dietrich Naumann: »Zwischen Reform und Bewahrung. Zum historischen Standort der Staatsromane Albrecht von Hallers«, in: Hans Joachim Piechotta (Hg.): Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung, Frankfurt am Main 1976, S. 222-282; Florian Gelzer/Daniela Lüthi/Wolfgang Proß (Hg.): Die Staatsromane Albrecht von Hallers. Internetpublikation http://germanistik. unibe.gh/gelzer/haller_staatsromane.htm. Zu von Loen: Karl Reichert: »Nachwort«, in Johann Michael von Loen: Der redliche Mann am Hofe. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1742. Mit einem Nachwort von Karl Reichert, Stuttgart 1966, S. 3-16; Hildegard Emmel: »Politisches Konzept als strukturbildendes Konzept der Romanfiktion. Von Loen und der Roman des 18. Jahrhunderts«, S. 147-157; Wilhelm Voßkamp: »Die Macht der Tugend - zur Poetik des utopischen Romans von Schnabels Insel Felsenburg und von Loens Der redliche Mann am Hofe«, in Theodor Verweyen (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, Tübingen 1995, S. 176-186. Zu Schnabel: Wilhelm Voßkamp: »>Ein irdisches Paradiese Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg«, in Klaus L. Berghahn/Hans Ulrich Seeber (Hg.): Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart, Königstein/Ts. 1983, S. 95-104; Richard Saage: »Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg - ein Klassiker des Utopie-Diskurses im Zeitalter der Aufklärung?«; Florian Geizer: »Don Felix und Die Insel Felsenburg. Überlegungen zum deutschsprachigen Roman um die Mitte des 18. Jahrhunderts«, in Günther Dammann/Dirk Sangmeister (Hg.): Das Werk Johann Gottfried Schnabels und die Romane und Diskurse des frühen 18. Jahrhunderts, Tübingen 2004, S. 179188 und S. 237-256.
Vier Fragestellungen zur Tragfähigkeit des Gattungsbegriffes
»Staatsroman«
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1.2 Vier Fragestellungen zur Tragfähigkeit des Gattungsbegriffes »Staatsroman« Aus der beschriebenen Forschungslage folgt, dass die Tragfähigkeit des Gattungsbegriffes »Staatsroman« ftir den deutschen Roman des 18. Jahrhunderts im allgemeinen und für die Romane Wielands und Jean Pauls im besonderen nicht einfach vorausgesetzt oder als erwiesen betrachtet werden kann. Im Gegenteil muss es notwendigerweise zu den Forschungszielen der vorliegenden, der Gattung des Staatsroman gewidmeten Studie gehören, die Tragfähigkeit dieses Gattungsbegriffes - ob der Begriff »Staatsroman« in der Erforschung des deutschen Romans der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Erkenntnisgewinn bringen kann - nachzuweisen. Diese übergreifende Frage wird durch vier weitere Fragestellungen konkretisiert, die weitgehend mit den Gründen der auffälligen Abwesenheit dieses Gattungsbegriffes in der Forschung zusammenfallen: 1. Zum einen muss die Tragfähigkeit des Staatsromanbegriffes aus der aktuellen Lage der allgemeinen Gattungstheorie heraus erörtert werden. Sicherlich kann der schon 1973 von Karl W. Hempfer diagnostizierte »desolate Zustand« 23 der Gattungstheorie an sich als ein Grund fiir die lange ausgebliebenen Neuerungen im Bereich der Gattungsgeschichte angesehen werden. Die Konzeption der »Gattung« als solche und damit die Existenz historischer Gattungen überhaupt bleiben umstritten, wie die beiden Einträge zu »Gattung« und »Gattungstheo-
rie« in der letzten Ausgabe des Reallexikons der deutschen
Literaturwissenschaft
bezeugen. 24
von 1997 mit aller Deutlichkeit In dem Moment, wo die Gattungen als solche zum Gegenstand der Reflexion gemacht werden, zum »Diskursthema, nicht mehr Diskurselement«, wie es neuerdings Stefan Trappen formuliert hat, 25 kommen Probleme zum Vorschein, die im Rahmen einer literarhistorischen Darstellung kaum mehr sinnvoll aufgegriffen werden können, ohne dass sich dadurch die Darstellung von der philologisch-literaturgeschichtlichen Praxis abzukapseln scheint.
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Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese, München 1973, S. 15. Hempfer: Art. »Gattung«, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Herausgegeben von Klaus Weimar gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller. Band I, Berlin/New York 1997, S. 6 5 1 - 6 5 5 ; und Dieter Lamping: Art. »Gattungstheorie«, in ebd., S. 6 5 8 - 6 6 1 . Stefan Trappen: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Beiheft zum Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Heft 40. Herausgegeben von Wolfgang Adam, Heidelberg 1998, S. 2.
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Einleitung
Der Ansatz dieser Arbeit muss daher ein anderer sein. Dass es Gattungen gibt, wird als ein Faktum der Literaturgeschichte zur Kenntnis genommen. 2 6 Oder, um es mit Trappen zu formulieren: »Die Sache, so möchte man sagen, funktioniert — nur wissen wir nicht wie und warum.« 2 7 Der Gattungsbegriff wird in der vorliegenden Studie daher den hermeneutischen und wirkungsgeschichtlichen Charakter einer Fragestellung haben. Das gilt auch und vor allem für die Gattung des Staatsromans. Auf die Frage nach der Existenz dieser Gattung kann die Antwort nur in Form einer einfachen Feststellung erfolgen: Ja, es gibt den Staatsroman als einen »zweckhaft einsetzbar[en]« 28 Gattungsbegriff innerhalb der Wirkungs- sowie der Forschungsgeschichte einiger Werke der deutschen Literatur. In Anknüpfung daran wird ermittelt, in welcher Weise die im Gattungsbegriff »Staatsroman« vorhandene, das Verhältnis zwischen Literatur und Politik aufgreifende Fragestellung für die Literatur des 18. Jahrhunderts, vor allem ftir die Werke Wielands und Jean Pauls, von Relevanz ist. Den wichtigsten Ansatz zu einer theoretisch fundierten, dezidiert gattungsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit den Romangattungen des 18. Jahrhunderts bieten weiterhin die zahlreichen Arbeiten Wilhelm Voßkamps, die neben dem oben genannten Artikel Sellings' den unmittelbaren forschungsgeschichtlichen Kontext dieser Arbeit ausmachen. 29 Auf den seinen Studien zugrunde liegenden
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Vgl. dazu die Feststellung Michal Glowmskis in seinem Aufsatz »Die literarische Gattung und die Probleme der historischen Poetik«: »Für die zeitgenössischen Forscher existieren Gattungen genauso wie sie für die früheren Theoretiker und Verfechter des Klassizismus existiert hatten [...].« In Aleksandar Flaker/Viktor Zmegai (Hg.): Formalismus, Strukturalismus und Geschichte. Zur Literaturtheorie und Methodologie in der Sowjetunion, CSSR, Polen und Jugoslawien, Kronberg/Ts. 1974, S. 155. Trappen: Gattungspoetik, S. 2. Dieselbe Einsicht findet sich bei Werner Krauss, in seinem Aufsatz über »Die literarischen Gattungen«: »Die literarischen Gattungen existieren. Was besagt uns aber diese Existenz, wenn sie uns nicht ein Wesensmerkmal des literarischen Phänomens enthüllt?«. In Krauss: Essays zur französischen Literatur, Berlin/Weimar 1968, S. 5. Trappen, ebd. Aus dem sehr umfangreichen wissenschaftlichen Werk Wilhelm Voßkamps können an dieser Stelle nur die Arbeiten genannt werden, die für die Fragestellungen der vorliegenden Studie von Belang sind, entweder historisch oder theoretisch. Für die Mehrheit der Arbeiten gilt allerdings, dass ihre gattungsgeschichtliche Arbeitsweise beide Perspektiven zu kombinieren bestrebt ist: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie«, in Walter Hinck (Hg): Textsortenlehre - Gattungsgeschichte, Heidelberg 1977, S. 27—44-, »Probleme und Aufgaben einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts«, in Bernhard Fabian/Wilhelm SchmidtBiggemann (Hg.): Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche. Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Band 1, Nendeln 1978, 53-69; »Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre« in: ders. (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Band 3, Frankfurt am Main 1985 [1982], S. 227-249; »Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte der Literatur (am Beispiel der frühneuzeitlichen Utopie), in Thomas Cramer
Vier Fragestellungen zur Tragfähigkeit des Gattungsbegriffes
»Staatsroman«
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Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis der Gattungsgeschichte macht Voßkamp in der folgenden Feststellung aufmerksam, die auch für diese Arbeit Gültigkeit hat: »Gerade die Entstehung neuer Gattungen im 18. Jahrhundert, ζ. B. des bürgerlichen Romans oder des bürgerlichen Trauerspiels, macht den Prozess des Auskristallisierens und Stabilisierens literarischer Formen und damit den literarisch-sozialen Institutionencharakter von Gattungen deutlich.« 3 0 Zur logischen Funktion des Begriffes der »Gattung« gehört notwendigerweise ein Abstraktionsverfahren, das eine Gruppe individueller Texte durch einen Allgemeinbegriff — sei es »Roman«, »Ode« oder »Trauerspiel« — ersetzt. Als literaturwissenschaftliche Objekte werden diese literarischen »Universalien« 31 aus dem Strom der Geschichte herausgeholt und in eine theoretische Systematik strukturaler Differenzrelationen hineinversetzt, in klassifikatorischer und oft in normativer Hinsicht. Aus diesem Gattungsverständnis folgt, dass G a t t u n g s g e s c h i c k t e bestenfalls als paradox, schlimmstenfalls als theoretisch unberechtigt erscheinen muss. Angenommen wird dabei, man könne tatsächlich die Geschichte eines Allgemeinen, eines Universellen schreiben. Für die Gattungsgeschichte, so Voßkamp, empfiehlt sich im Gegenteil ein »>historischer< (nicht ein systematischen) Gattungsbegriff, der die Geschichtlichkeit literarischer Gattungen ernst nimmt und sie als historisch bedingte Kommunikations- und Vermittlungsformen, d.i. als soziokulturelle Phänomene interpretiert und beschreibt«. 32 Die Geschichtlichkeit der Gattungen sind bei Voßkamp also logisch an ihre kommunikativ-semio-
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(Hg.): Literatur und Sprache im historischen Prozeß. Vortrage des Deutschen Germanistentages Aachen 1982. Band 1: Literatur, Tübingen 1983, S. 32-50; »>Ein irdisches Paradiese Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg«, in Klaus L. Berghahn/ Hans Ulrich Seeber (Hg.): Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart, Königstein/Ts. 1983, S. 9 5 - 1 0 4 ; »Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution. Begriffs- und funktionsgeschichtliche Überlegungen zum deutschen Bildungsroman am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts«, in Christian Wageknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986, Stuttgart 1989, S. 3 3 7 352; »Utopie als Antwort auf Geschichte. Zur Typologie literarischer Utopien in der Neuzeit«, in Hartmut Eggert/Ulrich Profitlich/Klaus R. Scherpe (Hg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart 1990, S. 273-283; »Die Macht der Tugend - zur Poetik des utopischen Romans von Schnabels Insel Felsenburg und von Loens Der redliche Mann am Hofe«, in Theodor Verweyen (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, Tübingen 1995, S. 176-186; Art. »Gattungsgeschichte«, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band I, Berlin/New York 1997, S. 655-658. Hervorzuheben ist letztendlich das von Voßkamp herausgegebene, dreibändige Werk Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie (Frankfurt am Main, 1985 [1982]), das für die vorliegende Arbeit von unüberschätzbarem Wert ist. Voßkamp: »Probleme und Aufgaben einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte«, S. 59. Hempfer: Gattungstheorie, S. 30ff. Voßkamp: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«, S. 27.
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Einleitung
tische Funktion gebunden. Gattungen sind als Rahmen der Kommunikation, als Traditionen oder Konventionen zu verstehen, die es erst möglich machen, einen literarischen Text als eine bestimmte Art sprachlicher Kommunikation aufzufassen. Wenn sich der Gattungsbegriff »Staatsroman« bewähren kann, dann erst in diesem nicht-normativen, nicht-klassifikatorischen, dezidiert historischen Sinne, als eine Reihe von Konventionen, die im permanenten Wandel begriffen sind, aber doch eine gewisse Dauer und ein Beharrungsvermögen aufweisen. Damit sind wir auf ein Kernproblem der Gattungsgeschichte gestoßen, das sich, um eine Formulierung des Gattungstheoretikers Alastair Fowler zu übernehmen, als die »unauflösbare Polarität von Synchronic und Diachronie« zu Wort meldet. 3 3 Spätestens seit der von Hans Robert Jauß' formulierten »Provokation der Literaturwissenschaft«, in der er die Möglichkeit anvisiert, »durch einen Moment der Entwicklung einen synchronen Schnitt zu legen, die heterogene Vielfalt der gleichzeitigen Werke in äquivalente, gegensätzliche und hierarchische Strukturen zu gliedern und so ein übergreifendes Bezugssystem in der Literatur eines historischen Augenblicks aufzudecken«, 3 4 ist das Verhältnis zwischen Diachronie und Synchronic, zwischen System und Wandel zu einem festen Topos gattungsgeschichtlicher Reflexion geworden. Theoretisch sieht man sich als Gattungshistoriker vor die Wahl gestellt, entweder die Differenzbeziehungen verschiedener Gattungen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt oder auch die Formations- und Transformationsprozesse einzelner Gattungen über einen längeren Zeitraum zu erforschen. Praktisch sieht es jedoch anders aus: Als historisches und literaturhistorisches Faktum hat jede Gattung sowohl synchronische als auch diachronische Aspekte, die mit einander verwoben und verwickelt sind und die folglich kaum unabhängig von einander untersucht werden können. In dieser Kombination diachroner und synchroner Aspekte kann auch ein Merkmal der Gattung des Staatsromans in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erkannt werden. Obwohl das Gattungssystem des Barockromans angesichts der Dynamik moderner Prosaformen in Auflösung geraten ist, entfaltet sich im gattungsgeschichtlichen Umfeld des Staatsromans ein System anderer Gattungen, deren Grenzen zur Gattung des Staatsromans immer neu gezogen werden dabei sei vor allem an Gattungen wie Fürstenspiegel, utopischen Roman und Bildungsroman gedacht. Als Herausforderung der Gattungsgeschichte erkennt Voßkamp die Notwendigkeit, eine Gattung in Relation zu anderen Gattungen zu sehen, um so »die literarhistorische und realgeschichtliche Konstellation genauer anzugeben, um das Verhältnis einer besonderen Gattung etwa zu ande-
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Alastair Fowler: Kinds of Literature. An Introduction to the Theory of Genres and Modes, Oxford 1982, S. 49. Hans Robert Jauß: »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«, in ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt am Main, 1970, S. 194.
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ren literarischen Gattungen und Texten oder zum historisch-sozialen Lebenswelt präzise beschreiben zu können«. 3 5 U m den Stellenwert der einzelnen Gattung im übrigen literarischen und sozialen System feststellen zu können, »handelt es sich vor allem um die Vergegenwärtigung konkurrierender, strukturverwandter oder konträrer Ausprägungen im literarischen Gesamtsystem einer historischen Epoche und Situation«. 3 6 Als Beispiel könnte Voßkamps eigene Analyse der Gattung der Robinsonade herangezogen werden, in der er einerseits von der »selektive[n] und oppositive[n]« Funktion dieser Gattung im literarischen System des 18. Jahrhunderts spricht, andererseits die Relation zwischen Robinsonade und Bildungsroman in der letzten Hälfte des Jahrhunderts als ein Ablöseverhältnis beschreibt. 37 Nach einem ähnlichen Muster verteilen sich die synchronen und diachronen Perspektiven im Gattungsbegriff »Staatsroman«: einerseits stellen Staatsroman, Fürstenspiegel, utopischer Roman und Bildungsroman ein synchrones Gattungssystem oder, weniger rigid, ein »Gattungsensemble« 3 8 dar; andererseits liegt es nahe, sich dem Verhältnis etwa zwischen Fürstenspiegel und Staatsroman oder zwischen Staatsroman und Bildungsroman durch die diachrone Vorstellung eines Gattungswandels zu nähern. In einer Untersuchung des Staatsromans in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts müssen allerdings beide Aspekte zur Kenntnis genommen werden. 2. U m über die Tragfähigkeit des Gattungsbegriffes »Staatsroman« Klarheit zu gewinnen, muss weiterhin die in diesem Begriff beinhaltete, politisch-sozialgeschichtliche Annäherung an die Romanliteratur des 18. Jahrhunderts näher erörtert werden, die - ebenso wie die Konzeption der »Gattung« - in der neueren Forschung auf Skepsis stößt. » U m den Untiefen einer auf soziale Strukturen reduzierten Diskurs- und Funktionsgeschichte der Literatur zu entgehen,« schreibt in diesem Sinne Walter Erhart in seiner epochenmachenden Interpretation von Wielands Agathon, haben sich »[n] euere Untersuchungen zur Literatur der deutschen Aufklärung [...] wieder dem Problem der >Individualität< zugewandt.« 3 9 In der Tat sind in den beiden letzten Jahrzehnten die politischen, im Sinne von sozial- und funktionsgeschichtlichen, Zugriffe zum literarischen Leben der Aufklärung durch andere, auf die subjektphilosophischen und anthropologischen As-
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Voßkamp: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«, S. 29. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32ff. Im Diskussionsprotokoll zu Voßkamps Aufsatz wird festgestellt, dass »die Gattungstheorie [...] auf das Gattungsensemble eingehen müsse, da die einzelnen Gattungen selbst wieder aufeinander bezogen seien und sich in Opposition zueinander bzw. in Korrespondenz miteinander entwickelten.« Siehe ebd., S. 43. Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands »Agathon«-Projekt, Tübingen 1991, S. 13.
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Einleitung:
pekte der Epoche und derer Werke eingerichteten Perspektiven ersetzt worden 4 0 - zum Teil, könnte behauptet werden, mit gutem Grund. Auch wenn wir von den ausgesprochen ideologisch gefärbten Darstellungen absehen, 41 haben sich politische Deutungen der Epoche und ihrer Werke von dem damit verbundenen Hang zur Klassifikation und Etikettierung politischer Positionen oft nicht lossagen können. Die Hauptschwäche dieses Deutungsmusters mag in der Rückprojektion der Erscheinungsformen der Politik im 19. und 20. Jahrhundert auf das 18. Jahrhundert liegen. 42 Anscheinend versuchen wir unaufhörlich unser eigenes Ideal der Politik in der Aufklärung wiederzufinden, bis wir nach wiederholtem Scheitern
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Als Beispiele könnten neben dem Werk Erharts die vielen von einem neu gefassten Interesse für »Anthropologie« als Wissensfeld des 18. Jahrhunderts informierten Studien genannt werden, die eine Reihe bisher unerforschter Themen wie Melancholie, Selbstmord, Traum, Mesmerismus, Sexualität und Neurophysiologie aufgegriffen und für die Literaturgeschichte aktualisiert haben. Vgl. vor allem Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, Weimar 1994. In dieser Wendung zur Menschenkunde könnte einer der wichtigsten Neuansätze zur Erforschung des 18. Jahrhunderts der letzten zwanzig Jahre erkannt werden, der ebenfalls fur die vorliegende Arbeit wichtige Einsichten geliefert hat. Aus der Wieland-Forschung können hier die Studien Bernd Weyergrafs und Karin Stolls genannt werden, die bei Wieland die fehlende »Parteinahme für die Interessen des Volks« bzw. »die Ohnmacht überholter Ideologie« beanstanden. Siehe Weyergraf: Der skeptische Bürger. Wielands Schriften zur Französischen Revolution, Stuttgart 1972, S. XIII; und Stoll: Christoph Martin Wieland. Journalistik und Kritik. Bedingungen und Maßstab politischen und ästhetischen Räsonnements im »Teutschen Merkur« vor der Französichen Revolution, Bonn 1978, S. 178. In der Jean Paul-Forschung ragt die Studie Harichs zu Jean Pauls Revolutionsdichtung heraus, die aber trotz der Tendenz zur ideologischen Verzeichnung ebenfalls eine Reihe interessanter und origineller Einsichten enthält, auf die ich später zurückkommen werde. Vgl. Wolfgang Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung. Versuch einer neuen Deutung seiner heroischen Romane, Berlin 1974. Schon 1951 sprach Fritz Valjavec die Schwierigkeit an, »auf die politischen Strömungen, Kräfte und Stimmungen jener Zeit Bezeichnungen anzuwenden, die erst im Laufe des 19. Jahrhunderts allgemeine Geltung erlangten.« Die einzelnen politischen Bewegungen und Gruppen blieben im 18. Jahrhundert weitgehend »ohne zeitgenössische Etikettierung«, und wenn doch »zu ihrer Charakterisierung bereits Ausdrücke wie >demokratisch< oder >aristokratisch< von den Zeitgenossen verwendet« wurden, »geschah dies meist nur in einem ganz willkürlichen Sinn«. Anhand dieser Situation kommt er allerdings, wie später auch Frederick C. Beiser, zur Konklusion, dass »wir [...] die politischen Kennzeichnungen des 19. Jahrhunderts auch fiir die von uns behandelte Zeit verwenden« müssen, »in der sie an sich noch nicht gebräuchlich waren«. Siehe Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815. Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe von 1951. Mit einem Nachwort von Jörn Garber, Kronberg/Ts. und Düsseldorf 1978, S. 10. Für diese Interpretationsstrategie hat Quentin Skinner in seinem berühmten und berüchtigten Aufsatz »Meaning and Understanding in the History of Ideas« von 1969 die Bezeichnung the mythology of prolepsis geprägt. Diesem mythologischen Ansatz zufolge wird laut Skinner der Sinn eines historischen Werkes teleologisch mit seiner späteren Bedeutung verschränkt. In History and Theory. Studies in the Philosophy of History 8/1969, S. 22ff.
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zum Schluss kommen, die deutsche Aufklärung sei im Grunde unpolitisch gewesen, 43 oder wir sind — und dies scheint ebenso oft ein Resultat zu sein — durch die »Verwendung eines normativen Politikbegriffes« 44 außer Stande, andere Positionen als überzeugten Republikanismus oder rückgratslosen Konservatismus zu erkennen. Als durchaus problematisch erscheint neuerdings auch der in vieler Hinsicht sehr gelungene Versuch Frederick C. Beisers, deutsche Autoren und Intellektuelle des späten 18. Jahrhunderts in drei Strömungen zu »klassifizieren«: 45 Liberalismus, Romantik [romanticism] und Konservatismus. 46 Als besonders kurzsichtig erweist sich dabei ftir Wieland das Etikett »Konservatismus«, das Beisers eigener sehr aufschlussreicher Interpretation des gesamten politischen Denkens dieses Aufklärers kaum gerecht wird. 4 7 Auf der Grundlage neuerer Forschungsbeiträge läßt sich dagegen behaupten, dass sich die prägenden politischen Denkmuster des 18. Jahrhunderts in der Tat jeder Einordnung in ein spätere Politikverständnisse nachgebildetes Schema entziehen. Als typisch für diese Epoche betont Jörn Garber vielmehr das Auftreten von zahlreichen »Mischideologien«, die »ein synchrones Gegeneinander ungleichzeitiger Politikauffassungen« darstellen 48 und die es sehr schwierig machen, mit klassifikatorischen Kategorien wie »Liberalismus«, »Konservatismus« oder »Republikanismus« zu arbeiten. Zur Bewältigung dieser chaotischen Situation ist in der Forschung eine weitere Strategie ins Spiel gekommen, die sich aber ebenfalls
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Der Mythos von der unpolitischen deutschen Aufklärung - dass deutsche Dichter und Denker des 18. Jahrhunderts ihre Freiheitsansprüche ganz dem Reich der Ideen verschrieben haben und darüber hinaus gute pflicht- und furstentreue Bürger geblieben sind - hat eine überaus interessante Rezeptionsgeschichte, die hier nicht eigens erforscht werden kann. Zu dessen Vertretern gehören allerdings so unterschiedliche Autoren wie Madame de Stael, Heinrich Heine, Karl Marx und Ernst Troeltsch, neben klassischen Autoren der Aufklärungsforschung wie Peter Gay und Thomas P. Saine. Für eine weitere Bibliographie dieses Mythos vgl. Diethelm Klippel: »Politische Theorien in Deutschland des 18. Jahrhunderts«, in Aufklärung 2/2, 1987, S. 57 Anm. 1. In der These vom deutschen »Sonderweg«, sowohl im »aggressiven Sonderwegsbewusstseins« eines Thomas Manns als auch in der umstrittenen geschichtswissenschaftlichen Frage nach einem »realen Sonderweg«, hat der Mythos ein tragfähiges Vehikel seiner weiteren Kolportierung und Verbreitung gefunden. Siehe Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main/ Leipzig 1994, S. 23. Horst Möller: Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763-1815, Berlin 1998, S. 496. Frederick C. Beiser: Enlightenment, Revolution, and Romanticism. The Genesis of Modern German Political Thought 1790-1800, Cambridge, Massachusetts/London, England 1992. Beiser schreibt: »We must have, therefore, some classification of the various strands of thought of the 1790s, [...]« (S. 13). Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 335-362. Jörn Garber: »Politische Spätaufklärung und vorromantischer Frühkonservatismus. Aspekte der Forschung«, in Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen, S. 557.
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Einleitung
als eine Sackgasse herausgestellt hat: Angesichts einer sonst unüberschaubaren politischen Landschaft scheinen die politischen Ansichten des einzelnen Autors oder Intellektuellen den einzigen festen Bezugspunkt zu bieten. Diese kann man dann als jeweils »republikanisch«, »demokratisch«, »aristokratisch« oder »konservativ« einstufen und dadurch eine gewisse Ordnung ins politische Chaos bringen. Wir können uns, so Herbert Jaumann, »politisches Engagement nur als politische Meinung« vorstellen«"49 — wobei der ganze Vermittlungsdiskurs der Literatur aus dem Visier der Forschung zu verschwinden scheint. Zur Veranschaulichung dieser Deutungspraxis kann an dieser Stelle nur ein Beispiel gegeben werden, das allerdings die Wieland-Forschung des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat. In der Tat neigen politisch oder sozialgeschichtlich angelegte Interpretationen von Wielands Werk dazu, in seinem Roman Der Goldne Spiegel eine Art Bekenntnisschrift zu erkennen, in der Wielands politische Ansichten in systematischer Darstellung aufzufinden seien. Dabei konnte Gustav Breuckers Verdacht, dieses Vorhaben lasse sich nicht realisieren,50 dem Wunsch, der deutschen Literatur einen politisch engagierten Schriftsteller zu geben, nicht standhalten. Von einem Zögern ist bei Oskar Vogt daher nichts mehr zu merken. Nachdem er festgestellt hat, dass Politik das »Lieblingsgebiet«51 Wielands war, geht er zur Auslegung seiner politischen Theorie über. Was bei diesem Vorgang unter die Räder gerät, sind nicht nur das ständige Versteckspiel des Autors, die Vielfalt und Ambivalenz des Werkes und seine spezifische Literarizität, sondern letztendlich auch sein Bezug zur Geschichte. Reduziert auf ein rein geistiges Produkt, auf einen direkten Ausdruck der Intentionen des Autors, bleibt das Werk ein autonomes, isoliertes Ganzes, das nur immanent, aus seinen eigenen Voraussetzungen heraus, interpretiert werden kann. Vogt realisiert sein Vorhaben durch eine Rekonstruktion dessen, was er als Wielands »politische Ansichten« zu erkennen glaubt. Die Unzulänglichkeit einer solchen Deutung zeigt sich u. a. in der völligen Unterdrückung der Chronologie und der Kontextuaiisierung der herangezogenen Texte. Der Roman und die späteren Aufsätze zu politischen Themen werden als gleichzeitige Ausdrücke desselben Bewusstseins gelesen, ohne Rücksicht auf ihre jeweils besondere funktionsgeschichtliche Rolle. Briefe, polemische Aufsätze und Aussagen werden mit dem Roman auf gleiche Ebene gestellt und
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Herbert Jaumann: »Politische Vernunft, anthropologischer Vorbehalt, dichterische Fiktion. Zu Wielands Kritik des Politischen«, in Modern Language Notes. German Issue. 99. 3/1984, S. 462 Anm. 3. Breucker schreibt: »Die politischen Ansichten Wielands aus dem >Goldnen Spiegel< systematisch darzustellen, ist um so weniger möglich, da der Roman ein Spiegelbild des ganzen politischen Lebens ist, Wielands eigene politische Uberzeugung aber oft schwer erkennen läßt.« Siehe Gustav Breucker: »Wielands >Goldener Spiegel·«, in Preußische Jahrbücher 62/1888, S. 153. Oskar Vogt: »Der Goldne Spiegel« und Wielands politische Ansichten, Berlin 1904, S. VIII.
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als Prämissen und Konklusionen einer in sich geschlossenen politischen Theorie dargestellt. 52 Ihre interne Logik ist eine von Ursache und Wirkung. Aus Intentionen, die in Briefen und Aufsätzen nachzulesen sind, schließt Vogt immer wieder auf literarisches Tun, woraus das merkwürdige Verhältnis resultiert, dass Wieland später, insbesondere in seinen Aufsätzen, plant, was er im Goldnen Spiegel bereits ausgeführt hatte. Der einzige historische Wandel, den Vogt zur Kenntnis nimmt, ist der Ubergang Wielands vom Republikanismus zum Monarchismus. »In seiner Jugend ist er Republikaner«, 53 stellt Vogt fest, während er den Standpunkt des despotisme eclaire erst seit den sechziger Jahren vertrat. Aber auch dieser historische Bezug erweist sich als problematisch. In einer Besprechung des Cyrus muss er hinzufügen, dass es Wieland mit der Aufstellung monarchischer Grundsätze hier »nicht sehr ernst gewesen sein« kann, da er zu dieser Zeit »Anhänger der aristokratischen Republik« war. 54 Vogts Urteil stellt ein anschauliches Beispiel für die methodischen Fehlschlüsse dar, die sich ergeben wenn in einer Darstellung versucht wird, um jeden Preis Autorintentionen und eventuelle »politische Ansichten« festzuhalten, von denen alles andere abgeleitet wird. Ohne auf klassifizierbare politische Strömungen oder Meinungen auszuweichen, 55 will sich die vorliegende Arbeit stärker auf das Werk und die Gattung konzentrieren. Ziel ist nicht, die politischen Elemente eines Textes herauszudestillieren und sie als etwas dem Werke Unabhängiges, als Absicht oder Meinung des Autors oder als eine diesen zuzurechnenden Strömung darzustellen. Als Ort der Vermittlung zwischen Literatur und Politik wird stattdessen die Gattung, zumal die Gattung des Staatsromans, dienen, in dem ein breites Spektrum politischer Positionen und ungleichzeitiger Politikauffassungen zum Vorschein kommen, die gegeneinander ausgespielt und mit poetologischen Themen verknüpft
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Für dieses Deutungsmuster prägt Skinner in dem oben zitierten Aufsatz die Formel the mythology of coherence. Mythologisiert wird in diesem Fall die Vorstellung, dass der Autor in seinen Werken ein kohärentes und konsistentes Gedankensystem entwickelt hat. Daraus folgt, dass sich kein Element dieses Systems mit einem anderen Element im Widerspruch befinden kann. Vgl. Skinner: »Meaning and Understanding«, S. 16ff. Vogt: »Der Goldne Spiegel« und Wielands politische Ansichten, S. 44. Ebd., S. 2 Anm. 3. Ein ähnlicher Vorbehalt findet sich bei Kurt Wölfel, in seinem Aufsatz zu Jean Pauls »poetischem Republikanismus«: »Die folgenden Erörterungen haben nichts, oder nur beiläufig, mit einer Geschichte der politischen Meinungen am Ende des 18. Jahrhunderts zu tun. Sie behandelt nicht die Frage mit welchem Recht man Jean Paul (wie er bekanntlich selbst getan hat) einen Republikaner« nennen könne, und es geht in ihnen nicht darum, seine politische Gesinnung und die vielfältigen Urteile über politische und zeitgeschichtliche Personen, Handlungen und Geschehnisse, in denen sich diese Gesinnung ausdrückt, unter dem Aspekt ihrer Fortschrittlichkeit oder Zurückgebliebenheit zu bedenken.« Siehe Wölfel: »Jean Pauls poetischer Republikanismus. Uber das Verhältnis von poetischer Form und politischer Thematik im 18. Jahrhundert«, in ders.: Jean Paul-Studien. Herausgegeben von Bernhard Buschendorf, Frankfurt am Main 1989, S. 171.
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Einleitung
werden. Auf diese Weise will die vorliegende Arbeit auch neuere Forschungsergebnisse, die zum Teil in direkter Polemik mit einer als überholt empfundenen politischen Lesart konzipiert sind, wahrnehmen und auswerten. 3. Die Tragfähigkeit des Begriffes »Staatsroman« für die Erforschung der Romane Wielands und Jean Pauls hängt weiterhin mit der Möglichkeit zusammen, durch diesen Gattungsbegriff den aktuellen Forschungstand kritisch auszuwerten. Obwohl Wielands Goldner Spiegel der einzige hier besprochene Roman ist, der im deutschen literaturgeschichtlichen Kanon als »Staatsroman« firmiert,56 haben sowohl der Gattungsbegriff als auch die mit ihm verbundenen Topoi und Konventionen auch in Besprechungen der übrigen Romane Erwähnung gefunden. Als paradigmatisch könnte dabei die Feststellung Ralph-Rainer Wuthenows gelten: Man mag Die Unsichtbare Loge, den Hesperus wie dann den großen, von deutscher Misere weitgehend unberührt gebliebenen Titan mit seinen bedeutenden komischen Anhängen als politische Romane, in gewisser Hinsicht als eine eigene Art von >Staatsromanen« ansehen, so sind sie auch viel mehr als das: nämlich die prozessuale Entfaltung der romantischen Subjektivität, die mit dem Weltstoff spielt, demgegenüber sie sich zu behaupten versucht [...].' 7 Die Anführungszeichen - so könnte man behaupten — sind wörtlich zu nehmen. Ganz ernst nimmt Wuthenow, der in früheren Aufsätzen dezidiert politische Lesarten befürwortet, 1)8 seine Einstufung der heroischen Romane Jean Pauls in die Gattung des Staatsromans nicht. Diesen Vorbehalt teilt er mit den meisten Jean Paul-Kommentatoren, die im Hinblick auf diese Romane auf den Gattungsbegriff »Staatsroman« zu sprechen kommen. Die Erwähnung sollte vielmehr als eine Pflichtübung und darüber hinaus - wie wir verschiedentlich sehen werden - als eine Abgrenzung von all dem verstanden werden, was man an Jean Pauls Romanen nicht zu besprechen bezweckt. Das Interessante an Jean Paul, so der Tenor der Forschung, ist all das, was über die Gattungskonventionen des Staatsromans hinausgeht. Mit diesem Urteil könnte man sich sehr wohl zufrieden geben, zumindest, wenn man annehmen würde, die Gattung des Staatsromans ließe sich auf ihre vom Barockroman überlieferten, leicht erkennbaren Topoi und Kon-
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Vgl. dazu ζ. B. Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«, bes. S. 166ff.; Schneider: »Staatsroman und Fürstenspiegel«, S. 181 ff.; und Müller: Gegenwelten, S. 104ff. Ralph-Rainer Wuthenow: »Portrait Jean Pauls«, in Horst Albert Glaser (Hg.): Zwischen Revolution und Restauration: Klassik, Romantik. 1786-1815 (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Herausgegeben von Horst Albert Glaser. Band 5), Reinbek bei Hamburg 1987, S. 190f. Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: »Ein roter Faden. Jean Pauls Politische Schriften und sein Verhältnis zur Französischen Revolution«, in JbJPG 3/1968, S. 49—68; und ders.: »Der sentimentale Jean Paul ist tot. Anmerkungen zu neuerer Jean Paul-Literatur«, in Jean Paul. Sonderband aus der Reihe Text+Kritik. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, Stuttgart 1970, S. 123-136.
Vier Fragestellungen zur Tragfähigkeit des Gattungsbegriffes »Staatsroman«
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ventionen reduzieren. Es könnte aber auch gefragt werden, ob ein so bewusster Romankonstrukteur wie Jean Paul, der in der Vorrede zur zweiten Auflage des Hesperus seinen Roman mit einer »Hose« vergleicht, »woran eine einzige aufgehende Masche des rechten Schenkels das ganze Gestrick des linken aufknöpft« (SW I, 3, 1 lf.), 5 9 eine Reihe von Elementen in sein Werk hineinbringen würde, die ftir das Ganze keine eigentliche Funktion haben. Oder, umgekehrt, wenn die Konventionen und Topoi des Staatsromans in der Tat nur Vehikel seiner sentimental-schwärmerischen oder enzyklopädisch-humoristischen Ausschweifungen darstellen würden, wäre es nicht doch interessant zu wissen, wo, wie, wann, und möglicherweise, warum er sie verwendet? Seit seiner Wiederentdeckung durch Stefan George und seinen Kreis 60 haben viele Forscher die Originalität Jean Pauls in einer »Absolutheit« der poetischen Sprache erkennen wollen, die, so Walther Killy, »nur noch mit einem unsichtbaren Faden an die wirkliche Welt geheftet« sei. 61 Diese Sprache wäre nicht auf Gattungskonventionen oder überlieferte Topoi zu beziehen, sondern würde als pure Innovation die Entwicklung der modernen oder gar modernistischen Literatur antizipieren. 62 Als Reaktion darauf wäre die sich in den sechziger und siebziger Jahren anbahnende Politisierung der Jean Paul-Forschung zu verstehen, die seit dem äußerst kontroversiellen Werk Wolfgang Harichs zu Jean Pauls Revolutionsdichtung auch die Romane umfaßte. Ohne weiter auf die oft sehr vehemente Kritik an diesem Werk einzugehen, 63 wird hier nur festgestellt, dass Harichs Fahnenwort der »Revolutionsdichtung« andere Gattungsunterschiede, zumal die zwischen Staatsroman, Fürstenspiegel, Bildungsroman und Utopie, weitgehend ausblendet. Stattdessen wird eine sich in diesen Romanen »vollziehende Synthese von Revolutionsgeist und Dichtung« nachgezeichnet, 64 die aber nie über ihren Charakter einer schwierig oder kaum belegbaren These hinauskommt.
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Mit der Sigle S W wird im folgenden zitiert nach: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften begründet von Eduard Berend (ab 1952 herausgegeben von der Deutschen Akademie der Wissenschaften). Abteilung I: Zu Lebzeiten des Dichters erschienene Werke, Bd. 1 - 1 9 ; Abteilung II: Nachlaß, Bd. 1 - 5 ; Abteilung III: Briefe, Bd. 1 - 9 , Weimar (Abteilung III: Berlin) 1 9 2 7 - 1 9 6 4 . Vgl. Stefan George: »Lobrede auf Jean Paul (1896)«, in Jean Paul im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls in Deutschland. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Peter Sprengel, München 1980, S. 2 1 8 - 2 2 0 . Walther Killy: »Es gibt keinen rosa Jean Paul. Einspruch gegen ideologischen Missbrauch (1963)«, in Jean Paul im Urteil seiner Kritiker, S. 3 0 1 - 3 0 3 . Vgl. ζ. B. Bernhard Böschenstein: Studien zur Dichtung des Absoluten, Zürich 1968, S. 1 1 - 5 8 . Die umfassendste Kritik an der Darstellung Harichs findet sich bei Gisbert Ter-Nedden: »Schwierigkeiten bei der Aktualisierung Jean Pauls. Eine Auseinandersetzung mit Wolfgang Harichs Buch über Jean Pauls Revolutionsdichtung«, in J b J P G 9 / 1 9 7 4 , S. 7 - 2 9 . Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung, S. 14.
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Einleitung
Soll sich der Gattungsbegriff »Staatsroman« im Hinblick auf die Forschung zu den Romanen Wielands und Jean Pauls als tragfähig erweisen, darf er auf keinen Fall diesem Antagonismus von Ästhetizismus und Politizismus verhaftet bleiben. 65 Stattdessen knüpft diese Arbeit an Forschungsansätze und Begriffe an, die gezielt an der Überbrückung dieses Gegensatzes arbeiten. In diese Richtung deuten sowohl Burkhardt Lindners »politische Metaphorologie« 66 als auch Kurt Wölfeis »poetischer Republikanismus«. 67 In Übereinstimmung damit wird im Gattungsbegriff »Staatsroman« ebenfalls auf eine Konvergenz von Politik und Literatur Bezug genommen, wobei sowohl die von literarischen Praktiken mitgefiihrten politischen Erfahrungs- und Bedeutungsebenen als auch die literarischen Repräsentationen politischer Wirklichkeit und Reflexion an Aktualität gewinnen. Nicht zuletzt müssen dabei diejenigen Gattungsbestimmungs- und Kanonisierungsstrategien der Forschung beachtet werden, denen zufolge mehrere dieser Romane, zumal der Agathon, die Unsichtbare Loge und der Titan, ihren Platz in der deutschen Literaturgeschichte als »Bildungsromane« eingenommen haben. 6 8 Ohne an dieser Stelle weiter auf die in der neueren Forschung mehrmals aufgewiesenen Probleme dieses Gattungsbegriffes einzugehen, 69 scheinen in der Tat die
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Zu diesem Antagonismus vgl. Peter Krumme/Burkhardt Lindner: »Absolute Dichtung und Politik. Tendenzen der Jean-Paul-Forschung«, in Jean Paul. Text+Kritik, S. 116-124. Vgl. Burkhardt Lindner: »Politische Metaphorologie«. Zum Gleichnisverfahren in Jean Pauls politischen Schriften«, in Jean Paul. Text+Kritik, S. 103-115. In »Jean Pauls poetischer Republikanismus« schreibt Wülfel: »Mein Interesse gilt der Frage nach der politischen Qualifizierbarkeit poetischer Darstellungen und der Frage nach der Poetisierbarkeit politischer Realität im 18. Jahrhundert, wesentlich in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts. Im Begriff des >poetischen Republikanismus< treffen beide Seiten, Poesie und Politik, zusammen; [...]« (S. 171). Vgl. Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman, München 1972, S. 57-63, S. 106-115 (Agathon, Unsichtbare Loge, Hesperus, Titan); Jacobs/Markus Krause: Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, München 1989, S. 53-64, S. 117138 (Agathon, Titan); Martin Swales: The German Bildungsroman from Wieland zu Hesse, Princeton, New Jersey 1978, S. 57-73 (Agathon) ; Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman, Stuttgart 1984, S. 50-52, 82-88 (Agathon, Titan); Wulf Köpke: »Bildung and the Transformation of Society. Jean Paul's Titan und Flegeljahre«, in James Hardin (Hg.): Reflection and Action: Essays on the Bildungsroman, Columbia 1991, S. 228-253. Aus dieser Liste der Forschungsliteratur geht hervor, dass sich vor allem die Ubersichtsdarstellungen bemüht haben, Wielands Agathon sowie Jean Pauls heroische Romane, vor allem den Titan, zum Gattungsbegriff »Bildungsroman« in Beziehung zu setzen - wobei Agathon als Vorläufer und Die Unsichtbare Loge, Hesperus und Titan als »Gegenmodelle« (Selbmann) eingestuft werden. In den Einzelstudien zu den Werken beider Autoren kommt allerdings der Gattungsbegriff nur am Rande und meistens gar nicht vor, was teils auf die allgemeine Skepsis gegen gattungsgeschichtliche Annäherungen, teils auf die spezifischen, mit dem Konzept des »Bildungsromans« verbundenen Probleme zurückzuführen wäre. Zur Kritik am Gattungsbegriff »Bildungsroman« vgl. Selbmann: Der deutsche Bildungsroman, S. 34-38; und vor allem Manfred Engel: Der Roman der Goethe-
Vier Fragestellungen zur Tragfähigkeit des Gattungsbegriffes
»Staatsroman«
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Begriffe »Staatsroman« und »Bildungsroman« in Konkurrenz zu treten — wobei die Klassifikation der Romane Wielands und Jean Pauls als »Bildungsromane« vor allem darum bemüht ist, den Bruch mit früheren, aus dem Barock herstammenden Gattungskonventionen wahrzunehmen. Gegen diese teleologische Tendenz der Forschung wird in der vorliegenden Arbeit mit einem konsequent historischen und deskriptiven, nicht-klassifikatorischen, nicht-normativen Gattungsbegriff »Staatsroman« gearbeitet. Mit diesem Begriff wird vor allem versucht, das Zusammenspiel mehrerer aus verschiedenen Epochen herrührender Gattungskonventionen aufzuzeigen, um auf diese Weise sowohl die historische Singularität als auch die literarische Originalität der aktuellen Werke darzustellen. 4. Letztendlich kann die definitive Bewährungsprobe des Gattungsbegriffes »Staatsroman« allein in seinem Vermögen bestehen, einen historisch-hermeneutischen Zugang zu den aktuellen Texten zu gewinnen. Kann durch diesen Begriff wesentliche und bisher in der Forschung vernachlässigte Aspekte der Romane Wielands und Jean Pauls zur Kenntnis gebracht werden? Für einen klassifikatorischen Gattungsbegriff gilt, dass seine Aufgabe darin bestehen muss, den Roman als Ganzes einem bestimmten Gattungsmuster zuzuordnen. Dem historischen Gattungsbegriff kommt dagegen kein klassifikatorischer, sondern ein hermeneutischer Anspruch zu: Es geht um das bessere Verstehen der Texte, nicht um ihre endgültige gattungsgeschichtliche Einordnung. Dass es im Rahmen der vorliegenden Arbeit unmöglich ist, die fünf zu behandelnden Romane in ihrer Ganzheit unter die Lupe zu nehmen und auf klassifikatorische Vollständigkeit hin zu analysieren, ergibt sich von selbst. Dass ein solcher Vollständigkeitsanspruch auch nicht geboten ist, um die im jeweiligen Werk wirksamen Gattungskonventionen und Gattungsintentionen in den Blick zu bekommen, ist eine These, die erhärtet werden soll. Methodisch verfolgt die vorliegende Arbeit das Ziel, ein gattungsgeschichtliches mit einem werkanalytischen Forschungsinteresse zu vereinen. Der Zugang zu den Texten wird vor allem über die Interpretation von ausgewählten Passagen oder Textgefügen hergestellt, die besonders geeignet scheinen, über die im Werk stattfindende Konvergenz von Gattung und Politik Aufschluss zu geben und die in der Forschung - zum Teil infolge einer Konzentration auf die Gattungsmerkmale des Bildungsromans oder des empfindsamen Romans - oft wenig Beachtung gefunden haben. Angestrebt wird dabei eine Leseweise, die das literarische Detail als einen Konvergenzpunkt von Text und Geschichte oder, dem berühmten Diktum des Neuhistoristen Louis A. Montrose zufolge, von der »Ge-
zeit. Band 1. Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten, Weimar 1993, S. 5ff. Engel schlägt hier den alternativen Gattungsbegriff »Tranzendentalroman« vor (S. 7).
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Einleitung
schichtlichkeit der Texte« und der »Textualität der Geschichte« betrachtet. 70 In dieser häufig zitierten Formel wird auf die Kontinuität zwischen Literatur und Geschichte, zwischen Text und Kontext hingewiesen: Ein Text, bemerkt Montrose, ist eingebettet in die Geschichte, zu der wir aber nur durch andere Texte und textuelle Spuren Zugang bekommen können. 7 1 Die Grenzen zwischen Literatur und Geschichte werden damit keineswegs aufgehoben; zwischen ihnen findet aber ein Austausch oder, wie Stephen Greenblatt sagt, eine »Zirkulation« statt, durch die sich eine Reihe von Elementen und Bedeutungen von der einen in die andere bewegen: Gerade diese »beunruhigende Zirkulation von Materialien und Diskursen« macht das »Herz moderner ästhetischer Praxis« aus. 7 2 Zu diesen zwischen Text und Kontext zirkulierenden »Materialien und Diskursen« gehören auch die historisch und textuell eingebetteten Vorstellungen von »Gattung« und »Politik«, die in Passagen und Textgefügen der Romane Wielands und Jean Pauls ihren Niederschlag gefunden haben und die - so das Vorhaben dieser Arbeit durch den Gattungsbegriff »Staatsroman« ausfindig gemacht werden. In diesen vier Fragestellungen zur Tragfähigkeit des Gattungsbegriffes »Staatsroman« wurden auch einige Elemente der hier zu gebenden Antworten vorweggenommen, ohne dass sich die Fragestellungen deshalb erübrigt hätten. Die Frage, ob und wie der Gattungsbegriff »Staatsroman« für den Roman des 18. Jahrhunderts im allgemeinen und fur die Romane Wielands und Jean Pauls im besonderen tragfähig ist, wird auch die weiteren Überlegungen dieser Arbeit begleiten.
1.3 Z u m Aufbau der Arbeit: Gattungsgeschichte und Textinterpretation Aus den bisherigen Feststellungen folgt, dass der Aufbau der vorliegenden Arbeit wesentlich von der Auswahl der Werke bestimmt ist, die aber an sich keineswegs unproblematisch ist und daher zunächst zu einer kurzen Bemerkung Anlass gibt. Entsprechend dem Ziel der Arbeit, das nicht in der Klassifikation konkreter Werke als »Staatsromane«, sondern im Nachzeichnen der sich in diesen Werken abspielenden Transformationen dieses Gattungsmusters besteht, werden hier nicht in erster Linie die prototypischen Staatsromane des 18. Jahrhunderts untersucht, sondern im Gegenteil diejenigen, die am entscheidendsten zur Dynamik und zum Wandel der Gattung beigetragen haben. Zur ersten Gruppe gehört eine kleine Anzahl von Romanen, die in der deutschen Literaturgeschichte
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Louis A. Montrose: »Professing the Renaissance: The Poetics and Politics of Culture«, in H. Aram Veeser (Hg.): The New Historicism, New York/London 1989, S. 20, S. 23. Ebd., S. 20. Stephen Greenblatt: »Towards a Poetics of Culture«, in: Veeser, ebd., S. 13.
Zum Auflau der Arbeit: Gattungsgescbichte und Textinterpretation
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traditionell als Staatsromane klassifiziert werden, vor allem Johann Michael von Loens Der redliche Mann am Hofe (1740), Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731 - 4 3 ) , Johann Heinrich Gottlob von Justis Psammitichus (1759/60) sowie Albrecht von Hallers Romantrilogie Usong (1771), Alfred (1773) und Fabius und Cato (1774). 73 Zwar wird im folgenden auch auf diese im literaturgeschichtlichen Kanon als »Staatsromane« etikettierten Werke Bezug genommen, aber nur insofern in ihnen Topoi oder Konventionen zur Sprache kommen, die in den Romanen Wielands und Jean Pauls aufgegriffen, umgedeutet und umfunktioniert werden. Im Unterschied zu den genannten zeichnen sich Geschichte des Agathon, Der Goldne Spiegel, Die Unsichtbare Loge, Hesperus und Titan dadurch aus, dass in ihnen zugleich mehrere Gattungsintentionen und Gattungskonventionen wirksam sind, die miteinander in Widerspruch geraten und aufeinander abgestimmt werden. Auf diese Weise bringen diese Romane Transformationen des Staatsromans herbei, die das Thema dieser Arbeit darstellen. In diesem Sinne wird im Kapitel 2 vor allem der Versuch unternommen, Begriffe zu entwickeln, welche die in den Romanen Wielands und Jean Pauls stattfindenden Gattungstransformationen erfassen können. Diese Transformationen werden ausgelöst, indem die Konventionen des barocken Staatsromans mit den Innovationen des modernen Romans in Konflikt geraten. Ein Musterbeispiel dieser Konfrontation findet sich in Fenelons Roman Telemaque, der nicht nur eine Reihe von Topoi und Konventionen des aufgeklärten Staatsromans zum ersten Mal in dieser Weise durchspielt, sondern in dem ebenfalls ein Paradigma der im Staatsroman stattfindenden Konvergenz von Poetologie und Politik zu erkennen ist. Kennzeichnend fiir den aufgeklärten Staatsroman im allgemeinen und die Romane Wielands und Jean Pauls im besonderen sind weiterhin die »Gattungsverhandlungen«, Verhandlungen über ein »Gattungsmaterial«, über Gattungskonventionen und -Intentionen, die sich als unvereinbar erweisen, miteinander in Widerspruch geraten und in diesem Sinne eine »Gattungsaporie« darstellen. Durch diese »Gattungsverhandlungen« werden auch politische Themen und Fragestellungen zur Diskussion gestellt, die wegen ihrer Einbettung in den vorherrschenden Mischideologien und ungleichzeitigen Politikauffassungen des 18. Jahrhundert selbst oft eine widersprüchliche, antagonistische oder gar aporetische Struktur beziehen. In diesem Sinne könnte das dieser Einleitung vorangestellte Epigramm aus Adornos Ästhetischer Theorie verstanden werden: »Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form«. 74 Zu den ungelösten Antagonismen der Realität, die in der Romanform als immanente poetologische Probleme wie-
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Vgl. dazu Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«; und Schneider: »Staatsroman und Fürstenspiegel«. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Herausgegeben von Gretel Adorno und RolfTiedmann, Frankfurt am Main 1990 [1970], S. 16.
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Einleitung
derkehren, gehört in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dezidiert der Versuch, zwischen naturrechtlicher Moral und absolutistischer Politik zu vermitteln — sei es in der Regierungsform des aufgeklärten Absolutismus oder in der gegen diese Regierungsform gerichteten Kritik der Aufklärer. Diese Dialektik von Politik und Moral, von Herrschaft und Kritik, von Reform und Revolution wird hier durch den Begriff »Politisierung« erfasst. Gerade diese Dialektik wird in den Romanen Wielands und Jean Pauls und vor allem in den diesen Romanen innewohnenden Gattungsverhandlungen thematisiert, die dadurch auch zu Verhandlungen über Politik und Politikauffassungen werden. Das Zentrum der Gattungsverhandlungen stellt indessen der »Staatsroman« dar, der als gattungsgeschichtlicher Terminus ins 19. Jahrhundert zurückreicht, der aber in späteren Forschungsbeiträgen von anderen Gattungsbegriffen, zumal der »Utopie« und dem »utopischen Roman«, verdrängt worden ist. In der Darstellung der Wissenschaftsgeschichte des Gattungsbegriffes wird gezeigt, wie jede Bemühung, diese sehr disparaten Gattungskonventionen und -intentionen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, in neue Schwierigkeiten zu fuhren scheint. Die gattungsgeschichtlichen Transformationen des Staatsromans, könnte man behaupten, spiegeln sich damit in den wissenschaftsgeschichtlichen Transformationen des Gattungsbegriffes »Staatsroman« wider. Am Ende dieses Introduktionskapitels werden die gesamten theoretischen Prolegomena - die sich im Begriff der »Gattungsverhandlungen« auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen - in einem Beispiel resümiert: Anhand eines Vergleichs zwischen Wielands Goldnem Spiegel und Jean Pauls Unsichtbarer Loge wird veranschaulicht, wie in beiden Romanen, sowohl auf einer narrativen als auch auf einer diskursiven Ebene, über Gattungsintentionen und -konventionen verhandelt wird und wie sich diese Gattungsverhandlungen weiterhin mit brisanten politischen Fragestellungen des aufgeklärten Absolutismus verknüpfen. Die exemplarische Darlegung dieser diskursiv und narrativ ausgetragenen Gattungsverhandlungen leitet zum Hauptteil der vorliegenden Arbeit über. In den Kapiteln 3—4 und 6—8 werden zunächst Wielands Agathon und Goldner Spiegel, dann Jean Pauls Unsichtbare Loge, Hesperus und Titan interpretiert, im Hinblick auf die in diesen Romanen stattfindenden Adaptionen der Gattungskonventionen des Staatsromans. Obwohl jeder der fünf Romane einzeln behandelt wird, um die darin wirksamen Gattungsaporien und Gattungsverhandlungen darzulegen, geht es immer auch darum, eine über das Einzelwerk selbst hinausgehende, gattungsgeschichtliche Dynamik auszuweisen. In den Kapiteln 3 und 4 werden die Beziehungen zwischen Wielands Klassiker Agathon, der nach Auffassung einer mehr oder weniger einstimmigen Forschungsgemeinschaft die Grundlage für die Entwicklung der Gattung des Bildungs- und Entwicklungsromans in Deutschland legte, und dem kaum gelesenen Goldnen Spiegel, der oft als reine Gelegenheitsdichtung abgewertet wird, erörtert. In der Forschung hat man sich bisher darauf beschränkt, auf die Diskontinuität dieser beiden Romane hinzuweisen.
Zum Aufbau der Arbeit: Gattungsgeschichte und Textinterpretation
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Danach wäre Wieland mit dem Goldnen Spiegel in die Gattung des Staatsromans zurückgefallen, nachdem er diese Gattung im Agathon als obsolet erklärt hatte. In diesem Rückfall hinter den von ihm selbst vor allem in den Vorreden zur ersten und zweiten Fassung des Agathon, aber auch im Roman selbst formulierten Stand des modernen Romans hat man weiterhin ein Indiz für den bloß opportunistischen Charakter dieses Werkes erkannt. Gegen diese aus einer rigiden Geschichts- und Gattungsauffassung hergeleitete These werden hier die in beiden Werken nachweisbaren Innovationen aufgezeigt, die Wieland am Gattungsmuster des Staatsromans vornimmt und die in den Begriffen der »Dekonstruktion« und der »Rekonstruktion« erfasst werden können. Dabei wird die These vertreten, dass Wieland im Agathon das Gattungsmuster des Staatsromans auf eine Weise dekonstruiert, die es ihm ermöglicht, die Konventionen dieser Romangattung im Goldnen Spiegel wieder aufzugreifen und auf den Stand des modernen Romans zu bringen. Jean Paul hat sowohl den Agathon als auch den Goldnen Spiegel gelesen und zum Teil — wie es seine Art war — in seinen Exzerptenheften abgeschrieben. In der Forschung besteht weiterhin Einigkeit, dass zumindest der Agathon ihn in der Konzipierung von allen drei heroischen Romanen beeinflusst hat. Aber auf welche Weise? Finden auch Wielands Umgang mit den Gattungskonventionen des Staatsromans, seine darauf eingerichteten Gattungsverhandlungen, einen Nachhall in den heroischen Romanen Jean Pauls? Diese Fragen werden in Kapitel 5 aufgegriffen, in dem ebenfalls auf die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Werke Wielands und Jean Pauls eingegangen wird, anhand zwei paradigmatischer Spielarten humoristischer Dichtung im 18. Jarhundert, »Laune« und »Witz«, die für beide Romanwerke kennzeichnend sind. Dass im Werk Jean Pauls zwischen der Unsichtbaren Loge, dem Hesperus und dem Titan, die in den Kapiteln 6—8 zum Gegenstand der Arbeit werden, ein enger Zusammenhang besteht, gehört zu den definitiven Gemeinplätzen der Jean Paul-Forschung. Die Belege finden sich teils in den Äußerungen des Autors, teils in der direkten und oft expliziten Übernahme von Kulissen oder Figuren von einem Roman in den nächsten. In der Forschung hat man diese drei Romane Jean Pauls weiterhin durch das Epithet »heroisch« qualifizieren wollen, 75 mit Hinweis auf die in ihnen auftretenen Haupthelden, die alle weitgehend dem in der Unsichtbaren Loge explizierten Ideal der »hohen Menschen« entsprechen, und die darüber hinaus in politische Handlungen verwickelt sind, die eines gewissen Heroismus nicht entbehren. Für diesen Romantypus hat Jean Paul selbst in seiner Vorschule der Ästhetik die Gattungsbezeichnung »Romane der italienischen Schule« geprägt, der er sowohl Wielands Agathon als auch seinen eigenen Titan zuordnet
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Vgl. ζ. B. Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung, S. 7; Wülfel: »Johann Paul Friedrich Richter. Leben, Werk, Wirkung«, in ders.: Jean Paul-Studien, S. 31.
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Einleitung
(vgl. S W I, 11, 236f.). So bald die Zusammenhänge dieser drei Romane auf den Begriff gebracht werden sollen, löst sich jedoch die scheinbare Einstimmigkeit der Forschung wieder auf. Im letzten umfassenden Versuch einer Gesamtinterpretation der Romane Jean Pauls versteht Ralf Berhorst den Hesperus und den Titan als »Fortsetzungen«, als Versuche des Autors, den vorangehenden Roman »mit einem neuen Werk fortzusetzen« 76 — wobei allerdings die Gefahr besteht, dass die Innovationen und Transformationen im einzelnen Werk, die auch ein Element der Diskontinuität voraussetzen, übersehen werden. Besser aufgehoben scheint diese Diskontinuität der heroischen Romane in dem von Hanns-Josef Ortheil geprägten Begriff »Korrektur« zu sein: Sowohl im Hesperus als auch im Titan werden, so Ortheil, die Romankonzeptionen der vorangegangenen Romane »korrigiert«. 77 Diese Korrekturen betreffen nicht zuletzt die Weise, wie Jean Paul in seinen Romanen mit den Gattungskonventionen des Staatsromans umgeht. Allerdings legen die Vorstellungen von »Korrektur« und »Korrigieren« ein normatives und ein teleologisches Element an den Tag, als ob die Romane Jean Pauls immer besser würden, oder als ob der Autor immer mehr in die Lage käme, seine Romane in gelungener Weise zu vollenden. In der Tat wird in so verschiedenen Arbeiten wie Max Kommereils Gesamtdeutung von Jean Pauls Werk aus geistesgeschichtlicher Perspektive und Harichs schon erwähnter Umdeutung der heroischen Romane im Sinne eines revolutionären Realismus die These vertreten, von der Unsichtbaren Loge über den Hesperus zum Titan finde eine Entwicklung statt, die im Titan ihren Gipfel erreicht. 78 Aus der Perspektive der Gattungsgeschichte des Staatsromans ist es aber höchst fraglich, ob ein solches teleologisches Modell die beste Weise darstellt, die jeweiligen Innovationen und Transformationen am Gattungsmuster zu beschreiben. Im Gegenteil scheint es geboten, den Blick ebenso nach hinten wie nach vorne zu richten, um das einzelne Werk als ein Ort der Verhandlungen von Gattungskonventionen und Politikauffassungen zu verstehen. Prinzipiell muss hinzugefügt werden, dass »Dekonstruktion«/»Rekonstruktion« und »Korrektur« als Begriffe des Gattungswandels den Verstehenshorizont der folgenden Interpretationen der Romane Wielands und Jean Pauls keineswegs erschöpfen. In jedem Kapitel geht es vor allem um das Werk selbst und die im Werk auffindbaren Konvergenzpunkte zwischen Gattung und Politik, zwischen poetologischen und politischen Reflexionen. Aus den Titeln der einzelnen Kapitel geht ebenfalls hervor, wie im jeden Fall eine Fragestellung aus dem poli-
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Ralf Berhorst: Anamorphosen der Zeit. Jean Pauls Romanästhetik und Geschichtsphilosophie, S. 240, vgl. auch S. 304f. Hanns-Josef Ortheil: Der poetische Widerstand im Roman. Geschichte und Auslegung des Romans im 17. und 18. Jahrhundert, Königstein/Ts. 1980, S. 265, S. 287. Max Kommerell: Jean Paul, Frankfurt 1933, S. 92ff.; Harich: Jean Pauls Revolutions' dichtung, S. 7ff.
Zum Aufl>au der Arbeit: Gattungsgeschichte und Textinterpretation
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tischen Denken der Zeit, »Anwendung«, »Krise«, »Geheimbundmodell«, »Machiavellismus« und »Gegenwart«, aufgegriffen und mit gattungsgeschichtlichen Fragestellungen in Verbindung gebracht wird. In dieser Konvergenz von Poetologie und Politik wird das Element der Transformation oder Innovation des jeweiligen Romans herausgearbeitet. Zum Schluss dieser Einleitung wird kurz auf ein drittes Ziel der vorliegenden Arbeit hingewiesen, das mit dem gattungsgeschichtlichen und dem werkanalytischen einhergeht, das aber doch eine zusätzliche Erwähnung verdient. Es wurde bereits auf die Probleme hingewiesen, die sich aus einer explizit politischen Annäherung an Literatur überhaupt und an die Romane Wielands und Jean Pauls im besonderen ergeben. Zurückprojizierte oder normative Politikbegriffe, Hang zur Klassifikation und Reduktion auf politische Meinungen tragen dazu bei, dass Politik als etwas der Literatur und der Sprache Äußerliches betrachtet wird, bestenfalls als ein politischer Inhalt, der in einer literarischen Form vermittelt werden kann. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, die Frage von Politik und Literatur anders anzugehen. Den Ausgangspunkt bildet dabei die These, dass die politische Reflexion ein der Sprache und in Besonderheit der literarischen Sprache innewohnendes Element darstellt, die erst werkanalytisch, durch genaues Lesen literarischer Texte ausgearbeitet werden kann. Daher stellen nicht die Ansichten des Autors und auch nicht der sozialgeschichtliche Kontext den Flucht- oder Konvergenzpunkt von Politik und Literatur dar, sondern die Konzeption der Gattung. Die Frage nach dem politischen Element eines literarischen Werkes geht mit der Frage nach dem gattungsgeschichtlichen Element einher. Davon ausgehend wird der Versuch unternommen, die in den Romanen Wielands und Jean Pauls stattfindenden poetologischen Reflexionen auf ihre politischen Grundlagen, und umgekehrt, die politischen Reflexionen auf ihre poetologischen Grundlagen zurückzuführen. In allen diesen Werken werden Politik und Poetologie im dynamischen Prinzip der Gattungsverhandlungen zur Konvergenz gebracht, in deren Zentrum wiederum die Gattungskonventionen und Gattungsintentionen des aufgeklärten Staatsromans stehen.
2. Staatsroman und Aufklärung: Gattungsverhandlungen und Politisierung im 18. Jahrhundert
Zu einer tentativen und in heuristischer Absicht konzipierten Definition der Gattung des Staatsromans im 18. Jahrhundert könnte man zunächst auf zwei Wegen - einem topologischen und einem funktionsgeschichtlichen - gelangen: zum einen, indem man die Topoi auflistet, die zum Muster der Gattung gehören: den verborgenen Prinzenredlichen Mann am HofeFürstenerziehungHofkritikGeheimbund< und die >StaatsaktionGattungsbewußtsein< des einzelnen Sprechers/Autors bzw. Hörers/Lesers« zu suchen, als ein »regelhaftes Wissen, das die Kommunikationspartner im allgemeinen nicht explizieren können«.42 Zu den wichtigsten Beiträgen dieses kommunikationstheoretisch begründeten Gattungsverständnisses gehört zweifellos der Wunsch, die Gattungen von der Vorstellung von geschichtlicher Kausalität oder geschichtlichem Determinismus zu lösen und als eine Frage »der freien Gestaltungsentscheidung der Sprechen zu behandeln.43 Gerade im Hinblick auf das Gattungsmaterial als ein dem Werk innewohnendes Element erscheint dieser Rekurs auf Bewusstsein und Intention allerdings als problematisch. Zwar werden im 18. Jahrhundert eine Reihe von Arbeiten verfasst (Gottsched, Blanckenburg, Wieland), welche die Gattung des Romans, vor allem in seinem Ablöseverhältnis zur Gattung des Epos, zu beschreiben und poetologisch einzukreisen versuchen. Aber von diesen zum Teil sehr widerspruchsvollen
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Stephen Greenblatt: »The Circulation of Social Energy«, in ders.: Shakespearean Negotiations, Oxford 1 9 9 7 [1988], bes. S. 7 - 8 . Für eine Darstellung dieser theoretisch eher trivialen, aber empirisch und historisch durchaus komplexen Programmatik der »Verhandlungen« vgl. die Beiträge in Jürg Glaser/Annegret Heitmann (Hg.): Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft, Würzburg 1999, insbesondere die Einleitung Heitmanns, S. 9—20. Peter Kuon: »Möglichkeiten und Grenzen einer strukturellen Gattungswissenschaft«, in Jens Lüdtke (Hg.): Energeia und Ergon. Sprachliche Variation-SprachgeschichteSprachtypologie. Das sprachtheoretische Denken Eugenio Coserius in der Diskussion (2) [= Studia in honorem Eugenio Coseriu. Herausgegeben von Jörn Albrecht, Jens Lüdtke und Harald Thun. Band III], Tübingen 1988, S. 242. Ebd., S. 243.
Von Gattung zu Gattungsverhandlungen
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Ansätzen auf ein »regelhaftes Wissens« oder ein spezifisches romanpoetologisches »Gattungsbewusstsein« beim einzelnen Autor zu schließen, wäre übereilt oder zumindest anhand der jeweiligen Texte zu diskutieren. Dagegen wird hier gezeigt, wie im Falle des Staatsromans die »freie Gestaltungsentscheidung des Autors« sich mit einer Reihe von Gattungskonventionen konfrontiert sieht, die nicht nur als intentionale Mittel der Kommunikation, sondern auch als nicht-intentionale Grenzen oder Strukturen auf die Gestaltung des Werkes Einfluss nehmen. Daraus folgt, dass die Gattungsintention nicht als Fazit, als endgültige Antwort auf die Frage nach der Gattungszugehörigkeit eines Werkes herangezogen werden kann, sondern immer in einen Prozess der Gattungsverhandlungen eingeht, in dem diese Intention relativiert und korrigiert wird. Dementsprechend besteht, wie schon angesprochen, die Möglichkeit, dass nicht nur Intentionen und Konventionen, sondern auch Konventionen verschiedener Herkunft miteinander in Konflikt geraten. Der Roman des 18. Jahrhunderts, der immer auf der Suche nach sich selbst und seiner eigenen Form ist, kann in Sackgassen, in Situationen der Auswegslosigket geraten, in Ubereinstimmung mit der ursprünglichen Definition des griechischen Wortes aporiaEs sind diese auswegslosen Situationen, die hier als »Gattungsaporien« bezeichnet werden. Ebenso gehört zum Begriff der »Aporie«, dass diese Auswegslosigkeit der inneren Logik der Suche selbst entspringt, oder im Falle der Gattungsaporie, dass es an der Struktur dieses Prozesses der poetologischen Selbstkonstitution selbst liegt, wenn unterschiedliche, im einzelnen Roman parallel verfolgte Zwecke oder Ziele auseinanderklaffen. Die Gattungsaporien, in die Wielands und Jean Pauls Romanen geraten und die es zum Teil den Autoren schwierig und gar unmöglich machen, die Werke zu vollenden, sind in dem in den Romanen bearbeiteten Gattungsmaterial angelegt. Zwischen Gattungskonventionen und -Intentionen des Fürstenspiegels, des utopischen Romans und des Bildungsromans, die alle ins Gattungsmaterial des aufgeklärten Staatsromans eingehen und in diesen Werken zur Geltung kommen, bestehen Widersprüche, die in den Gattungsverhandlungen verarbeitet werden. In der heutigen theoretischen Landschaft ist der Begriff der »Aporie« unlösbar mit der theoretischen Tradition der Dekonstruktion verbunden, wie sie vor allem von Jacques Derrida und Paul de Man praktiziert worden ist. Sowohl in Derridas Arbeiten zu Husserl und Heidegger 45 als auch in de Mans Aufsätze über Nietz-
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Vgl. dazu Stefan Matuschek: Art. »Aporie«, in Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. Band 1, Tübingen 1992, Sp. 8 2 6 - 8 2 8 . Vgl. ζ. B. Derrida: »Ousia et grammi. Note sur une note de Sein und Zeit«, in ders.: Marges de la philosophie, Paris 1978, S. 3 3 - 7 8 ; und »>Gen£se et structure< et la Phänomenologie«, in ders: L'icriture et la difference, Paris 1 9 7 9 [1967], S. 2 2 9 - 2 5 2 . Für einen Rückblick Derridas auf die eigenen Aufsätze und Begriffe als Variationen zum Thema der Aporie vgl. Derrida: Aporias. Dying - awaiting (one another at) the »limits
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Staatsroman und Aufklärung
sehe und Rousseau 46 werden Textstellen ausgelegt, in denen die Gedankengänge des Textes in die Aporie, in die Ausweglosigkeit münden, wobei die Logik der Schrift selbst mit den in der Schrift vermittelten Inhalten in Konflikt gerät. Zwischen den konstativen und performativen oder zwischen den grammatikalischen und rhetorischen Funktionsweisen einer Passage besteht ein unlösbarer Widerspruch. Als Beispiel kann de Mans Arbeit zu Rousseaus Contrat Social genannt werden: In seinem Aufsatz zu den »Versprechen [Promises]« zeigt de Man, wie Rousseau durch den performativen Charakter des Textes seine eigenen Ansprüche auf politisch gültige Maximen untergräbt. Dieser immanente Widerspruch ist laut de Man »wie eine Aporie aufgebaut: der Text fährt unbeirrt fort, etwas zu vollziehen, was sich als unmöglich erwiesen hat.« 47 Entsprechend hat Derrida in seinem Aufsatz La loi du genre die dem Gattungsbegriff innewohnenden Aporien aufweisen wollen: einerseits stellt die Gattung ein »Ordnungsprinzip« dar, »Ähnlichkeit, Analogie, Identität und Differenz, taxinomische Klassifikation, Ursprung und genealogischen Baum, Ordnung der Vernunft« usw.; 48 anderseits gehört zum repetitiven Charakter der Gattung eine Dynamik der »Abweichung«: »interne Spaltung der Merkmale, Unreinheit, Zerstörung; Besudelung, Dekomposition, Perversion, Deformation, sogar Cancerisation, generische Ausbreitung oder Degeneration«. 49 Ähnliche dynamische Erscheinungen, die Derrida alle vom literarisch-textuellen Faktum der »Gattungsmischung« ableitet, 50 werden in der vorliegenden Arbeit thematisiert. Geht es aber in der Tradition der Dekonstruktion vor allem um die Aufdeckung der Aporie als eines Endpunktes, einer mehr oder weniger statischen Struktur oder Konstellation, die zugleich den selbstreferentiellen Charakter des Textes zur Schau stellt, wird die Aporie in dieser Darstellung im Gegenteil als Ansatz oder als Auslöser einer textuellen Dynamik erfasst, die zugleich über den Rahmen des Textes hinaus auf die ihn umgebende Wirklichkeit übergreift. Durch die Gattungsaporie werden daher Transformationsprozesse ausgelöst, die zugleich poetologische und politische Bestimmungen in Bewegung bringen. In den Gattungsverhandlungen steht keineswegs nur die Vollendung des einzelnen literarischen Werkes auf dem Spiel, sondern darüber hinaus, um mit Greenblatt zu sprechen, die auf dem kulturellen Feld zirkulierende »soziale Energie«. Für Greenblatt ist die Logik dieser Zirkulation die Ökonomie, die Marktwirtschaft: »eine unscheinbare, schwer fassbare Reihe von Tauschhandlungen, ein Netzwerk
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of truth« / Mourir - s'attendre aux »limites de la verite«, Stanford, California 1993, S. 13-21. Vgl. de Man: Allegories of Reading. Figural language in Rousseau, Nietzsche and Proust, New Häven/London 1979, bes. S. 103-131, 2 4 6 - 3 0 1 . Ebd., S. 275. Derrida: »La loi du genre«, in Derrida: Parages, Paris 1986, S. 287. Ebd., S. 254. Ebd., S. 252ff.
Von Politik zu Politisierung
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von Geschäften und Verlusten [trade-offi[, ein Streit verschiedener Repräsentationen, eine Verhandlung zwischen Aktiengesellschaften«. 51 Dagegen wird hier auf ein anderes System der »Zirkulation sozialer Energie« hingewiesen, das allerdings schon in Greenblatts Vorstellung der Ökonomie impliziert ist: das System der Politik. Auch in der Politik wird verhandelt, nicht aber in erster Reihe um ökonomischen Gewinn, sondern um politische Macht- und Autoritätsverhältnisse. Daraus folgt, dass unter »Politik« hier kein dem Bereich der Literatur phänomenologisch oder sozialgeschichtlich entgegengestellter Bereich verstanden wird, sondern ein Prozess der Politisierung, der von der Geschichte auf die Literatur und, gegebenenfalls, von der Literatur auf die Geschichte übergreift. Durch diesen Prozess der Politisierung — so die hier gebotene Definition — werden literarische Inhalte zu Themen politischer Reflexion, die wiederum mit den in den Romanen stattfindenden poetologischen Verhandlungen einhergehen.
2.3 Von Politik zu Politisierung - zur Historisierung und Dynamisierung des Politikbegriffes Die im Begriff der »Politisierung« implizierte Dynamisierung und Historisierung der Vorstellung von Politik stellt ein wiederkehrendes T h e m a der deutschen Aufklärungsforschung dar. Schon Valjavec wollte in seinem klassischen Werk zur Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland vor allem »die Anfänge der Politisierung des öffentlichen Lebens« untersuchen. 5 2 Sowohl theoretisch als auch empirisch verankert wurde der Begriff der »Politisierung« in Jürgen Habermas' Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit, die schnell zum meistverwendeten, wenn auch meistkritisierten Paradigma der Erforschung des 18. Jahrhunderts wurde. 5 3 Unter »Politisierung« wird daher die Hinlenkung der zunächst auf literarische und gelehrte Gegenstände beschränkten öffentlichen Meinungsbildung auf politische Themen verstanden. Ein paradigmatischer Ansatz für den Übergang von »Politik« zu »Politisierung«, von einem Klassifikationsbegriff zu einem Transformationsbegriff, findet sich weiterhin bei Diethelm Klippel. 5 4 Für ihn bieten gerade die im 18. Jahrhundert vorherrschenden Mi-
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Greenblatt: »The Circulation of Social Energy«, S. 7. Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland, S. 12. Für eine Bilanz der Rezeptionsgeschichte der Studie seit den sechziger Jahren sowie einige Revisionen des Autors vgl. Jürgen Habermas: »Vorwort zur Neuauflage 1990«, in ders.: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt am Main 1990, S. 11-50. Mit dem ausdrücklich normativen und pejorativen Begriff der »Politisierung«, den Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen entwickelt und unter dem er die Demokratisierung und Republikanisierung der deutschen Nation versteht, hat
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Staatsroman
und
Auflilärung
schideologien und ungleichzeitigen Politikauffassungen den Ausgangspunkt, das politische Denken des 18. Jahrhunderts »nicht als statische Einheit, sondern als Prozess« zu betrachten, »in den auch gegenläufige politische Tendenzen einbezogen sind und in dem auch gleichzeitig auftretende politische Theorien methodisch und inhaltlich verschiedenen Epochen zugehören können«. 5 5 Unter »Politisierung« wird eine Annäherung an die politischen Denkmuster der Epoche verstanden, »die den Prozesscharakter der Entwicklung betont, die jeweiligen Gegenströmungen mit einbezieht und auch die mögliche Gleichzeitigkeit des methodisch und inhaltlich Ungleichzeitigen berücksichtigt«. 56 Für die Werke Wielands und Jean Pauls gilt, dass sie als Beispiele oder Instanzen einer solchen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen verstanden werden können, sowohl im ästhetischen als auch im politischen Sinne. In allen hier besprochenen Werken kommen politische Sinnbildungen und Erfahrungen zur Sprache, die auf keine in sich stimmige Position, keine abgrenzbare Strömung und keine subjektiv gewonnene Ansicht reduziert werden können, sondern einen paradoxen und daher dynamischen Charakter beanspruchen. Anhand von Klippels Darstellung muss hier allerdings eine weitere Präzisierung vorgenommen werden, denn das Objekt dieser Untersuchung ist keineswegs, wie bei Klippel, die politische Theoriebildung, sondern eine Reihe literarischer Werke, in denen politische Erfahrungen ästhetisch verarbeitet werden. Dass unter »Politisierung« kein bloßer Theoriebildungsprozess verstanden werden soll, wird vor allem bei Rudolf Vierhaus programmatisch ausgeführt: »[D]ie Entwicklung eines politischen Bewußtseins«, schreibt er, ist kein Vorgang, der sich auf der Ebene der vollen Bewußtheit von Individuen vollzieht und an deutlich formulierten Ideen, Lehren u n d Willenserklärungen verfolgt werden kann. Vielmehr handelt es sich um den komplizierten Prozess der Verarbeitung von Erfahrungen, des Lernens und Weitergebens, der Sensibilisierung für vorher als selbstverständlich Angesehenes oder nicht Bemerktes, des Erkennens von Widersprüchen, des Ansprechbarwerdens und -machens für Meinungen und der Formulierung von Zielen. 5 7
Dieses bei Vierhaus formulierte Verständnis des Prozesscharakters der Aufklärung wird u. a. von Ulrich Hermann und Hans Erich Bödeker aufgegriffen und auf die
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dieser deskriptive und analytische Transformationsbegriff allerdings nichts zu tun. Vgl. dazu Volker Sellin: Art. »Politik«, in Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 863. Für eine weitere Begriffsgeschichte des Politisierungsbegriffes siehe Ernst Vollrath: Art. »Politisierung«, in Historisches Wörterbuch der Philosophie. Herausgegeben von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. B d . 7, Basel 1989, Sp. 1 0 7 5 - 1 0 7 9 . Klippel: »Politische Theorien«, S. 61. Ebd. Rudolf Vierhaus: »>Patriotismus< - Begriff und Realität einer moral-politischen Haltung«, in ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze von R u d o l f Vierhaus, Göttingen 1987, S. 96f.
Von Politik zu Politisierung
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chiastische Formel »Aufklärung als Politisierung — Politisierung der Aufklärung« gebracht, die auf allen Ebenen der deutschen Sozial- und Mentalitätsgeschichte, in der Philosophie, in der Pädagogik, in der Dramatik, in der Lyrik und in der Rhetorik, Politisierungsprozesse aufdecken will.58 »Die aufklärerischen Politisierungsprozesse«, so Bödeker und Hermann, »sind die Leistung der Mitglieder der Gelehrtenrepublik und der Bürokratie«59 - wobei gerade der Schriftsteller als »ideale Verwirklichung des bürgerlich Gebildeten« gilt, »der sein Schreiben als engagiertes, aufklärerisches Handeln, als Vorbereitung zukünftigen vernünftigen Handelns anderer begreift«.60 Bevor wir zum eigenwilligen, aber deshalb auch sehr ergiebigen Politisierungsbegriff Reinhart Kosellecks kommen, muss auf eine weitere semantische Ambivalenz dieses Begriffes hingewiesen werden. Zweifellos hat das Wort, was auch Martin Rohmeier feststellt, vor allem eine »transitive Bedeutung: Etwas vormals Unpolitisches politisch zu machen, was auch immer damit gemeint ist: je nach dem Zusammenhang einen Prozess, eine Institution, eine Handlung, eine Gruppe oder eine Denkweise »politisieren««.61 Betrachtet man die Beiträge zur Aufklärungsforschung, sind es höchst verschiedene, meist abstrakte Gegenstände, die »politisiert« werden: die Aufklärung, die Öffentlichkeit, das Bewusstsein, die Moral oder, wie in einem gerade erschienenen Sammelband, das Utopische.62 Aus dem abstrakten, nur schwer abgrenzbaren Umfang dieser Bereiche folgt, dass das Objekt der Politisierung universalisiert wird. In allen oben zitierten Beiträgen wird »Politisierung« vor allem als ein geschichtsphilosophischer Überbegriff verwendet, als ein Sammel- und Bewegungsbegriff, der die gesamten transitiven
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Vgl. Hans Erich Bödeker/Ulrich Hermann: »Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung: Fragestellungen«, in ders. (Hg.): Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung. Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Band 8, Hamburg 1987, S. 3 - 9 . Ebd., S . 8 . Ebd., S . 6 . Martin Rohmeier: »Politisierung und Demokratiekritik. Anmerkungen zur Geschichte des Politisierungsbegriffes«, in: Archiv für Begriffsgeschichte. Band X X I X , Bonn 1985, S. 138. Rohmeier interessiert allerdings nur die »Geschichte dieses Begriffes im Rahmen der Kritik an der parlamentarischen Demokratie totalitärer Intention« (S. 142). Darin kommt »Politisierung« lediglich als ein Negativbegriff zum Zuge, der die »Fundamentalpolitisierung« (S. 144) der Gesellschaft anprangert und den Weg von der Demokratiekritik Thomas Manns in den Totalitarismus aufzeigt. Gegen diese einseitige Darstellung der Geschichte des Begriffes wendet sich, in einer Antwort an Rohmeier, Kari Palonen, der jenseits des ideologischen Moments in der deutschen Geschichte auch einen positiven Begriff der »Politisierung« erkennen will, der - zum Beispiel bei Karl Lamprecht - die »staatsbürgerliche]] Erziehung und politische!] Bildung« betont. Siehe Kari Palonen: »Korrekturen zur Geschichte von Politisierung««, in Archiv fiir Begriffsgeschichte. Band X X X , Bonn 1 9 8 6 / 8 7 S. 2 2 9 . Vgl. Monika Neugebauer-Wölk/Richard Saage (Hg.): Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution, Tübingen 1996.
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Politisierungsprozesse in sich aufnimmt und geschichtsphilosophisch überwölbt. 63 Als Ansatz zur Interpretation einiger Werke aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ist es aber unerlässlich, auf der transitiven Bedeutung von »Politisierung« zu bestehen. Die Romane Wielands und Jean Pauls sollen keineswegs nur als Symptome einer geschichtsphilosophisch begründeten »Politisierung« der deutschen Öffentlich gelesen werden, sondern auch und vor allem im Hinblick auf die in diesen Werken vollzogenen Politisierungsprozesse, die durchaus transitiven Charakter haben: die Politisierung bürgerlicher Subjektivität, die Politisierung des Naturzustandes, die Politisierung des Gesprächs, die Politisierung der Anthropologie usw. Als Folie für den in dieser Arbeit verwendeten Begriff »Politisierung« wird vor allem Reinhart Kosellecks Studie Kritik und Krise dienen, die 1959 mit dem Untertitel »Zur Pathogenese der bürgerlichen Welt« erschien. 64 Darin geht es vor allem um die Politisierung der Moral: »Das Moralische, das danach trachtet, politisch zu werden«, so Koselleck, »wird das große Thema des achtzehnten Jahrhunderts sein.« 65 Während Habermas und andere eine Allianz von Moral und Politik im Kontext der bürgerlichen Öffentlichkeit voraussetzen, will Koselleck die grundsätzlich dualistische oder gar antagonistische Struktur der Aufklärung untersuchen. Den Ausgangspunkt bietet dabei die durch die Staatsräson des 17. Jahrhunderts vollzogene Trennung von religiöser Moral und politischer Pragmatik, die »den Menschen als Menschen« bewusst aus dem staatlichen Ordnungsgefüge ausklammerte. 66 Durch die Ausgrenzung der Moral aus der Politik und die folgende Polarisierung wurde ein Innenraum freigelegt, in dem sich die Bürger nicht mehr als Untertanen oder politische Objekte, sondern als Menschen und moralische Subjekte verstanden. Als Menschen waren sie nicht mehr
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Mit Koselleck kann behauptet werden, dass sich der Begriff der »Politisierung« damit zu einem »Kollektivsingular« verdichtet hat, dessen Einzahlform auf keinen spezifischen Gegenstand, sondern auf einen geschichtsphilosophischen Prozess hinweist, der die ganze Gesellschaft umfasst, ähnlich wie ζ. B. »Geschichte« oder »Fortschritt«. Vgl. u. a. Koselleck: »Historia Magistra Vitae. Uber die Auflösung des Topos im Horizont der neuzeitlich bewegter Geschichte«, in ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1992 [1979], S. 50ff. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1992 [1973]. Die Arbeit geht auf die Dissertation Kosel-
lecks von 1954 zurück, deren Untertitel Eine Untersuchung der politischen Funktion des dualistischen Weltbildes im 18. Jahrhundert tin klareres Bild vom Vorhaben der Stu-
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die gibt. Als Einführung in die Problematik der »Politisierung« setzt sich Koselleck in dieser ursprünglichen Version der Arbeit auch mit den oben dargestellten Thesen Valjavecs, vor allem mit der Behauptung, dass die Entstehung neuer sozialer Gruppierungen eine Politisierung bedeute, kritisch auseinander. Vgl. dazu Kari Palonen: Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2004, S. 182. Koselleck, ebd., S. 31. Ebd., S. 154.
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Politisierung
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dem Staat oder dem Fürsten, sondern lediglich der auf der Vernunft gegründeten Moral unterstellt. Der Aufbruch der bürgerlichen Intelligenz im 18. Jahrhundert erfolgt aus dem privaten Innenraum, der zur Szene der Emanzipation des bürgerlichen Individuums und des Prozesses der Aufklärung wird. Für Koselleck gilt allerdings, dass die Politisierung der Moral zugleich eine Moralisierung der Politik darstellt. Die Ausweitung des Geltungsbereichs der Moral auf die Politik durch die Aufklärung führt zur Verkennung und Usurpation des Bereichs des Politischen selbst: »Die intendierte Moralisierung der Politik im achtzehnten Jahrhundert«, behauptet er, »bedeutetet eine totale Politisierung der geistigen Welt, ohne sie als solche in den Blick zu rücken«. 67 Die Politisierung der Moral findet nicht in offener Polemik mit der Staatsräson des absolutistischen Regimes statt, sondern verdeckt und verhüllt. Infolge der fehlenden Bereitschaft der Aufklärer, sich die politischen Implikationen ihrer moralischen Argumentation einzugestehen, verfallen sie, so Koselleck, einer »geschichtliche[n] Hypokrisie«. 68 Nicht zuletzt durch diese These kann Koselleck die traditionelle Auffassung der Aufklärung auf den Kopf stellen: Das auf Wahrhaftigkeit, Offenheit und Meinungsfreiheit gegründete Wertsystem wird invertiert und in Verlogenheit, Verborgenheit und Unfreiheit der Meinungen umgedeutet: Als die Aufklärer im 18. Jahrhundert ihre publizistische Kritik auf den Bereich der Politik, auf den Staat, ausweiten, verdecken sie zugleich ihre politischen Ansprüche, indem sie zu einer scheinbar >neutralenDer Zustand des stummen Staunens«: Language Skepticism in Nathan der Weise und Ernst und Falk«, in Lessing Yearbook 18/1986, S. 1-19.
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1. In den Interpretationen der Werke Wielands und Jean Pauls geht es, wie mehrfach betont, um die in diesen Romanen stattfindenden Prozesse und Transformationen. U m diese Dynamik gewahr zu werden, wird auf die in den Werken wirksamen, und gerade bei Koselleck aufgewiesenen, dualistischen oder antagonistischen Strukturen verwiesen, die vor allem mit dem Begriff der »Aporie« erfasst werden. Zur funktionsgeschichtlichen Eigenart des aufgeklärten Staatsromans gehört der Versuch, zwischen aufklärerischer Moral und absolutistischer Politik eine Brücke zu schlagen. U m diese Vermittlungsversuche beschreiben zu können, müssen zunächst die Eigenart dieser beiden Bereiche sowie deren gegenseitiger Antagonismus im Selbst- und Weltbild der Aufklärung zur Kenntnis genommen werden. 2. Ebenfalls bleibt im PolitisierungsbegrifF Kosellecks die oben angesprochene Ambivalenz von geschichtsphilosophischer und transitiver Bedeutung erhalten: zum einen sieht Koselleck in der verdeckten Politisierung der Moral ein Merkmal der »Geschehenseinheit der Aufklärung«, das in geschichtsphilosophischem Sinne verstanden wird und letztendlich in den Utopismus des bürgerlichen Fortschrittsdenkens mündet; zum anderen aber zeigt er, wie in den Texten der Aufklärer Phänomene oder Begriffe politisiert werden. Einbegriffen in diesen transitiven Prozess der Politisierung sind eine Reihe von Schlüsselkonzeptionen aufklärerischen Denkens wie »Mensch«, »Kritik«, »Krise«, »Zukunft«, »Fortschritt« usw., die auch bei Wieland und Jean Paul eine große Rolle spielen. 3. Aus dem in Kritik und Krise dargelegten Dualismus von Politik und Moral erfolgt vielmehr ein durchaus dialektisches Bild der Aufklärung. Auch bei Koselleck ist mit anderen Worten - den Worten Theodor W. Adornos und Max Horkheimers - von einer »Dialektik der Aufklärung« die Rede. 7 5 Allerdings geht es nicht darum, wie Vernunft in Unvernunft und Barbarei, sondern wie Politisierung in Entpolitisierung, in die Usurpation des Politischen durch die Moral umschlägt. Dieselbe Dialektik von Politik und Moral, von Politisierung und Moralisierung lässt sich in den Werken Wielands und Jean Pauls nachvollziehen. Der Terminus der »Pathogenese« im Untertitel von Kosellecks Studie verweist wiederum auf ihr diagnostisches Vorhaben, Fehlschlüsse und falsche Vorstellungen in der Denk- und Schreibweise der Aufklärer bloßzulegen. Ebenfalls gilt fur Wieland und Jean Paul, dass sie, wie wir sehen werden, in der Darstellung ihrer Helden diagnostisch vorgehen, um die Kontradiktionen und Aporien ihrer Selbstbilder und Handlungsansprüche aufzudecken. 4. Das größte Problem von Kritik und Krise als Paradigma der Politisierungsprozesse der Aufklärung ist — kurz und etwas plakativ gesagt — der Hang zur Denunziation. Trotz der oben zitierten Versicherung, es gehe nicht u m »den Autor
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Im Vorwort zur Taschenbuchausgabe verwendet Koselleck selbst diese Formel, vgl. Kritik und Krise, S. X.
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persönlich«, liest sich die Studie über lange Strecken wie eine Anklageschrift gegen zentrale Figuren der deutschen und französischen Aufklärung, die, wie im Falle Rousseaus, der Hypokrisie der Aufklärung »erlegen« 76 sind, und deren Kritik am Absolutismus, wie im Falle Kants, »zur Hypokrisie verdummte«. 77 Was heißt das aber? Sollen wir Koselleck in dem Sinne verstehen, dass seine Studie zur »Pathogenese der bürgerlichen Welt« in der Realität eine Studie der Motive, Intentionen oder Absichten einiger aufklärerischer Fahnenträger sein soll — um herauszustellen, inwiefern ihre Bewusstseinsinhalte mit den von ihnen an die Öffentlichkeit gebrachten Botschaften übereinstimmen, oder kurz, ob sie gelogen haben? Dieses Kernproblem der Rezeption von Kritik und Krise kann allerdings hier nicht eigens erläutert werden. 78 Der mögliche Gegensatz oder zumindest die Asymmetrie zwischen bewussten Intentionen und faktischem sprachlichem Ausdruck, die wir auch bei den Helden Wielands und Jean Pauls finden, bleibt aber bestehen und wird hier zu einigen weiteren Reflexionen Anlass geben. Selbst versucht Koselleck eine solche Rezeption seiner Studie durch den oben zitierten Hinweis auf die »Geschehenseinheit der Aufklärung« abzuwehren. Durch diese methodische Überlegung rückt auch die »Hypokrisie« der Aufklärer in ein neues Licht: Die von Koselleck in den einzelnen Quellen nachgewiesenen hypokritischen Redeweisen sollen nicht auf ihre intentionalen Korrelate im Bewusstsein des einzelnen Autors zurückgeführt, sondern zu einer »Geschehenseinheit« in Beziehung gesetzt werden, die offenbar über die einzelnen auktorialen Intentionen und Absichten und auch über die einzelnen Texte hinausgeht. Die Frage, worin diese »Geschehenseinheit« wirklich besteht, was ihre Einheit ausmacht, bleibt in der Einleitung zu Kosellecks Studie noch offen. Gegen die Auflassung Michael Voges', die »Geschehenseinheit« bleibe ein »folgenloses Postulat« und ein erstarrtes »Abstraktum«, 79 kann in den Teilen von Kritik und Krise, die Kosellecks spätere Arbeiten in der Begriffsgeschichte und der historischen Semantik vorwegnehmen, eine andere Antwort gesucht werden. An mehreren Stellen in seiner Argumentation wird deutlich, dass es vor allem die Sprache ist, die die Aufklärung als »Geschehenseinheit« konstituiert. Unter Sprache soll in diesem Zusammenhang vor allem die Semantik, aber auch die Pragmatik bestimmter Begriffe verstanden werden, wie zum Beispiel »Moral«, »Staat«, »Fürst«, »Mensch«, »Kritik«, »Krise« und »Revolution«, die in den Texten der Aufklärer zur Verwen-
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Koselleck: Kritik und Krise, S. 142. Ebd., S. 102. Für eine Diskussion dieser Frage anhand des Beispiels Wielands vgl. Jordheim: »Die Hypokrisie der Aufklärer - oder: War Wieland ein Lügner? Eine Untersuchung zu Kosellecks Kritik und Krise«, in Jussi Kurunmäki/Kari Palonen (Hg.): Zeit, Geschichte und Politik. Zum achtzigsten Geburtstag von Reinhart Koselleck, Jyväskylä 2003, S. 3 5 - 5 4 . Voges: Aufklärung und Geheimnis, S. 15. Palonen erkennt in der »Geschehenseinheit« vielmehr einen »Idealtypus«. Siehe Palonen: Die Entzauberung der Begriffe, S. 184.
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Politisierung
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dung kommen. 8 0 Aus diesem Primat der Sprache folgt, dass die »Hypokrisie« der Aufklärung nicht etwa im Sinne einer Lügenhaftigkeit der Aufklärer zu verstehen wäre, sondern vielmehr als ein diskursives Phänomen, das sich wiederum nicht auf die Intention des einzelnen Autors reduzieren lässt, sondern dem er — wie bei Rousseau schon der Fall war — erliegt. Anhand der Werke Wielands und Jean Pauls wird vielmehr gezeigt, wie beide Autoren diese »Hypokrisie« der Aufklärung diagnostisch zur Kenntnis nehmen und zum Gegenstand poetologischer und politischer, narrativer und diskursiver Verhandlungen machen. 5. Das Ziel dieser Arbeit ist also, Politisierungsprozesse in den Romanen Wielands und Jean Pauls aufzuweisen und zu zeigen, wie sie sich mit poetologischen und gattungsgeschichtlichen Prozessen verknüpfen. Durch diese Zielsetzung setzt sich allerdings der in dieser Arbeit entwickelte Politisierungsbegriff von seinem Vorbild in Kritik und Krise ab. In seiner Studie geht Koselleck von der These aus, dass die Politik der Aufklärung letztendlich keine sei, oder richtiger dass sie »unpolitisch« sei. Überall geht es ihm um die von den Aufklärern selbst nicht erkannten oder sogar verheimlichten politischen Nebenfolgen oder Implikationen eines als moralisch verstandenen Diskurses: »Unpolitisch zu sein«, lautet daher sein Urteil über die Aufklärung, »ist ihr Politicum.« 8 1 Dagegen wird hier behauptet, dass die Politisierungsprozesse, die bei Wieland und Jean Paul zu beobachten sind, keine bloße Negation des Politischen — »resolw'd against all Politicks«, wie Koselleck die englischen Freimaurer zitiert 8 2 — darstellen, sondern auch ein positiv und produktiv konzipiertes Politikverständnis an den Tag legen. Zu einem positiven Politik- und Politisierungsbegriff können wir anhand von Kosellecks Darstellung zunächst nur über negative Bestimmungen wie »indirekte Politik«, »Politikunfähigkeit« und »Hypokrisie« kommen. Dagegen könnte allerdings gefragt werden - und eben diese Frage findet sich in den Romanen Wielands und Jean Pauls wieder —, wie im 18. Jahrhundert ein direktes, kom-
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Schon in Kritik und Krise wird ja - wie öfter bemerkt worden ist - begriffsgeschichtlich gearbeitet, vor allem in den Fußnoten, in denen ganze Begriffsgeschichten zu Begriffen wie »Kritik« (196ff. Anm. 151, 154-6), »Revolution« (221ff. Anm. 97) und »Bürgerkrieg« (227ff. Anm. 144) enthalten sind. Zur Veranschaulichung dieser Rolle der Sprache bei Koselleck könnte vielmehr der von Foucault für die Geschichtswissenschaften geprägte, ebenso häufig verwendete wie verpönte Begriff des »Diskurses« herangezogen werden - zwar nur in der in L'arcbeologie de savoir von 1973 gegebenen Minimaldefinition: »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören«. (S. 156). Die Zugehörigkeit der Quellen zum selben System erfolgt bei Koselleck aus ihrer Begrifflichkeit, indem dieselben Begriffe auf ähnliche Weise und mit ähnlicher Bedeutung in verschiedenen Quellen verwendet werden. Gerade diese strukturellen und synchronen Zusammenhänge — auf die Koselleck selbst in der Vorstellung von der »Gemeinsamkeit« {Kritik und Krise, S. 5) unterschiedlicher Texte hinweist - scheinen im Begriff des »Diskurses« gut aufgehoben zu sein. Koselleck, ebd., S. 123. Ebd., S. 59.
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petentes und selbstbewusstes politisches Denken und Handeln vorstellbar wäre. Auch für eine solche positive Bestimmung des Politischen können allerdings der Studie Kosellecks einige Hinweise entnommen werden. Den historischen Inhalt des Politikbegriffes findet er zunächst in der Staatsräson des 16. und 17. Jahrhunderts, zumal in der darin entwickelten Vorstellung vom Fürstenstaat als einem »überreligiösen, rationalen Handlungsbereich«. 83 Eine theoretische Bestimmung erhält weiterhin der Politikbegriff, zwar nur sehr fragmentarisch, in der Formel der »Aporie des Politischen«, 84 die von den Aufklärern, so Koselleck, einfach übersprungen und aus der Welt geschafft wird. Eben diese »Aporie« wird aber so die Behauptung dieser Arbeit - in den Werken Wielands und Jean Pauls, im Rahmen des Gattungsmusters des Staatsromans, zum Thema literarischer Darstellung gemacht. Das Politische, im weitesten Sinne, spielt sich, so Koselleck, »im Horizont menschlicher Endlichkeit« 8 ^ ab, ihre »zeitliche Bestimmung« ist weiterhin die »Heterogonie der Zwecke«, die »von keiner Utopie überholt werden kann«. 8 6 Die Politik sei das »Schicksal«, und zwar »gerade nicht im Sinne einer blinden Fatalität«, sondern im Sinne einer »geschichtliche[n] Faktizität« 87 - gerade diese Faktizität des Politischen wird aber durch die aufklärerische Geschichtsphilosophie negiert. »Politisierung« hieße dann, wenn wir die Tendenz in Kosellecks Argumentation einen Schritt weiter verfolgen, sich dieser »Aporie des Politischen« auszusetzen, um in einem nach Zwecken umstrittenen und von inneren Unvereinbarkeiten geprägten Handlungsraum zu handeln, oder, im Hinblick auf die Romane des 18. Jahrhunderts, sich zumindest dieses Handeln und diesen Handlungsraum vorstellen zu können. Damit sind wir beim Kern des Politisierungsbegriffes angekommen, welcher den folgenden Interpretationen der Romane Wielands und Jean Pauls zugrunde liegt. »Politisierung« bedeutet im Hinblick auf diese Romane, wie die Romanwirklichkeit zu einem Handlungsraum fur die politische Handlungen des Helden gemacht wird, in dem die vielfältigen, zu realisierenden Zwecke umstritten, die Folgen des Handelns kontingent sind, und in dem andere Akteure als politische Gegner erkannt werden. 88 Diese Politisierung der Welt des Romans kann weiterhin nur dadurch zu Stande kommen, dass die Gegenstände, die Phänomene dieser Welt als veränderbar, kontingent und, mit einem Wort Kari Palonens, als »bespielbar« dargestellt werden, »als etwas, auf das bezogen, man auch >anders handeln kannStaatsaktion< als Mittel zur Erfüllung dieses literarischen Zweckes zu verstehen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellt die Politik jedoch keinen wertfreien und instrumentellen, von den Ansprüchen der bürgerlichen Moral abgesonderten Handlungsbereich dar, wie es im Zeitalter des Absolutismus und in der Lehre der Staatsräson der Fall war. All politisches Handeln muss im Kontext der Aufklärung moralisch begründet werden. Politisierung kann daher im aufgeklärten Staatsroman nur durch eine Vermittlung zwischen bürgerlicher Moral und absolutistischer Politik zu Stande kommen, die wiederum den ganzen Paradoxa und Aporien der Gattung und damit den ganzen in den Romanen stattfindenden Gattungsverhandlungen zugrunde liegt. In dieser Perspektive zeichnet sich der Ort des aufgeklärten Staatsromans zwischen absolutistischer Staatsräson und aufklärerischer Utopie aus. Seine gattungsgeschichtliche Eigenart ergibt sich wiederum zum einen aus dem diachronen Ablöseverhältnis zum Barockroman, zum anderen aus den sowohl diachronen als auch synchronen Beziehungen zu den Gattungen des Fürstenspiegels, der Utopie und des Bildungsromans. In der folgenden forschungsgeschichtlichen Übersicht werden vor allem die Versuche dargelegt, den Staatsroman gegen andere Gattungen abzugrenzen, um ihn auf diese Weise als geeignetes oder - zumeist - ungeeignetes Forschungsobjekt der Literaturgeschichte erscheinen zu lassen. Dass ein ganzes Kapitel der vorliegenden Arbeit diesen Bestrebungen um einen klassifikatorischen und meistens normativen Gattungsbegriff gewidmet ist, erfolgt zunächst aus einem Desiderat der Forschung: Der letzte Forschungsbericht zum Gattungsbegriff »Staatsroman« wurde 1965 von Karl Reichert veröffentlicht, 91 seitdem ist die Gattung oder zumindest der Gattungsbegriff weitgehend in Vergessenheit geraten. Darüber hinaus kommen in der folgenden forschungsgeschichtlichen Darstellung Fragestellungen und Paradoxa zur Sprache, die zu
90 91
Palonen: »Korrekturen«, S. 233f. Karl Reichert: »Utopie und Staatsroman. Ein Forschungsbericht«, in DVjs 39/1965, S. 2 5 9 - 2 8 7 .
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einem näheren Verständnis der sich in den Werken Wielands und Jean Pauls abspielenden Gattungsverhandlungen beitragen können.
2.4
Der Staatsroman als Forschungsproblem
A m Anfang dieser Darstellung zur Forschungsgeschichte wird eine Passage aus Sellings' Aufsatz zum Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung wiedergegeben, in der er die durchaus zentrale Stellung dieser Gattung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts zur Sprache bringt: Der aufgeklärte Staatsroman glaubt daran, die Kluft zwischen Realität und Idealkonstruktionen wenn nicht aufheben, doch verringern zu können, ohne dabei schwärmerischer Ungeduld zu verfallen. Er verkörpert solchermaßen Hoffnungen auf die Macht der Aufklärung, auf ihre erleuchtende Kraft, auf jene in die Köpfe und Herzen ausstrahlende Evidenz von Vernunft, Naturrecht, Moral, der sich auch und gerade der absolute Herrscher nicht länger zu verschließen vermag. So gehört der Staatsroman zu den raren Beispielen einer literarischen Offensive der Aufklärung, die unmittelbar in die Sphäre der Politik vorgetragen wird, während die avancierte bürgerliche Literatur sonst sich dazu anschickt, in eher defensiver Opposition zur großen, zur höfischen und politischen Welt die privaten Binnenräume und ihre moralischen, psychologischen und familialen Strukturen, also die Leiden und Freuden der bürgerlichen Subjektivität zu entdecken und zu durchforschen. 92
Als Forschungsprogramm dürfte diese 1983 erschienene Darlegung der Gattungsintentionen des Staatsromans Interesse erwecken, zumal darin eine Möglichkeit anvisiert wird, mit dem »Mythos des unpolitischen Deutschen« abzurechnen, der laut Beiser »die Forschung zum späten 18. Jahrhundert in einem solchen W ü r gegriff gehalten hat, dass sie mehr eine Voraussetzung als ein Ergebnis der Erforschungen gewesen ist«. 93 Gegen diesen ins Mythische gesteigerten Schematismus der Forschung richtet sich die Vorstellung vom Staatsroman als »einer literarischen Offensive der Aufklärung, die unmittelbar in die Sphäre der Politik vorgetragen wird«. Dem zum Trotz lassen die Arbeiten, die im Staatsroman einen entscheidenden Beitrag zur Romangeschichte des 18. Jahrhunderts erkennen und dadurch in die Lage kommen, die Hegemonie des Bildungsromans in Frage zu stellen, auf sich warten. Angemessen scheint dabei die Frage zu sein, ob nicht der Gattungsbegriff »Staatsroman« in der heutigen Forschung eher zu einem Etikett verfallen ist, das wenigen Werken, meistens am Rande des literarischen Kanons, anheftet, aber für andere Romane derselben Epoche ohne Relevanz bleibt. Zumindest scheint dies, wie in der Einleitung besprochen, für Wielands Agathon so wie für Jean Pauls heroische Romane der Fall zu sein.
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Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«, S. 152. Beiser: Enlightenment, Revolution, and Romanticism, S. 8.
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Den Gattungsbegriff »Staatsroman« gibt es also schon seit dem Zeitalter des Barock, als wissenschaftsgeschichtlichen Terminus schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im folgenden wird versucht, einige Stadien innerhalb der Wissenschaftsgeschichte dieses Gattungsbegriffes nachzuzeichnen, die zugleich mit zentralen theoretischen und historischen Fragestellungen seiner heutigen Anwendung zusammenfallen. Als durchgehende Problematik kann die Beziehung der Gattung »Staatsroman« zur Gattung »Utopie« gelten, die in der älteren Forschung noch als synonyme Bezeichnungen verwendet wurden. Die Auseinandersetzungen über die Abgrenzungen des Gattungsbegriffes »Staatsroman« haben daher von Anfang an einen politischen Untertext gehabt, inwiefern es möglich und erwünscht ist, zwischen utopischer Literatur und Literatur, die sich das Politische in anderen, weniger idealisierenden und verabsolutierenden Weisen vorstellt, unterscheiden zu können. 2 . 4 . 1 Staatsroman als Utopie/Utopie als Staatsroman Festzuhalten bleibt, dass die literarische Gattung des Staatsromans eine besondere Affinität zum Feld der Politik aufweist. Interessant ist daher, dass der erste Entwurf zur Definition der Gattung nicht von einem Literaturhistoriker oder Literaturwissenschaftler, sondern von einem Staatswissenschaftler stammt. Laut Robert von Mohl sind Staatsromane, wie er in einem in der Zeitschrift ftir die gesamte Staatswissenschaft publizierten Artikel von 1845 feststellt, »Schriften, die es unternehmen, die Frage wie ein Staat am gerechtesten und am zweckmäßigsten einzurichten, die ganze bürgerliche Gesellschaft auf menschlich-zuträgliche Weise zu ordnen sei, durch die Schilderung eines erdichteten Ideales zu beantworten«. 94 Der Inhalt des Staatsromans ist immer, so Mohl, »die Schilderung eines idealen Gesellschafts- oder Staatslebens«; die Form dagegen kann die »einer Reiseschilderung, einer statischen Schilderung oder einer Lebensgeschichte« sein. 95 Die politische Tendenz, ftigt er hinzu, sei wesentlich »oppositionell oder reformatorisch«. 96 Als paradigmatisches Beispiel verweist er nicht überraschend auf Thomas Morus' 1516 erschienenes Werk Utopia. Die Kontinuität zwischen Mohls Begriff »Staats-Roman« und den heute weit üblicheren Begriffen »Utopie« und »utopischem Roman« ist unübersehbar. Zu den Gattungsmerkmalen des Staatsromans gehören nach Mohl einerseits die erzählerische Einkleidung, deren eventuellen literarischen Eigenwert er dem »hochnotpeinliche [n] Gericht« der Ästhetik überlässt, 97 anderseits der Anspruch auf Idealität, der in der späteren Forschung zum definitorischen Kern des Uto-
94 95 96 97
Robert von Mohl: »Die Staats-Romane«, S. 24. Ebd., S. 27. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26.
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pischen wird. Daher werden alle Werke ausgeschlossen, »welche zwar Staatbegebenheiten erzählen, allein nicht mit der Absicht, das Bild eines ideellen Zustandes zu geben«. 98 Um diese Kontinuität zwischen Mohls frühem Beitrag und der späteren Utopieforschung deutlich zu machen, kann ζ. B. auf Peter Uwe Hohendahls wegweisende Studie zum Erzählproblem des utopischen Romans hingewiesen werden, in der er von einer »traditionellen Bestimmung« von der Utopie als einem »mehr oder weniger systematische[n] Bild eines vollkommenen Lebenszustandes« ausgeht." Sowohl bei Mohl als auch bei Hohendahl kommt der Anspruch auf Vollkommenheit als entscheidendes inhaltliches Gattungsmerkmal zur Geltung, die mit der literarischen Form »eine Verbindung eingehen« kann. 1 0 0 Mohls Definition sowie die in seinem Artikel aufgelisteten Werke, zu denen u. a. Piatons Politeia, Tommaso Campanellas Civitas Solis (1602-23), Johann Valentin Andreaes Christianapolis (1619) und Francis Bacon Nova Atlantis (1624) gehören, bestätigen, dass »Staats-Roman« hier als Synonym für die später als »Utopie« eingestufte Romangattung auftritt. Sowohl die geschichtliche Kontinuität der Gattung als auch die logische Kohärenz des Gattungsbegriffes erscheint damit als gesichert. Durch die Hinweise auf die Darstellung eines Idealzustandes als definitorisches Merkmal sowie auf Thomas Morus' Utopia als archetypisches Beispiel wäre die auf Eindeutigkeit und Dauer zielende Definition der Gattung des Staatsromans ein Faktum. Aber der Eindruck trügt. Schon bei Mohl kann beobachtet werden, wie diese scheinbar eindeutige und stabile Gattungsdefinition ins Gleiten gerät. Schwierigkeiten bereiten in diesem Zusammenhang interessanterweise vor allem die einschlägigen Texte des 18. Jahrhunderts, die dadurch zum wirklichen Prüfstein fur die von Mohl propagierte Gattungsdefinition werden. Zwar fehlt es in dieser Periode nicht an »dichterischen Gebilden vom Staate«; »im Gegentheile sind sie häufiger als je«, schreibt Mohl, »aber sie sind flau und unbedeutend.« 101 Wie kommt er zu diesem Urteil? Das erste Beispiel liefert der schon oben besprochene Telemaqiie von Fenelon, das umso interessanter ist, weil dieser Roman, wie oben festgestellt, zu den prototypischen Texten des aufgeklärten Staatsromans gehört. Gegen die Zuordnung dieses Romans zu den Staatsromanen spricht vor allem, dass sein Zweck ein anderer ist: Fenelon schildert keinen Idealstaat, sondern es soll darin »ein junger Fürst Unterricht über seine Pflicht in allen Lebensverhältnissen erhalten.« 1 0 2 Damit ist die Definition des Staatsromans an eine Grenze gelangt, jenseits derer sich ganz andere Gattungsintentionen und Gattungsmuster befinden.
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Ebd., S. 27. Hohendahl: » Z u m Erzählproblem des utopischen Romans im 18. Jahrhundert«, S. 79. Ebd. Mohl: »Die Staats-Romane«, S. 50. Ebd.
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Die Gattung, von der sich Mohl an dieser Stelle abgrenzen will, ist offenbar die Gattung des Fürstenspiegels, für die Fenelon ein besonders literarisch gelungenes Beispiel bietet. Die von Mohl dargestellte diachrone Gattungsgeschichte, von Piaton zu fitienne Cabet, wird an dieser Stelle — typischerweise u m Abgrenzungen vorzunehmen - synchron und systematisch erweitert. Dabei geht es u m keine lineare Entwicklung, sondern um die Vernetzungen eines Gattungsensembles, in dem eine Gattung, die Utopie, sich von einer anderen, dem Fürstenspiegel, absetzt. Gerade solche Grenzen gilt es hier zu thematisieren, wobei festzuhalten bleibt, das eine Grenze zwischen zwei Gattungen nicht notwendigerweise »außertextlich« sein muss, sondern auch mitten durch den Text laufen kann. 1 0 3 Dieser Punkt in Mohls Darstellung, der ihm selbst offensichtlich als problematisch erscheint, wird von Vertretern der späteren Utopieforschung, vor allem von Wolfgang Biesterfeld und Ludwig Stockinger, aufgegriffen. Beide machen zwei prinzipielle Einwände gegen den Begriff »Staatsroman« im allgemeinen und seine Verwendung bei Mohl im besonderen geltend: Der erste Einwand gilt der Abwertung des Literarischen durch den Wortbestandteil »Roman«, der bei Mohl eine offenbar pejorative Bedeutung hat. 1 0 4 Der Staatsroman wäre daher eine Zwittererscheinung, die weder zur Wissenschaft noch zur Dichtung im eigentlichen Sinne gehört. Der zweite und fur die Zwecke dieser Arbeit weit interessantere Einwand betrifft aber gerade das Verhältnis des Gattungsbegriffes »Staatsroman« zu den angrenzenden Gattungen und Gattungsbegriffen. Stockinger bezeichnet den Terminus als »missverständlich«, weil er »eine Abgrenzung der Utopia-Trzdition von dem ebenfalls >Staatsroman< genannten Typ der romanhaft erzählten politischen Aktion erschwert« - für den er Barclays Roman Argents als Beispiel heranzieht. 105 Ebenfalls sieht Biesterfeld den Terminus als »unglücklich« a n , 1 0 6 weil er den »althergebrachten Irrtum« weiterfuhrt, zwei literarische Formen, die in Wahrheit »konträr zueinander stehen«, Utopie und Fürstenspiegel, in einem Begriff zusammenzufassen. 1 0 7 Die Gegensätzlichkeit der beiden Gattungsmus-
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Zur Distinktion »innertextlich«/»außertextlich« vgl. Jurij Lotman: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Karl Eimermacher, München 1972, S. 169ff. Vgl. Wolfgang Biesterfeld: Die literarische Utopie. 2. neubearbeitete Auflage, Stuttgart 1982, S. 2f.; Ludwig Stockinger: »Aspekte und Probleme der neueren Utopiediskussion in der deutschen Literaturwissenschaft«, in Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Band 1, Frankfurt am Main 1985 [1982], S. 120; und ders.: Ficta Respublica. Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts, Tübingen 1981, S. 15f. Vgl. Stockinger: »Aspekte und Probleme«, S. 120. Barclays Argenis, stellt Stockinger fest, ist ein »Text, der den Absolutismus verteidigen soll und der einer anderen Gattungstradition angehört« (S. 128). Biesterfeld: Die literarische Utopie, S. 2. Ebd., S. 66.
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ter bringt Biesterfeld selbst auf die folgende Formel: »die U t o p i e will über bestehende Verhältnisse hinaus, der Fürstenspiegel sucht diese zu legitimieren und optimal zu gestalten.« 1 0 8 O b w o h l Biesterfeld in dieser Feststellung einen wichtigen Punkt der Gattungsgeschichte der Aufklärung anspricht, haften seiner Position eine Reihe sowohl gattungstheoretischer als auch historischer Probleme an. Zunächst wäre zu bezweifeln, o b die von Biesterfeld erstrebte klassifikatorische Eindeutigkeit der Gattungsbegriffe erreicht werden kann; z u m zweiten lässt sich, zumindest für die Literatur des 18. Jahrhunderts, schwierig entscheiden, welche Texte wirklich oppositionell u n d utopisch u n d welche nur reformatorisch u n d deshalb legitimierend wirkten. Z u z u s t i m m e n ist indessen d e m sowohl von Biesterfeld als auch von Stockinger vertretenen Urteil, dass der von M o h l entwickelte Gattungsbegriff höchst ambivalent ist. D i e Frage ist aber, o b diese begriffliche Ambivalenz nicht in der Tat eine Voraussetzung für die gattungsgeschichtliche u n d interpretatorische Wirksamkeit des Begriffes »Staatsroman« darstellt, oder anders formuliert, o b nicht gerade in dieser Ambivalenz eine Möglichkeit zu erkennen wäre, die Werke des späten 18. Jahrhunderts a u f die in ihnen stattfindenden Gattungsverhandlungen hin zu untersuchen.
2.4.2 Die Aufspaltung der Gattungstraditionen: Staatsroman vs. Utopie I m m e r h i n besteht M o h l in seinem Aufsatz über die Geschichte des Staatsromans zunächst a u f der Einheitlichkeit der G a t t u n g ; die Frage ist nur, inwiefern es den verschiedenen Autoren gelungen ist, die d e m G a t t u n g s m u s t e r eigene utopische A m b i t i o n zu realisieren. Wenn er den Beitrag über die Staatsromane in sein zwischen 1855 u n d 1858 erschienenes Hauptwerk über Die Geschichte ratur der Staatswissenschafien
und
Lite-
a u f n i m m t , hat er die Darstellung allerdings einer
nicht unwesentlichen Revision unterzogen. 1 0 9 Er hat die Vorstellung von einem einheitlichen K a n o n , von Piaton zu Cabet, im Kontext dessen auch Fenelons Telemaque
u n d Hallers Roman-Trilogie, zwar als unbefriedigende Beispiele, be-
sprochen werden können, zugunsten einer Zweiteilung der Gattungsintentionen aufgegeben. A u f der einen Seite will er die Tradition der Staatsromane als »Schilderungen freigeschaffener Zustände« festhalten, zu d e m Piatons Politeia, Utopia u n d Bacons Nova Atlantis
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Morus'
g e h ö r e n ; 1 1 0 auf der anderen Seite stellt er sich
Ebd. Vgl. die Einwände G. F. Guhrauers: »Der erste deutsche Staatsroman«, in Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben 2/1852, S. 7 3 4 754. Mohl: Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. In Monographien dargestellt. Band 1, Erlangen 1855, S. 171flf.
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aber eine zweite Tradition oder Textreihe vor, nämlich die Staatsromane als »Idealisierungen bestehender Einrichtungen«, die mit Xenophons Kyropädie anfängt und mit Hallers Romantrilogie zu Ende kommt. 1 1 1 In diesem Sinne wird die von Biesterfeld als Kritik am Begriff des »Staatsromans« angeführte Dichotomie zwischen Utopie und Fürstenspiegel von Mohl selbst in der zweiten Fassung seiner Darstellung vorweggenommen. Die zweite Textreihe ist allerdings, so Mohl, der ersten unterlegen, sowohl in literarischer Qualität als auch in politischer Imagination: »Sie ersinnen also«, schreibt er, »nicht ganz neue Grundlagen u n d Formen des Lebens, sondern sie entkleiden nur ein in der Wirklichkeit vorhandenes Verhältnis von allen erfahrungsgemäß ihm anklebenden Mängeln, u n d theilen ihm dagegen alle irgend wünschenswerten guten Eigenschaften bei.« 112 Die Affinität dieser Werke zur Gattung des Fürstenspiegels zeigt sich vor allem darin, dass sie sich in den meisten Fällen »die Fürstenherrschaft zum Gegenstande gewählt haben.« 1 1 3 Mit dieser Teilung begründet Mohl einen alternativen Kanon nicht unbedingt utopischer, doch aber ausgesprochen politischer Texte, der wesentlich zu dem hier entwickelten Verständnis des Staatsromans beiträgt. Z u m ersten Mal stellt sich bei Mohl die Frage: Worin könnte der politische Gehalt eines Werkes bestehen, das nicht unbedingt utopisch, im Sinne von wirklichkeitsüberschreitend, ist, sondern das im Gegenteil die bestehende politische u n d soziale Wirklichkeit im Blick behält? Die durch Mohl eingeleitete Reflexion über die zwei Formen des Staatsromans wird in den einschlägigen Beiträgen zum Reallexikon der deutschen Literaturvon 1928/29 und von 1984 weitergeführt. Für beide Ausgaben des Lexikons gilt, dass sie keinen Eintrag zum Stichwort »Utopie« enthalten, doch aber zum »Staatsroman«. Im Eintrag von 1928/29 wiederholt Walter Rehm die von Mohl ins Feld geführten Argumente, indem er in seiner Gattungsdefinition streng zwischen politischem Inhalt und ästhetischer Form unterscheidet. Die Bedeutung des Staatsromans, so Rehm, liege in seinem »soziologischen Charakter«, da »er stets Ausdruck einer gärenden Übergangszeit ist«; »dichterisch-ästhetischen Wert« habe er indessen nur selten. 114 Ebenfalls übernimmt er Mohls Zweiteilung in »Idealisierung schon vorhandener staatlicher Einrichtungen« einerseits u n d frei erschaffene Staatsgebilde andererseits. 115 Für die erste Kategorie prägt Rehm die
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Ebd., S. 203ff. Ein früher Kritiker dieser Einteilung ist Friedrich Kleinwächter, der behauptet, dass Mohl die Romane ebenso wohl »nach dem Format« hätte einteilen können. Siehe Kleinwächter: Die Staatsromane. Ein Beitrag zur Lehre vom Communismus und Sozialismus, Wien 1891, Nachdruck: Amsterdam 1967, S. 7. 112 Mohl, ebd., S. 203. 113 Ebd. 114 Walter Rehm: Art. »Staatsroman«, in Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Herausgegeben von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Band 3, Berlin 1928/1929, S. 293. •'5 Ebd.
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Bezeichnung »der eigentlich politisch-historische Stfaatsroman]«, der sich »eng an die Geschichte anlehn [t]«; für die zweite dagegen verwendet er den Terminus »eigentliche Utopie«, die »von allem geschichtlich und geographisch Gegebenen [losgelöst]« ist. 116 Die Beispiele sind auch dieselben wie bei Mohl: Xenophon für den Staatsroman, Piaton fur die Utopie. Neu im Vergleich zu Mohls Darstellung ist jedoch das von Rehm an den Tag gelegte Epochenbewusstsein, das auch weiterhin fiir das Verständnis des Staatsromans eine große Rolle spielen wird: »Das rationalistische 18. Jh.«, behauptet er, »nimmt wohl die literarische Gattung des St[aatsromans] auf, aber bezeichnenderweise nicht in der seinem Wesen widersprechenden Form der phantastischunwirklichen Utopie, sondern in der anderen Form, der des politischen, auf gesichertem historischen und geographischen Grund beruhenden St[aatsroman]s«. Realisiert wird diese Gattungsintention durch den »biographischen Fürstenspiegel«, der an Xenophon anknüpft und »im Idealmonarchen [...] die Bedingung für einen Idealstaat sieht«. 117 Daraus zieht er die folgende Konsequenz: »Der Stfaatsroman] wird zum Zeitroman, denn im historischen, oft sehr durchsichtigen Gewand werden Geschichte und Probleme der Gegenwart behandelt«. 118 Neben Haller hebt Rehm Justis Psammitichus und Wielands Goldnen Spiegel als Beispiele hervor. Für Wielands Roman prägt er weiterhin den Begriff »philosophischen Staatsroman« und erklärt ihn zugleich zum »künstlerische [n] Höhepunkt des deutschen St[aatsroman]s« wie auch zum »klassische[n] Fürstenspiegel der deutschen Literatur«. 119 Die von Mohl und Rehm vertretene These von der Aufspaltung der Gattungstraditionen bildet auch den Ausgangspunkt fiir die Darstellung Werner M. Bauers in der Ausgabe des Reallexikons νon 1984. Zu diesem Zeitpunkt scheint der Gattungsbegriff des »Staatsromans« nicht mehr der Forschungslage zu entsprechen, die sich seit den sechziger und siebziger Jahren an einem weit umfassenderen Begriff der Utopie und des Utopischen orientiert. Trotz Bauers Einsicht, dass »die von der älteren Lit[eratur] vorgenommene Gleichsetzung von Staatsroman und Utopie« nicht mehr »stimmig« erscheint, bleibt er jedoch am überlieferten Gattungsbegriff haften. 120 Auch er unterscheidet demzufolge zwischen dem »historischen« und dem »utopischen« Staatsroman, indem er auf die Kyropädie und die Politeia als antike Grundmuster zurückgreift. Bei Bauer kommt aber in den Bestrebungen, diese beide Gattungstraditionen voneinander abzugrenzen, ein neues Element hinzu, das weder bei Mohl noch bei Rehm mitgedacht wurde:
Ebd. Ebd., S. 294. 1 1 8 Ebd. 1 1 9 Ebd., S. 295. 120 W e r n e r M. Bauer: Art. »Staatsroman«, in Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Band 4. Herausgegeben von Klaus Kanzog und Achim Masser, Berlin/New York 1984, S. 173. 116
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die Frage nach dem temporalen Bezug. Der Gegensatz zwischen historischem und utopischem Staatsroman wird als ein Gegensatz zwischen dem Rückwärtsgewandten, Vergangenheitsbezogenen einerseits und dem Vorwärtsgewandten, Zukunftsbezogenen anderseits konzipiert. »Die belehrende Absicht der Kyropädie«, behauptet Bauer, »wird durch den Bezug zu Vergangenem verwirklicht«; Piatons Politeia dagegen, weist auf etwas hin, was »durch bewusst angestrebte ethische Veränderung des Menschen Zukunft werden kann«. 121 Die in der Gattung des Staatsromans sowie in den angrenzenden Gattungen mobilisierten Zeitverhältnisse oder Zeitrelationen sind ein aufschlussreiches Thema, vor allem im Hinblick auf die Romane Jean Pauls. Anhand von Bauers Beitrag kommen indessen bereits einige mit einer gattungsgeschichtlichen Annäherung zur Thematik der Zeit verbundene Schwierigkeiten zum Vorschein, die hier kurz erläutert werden sollen. Die Vorstellung einer utopischen »Wunschzeit«, die in der Zukunft die Erfüllung der Wünsche der Gegenwart verspricht, geht auf Alfred Dörens wegweisende Arbeit von 1927 zurück. Darin grenzt Dören die Zukunftshoffnungen, »die ideale Verlängerung des zeitlich erkennbaren Geschehens im Sinne eines notwendigen Vorwärtsschreitens zu einem imaginären [...] Wunschziel«, von den Fernphantasien, »die willkürliche Bildprojektion eines Wunschraums« ab. 1 2 2 Diese Unterscheidung kann allerdings nur auf historischer Grundlage getroffen werden. Bei den »Utopien und Chiliasmen« gehe es, so Dören, um geistesgeschichtliche »Sehnsuchtsformen«, die in ihrem »Nebeneinander«, ihrem »Sicheinandernähern« historisch untersucht werden müssen. 123 Dagegen glaubt Bauer, mit seiner Distinktion zwischen vergangenheitsbezogenen und zukunftsbezogenen Staatsromanen eine gattungssystematische Distinktion entdeckt zu haben, die zu allen Zeiten gültig wäre. Auf dieser Grundlage kommt er zur Behauptung, dass schon Piatons Politieia Zukunftshoffnungen und Fortschrittskonzepte enthält, die aber in Wirklichkeit, wie auch Dören betont, den Griechen völlig fremd waren. 124 Dieser Anachronismus Bauers illustriert auf deutliche Weise die Notwendigkeit eines historischen, nicht nur theoretischen oder klassifikatorischen Gattungsbegriffes. Trotz der anachronistischen Ausrichtung seiner Argumentation spricht Bauer ein sehr wichtiges Thema an, das in der Forschung zum Staatsroman lange vernachlässigt wurde. Nicht zuletzt die Vorstellung von der utopischen Insel — die bei Jean Paul ein wiederkehrendes Motiv darstellt - gibt ein archetypisches
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Ebd., S. 170. Alfred Dören: »Wunschräume und Wunschzeiten (1924/25)«, in Arnhelm Neusäss (Hg.): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. 2. Auflage, Neuwied/Berlin 1972, S. 126. Ebd., S. 152. Vgl. ebd., S. 129ff.
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Bild eines »Wunschraumes« oder einer »Raumutopie«, 125 die ihre Existenz vor allem ihrer Abgesondertheit von der übrigen geschichtlichen Welt und zugleich ihrer Ausgehobenheit aus dem Strom der geschichtlichen Zeit verdankt; sie ist - der ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes u topia gemäß - ein »Nicht-Ort«. Aber gerade das Angebot an »Nicht-Orten« war nach den Entdekkungsreisen eines Columbus, eines Bougainville und eines Cook, der 1770 die Ostküste Australiens umschiffte, so gut wie erschöpft. Geographisch gab es vor den Mängeln und Leiden, von der Unterdrückung und Willkür der zivilisierten und politisierten Welt kein Entkommen mehr. Temporal aber, nicht im Raum, sondern in der Zeit, lag die Zukunft als Projektionsfeld für utopische Wünsche und Hoffnungen offen. Für diesen Ubergang von Raumutopie zur Zeitutopie hat Koselleck die Formulierung »Verzeitlichung der Utopie« geprägt. 126 Das erste Beispiel einer Zeitutopie in der Geschichte abendländischer Literatur findet er in Louis-Sebastian Merciers Roman L'an deux mille quatre cent quarante. Reve s'il en fict jamais von 1770/71, der im Medium des Traumes den Sprung aus der pre-revolutionären Gegenwart in eine utopische Zukunft vollzieht. Sowohl bei Wieland als auch bei Jean Paul können Anspielungen auf den Roman Merciers erkannt werden, der in Deutschland großen Nachhall fand. Für die deutsche Literatur hat allerdings Voßkamp in mehreren Aufsätzen diese »Verzeitlichung der Utopie« unter einem anderen Aspekt untersucht: Mit der »politischen Utopie Merciers am Anfang des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts in Frankreich,« behauptet er, »korrespondiert [...] die individualpsychologische und ästhetische Utopie des deutschen Bildungsromans.« 127 In den Aufsätzen Kosellecks und Voßkamps werden damit zwei Gattungsmuster auf ihre unterschiedlichen Zeiterfahrungen und Zeitschichten hin untersucht, die beide — die Utopie und der Bildungsroman - durch Konventionen und Intentionen mit der Gattung des Staatsromans aufs engste verbunden sind. Auch in den Romanen Wielands und Jean Pauls können Prozesse der Verzeitlichung erkannt werden, durch welche die politischen Bedeutungselemente dieser Romane zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angesiedelt werden. Diese Zeitrelationen darzustellen, ist eine wichtige Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Auffällig in den oben zitierten Lexikonbeiträgen Mohls, Rehms und Bauers zum Gattungsbegriff des »Staatsromans« ist weiterhin, dass die Aufspaltung der Gattungstraditionen ganz ohne Mitwirken gattungspoetologischer Reflexionen stattfindet. Entscheidend für die Einordnung eines Textes ist nicht, was Mohl
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Zu diesem Begriff vgl. ζ. B. Voßkamp: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«, S. 37. Koselleck: »Die Verzeitlichung der Utopie«, in Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Band 3, Frankfurt am Main 1985 [1982], S. 1-14. Voßkamp: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«, S. 37. Vgl. auch »Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution«, bes. S. 338f.
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etwas herablassend die »erzählerische Einkleidung« nannte, sondern immer der Inhalt, dessen Bezug zur historisch-konkreten Wirklichkeit das einzig gültige Gattungsmerkmal darstellt. Im Gegensatz zu seinen Vorläufern versucht jedoch Bauer am Ende seiner Darstellung die poetologische Perspektive mit einzubeziehen, indem er sich anschickt, das für die ganze Gattung kennzeichnende »Ineinander von epischer Fiktion und philosophisch-historischer Lehrmeinung« zu beschreiben. 128 Zu den Voraussetzungen für diese poetologische Wende gehören eine Reihe von Arbeiten zur Geschichte und Theorie des Romans, für die Georg Lukacs mit seiner Theorie des Romans von 1918 zumindest teilweise Pate gestanden hat. Dementsprechend signalisiert das Ausbleiben gattungspoetologischer Reflexionen in der früheren Forschung nicht nur die überwiegend politischen Erkenntnisinteressen, 129 sondern auch eine große, ins 18. Jahrhundert zurückgehende Unsicherheit darüber, worin die ästhetische Leistung des Romans überhaupt bestehe — eine Frage, die zunächst Lukacs und dann später Wolfgang Kayser, Käthe Hamburger, Eberhard Lämmert und Frank K. Stanzel zu beantworten versuchen. 130 Im gewissen Sinne, könnte man behaupten, kommen jedoch diese an sich herausragenden Arbeiten zu spät, um den Gattungsbegriff »Staatsroman« für die Literaturgeschichte zu retten. Teilweise als Kritik an der in diesem Gattungsbegriff vertretenen Auffassung von Literatur (als Einkleidung politischer Thesen) und von Utopie (als rein literarhistorischem Phänomen) bildeten sich alternative theoretische Traditionen heraus, die sich entschieden der Autonomie des Literarischen und des Utopischen zuwendeten. 2.4.3 »Literatur ist Utopie« oder der Abschied vom Staatsroman im Kontext der Autonomieästhetik Literatur ist Utopie ist der Titel eines 1978 erschienenen literaturwissenschaftlichen Sammelbandes, herausgegeben von Gert Ueding. 1 3 1 Der Staatsroman, könnte man vielleicht im Sinne dieses Titels hinzufügen, sei weder Literatur noch Utopie, sondern als gattungsgeschichtlicher Terminus lediglich ein unzeitgemäßes Versatzstück eines längst überholten Forschungsstandes. Diese Gat-
Bauer: Art. »Staatsroman«, S. 179ff. 129 Vgl. Reichert: »Utopie und Staatsroman«, S. 263. '30 Vgl. Georg Lukacs: Theorie des Romans. Versuch über die Formen der großen Epik. 2. Aufl., mit einem Vorwort des Autors, Berlin 1 9 6 3 [1920]; Wolfgang Kayser: »Die Anfänge des modernen Romans im 18. Jahrhundert und seine heutige Krise«, in DVjs 4/1954, S. 4 1 7 - 4 4 6 ; Käthe Hamburger: Die Logik der Dichtung. Dritte Auflage, Stuttgart 1 9 7 7 [1957]; Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. 2. durchges. Auflage, Stuttgart 1 9 6 7 [1955]; und Frank K. Stanzel: Typische Formen des Romans, Göttingen 1964. 1 3 1 Vgl. Gert Ueding (Hg.): Literatur ist Utopie, Frankfurt am Main 1 9 7 8 . 128
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Staatsroman und Außlärung
tung ist ja seit ihren literaturhistorischen Anfängen ein Zwitter gewesen, unfähig oder sogar unbereit, sich zwischen ästhetisch ambitionierter Belletristik und pädagogisch angelegter Staatswissenschaft sowie zwischen der absoluten Negation des utopischen Romans und der nuancierenden Kritik des Fiirstenspiegels zu entscheiden. Der Abschied vom Forschungsgegenstand Staatsroman war in zwei der wichtigsten wissenschaftsgeschichtlichen Tendenzen der Nachkriegszeit angelegt, die parallel verliefen und die jeweils die Autonomie des Literarischen und die Autonomie des Utopischen zum Ziel hatten. Der Zusammenfall dieser in der Philosophie, in den Sozialwissenschaften, in der Politikwissenschaft und in der Literaturwissenschaft stattfindenden Bestrebungen, das Literarische sowie das Utopische dem Gattungszwang des Staatsromans zu entziehen, kommt u. a. im oben zitierten Titel zur Sprache. Die Utopie, schreibt Ueding in der Einleitung, »ist ja generell Vorgriff der Einbildungskraft auf neue Erlebniswirklichkeiten«; 132 Literatur, behauptet er an anderer Stelle, »ist der kulturelle Mechanismus, der die bedeutend verschlüsselten Erkenntnisse der Phantasie durch die Sprache in die lineare und folgerichtige Perzeption unseres Bewusstseins übersetzt«. 133 Dass Literatur Utopie ist, heißt im weiteren Sinne, »dass sie nicht identisch mit Realität ist«, und im engeren Sinne, »dass ihre Beziehung zu dieser Realität wie die der Erfüllung zum Mangel ist«. 1 3 4 Die »Sozialutopien und Staatsromane« bringen »nur besonders deutlich« dieses utopische Prinzip zum Ausdruck. 1 3 5 In dem darauf folgenden Essay von Burghard Schmidt wird ein für allemal festgestellt: »Utopie ist keine Literaturgattung.« 136 Ähnliche Argumente können, wie unten zu zeigen ist, bei einer Reihe von Literaturwissenschaftlern, von Benno von Wiese bis zu Rainer Nägele, nachgewiesen werden. Gemeinsamer Fluchtpunkt dieser Darstellungen ist, dass sowohl dem Literarischen als auch dem Utopischen eine Eigengesetzlichkeit zugeschrieben wird, die sich jeder sozialgeschichtlichen oder gattungsgeschichtlichen Eingrenzung widersetzt. Eine besonders gelungene Formel für diese Doppelbewegung der Ästhetik und der Utopik findet sich bei Klaus L. Berghahn und Hans Ulrich Seeber: »Der utopischen Intention entsprechen auf Seiten der Ästhetik Autonomie und Vor-Schein.« 137 Das Signal zum Aufbruch gegen die veralterten, überwiegend gattungshistorisch verankerten Vorstellungen der Utopie und des Utopischen gab vor allem der Philosoph Ernst Bloch, zunächst in seinem Frühwerk Geist der Utopie (1918) und dann vor allem in seinem Spätwerk Das Prinzip Hoffnung (1959): »Ja, Uto-
132 133 134 135 136 137
Ueding: »Literatur ist Utopie«, in ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. Burghard Schmidt: »Utopie ist keine Literaturgattung«, in ebd., S. 17—44. Klaus L. Berghahn/Hans Ulrich Seeber: »Einleitung«, in ders. (Hg.): Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart, Königstein/Th. 1983, S. 21.
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pisches,« schreibt er in seinem opus magnum der fünfziger Jahre, »fällt mit dem Staatsroman so wenig zusammen, dass die ganze Totalität Philosophie notwendig wird (eine zuweilen fast vergessene Totalität), um dem mit Utopie Bezeichneten inhaltlich gerecht zu werden.« 138 Gegen die gattungsgeschichtliche Reduktion des Utopischen stellt er die ganze Breite seiner eigenen Darstellung, die eine fast unendliche Fülle von Beispielen eines »antizipierenden Bewusstseins« so wie Wunschbilder aller Art auffindet und analysiert. 139 Nach Bloch haben sich Philosophen, Sozialwissenschaftler, Politikwissenschaftler und Literaturwissenschaftler zum Thema der Utopie und des Utopischen geäußert, und zwar mit einer Intensität, die in der Tat an die von Bloch selbst angezweifelte Totalität der Philosophie glauben lässt. 140 Ziel war nicht mehr, konkrete politische Phänomene, wie seit Mitte des 19. Jahrhunderts den Sozialismus, oder konkrete literarische Texte oder Textgruppen, sowie die Staatsromane, zu beschreiben und als mehr oder weniger utopisch einzuordnen. Im Gegenteil ging es um das Utopische schlechthin, das auf eine anthropologische, psychologische oder sogar ontologische Ebene verlagert, und als Bedingung, als Ursprung zahlloser historischer Erscheinungen verstanden wurde. 141 Aus einer anscheinend endlosen Reihe historisch kontingenter »Wunschbilder« folgert beispielsweise Bloch, dass »lediglich die Intention auf Utopisches« unverändert bleibt, »invariant« ist. 142 Um dieses Invariante zur Sprache zu bringen wird dann in der theoretischen Utopieforschung eine Reihe einschlägiger Formeln gebildet: In diesem Sinne spricht Karl Mannheim von »utopischem Bewusstsein«, Raymond Ruyer von »utopischer Methode [ m o d e utopique]« und Max Horkheimer von »utopischer Intention«. 143 Die enge Verbindung zwischen der Autonomie des Utopischen und der Autonomie des Literarischen lässt sich ζ. B. bei Benno von Wiese, in seinem Werk Zwischen Utopie und Wirklichkeit von 1963, nachvollziehen. Im ersten Aufsatz will er die Literatur und die Interpretation literarischer Texte gegen diejenigen verteidigen, die »die dichterischen Dokumente nur als Zeugnisse für eine der
Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. In ftinfTeilen. Kapitel 1—37, Frankfurt am Main 1959, S. 14. 1 3 9 Vgl. ebd., bes. S. 49ff. 1 4 0 Für eine Darstellung der Utopie-Debatte in Deutschland vgl. u. a. Arnhelm Neusüss: »Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens«, in ders. (Hg.): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. 2. Auflage, Neuwied/Berlin 1 9 7 2 [1968], S. 1 3 - 1 1 2 . 141 Vg[ dazu Peter J. Brenner: »Aspekte der philosophischen Utopieforschung«, in Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Band 1, Frankfurt am Main 1 9 8 5 [1982], S. 1 1 - 6 3 . 1 4 2 Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 557. 1 4 3 Vgl. Karl Mannheim: Art. »Utopia«, in: Encyclopaedia of the Social Sciences. Edited by Edward R.A. Seligman und Alvin Johnson. Band XV, New York 1935, S. 2 0 0 - 2 0 3 ; Raymond Ruyer: L'Utopie et les utopistes, Paris 1950, bes. S. 9 - 2 4 ; Max Horkheimer: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1930, bes. S. 7 7 - 9 4 . 138
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Staatsroman undAuflilärung
Geschichte aufgezwungene, außerkünstlerische S i n n g e b u n g m i s s b r a u c h e n « 1 4 4 u n d nicht das »Erfassenwollen eines Gegenstandes nur u m des Gegenstandes willen« als Ziel aller Literaturforschung anerkennen. 1 4 5 D a s Z e n t r u m des Werkes bildet wiederum sein Aufsatz zur » U t o p i e des Ästhetischen« bei Schiller, der laut Wiese »nicht bloß als geschichtliche A b h a n d l u n g über Schillers Philosophie« gemeint ist, sondern »von diesem Felde aus die grundsätzliche Frage nach d e m Dichterischen als dem Utopischen« a u f w i r f t . 1 4 6 D a b e i stellt er die T h e s e auf, »dass eigentlich alle D i c h t u n g von Rang, soweit sie sich selbst absolut versteht, bereits ihrem Wesen nach utopischen Charakter hat, auch w o sie keineswegs einen utopischen Inhalt zu ihrem besonderen G e g e n s t a n d gemacht h a t « . 1 4 7 U m d e n breiten Niederschlag dieser Vorstellung zu veranschaulichen, könnte weiterhin auf Nägeles Einleitung zu seinem Hölderlin-Buch Literatur
und
Utopie
v o n 1978 hingewiesen werden. Auch Nägele will den Begriff des Staatsromans abschaffen, »haben wir es hier d o c h mit einem P h ä n o m e n des menschlichen Bewusstseins zu t u n « , 1 4 8 u m schließlich das Utopische endgültig für die Literatur oder sogar die Kunst im allgemeinen zu gewinnen. Zwar bleibt die Utopie durch ihren Negationscharakter immer a u f die politische u n d soziale Wirklichkeit bezogen, im Sinne einer » M a n g e l e r f a h r u n g « , 1 4 9 d o c h dieses »Noch-Nicht« setzt eine »psychische Energie« frei, die sich entweder als »gesellschaftliche Praxis« oder als »Phantasie« ä u ß e r t . 1 5 0 Diese Phantasie ist wiederum der Ursprung der »bildprägende[n] D y n a m i k « , die Nägele als das strukturelle Kennzeichen der utopischen Intentionalität in der Literatur versteht. 1 5 1 Sowohl Wiese als auch N ä g e l e illustrieren a u f diese Weise den Zusammenfall zwischen der als a u t o n o m gesetzten Literatur u n d d e m sowohl entformalisierten als auch enthistorisierten Begriff der Utopie. Was bleibt aber v o m »Staatsroman«? Z u m ersten kann dieser Gattungsbegriff k a u m den in der Literaturfors c h u n g erhobenen Anspruch auf A u t o n o m i e des literarischen Werkes erfüllen. Z u r Definition der G a t t u n g gehört im Gegenteil der sowohl formale als auch historische B e z u g auf nicht-literarische Gattungen, den Fürstenspiegel, den politischen Traktat, Werke politischer Philosophie usw. Z u m zweiten ist der Staatsromans laut der Forschung von einem bestimmten u n d bestimmbaren Verhältnis zur geschichtlichen Wirklichkeit gekennzeichnet (»eng an die Geschichte ange-
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Benno von Wiese: Zwischen Literatur und Wirklichkeit. Studien zur deutschen Literatur, Düsseldorf 1963, S. 16. Ebd., S. 28. Ebd., S. 6. Ebd., S. 85. Rainer Nägele: Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, Heidelberg 1978, S. 15. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Ebd. S. 27.
Der Staatsroman als
Forschungsproblem
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lehnt«). Unter die Staatsromane im eigentlichen Sinne gehören also nur Romane, die sich nicht, mit den Worten Wieses, »als absolut verstehen«, sondern in denen der Anspruch auf Autonomie durch den Bezug auf die Wirklichkeit als politischen Handlungsraum sowie durch kontinuierliche Verhandlungen zwischen Text und Kontext relativiert wird. Zur Konklusion kann festgestellt werden, dass der Gattungsbegriff des »Staatsromans« den in der Forschung gemachten Autonomieansprüchen im Namen der Literatur oder der Utopie nicht hat standhalten können. Zwar gibt es in der Ausgabe des Reallexikons von 1984 immer noch das Stichwort »Staatsroman«, aber darüber hinaus fällt in der späteren Forschung vor allem der Mangel an kanonischen oder zumindest produktiven Definitionen auf. Teils in den einschlägigen Literaturgeschichten, teils in Einzelstudien macht sich zwar der Begriff geltend, dann aber, wie oben im Hinblick auf Wieland und Jean Paul schon angesprochen, meistens ohne erkennbare gattungsgeschichtliche oder gar interpretatorische Ansprüche. Im Gegenteil hat die Forschung weitgehend die Urteile Blochs oder Nägeles übernommen und den Staatsroman an die Peripherie gedrängt — während die Begriffe der »Utopie« und des »Utopischen« auf immer neue Bereiche übertragen worden sind. Angestrebt wird hier allerdings keine Wiederherstellung des klassifikatorischen Gattungsbegriffes »Staatsroman«, wie dies bei Mohl, Rehm und Bauer zu finden war, sondern vielmehr eine Wiederbesinnung auf einige in dieser Tradition zur Diskussion gestellten, in der späteren Utopieforschung aber vergessenen Bestimmungen. Die Reaktualisierung der Gattung in Bezug auf die hier zu interpretierenden Texte setzt voraus, dass der Staatsroman als eine eminent historische Erscheinung verstanden wird und dass er aus seinem historischen Kontext so wie aus seinem Verhältnis zu anderen Gattungen, im synchronen Nebeneinander und im diachronen Nacheinander, untersucht werden muss. Durch diese zugleich historische und systematische Betrachtung der Gattung gelangen ebenfalls die oben angesprochenen Unterscheidungen zwischen Autonomie und Wirklichkeitsbezug sowie zwischen Utopischem und Politischem zu neuer Geltung — als Themen der Gattungsgeschichte. Ausgangspunkt einer solchen Untersuchung muss aber, um eine Formulierung Schings zu übernehmen, eine Reflexion über den »historischen Ort des Staatsromans« sein. 1 5 2
2.4.4
Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung: Historischer O r t und systematische Stelle
Im Hinblick auf seine wissenschaftliche Tragfähigkeit muss es als problematisch erscheinen, dass der Gattungsbegriff »Staatsroman« von erfahrenen Utopiefor-
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Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«, S. 158. Vgl. dazu auch Naumann: »Zwischen Reform und Bewahrung. Zum historischen Standort der Staatsromane Albrecht von Hallers«, bes. 2 2 5 - 2 3 9 .
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Staatsroman
und
Aufklärung
Schern wie Stockinger und Biesterfeld verworfen wird, weil er ihrer Meinung nach wichtige Grenzziehungen zum utopischen Roman und zum Fürstenspiegel nicht zur Kenntnis nähme. In beiden Fällen haben wir es aber mit einem normativen oder zumindest klassifikatorischen Gattungsbegriff zu tun, dessen gattungsgeschichtliche Grundlagen nicht hinreichend mitgedacht werden. In Anknüpfung an Voßkamps Beschreibung der Gattungen als »historisch bedingter Kommunikations- und Vermittlungsformen« 153 wäre es dagegen möglich, zu einer näheren Bestimmung des aufgeklärten Staatsromans als »Antwort« auf die Herausforderungen des historischen und literarischen Kontexts des 18. Jahrhunderts zu gelangen. 154 Die Gattung des Staatsromans hat daher weder eine bestimmte noch eine kontinuierliche Funktion, sondern kann als eine »bestimmte Reaktion« auf die diskontinuierliche Geschichte, »auf andere literarische Texte, Traditionen, Erwartungen, Bedürfnisse und historische Konstellationen« verstanden werden. 155 Für Voßkamp bedeutet Gattungsgeschichte immer auch »Funktionsgeschichte der Literatur«, als »eine detaillierte historische Rekonstruktionsarbeit, bei der die Rolle und Funktion des einzelnen literarischen Texts, bzw. der einzelnen literarischen Gattung im Kontext des jeweiligen literarischen und sozialen Gesamtsystems einer Epoche oder eines begrenzteren Zeitabschnitts zu ermitteln gesucht wird.« 1 5 6 Gegen diese Vorstellung von Literatur als »Antwort« und »Reaktion« auf Geschichte werden allerdings sofort zwei Einwände gebracht: zum einen, dass das literarische Werk sich nie nur reaktiv, sondern immer auch kreativ und innovativ zu seinem Kontext verhält und insofern nicht von einem »Antwort-Modell« 157 erfasst werden kann; 1 5 8 und, zum anderen, dass der historische Kontext kein Ensemble objektiv gegebener Fakten darstellt, die - im Sinne einer Inversion dieses »Antwort-Modells« - zur Auflösung der Widersprüche des literarischen Textes herangezogen werden können, sondern selbst einer hermeneutisch informierten Interpretation bedarf. 159 In der oben beschriebenen Politisie-
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Voßkamp: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«, S. 27. Ebd., S. 32. Ebd. Voßkamp: »Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte«, S. 33. Voßkamp: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«, S. 32.
Vgl. ζ. B. in diesem Sinne die Determinismuskritik Eugenio Coserius, der mit H u m boldt Sprache nicht als ergon — Werk - sondern als energeia - Tätigkeit versteht. In der Literatur wie im Sprechen überhaupt geht es deswegen u m eine »freie und zweckgerichtete Tätigkeit, die in sich ihren Zweck findet und Verwirklichung eben dieses Zweckes ist«. Siehe Coseriu: Synchronie, Diachronie u n d Geschichte. D a s Problem des Sprachwandels, München 1974, S. 39. 159 Y g | Montrose: »Professing the Renaissance«, S. 20ff. In diesem Sinne setzt sich die vorliegende Arbeit entschieden von der im Titel seiner Studie verkündeten Absicht Heinz Schlaffers ab, »literarische Widersprüche sozialgeschichtlich aufzulösen«. Dabei weist Schlaffer auf die »Unstimmigkeiten« eines literarischen Werkes hin, die sich nicht werkimmanent auflösen lassen, sondern erst »in ihrer Fremdheit«, d. h. aus der Geschichte heraus, verstanden werden können. Siehe Schlaffer: D e r Bürger als Held. So158
Der Staatsroman als Forschungsproblem
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rung soll dagegen ein Prozess erkannt werden, der Text und Kontext in gleicher Weise durchläuft und immer zugleich Frage und Antwort darstellt. Zu Beginn seiner Ausführungen zum Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung stellt Schings fest: »Die Aufklärung in Deutschland ist keineswegs die Zeit der Utopien.« 160 Damit bringt er zwei Bestimmungen - eine epochale und eine nationale - ins Spiel, die fortan zu den festen Bestandteilen in den Diskussionen zur Geschichte dieser Gattung in Deutschland gehören. Bereits bei Mohl und Rehm hat sich gezeigt, wie sich, sozusagen als Nebeneffekt ihrer Bestrebungen um den Staatsroman, ein Bild des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat, das als Vorform eines Epochenbegriffes »Aufklärung« verstanden werden könnte. Zu den epochalen Kennzeichen des 18. Jahrhunderts gehört nicht das phantastisch-unwirkliche Entwerfen utopischer Welten, sondern vielmehr das Nachdenken über die Verbesserungsmöglichkeiten einer historisch und geographisch abgesicherten Gegenwart. Zu einer ähnlichen Konklusion kommt Bloch in seinem Abriss der Geschichte der Utopien. Für das 18. Jahrhundert gilt: »Aufgeklärtes Naturrecht an Stelle von Sozialutopien«. Ohne um einen Epochenbegriff bemüht zu sein, heißt es bei ihm weiter: »Das gedacht Abgeleitete gibt sich als bindend, als schlechthin geltend, statt des Nirgendwo der Vernunft erscheint ihr ableitbares Überall.« 161 Unumstritten ist diese Behauptung von der >antiutopischen< Aufklärung indessen nicht. Dagegen behauptet zum Beispiel der Historiker Thomas Nipperdey, die Aufklärung sei eine besonders »utopienahe Zeit« 1 6 2 und Raymond Trousson nennt das 18. Jahrhundert »l'äge d'or de l'utopie«}63 Diese Urteile scheinen auch von den bibliographischen Arbeiten Biesterfelds und Werner Krauss' bestätigt zu werden. 164 Diese divergenten Auffassungen beruhen zum Teil auf unterschiedlichen Utopiebegriffen, aber auch auf unterschiedlichen chronologischen und geographischen Abgrenzungen. Laut Hiltrud Gnüg verschwinden die Utopien, »Staatsutopien ä la Mercier«, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. 165 Andere dagegen behaupten, dass das utopische Denken gerade in dieser Zeit und gerade in Deutschland endlich zu sich selbst kommt, zum Beispiel in der »idealistischen Utopie« Hölderlins. 166
zialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche, Frankfurt am Main 1 9 7 3 , ζ. B. S. I47ff. 1 6 0 Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«, S. 151. 1 6 1 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 6 2 9 . 162 Thomas Nipperdey: »Die Funktion Utopie im politischen Denken der Neuzeit«, in Archiv für Kulturgeschichte 4 4 / 1 9 6 2 , S. 3 6 6 . 1 6 3 Raymond Trousson: D'Utopie et d'Utopistes, Paris/Montreal 1998, S. 147. 1 6 4 Biesterfeld: Die literarische Utopie, S. 4 8 - 5 1 ; Werner Krauss (Hg.): Reise nach Utopia. Französische Utopien aus drei Jahrhunderten, Berlin 1964, S. 16. 1 6 5 Hiltrud Gnüg: Der utopische Roman, München/Zürich 1 9 8 3 , S. 112. 1 6 6 Hans-Ulrich Hauschild: Die idealistische Utopie. Untersuchungen zur Entwicklung des utopischen Denkens Friedrich Hölderlins, Frankfurt am Main 1977.
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Staatsroman und Aufklärung
Der Gattungsbegriff »Staatsroman«, der eine Literatur anvisiert, die in das politische Leben der Gegenwart eingreift und seine grundsätzlichsten Fragen zur Debatte stellt, ist unwiderruflich mit dem Epochenbegriff »Aufklärung« verwoben. Zur Präzisierung seines Antwort-Modells, dessen Begrenzungen bereits angesprochen wurden, schlägt Voßkamp vor, Gattungen als »geschichtliche >Bedürfnissynthesem« zu betrachten, in denen »bestimmte historische Problemstellungen bzw. Problemlösungen oder gesellschaftliche Widersprüche artikuliert und aufbewahrt sind«. 1 6 7 Für den Staatsroman in Deutschland im 18. Jahrhundert wäre die historische Problemstellung die Aufklärung, als eine zugleich prozessuale und epochale, nationale und internationale »Geschehenseinheit«, um den Begriff Kosellecks zu verwenden. Um die historische Situation in Deutschland im 18. Jahrhundert zu beschreiben, wird immer wieder auf die Vorstellung einer »deutschen Misere« 168 zurückgegriffen. Die Diagnose ist inzwischen wohl bekannt: »Ökonomische Rückständigkeit, politische Zerstückelung und Kleinstaatsabsolutismus« 1 6 9 haben der politischen Aufklärung in Deutschland den Boden entzogen. In Deutschland gab es im 18. Jahrhundert nichts, keinen Staat, kein Volk und kein Bürgertum, das in der Literatur oder überhaupt zum Träger emanzipatorischer Wünsche erhoben werden konnte. Unfähig, einen glaubwürdigen Rahmen für ihr gesellschaftliches Denken zu finden, haben sich die deutschen Schriftsteller im Laufe des 18. Jahrhunderts in den Innenraum der Subjektivität zurückgezogen. Mit der Revolution in Frankreich würden in Deutschland Bildungsroman und philosophischer Idealismus korrespondieren. In seiner Darstellung spricht Horst Brunner daher von einem »innere[n] Unterschied zwischen der Literatur in Deutschland und in den westeuropäischen Staaten«: 170 während in Frankreich und England »Sozialutopien« verfasst wurden, in denen »der Staat« und »die zeitliche Wohlfahrt der Gesellschaft« im Mittelpunkt standen, 171 entwickelte sich in Deutschland die »Fluchtutopie«, in der ein religiös motivierter, in der mittelalterlichen Mystik verankerter »Rückzug auf die Innerlichkeit« dargestellt und vollzogen wurde. 1 7 2 Eine ähnliche Perspektive findet sich bei Stockinger. Nach ihm konzentrierte sich die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts auf »das Problem der Widerherstellung des menschlichen Subjekts in der harmonischen Totalität seiner Seelenkräfte«; dafür geeignet waren vor allem die Gattungen des Bildungsromans, der Erlebnislyrik und der idealistischen Kunstphilosophie, die »an die systematische Stelle getreten sind, die im Gattungssystem anderer Natio-
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Voßkamp: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«, S. 32. Gabrielle Bersier: Wunschbild und Wirklichkeit. Deutsche Utopie im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1981, S. 114f. Ebd., S. 114. Horst Brunner: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur, Stuttgart 1967, S. 142. Ebd., S. 143. Ebd., S. 141.
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nalliteraturen Texte aus der Tradition der utopischen Erzählung eingenommen haben«. 173 Die Erlebnislyrik und die Kunstphilosophie können hier vernachlässigt werden, Aufmerksamkeit muss aber, wie schon in der Einleitung betont, dem Bildungsroman zukommen. In Anknüpfung an die These Stockingers bahnt sich die folgende Frage an: Wenn es in der Tat die »spezifisch deutsche[] Literaturgattung« des Bildungsromans ist, 174 und darin stimmen Stockinger und Voßkamp weitgehend überein, die im Gattungssystem des 18. Jahrhunderts an die Stelle der literarischen Utopie tritt, wo wäre dann der Staatsroman einzuordnen? Im Ubergang vom 17. zum 18. Jahrhundert wird die Utopie, so Voßkamp, einem »beginnenden Subjektivierungsprozess« ausgesetzt, 175 infolgedessen das handelnde Individuum immer deutlicher als Subjekt utopischer Phantasien auftritt. Seine paradigmatische Ausprägung findet dieser Prozess in der Gattung des Bildungsromans als Darstellung individueller Selbstvervollkommnung. 1 7 6 Sowohl Voßkamp als auch Schings ordnen Utopie, Staatsroman und Bildungsroman einer chronologischen Linie zu. Am Anfang des 18. Jahrhunderts wurde in Deutschland die klassische Utopie aus der Tradition von Morus und Bacon vom Staatsroman abgelöst, der wiederum als Vorstufe zum Bildungsroman zu betrachten ist. 177 Der »historische Ort des Staatsroman« zeichnet sich nach Schings »zwischen klassischer Utopie und Bildungsroman« ab. 1 7 8 Beide erkennen aber zugleich, dass das 18. Jahrhundert ein Zeitalter der gattungsgeschichtlichen »Mischformen« 1 7 9 ist und dass verschiedene Gattungsintentionen und Gattungskonventionen daher durchaus nebeneinander existieren und miteinander in Konkurrenz treten können. Aus diesem Zusammenspiel von synchronen und diachronen Perspektiven scheint zu folgen, dass der Staatsroman einerseits eine systematische Stelle im synchronen Gattungssystem der deutschen Nationalliteratur des 18. Jahrhunderts bezieht, die einen Konvergenzpunkt verschiedener Gattungskonventionen und Gattungsintentionen darstellt, und andererseits im diachronen Prozess des Gattungswandels seinen historischen Ort hat, zwischen den traditionellen, aus der Antike und später aus der Renaissance herrührenden Gattungen der Uto-
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Stockinger: »Aspekte und Probleme«, S. 1 2 1 . Voßkamp: »Probleme und Aufgaben«, S. 60. Vgl. dazu auch Martin Swales: »Der deutsche Bildungsroman in komparatistischer Sicht«, in Heinz Rupp/Hans-Gert Roloff (Hg.): Akten des IV. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980. Teil 3, Bern/ Frankfurt am Main/Las Vegas 1980, S. 1 1 7 - 1 2 4 . Voßkamp: »Die Macht der Tugend«, S. 177. Vgl. Voßkamp: »Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution«, S. 338f. Vgl. Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«, S. 154; Voßkamp: »Die Macht der Tugend«, S. 178ff. Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«, S. 158. Voßkamp: »Die Macht der Tugend«, S. 178.
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Staatsroman
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Aufklärung
pie und des Fürstenspiegels und der in mancher Hinsicht durchaus modernen Gattung des Bildungsromans. Bei der Analyse der Romane Wielands und Jean Pauls wird sich vielmehr zeigen, dass die Gattung des Staatsromans vor allem durch eine Reihe von Gattungsverhandlungen, in denen diese synchronen und diachronen Beziehungen zwischen verschiedenen Gattungsmustern und Gattungskonventionen thematisiert, systematisiert und verrückt werden, historische Gestalt annimmt. Als Modell zur Vermittlung zwischen Sozialgeschichte und Literaturgeschichte, zwischen »deutscher Misere« und Staatsroman dient bei Schings die in Deutschland im 18. Jahrhundert sehr verbreitete Vorstellung der »Schwärmerei« oder des »Schwärmertums«. Kennzeichnend fur die deutsche Aufklärung ist, so Schings, dass die utopische Phantasie so wie die klassische utopische Gattung »unter Schwärmerei- und Melancholieverdacht« geraten. 180 Die Rolle des Schwärmers, des närrisch-melancholischen Enthusiasten, muss von den deutschen Autoren um jeden Preis vermieden werden. Die phantastisch-unwirkliche Utopie nimmt im Gattungssystem der Aufklärung daher eine höchst problematische Stellung ein. Die nationalliterarische Besonderheit, die Schings erklären will, ist aber keineswegs das Fehlen einer »vernünftige[n] Allianz von Aufklärung und Utopie«, sondern, in der Tradition von Mohl und Rehm, die Entstehung einer alternativen Gattung, die zu einem anderem »Gattungsstrang« gehört als der klassischen utopischen Tradition. Dabei geht es um eine Gattung, die, so Schings, »mit besonderem Recht den Namen >Staatsroman< fiihrt«. 181 Dieser »erneuerte Staatsroman« ist es, der die Stelle der utopischen Literatur im Gattungssystem der deutschen Aufklärung bezieht. 182 Für die weitere Definition des aufgeklärten Staatsromans wechselt Schings symptomatischerweise von der Poetologie in die Politik über: D a s Potential seiner Elemente bezeichnet die neuen leitenden Interessen: Fürstenspiegel und Fürstenerziehungsprogramm, Staatsformendiskussion und Darlegung der modernen >Policey-Wissenschaft^ vereinen sich hier zum historisch-politischen wie zum Erziehungs- und Entwicklungsroman. D i e Integrationskraft ist beträchtlich, absehbar indes auch ihr Zerfall. 1 8 3
Gerade in den Gattungsverhandlungen, die in den Romanen Wielands und Jean Pauls stattfinden, könnten die beiden von Schings aufgegriffenen, konträren Dynamiken — Integration und Zerfall - erkannt werden. Aus der Tatsache, dass po-
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Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«, S. 151. Z u m historischen »Schwärmerei«-Begriff Schings' vgl. auch Melancholie u n d Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, bes. S. 1 4 3 - 2 2 5 . Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«, S. 151f. Ebd., S. 152. Ebd.
Der Staatsroman ah Forschungsproblem
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litische Interessen und Themen die wichtigsten Bestandteile der Gattung darstellen und daher ebenfalls in diese Dynamiken verwickelt sind, macht Schings keinen Hehl. In der Tat hätten sich die Begriffe »Integration« und »Zerfall« ebenso wohl auf die Geschichte des aufgeklärten Absolutismus in Deutschland im 18. Jahrhundert beziehen können. In dieser Herrschaftsform, die, mehr oder weniger aufgeklärt, die gesamten deutschen Fürstentümer dominierte und im Preußen Friedrichs II. seine markanteste Ausprägung fand, könnte der gemeinsame Nenner oder das Integrationsprinzip aller von Schings genannten politischen Interessen und Praktiken erkannt werden. Aus diesem Zusammenfall von Politik und Poetologie entspringt auch seine vielleicht prägnanteste Gattungsdefinition, die auch den Rahmen der vorliegenden Arbeit absteckt: Der Staatsroman, behauptet Schings, ist das »genaue literarische Gegenstück des aufgeklärten Absolutismus«.184 Bei Schings sowie in der vorliegenden Arbeit wird eine Parallelität zwischen der Gattungsgeschichte des Staatsromans und der Geschichte des aufgeklärten Absolutismus behauptet. Der Fluchtpunkt dieser beiden Geschichten findet sich vor allem in den poetologischen und politischen Verhandlungen, die in den Romanen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geführt werden. Bei Wieland und Jean Paul werden sowohl die poetologischen Paradoxa des Staatsromans als auch die politischen Paradoxa des aufgeklärten Absolutismus zum Gegenstand literarischen Verhandeins. Die Frage, ob sich die Intention eines aufgeklärten Romans am besten durch die Gattungskonventionen eines Fürstenspiegels oder eines utopischen Romans verwirklichen lässt, geht - im einzelnen Werk und auf sehr verschiedene Weisen - mit der Frage, ob die politischen und konstitutionellen Ziele der Aufklärung am besten durch die Regierung eines absolutistischen Fürsten oder durch dessen Absetzung zu erreichen sind, einher. Mit dem Begriff »Gattungsverhandlungen« ist aber an sich nichts über die zweifellos nahe liegende Frage gesagt, wie und wo in den aktuellen Werken diese poetologisch-politischen Prozesse zu beobachten sind. Die Romane des 18. Jahrhunderts, zumal die Romane Wielands und Jean Pauls, sind von einem komplexen Zusammenspiel von diskursiven und narrativen Elementen gekennzeichnet, das zu den wichtigsten Neuerungen der Romangattung in dieser Periode gehört. Als Einfuhrung in die Fragestellung dieser Studie empfiehlt sich also zunächst, dieses Zusammenspiel von Diskurs und Handlung näher zu beschreiben. Zunächst wird auf zwei Kommunikations- oder Erzählmodelle eingegangen, in denen das Verhältnis zwischen Diskurs und Handlung auf verschiedene Weise angeordnet wird und die jeweils für die Romane Wielands und die Romane Jean Pauls charakteristisch sind. Um zu veranschaulichen, wie die Anordnung von diskursiven und narrativen Elementen einen textuellen und literarischen Rahmen für die in
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Ebd., S. 154.
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Staatsroman und Aufklärung
den Romanen geführten Gattungsverhandlungen bildet, wird dann der Erzählfunktion und der Erzählsituation in Wielands Goldnem Spiegel und Jean Pauls Unsichtbarer Loge nachgegangen. Interessant an der Zusammenstellung dieser Romane ist weiterhin, dass sie sich sozusagen an den beiden Extremen des hier entfalteten Gattungsspektrums befinden: einerseits ein kanonisierter Staatsroman oder Fürstenspiegel mit weit ausgebauter Staatslehre, andererseits ein Erziehungsroman, der, so der Tenor der Forschung, aufgrund seiner einseitigen Konzentration auf die innere Welt des Helden den Schritt in die Gattung des Bildungsromans nicht vollzieht.185 Besonders geeignet zur Veranschaulichung der Logik der Gattungsverhandlungen sind diese Romane insofern, als die jeweilige Erzählsituation nicht nur den Erzähler, sondern auch einen Gegenspieler, Widersacher oder Konkurrenten umfasst. Zwischen dem Erzähler und seinem Gegenpart spielen sich die Gattungsverhandlungen der Romane ab. In dieser Konstellation von Erzähler und Gegenspieler kann in mancher Hinsicht ein Idealtypus oder ein Paradigma der hier untersuchten gattungsgeschichtlichen Dynamik erkannt werden. Die Funktion des Gegenspielers besteht darin, die Erzählweise des Erzählers, seine poetologischen Präferenzen sowie den Wirklichkeits- oder Fiktionscharakter seiner Darstellung anzufechten und in Frage zu stellen sowie alternative poetologische Strategien, Gattungsmuster und Gattungskonventionen zur Sprache zu bringen. Zwischen Erzähler und Gegenspieler entsteht daher ein zugleich poetologischer und politischer Konflikt, der erst durch Verhandlungen verringert oder gar gelöst werden kann.
2.5
Narrative und diskursive Gattungsverhandlungen: Erzählparadigmen im Goldnen Spiegel und in der Unsichtbaren Loge
Als neue Formen der poetologischen Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts geht Weber auf das Romangespräch und den Erzählerkommentar ein, d. h. zum einen, wie die Romanfiguren in Gesprächen über die »Bedingungen ihres scheinhaften Seins« verwickelt werden,186 zum anderen, wie der Romanerzähler »theoretische Einzelaspekte der Romanpraxis« zur Sprache bringt. 187 In den Romangesprächen, behauptet er weiterhin, wird die »Gattungstheorie in
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Vgl. dazu ζ. B. Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 106: »Aber die Aufnahme des Erziehungs-Thema allein läßt das Buch noch nicht zu einem Bildungsroman werden. Dazu würde gehören, daß der Held seinen Konflikt mit der Welt austrägt, sich verändert und einen Ausgleich findet. Das aber ist gerade nicht der Fall.« Weber: Die poetologische Selbstreflexion, S. 104. Ebd., S. 110.
Narrative und diskursive
Gattungsverhandlungen
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einer für die Romanreflexion seltenen Vollständigkeit [...] vorgeführt«. 188 Sowohl das Romangespräch als auch der Erzählerkommentar sind, wie zu zeigen bleibt, wichtige Medien der im Hinblick auf die Konventionen und Intentionen der Gattung des Staatsromans geführten »Gattungsverhandlungen«; der Begriff selbst soll aber in einem weiteren Sinne verstanden werden. In Anknüpfung an die narratologischen Arbeiten Tzvetan Todorovs und Gerard Genettes, 189 ist vor allem zu betonen, dass Gattungsverhandlungen sowohl auf einer diskursiven als auch auf einer narrativen Ebene stattfinden können. In den Romanen Wielands und Jean Pauls werden sowohl der Akt des Erzählens (»Diskurs«), d.h. die Erzählerrolle, die Erzählsituation und überhaupt die Bedingungen des Erzählens, als auch der Inhalt des Erzählten (»Handlung«, auch »Fabel« und »Geschichte« genannt), d.h. der Charakter des Helden, die Handlungsabfolge und deren Schluss und Anfang, zum Gegenstand von Gattungsverhandlungen. Das Medium dieser Gattungsverhandlungen kann sowohl die Selbstdarstellungen und Selbstbefragungen des Erzählers als auch das Verhalten und die Handlungen der Romanfiguren sein. Dass daher im Hinblick auf die Romane Wielands und Jean Pauls keine klare Distinktion zwischen Diskurs und Handlung gezogen werden kann, ist nicht zuletzt in der Entstehungsgeschichte des Romans im 18. Jahrhunderts begründet. Der Ubergang vom Barockroman zum modernen Roman ist vor allem durch das Hervortreten eines persönlichen oder auktorialen Erzählers markiert. Fiel noch im Barockroman der Gang der Erzählung mit dem Gang der Welt, die diskursive Sinngebung durch den Erzähler mit der narrativen Sinngebung durch die Figuren, das Bezeichnende mit dem Bezeichneten zusammen, hat sich im modernen Roman der Erzähler von dieser Logik der Kongruenz befreit und tritt fortan als Person, als persönliche Stimme an die Leser heran. Laut Kayser liegt »das Neue der modernen Romanform gegenüber dem Barockroman [ . . . ] in dem fiktiven, aber so merklichen persönlichen Erzähler mit seinem persönlichen Blick auf das Dargestellte und seinem persönlichen Verhältnis zu dem (fiktiven) Einzelleser«. 190 In der Sprache der Romantheorie stellt der Übergang vom Barockroman zum modernen Roman zugleich einen Übergang von einem »objektiven« zu einem »auktorialen Kommunikationsmodell« dar. 191 Vor diesem Übergang war der Erzähler noch eine anonyme Instanz, deren Funktion darin bestand, ein objektives
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Ebd., S. 104. Vgl. Tzvetan Todorov: »Les categories du recit littiraire«, in Communications 8/1966, S. 1 2 5 - 1 5 1 ; und Genette: Figures III, Paris, 1972, bes. S. 225ff. In beiden Texten werden zwei prinzipielle Arten der Sinngebung in narrativen Texten dargestellt: zum einen die Sinngebung mittels Darstellung, Kommentierung, Interpretation von Handlungen, zum anderen die Sinngebung durch das Handeln selbst. Kayser: »Die Anfänge des modernen Romans«, S. 4 3 1 . Burkhardt Lindner: Jean Paul. Scheiternde Aufklärung und Autorrolle, Darmstadt 1976, S. 3 1 .
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Staatsroman und Aufklärung
Geschehen zu vermitteln; danach hat er sich von dieser Erzählfunktion befreit und entfaltet im Erzählen seine eigene Persönlichkeit. Mittel dieser Befreiung sind vor allem Humor und Ironie, die es dem Erzähler ermöglichen, zu seinem Helden und dessen Welt auf Distanz zu treten und seine Intentionen und Handlungen kritisch in Frage zu stellen. 1 9 2 An diesem Ubergang, der in Deutschland nicht zuletzt durch die Rezeption der Romane Henry Fieldings und Laurence Sternes zu Stande kam, 1 9 3 nehmen sowohl Wieland als auch Jean Paul entschieden teil. In Wielands Don Sylvio von Rosalva (1764) erkennt Kayser den ersten Roman in deutscher Sprache mit einem persönlichen Erzähler, in der Nachfolge von Fieldings Joseph Andrews (1742) und Tom Jones (1749). 1 9 4 Noch während seiner Arbeit am Agathon setzt sich Wieland auch mit Sternes Tristram Shandy ( 1 7 5 9 - 6 7 ) auseinander, 1 9 5 in dem die Diskrepanz zwischen Diskurs und Handlung sowie zwischen Ideal und Realität noch weiter auseinanderklafft. Könnten das Ziel und die moralische Absicht des Romans bei Fielding sowie bei Wieland noch über die Möglichkeiten des Erzählers, mit dem Leser zu kommunizieren und ihm seine Intentionen ungestört zu vermitteln, gerettet werden, hat sich bei Sterne diese Gemeinsamkeit aufgelöst und, so Kayser, in eine »Abgründigkeit« verwandelt, »wenn alle Ordnungen, mit denen das 18. Jahrhundert die Welt deutet, hier ad absurdum geführt werden«. 1 9 6 Diesen Weg kann und will Wieland nicht gehen, allerdings Jean Paul. 1 9 7 In den Romanen dieses notorischen Außenseiters des deutschen literaturgeschichtlichen Kanons wird die Kommunikation mit dem Leser selbst zum Problem, indem der Erzähler zugleich das eigene Erzählvermögen sowie das Rezeptionsvermögen des Lesers in Zweifel zieht. Demzufolge nimmt die Selbstdarstellung des Erzählers bei Jean Paul eine weit wichtigere Stelle als bei Wieland ein. Nur indem der Erzähler sich selbst, seine Situation und seine Intentionen darstellt, kann er überhaupt mit dem Leser in Dialog treten. U m diesen Unterschied zwischen den beiden Autoren, der bei Kayser noch auf Etappen der Frühgeschichte des modernen Romans in Deutschland zurückzufuhren war, poetologisch zu reflektieren, entwirft Burkhardt Lindner zwei Romantypologien, die jeweils den Werken Fieldings und Wielands und den Werken Sternes, Diderots und Jean Pauls entsprechen. Beide Romantypen sind als »auktorial« zu bezeichnen, in dem Sinne, dass die Erzählerinstanz in einer Personen-
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Kayser: »Die Anfänge des modernen Romans«, S. 420ff. Zur Sterne-Rezeption Wielands und Jean Pauls vgl. die bahnbrechende Darstellung Peter Michelsens: Laurence Sterne und der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts, Göttingen 1962, S. 177-224, 311-394. Kayser: »Die Anfänge des modernen Romans«, S. 425f. Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman, S. 18Iff. Kayser: »Die Anfänge des modernen Romans«, S. 431. Vgl. dazu Lindner: Jean Paul, S. 73; Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman, S. 187; und Kayser: »Die Anfänge des modernen Romans«, S. 431.
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rolle auftritt, den Gang der Erzählung kommentiert und unterbricht und damit das Verhältnis zwischen Romanfiktion und Wirklichkeit problematisiert. 198 Ist aber der Erzähler bei Fielding und Wieland, die Lindner als Vertreter des »objektiv-auktorialen Aufklärungsromans« bezeichnet, noch ein sich zwar ständig einmischender, aber doch zuverlässiger Vermittler des Geschehens, hat er sich in dem von Sterne, Diderot und Jean Paul vertretenen Typus des »Diskursromans« von dieser Verpflichtung endgültig losgesagt und sich ganz den Bestrebungen um die eigene Erzählerrolle und Erzählsituation gewidmet. 199 Für Jean Paul gilt sogar, dass er über den von Sterne begründeten Diskursroman hinausgelangt: zum einen, indem die Selbstdarstellung des Erzählers nicht mehr auf einen konkreten Roman begrenzt ist, sondern »zur Basis eines unbegrenzbaren (also nur kontingent begrenzten) Gesamtwerks« gemacht wird; 200 zum anderen, indem er in seine Romane Nebentexte, Digressionen aus allerlei Textsorten integriert, von realistisch-niedriger Satire zu visionär-transzendenter Traumdichtung, die sehr unterschiedliche Erzählfunktionen und Erzählerrollen ermöglichen. Es ist dieses »durch keine Voraussetzung eingeschränkte Rollenspiel der Autor-Instanz«, 201 das Lindner durch die Vorstellung des »Generalautors« erfassen will: Der Generalautor Jean Paul probiert in allen Teilen des Gesamtwerks verschiedene Rollen aus und stellt in diesem Sinne selbst den eigentlichen Kern des Werkes dar. 2 0 2 Als Einfuhrung ins Hauptthema - das Aufzeigen der Wandlungen der Gattung des Staatsromans in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts — wird im folgenden anhand von Wielands Goldnem Spiegel und Jean Pauls Unsichtbarer Loge gezeigt, wie die Kommunikationsmodelle des objektiv-auktorialen Aufklärungsromans und des Diskursromans zu Medien der in den Romanen geführten Gattungsverhandlungen werden. Darüber hinaus stellen die folgenden Überlegungen zur Erzählfunktion, Erzählsituation und Erzählerrolle der beiden Romane einen Versuch dar, den Begriff der »Gattungsverhandlungen« aus dem Bereich der Theorie in den Bereich der Textinterpretation zu übertragen - auf eine Weise, die ihn für die weitere interpretatorische Arbeit anwendbar machen kann. 2.5.1 Erzählerrollen und Erzählsituationen Zur Darstellung der Erzählsituation von Wielands Roman Der Goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian, der 1772 in der Erstfassung mit dem Untertitel »Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt« erschien, wer-
Vgl. Lindner: Jean Paul, S. 71. Ebd., S. 73. 2 0 0 Ebd., S. 141. 2 0 1 Ebd. 202 v g l . ebd., S. 103. Zur Vorstellung vom »Generalautor«, vgl. auch Walther Rehm: »Jean Pauls vergnügtes Notenleben oder Notenmacher und Notenleser«, in ders: Späte Studien, Bern/München 1964, S. 122-214. 198
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Staatsroman und Aufölärung
den wir uns zunächst ins Schlafzimmer eines indischen Sultans begeben. Der arme Sultan Schach-Gebal kann nachts nicht einschlafen. Er hat mehr schlaflose Nächte als alle Tagelöhner seines Reichs Indostan zusammen. Ihn hätten vielleicht die Märchen aus Tausend und Einer Nacht z u m Einschlafen bringen können, wäre es nicht für seinen an Abscheu grenzenden Widerwillen gegen alles Wunderbare (vgl. GS 22f.). 2 0 3 Im Gegensatz zu seinem glorreichen Vorvater Schach-Riar, der im Anhören der phantastischen Märchen der Scheherezade sogar seine tödliche Eifersucht vergaß, verlangt Schach-Gebal von dem, was ihm zur Zerstreuung erzählt wird, völlige Glaubwürdigkeit u n d Abwesenheit von allem Wunderbaren. Also verfertigen ihm zwei seiner Höflinge ein »Geschichtsbuch« (GS 23), das nicht nur sein Verlangen nach dem Wahren u n d Wirklichen zufrieden stellen, sondern ihm auch einige nützliche Wahrheiten über die Regierung seines Reiches vermitteln soll. Die H a n d l u n g spielt im ehemaligen benachbarten Reich Scheschian u n d stellt, wie schon im Untertitel verkündet, eine »wahre Geschichte« oder, wie es später heißt, eine »Chronik« (GS 24) von den Königen des Reiches dar. Am Bette des schlaflosen Schach-Gebal sitzen in den Abendstunden die erste Mätresse des Sultans, die schwarzäugige Tschirkasserin Nurmahal, die ihm die Geschichte der Könige von Scheschian vorliest, der junge Mirza, der nach dem dritten G ä h n e n des zum Schlafen zu bringenden Sultans mit einem verabredeten Zeichen die Lesung beenden soll, u n d der Hofphilosoph Danischmend, dessen Aufgabe vor allem darin besteht, die wunderlichen u n d oft ganz nebensächlichen Fragen des Sultans nach Vermögen zu beantworten. Diese Fragen werden allerdings so zahlreich, dass Danischmend allmählich das Amt des Erzählers übern i m m t u n d selbst der Genealogie der scheschianischen Könige, vom Tyrannen Azor zum Idealherrscher Tifan, zum Besten gibt (vgl. GS 114). Die Zuhörerrolle des Sultans widerspiegelt wiederum - auf eine Weise, welche die im Roman stattfindenden Konvergenz von Poetologie u n d Politik antizipiert - gewissermaßen die Natur seiner Herrschaft: Er kann jederzeit nach eigener Willkür in die Erzählung eingreifen u n d die Voraussetzungen ändern, indem er den Erzähler lobt oder bedroht, befördert oder ins Gefängnis wirft. Selbst tritt Wieland als »Herausgeber« des zunächst im Scheschianischen verfassten, dann ins Chinesische u n d Lateinische übertragenen Textes auf. Er erzählt, wie er die Geschichte aus einer Kopie einer lateinischen Handschrift ins
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Mit der Sigle GS wird im folgenden zitiert nach: Christoph Martin Wieland: Der goldne Spiegel und andere politische Dichtungen. Nach dem Text der Ausgaben letzter Hand und der historisch-kritischen Akademieausgabe. Anmerkungen und Nachwort von Herbert Jaumann, München 1979. Eine textkritische Ausgabe der Erstfassung von Wielands Goldnem Spiegel liegt bis heute nicht vor. In den Anmerkungen Jaumanns zur Ausgabe letzter Hand werden allerdings sowohl die Stelle, wo die Erstfassung abgebrochen wurde, als auch einige in der Endfassung gestrichene Passagen angegeben. Vgl. GS 708.
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Gattungsverhandlungen
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Deutsche übersetzt hat, um sie dem deutschen Publikum vorzustellen (vgl. GS 24) 204 obwohl sich der Herausgeber ab und zu in die Darstellung einmischt, ζ. B. wenn er versichert, »der geneigte Leser [...] sollte glauben dürfen was ihm beliebt« (GS 24), wird die Erzählerrolle dieses als Herausgeber agierenden Autors nie zum expliziten Thema des Romans. Anstatt sich selbst als Erzähler selbstbewusst in Szene zu setzen, macht Wieland die Fiktion einer konkreten Erzählsituation zum zentralen Bestandteil der Romanhandlung. In dieser Fiktion mündlichen Erzählens, die vor allem auf Werke wie die Decamerone und eben Tausend und Eine Nacht zurückgreift, erkennt Lindner eine »Sonderform des objektiven Kommunikationsmodells«. 205 Möglicherweise ist aber »objektiv« nicht das richtige Wort, denn der eventuelle Objektivitätsanspruch des Herausgebers wird durch den ganzen Roman von anderen Stimmen aus der Uberlieferungsgeschichte des Textes in Frage gestellt. Objektivität muss allerdings in diesem Roman als eine mögliche Qualität des Textes, nicht des Erzählens - wie es später bei Jean Paul der Fall ist - verstanden werden. Dementsprechend besteht die Diskursivität des Goldnen Spiegels in einem Zusammenwirken verschiedener Perspektiven, unter denen keine im Besitz der eigentlichen Wahrheit ist, sondern alle am Austausch mehr oder weniger rationaler Argumente beteiligt sind. Die Teilnehmer an diesem Gespräch sind vor allem Danischmend und der Sultan, aber auch Nurmahal und Mirza, denen gelegentlich Kommentare zu bestimmten Themen in den Mund gelegt werden. Je nach Bedarf schickt der Sultan auch nach anderen wichtigen Personen in der Regierung Scheschians, wie ζ. B. dem Iman, die über einzelne Inhalte aus der vorgetragenen Erzählung ihre Meinung sagen sollen. Außerdem mischen sich immer wieder der Herausgeber und die Ubersetzer ins Gespräch ein, um in den Fußnoten ihre Kommentare und Erklärungen zu besonderen Themen zu geben. 206 Aus dieser Stimmenvielfalt ergibt sich im Goldnen Spiegel eine Schachtelung dichterischer Darstellung, Reflexion und Metareflexion, die zur Diskursivierung des zunächst »objektiven« Kommunikationsmodells führt und an seine Stelle ein offenes und launisches Gespräch stellt: Die Geschichte löst sich letztendlich in Geschichte, Kommentar der Geschichte und Kommen-
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Das Vorbild fur diese Herausgeberfiktion findet sich vor allem in den Märchenerzählungen von Crebillon Fils. Hermann Meyer hat gezeigt, wie Wieland die Einkleidung seiner Geschichte, d.h. die Fiktion ihrer Übertragung aus einer scheschianischen Handschrift in die europäischen Sprachen, aus Crebillons L'ecumoire (1734) und die Genealogie der unfähigen Sultane aus den beiden Erzählungen Le Sopha (1742) und Ah quel conte! (1754) übernommen hat. Vgl. Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäischen Romans, Frankfurt am Main 1988 [1961/1967], S. 92ff. Lindner: Jean Paul, S. 32. In seiner Vorschule der Ästhetik hat Jean Paul an Wielands Werken dieses Spiel mit Fußnoten, Herausgeber- und Ubersetzerfiktionen in der Nachfolge Sternes kritisiert und als »Noten-Prose« (SW I, 11, 114) abgelehnt.
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Staatsroman
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Aufklärung
tar des Kommentars auf. 207 Mit dieser mehrstimmig geführten Debatte über den Wahrheitsgehalt des Erzählten gehen auch die Gattungsverhandlungen einher, in denen der Hofphilosoph Danischmend und der Sultan als Gegenspieler auftreten und die, wie wir sehen werden, die Zuordnung der Erzählung zur Gattung der historischen »Chronik« zum Thema haben. Ein ganz anderes Kommunikationsmodell findet sich indessen in Jean Pauls Unsichtbarer Loge, mit dem Untertitel »Eine Biographie«. Mit diesem 1793 erschienenen Werk lag der erste Versuch des jungen Dichters Johannes Paul Friedrich Richter - der den nom de plume Jean Paul angenommen hatte - in der Gattung des Romans vor, nachdem er seit den Anfängen seiner schriftstellerischen Karriere schwerverkäufliche Satiren verfasst hatte. Als Hinweis auf den Gegensatz zwischen beiden Kommunikationsmodellen, in dem eine paradigmatische Darstellung des Übergangs vom auktorial-objektiven Aufklärungsroman zum Diskursroman zu erkennen ist, kann zunächst die geradezu konträren Erzählsituationen dienen: Wenn Danischmend das Amt des Erzählers übernimmt, befindet er sich also im Schlafzimmer des Sultans, von anderen Menschen umgeben, die immer wieder seine Erzählung unterbrechen und kommentieren; wenn sich dagegen der Erzähler der Unsichtbaren Loge zum ersten Mal an seine Leser wendet, sitzt er in einer »Kutsche« (L I, III)208 - in Sternes 1768 erschienenen A Sentimental Journey war es ein desobligeant209 - mit seiner »Schreibtafel« (ebd.) und verfasst in aller Einsamkeit die Vorrede zum Roman, »damit ich«, schreibt er, »unter dem Fahren nicht [...] aus der Kutsche hinaussehe« (ebd.). Auch für diesen in der Einsamkeit der Kutsche verfassten Monolog, der also nicht wie die Erzählung Danischmends mündlich vorgetragen wird, sondern sich des Me-
207 v g i . c j a 2 U Fohrmann: »Utopie, Reflexion, Erzählung«, S. 26. 2 0 8 Mit der Sigle L wird im folgenden zitiert nach: Jean Paul: Die Unsichtbare Loge. Eine Biographie. Herausgegeben von Klaus Pauler, München 1981. Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich dabei auf die Paginierung der zweiteiligen Erstausgabe. Die Wahl dieser Ausgabe als Textgrundlage fur die vorliegende Arbeit ist keineswegs unproblematisch, denn in der Fachkritik ist diese Edition des Romantextes im Großformat, mit zwei Kolumnen pro Seite (1793-Ausgabe und 1826-Ausgabe) und von anderen Texten (Vorarbeiten, Zitaten aus anderen Werken und zeitgenössischen Lexikonartikeln) durchschossen, oft sehr kritisch zur Kenntnis genommen worden. Vgl. dazu ζ. B. Engelhard Weigl: »Philologie im Rank-Xerox-Zeitalter«, in JbJPG 17/1982, S. 147-159. Das verhindert aber nicht, dass Pauler eine sehr wichtige Arbeit geleistet hat, indem er die Erstfassung der Unsichtbaren Loge in einer textkritischen Ausgabe zugänglich gemacht hat. Trotz des eigenwilligen Satzspiegels und der fehlende Korrektur der Druckfehler der editio princeps sehe ich keinen Grund, nicht von dieser wichtigen Arbeit zu profitieren. Um allerdings den Leser nicht unnötig zu ärgern, werden die Korrekturen offenbarer Druckfehler, die Jean Paul selbst fur die Zweitfassung des Romans vorgenommen hat, in Eckklammern angegeben. 209 Vgl. Laurence Sterne: Α Sentimental Journey through France and Italy and Continuation of the Bramine's Journal. Edited by Melvyn New and W.G. Day, Gainesville/Tallahasse/Tampa/Boca Raton/Pensacola/Orlando/ Miami/Jacksonville/F.T. Myers 2002, S. 13-17.
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Gattungsverhandlungen
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diums der Schrift bedient, und daher auch keine Gegenrede dulden muss, gilt allerdings, daß er durchaus dialogisch angelegt ist. In diesem Monolog entfaltet sich daher ein Erzählerdiskurs, der nicht nur - intentional - auf den Erzähler, sondern auch — pragmatisch — auf den Leser bezogen ist. Auf dem Weg auf den Fichtelberg schreibt der Erzähler seinen »Vorredner in Form einer Reisebeschreibung« (L I, III), um sich, wie er feststellt, »an eine Menge Leute gesprächsweise zu wenden«. Dabei muss er »wenigstens reden mit den Rezensenten — Weltleuten — Holländern — Fürsten — Buchbindern - mit dem Einbein und der Stadt Hof - mit Kunstrichtern und mit schönen Seelen, also mit neun Partheien« (L I, IV). Neunmal folgen darauf Leseanleitungen des Erzählers an diese Lesergruppen, durch die er sich versichern will, dass seine erzählerischen Absichten richtig verstanden werden. Zu einer paradigmatischen Darstellung von der Kommunikationssituation des Diskursromans wird Jean Pauls Vorrede zur Erstfassung der Unsichtbaren Loge, indem alle drei Instanzen eines pragmatischen Sender-Botschaft-EmpfängerModells vom Erzähler ironisch verfremdet und in Frage gestellt werden: Auf die Hinwendung des Erzählers an den Empfänger wurde bereits anhand der Leseanleitungen hingewiesen, die allerdings nicht nur einen, sondern sogar neun »Modellleser« ansprechen, denen allen eine besondere Rezeptionsweise vorgeschrieben werden. 210 Auch die zu vermittelnde Botschaft, die nichts anderes als der Roman selbst ist, wird auf ironisch verfremdende Weise in der Vorrede thematisiert und kommentiert: »Ueber den Plan eines Romans«, führt der Erzähler aus, »muß man schon aus dem ersten Bande zu urtheilen Befugnis haben« (L I, VXI). Auf diese Feststellung folgt, etwas überraschend, ein Bekenntnis des Erzählers zur aristotelischen Poetik der drei Einheiten, der Zeit, des Ortes und der Handlung (vgl. L I, XVIIf), was allerdings nur paradox anmuten kann, denn der Roman selbst, mit allen seinen Digressionen und Nebentexten, scheint letztendlich gerade auf Einheit wenig bedacht zu sein. Eben die Botschaft und die zu ihrer Vermittlung herangezogenen Konventionen, zumal die Gattungskonventionen, soll später zum Thema der im Roman geführten Verhandlungen werden, wenn der Erzähler mit seinem Gegenspieler, seinem Konkurrenten konfrontiert wird. Mitten in dieser paradox anmutende Darlegung der Prinzipien seines Romans unterbricht sich allerdings der Erzähler, um von seiner Reise zu erzählen: »Gegenwärtig trägt man das Einbein (mich) über den Fichtelsee und über zwei Stangen, die statt einer Brücke über diese bemooste Wüste bringen« (L I, XVIII). In diesem Auszug aus einer Reisebeschreibung wäre ebenfalls ein Hinweis auf die dritte Instanz des Kommunikationsmodells, auf den »Sender« zu erkennen, wobei sich aber die Frage stellt, wie wir diesen Selbstbezug - »das Einbein (mich)«
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Zum Begriff des »Modelllesers« vgl. Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1990, S. 6 1 - 8 3 .
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Staatsroman und Aufklärung
- verstehen sollen. Wer ist dieser Erzähler, der hier unter dem Namen »das Einbein« zum ersten Mal im Roman auftritt? Der erste Hinweis zur Beantwortung dieser Frage fand sich, paradoxerweise, aber zugleich in Ubereinstimmung mit der ironisch-dekonstruktiven Funktion dieser Vorrede, bereits auf der Liste der neun intendierten Leser und Lesergruppen des Romans. An sechster Stelle wurde hier das »Einbein« genannt, aber wenn der Erzähler jetzt auf das »Einbein« zu sprechen kommt, ist durch eine Inversion des pragmatischen Kommunikationsmodell aus dem Empfänger der Sender geworden: Mit dem Einbein, der sechsten Nummer, viel zu reden wie ich verhieß, verlohnt der Mühe gar nicht, da ich das Ding selber bin und noch überdies der einbeinige Autor heiße. Die Höfer (die Einwohner der Stadt Hof, der 7ten N.) worunter ich hause, mu[ß]ten mich mit diesem anti-epischen Namen belegen, weil mein linkes Bein bekanntlich ansehnlich kürzer ist als das andere und weil noch dazu unten mehr ein Quadrat- als Kubikfuß dran sitzt. (L I, Xllf.).
In dieser Passage tritt der Erzähler hervor, allerdings nicht als eine allgegenwärtige und zugleich unsichtbare auktoriale Instanz, sondern als ein Mensch aus Fleisch und Blut - sogar mit einem kürzeren linken Bein. Auch sein Wohnort wird angegeben: die Stadt Hof. Nur sein Name bleibt an dieser Stelle noch im Dunklen, indem er sich mit seinem Spitznamen »das Einbein« vorstellt. Seinen Taufnamen erfahren wir erst später, durch die unter dem »Vorredner« wiedergegebene Signatur, die nach Angabe von Ort (»Auf dem Fichtelgebirg«) und Zeit (»im Erntemond 1792«) auch den Namen des Erzählers mitteilt: »Jean Paul«- der also fortan nicht nur der Name eines real existierenden Schriftstellers, sondern auch der eines stark fiktionalisierten Erzählers ist (vgl. L I, XXIV). 2 1 1 Dass der Erzähler der Unsichtbaren Loge keine bloße Stimme darstellt, zumal eine äußerst persönliche, sondern in seiner eigenen Fiktion als denkende, fühlende und handelnde Person auftritt, können wir also schon der Vorrede entnehmen. Allerdings dauert es bis zum zwölften Kapitel des Romans, »Zwölfter Sektor« genannt, ehe uns der Erzähler über seine eigene Rolle und Identität im Roman aufklärt. In diesem Sektor hat er »eine neue Person zu präsentieren [...] - den Hofmeister meines Helden«. Wenn sich der Erzähler der Unsichtbaren Loge seinen Lesern vorstellt, ist er gerade im Begriff, sich beim Rittmeister von Falkenberg um eine Stelle als »Informator« für dessen Sohn Gustav zu bewerben und die Stelle auch zu bekommen (vgl. L I, l42ff.). In dieser Situation sieht er sich allerdings veranlasst, den Leser vor dem folgenden Fehlschluss zu warnen: Man muß nicht denken, daß ich Informator geworden, um Biograph zu werden, d.h. um pfiffiger Weise in meinen Gustav hinein zu erziehen was ich aus ihm wieder ins Buch herauszuschreiben trachtete: denn ich brauchte es erstlich ja nur wie ein Roma-
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In einer Fußnote am Ende vom ersten Sektor bestätigt der Erzähler noch einmal, dass er das »Einbein« genannt wird, aber »Jean Paul« heißt (L I, 24).
Narrative und diskursive Gattungsverhandlungen
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nen-Manufakturist mir blos zu ersinnen und andern vorzulügen; aber zweitens damals wurde an keine Biographie gar nicht gedacht. (L I, 145)
In dieser Passage bekennt sich der Erzähler zu seiner Aufgabe, das Leben Gustav von Falkenbergs ins Buch zu setzen und - wie es schon im Untertitel der Erstfassung des Romans heißt — »Eine Biographie« zu schreiben. An dieser Darstellung der Erzählsituationen und Kommunikationsmodelle der Romane Wielands und Jean Pauls fällt zunächst vor allem ihre scheinbar völlige Inkommensurabilität auf — die allerdings auch, in Anknüpfung an Kayser und Lindner, auf Etappen der Frühgeschichte des deutschen Romans zurückzuführen wäre. In beiden Romanen werden fiktive Erzählsituationen geschildert, die sich aber darin unterscheiden, dass der Erzähler des Goldnen Spiegels nur als Herausgeber auftritt und dem Hofphilosophen Danischmend die im Roman intensiv geschilderte Erzählerrolle überlässt, während der Erzähler der Unsichtbaren Loge selbst als handelnde, denkende, schreibende und, wie wir sehen werden, sogar liebende Person an der Romanhandlung teilnimmt und eben dadurch seine Erzählerrolle entfaltet. Auch die Kulissen beider Erzählersituationen - das Schlafzimmer eines orientalischen Sultans und die höfische Welt eines deutschen Fürstentums - zeichnen sich vor allem durch ihre Unterschiedlichkeit aus. Nicht desto weniger können diesen beiden Erzählsituationen einige gemeinsame Bestimmungen entnommen werden, die den Rahmen der in den Romanen geführten Gattungsverhandlungen festlegen: Zum einen sind beide Romane, sowohl der Goldne Spiegel als auch die Unsichtbare Loge, als Erzählungen über Erzählungen zu betrachten, zwar über eine mündlich vorgetragene »Chronik« einerseits oder über eine mühsam niedergeschriebene »Biographie« andererseits. Zum anderen - und darin schon vorweggenommen — finden in beiden Erzählsituationen Gattungszuordnungen statt, denen zufolge die Geschichte der Könige von Scheschian der Gattung der »Chronik«, die Lebensgeschichte Gustav von Falkenbergs der Gattung der »Biographie« zugeordnet wird. Für beide Gattungsangaben gilt weiterhin, dass sie ebenfalls in den Titeln der Romane erscheinen, im Falle der »Chronik« zwar in der allgemeineren Form einer »wahren Geschichte«, und damit einen doppelten Bezug haben, teils auf den Roman selbst, teils auf die im Roman erzählte Geschichte. Eben diese Gattungsangaben dienen im Goldnen Spiegel sowie in der Unsichtbaren Loge als Auslöser der in den Romanen geführten Gattungsverhandlungen. Mit der Romanhandlung verknüpfen sich diese Gattungsverhandlungen vor allem durch das Auftreten einer Person, die die Funktion hat, die Gattungskonventionen und -intentionen des Erzählers, Danischmends und des Einbeins, anzufechten, herauszufordern und in Frage zu stellen. Durch ihre Konfrontation mit anderen Gattungserwartungen und Gattungskonventionen geraten dadurch sowohl die »Chronik« als auch die »Biographie« in einen diskursiven und narrativen Wettstreit über ihre politischen und historischen Inhalte.
84
Staatsroman und Aufklärung
2.5.2
Der Erzähler und sein Gegenspieler
Der Ausgangspunkt der im Goldnen Spiegel geführten Gattungsverhandlungen ist die Behauptung Danischmends, die dem Sultan vorgetragene Geschichte der Könige von Scheschian gehöre in die Gattung der »Chronik«. Mit dieser Gattungsangabe spielt Wieland auf die Geschichtsschreibung und auf das Ideal geschichtlicher Wahrheit an, das in der romanpoetologischen Reflexion im 18. Jahrhundert ein Hauptthema darstellt. 212 Indem er auf eine rein chronologische Anordnung eines geschichtlichen Stoffes hindeutet, wird der Gegensatz zur fiktionalen Erzählung des Romans betont. In der Chronik, anders als in einer »Geschichte« oder einer »Historie«, werden die Einzelereignisse einfach den Etappen eines Zeitrasters zugeordnet, ohne dass die Darstellung strukturell oder dramaturgisch durchformt wäre - wofür die angekündigte Dynastiegeschichte der scheschianischen Könige ein anschauliches Beispiel liefert. Nach der anscheinend endlosen Reihe schlechter Herrscher, die den ersten Teil des Romans ausmacht, sind dem Sultan Zweifel gekommen, ob diese Geschichte faktisch als Chronik gelten kann. Zu Beginn des zweiten Teils des Romans fragt er daher Danischmend, ob er ihm nicht »einen guten König« (GS 157) geben kann, denn ihn dünkt, der Philosoph sei im Begriff ihm »eine Satire auf die Sultane von Scheschian« (GS 157) zu machen. Angesichts der Gefahr, der Sultan würde ihm eine auf das souveräne Herrschertum gerichtete Satire ankreiden, sieht sich Danischmend gezwungen, sich gegen diesen Verdacht zu verteidigen: »Wofern« (sagte Danischmend) »unter dem Wort Satire eine Rede oder Schrift verstanden wird, worin man zur Absicht hat jemanden verhaßt oder lächerlich zu machen: so verhüte der Himmel, daß mir jemals der G e d a n k e einfalle, eine Satire auf Fürsten zu machen, [...]. Aber unglücklicher Weise hat es unter den Großen zu allen Zeiten einige gegeben, deren Leben eine Satire auf sie selbst war; [...].« ( G S 158)
In seiner Antwort an den Sultan gibt Danischmend zunächst eine Definition der Gattung der Satire, im Hinblick auf die Wirkungsabsicht, die Pragmatik dieser Gattung: »jemanden verhasst und lächerlich zu machen«. Zur impliziten Voraussetzung dieser Definition gehört allerdings auch, dass die erzählte Geschichte ihren Anspruch auf geschichtliche Wahrheit aufgeben muss, denn eine Satire gehört wesentlich zum Bereich der Fiktion und geht auf einen persönlichen Erzähler zurück, was ζ. B. in der Formulierung »eine Satire auf Fürsten zu machen« zur Sprache kommt. Durch den Einwand des Sultans ist weiterhin die politische Kehrseite der Geschichte in den Vordergrund getreten. Schach-Gebal fühlt sich von den satirischen Ansätzen in der ihm vorgetragenen Geschichte bedroht. Als Antwort auf das antithetische Verhältnis zwischen Individuum und
212
Vgl. dazu ζ. B. Weber: D i e poetologische Selbstreflexion, S. 4 0 - 7 3 ; und Werner Hahl: Reflexion und Erzählung. Ein Problem der Romantheorie von der Spätaufklärung bis zum programmatischen Realismus, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971, S. 4 3 - 8 4 .
Narrative und diskursive
Gattungsverhandlungen
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Gesellschaft sowie auf die Wechselwirkung von Sein und Schein stellt die aufklärerische Satire eine Einlösung der Forderungen der Umwelt an das Ich, zumal an den absolutistischen Fürsten, dar. 2 1 3 Durch eine rhetorische Umkehrung des Verhältnisses von Fiktion und Wirklichkeit, durch die das Leben selbst zur Literatur, d.h. zur Satire, wird, gelingt es Danischmend zunächst, den in seiner Erzählung erhobenen Anspruch auf historische Realität aufrechtzuerhalten und dem Sultan glaubwürdig zu machen, ohne aber ihren Wahrheitsgehalt endgültig absichern zu können. Bei dem durch phantastische Märchen sensibilisierten Sultan ist der Verdacht aufgekommen, dass die Geschichte der scheschianischen Könige unter die literarischen Gattungen, nicht in den Bereich der Geschichtsschreibung einzuordnen wäre. Demnach hat die Geschichte ihren epistemologischen Halt als »Chronik« verloren und ist ins Gleiten geraten. Zwar versucht Danischmend ständig, seine Erzählung wieder in der Gattung der »Chronik« zu verankern, aber gegen die sowohl interpretatorische als auch herrschaftliche Willkür des Sultans verteidigt er sich vergebens. Zwischen den Gattungsintentionen des Hofphilosophen und den Gattungserwartungen des Sultans klafft ein Widerspruch, der fortan nicht mehr überbrückt werden kann, sondern zu immer neuen Gattungsverhandlungen Anlass gibt. Paradoxerweise gibt nicht das negative satirische Herrscherbild, sondern ein eindeutig positives, geradezu utopisches Gegenbild das Signal ftlr die nächste Runde der sich zwischen Philosophen und Fürsten abspielenden Gattungsverhandlungen. Als Danischmend an den Punkt seiner Chronik gelangt ist, wo der Idealfürst Tifan von seiner königlichen Herkunft sowie von seinem Erbrecht auf den scheschianischen Thron erfährt, unterbricht der Sultan erneut die Erzählung. Anlass der Unterbrechung ist die Mitteilung des Prinzenerziehers Dschengis an seinen Schüler, dass er vor seiner Thronbesteigung vom scheschianischen Volk als der »beste[] M a n n der Nation« (GS 234) anerkannt werden muss, weil nur eine »freie Wahl [ . . . ] den Würdigsten zum Throne rufen« (ebd.) kann. Der Sultan aber ist skeptisch: »Danischmend«, sagt Schach-Gebal — »ich fange an zu merken, daß du im Sinne hast, uns mit einem Romane zu beschenken. Bisher klang der größte Teil deiner Erzählung so ziemlich wie eine Geschichte aus dieser Welt. Aber dieser Dschengis, dieser Tifan\ Man erinnert sich nicht solche Leute gekannt zu haben! Nicht als ob ich etwas dawider einzuwenden hätte, daß sie so gute Leute sind! Aber ich hasse alles, was einem Märchen ähnlich sieht, Danischmend!« (GS 234)
Eben dieser Einwand des Sultans stellt ein anschauliches Beispiel dar, wie in den Gattungsverhandlungen zentrale Streitfragen im politischen Denken der Aufklärung aufgegriffen werden - oder anders gewendet, wie poetologische Verhand-
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Zur Gattung der Satire im Zeitalter der Aufklärung vgl. vor allem Jörg Schönert: Roman und Satire im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1969, bes. S. 50-53.
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Staatsroman und Aufklärung
lungen mit politische Verhandlungen einhergehen. Die Unterbrechung erfolgt, wenn Danischmend auf die Frage nach der Legitimität fürstlicher Herrschaft zu sprechen kommt. Tifan ist der Idealfiirst, dessen Recht auf den Thron nicht bezweifelt werden kann; die Frage nach dem politischen und moralischen Inhalt dieses Rechtes bleibt allerdings im Kontext des aufgeklärten Absolutismus umstritten: einerseits wird behauptet, dass der Fürst durch seine Herkunft, durch seine Angehörigkeit einer Herrscherdynastie ein Recht auf den Thron besitzt; andererseits wird gerade die gegenteilige Meinung vertreten, dass sich der Fürst erst durch seine Tugendhaftigkeit um den Thron verdient machen muss und sich dem Volke und dessen Entscheidung zur Verfügung zu stellen hat. 214 Als Antwort auf dieses Dilemma greift Danischmend zu einem politischen und narrativen Provisorium, das allerdings sowohl für den aufgeklärten Staatsroman als auch für den aufgeklärten Absolutismus paradigmatisch ist: Tifan ist der rechtmäßige Erbe auf den scheschianischen Thron, aber zugleich auch der beste Mann der Nation, den das Volk freiwillig und mit Freude zu ihrem König wählt. Politisch und narrativ scheint das Problem durch dieses Provisorium gelöst zu sein. Wenn aber der Sultan die Erzählung seines Hofphilosophen unterbricht, weist er auf den notwendigen Zusammenhang zwischen Politik und Gattung, zwischen der Lösung eines politischen Problems und den fur die narrative Darstellung dieser Lösung unentbehrlichen poetologischen Konventionen, hin: Solche idealen Gestalten wie Tifan und Dschengis, der Prinz und sein Erzieher, gehören nicht in die Gattung der Chronik, sondern können nur in einem »Roman« oder einem »Märchen« vorkommen. Der Widerwille des Sultans gegen alles Märchenhafte, »alles, was einem Märchen ähnlich sieht«, ist uns schon aus der Einleitung des Romans bekannt. Er verlangt von den ihm abends vorgetragenen Geschichten, dass »sie wahr und aus beglaubten Urkunden gezogen« sind und »nichts Wunderbares« enthalten (GS 23). Kommt der Erzähler diesen Anordnungen nicht nach, riskiert er, »dreihundert Prügel auf die Fußsohlen« (GS 45) zu erhalten. Der Sultan hat tatsächlich ein waches Auge fur die Gattungsmerkmale und Gattungskonventionen des Märchens: Als charakteristisch für diese von seinem Vorgänger Schach-Riar innig geliebte, von ihm aber ebenso innig gehasste Gattung erkennt er die »platten Historien von kleinen Buckligen, schwatzhaften Barbierern und liederlichen Königssöhnchen, welche [...] sich die Augenbraunen abscheren und Kalender werden«« (GS
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Zu diesen beiden Legitimierungsprinzipien souveräner Herrschaft, vgl. u. a. Horst Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft von der Revolution bis zum Vormärz. Band 2: Theorie der Monarchie, Köln/Weimar/Wien 1 9 9 1 , S. 7 3 2 - 7 5 3 ; Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1986, S. 1 8 9 - 2 1 1 ; und Emile Lousse: »Absolutismus, Gottesgnaden tum, Aufgeklärter Despotismus«, in Karl Ottmar Freiherr von Aretin (Hg.): Der Aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974, S. 8 9 102.
Narrative und diskursive
Gattungsverhandlungen
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4 4 ) . In der Erzählung Danischmends gibt es allerdings von solchen Motiven keine Spur. Unter »Märchen« als interpretatorischem Gattungsmuster muss hier etwas Anderes verstanden werden. In der oben zitierten Passage werden dementsprechend »Märchen« und »Roman« als Synonyme verwendet. Der gemeinsame Nenner stellt die schon erwähnte Vorstellung vom »Wunderbaren« ( G S 2 3 ) dar. Dabei sollte das Wunderbare nicht im Sinne Johann Jakob Breitingers als »vermummtes Wahrscheinliches« 2 1 5 verstanden werden, das die Wahrheit den M e n schen »desto beliebter und angenehmer« 2 1 6 machen soll, sondern als etwas, was sich mit dem Wahren und Wahrscheinlichen im absoluten Widerspruch befindet. Zum Wunderbaren gehören fur den Sultan vor allem die Gestalten Tifans und Dschengis', denn, betont er, man erinnert sich nicht »solche Leute gekannt zu haben«. Die Gattung des Politisch-Wunderbaren kann in diesem Zusammenhang nur die Utopie, die utopische Erzählung sein. D e r Verdacht des Sultans, Danischmend wolle ihn mit einem Märchen oder mit einem Roman beschenken, könnte daher als ein Versuch verstanden werden, die Erzählung und vor allem die Figur Tifans in die Gattung der Utopie zu verlagern, um sie auf diese Weise als schwärmerisch oder politisch gehaltlos entlarven zu können. A u f diesen Einwand des Sultans, der nicht nur die Wahrheit der Geschichte, sondern auch die Treue des Erzählers in Zweifel zieht, kann Danischmend keine angemessene Antwort finden. Ihm bleibt, im Rahmen der zwischen ihm und dem Sultan geführten Gattungsverhandlungen, nur die Möglichkeit des direkten W i derspruchs, ftir die er sich, nicht zuletzt wegen der ihm von Sultan angedrohten Bestrafungen, lange geweigert hat. Jetzt ist es aber so weit: »Wenn Ihre Hoheit dies im Ernste meinen«, versetzte der Philosoph, »so bin ich genötigt demütigst um meine Entlassung anzusuchen. Denn ich muß gestehen, je weiter wir in der Geschichte Tifans kommen werden, desto weniger wird sie die Miene einer Geschichte aus dieser Welt haben. Aber dem ungeachtet kann ich mir nicht aus dem Kopfe bringen, daß sie so eine wahre Geschichte ist, als immer die Geschichte von Azorn oder Isfandiarn. Tifan ist kein Geschöpf der Phantasie: es liegt dem ganzen Menschengeschlechte daran, daß er keines sei.« (GS 234) An dieser Stelle lässt Danischmend sozusagen die Hüllen fallen. Er entlarvt den Wahrheitsanspruch des Romans als puren Schein und lässt dabei seiner utopischen Sehnsucht nach einer besseren Welt freien Lauf. Gegen die Skepsis des Sultans kann Danischmend nur sein fast hilfloses, pathetisches Bestehen auf der zukünftigen Möglichkeit der Utopie stellen, für die er allerdings nur seine eigene Position, sein Amt als Hofphilosophen, einzusetzen hat. Indem Danischmend seine Gattungsintention einem schwärmerischen Utopismus verschreibt, sind wir anscheinend an den Endpunkt der zwischen dem Sultan
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Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Band 1, Stuttgart 1966, S. 132. Ebd., S. 130.
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Staatsroman
und
Aufklärung
und dem Philosophen geführten Gattungsverhandlungen gelangt, der zugleich eine Aporie, eine auswegslose Situation darstellt. Nachvollzogen werden dabei das Scheitern der Integration von Fiktion und Geschichte und ihre Aufhebung durch die utopische, auf die Zukunft gerichtete Zielprojektion. Allerdings kommt es dem Sultan — nicht dem Erzähler, sondern seinem Gegenspieler - zu, den letzten und entscheidenden hermeneutischen Entwurf zu einer poetologischen und politischen Konzeptualisiering der Geschichte vom Idealfiirsten Tifan vorzunehmen. Darin wäre allerdings nicht nur ein wichtiger Schritt zur Auflösung der Aporie, in welche die Gattungsverhandlungen infolge von Danischmends pathetischem Bekenntnis zum Utopismus seines erzählerischen Vorhabens geraten sind, sondern ebenfalls ein alternatives Gattungskonzept zu erkennen: »Wißt Ihr Danischmend«, sagt der Sultan, »dass mir Euer Tifan zu gefallen anfängt? Es ist wahr, man merkt je länger je mehr, dass er nur der phantasierte Held eines politischen R o m a n s ist. Aber, beim Bart des Propheten! M a n kann sich nicht erwehren zu wünschen, dass man dreißig Jahre jünger sein möchte, um eine so schöne Phantasie wahr zu machen!« ( G S 2 3 6 )
In dieser Passage meint Hohendahl »den utopischen Teil der Geschichte« zu erkennen, 217 die fortan »durch die Möglichkeit ihrer Verwirklichung« legitimiert wird. 218 Und tatsächlich wird hier ein Vorgriff auf die Zukunft, auf eine künftige Verwirklichung der in der Gestalt des Tifan dargestellten Vorsätze gemacht, der unverkennbar zeitutopische Züge hat. Zum ersten aber scheint die Verwirklichung alles andere als gesichert, zum zweiten - und wichtiger - greift die Ambition des Sultans letztendlich nicht über den Kontext des Bestehenden hinaus, sondern stellt eine Optimierung der absolutistischen Regierung, d. h. seiner eigenen Herrschaft, in Aussicht. In gewissem Sinne ist es daher vielmehr die Intention eines Fürstenspiegels, die sich in dieser Passage ihrer Verwirklichung nähert. Diese Gattungsintention war zunächst im Titel des Romans, Der Goldrte Spiegel, zu erkennen, der laut der Vorrede des chinesischen Übersetzers darauf verweist, wie man »durch den Gebrauch desselben« - also eines solchen Spiegels - »weiser oder besser werden« kann (GS 10), und wurde dann in der pragmatischen Absicht der Chronik, »dem Sultan mit guter Art Wahrheiten beizubringen, die man auch ohne Sultan zu sein, sich nicht geradezu sagen lässt« (GS 23), explizit gemacht. Im Erkenntnis der Möglichkeit, die politisch-didaktischen Absichten der Erzählung auf seine eigene Person und seine eigene Herrschaft zu beziehen, zwar nur hypothetisch, wenn er »dreißig Jahre jünger« wäre, bringt der Sultan erneut die Pragmatik dieser Gattung zur Sprache. Indem er vielmehr in Tifan den »phantasierten Helden eines politischen Romans« erkennt, kommt der Sultan zu einer richtungweisenden Einsicht in die
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H o h e n d a h l : » Z u m Erzählproblem des utopischen R o m a n s i m 18. Jahrhundert«, S. 110. Ebd., S. 112.
Narrative und diskursive
Gattungsverhandlungen
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gattungsgeschichtliche Dynamik des aufgeklärten Staatsromans. In allen hier besprochenen Romanen finden Versuche statt, die Schilderung eines durchaus fiktionalen, in Ubereinstimmung mit neuen Idealen der Individualität und Subjektivität konzipierten Helden — eines Agathon, eines Tifan, eines Gustav, eines Viktor oder eines Albano — mit der Schilderung einer politischen, sich aus den Paradoxa einer zwischen Absolutismus und Aufklärung pendelnden historischen Wirklichkeit heraus entfaltenden Handlung zu verbinden. In der Frage nach den Möglichkeiten einer solchen Integration kann eine Hauptproblematik des Staatsromans im Zeitalter der Aufklärung und ebenfalls eine Schlüsselfrage dieser Arbeit erkannt werden: Wie kann ein »phantasierter Held« zum Träger einer »politischen« Handlung werden? Oder umgekehrt: Wie kann es in einem »politischen Roman« zur literarischen und psychologischen Schilderung eines »phantasierten Helden« kommen? Damit wäre eine poetologische Herausforderung formuliert, die ebenfalls in Jean Pauls heroischen Romanen wirksam ist und in den Gattungsverhandlungen der Unsichtbaren Loge thematisiert wird. Um den »phantasierten Helden« in Jean Pauls Unsichtbarer Loge zu erkennen, brauchen wir nicht lange zu suchen. Es ist Gustav, Sohn von Rittmeister von Falkenberg und Ernestine von Knör, der allerdings nicht, wie der Erzähler mit einem fiir die Schreibweise Jean Pauls durchaus symptomatischen Augenzwinkern an die zeitgenössischen Leser hinzufugt, »der erhabne schwedische Held ist, sondern meiner« (L I, 39). Thema des Romans ist die Erziehung und die persönliche Entwicklung Gustavs, von der Kindheit zum Erwachsenwerden, die ebenfalls mit seinem Weg vom Landgut des Rittmeisters an den Hof des Fürsten von Scheerau zusammenfällt. Die Frage nach der politischen Handlung, wodurch sich die Lebensgeschichte dieses Helden als Gegenstand eines »politischen Romans« auszeichnet, führt jedoch zunächst nicht weiter. Zwar wird im Romanverlauf, wie später zu zeigen ist, immer wieder auf eine politische, um die despotische Regierung des Fürstentums Scheerau kreisende Handlung angespielt, die aber zumeist hinter dem Rücken des Helden fortschreitet. »Und der ist gerade mein Held auch« (L I, 344), bricht der Erzähler etwas verzweifelt aus, als er gerade erfahren hat, dass nicht nur er, sondern auch ein Höfling namens Oefel, der zugleich »ein Romanschreiber und ein Legationsrath ist« (L I, 340), 2 1 9 im Begriff ist, über Gustav einen Roman zu schreiben. Zugleich stellt dieser Ausbruch des Erzählers den Anlass für die in der Unsichtba-
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In der Forschung sind Köpke und neuerdings Christian Helmreich die einzigen, die auf Oefels Rolle als »Romanschreiber« eingegangen sind — allerdings ohne den gattungsgeschichtlichen Anspielungen viel Aufmerksamkeit zu widmen. Vgl. Köpke: Erfolglosigkeit. Zum Frühwerk Jean Pauls, München 1977, S. 2 6 3 - 2 6 7 ; und ders: »Jean Pauls Unsichtbare Loge: Die Aufklärung des Lesers durch den >Anti-Romanaufklärerischen< Genres über die Kritik traditioneller G a t t u n g s s c h e m a t a erstmals begründet u n d reflektiert« w i r d . 1 4 D a r ü b e r hinaus können eine Reihe v o n Forschungsbeiträgen genannt werden, in denen W i e l a n d s Agathon u n d vor allem der »Vorbericht« als Bruch mit der Uberlieferung, mit den traditionellen G a t t u n g e n u n d G a t t u n g s mustern stilisiert werden, jenseits dessen es keine Kontinuität m e h r zu den vorangehenden G a t t u n g e n u n d Gattungssystemen geben k a n n . 1 5 Uber das von Wieland im »Vorbericht« postulierte Ideal eines neuen Erzählens herrscht in der Forschung relative Einstimmigkeit: E s soll unter d e m Fahnenwort der »Wahrheit« (A I I ) 1 6 keine Ü b e r n a h m e der historischen oder gar epistemologischen Vorstellung einer Korrespondenz des Geschriebenen mit der faktischen Wirklichkeit, sondern im Gegenteil die A m b i t i o n eines »pragmatischen« Erzählens erkannt werden. »Pragmatisch«, mit einer in den poetologischen Diskussionen des 18. Jahrhunderts häufig verwendeten Kategorie, war diese Erzählweise insofern, als sie fur den R o m a n der Aufklärung einen der Geschichtsschreibung eng verwandten K a u s a l z u s a m m e n h a n g oder »Kausalnexus« der erzählten Ereignisse vorschrieb. 1 7 D i e Vorstellung der Kausalität wird ebenfalls a u f die in den
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Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 87. Vgl. ζ. B. Bruno Hillebrand: Theorie des Romans. Band I. Von Heliodor bis Jean Paul, München 1972, S. 108-111; und Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 191-196. Mit der Sigle Α wird zitiert nach: Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Herausgegeben von Klaus Manger [= Werke. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink et. al. Band 3], Frankfurt am Main 1986. Diese textkritische Ausgabe des Agathon enthält die editio princeps von 1766/67, neben einer synoptischen Obersicht über die Kapitelfolge der ersten und der letzten Fassung sowie den Zusätzen und Ergänzungen von 1773, 1794 und 1800. Entsprechend nennt Wieland seinen Agathon an einer Stelle eine »pragmatisch-kritische[] Geschichte« (A 371). Zu »pragmatisch« und »Pragmatismus« als Oberbegriffe für die fast im naturwissenschaftlichen Sinne konzipierte Gesetzmäßigkeit und Kausalmotivation des neuen Romantypus vgl. u. a. Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 186ff.; Engel: Der Roman der Goethezeit, S. 98ff.; Hahl: Reflexion und Erzählung, S. 12-84; und Weber: Die poetologische Selbstreflexion, S. 104ff.
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Geschichte des Agathon: Die Dekonstruktion
des Staatsromans
Romanen dargestellten Menschen ausgeweitet, die nur so handeln und denken können, wie es ihre psychologischen und - infolge der späteren Anthropologisierung der Gattung 1 8 - physiologischen Bestimmungen ermöglichen. Als Begründungstext eines pragmatischen Erzählens kann Wielands »Vorbericht« im Sinne eines Symptoms des von Engel identifizierten ν gattungsgeschichtlichen Paradigmenwechsels« interpretiert werden, in dem »die Ablösung von barocken Traditionen und die konsequente Neu-Semantisierung der Romanform auf der Basis des empiristischen Weltbilds« vollzogen wird. 1 9 Die Frage ist aber, inwiefern man auch im Falle des Staatsromans von einer solchen »Neu-Semantisierung«, im Sinne einer semantischen Umbesetzung zentraler Gattungselementen und -konventionen, sprechen kann. Sicher ist indessen, dass Wielands »Vorbericht« das statisch-hierarchische System des Barockromans, in dem zwischen drei Hauptgattungen, Schelmenroman, höfisch-historischem Roman, zu dem auch der Staatsroman gehörte, und Schäferroman unterschieden wurde, 2 0 in Bewegung bringt und dynamisch umwandelt. Der von Engel geprägte Begriff des »Paradigmenwechsels« ist aber insofern problematisch, als kein neues Paradigma des modernen Romans entsteht, jedenfalls nicht im Sinne eines Systems, das mit dem Gattungssystem des Barockromans vergleichbar ist. Der moderne bürgerliche Roman stellt im Gegenteil eine Bewegung, eine Dynamik dar, durch die neue Möglichkeiten des Schreibens erforscht werden. Der im »Vorbericht« begründete pragmatische Wahrheitsbegriff schreibt dem modernen Roman vor, »daß alles mit dem Lauf der Welt übereinstimme, dass die Charakter nicht willkürlich und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet, sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen« sind (A 11). Das Gegenbild zu diesem von Engel beschriebenen, »fiir das 18. Jahrhundert spezifischen Realismuskonzept«,21 liefert vor allem die auf Morus, Campanella, Andreae und Bacon zurückgreifende Tradition des utopischen Romans, die sich, wie schon oben bemerkt, nur schwierig von der Tradition des Staatsromans unterscheiden lässt, aber deren Entwurf eines vollkommenen Lebenszustandes gerade nicht mit dem »Lauf der Welt« übereinstimmt. Gegen die im Mittelalter herrschende »garantierte Realität« bildet sich in der Neuzeit, so Hans Blumenberg, ein neues Bild der Wirklichkeit als »Realisierung eines in sich stimmigen Kontextes« heraus. 22 Diesem neuen Wirklichkeitsbegriff zufolge
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Z u Roman und Anthropologie im 18. Jahrhundert vgl. Schings: »Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung«, in Bernhard Fabian/Wilhelm Schmidt-Biggemann/Rudolf Vierhaus (Hg.): Die Neubestimm u n g des Menschen [= Studien zum achtzehnten Jahrhundert 2/3], München 1980, S. 2 4 7 - 2 7 5 ; und Engel: Der Roman der Goethezeit, S. 98ff. Engel: Der Roman der Goethezeit, S. 100. Vgl. ζ. B. Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock, S. 3 5 8 ^ 0 4 . Engel: Der Roman der Goethezeit, S. 95. H a n s Blumenberg: »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, in Hans
Der Abschied vom Staatsroman in den Vorreden zu Wielands Agathon
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übernimmt fortan das Kriterium des stimmigen Kontextes die Rolle des N a c h ahmungsprinzips als Wirklichkeitsausweis des Romans. Der neue R o m a n erhebt nicht den Anspruch, die vorgegebene Welt nachzuahmen, wie noch in Gottscheds Kritischer Dichtkunst,23 sondern will eine andere Welt realisieren, deren »Wirklichkeitswert« 24 durch die Stimmigkeit des eigenen Kontextes garantiert wird. D a m i t klafft ein Widerspruch zwischen Roman u n d Utopie auf: Der R o m a n als Realisierung einer Welt beruht auf der Stimmigkeit seiner H a n d l u n g u n d seiner Charaktere, während die Utopie Elemente in sich a u f n i m m t , die diesen in sich stimmigen Kontext sprengen. Sobald die zu realisierende Welt, wie in Wielands Agathon, auch einen politischen Handlungsraum darstellen soll, spitzt sich dieser Konflikt zwischen pragmatischem R o m a n und Utopie weiter zu. Poetologisch lässt sich dieser Konflikt zwischen R o m a n u n d Utopie als ein »Problem der Wahrscheinlichkeit« 2 5 formulieren: Der Erzähler muss den inneren Zusammenhang der fiktiven Welt so sichern, dass sie die wirkliche Welt repräsentieren kann. Eben weil Wielands Vorstellung vom »Lauf der Welt« nicht auf die N a c h a h m u n g der Welt, sondern auf die Realisierung einer Welt eingerichtet ist, ist sie prinzipiell für die Z u k u n f t offen. Die Wirklichkeit erscheint als Resultat einer sukzessiven u n d in sich konsistenten Entwicklung, die aber »auf jede Z u k u n f t hingewiesen ist, in der Elemente auftreten können, die die bisherige Konsistenz zersprengen«. 2 6 Die Wirklichkeit als Kontext kann keinen geschlossenen, statischen Charakter beanspruchen u n d hat daher mit ihrer Vorbildlichkeit auch ihren Anspruch auf Ewigkeit einbüßen müssen. Analog z u m dynamischen Gattungsbegriff entsteht jetzt die Vorstellung einer dynamischen, die bestehende Wirklichkeit überschreitenden Utopie, einer Utopie nicht des Raumes, wie bei Morus, Campanella u n d Schnabel, sondern der Zeit. Indessen führt die oben bereits besprochene »Verzeitlichung der Utopie« in der deutschen Literatur nicht nur zu einer U m w a n d l u n g oder »Neu-Semantisierung« des Staatsromans, sondern trägt wesentlich zur Begründung des Bildungsromans, als eine »eigentümliche Ausprägung der literarischen Zeitutopie« bei. 2 7 Eine weitere Frage ist, wie sich Wielands Hinweis auf den »Lauf der Welt« im Hinblick auf die für die Eingrenzung der Gattung des Staatsromans traditionell unentbehrlichen Distinktion zwischen »phantastisch-unwirklicher Utopie« u n d
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Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen, München 1964, S. 11. Zu Wielands kritischer Rezeption des Nachahmungsprinzips vgl. Wolfgang Preisendanz: »Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands«, in Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion, S. 72-93. Blumenberg: »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, S. 21. Hohendahl: »Zum Erzählproblem des utopischen Romans«, S. 93. Blumenberg: »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, S. 12f. Voßkamp: »Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen«, S. 227.
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Geschichte des Agathon: Die Dekonstruktion des Staatsromans
»politischem, auf gesichertem historischem und geographischem Grund beruhendem Staatsroman« (Rehm) verstehen lässt. Zunächst wird auf einen möglichen Konvergenzpunkt hingewiesen: Sowohl fiir den historisch-politischen Staatsroman als auch für das pragmatisch-realistische Erzählen des Agathon sind die Grenzen des zu Erzählenden durch den Kontext des Wirklichen, jeweils der bestehenden politischen Einrichtungen und der Kausalzusammenhänge der wirklichen Welt, gegeben. Doch wäre es übereilt, von diesem scheinbaren Zusammenfall der Gattungsintentionen auf eine gattungsgeschichtliche Kontinuität jenseits des in den Vorreden zum Agathon postulierten Bruches zu schließen. Unter der bestehenden Einrichtung muss im Staatsroman traditionell die souveräne Herrschaft des Absolutismus verstanden werden, deren Optimierung, wie sie im Staatsroman anvisiert wird, notwendig an die Gestalt eines absolut guten und tugendhaften Fürsten geknüpft ist. Zu den wichtigsten Themen des aufgeklärten Staatsromans gehört daher die Fürstenerziehung, die zum Ziel hat, die pädagogischen Strategien fiir die Ausbildung eines solchen Idealfiirsten darzulegen. Gerade gegen dieses pädagogisch-politische »Modell eines vollkommen tugendhaften Mannes« (A 13) richtet Wieland seine Kritik im »Vorbericht«. In der Entwicklung des Charakters des Romanhelden soll vielmehr »so wohl die innere als die relative Möglichkeit, die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden Leidenschaft, mit allen den besondern Farben und Schattierungen, welche sie durch den Individual-Charakter um die Umstände einer jeden Person bekommen, aufs genaueste beibehalten« werden (A 11). Für diese Art Charakterentwicklung eines »phantasierten Helden« gibt es scheinbar im Staatsroman keinen Raum. Auf die Berührungspunkte zwischen Fürstenspiegel und Erziehungs- oder Bildungsroman wurde bereits hingewiesen: In beiden Gattungen sucht sich der Autor zunächst ein besonderes Individuum aus, das im Laufe des Romans zum Subjekt des Erziehungs- und Bildungsprozesses wird. In der Gattung des Fürstenspiegels zeichnet sich dieses Individuum als Prinz und Thronerbe, in der Gattung des Bildungsromans lediglich als ein Jüngling mit vielen, oft sehr widerspruchsvollen Eigenschaften aus. Ziel des pädagogischen Prozesses, der die Handlung ergibt, ist es, aus diesem Jüngling entweder einen guten Fürsten oder auch einen ganzen Menschen zu schaffen. Offenbar ist der gute Fürst nicht nur eine psychologische und anthropologische, sondern vor allem eine moralische und politische Instanz, die nicht nur empirische Stimmigkeit, sondern vor allem normative Vollkommenheit besitzen muss. Der »Modelleser« (Eco) des Fürstenspiegels war außerdem der junge, zur politischen Macht emporsteigende Prinz. Von dieser Gattungsintention des Fürstenspiegels will sich Wieland mit aller Deutlichkeit absetzen: »Da die Welt mit ausführlichen Lehrbüchern der Sittenlehre aufgefüllt ist«, schreibt er im »Vorbericht«, »so steht einem jeden frei, (und es ist nichts leichters) sich einen Menschen einzubilden, der von der Wiege ab bis ins Grab, in allen Umständen, so empfindet, denkt und handelt, wie eine Moral« (A 13). Mit Agathon habe er dagegen das »Bild eines wirklichem Menschen«
Der Abschied vom Staatsroman in den Vorreden zu Wielands Agathon
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schaffen wollen, »in welchem viele ihr eigenes erkennen sollten«; daher könne er »nicht tugendhafter vorgestellt werden, als er ist« (ebd.). Zum Plan beider Gattungen, sowohl des Fürstenspiegels als auch des Bildungsromans, gehört zwar, wie Wieland es formuliert, dass »der Charakter unsres Helden auf verschiedene Proben gestellt werden sollte, durch welche seine Denkensart und seine Tugend erläutert« werden (A 15). Im modernen Roman darf aber die Lebensdarstellung des Helden an keiner Stelle mit den pragmatischen und psychologischen Kausalzusammenhängen der wirklichen Welt brechen. In die Pragmatik der Gattung werden außerdem auch die Leser miteinbezogen: Wenn Agathon, so Wieland, am Ende des Werkes »ein ebenso weiser wie tugendhafter Mann sein wird«, sollen auch »(was uns hiebei das beste zu sein deucht) [...] unsre Leser begreifen [...], wie und warum er es ist« (A I6f)· Bisher deutet in der Analyse des »Vorberichts« alles auf einen definitiven Bruch mit der Gattungstradition hin. Es wurde gezeigt, wie Wieland in diesem Aufsatz die Bilanz der überlieferten Gattungsschemata zieht, mit der Tradition des Staatsromans, vor allem mit den in dieser Tradition überlieferten Gattungskonventionen der literarischen Utopie und des Fürstenspiegels abrechnet und eine neue pragmatisch-kausale Erzählweise in Aussicht stellt, die weder unstimmige Utopien noch vollkommne Helden zulässt. War die Kritik am Gattungsmuster des Staatsromans in der Vorrede zur ersten Fassung des Agathon eher implizit formuliert, als Teil einer allgemeinen Kritik an den traditionellen Romanformen des Barock, nimmt sie in der Vorrede zur zweiten, 1773 veröffentlichen Fassung, eine viel konkretere Form an. In »Uber das Historische im Agathon« werden zwei Werke herangezogen, die als paradigmatische Beispiele des bürgerlich-modernen und des antik-heroischen Romans in die Argumentation eingehen: einerseits Fieldings Roman The History of Tom Jones, a Foundling von 1749, andererseits die aus der griechischen Antike herstammende Kyropädie Xenophons. »[B]eim ersten Anblick«, schlägt Wieland vor, scheint Agathon »weniger in die Klasse des berühmten Fieldingschen Fündlings (wie einige gemeint haben) als in die Klasse der Cyropädie des Xenophon« zu gehören (A 573). So bald man aber das Werk näher betrachtet, ist »nicht zu leugnen, dass unser Held sich in einem sehr wesentlichen Stücke von dem Xenophontischen eben so weit entfernt, als er dem Fieldingschen näher kommt« (ebd.). Auf die Affinität zwischen Tom Jones und Agathon wird in den zeitgenössischen Rezensionen zu Wielands Roman öfter hingewiesen; 28 Xenophon gehört andererseits schon lange zu den Lieblingsautoren Wielands, dessen Kyropädie ihm unter anderem als Vorlage zum Epenfragment Cyrus von 1750 so wie zu Araspaes und Panthea. Eine moralische Geschichte in einer Reyhe von Unterredungen von
28
Vgl. ζ. B. die Reaktionen Chr. D. Fr. Schubarts und die Rezension H.W. Gerstenbergs, A 848, 867.
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des Staatsromans
1760 gedient hat. 29 Wieland stellt sich also zwei »Klassen« von Romanen vor, durch Fielding und Xenophon vertreten, die zwar beide auf seinen Agathon Einfluss gehabt haben, von denen aber nur die »Klasse« des psychologischen Individualromans Fieldings die Ausformung des Helden und daher die Struktur des Romans mitbestimmt hat. Dagegen liegt es nahe, den Hinweis auf Xenophon als die endgültige Abrechnung mit der ganzen, von der Antike ins Zeitalter des Barocks vermittelten Gattungstradition des Staatsromans zu lesen: X e n o p h o n hatte (wenn wir einem Kenner von großem Ansehen glauben dürfen) die Absicht, in seinem Cyrus das Ideal eines vollkommnen Regenten aufzustellen, in welchem die Tugenden des besten Fürsten mit den angenehmen Eigenschaften des liebeswürdigsten Mannes vereiniget werden sollen; oder, wie ein späterer Schriftsteller sagt, es war ihm weniger darum zu tun, den Cyrus zu schildern wie er gewesen war, als wie er hätte sein sollen, um als König ein Sokratiscber Κάλος χαι αγαδος zu sein. Hingegen war die Absicht des Verfassers der Geschichte des Agathon, nicht sowohl in seinem Helden ein Bild sittlicher Vollkommenheit zu entwerfen; als ihn so zu schildern, wie, vermöge der Gesetze der menschlichen Natur, ein M a n n von seiner Sinnesart gewesen wäre, wenn er unter den vorausgesetzten Umständen wirklich gelebt hätte. (A 573f. )
Die Themen sind weitgehend dieselben wie in dem sechs Jahre früher veröffentlichten »Vorbericht«: Beschrieben wird der Gegensatz zwischen moralischer Vollkommenheit und pragmatischer Wahrheit, zwischen der Finalität des Fürstenspiegels und der Kausalität des Individuairomans.30 Der Hinweis auf Xenophon gewinnt allerdings dadurch eine weitere Bedeutung, dass ein Jahr früher Wieland im Goldnen Spiegel das Gattungsparadigma der Kyropädie für seinen eigenen Versuch in der Gattung des Staatsromans übernommen hatte. Ahnliches versucht er bereits als junger Dichter mit dem Cyrus in der Gattung des Epos; nunmehr will er aber den thematisch-historischen Kern der Kyropädie, die Fürstenerziehung als literarisch-politischen Topos, in die moderne bürgerliche Gattung des Romans versetzen, als gattungskonstitutives Merkmal der Gattung des aufgeklärten Staatsromans. Der Eindruck entsteht, dass sich Wieland in »Über das Historische im Agathon« als Leser und Kritiker seines eigenen Werkes zu Wort meldet. Als die zweite Fassung des Agathon bei Reich in Leipzig 1773 veröffentlicht wurde, war beim selben Verleger ein Jahr zuvor der Goldne Spiegel erschienen, den Wieland in seinem Schreiben an den
29
30
Z u Wielands Adaption von X e n o p h o n s Kyropädie vgl. H a n s Herchner: Die Cyropädie in Wielands Werken [= Wissenschaftliche Beilage z u m Jahresbericht des Humboldtgymnasiums zu Berlin]. 2 Teile, Berlin 1 8 9 2 und 1896. Nicht umsonst macht eine eingehende und aufschlussreiche Agathon-Analyse das Ende von Fricks Untersuchungen zu den Vorstellungen »Providenz« u n d »Kontingenz« im deutschen und europäischen R o m a n des 17- und 18. Jahrhunderts aus, in der sowohl die teleologischen als auch die »antiteleologischen« (S. 4 0 8 ) Elemente nachgezeichnet werden. Siehe Frick: Providenz und Kontingenz, S. 383—495.
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Verleger ein »besonders Werk« genannt hatte: Es ist, behauptet er, »das Beste was ich noch in /Vorgeschrieben habe«, »wichtiger als Agathon und eben so interessant« (WB 4, 271). 3 1 Durch diesen Roman hat Wieland die Auffassung vieler Zeitgenossen, darunter Moses Mendelssohns, er sei ein »schlüpfriger« Autor, 32 korrigieren können. Zum Verhältnis zwischen dem Agathon und dem Goldnen Spiegel äußert sich Wieland in diesem Zusammenhang nicht. Es ist jedoch schwierig, die zwar sehr wohlwollende Selbstkritik dieser Vorrede nicht als eine Art Zurücknahme der in dem 1772 veröffentlichten Staatsroman gemachten Gattungsansprüche zu lesen. Die Frage, die sich im Kontext der im Agathon geführten Gattungsverhandlungen stellt, ist aber, inwiefern die im Goldnen Spiegel verwirklichte Neubegründung des Staatsromans auch in dem programmatischen Aufsatz »Uber das Historische im Agathon« reflektiert wird. Auf den ersten Blick bieten sich zwei Möglichkeiten an, die Gattungsperspektiven der beiden gleich nacheinander erschienenen Texte, der zweiten Agathon-Vorrede und des Romans des Goldnen Spiegels, aufeinander zu beziehen. Entweder ist sich Wieland bewusst, dass er zwei Romane in zwei verschiedenen Gattungen schreibt, von denen die Gattung des Bildungs- oder Entwicklungsromans keineswegs einen vollkommnen Helden haben kann, wohl aber die Gattung des Staatsromans; oder, und das wäre die hier vertretene These, er ordnet beide Romane einem neuen Ideal des pragmatischen Erzählens zu, das für den Staatsroman eine Neubegründung und eine »Neu-Semantisierung« der Gattung bedeutet, die den vollkommenen Regenten Xenophon ganz anderen geschichtlichen und erzählerischen Bedingungen unterwirft. Obwohl die Gattungsverhandlungen, durch die Wieland seine neue Konzeption des Staatsromans entwickelt, vor allem in den Romanen stattfinden, werden sie auch in der Vorrede zur Zweitfassung des Agathon geführt. Agathon, der in Ubereinstimmung mit den »Gesetzen der Natur« konzipierte Held, wird als strukturelles Gegenbild zum vollkommnen Helden der Kyropädie dargestellt. Zwischen Wielands Agathon und Xenophons Cyrus liegt aber ein langer historischer Prozess, dessen sich Wieland sehr wohl bewusst ist, und den er im Sinne einer kursorischen Rezeptionsgeschichte der vollkommenen Regentenfigur Xenophons zur Kenntnis nimmt. Entscheidend ist dabei, dass sich Wieland in seiner Beurteilung des Helden der Kyropädie nicht allein auf sein eigenes Urteil verlässt, sondern zunächst eine Stelle aus Ciceros Briefen zitiert, wo der römische Philosoph und Politiker auf die »Absicht« Xenophons hinweist, »das Ideal eines
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32
Mit der Sigel W B wird zitiert nach: Wielands Briefwechsel. Herausgegeben von der Deutschen [seit 1993: Berlin-Brandenburgischen] Akademie der Wissenschaften, Institut für deutsche Sprache und Literatur durch Hans Werner Seiffert [seit 1990: durch Siegfried Scheibe], 18. Bde, Berlin 1963ff. Vgl. A 864.
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des Staatsromans
vollkommnen Regenten aufzustellen« (A 573, vgl. Anm. 1). Dass Xenophon den Cyrus schildern wollte, nicht »wie er gewesen warn, sondern »wie er hätte sein sollen«, entnimmt Wieland weiterhin einer Lobrede des Prinzenerziehers Ausonius an den Prinzen Gratian (ebd, vgl. Anm. 2). Durch diesen auch in den Fußnoten geführten Dialog mit den Autoritäten der römischen Vergangenheit - der im Kontext einer für die Zweitfassung des Agathon paradigmatischen »literarischen Rekonstruktion der Antike« 33 stattfindet — kann Wieland das Gattungsmuster des Staatsromans in einem konkreten geschichtlichen Kontext verankern. Aus der Vollkommenheit des Helden als absoluter, naturalisierter Gattungsnorm wird eine »Absicht« des historischen Autors, zu der, in der Rezeptionsgeschichte des Werkes, spätere Leser, wie Cicero, Ausonius und letztendlich Wieland, auf eine gewisse analytische und kritische Distanz treten können, und mit der Wieland seine eigene »Absicht« im Agathon kontrastiert. Auf die realpolitische Wirklichkeit Ciceros oder auf die Erzieherrolle Ausonius' angewandt, kann das Dogma des Idealherrschers aus Xenophons Kyropädie nur relative Gültigkeit beanspruchen. Es findet also bei Wieland eine Historisierung der Gattungskonventionen statt, die einerseits wichtige Themen der gattungspoetologischen Arbeiten eines Blanckenburg oder Herder vorwegnimmt, 34 andererseits das Ideal menschlicher Vollkommenheit auf eine Vielfalt historisch und psychologisch zu relativierender »Absichten« zurückführt, die alle aus ihren eigenen diskursiven und dialogischen Kontexten verstanden werden müssen. Es gibt, könnte man behaupten, in Wielands »Vorrede« das »Ideal des vollkommnen Regenten« nicht als solche, sondern nur als normative und pragmatische »Absicht« eines Xenophon, eines Cicero, eines Ausonius oder eines Wieland, die alle unter diesem Ideal unterschiedliche Realitäten subsumieren und dadurch verschiedene Ziele zu erreichen hoffen. Wieland ist ein viel zu gebildeter Autor, um an die Möglichkeit zu glauben, sich von der Last der Tradition befreien zu können. Ebenfalls ist er sich sehr wohl bewusst, dass die Geschichte kein Vorrat absoluter Normen, sondern eine Fülle von pragmatisch motivierten Intentionen und Handlungen ausmacht. 35 Anstatt von »Bruch« oder »Kontinuität« zu sprechen, sollten daher Begriffe wie »Umdeutung« oder »Reinterpretation« oder gar »Verhandlung« herangezogen werden. Jenseits der scheinbar dichotomischen Struktur, die das Vollkommenheitsideal der Tradition mit dem Wahrheitsideal der Moderne kontrastiert, werden in beiden Vorreden immer wieder Verhandlungen vorgenommen, die zwischen
33
35
Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 243. Zum historischen Gattungsbegriff Herders und seiner »philosophischen« Begründung der Gattungsgeschichte vgl. Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder, Stuttgart 1968, S. 237-254. Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 87ff.
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Altem und Neuem, Traditionellem und Modernem einen Dialog herstellen. 36 Eben dieser Dialog zieht sich, im Sinne von Gattungsverhandlungen, durch das ganze Werk Wielands. Wenn die Gattungsverhandlungen von den Paratexten des Agathon in den Haupttext dieses Romans überwechseln, wird schnell klar, dass ein neues Ideal des pragmatischen Erzählens, wie es sich Wieland vorstellt, nicht ohne eine neue Konzeption der Politik und des politischen Handelns zu realisieren ist. Die Neubegründung des Staatsromans im Kontext der Aufklärung setzt sozusagen die Neubegründung eines Möglichkeitsraums des Politischen, eines politischen Handlungsraums und damit eines politischen Individuums voraus. Als politischer Handlungsraum gilt nicht mehr der in der Lehre der Staatsräson verankerte, moralfreie Machtbereich des absolutistischen Fürsten, sondern der im politischen Denken der Aufklärung anvisierte Idealbereich einer moralisch verankerten und begründeten Politik. Daher geben nicht die instrumentalistischen Lehren der Staatskunst, sondern die moralischen Ideale des Naturrechts die Maximen politischen Handelns ab. Zu den möglichen Vermittlungskategorien zwischen aufklärerischer Moral und absolutistischer Politik gehört in diesem Sinne die Vorstellung von »Anwendung« oder »Ausführung«. In dieser Vorstellung wird weiterhin das wichtigste politische Konzept des Agathon erkannt, das Wielands Neubegründung des Staatsromans zugrunde liegt, aber das zugleich die Gattung sowie das Werk in die Aporie zu fuhren scheint.
36
In Anknüpfung vor allem an das Standardwerk Marga Barthels Das »Gespräch« bei Wieland (Frankfurt am Main 1939) hat neuerdings Bernhard Budde das Prinzip des Dialogs zum Ausgangspunkt seiner Interpretationen von Wielands Werken gemacht. Budde grenzt sich vor allem darin von Barthel ab, dass er nicht nur das »immanentdialogische!] Prinzip« der Werke, sondern den Dialog als eine poetologische und epistemologische Grundlage fiiir Wielands gesamte Romane untersuchen will: »Die Gespräche der Figuren mit sich selbst und untereinander, des Erzählers oder fiktiven Herausgebers und Autors mit dem fiktiven Leser, gelegentlich auch verschiedener, häufig aus der literarischen Tradition herbeizitierten Kommentatoren, welche sich in den Fußnoten zum Text und wiederum zu den unmittelbaren voranstehenden Stellungnahmen äußern, sind kein Selbstzweck; sie sind das Mittel, durch welches kontradiktorische Positionen vorgestellt werden können und ihnen Raum zur Auseinandersetzung gegeben wird, die nicht zwangsläufig zur Unterwerfung der einen Position unter die andere führt, sondern im besten Fall zu ihrem gegenseitigen Sichgeltenlassen, also mit einem modernen Begriff, zu einer idealen, herrschaftsfreien Kommunikation.« Siehe Budde: Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa, Tübingen 2000, S. 2f. Als Fahnenwort der Aufklärungsforschung der letzten zwanzig Jahre, steht allerdings der »Dialog«-Begriff - der meinem Begriff der »Verhandlungen« offenbar verwandt ist - in Gefahr, Spannungen und Widersprüche dieser Werke sowie der sie umgebenden Kontexte auszublenden oder im Idealtypus des herrschaftsfreien und kontextfreien, werkimmanenten Gesprächs aufzuheben. Um dies zu vermeiden, soll mit dem Begriff der »Aporie« auch die Möglichkeit des Scheiterns oder des Zusammenbruchs der in den Romanen geführten Verhandlungen anvisiert werden.
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des Staatsromans
3.2 Ausführung der Träume, Anwendung der Lehrsätze zur Politikkonzeption im Agathon Die Staatsromanhandlung des Agathon setzt im siebten Buch des Romans ein, das vor allem der Erzählung des Helden über seine Jugend in Delphi sowie über seinen späteren Aufenthalt in Athen gewidmet ist. Als Folge einer Reihe von Verwicklungen, die an die Gattungen der höfisch-historischen und pikaresken Romane erinnern und durch die Agathon zuerst Schiffbruch erleidet, dann als Sklave an den aristokratischen Materialisten Hippias verkauft wird, kommt er in den Garten der schönen Hetäre Danae. Ihr als Zuhörerin erzählt er dann seine Geschichte. Die Erzählung fängt in Delphi an, wo Agathon in die »Geheimnisse der Orphischen Philosophie« (A 219) eingeweiht wird. Für seine Erziehung verantwortlich sind einige Priester, die eine abstrakte und idealische Moral verwalten, die jedes Wirklichkeitsbezugs entbehrt. Agathon verbringt seine Jugend von den schönsten Kunstwerken umgeben und ausschließlich mit der Ausübung der schönen Künste sowie mit dem Studium der Philosophie beschäftigt. Genau wie später der Erziehung Gustavs in der Unsichtbaren Loge liegt der Erziehung Agathons ein theosophisches Mysterium zugrunde, das sich jedoch als betrügerische Inszenierung seines Mentors, des Priesters Theogiton, entlarvt, um »Weiber und leichtgläubige Knaben« (A 227) in sein Netz zu ziehen. Nachdem sowohl diese metaphysische Schwärmerei als auch die mystischempfindsame Liebe zu Psyche gescheitert sind, flieht Agathon von Delphi. Trotz der schlechten Erfahrungen hat sein »poetischer Piatonismus« 37 jedoch die erste Konfrontation mit der Welt gut überstanden. Der schönen Danae gesteht er, dass seine »Neigung zum Wunderbaren und [seine] Lieblings-Ideen nichts dabei verloren; sie gewannen vielmehr« (A 228). Als »Stempel der Wahrheit« gilt in seinen Augen immer noch die »Ubereinstimmung mit unseren edelsten Neigungen« (A 220). Die theoretischen-moralischen Grundsätze, nach denen Agathon sein Leben einrichten will, kommen daher einer platonischen Schwärmerei gleich, im Sinne einer inhaltlich unbestimmten, völlig abstrakten Normativität. Ins Zentrum des Romans, oder zumindest ins Zentrum der sich im Roman abspielenden Staatsromanhandlung, rückt jetzt eine Vorstellung der »Anwendung« und der »Ausführung«, durch die der empfindsame Held diese leere Normativität mit seinen politischen Handlungsambitionen zu vereinen sucht: Ich unterhielt mich nun mit einer neuen Art von Träumen, welche durch ihre Beziehung auf meine neu entdeckten Verhältnisse für mich so wichtig, als durch ihre Ausführung eben so viele Wohltaten für das menschliche Geschlecht zu sein schienen.
37
Diese sehr treffende Bezeichnung von Agathons moralphilosophischer Position findet sich bei Gerd Hemmerich: C . M . Wielands »Geschichte des Agathon«. Eine kritische Werkinterpretation, Nürnberg 1979, S. 73.
Ausfiihrung der Träume, Anwendung der Lehrsätze
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Ich machte Entwürfe, wie die erhabenen Lehr-Sätze meiner idealischen Sitten-Lehre auf die Einrichtung und Verwaltung eines gemeinen Wesens angewendt werden können. (A 253f.)
Deutlicher als in dieser kurzen Passage kann der Bezug der Individualität Agathons auf den PolitikbegrifF der Aufklärung sowie auf die Gattungskonventionen des Staatsromans kaum veranschaulicht werden. Der Anfang der politischen Handlung des Agathon und das Anzeichen, dass der Autor in der Tat die Darstellung eines politischen Handlungsraums anstrebt, könnte zunächst im Hinweis des Helden auf seine »neu entdeckten Verhältnisse« erkannt werden. Hinter dieser Formel versteckt sich einer der wichtigsten Topoi des aufgeklärten Staatsromans: der »verborgene Prinz«.38 Nach seiner Flucht von Delphi wird Agathon von einem »Mann von mittlerm Alter [...], dessen Ansehen und Miene [ihm] beim ersten Anblick Zutrauen und Ehrerbietung einflößten« (A 245), eingeladen, die Nacht in seinem Haus zu verbringen. Stratonicus heißt der Mann, der, von Bildung und Kunstverständnis des jungen Fremdlings erstaunt, nach seiner Herkunft fragt, und in der Erzählung Agathons das Leben seines eigenen Sohnes erkennt. Zwar ist Stratonicus kein König und Agathon dementsprechend kein verborgener Prinz, sondern sie sind beide Bürger der Stadtrepublik Athen. Für den Agathon kommt also die paradigmatische narrative Entfaltung dieses Topos, wie der wahre Thronerbe weit weg vom Hofe seine Erziehung erhält, um später in die Heimat zurückzukehren und auf den Thron zu steigen, erst nicht in Frage. Angenommen, dass es Wieland in seinem Roman um die Darstellung einer politischen Intrige sowie eines politischen Handlungsraums geht, besteht die wichtigste Funktion dieses Topos darin, dem Helden Zugang zum Feld der Politik, zu politischen Handlungsmöglichkeiten zu verschaffen. Für die anderen verborgenen Prinzen, von Tifan im Goldnen Spiegel zu Albano im Titan, gilt, dass sie sich bürgerlicher oder bestenfalls kleinadeliger Herkunft
38
Zu den aufschlussreichsten Diskussionen vom Topos des »verborgenen Prinzen« gehört der Aufsatz Götz Müllers: »Der verborgene Prinz. Variationen einer Fabel zwischen 1768 und 1820«, in ders.: Jean Paul im Kontext. Gesammelte Aufsätze. Mit einem Schriftenverzeichnis herausgegeben von Wolfgang Riedel, Würzburg 1996, S. 29-44. In seiner Darstellung verfolgt Müller die Transformationen des Topos, den er also eine »Fabel« nennt, von Wielands Goldnem Spiegel über Jean Pauls Hesperus bis hin zu Schillers Dramenfragment Demetrius. Die erste Version der Fabel findet er in Merciers L'an 2440. Die Funktion dieser Fabel sei, laut Müller, die poetische Verwirklichung des bürgerlichen Traums von der »indirekten Gewaltnahme« (Koselleck), demzufolge ein Bürger ohne gewaltsame Revolution auf den absolutistischen Thron gebracht werden kann (S. 31). Als eine mögliche Vorform der Fabel vom »verborgenen Prinzen« könnte allerdings die Geschichte von Agathon und Stratonicus in Wielands Agathon verstanden werden, in dem Wieland an die Identitätsverwicklungen und Personvertauschungen des Barockromans anknüpft und seinen Held in Unkenntnis seiner Herkunft erziehen lässt. Auf dem Spiel steht allerdings nicht eine »indirekte Gewaltnahme«, sondern im Gegenteil die Möglichkeit, am politischen Leben in der Stadtrepublik Athen teilzunehmen.
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zu sein glauben und sich daher alle Zugänge zum eigentlichen politischen Leben des Absolutismus versperrt sehen. In der Republik Athen, in welche Wieland die Handlung des ersten Teils des Agathon verlegt hat, wird allerdings dieser Zugang nicht durch fürstliches Erbrecht, sondern durch den Status als Bürger der Republik gewonnen. Indem Agathon »die Versicherung« bekommt, »ein Bürger von Athen, und durch [sjeine Geburt und die Tugend [s] einer Voreltern zu Verdiensten und schöne Taten berufen zu sein«, indem er sich seiner »neu entdeckten Verhältnisse« bewusst wird (A 253), kann er sich die Möglichkeit politischen Handelns, die Anwendung seiner platonischen Lehrsätze innerhalb des politischen Bereichs der athenischen Republik überhaupt erst vorstellen. Laut der Programmatik der oben zitierten Passage will Agathon also seine »neue Art von Träumen ausführen«, die »erhabnen Lehr-Sätze seiner idealischen Sitten-Lehre anwenden« — gemäß der spezifisch aufklärerischen Konzeption von Politik als moralisch begründeter Praxis. Im Agathon, so Beiser, »nimmt Wieland die fundamentale Frage vorweg, die vor allem in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts die Vertreter der Aufklärung beschäftigen wird: Was ist die eigentliche Beziehung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Moral und Politik?«39 Die Antwort erfolgt - so die Behauptung dieser Arbeit - durch die im Roman wirksamen Programmatik der »Anwendung« oder der »Ausführung«: Es wird in Wielands Agathon, vor allem in der oben zitierten Passage, aber auch, wie im folgenden zu zeigen ist, im ganzen Aufbau des Romans, die Behauptung nahe gelegt, dass aufgeklärte Politik als Anwendung moralischer Grundsätze auf die politische Wirklichkeit oder als Ausführung moralisch begründeter Pläne oder Träume verstanden werden soll. Diese Auffassung entstammt grundsätzlich einer Konzeption von Politik als ars, als praktischer Kunst, und nicht wie in der aristotelischen Tradition, als scientia, als wissenschaftlicher Disziplin, und weist dabei auf eine in die frühe Neuzeit zurückreichende »Instrumentalisierung« der Politik hin. 40 Teils wird Politik im Sinne einer Klugheitslehre verstanden, die sich bis ins späte 18. Jahrhundert hinein immer mehr in Richtung einer reinen Lehre von den Mitteln, einer Zweckmäßigkeitslehre, entwickelt, und im Kameralismus seine systematische Ausprägung findet; teils ermöglicht diese Instrumentalisierung auch eine Verbindung der Politik mit dem Naturrecht, indem Politik als Zweckmäßigkeitslehre der naturrechtlichen Pflichtenlehre untergeordnet wird.41 Unter Politik wurde in diesem Sinne sowohl bei Christian Wolff als auch später bei Kant die Anwendung gewisser allgemeiner Prinzipien und Maximen auf Gegenstände und Situationen der gesellschaftlichen Wirklichkeit verstanden.
39 40
41
Friedrich Beiser: Enlightenment, Revolution and Romanticism, S. 342. Kari Palonen: Politik als Handlungsbegriff. Horizontwandel des Politikbegriffs in Deutschland 1890-1933, Helsinki 1985, S. 25. Ebd.
Ausfiihrung der Träume, Anwendung der Lehrsätze
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Zu einem dringenden Thema öffentlicher Diskussion wurde diese »Normativierung der Klugheitslehre« 42 erst dreißig Jahre später, als Reaktion auf die Französische Revolution. In der Berliner Monatsschrift wurde eine Debatte geführt, die später als die »Theorie-Praxis-Debatte« in die Philosophiegeschichte eingegangen ist, 43 und die vor allem durch Kants 1 7 9 3 verfasste Schrift »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht fiir die Praxis« ausgelöst wurde. A n dieser Debatte haben sich eine Reihe von W i e lands Zeitgenossen beteiligt, darunter A. W. Rehberg, Friedrich Gentz, Christian Garve and Justus Moser. Die Fragestellung selbst ist aber keineswegs eine Neuentdeckung der neunziger Jahre, sondern reicht in die Mitte des Jahrhunderts zurück. Anlass der »Theorie-Praxis-Debatte« war nicht zuletzt die Vorrede des Staatsrechtlers Gottfried Achenwall zu seinem 1 7 6 1 veröffentlichten Werk
Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen, in der betont wurde, dass alle politischen Grundsätze notwendigerweise einen ambivalenten Charakter haben: »daß sie an sich selbst und in abstracto betrachtet als Wahrheiten erwiesen werden, und dennoch in concreto sich öfters falsch befinden«. 4 4 In der politischen Theorie, behauptet weiterhin Achenwall, werden nach Leibniz mathematische und politische Wahrheiten miteinander vermengt, obwohl keine mathematische Ausrechnung eine gelungene Umsetzung politischer Grundsätze in die Praxis garantieren kann. 4 5 Achenwall wendet sich hier gegen eine abstrakt-idealische Theorie der Politik, die fünf Jahre später, in Wielands 1766/67 erschienenem
42 43 44
45
Ebd. Beiser: Enlightenment, Revolution and Romanticism, S. 434. Gottfried Achenwall: Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen, Göttingen 1761, §. 15. Das ganze Zitat lautet: »Es geht hierinnen mit den politischen Wahrheiten nicht anders als mit vielen anderen allgemeinen Sätzen der Philosophie und Mathematick, daß sie an sich selbst und in abstracto betrachtet als Wahrheiten erwiesen werden, und dennoch in concreto sich öfters falsch befinden, oder eigentlicher zu reden, daß wenn man solche in concreto betrachtet, sie sich nicht überall anwenden lassen. Denn eine allgemeine Wahrheit bleibt immer eine Wahrheit, und wird niemals ein Irrthum; aber sie kann wohl irrig und falsch angewandt werden, weil sie nicht recht und nicht genau genug verstanden wird. Es dürfen also die politischen Sätze, so wenig als andere philosophische, nicht so schlechterdings auf alle einzelne Fälle angewandt werden.« Die ganze Vorrede von Achenwalls Traktat ist weiterhin dem Problem der »Anwendung« oder »Ausübung« gewidmet, was ζ. B. in den folgenden Paragraphtiteln zum Ausdruck kommt: »§. 6. Unterschied der Theoretischen Politick von der practischen«, »§. 13. Daraus begreift man, in welchem Verstände die politischen Sätze zu nehmen sind«, »§. 14. Nicht ein jeder Satz lässt sich schlechterdings überall in Ausübung bringen«, »§. 18. |jleuer Unterschied der allgemeinen theoretischen Politik von der besonderen und practischen Politik«, »§. 19. Nutzen der Theorie in der Praxis der Politik«, »§. 20. Von den Beweisen der politischen Sätze, und zwar 1) den philosophischen, §. 21. 2) von den mathematischen Beweisen, §. 22.3) von den Erfahrungsund historischen Beweisen«. Zu Achenwall und der »Theorie-Praxis-Debatte« vgl. A. Philonenko: Theorie et Praxis dans la pensee morale et politique de Kant et de Fichte en 1793. Seconde edition, Paris 1976, S. 12ff. Vgl. Achenwall, ebd., § 20-21.
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Roman ihren vielleicht wichtigsten literarischen Vertreter findet. In den »erhabenen Lehr-Sätzen« des Helden Agathon vermischen sich Elemente des Platonismus und des Christentums, aber auch der Leibnizschen Philosophie und der Physikotheologie. Umso schwieriger wird die Anwendung, Ausführung oder Umsetzung dieser Grundsätze sein. Den deutlichsten Hinweis auf den abstrakt-idealischen Charakter von Agathons Grundsätzen stellt sein Besuch bei der »Schule Piatons« (A 258) dar, von dem er ebenfalls Danae während des Gesprächs im Garten berichtet. In seiner Begegnung mit Piaton entdeckt Agathon »eine Ubereinstimmung meiner Denkungsart mit seinen Grundsätzen«, die er zunächst im Sinne einer »Freundschaft«, dann als eine »fast schwärmerische Leidenschaft« (ebd.) beschreibt. Angesichts der späteren, vor allem in Aristipp und einige seiner Zeitgenossen von 1802 zum Ausdruck gebrachten Skepsis Wielands gegen die idealisch-schwärmerischen Seiten der platonischen Philosophie sollte es nicht verwundern, dass er schon im Agathon den Hinweis auf Piaton zur Denunziation von Agathons wirklichkeitsfernen moralischen Idealismus verwendet. 46 Wenn ihm Agathon begegnet, hat der griechische Philosoph seine »metaphysischen Dialoge« - genannt wird Politeia und Timaeos - zwar noch nicht geschrieben, aber der metaphysisch-utopische Inhalt dieser Werke »existierte [...] doch bereits in seinem Gehirne« und gab, wie Agathon erzählt, »sehr oft den Stoff zu unseren Gesprächen in den Spaziergängen ab« (ebd.). Auf den Bericht über Agathons Aufenthalt an der Akademie Piatons folgt eine fast wortwörtliche Wiederholung der Programmatik der oben zitierten »Anwendungs«-Passage, nur dass die anzuwendenden moralischen Grundsätze diesmal nicht der »Orphischen Philosophie«, sondern dem diesem Denken eng verwandten Piatonismus entstammen. Agathons Begegnungen mit
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Die Verbindung zwischen dem Frühwerk Agathon und dem Spätwerk Aristipp findet sich nicht zuletzt in der kritischen Auseinandersetzung mit den utopischen Staatsund Menschenbildern Piatons, vor allem in der Politeia. Darin kann in der Tat eine Möglichkeit erkannt werden, diesen Briefroman des älteren Wielands als eine weitere Bearbeitung des Gattungsmaterials des Staatsromans zu verstehen. In fünf Briefen an den Athener Eurybates, die durch eine eigene Überschrift — »Über Piatons Dialog von der Republik« (S. 673) - hervorgehoben werden, zieht Aristipp gegen den vom Piaton an den Tag gelegten Utopismus ins Feld: »Und so stehen wir vor dem Tor dieser Republik, die uns Plato, ihr Stifter und Gesetzgeber, durch den Mund seines immerwährenden Stellvertreters für das Ideal eines vollkommenen Staats ausgibt, an dessen Realisierung er selbst verzweifelt; deren Erbauung und Einrichtung ihn in einem großen Teil dieses Werks ernstlich beschäftigt, und die er gleichwohl wider um ihrer selbst willen, noch in der Absicht daß sie irgend einem von Menschenhänden errichteten Staate zum Muster dienen sollte, [...] mit so vieler Mühe aufgestellt hat [...]« (S. 707). Siehe Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Herausgegeben von Klaus Manger [= Werke. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink et. al. Band 4], Frankfurt am Main 1988. Vgl. dazu vor allem Klaus Manger: Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland, Frankfurt am Main 1991, bes. S. 170ff. Auf die Staatsromanelemente des Aristipp hat Manger auch in den Kommentaren zur textkritischen Ausgabe hingewiesen, vgl. S. 1177ff.
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seinem Lehrmeister kommen daher einer Anleitung zur politischen Philosophie Piatons gleich: er bemühete sich desto eifriger, mir seine Begriffe von der besten Art, die menschliche Gesellschaft einzurichten, und zu regieren, eigen zu machen, da er das Vergnügen zu haben hoffte, sie wenigstens in so fern die Umstände zulassen würde durch mich realisiert zu sehen. Sein Eifer in diesem Stücke mag so groß gewesen sein, als er will, so war er doch gewiß nicht größer, als meine Begierde, dasjenige auszuüben, was er spekulierte, (ebd.) Analog zu den oben besprochenen Prinzipien der »Anwendung« und der »Ausführung« spricht Wieland in dieser Passage von »Ausübung«. Das Ziel bleibt allerdings dasselbe: zu regieren, eine Gesellschaft einzurichten, nach Art einer U m setzung der platonischen Ideale vom guten, vom utopischen Staat in politische Praxis. In dieser Vorstellung könnte weiterhin ein »Denkmodell der Aufklärung« erkannt werden, deren Grenzen Wieland, so Erhart, »mit dem Grenzen der Romanfiktion [ . . . ] zu überprüfen« sucht. 4 7 Als sich Kant dreißig Jahre später anschickt, in »Uber den Gemeinspruch« die politischen Ideale der Revolution zu verteidigen, kommt er zur Konklusion, dass der Konflikt zwischen Theorie und Praxis, zwischen Moral und Politik letztendlich keiner ist, denn die praktische Vernunft erlaubt uns nicht nur, sondern zwingt uns, die Gesellschaft gemäß den Prinzipien der Gerechtigkeit zu verändern. 48 Auf diese Weise, behauptet er, »fällt die Besorgnis wegen der leeren Idealität ganz weg«, denn »es würde nicht Pflicht sein, auf eine gewisse Wirkung unsers Willens auszugehen, wenn diese auch nicht in der Erfahrung [ . . . ] möglich wäre«. 49 Bei Wieland, wenn er sein Agathon schreibt, ist diese Besorgnis wegen der leeren Idealität der Moral angesichts der durch die historische Wirklichkeit vorgeschriebenen politischen Aufgaben allerdings noch akut.
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Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 95. Als narrative Darstellung und Überprüfung von aufklärerischen Denkmodellen nähert sich Wielands Agathon der Gattung des »philosophischen Romans«, die zwar in Voltaire, Rousseau und Diderot ihre wichtigsten Vertreter findet, die aber auch den deutschen Aufklärungsroman, vor allem die Romane Wielands, erheblich beeinflusst. Gerade dieser Einfluss, stellt Engel fest, kommt im Agathon dadurch zum Vorschein, dass »sich Wieland nicht damit zufrieden [gibt], die theoretisch wie empirisch unerweisliche Einheit von Finalität und Kausalität episch zu plausibilisieren; er will das Grundproblem einer Vermittlung von Moralität und Empirie, physischer und sittlicher Natur auch diskursiv lösen«. Siehe Engel: Der Roman der Goethezeit, S. 142. Zum Gattungsbegriff des »philosophischen Romans« vgl. Klaus Discherl: Der Roman der Philosophen. Diderot - Rousseau - Voltaire, Tübingen 1985, bes. S. 1-29. Vgl. Beiser: Enlightenment, Revolution and Romanticism, S. 38ff. Immanuel Kant: »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, aber taugt nicht für die Praxis«, in ders.: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Band VI, Darmstadt 1975, S. 129.
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Geschichte des Agathon: Die Dekonstruktion
des Staatsromans
In Athen, nach seinem Aufenthalt an der platonischen Akademie, bekommt Agathon die erste Möglichkeit, das Denkmodell der »Anwendung« umzusetzen. Die radikalen politischen Implikationen der metaphysisch-platonischen Aufklärung werden dabei vor allem in seinem Glauben an das freie Volk und an die republikanische Verfassung sichtbar. Ihm scheint die athenische Demokratie, in der die Volksversammlung über das allgemeine Wohl entscheidet, zunächst die adäquate politische Form der neuen Moral zu sein. Ais Folge »der besondern Natur desjenigen Windes, welcher von Horaz aurapopularis genennet wird« (A 255), wie es im Titel dieses Kapitels heißt, muss jedoch die Zuneigung der Athener zum jungen Idealisten bald wieder dem Neid und der Selbstsucht weichen. Agathon stürzt vom Gipfel der Macht; der Gegensatz von Moral und Politik klafft wieder auseinander. Infolge der Erfahrungen in Athen sieht sich der Held veranlasst, die nach Athen mitgebrachten Lehren einer Revision zu unterziehen: Zu Delphi hatte man mich (zum Exempel) gelehrt, daß sich das ganze Gebäude der Republikanischen Verfassung auf die Tugend gründe; die Athenienser lehrten mich hingegen, daß die Tugend an sich nirgends weniger geschätzt wird, als in der Republik; den Fall ausgenommen, da man ihrer vonnöten hat; und in diesem Fall wird sie unter einem jeden Tyrannen eben so hoch geschätzt, und oft besser belohnt. (A 285f.)
Damit ist die Romanhandlung in eine erste Sackgasse geraten, aus welcher der Autor seinen Held nur dadurch retten kann, dass er ihn weiterziehen lässt, nach Syrakus, an den Hof des Tyrannen Dionysius. Parallel zur Romanhandlung finden allerdings in Wielands Agathon Gattungsverhandlungen statt, in denen diese narrative und theoretische Aporie zur Debatte gestellt wird. Warum, so die Frage, scheitert Agathon? Eine mögliche Antwort auf diese Frage könnte in Wielands Skepsis gegen das Volk wie auch gegen die Herrschaft durch das Volk erkannt werden, die an anderen Stellen im Gesamtwerk die Gestalt von Apologien für die monarchische Regierungsform annimmt. 50 Gegen eine solche Auslegung spricht jedoch vor allem die Beobachtung, dass es im Agathon Wieland weniger um die Athener als um den Helden selbst geht. Im Mittelpunkt steht nicht so sehr die Unzuverlässigkeit des Volkes, sondern die »leere Idealität« der Pläne, Träume und Lehrsätze Agathons. Obwohl Agathon immer wieder von der »Ausführung« seiner »Projekte« (A 254) und »politischen Träume« (A 255) spricht, kommt er nie auf die spezifisch politisch-
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Vgl. ζ. B. Wielands im Teutschen Merkur gedruckte Reaktionen auf die Begebenheiten der Französischen Revolution, darunter »Kosmopolitische Addresse an die französischen Nationalversammlung von Eleutherius Philoceltes« vom Oktober 1789 und ebenfalls »Sendschreiben des Herausgebers des T.M. an Herrn P.** zu * * " « vom Januar 1792, die beide allerdings mehr Gesprächs- und Diskussionsangebote als Propagandatexte darstellen. In Wieland: Meine Antworten. Aufsätze über die Französische Revolution 1 7 8 9 - 1 7 9 3 . Nach den Erstdrucken im Teutschen Merkur< herausgegeben von Fritz Martini, Marbach am Neckar 1983, S. 2 5 ^ 4 2 und S. 4 3 - 6 8 .
Ausführung der Träume, Anwendung der Lehrsätze
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empirischen, im Gegensatz zu den moralisch-metaphysischen, Voraussetzungen einer solchen »Ausführung« zu sprechen: Er dachte damals, so seine Selbstdarstellung, »an keine andere Hindernisse [...], als solche, die durch Mut und Tugend zu überwinden« seien (A 254), und alles, was ihm der Vater »von den Schwierigkeiten ihrer Ausführung, die er mit der Quadratur des Zirkels in eine Klasse setzte« (A 255), sagte, konnte seine Auffassung nicht ändern: Ich hatte eine Antwort für alle; und dieser neue Schwung, den mein Enthusiasmus bekommen hatte, wurde bald so stark, daß ich es kaum erwarten konnte, mich in Athen, und in Umständen zu sehen, wo ich die erste Hand an dieses große Werk, wozu ich gewidmet zu sein glaubte, legen könnte, (ebd.)
Spätestens in dieser Passage wird deutlich, in welchem Grad Agathons Denkmodell der »Anwendung« im Zeichen der Schwärmerei steht 51 — und ferner, wie eng die Schwärmer-Diagnose, die Wieland über seinen eigenen Helden stellt, Kosellecks Diagnose von der Hypokrisie der Aufklärung verwandt ist. Angefochten wird in beiden Fällen die Verabsolutierung einer metaphysischen und idealistischen Moral, die sich die Sphäre der Politik unterwerfen will, ohne aber deren Eigenart als politischen Handlungsraum gewahr zu werden. Die Dialektik der »Anwendung«, die uns Wieland im Agatbon vorspielt, macht sich nicht zuletzt im widersprüchlichen »Selbstverständnis der Aufklärer« geltend, das ebenfalls bei Koselleck ein Hauptthema darstellt. 52 Im Agathon hat Wieland eine prototypische Figur eines Aufklärers geschaffen, in dessen Charakter er die in der Dialektik zwischen Moral und Politik wurzelnden Ungereimtheiten dieses Selbstverständnisses aufdeckt. Anhand einer anderen, ähnlichen Selbstdarstellung Agathons kommentiert in diesem Sinne Hemmerich, »[i]n der Geschichte des modernen deutschen Romans ist er wohl der erste und zugleich für lange Zeit der letzte Held, der sich so unumwunden als Politiker ausgibt« 53 - eine Behauptung, die im Hinblick auf Albano, den Helden des Titan, allerdings bezweifelt werden kann. Aufschlussreich an Hemmerichs Feststellung ist vor allem, dass er in seinem Urteil von Agathons Charakter eine Spaltung zwischen Sein und Schein mit einbezieht: Dass Agathon sich als Politiker »ausgibt«, heißt noch lange nicht, dass er es auch ist, mit anderen Worten, dass er tatsächlich im Stande wäre, seine Pläne von einer »Anwendung« oder »Ausführung« platonischer Grundsätze zu verwirklichen.
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Zu Agathon als Schwärmer siehe ζ. B. Schings: »Der anthropologische Roman«, S. 254ff.; und Engel: Der Roman der Goethezeit, S. I43ff. Als Thema des zweiten Kapitels seiner Studie nennt Koselleck »Das Selbstverständnis der Aufklärer als Antwort auf ihre Situation im absolutistischen Staat«. Siehe Kritik und Krise, S. 41. Hemmerich: Wielands »Geschichte des Agathon«, S. 76. Vgl. auch Frick: Providenz und Kontingenz, S. 404, wo er feststellt, in Wielands Roman werde das »Denken selbst zu Wirklichkeit schaffender und verändernder Praxis«.
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Geschichte des Agathon: Die Dekonstruktion des Staatsromans
In der Hypokrisie und im Utopismus werden hier, in Anknüpfung an Koselleck und Schings, die spezifisch politischen Formen der Schwärmerei erkannt. Der politische Utopist verkennt die eigentliche Lage der politischen Wirklichkeit und richtet alle seine Handlungen auf ein zukünftiges Ziel. Schon vor seiner Ankunft in Athen ist sich Agathon daher seines Sieges sicher. Die von ihm gehegten utopischen Visionen stellen, um mit Koselleck zu sprechen, »einen politisch ungedeckten Wechsel auf die Zukunft« 5 4 dar und erleben sogar in seiner in Geschichtsphilosophie übergreifenden Phantasie ihre »Scheinerfullung«: 55 Dann setzte ich mich in meinen patriotischen Entzückungen an das Ende meiner Laufbahn, und sah in Athen, nichts geringeres als die Hauptstadt der Welt, die Gesetzgeberin der Nationen, die Mutter der Wissenschaften und Künste, die Königin des Meeres, den Mittelpunkt der Vereinigung des ganzen menschlichen Geschlechts. (A 254)
Indem sich Agathon mit seinem griechischen Vorbild, dem Athener Staatsmann Perikles, auf eine Ebene stellt, will er Athen in einen »Tempel eines ewigen Friedens und der allgemeinen Glückseligkeit der Welt« (ebd.) verwandeln. Unverkennbar sind in dieser Passage die Elemente eines bürgerlichen Fortschrittsdenkens, dessen Subjekt »die gesamte Menschheit« u n d dessen Aktionswelt »die eine Welt des Globus« war. 56 Dieser bürgerliche Utopismus entsprang — wenn wir Koselleck folgen - wiederum einem »geschichtlich bedingten, dann aber geschichtsphilosophisch festgelegten Missverhältnis zur Politik«. Angesichts der »subjektive[n] Selbstgerechtigkeit« der Aufklärer löste sich »die Politik selbst als ständige Aufgabe des menschlichen Daseins in utopische Zukunftskonstruktionen auf.« 57 Über seine Projekte, die aus der »Güte und allgemeine[n] Wohltätigkeit« (A 254) seines Herzens hervorquellen, erzählt Agathon weiter: Sie hatten noch dieses Besondere, daß ihre Ausführung, (die moralische Möglichkeit derselben vorausgesetzt,) keiner Mutter eine Träne, und keinem Menschen in der Welt mehr als die Ausopferung seiner Vorurteile, und solcher Leidenschaften, welche die Ursache alles Privatelends sind, gekostet hätten, (ebd.)
Agathon wird hier eine Argumentation in den M u n d gelegt, die in vieler Hinsicht Kants spätere Konzeption der praktischen Vernunft antizipiert: So lange die Theorie, also hier die Pläne, mit den Bestimmungen einer auf der Vernunft gegründeten Moral in Ubereinstimmung ist, folgt die Ausführung sozusagen von selbst. Die Spaltung zwischen Politik und Moral wird insofern verdeckt, als die Moral sich ihre eigenen politischen Implikationen nicht eingestehen kann oder
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Koselleck: Kritik und Krise, S. 157. Ebd., S. 153. Entsprechend spricht Hemmerich in seiner Darstellung von »reduktionistischen Scheinbeweise [n]«, die »den Charakter einer self-fulfilling prophecy gewinnen«. Siehe Wielands »Geschichte des Agathon«, S. 74. Koselleck, ebd., S. 2. Ebd., S. 9.
Ausftihrung der Träume, Anwendung der Lehrsätze
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will. Zur »Ausführung« der politischen Träume gehört daher keine Reflexion über das Politische als eigenen Handlungsraum, als einen von Interessen, Konflikten und Risiken durchsetzten Bereich, sondern lediglich eine Vorwegnahme der »moralischen Möglichkeit derselben«. Die in dieser Passage vollzogene Moralisierung der Politik scheint wiederum eine »Verharmlosung« des politischen Geschehens zu bedeuten. 58 Agathon gerät dadurch ins Umfeld jener aufklärerischen Kritiker, ζ. B. des französischen Reformministers Turgot und des Abbe Raynal, die noch am Vorabend der Revolution von der Krise als einem »unschuldige [n] Ereignis« sprechen. 59 An die Stelle des politischen Konflikts tritt eine Vorstellung der »Krise als des moralischen Gerichtes«,60 das lediglich, wie es Agathon formuliert, »Vorurteile« und »Leidenschaften« aus dem Weg räumen will, ohne den Menschen irgendwelche Leiden zufügen zu müssen. Indem die Nähe von Agathons Selbstdarstellung zu den zum Teil sehr polemischen und einseitigen Behauptungen Kosellecks betont wird, geht es vor allem darum, den diagnostischen Aspekt von Wielands Roman aufzuzeigen, den er in der Tat mit Kosellecks Studie gemeinsam hat. Agathons Scheitern als Volksführer in Athen war schon in seinem Selbstverständnis, in seinen schwärmerischutopistischen Vorstellungen der »Anwendung« und der »Ausführung« angelegt. Anhand der Figur des Helden wird damit im Roman eine Dekonstruktion der Gattungsintention des aufgeklärten Staatsromans - die Vermittlung zwischen moralischer Theorie und politischer Praxis — vollzogen. Als Material des Romans sind die Gattungskonventionen des Staatsromans in eine Aporie geraten, die bei Wieland zum ersten Mal ausführlich dargestellt wird, aber deren Nachwirkungen ebenfalls in den gesamten heroischen Romanen Jean Pauls spürbar sind. In der Forschung gehört der Hinweis auf die fehlende oder misslungene Verwirklichung der politischen Ambitionen der Helden zu den festen Topoi der Interpretationen sowohl des Agathon als auch des Titan. Agathon scheitert, Albano - wie im 8. Kapitel der vorliegenden Arbeit gezeigt wird - kommt nie zur Ausführung seiner Entschlüsse. Für beide Helden, Agathon und Albano, gilt aber, dass nicht erst die Begegnung mit der Wirklichkeit der Politik, sondern schon die auf diese Begegnung ausgerichteten Intentionen im Zeichen der Aporie stehen. Es kann im Falle Agathons logischerweise nie zur gelungenen Realisierung seiner politischen Intentionen kommen, denn diese Intentionen selbst sind in ihrer Struktur von einer fatalen Verkennung und Transzendierung des Politischen gekennzeichnet. Das Prinzip der »Anwendung« stellt also, wie oben schon gezeigt, ein aus dem politischen Denken der Aufklärung übernommenes, im Agathon zur Debatte gestelltes Denkmodell dar. Mit Horst Thome könnte weiterhin gefragt werden,
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Ebd., S. 156. Ebd., S. 151. Ebd., S. 147.
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Geschichte des Agathon: Die Dekonstruktion des Staatsromans
inwiefern die Dialektik der »Anwendung«, die in der Tat zu den wichtigsten »Philosophemen« des Romans zu gehören scheint, für das Werk als solche eine »strukturbildende Funktion« hat. 61 Und ferner, ob diese Struktur notwendigerweise die Struktur einer ausweglosen Situation, eines unvermittelten Gegensatzes, einer Aporie darstellt. Im Agathon, wie in den anderen zu behandelnden Romanen, könnte die Aporie insofern als »strukturbildend« verstanden werden, als sie zum Ausgangspunkt der in den Romanen geführten poetologischen und politischen Verhandlungsprozesse wird. Mit der Aporie der Handlungsebene korrespondiert damit das oben bereits gattungsgeschichtlich erörterte Hervortreten des subjektiven Erzählers auf der Diskursebene des Romans. Allerdings ist es an dieser Stelle im Agathon nicht der Erzähler, der aktiv und sichtbar das Wort ergreift, um Agathons Erfahrungen in Delphi und Athen der schönen Danae darzustellen, sondern es ist Agathon selbst. Die Erzählhaltungen und Urteile, die sich in der Erzählung geltend machen, sind also Agathons eigene: Es ist der etwas ältere Held, der von dem etwas jüngeren, der etwas erfahrenere, der von dem etwas unerfahreneren erzählt, bis der Gang der Erzählung die Gegenwart des Erzählens erreicht hat und die Handlung weitergehen kann. Nicht dem anonymen Erzähler oder Herausgeber des Romans kommt es zu, die politische Naivität und moralische Selbstgefälligkeit des jungen Helden zu entlarven, sondern Agathon selbst. Zu den eher impliziten Strategien dieser Entlarvung, die mit Erhart als ein Beispiel »des im Agathon-^omun praktizierten sprachkritischen Verfahrens« verstanden werden könnten, 62 und damit auf den oben bereits erörterten sprachlich-diskursiven Charakter von Kosellecks Hypokrisie-These verweisen, gehört die durchgehende Ironie der Wortwahl: Ich, erzählt Agathon von sich selbst, »unterhielt mich mit [...] Träumen« (A 253), machte »schöne[] Spekulationen« (A 254), mein »Enthusiasmus« bekam einen »neue[n] Schwung« (A 255). Häufig schlägt die implizite Ironie allerdings auch in explizite Kritik um: Zur utopischen Vorstellung von Athen als »Mittelpunkt der Vereinigung des ganzen menschlichen Geschlechts« kommentiert Agathon: »Kurz, ich machte ebenso schimärische, und ebenso ungeheure Projekte, als Alcibiades« (A 254), der griechische Politiker und Feldherr aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., der sowohl für seine schwärmerischen Pläne als auch für seine politischen Verschwörungen bekannt war und dem Piaton einen seiner Dialoge gewidmet hat. 63 Zum Thema der »Ausführung« bemerkt Agathon weiterhin, dass ihm dies nur »leicht« erschien, weil er sich »die
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Horst Thomi: »Menschliche Natur und Allegorie sozialer Verhältnisse. Zur politischen Funktion philosophischer Konzeptionen in Wielands »Geschichte des Agathon·«, in Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 2 2 / 1 9 7 8 , S. 209. Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 149. Auffällig an Piatons erstem Alkibiades-Ό'ιύθξ, ist in diesem Kontext, wie dieser Dialog wesentlich im Sinne eines parodistisch angelegten Fürstenspiegels konzipiert ist, in dem Sokrates die Erziehung des Jünglings zur staatsmännischen Tätigkeit und Tüch-
Ausführung der Träume, Anwendung der Lehrsätze
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Hinternisse nur einzeln, und nicht in ihrem Zusammenhang und vereinigtem Gewichte vorstellte« (ebd.). Ihm fehlte also offenbar die politische Kompetenz fur die Umsetzung seiner Ideale in die Praxis. Letztendlich erzählt Agathon, wie er es nicht geschafft hat, die aus dem Barock herrührenden Gattungen des Staatsund des Liebesromans auseinander zu halten. Sowohl die Ideale selbst als auch die Idee ihrer Ausführung wurden ihm zu Objekten schwärmerischer Liebe: Er näherte sich den politischen Aufgaben Athens, als wäre er ein »Verliebte[r]«, der in der Zukunft keine »Schwierigkeiten«, sondern nur Glückseligkeit und Frieden erkennt (A 255). Aus dem sich unumwunden als Politiker ausgebenden Helden ist damit ein schwärmerischer Liebhaber geworden, der dem Handlungsraum der Politik völlig entfremdet gegenübersteht und mit Notwendigkeit den Aporien der eigenen erträumten »Anwendung« und »Ausführung« erliegen muss. Allerdings stellen Athen und seine da gemachten Erfahrungen nur eine »Station« 6 4 auf dem Lebensweg Agathons dar, wobei es aber, wie später zu zeigen ist, höchst fraglich ist, ob er je, in seinen Plänen sowie in seinen Handlungen, über diesen ersten Misserfolg hinauskommt. Indem Agathons Erfahrungen in Athen als paradigmatisch für den ganzen Roman betrachtet werden, lässt sich behaupten, dass die in dieser Episode erkennbare Dialektik der »Anwendung« sowohl fiir den Roman als auch für die Gattung des aufgeklärten Staatsromans als solche eine »strukturbildende Funktion« besitzt. Insofern gehört diese Annahme, die Grundsätze der naturrechtlichen Moral ließen sich in der Welt der Politik »anwenden«, zum Gattungsmaterial, das in diesen Romanen narrativ und diskursiv bearbeitet wird. Mit seinem Agathon ist Wieland der erste deutschsprachige Autor, der schonungslos die Aporien dieses politischen Paradigmas erforscht und sein Roman erhält daher auch im Hinblick auf die Gattungsgeschichte des aufgeklärten Staatsromans die Funktion als Vorläufer oder Vorbild, die er in der Gattungsgeschichte des Entwicklungs- oder Bildungsromans seit langem beansprucht. Nach Wieland und dezidiert in den Romanen Jean Pauls vollzieht sich die Bearbeitung des Gattungsmaterials des Staatsromans als eine Bearbeitung einer Reihe moralisch-politischer Aporien. Aus dieser Feststellung ergibt sich die Frage, ob der Widerspruch oder die Aporie nicht auch ein Merkmal der Gattung des aufgeklärten Staatsromans als solcher darstellt, in dem ein Gegenbild zu dem der Gattung des Bildungsromans innewohnenden poetologischen und psychologischen Ideal der »Versöhnung« zu erkennen wäre. U m diese Frage zu beantworten, bietet sich kein besseres Beispiel an, als eben Wielands Agathon, in dem - wie aus der
M
tigkeit ironisch in Frage stellt. Vgl. Piatons Dialoge. Alkibiades der Erste. Alkibiades der Zweite. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Leipzig 1918. Diese Perspektive ist vor allem bei Wolfram Buddecke entwickelt worden: C.M. Wielands Entwicklungsbegriff und die Geschichte des Agathon, Göttingen 1966, ζ. B. S. 192ff.
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Geschichte des Agathon: Die Dekonstruktion
des
Staatsromans
Forschung hervorgeht - das strukturbildende Prinzip der Aporie mit dem ebenso strukturbildenden Prinzip der Versöhnung in Konkurrenz tritt. 65
3.3 Versöhnung des Bildungsromans, Aporie des Staatsromans? Gattungsverhandlungen der
Agathon-Yorsc\mng
Ob Wielands Agathon ein Bildungsroman avant La lettre ist, der sowohl Goethes paradigmatischen Wilhelm Aferter-Roman 66 als auch den vom Dorpater Professor Karl von Morgenstern geprägten Gattungsbegriff 67 antizipiert, bleibt eine klassifikatorische Frage, die weniger das Gattungsmaterial des Werkes, sondern vielmehr die Konstruktion so wie die Anwendung einer transhistorischen Gattungsnorm betrifft. Ließe sich aber in der Forschung zum Bildungsroman im allgemeinen und zu Wielands Agathon im besonderen ein poetologisches, den Werken selbst inhärentes Prinzip identifizieren, müsste es das Prinzip der »Versöhnung« sein: Der Bildungsroman strebt, so der Tenor der Forschung, nach einer »Versöhnung von Held und Milieu«, 68 die für die besondere Dynamik aller dieser Gattung zugeordneten Werke sorgt. Als Nexus dieser Forschungstradition kann die klassische Definition Diltheys herangezogen werden: Für Dilthey wird im Bildungsroman eine »gesetzmäßige Entwicklung [...] im Leben des Individuums angeschaut«, in der »die Dissonanzen und Konflikte des Lebens [...] als die notwendigen Durchgangspunkte des Individuums auf seiner Bahn zur Reife und zur Harmonie« erscheinen.69 Verbleibt man im Zentralkanon der Gattungsdefinitionen, findet sich derselbe Topos der Versöhnung und Harmonie sowohl beim Vorgänger Hegel als auch beim Hegelianer Lukäcs wieder: Zur »komischen« Lösung des Konfliktes zwi-
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Gerade um diesen Widerspruch der Deutungsprinzipien geht es in Jacobs Rezension von Erharts /4g»f/i0H-Monographie. Gegen Erharts These, »die Offenheit des Romanschlusses resultiere [...] daraus, dass eine philosophische Aporie dargestellt werden sollte«, stellt Jacobs die »im Fortgang der Geschichte [...] angestrebte[] Versöhnung zwischen moralischen Prinzipien und erfahrener Lebenswirklichkeit«. Siehe Jacobs: »Fehlrezeption und Neuinterpretation des >AgathonBildungsroman< so anzulegen, daß sie jenen Strang der deutschen Literaturentwicldung erfasst, in dem der Wilhelm Meister als Muster gewirkt hat [...].« Vgl. auch Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman, S. 63ff. Vgl. Fritz Martini: »Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Wortes und der Theorie«, in DVjs 35/1961, S. 44-63, in dem er das erste Auftreten des Gattungsbegriffes »Bildungsroman« bei Morgenstern zwischen 1810 und 1824 nachweist. Frick: Providenz und Kontingenz, S. 401. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing - Goethe - Novalis - Hölderlin. Fünfte Auflage, Leipzig/ Berlin 1916, S. 395.
Versöhnung des Bildungsromans, Aporie des Staatsromans?
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sehen der Poesie des Herzens und der Prosa der Verhältnisse im modernen bürgerlichen Roman kann es nach Hegel nur kommen, wenn »die der gewöhnlichen Weltordnung zunächst widerstrebenden Charaktere [...] mit ihren Verhältnissen sich aussöhnen und wirksam in dieselben eintreten«.70 Auf Hegel zurückgreifend identifiziert später Lukäcs das Thema des zwischen Idealismus und Desillusion vermittelnden Bildungsromans des Wilhelm-Meister-Typus als »die Versöhnung des problematischen, vom erlebten Ideal geführten Individuums mit der konkreten, gesellschaftlichen Wirklichkeit«.71 Auch über diese frühen, im Rahmen eines geschichts- und lebensphilosophischen Denkens konzipierten Gattungsbeschreibungen hinaus, bleiben die Vorstellungen von Entwicklung und Versöhnung für die Forschung zum Bildungsroman richtungweisend. Als eine Art Bilanz dieser Forschungstradition könnte daher das Urteil Jacobs' gelten: »Die Entwicklungsproblematik und die Tendenz zu deren harmonischer Aussöhnung sind es also, die den zur Gattung gerechneten Werken ihre Gemeinsamkeit geben.« 72 Als Gegenprinzip zur »Versöhnung« kann auf die schon oben erörterte Kategorie der »Aporie« Bezug genommen werden, die in der Forschung der zunehmenden Skepsis gegen eine geschichtsphilosophische und individualpsychologische Begründung der Moderne entsprungen ist und in späteren Studien sowohl zu Wielands Agathon als auch zu anderen sogenannten »Bildungsromanen« Verwendung gefunden hat. 73 Sowohl der Gattungsbegriff selbst als auch die damit vorgenommenen Klassifikationen werden hinterfragt: Ob ein Werk als »Bildungsroman« klassifiziert werden soll, hängt nicht zuletzt damit zusammen, ob das Werk, in den Augen des aktuellen Forschers, einen Prozess der Versöhnung zwischen Innerem und Äußerem, zwischen Individuum und Welt vollzieht, oder, ob dieser dynamische Prozess im aktuellen Werk abgebrochen und zum Stillstand gebracht wird und damit dem Roman selbst die Struktur einer Aporie verleiht.74 An dieser Stelle geht es vor allem um die Möglichkeit, »Versöhnung« und »Aporie« nicht als Klassifikationsmerkmale zur Ausweitung oder Eingrenzung des Kanons der Bildungsromane zu verstehen, sondern als Prinzipien der Gattungsverhandlungen, die dem Einzelwerk selbst inhärent sind und seine Sinnproduktion entschieden mitbestimmen. Ohne auf die Wirkungsgeschichte des Bildungsromans näher einzugehen, wird darauf hingewiesen, dass die Auf-
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G. W. F. Hegel: Ästhetik. Herausgegeben von Friedrich Bassenge. Mit einer Einführung von Georg Lukäcs. Bd. II, Frankfurt am Main 1966, S. 452. Georg Lukäcs: Theorie des Romans, S. 135. Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 16. Zu Wieland vgl. die schon zitierten Werke Hemmerichs, Erharts und Buddes, zum Bildungsroman im allgemeinen vor allem Klaus-Dieter Sorg: Gebrochene Teleologie. Studien zum Bildungsroman von Goethe bis Thomas Mann, Heidelberg 1983. Vgl. dazu Jacobs: »Fehlrezeption und Neuninterpretation«, S. 278, wo er auf Erharts Ablehnung jener Deutungen des Agathon, »die das Werk in die Tradition der Bildungsromane stellen«, kritisch eingeht.
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Geschichte des Agathon: Die Dekonstruktion des Staatsromans
deckung von unlösbaren Konflikten und unabschließbaren Handlungsverläufen die Gattung von ihren Anfängen begleitet hat. Wenn Kritiker der Versöhnung als Gattungskriterium, wie Martin Swales und Klaus-Dieter Sorg, die »Offenheit« und »Undurchschaubarkeit [obliqueness]« (Swales) oder die »Unabschließbarkeit« (Sorg) von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre betonen, können sie sich daher auf die Urteile Schillers und Friedrich Schlegels stützen.75 In diesem Kontext wird auch die Frage nach der gattungsgeschichtlichen Stellung des aufklärerischen Staatsromans brisant. Anhand der Arbeiten Klippels und Garbers wurde bereits auf das vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorherrschende »synchrone Gegeneinander ungleichzeitiger Politikauffassungen« (Garber) verwiesen. Zur Gattungsfunktion des Staatsromans gehört laut Schings die Fähigkeit zur Aufnahme der verschiedenen leitenden Interessen des politischen Denkens der Aufklärung - eine Fähigkeit, die einerseits die Integrationskraft der Gattung bezeugt, andererseits aber ihren Zerfall antizipiert. 76 Als Beispiel fur diese konträren Dynamiken wird noch einmal an die Problematik der »Anwendung« erinnert, an der sich zeigen ließ, wie das im Absolutismus etablierte Ideal eines politischen Instrumentalismus mit der moralisch-normativen Begründung politischen Handelns im Kontext des aufklärerischen Naturrechtdenkens in Widerspruch gerät. Der Staatsroman kann sich im 18. Jahrhundert der Dialektik zwischen Politik und Moral und den dadurch verursachten Aporien nicht mehr entziehen. »Aporie« aber, wird in diesem Zusammenhang, ähnlich wie »Versöhnung«, als ein poetologisches Prinzip verstanden, das in den Werken als eine besondere Dynamik der Sprache und der Texte zum Vorschein kommt. Daraus erfolgt der hier unternommene Versuch, im Gegensatz zwischen »Aporie« und »Versöhnung« auch eine Distinktion zwischen dem Gattungsmuster des Staatsromans und dem Gattungsmuster des Bildungsromans zu erkennen. Dabei handelt es sich aber um eine Gattungsdistinktion, die selbst dynamisch ist und als »innertextliche« Grenze im Einzelwerk untersucht werden muss. Durch die in die Aufklärung zurückprojizierte, geschichtsphilosophisch aufgeladene Konzeption der »Bildung« werden Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten einer sowohl individuellen als auch historischen Teleologie unterworfen. Im Bildungsroman werden die Konflikte der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit verinnerlicht und in der Vorstellung eines individualutopischen Bildungsziels geschichtsphilosophisch überboten.77 Inwiefern die Aporien des Politischen - im Sinne Kosellecks — wirklich die Sache des Staatsromans sind, wäre indessen angesichts der neueren, vom Begriff der »Aporie« informierten Forschung zum Agathon zu überprüfen.
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Vgl. Swales: The German Bildungsroman, S. 26; Sorg: Gebrochene Teleologie, S. 33. Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«, S. 152. Vgl. Voßkamp: »Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution«, S. 338f.; und ders.: »Utopie und Utopiekritik«, S. 227f.
Versöhnung des Bildungsromans, Aporie des Staatsromansi
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In Bezug auf Wielands Agathon ist der »Aporie«-Begriff vor allem in den Arbeiten Hemmerichs, Erharts und Buddes verwendet worden, die sich alle sehr kritisch mit der Vorstellung eines sich im Laufe des Romans vollziehenden und in einem Zustand der Versöhnung mündenden Entwicklungsprozesses auseinandersetzen: Interpretation durch »Übertragung des neuhumanistischen Bildungsbegriffs eines Herder, Goethe und Humboldt auf die Geschichte des Agathon«79, müsse, so Erhart, durch eine Lesart ersetzt werden, in der die »Aporie des Romankonzepts« als »Ausdruck einer geistesgeschichtlichen Problemsituation« verstanden wird. 79 In Anknüpfung an die Vorstellung der Dekonstruktion will Erhart zeigen, wie in Wielands Agathon die »in den Gattungen aufbewahrten >Bedürfnissynthesen< [...] rückgängig gemacht« werden. 80 Unter »Aporie« versteht Erhart jedoch nicht in erster Linie ein poetologisches oder gattungsgeschichtliches Problem, sondern die moralphilosophische »Gegenüberstellung von materialistisch-empiristischer Philosophie und platonisch-leibnizschem Idealismus«, 81 die sich im Rahmen seiner Funktionsgeschichte des Agathon-Projektes als »eine vom Helden und seinen Lesern gleichzeitig erfahrene >Entzweiung«< auswirkt. 82 Trotz seiner Kritik an dem in der Forschung zum Bildungsroman propagierten Entwicklungs- und Versöhnungsideal bleiben die Agathon-Interpretationen Erharts an den fiir diese Tradition paradigmatischen Konzeptionen der »Individualität« und »Subjektivität« haften. Lediglich das Vorzeichen hat sich geändert: nicht das sich emanzipierende und zu sich selbst kommende Individuum der modernen Epoche wird thematisiert, sondern, im Sinne einer »dialektische [n] Uminterpretation der >Aufklärungentzweiten< Subjekts«. 84 Anhand der Darstellung Erharts bleibt allerdings zu fragen, ob der Praxisbezug der Philosophie in dieser subjektphilosophischen Dialektik bereits erschöpft ist, oder ob hinter der Aporie der »entzweiten« Individualität auch eine Aporie der »entzweiten« Politik in Erscheinung tritt. Diese Frage konnte im Rahmen der Agathon-Forschung allerdings lange nicht gestellt werden, weil die »durchaus nicht irrige Fixierung auf die Probleme des Bildungsromans«, so Thomd, »die politischen Aspekte des Romans [...] weitgehend verdeckt« hat. 85 Diese Ausgrenzung der politischen Aspekte des Agathon kann auf die erste kanonische Deutung des Werkes, in Blanckenburgs Versuch über den Roman von 1774, zurückgeführt wer-
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Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 7. Ebd., S. 8. Vgl. auch Hemmerich: Wielands »Geschichte des Agathon«, S. 4ff.; und Budde: Aufklärung als Dialog, S. 34ff. Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 179. Ebd., S. 104. Ebd., S. 21. Ebd., S . l l . Ebd., S. 13. Thome: »Menschliche Natur«, S. 207.
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Geschichte des Agathon: Die Dekonstruktion
des Staatsromans
den. Als ausschlaggebend erweist sich die von Blanckenburg eingangs gemachte Trennung zwischen Epos und Roman, wobei dem Epos »öffentliche Thaten und Begebenheiten, das ist Handlungen des Bürgers«, dem Roman aber die »Handlungen und Empfindungen des Menschen« als literarische Gegenstände zugeschrieben werden. 86 In der Theorie Blanckenburgs wird der moderne Roman zum wichtigsten Medium für den Rückzug des moralischen Individuums in die Privatsphäre, zur Ausklammerung des Menschen als Menschen aus dem staatlichen Ordnungsgefüge. Der Roman ist nach Blanckenburg die Gattung für »das, was den Menschen eigentlich angeht, (ohne daß wir an ihn als Glied eines gewissen Staates denken)«; nicht der Bürger, sondern nur der Mensch kann daher zur Hauptperson eines Romans erhoben werden. 87 Diese Trennung des Menschen vom Bürger führt in Blanckenburgs Interpretation von Wielands Agathon zu einer Konzentration auf -»das Innre Acs Menschen« 88 und zu einer Verkennung der politischen Sinnebenen des Romans. 8 9 Gegen ein überwiegend biographisches Verständnis der Gattung betont jedoch bereits Dilthey, dass der Bildungsroman »bewusst und kunstvoll das allgemein Menschliche an einem Lebenslaufe darstellt« und sich dadurch von allen älteren biographischen Dichtungen, wie ζ. B. Fieldings Tom Jones, absetzt. 90 Durch dieses Element kommt weiterhin die politische Kehrseite der strapazierten Individualität zum Vorschein: Der Mensch als Mensch entzieht sich dem feudalen Gefüge und den notwendigen, von Gott geschaffenen Seinsbedingungen, um sich selbst frei zu gestalten. Im Gegensatz zu den Vorformen des symbolischen Bildungsromans, wie ζ. B. Karl Phillip Moritz' Anton Reiser, kann weiterhin, so Thome in seiner Studie zu Wielands Agathon, »Wielands Behandlung zeitgenössischer sozialer Verhältnisse als allegorisch bezeichnet werden«, indem sie auf die Darstellung des Besonderen im Allgemeinen ziele. 91 Thome führt diese Argumentation weiter und schließt von der ahistorischen Reflexion über die Natur der Menschen auf eine ebenso abstrakte Typenbildung im Bereich der Politik, durch die »möglichst Gegensätzliches zusammengeordnet wird, um so alle menschlichen Situationen und Zustände zu erfassen«. 92 In diesem Sinne wird die Konzeption der Politik mit einer Kategorie der Aporie oder des Aporetischen verknüpft.
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Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, S. 17. Ebd., S. XV. Ebd., S. 18. Vgl dazu Jürgen Jacobs: »Die Theorie und ihre Exempel. Zur Deutung von Wielands >Agathon< in Blanckenburgs Versuch über den RomanFürstenerziehungHofkritikGeheimbundes< und zuletzt - als nicht realisierte Möglichkeit - der >Staatsaktion< durchgespielt. Auch diese Topoi stellen dabei vor allem eine Reihe von Anlässen für die im Roman ausgetragenen Gattungsverhandlungen dar, in denen die Intentionen und Konventionen des Bildungsromans mit den Intentionen und Konventionen des Staatsromans in Konkurrenz treten. D i e Verhandlungen selbst kommen zu Stande, indem der Erzähler zu seinem Helden auf Distanz tritt und — in Ubereinstimmung mit einem auktorialen Kommunikationsmodell - eine diskursive Dekonstruktion der narrativen Geltungsansprüche vornimmt.
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Vgl. dazu Panajotis Kondylis: D i e Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Freiburg/München 1986, S. 357ff.
Bildung zur Politik — im Brennpunkt zwischen narrativen und diskursiven Strategien
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3.4 Bildung zur Politik - im Brennpunkt zwischen narrativen und diskursiven Strategien Seit Buddecke kann von einer »Stationentechnik« des Agathon gesprochen werden. Die Abfolge der »Stationen« Delphi, Athen, Smyrna, Syrakus und schließlich Tarent stellt daher den Bildungsgang des Helden dar. Die politische Funktion dieser »Stationentechnik« kann wiederum darin erkannt werden, dass verschiedene Staatsordnungen, wie Demokratie, Tyrannei, aufgeklärter Absolutismus und patriarchalische Utopie, einschließlich einer Reihe von Regierungspraktiken, durchgespielt werden. Während Agathons erster Versuch, sich der großen Welt hinzugeben, in einer Stadtrepublik spielte, befindet er sich für den zweiten am fürstlichen Hof. Das Ideal einer demokratischen Verfassung hat sich in Athen als eine bloße Schimäre herausgestellt, und die Aristokratie lasse sich, so Agathon, »anders nicht als durch die gänzliche Unterdrückung des Volks« (A 416) verwirklichen, also wendet er sich der Monarchie zu. Die Monarchie, die im 18. Jahrhundert fur die meisten deutschen Intellektuellen die einzig denkbare Staatsordnung war, scheint ihm jetzt, »von allen Seiten betrachtet, die einfachste, edelste, und der Analogie des großen Systems der Natur gemäßeste Art die Menschen zu regieren« zu sein, denn »ein einziger guter Fürst, war, nach seiner Voraussetzung, vermögend, das Glück seines Volkes auf ganze Jahrhunderte zu befestigen« (ebd.). Auf dem Schiff nach Syrakus, an den Hof Dionysius', bereitet sich Agathon nach dem Scheitern in Athen auf den nächsten Eintritt in die Welt der Politik vor. Seinen »Hang zu seinen alten Lieblings-Ideen« (A 346) haben ihm die bisherigen schlechten Erfahrungen nicht nehmen können. Während er allerdings in Athen »nur zufälliger Weise, und gegen seine Neigung in das aktive Leben verflochten« worden war, so ist es jetzt »eine Folge seiner nunmehrigen, und wie er glaubte geläuterten Denkungs-Art, daß er sich dazu entschloß« (A 347). Als Ziel stellt sich Agathon, ganz im Geiste der Aufklärung, die »Wiedereinsetzung Siciliens in die unendlichen Vorteile der wahren Freiheit und einer durch weise Gesetze und Anstalten verewigten Verfassung« vor (ebd.). Auf Grund dieser neuen Pläne des Helden lässt sich behaupten, dass Bildungsroman und Staatsroman, individualpsychologische und politische Elemente, im Begriff sind, eine für den Rest des Romans entscheidende Allianz einzugehen. Der von Agathon durchgemachte Bildungsprozess scheint in der Tat aus dem schwärmerischen Helden einen klügeren und reiferen Politiker gemacht zu haben, der fortan im Stande sein könnte, in die Welt der Politik einzugreifen: Zum ersten geht den politischen Ambitionen Agathons diesmal ein bewusster Entschluss voraus, der als Nexus zwischen moralischer Uberzeugung und politischem Handeln auftritt; zum zweiten soll das Ideal der »wahren Freiheit« in Syrakus durch ausgeprägt politische Mittel wie »Gesetze«, »Anstalten« und »Verfassung« implementiert und in die Praxis umgesetzt werden; und zum dritten liegen, wie zu zeigen ist, die pragmatisch-politischen Strategien für diese geplante Umsetzung schon fest.
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Agathons Pläne ftir seine Reformbestrebungen in Syrakus können am besten durch zwei sowohl für den aufgeklärten Absolutismus als auch für die Gattung des Staatsromans paradigmatische Topoi veranschaulicht werden: die >Fürstenerziehung< und den >redlichen Mann am HofeFürstenerziehung< gemäß fährt Agathon nach Syrakus, um Piaton, dem Göttlichen Weisen, dessen erhabne Lehren er zu Athen so rühmlich auszuüben angefangen hatte, ein so glorreiches Werk vollenden zu helfen, als die Verwandlung eines zügellosen Tyrannen in einen guten Fürsten, und die Befestigung der allgemeinen Glückseligkeit einer ganzen Nation. (A 3 3 7 )
Die Art und Weise, wie es zu dieser Erziehung des Tyrannen Dionysius zu einem guten aufgeklärten Fürsten kommen könnte, wird Agathon von einem Kaufmann aus Syrakus nahe gelegt. Der Kaufmann berichtet dem hoffnungsvollen Jüngling von der außerordentliche[n] Gunst, worin Piaton bei dem jüngern Dionysius zu Syracus stehe; die philosophische Bekehrung dieses Prinzen; und die großen Erwartungen, mit welchen Sicilien den glückseligen Zeiten entgegensehe, die eine so wundervolle Veränderung verspreche, (ebd.)
Als Ratgeber des Tyrannen will Piaton aus Dionysius, »berüchtigt durch die ausschweifendste Lebens-Art«, »ein Liebhaber der Philosophie, ein Lehrling der Tugend« machen (ebd.). Agathon reist jetzt nach Syrakus, um Piaton in seinem Vorhaben beiseite zu stehen, um, wie er später sagt, »das Amt eines Freundes und Ratgebers bei diesem Tyrannen« (A 479) zu übernehmen. 98 Anhand dieser Strategien und Pläne Agathons wäre es möglich, eine Eigenart des Politischen zu erkennen, die nicht ohne weiteres in den oben besprochenen Diagnosen der Schwärmerei und des Utopismus aufgeht. Sowohl im theoretischen Sinne, im Hinblick auf die politischen Mittel der »Gesetze« und der »Verfassung«, als auch im historischen Sinne, durch die Übernahme der im politischen Praxisdenken des 18. Jahrhunderts paradigmatischen Strategie der Fürstenerziehung durch einen redlichen Mann am Hofe, bildet sich eine Politikkonzeption heraus, die möglicherweise eine Alternative zur fatalen Dialektik der »Anwendung« darstellen könnte. Daraus folgt weiterhin, dass die dynamisch-teleologischen Paradigmen der »Bildung« und der »Entwicklung« wieder zur Geltung kommen, indem sich Agathon in diesen Passagen gerade als Politiker entwickelt zu haben scheint. Dass Agathon in der Tat bereit ist, sich auf die Faktizität des Politischen,
58
Z u m Ideal des >redlichen Mannes am Hofe« in der deutschen Aufklärung siehe vor allem die breit angelegte, informative und sehr perspektivenreiche Darstellung von Wolfgang Martens: Der patriotische Minister. Fürstendiener in der Literatur der Aufklärungszeit, Weimar/Köln/Wien 1 9 9 6 . In diesem W e r k findet sich auch eine knappe, aber ergiebige Diskussion zur Figur des »Fürstendieners« in Wielands Agathon und Goldnem Spiegel, vgl. S. 2 5 6 - 2 6 5 .
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auf die faktische »Heterogonie der Zwecke«, um mit Koselleck zu sprechen, einzulassen, wird bestätigt, wenn er nach seiner Ankunft in Syrakus fur seine politischen Handlungen einen »Verhaltungs-Plan« (A 4 1 5 ) ausdenkt: er stellte sich eine Menge Zufälle vor, welche begegnen konnten, und setzte sich die Maßregeln bei sich selbst feste, nach welchen er in allen diesen Umständen handeln wollte. (A 415). Um die genuin politische Rationalität in Agathons Überlegungen gewahr zu werden, wird an die Politik-Definition J. G. A. Pococks, aus seiner Studie der Tradition des Republikanismus, angeknüpft. Politik, so Pocock, ist »die Kunst, Kontingenz zu behandeln«. 99 In der Tat scheint an dieser Stelle im Agathon-Roman fortuna als »Symbol der Kontingenz« 1 0 0 in das Leben am Hofe in Syrakus einzubrechen: Plato ist als Ratgeber des Dionysius »entfernt« worden, der Fürst »wieder in [die] Gewalt seiner ehemaligen Günstlinge« (A 4 1 4 ) gekommen. In der Sprache des florentinischen Republikanismus, der infolge der Dämonisierung Machiavellis durch die Aufklärer zur Zeit Wielands in Abruf geraten war, 1 0 1 hängt es nun von Agathon ab, durch sein virtü - das nicht mit seinen moralischen Grundsätzen verwechselt werden muss, sondern einen politischen Kompetenzbegriff darstellt - in diese Situation einzugreifen. 102 Er verbringt »den größten Teil der Nacht in einem Mittelstand zwischen Entschließung und Ungewissheit«, be-
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J. G. A. Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton, New Jersey 1975, S. 156: »If politics be thought of as the art of dealing with the contingent event, it is the art of dealing with fortuna as the force which directs such events and thus symbolizes pure, uncontrolled, and unlegitimated contingency.« Für eine Diskussion von Pococks Politikbegriff vgl. Kari Palonen: Das >Webersche Moment«. Zur Kontingenz des Politischen, Opladen/ Wiesbaden 1998, S. 9. Pocock: The Machiavellian Moment, S. 157; vgl. auch Palonen: Das >Webersche Moment«, S. 26. Zur Funktion der Kontingenz in Wielands Agathon vgl. Frick: Providenz und Kontingenz, bes. S. 441—451. In der »Regentschaft des Zufalls« hat ebenfalls Klaus Oettinger ein »fundamentales Prinzip der Ereignisstruktur des Romans« erkannt. Siehe Oettinger: Phantasie und Erfahrung. Studien zur Erzählpoetik Christoph Martin Wielands, München 1970, S. 85. Allerdings haben sich weder Oettinger noch Frick für die spezifisch politische, nicht allein weltanschauliche oder poetologische Funktion dieses Kontingenzprinzips wesentlich interessiert. Dieser von Pocock übernommene Begriff des »Republikanismus« bezieht sich auf eine sich von den Römern bis hin zur Florentiner Republik und zum Denken Machiavellis entfaltende Tradition, die vor allem um die Stärke und Stabilität der Republik bemüht ist, als Funktion der Tugenden und Laster des politischen Indviduums, vor allem des Fürsten, und sollte daher nicht mit Wölfeis Begriff des »poetischen Republikanismus« verwechselt werden, der bei Wieland und Jean Paul im »Motiv Tyrannensturz«« seine prägnanteste Ausprägung findet. Siehe Wölfel: »Jean Pauls poetischer Republikanismus«, S. 184. Palonen definiert in diesem Sinne virtu als »das Verhalten zur Kontingenz«. Siehe Palonen: Das iWebersche Moment«, S. 26.
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vor er sich entscheidet, »es darauf ankommen zu lassen, wozu ihn die Umstände bestimmen würden« (A 415). Dann konzipiert er den »Verhaltungs-Plan«, in dem er sich — im Zeichen des Begriffspaares fortuna-virtii - auf die »Zufälle« vorbereitet, die ihm als politisch handelndem Menschen notwendigerweise begegnen werden. Agathon stellt sich hier das politische Leben am Hofe als einen Handlungsraum vor, dem er nicht moralisch entfremdet bleiben kann, sondern auf dessen kontingente Eigenlogik er sich einlassen muss, um seine Ziele erreichen zu können. Es wäre daher zu kurzsichtig, mit Erhart zu behaupten, Agathon übernehme an dieser Stelle das »Prinzip höfischer Rationalität«. 1 0 3 Zwar schlägt der Held jetzt einen Weg ein, der eine absolutistische Staatsklugheit zur Maxime erhebt und - worauf in der Interpretation von Jean Pauls Hesperus näher eingegangen wird - der gewissen machiavellistischen Zügen nicht entbehrt; Agathon bleibt aber zugleich der Aufklärung und der Moral verpflichtet, indem er für sich die »Maßregeln« festlegt, nach denen er handeln, oder umgekehrt, die er anwenden soll: »Die genaueste Verbindung der Klugheit mit der Rechtschaffenheit,« fügt er ganz im Geiste der aufgeklärten Kritik am Machiavellismus und an der Staatsräson hinzu, »war die Seele davon« (ebd.). An keiner anderen Stelle in Wielands Roman, so die hier vertretene These, kommt Agathon einem Selbstverständnis als homo politicus so nahe wie in dieser Nacht, wenn er überlegt, wie er sich zur Kontingenz der höfischen Politik verhalten soll. Dass einzige, was ihn daran hindert, zu einem politisch handelnden Menschen zu werden, ist seine »Ehre«: Agathon will »immer die Freiheit behalten, sich so bald er sehen würde, dass er vergeblich arbeite, mit Ehre zurückzuziehen« (ebd.). Noch im höfischen Roman des Barock war die »Ehre« die höchst denkbare persönliche Tugend gewesen. Im aufgeklärten Staatsroman und in Wielands Agathon geht sie aber mit anderen Motiven wie »Eitelkeit«, »Eigenliebe« und »Stolz« einher, die zu »Gegenspielern der sich uneigennützig gerierenden >TugendBildung zur Politik», in der ein Zusammenfall von den Gattungsintentionen des Staatsromans und des Bildungsromans zu erkennen wäre, in die Aporie geraten. Der Konflikt zwischen Moral und Politik, zwischen den Idealen des Helden und der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit, kann nicht mehr teleologisch, im Sinne einer individualpsychologischen Entwicklung von Schwärmerei und Utopismus zu politischer Verantwortlichkeit, versöhnt werden. Am Ende kommt es vor allem dem Erzähler des Romans zu, diesen narrativ anvisierten Zusammenfall von bürgerlicher Moral und absolutistischer Politik so wie zwischen Bildungsroman und Staatsroman diskursiv aufzulösen. Dem »Vorbericht« kann entnommen werden, dass der Erzähler, genau wie der Erzähler des Goldnen Spiegels, der »Herausgeber« der im Roman vorgelegten, »aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen [en]« ( A l l ) Geschichte ist. So lange Agathon selbst, in der Erzählung von seinen Erlebnissen in Delphi und Athen, das Wort führt, hält sich der Erzähler, wie vorhin der Herausgeber des Goldnen Spiegels, zurück. Wenn sich aber der Held auf den Weg nach Syrakus begibt, wird im Roman eine persönliche Erzählstimme vernehmbar. Einem auktorialen Kommunikationsmodell zufolge fuhrt der Erzähler mit den Lesern ein laufendes Gespräch, durch das er sie über die Realitäten von Agathons Lebensgeschichte aufklären will. Narrative und diskursive Elemente laufen fortan in den Gattungsverhandlungen des Romans zusammen - wobei der Diskurs des Erzählers immer wieder in den Handlungsverlauf eingreift und die narrativ geschilderte Entwicklung des Helden in Frage stellt oder gar durchkreuzt. Bereits vor Agathons Ankunft in Syrakus nimmt daher der Erzähler das erneute Scheitern der politischen Bestrebungen des Helden vorweg und stellt die Aporie der Politisierung wieder in ihrer strukturbildenden Funktion im Roman her: Letztendlich geht Agathon nicht nach Syrakus, um einen utopischen Staat zu gründen, sondern »um an dem Hof< eines Fürsten zu lernen, daß auf dieser schlüpfrigen Höhe,« so der Erzähler, »die Tugend entweder der Klugheit aufgeopfert werden muss, oder die behutsamste Klugheit nicht hinreichend ist, den Fall des Tugendhaften zu verhindern« (A 348). Durch diesen nüchtern-ironischen Pessimismus des Erzählers wird die nicht zuletzt von Agathon selbst vertretene Vorstellung einer Allianz von Bildungsroman und Staatsroman zurückgewiesen. Im Agathon, so Campe, fehlt »die Ausgestaltung einer eigentlich politischen Sphäre«, so dass die Darstellung des politischen Handlungsbereichs »gegenüber der Darstellung moralischen Denkens, schemenhaft« bleibt. 105 In der Tat scheint es, als würden Held und Erzähler im negativen politischen Lehrstück zu Syrakus unterschiedliche Strategien verfolgen: Bei jedem neuen Schritt des Helden wird ihm vom Erzähler der Boden entzogen.
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Joachim Campe: Der programmatische Roman. Von Wielands »Agathon« zu Jean Pauls »Hesperus«, Bonn 1979, S. 81.
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Für Agathon stellt der H o f zu Syrakus, zumindest für eine kürzere Zeit, einen politischen Handlungsraum dar; für den Erzähler dagegen ist die Stadt lediglich ein Beispiel politischer Unordnung und Zerrüttung. In diesem Sinne schildert er die Herrschaft des Dionysius als »ein immerwährendes Bacchanal« (A 3 8 9 ) , wo Leidenschaften, Launen, vorüberfahrende Anstöße von lächerlichem Ehrgeiz, die kindische Begierde von sich reden zu machen, die Convenienz eines Günstlings oder die Intrigen einer Buhlerin die Triebfedern der Staatsangelegenheiten, der Verbindung und Trennung mit auswärtigen Mächten, und des öffentlichen Betragens sind. (A 390) Parallel dazu, dass sich Agathon politisch zu betätigen versucht, unterhöhlt und zersetzt der Erzähler die politische Sphäre als solche durch die Kritik an ihren Normen und Urteilskategorien. Die auf Wahrheit, Vernunft und Naturhaftigkeit zielende philosophische Kritik weitet sich auf die Politik aus, ohne aber ihren scheinbar unpolitischen und überpolitischen Anspruch aufzugeben. Aus dem Gegensatz zwischen Erzähler und Held, zwischen Diskurs und Handlung entwickelt sich somit noch eine der vielen Aporien des Romans: Agathon sucht die — narrative - Umsetzung seiner moralischen Grundsätze in eine politische Praxis; diese Praxis kann aber wegen der - diskursiven — Entfremdung der Sphäre des Politischen durch die moralische Kritik des Erzählers nicht verwirklicht werden. In diesem Sinne nimmt im Agathon der Erzähler die oben erörterte Position des Gegenspielers ein, der die vom Roman mitgefiihrten poetologischen Ansprüche bestreitet und in Frage stellt und damit die im Roman ausgetragenen Gattungsverhandlungen auslöst. Haben wir im Agathon einen ausgesprochenen Verfechter der mit dem Gattungsmuster des Bildungsromans verknüpften Ideale der Entwicklung und Versöhnung erkannt, im Sinne einer >Bildung zur Pol i t i k , meldet sich im Gegenteil der Erzähler immer wieder als Kritiker an diesem Bildungsoptimismus zu Wort und verweist dadurch seinen Helden in das in einem Prozess der Dekonstruktion begriffene Gattungsmuster des Staatsromans und die darin wirksamen Aporien zurück. Zu einem vorläufigen Ende dieses Konfliktes zwischen Erzähler und Helden scheint es zu kommen, indem Agathon noch während seines Aufenthaltes am Hofe in Syrakus sein offen eingestandenes Ideal politischen Handelns aufgibt und zur moralistisch-kritischen Strategie des Erzählers überwechselt. Nach seinem misslungenen Intermezzo als fürstlicher Ratgeber gibt Agathon seine furstenerzieherischen Ambitionen auf und zieht sich, um mit Koselleck zu sprechen, in den moralischen Innenraum des Bürgers zurück. Aus diesem Arkanbereich der bürgerlichen Moral wendet er sich gegen den Fürsten und den H o f und stellt fortan grundsätzlich die Legitimität der absolutistischen Macht in Frage. Anscheinend fallen seine Absichten hier mit denen des Erzählers zusammen, indem Agathon - ganz im Sinne des Staatsromantopos der >Hofkritik< - der höfischen Kabinettpolitik alle Gültigkeit abschreibt und den Fürsten als unfähigen Tyrannen entlarvt: »Was für Pflichten habe ich gegen ihn, welche sein undankbares
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niederträchtiges Verfahren gegen mich nicht aufgehoben, und vernichtet hätte? [...] Wer ist denn dieser Dionysius? Was fur ein Recht hat er an die höchste Gewalt, die er sich anmaßt?« (A 480). An die Stelle des offenen und kompetenten politischen Handelns tritt jetzt das moralisch-revolutionäre Pathos: »Es ist Zeit der Comödie ein Ende zu machen, und diesem kleinen Theaterkönig den Platz anzuweisen, wozu ihn seine persönlichen Eigenschaften bestimmen« (A 482). In der Sprache Agathons klingen die hofkritischen Topoi des Erzählers nach: Aus dem »Bacchanal« ist ein »Theater« geworden. Als Mensch entlarvt, und auf seine persönlichen Eigenschaften beschränkt, kann der Fürst zu Syrakus nichts anders als ein Usurpator sein. Die bürgerliche Kritik spricht Dionysius sein Element, das Politische, ab und unterwirft ihn einem moralischen Urteil, das ihn seiner Rolle als Herrscher entfremdet. Diese Wendung gegen den Staat kann indessen nur verdeckt geschehen. Um die Tyrannei des Dionysius umzustürzen, macht Agathon mit Dion, dessen republikanische Träume er früher abgelehnt und bekämpft hatte, gemeinsame Sache und stellt sich an die Spitze »einer Konspiration [...], an welcher alle diejenigen Anteil nahmen, die aus edlern oder eigennützigem Bewegursachen, mit der gegenwärtigen Verfassung unzufrieden waren« (A 484). Nach Fürstenerziehung, Moralisierung des Hofes durch den redlichen Bürger, und bürgerliche Hofkritik wird hier noch ein Topos der Gattung des aufgeklärten Staatsromans durchgespielt: der Topos des Geheimbundes, der geheimen Verbindung oder Verschwörung — der angesichts der großen Verbreitung des Logenwesens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wesentlich an politischer Brisanz gewonnen hat. Angesichts der Wirkungslosigkeit seiner politischen Pläne und Strategien schlägt Agathon den von Koselleck beschriebenen und im Roman vom Erzähler selbst praktizierten Weg der Usurpation der absolutistischen Macht ein, dessen letzter Schritt die mit Dion geplante revolutionäre Verschwörung darstellt. Bei Koselleck tritt das Logengeheimnis - das »arcanum« 1 0 6 - als praktisch-gesellschaftliches Korrelat zur Hypokrisie der Philosophen und Schriftsteller auf. Innerhalb der Logen war der Bruder kein Untertan der Staatsgewalt, sondern ein Mensch unter Menschen. Die Funktion des Logengeheimnisses bestand darin, den sozialen Raum der Freiheit und Gleichheit zu umgrenzen und gegen den Staat zu schützen. Dadurch wurde das Geheimnis zur »Grenzscheide zwischen Moral und Politik« 107 und konnte die politisch entscheidende Wendung von der inneren moralischen Freiheit zu einer auch äußeren, politischen Freiheit verhüllen. Diese Dialektik von Aufklärung und Geheimnis wird in der von Agathon geleiteten Verschwörung gegen den Tyrannen Dionysius exemplarisch vorgeführt. Die Planung dieser Verschwörung muss wie in den aufklärerischen Logen streng geheim
106 107
Koselleck: Kritik und Krise, S. 57. Ebd., S. 60.
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gehalten werden. Agathon und Dion planen ihre Machtübernahme in einem »geheimen Briefwechsel« (A 484), der sich den »geheime[n], schleichende[n], und indirecte[n] Wege[n]« (A 476) des Hofes zugleich aneignet und widersetzt. Als es endlich einem der Günstlinge Dionysius', Philistus, gelingt, sich eines der verschwörerischen Briefe zu bemächtigen, kann er nichts darin finden, was auf einen hervorstehenden Umsturz des Fürsten hinweist: »von einem Anschlag gegen die gegenwärtige Regierung und die Person des Dionysius, war außer einigen unbestimmten Ausdrücken, welche ein Geheimnis zu verbergen scheinen konnten, nichts darin enthalten« (A 485). Immerhin tritt die erwartete und oben in Aussicht gestellte Einstimmigkeit zwischen Erzähler und Helden — indem beide eine »verborgene Wendung gegen den Staat«108 und die absolutistische Politik vollziehen — nicht ein. An keiner Stelle im Agathon kommt es zu einer im Zusammenfall von diskursiven und narrativen Strategien vorgeführten Eindeutigkeit moralischen Denkens und Handelns, sondern immer wieder löst Wieland den moralischen Anspruch des Romans in die Interpretationsvielfalt verschiedener Standpunkte auf. Wenn Agathon in Syrakus zur Strategie der bürgerlichen Verschwörung überwechselt und letztendlich scheitert, mischen sich daher mehrere neue Stimmen in die Erzählung ein, die die Handlung kommentieren und in Frage stellen. Zu Wort kommen vor allem der Philosoph Aristipp und der griechische Autor des Originalmanuskriptes zum Agathon-Koman. Ihnen geht es allerdings nicht um die Rettung oder die Apologie des Helden, sondern um die Reflexion über die Möglichkeit von moralisch verankerter politischer Handlung, von »Anwendung«, überhaupt. Die Mehrstimmigkeit wird auch insofern beibehalten, als der Erzähler die Position wechselt und Agathon gegenüber kritisch bleibt. Agathons Entschluss, sich gegen seinen bisherigen Gebieter zu wenden, gibt daher Anlass zum folgenden Erzählerkommentar: Unsere Leser sehen aus dieser Probe der geheimen Gespräche, welche Agathon mit sich selbst hielt, daß er noch weit davon entfernt ist, sich von diesem enthusiastischen Schwung der Seele Meister gemacht zu haben, der bisher die Quelle seiner Fehler sowohl als seine schönsten Taten gewesen sind (A 519).
In der »Nachricht an den Leser«, nach Agathons Verhaftung, Verurteilung, und schließlich Rettung durch seine Freunde in Tarent, fragt weiterhin, etwas verzweifelt, eine zweite Erzählerstimme, die nicht mehr dem pragmatisch-zynischen Herausgeber, sondern dem griechischen Autor des ursprünglichen Manuskripts gehört: »[A]ber [...] was hatte er auch an einem Hofe zu tun? Er, der sich weder zu einem Sklaven, noch zu einem Schmeichler, noch zu einem Narren geboren fühlte, was woll-
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Ebd., S. 68ff.
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te er am Hofe eines Dionysius machen? - Was fiir einen Einfall - und wenn ist jemals ein solcher Einfall in das Gehirn eines klugen Menschen gekommen? - einen lasterhaften Prinzen tugendhaft zu machen! - Oder welcher rechtschaffene Mann, der einen Fond von gesunder Vernuft und gutem Willen in sich gefühlt, ist jemals damit an einen Hof gegangen, wenn er im Sinne hatte, von dem einen oder dem andern Gebrauch zu machen?« (A 492)
In dieser Absage an den Topoi der >Fürstenerziehung< und des >redlichen Mannes am Hofe< kann nachgelesen werden, wie die bürgerlich-moralische Rhetorik sich selbst zugrunde gerichtet hat. Noch vor dem Eintritt des Helden in die Welt des Absolutismus war es dem Weisen Aristipp zugekommen, Agathon vor dem Leben am fürstlichen Hof zu warnen. Als Agathon an den Intrigen des Hofes zu Syrakus scheitert und ins Gefängnis kommt, sieht dieser seine Prophezeiungen in Erfüllung gehen. In seiner Bilanz der Lebensgeschichte des Helden kann der Erzähler dem stoisch-zynischen Philosophen nur Recht geben: »Wie viele dunkle Stunden würde er sich selbst, und wie viele Sorgen und Mühe seinen Freunden erspart haben«, seufzt er, »wenn er dem Rate des weisen Aristippus ein paar Monate früher gefolget hätte!« (A 489). Die eingestandene Funktionslosigkeit des bürgerlich-moralischen Diskurses findet insofern in Aristipp ihre Bestätigung, als die skeptische Handlungsabstinenz des Philosophen eine implizite Negation von Agathons utopischen Ambitionen darstellt. 109 Der durch das Scheitern des Helden ausgelöste Dialog zwischen Agathon und Aristipp liest sich daher wie eine Reflexion über die Aporie, in die der Roman geraten ist, und zementiert dabei den Antagonismus zwischen Moral und Politik: Auf der einen Seite steht Aristipps realitätsgerechte politische Pragmatik, auf der anderen Agathons absolute moralische Forderungen. Der Zyniker propagiert ein im materialistisch-sensualistischen Geiste formuliertes Ideal der Staatsklugheit, das jede Moral oder persönliche Überzeugung als irrelevant und sogar gefährlich ablehnt: »Du hättest«, sagte er ihm in einer vertraulichen Unterredung über den gegenwärtigen Lauf der Sachen, »du hättest dich entweder niemals mit einem Dionysius einlassen, oder an dem Platz, den du einmal genommen hattest, deine moralische Begriffe — oder doch wenigstens deine Handlungen nach den Umständen bestimmen sollen.« (A 477)
Am eindrucksvollsten wirkt jedoch das Eingeständnis Aristipps, er habe den naiven Bildungshelden Agathon in die politische Abenteuer am Hofe des Despoten Dionysius hereingelockt, weil er »begierig war zu sehen, was aus einer solchen Verbindung werden, und wie sich Agathon in so einer schlüpfrigen Stellung ver-
109 Vgl. Hemmerich: Wielands »Geschichte des Agathon«, S. 80. Hemmerich bemerkt, dass der Roman mit Aristipp »einen heimlichen zweiten Protagonisten bekommen hat«.
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halten würde« (A 453). Anhand Jean Pauls Unsichtbarer Loge wurde weiter oben gezeigt, wie Oefel zu einer ähnlichen Strategie gegriffen hat, um die Erfahrungen Gustavs am Scheerauer Hofe als Material fur sein Werk »Der Großsultan« auszuwerten. Sowohl Aristipp als auch Oefel wollen auf diese Weise die Rolle des Erzählers oder gar des Autors usurpieren und sich selbst zum Herrn der Handlung so wie des Lebens des Helden machen. Auf diese Weise nehmen diese sonst sehr unterschiedlichen Figuren, der unbegabte Höfling und der »Philosoph von Cyrene« (A 443), beide an den in den Romanen geführten Gattungsverhandlungen teil: Oefel als Konkurrent und Gegenspieler des Romanerzählers, Aristipp als Inkarnation einer »desinvolvierte[n] Neugier«, die, wie Frick festhält, »erzähltechnisch [...] mit Wielands Thesen zum philosophischen Experimentroman« im Einklang ist. 110 Aristipps an Agathon gerichtete, zynische Bemerkungen zum Verhältnis zwischen Politik und Moral sollte mit anderen Worten nicht nur im Hinblick auf die Romanhandlung, als Bilanz der von Agathon teuer erkauften Erfahrungen, sondern ebenfalls im Hinblick auf die im Werk stattfindenden Gattungsverhandlungen gelesen werden: Halten wir uns an die durch die Figur Aristipps gezogene Bilanz, wird die Gattungsintention des Staatsromans, im Sinne einer Vermittlung zwischen aufgeklärter Moral und absolutistischer Politik, lediglich als ein philosophisches Experiment realisiert, und dient allein zur Befriedigung der Neugierde eines zynischen Philosophen. In dieser negativen Bilanz der narrativen und diskursiven Gattungsverhandlungen im Agathon wäre auch das »fragmentarische« Ende der Erstfassung des Romans vorweggenommen.111 Auf die Kategorie des »Fragments« sowie auf die mit dem Gattungsmaterial des Staatsromans verknüpften Romanschlussprobleme wird im Kapitel zu Jean Pauls Unsichtbarer Loge eingegangen. So lange aber der Agathon-Roman dem im »Vorbericht« gemachten Anspruch auf Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, auf eine Darstellung in Ubereinstimmung mit dem »Lauf der Welt« treu bleibt, kann es zu keiner Versöhnung zwischen pragmatischer Handlungsführung und idealistischer Moral kommen. Am Ende des Agathon
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Frick: Providenz und Kontingenz, S. 4 1 5 . Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 8, 172, 2 4 3 . Interessant an der oben zitierten Rezension Jacobs ist vor allem seine Behauptung, die von Erhart vertretene Auffassung von der Erstfassung des Agathon als Darstellung einer philosophischen Aporie setze voraus, dass Wieland den »offenen Schluß« des Romans »intendiert« habe. Dagegen behauptet Jacobs, dass Wieland im Grunde um die Versöhnung der Widersprüche des Romans, zumal zwischen moralischem Ideal und empirischer Wirklichkeit, bestrebt war: »Wenn die angestrebte Demonstration nicht gelang, so deshalb, weil Wieland wegen der Radikalität, mit der er die zentrale moralphilosophische Frage aufwarf, in Begründungsnöte geriet, vor denen er ironisch >in das Land der schönen Seelen, und der utopischen Republikem auswich.« Diese Aporie, die nicht intentional »dargestellt« wird, sondern in die der Roman sozusagen gegen den Willen des Autors gerät, scheint in der Tat der hier ausgewiesenen Gattungsaporie verwandt zu sein. Vgl. Jacobs: »Fehlrezeption und Neuinterpretation des >AgathonRettung< eines tragfähigen Gattungsmusters Staatsroman ist nicht in Sicht - wobei sich jedoch die Frage stellt, worin die bereits oben angekündigte Neubegründung des Staatsromans im Kontext der Aufklärung durch den Agathon bestehen könnte.
3.5 »Hätte ich mich wie Hippias betragen« oder »Sprung aus dem Fenster«: Kontrafaktische und utopische Schwundstufen des Staatsromans Am Ende der Syrakus-Episode wird Agathon »unter dem Vorwande verschiedener Staats-Verbrechen in Verhaft genommen« (A 485). Zwar können die Gesandten von Tarent seine Freilassung bewirken, aber ohne dass er die Möglichkeit bekommt, sich von der Anklage einer »Konspiration« (A 487) gegen den Tyrannen Dionysius zu befreien. Um aus dem Gefängnis entlassen zu werden, muss er im Gegenteil ein »feierliches Versprechen« abgeben, dass er »auf keinerlei Weise künftighin gegen Dionysen etwas zu unternehmen« (A 488) beabsichtige, was ihm von den Freunden seines Mitverschwörers Dion »für eine feigherzige Verlassung der guten Sache« (A 489) ausgelegt wird. Letztendlich opfert Agathon seine Sorge um die »Wohlfahrt Siciliens« (A 490) den »reizenden Schilderungen, so ihm die Tarentiner von dem glücklichen Leben machten, welche in dem ruhigen Schöße ihres Vaterlandes, und in der Gesellschaft seiner Freunde auf ihn warte« (A 488) auf. Er ist sogar bereit, die »Komödie mitspielen zu helfen«, die der Tyrann anlässlich von Agathons Abreise dem Hofe vorspielt, indem er seinen früheren Günstling und Ratgeber mit »Lobsprüchen und Liebkosungen« überhäuft und den Eindruck erweckt, »als ob sie als die besten Freunde von einander schieden« (A 491). Auf dieses unrühmliche Ende der Staatsromanhandlung des Agathon folgen zwei Kapitel, in denen sowohl der Erzähler als auch Agathon selbst die Bilanz der teuer erkauften Erfahrungen am Hofe in Syrakus ziehen. Als einen Kommentar zur Staatsromanhandlung und als eine Apologie des gescheiterten Helden kündigt der Erzähler dann »eine lange, und wie es scheint ein wenig milzsüchtige Deklamation gegen diejenige Klasse der Sterblichen, welche man große Herren nennt« an, »mit verschiedenen Digressionen über die Maitressen - über die Jagdhunde - und über die Ursachen, warum es für einen ersten Minister gefährlich sei, zuviel Genie, zuviel Uneigennützigkeit, und zuviel Freundschaft für seinen Herrn zu haben« (A 493). Aus dem Roman soll damit ein hofkritischer Lasterkatalogs werden, den wir allerdings nicht zu lesen bekommen, weil »das Manuskript an diesem Ort halb von Ratten aufgegessen« und halb »durch Feuchtigkeit« zerstört ist (ebd.). Auch nicht auf diesem Wege, so könnte gefolgert werden, als mora-
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Geschichte des Agathon: Die Dekonstruktion
des
Staatsromans
lisch-bürgerliche Kritik am lasterhaften Hofleben, kann also das Staatsromankonzept realisiert werden. Agathon ist als Politiker gescheitert und mit ihm das Gattungsmuster, durch das er erst zum Politiker wurde. Etwas später bringt der Erzähler selbst die Erschöpfung der dem Agathon innewohnenden Gattungsintention des Staatsromans zur Sprache: »[U]nsere Absichten sind bereits erreicht«, stellt er fest, »und die glücklichen oder unglücklichen Umstände, welche dem Agathon noch bevorstehen, haben nichts damit zu tun« (A 512). Der Roman geht aber weiter, über die »Apologie des griechischen Autors« hin zur letzten »Station« des Lebensgangs des Helden, zur patriarchalischen Idylle von Tarent. Die erste Fassung des Agathon endet sozusagen ad hoc in Tarent mit der Darstellung eines patriarchalischen Gemeinwesens, das einer großen Familie ähnlich ist, und in dem der alte Archytas wie ein liebevoller Vater herrscht. Die Politisierung der Romanwirklichkeit wird aufgehoben zugunsten eines Rückzugs in die Privatsphäre. Die Funktion dieses Romanschlusses ist in der Forschung durch so unterschiedliche Formel wie die »Wahrheit des Fragments«, 1 1 2 »sarkastisches Happy-Ending« 1 1 3 und »Flucht in die Utopie« 1 1 4 beschrieben worden. Der interessanteste Ansatz findet sich allerdings noch einmal bei Erhart, der auf den Zusammenhang zwischen den »spätaufklärerischen Legitimations- und Begründungsprobleme[n] einer bürgerlichen Moral« und der »Krise der Romanschlussfiktionen« hinweist. 115 Dieser Zusammenhang könnte insofern im politischen Sinne ausgelegt werden, als die Paradoxa und Aporien aufklärerischer Politikkonzeptionen die Möglichkeit einer Vollendung der politischen Handlung - wie wir später anhand der Unsichtbaren Loge sehen werden — schwierig oder gar unmöglich machen. Am Ende vom Wielands Agathon hat sich die Gattung des Staatsromans ebenfalls »entzweit« und zugleich seine Funktion als integratives Gattungsmuster fiir eine Reihe literarischer und politischer Interessen der Aufklärung eingebüßt. Durch die ihr innewohnende Dialektik von Politik und Moral ist die Gattung selbst in Zerfall geraten. Zwar wirken im Gattungsmaterial des Romans immer noch die Konventionen und Intentionen des Staatsromans nach, jedoch nur als »Gattungszitate« 116 oder, wie hier behauptet wird, als >Schwundstufen< der Gattung,
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Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 8. Hahl: Reflexion und Erzählung, S. 4 2 . Wolfgang Paulsen: Christoph Martin Wieland. Der Mensch und sein Werk in psychologischen Perspektiven, Bern/München 1 9 7 5 , S. 171. Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 172. Z u dem sehr aufschlussreichen und mit den gattungstheoretischen Grundlagen der vorliegenden Arbeit durchaus vereinbaren Begriff des »Gattungszitats« vgl. Peter Kuon: » G a t t u n g als Zitat. D a s Paradigma der literarischen Utopie«, in Christian Wageknecht ( H g . ) : Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986, Stuttgart 1989, S. 3 0 9 - 3 2 5 . Ein »Gattungszitat« liegt laut K u o n vor »wenn die charakteristischen Konventionen einer G a t t u n g nur eine Dimension oder Teil eines Texts, nicht
Kontrafaktische und utopische Schwundstufen des Staatsromans
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die fortan keinen Anspruch auf gattungsgeschichtliche Geltung machen können. Der Funktionsverlust, oder zumindest der Funktionsschwund der Gattung des Staatsromans kann zum einen an der Polarisierung der im Roman enthaltenen Gattungsintentionen, zum anderen an dem aus dieser Polarisierung resultierenden, deutlich abgeschwächten Wirklichkeitsanspruch des Romans abgelesen werden. Am Endes des Agathon werden daher zwei im Modus des Irrealis formulierte Handlungsverläufe gegeneinander ausgespielt, die die Gattung des Staatsromans jeweils als kontrafaktische Geschichte von der Ausübung einer materialistischsensualistisch begründeten Staatsklugheit und als utopischen »Sprung« in eine patriarchalisch-idyllische Welt der bürgerlichen Moral herbeizitiert. Im Kapitel des Agathon, das die Bilanz vom »[m]oralische[n] Zustand unsers Helden« (A 494) zieht, macht Agathon selbst, im Rückblick auf sein Leben, einen Entwurf zu einem kontrafaktischen Staatsroman, indem er auf die Romanhandlung zurückblickt, allerdings nicht wie sie - faktisch - war, sondern wie sie - kontrafaktisch - hätte sein können, wenn er, der Held, einiges anders gemacht hätte. Diese Überlegungen, durch die Agathon seine »gewöhnliche Verdüsterung [...] um einen Schritt weiter« (A 498) bringt, knüpfen an die materialistischsensualistische Lehre des Hippias an, die er post festum auf seine Erfahrungen in Athen und Syrakus appliziert: Sagte er [Hippias] mir nicht vorher, daß ich nichts anders zu gewarten hätte, wenn ich den Plan meines Lebens nach meinen Ideen einrichten würde. Seine Vorhersagung hätte nicht richtiger eintreffen können. Hätte ich seinen Grundsätzen gefolgt, hätte ich mich ehemals zu Athen, oder hier zu Syracus so betragen, wie Hippias an meinem Platze getan haben würde — so würde ich meine Absichten ausgeführt haben, so würde ich glücklich gewesen sein - und der Himmel weiß, ob es den Sicilianern desto schlimmer ergangen wäre. (A 4 9 8 )
Auch in dieser Passage wirkt die am Anfang des Romans angekündigte Semantik der »Anwendung« und der »Ausführung« nach, aber die Blickrichtung hat sich geändert: nicht vorwärts in die verheißungsvolle Zukunft, sondern rückwärts in die von Desillusion geprägte Vergangenheit. Eben in diesem Perspektivenwech-
aber den Text in seiner Totalität prägen. Anders gesagt: der Text n i m m t eine oder mehrere Gattungen nicht in der Weise auf, daß er selbst als ihre Konkretisation aufzufassen wäre, sondern so, daß sie in ihm als Zitate fremder Gattungszusammenhänge erscheinen.« (S. 312). Z u einem Element oder einem Gegenstand von Gattungsverhandlungen wird das »Gattungszitat«, wenn es »mit der Gattungskonkretisation wohl in struktureller und thematischer, nicht aber in intentionaler und funktionaler Hinsicht übereinstimmt. Der Schriftsteller will mit dem Zitat etwas sagen, was er mit der Konkretisation nicht hätte zum Ausdruck bringen können. Er geht, auch wenn er keine ausdrücklich kritischen, satirischen oder parodistischen Absichten verfolgt, auf Distanz zur Gattung< (S. 313). Ebenfalls können »Gattungszitate« als Ausdruck einer im Werk vorhandenen Gattungsaporie verstanden werden, denn die »periodische Häufung von Zitaten [ist] weniger Zeichen der Ausstrahlungskraft der betreffenden Gattung als vielmehr S y m p t o m ihrer Krise« (ebd.).
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Geschichte des Agathon: Die Dekonstruktion des Staatsromans
sei wäre die kontrafaktische Schwundstufe des Staatsromans zu erkennen: Hätte Agathon den anthropologischen Materialismus Hippias' und nicht seinen eigenen schwärmerisch-metaphysischen Idealismus zur Grundlage seiner politischen Projekte und Handlungen gemacht, hätte er jetzt, wie er sagt, seine »Absichten ausgeführt«, wäre er »glücklich gewesen« - und, könnte hinzugefügt werden, wäre die Geschichte des Agathon schon in der ersten Fassung zur Vollendung gekommen und hätte der Gattungsvorgabe des Staatsromans, im Sinne einer Umsetzung moralischer Ideale in politische Praxis, Genüge getan. Die Frage bleibt aber, von welchen Idealen und von welcher Praxis hier die Rede ist. Der Protagonist des in dieser Passage beschworenen kontrafaktischen Staatsromans wäre nicht mehr Agathon, sondern in der Tat sein Gegenspieler Hippias, dessen moralische Ideale und politische Praxis Agathon schlichtweg übernommen hätte, nach der oben angegebenen Maxime: »wie Hippias an meinem Platze getan haben würde«. Sowohl Hemmerich als auch Thome haben versucht, die Position Hippias auf eine politische Praxis hin zu interpretieren, entweder im Sinne einer radikalen Ablehnung aller politischen Institutionen, Konventionen, Verträge und Verfassungen 117 oder, wie oben schon besprochen, als aristokratisch-absolutistisches Herrschaftswissen. 118 Im ersten Falle wäre Hippias der versteckte Held des Romans, von dem sich Wieland lediglich durch »taktische Absicherungen« distanziert, 119 im zweiten Falle dagegen ein ebenso versteckter Fürsprecher einer absolutistischen Machtpolitik, den Wieland durch seinen Roman entlarven will. 120 Zu einer politischen Interpretation der Hippias-Figur gelangen wir allerdings erst, indem wir in diesem sensualistischen Materialisten den Vertreter einer instrumentalistischen Staatsklugheit erkennen, oder in Agathons eigenen Worten, einer »Staatskunst«, die »sich auf die Erfahrung aller Zeiten« gründet (A 498). Gerade diese »Staatskunst« hat Hippias im ersten Teil des Romans ausführlich besprochen und definiert; es ist [d]ie Kunst über die Einbildungskraft der Menschen zu herrschen, die geheimen, ihnen selbst verborgenen Triebfedern ihrer Bewerkungen nach unserm Gefallen zu lenken, und sie zu Werkzeugen unsrer Absichten zu machen, indem wir sie in der Meinung behalten, daß wir es von den ihrigen sind [...] und dieses ist die Kunst welche die Sophisten lehren und ausüben; die Kunst, welcher sie das Ansehen, die Unabhängigkeit und die glücklichen Tage, deren sie genießen, zu danken haben. (A 94)
In dieser Position Hippias' wird das politische Paradigma der »Anwendung« insofern außer Kraft gesetzt, als die anzuwendenden normativen Ideale nichts anderes als grenzenlose Eigenliebe und Machtbegierde darstellen, die wiederum eine vollständige Instrumentalisierung des politischen Denkens herbeifuhren. Gegen
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Hemmerich: Wielands »Geschichte des Agathon«, S. 54ff. Thomi: »Menschliche Natur«, S. 213ff. Hemmerich: Wielands »Geschichte des Agathon«, S. 45. Thomredlichen Mannes am Hofe< Bezug nimmt, dessen Funktion als Vermittlung zwischen absolutistischer Politik und bürgerlicher Moral im Agathon dekonstruiert wurde, fragt Wieland zunächst nach der Möglichkeit und den Bedingungen eines solchen Gesprächs.28 Die Rolle des redlichen Mannes, oder mit Wilson, des »Intellektuellen« übernimmt hier der Hofphilosoph Danischmend, der dem Sultan die Geschichte der Könige von Scheschian erzählt und erläutert, um ihm, in Ubereinstimmung mit der Gattungsintention des Fürstenspiegels, einige didaktische Exempel guten und schlechten Fürstenbrauchs vorzulegen. Dass aber Danischmend in seinen Gesprächen mit dem Sultan oft auf Messers Schneide balancieren muss, kann in der folgenden Passage nachgelesen werden. Nachdem Danischmend von den Fehlgriffen des Herrschers Azor erzählt hat, fragt ihn Schach-Gebal, ob er nicht glaube, dass die Sultane »sehr vieles, was sie tun unterlassen würden, wenn sie einen Freund hätten, der ehrlich genug wäre, ihnen die Wahrheit zu sagen«: »Vielleicht«, antwortete Danischmend mit einem kaum merklichen Achselzucken. » Vielleicht auch nicht«, - murmelte er hinten nach. »Und warum nicht!« fragte der Sultan.
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Herbert Jaumann: »Der deutsche Lukian. Kontinuitätsbruch und Dialogizität, am Beispiel von Wielands >Neuen Göttergesprächenredlichen Mannes< verknüpften moralischen Werte der Freundschaft und der Wahrheit nicht nur auf die historischen Charaktere der Erzählung, sondern
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Wilson: »Intellekt und Herrschaft«, S. 488. Aufschlussreich ist die Beschreibung dieser Spiegelungsverhältnisse in der Arbeit Bartheis. Im Goldnen Spiegel, so ihre Behauptung, »entstehen - dem Titel getreu - immer neue Spiegelungen; die vielfältig verschachtelte, episodenreiche Geschichte der Scheschianischen Könige wirft das Bild des Schach Gebal aus den Rahmengesprächen, aus den verschiedensten Perspektiven, verzerrend und verschönernd zurück. Rahmen und Erzählung sind unlöslich ineinander verschlungen und verknotet«. Siehe Barthel: Das »Gespräch« bei Wieland, S. 75. Art. »Spiegel«, in Deutsches Wörterbuch. Herausgegeben von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 10. Band, 1. Abteilung, Leipzig 1905, Sp. 2233. Art. »Fürstenspiegel«, in Deutsches Wörterbuch. Herausgegeben von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 4. Band, 1. Abteilung, 1. Erste Hälfte, Leipzig 1878, Sp. 880.
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Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion des Staatsromans
ebenfalls auf die Gestalten der gegenwärtigen Erzählsituation beziehen. Nicht nur Azor, sondern auch Schach-Gebal kann einen ehrlichen Freund sehr gut gebrauchen. Als Schach-Gebal von Danischmend verlangt, dass er die Wahrheit sagt, macht er zugleich den Hofphilosophen zu diesem ehrlichen Freund — wobei aber Danischmend in seiner Antwort allerlei Gründe angibt, warum es für diesen ehrlichen Menschen, ihn, schlechterdings unmöglich wäre, den Fürsten in positiver Weise zu beeinflussen. Schach-Gabel stellt in der Rahmenerzählung des Goldnen Spiegels eine im großen und ganzen negativ gezeichnete Zuhörerfigur dar. Immer wieder unterbricht und kommentiert er die Erzählung, wenn er dann nicht einschläft (»Daß doch meine Moral immer und allezeit eine so narkotische Kraft hat!« seufzt Danischmend an einer Stelle, vgl. G S 209). Des Weiteren bedroht er den Erzähler mit verschiedenen Bestrafungen, wenn ihm die Geschichte nicht gefällt oder wenn er sie nicht einen anderen Lauf nehmen lässt (»Keine Satiren mehr, Herr Danischmend!«, vgl. G S 309). Letztendlich kommt er nie dazu, den Schritt vom guten Vorsatz, den er tatsächlich ab und zu hat, zur Tat, zur Herrschaftsreform zu tun, weil »dergleichen Einfalle bei ihm keine Folgen hätten« (GS 80). 3 2 Sowohl der Krise des aufgeklärten Absolutismus, die im zusammengebrochenen Dialog zwischen Fürsten und Aufklärern zum Vorschein kommt, als auch der Krise des Staatsromans, die in der Dekonstruktion des Topos des redlichen Mannes am Hofe< manifest wird, liegt daher eine Krise der Kommunikation zugrunde: Obwohl der Sultan sich dem moralischen Wert der Wahrheit verpflichtet wissen will, wird die ihm vermittelte Botschaft der Wahrheit letztendlich keinen Effekt haben, weil seine eigene Machtvollkommenheit sowie die rhetorischen und sozialen Mechanismen des Fürstenhofes - der Sensualismus, die an Panegyrik grenzende Hofrhetorik und die Günstlingswirtschaft — diese Art Kommunikation effektvoll verhindern. An dieser Aporie ist zuvor Agathon als Politiker gescheitert, und dieselbe Aporie legt im Goldnen Spiegel die Bedingungen für die Kommunikation zwischen dem Intellektuellen und dem Herrscher fest. Der Transport der Bedeutungen, den der Sultan selbst als eine »Spiegelfabrik« (GS 137) bezeichnet, geht aber weiter: von der Erzählung auf die Erzählsituation, von der Erzähl- und Rezeptionssituation der Rahmenerzählung auf die Rezeption durch die faktischen, historischen Leser. Wieland stellt sich in einer anonym erschienenen Selbstanzeige zum Goldnen Spiegel »vornämlich dreierlei Gattungen von Lesern« - in Jean Pauls Unsichtbare Loge waren es also neun - und ebenfalls
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Wilson: »Intellekt und Herrschaft«, S. 487. Gegen Naumann (Politik und Moral, S. 188) behauptet Wilson, dass Schach-Gebal zum Schluss lernt, »die erzählten Zustände und Ereignisse auf die Mißstände im eigenen Reich zu beziehen« und in diesem Sinne »zu einem besseren Rezipienten« wird - was aber anhand seines ganz fehlenden Vermögens, seine guten Intentionen in die Praxis umzusetzen, allerdings bezweifelt werden kann.
Krise des Absolutismus und der Dialog zwischen Intellekt und Herrschaft
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drei Arten der Rezeption vor: »Der Prinzenmentor lerne daraus die wichtigen Kapitel der Staatskunst [...] und spiegle sich an Danischmendens Beispiele«; der »gemeinen Leser« sollte den Roman »auf sein Vaterland« anwenden. Der dritte intendierte Rezipient ist allerdings der Fürst selbst: Sollte endlich ein Schach auf die Gedanken kommen, es zu seiner Lektüre vor der Mittagsruhe zu machen, und dankbar die rührenden Stellen bezeichnen, wo ihm die Gedanken in Schlaf übergingen (S. Wilhelmine, dritter Gesang), so möchten wir den etwanigen Entschließungen, die es in ihm erweckte, eine etwas längere Dauer und schnellere Vollziehung wünschen, als die von Schach-Gebal gehabt haben sollen. 33
Aus dem werkimmanenten Rezipienten Schach-Gebal ist - durch Bespiegelung — der werkexterne fürstliche »Modelleser« geworden, der allerdings ebenfalls durch die Erzählung zum Einschlafen gebracht wird und daher vor allem auf die Stellen im Roman bedacht ist, wo, wie Wieland schreibt, »ihm die Gedanken in Schlaf übergingen«. Anhand dieses klassischen Topos der Hofkritik der Aufklärung - des faulen und unaufmerksamen, kurz, des schläfrigen, Fürsten - könnte wiederum der radikal andere, fast konträre Ansatz von Jean Pauls Unsichtbarer Loge betont werden, wobei sowohl sein parodistischer Bezug auf die Gattung des Fürstenspiegels als auch der Übergang vom Aufklärungsroman zum Diskursroman emblematisch unter Beweis gestellt werden. In Jean Pauls oben besprochener Hinwendung an die Leser macht der Fürst die Lesergruppe »No. IV.« aus: Ich untersag' es den europäischen Landständen, mein Werk No. IV. einem Fürsten zu geben, weil er sonst dabei einschläft, welches ich - da ein ftirstlicher Schlaf nicht halb so spaßet wie ein Homerischer - recht gern geschehen lässet, sobald die europäischen Landstände das Gesetz wie ein Arcuecio so über die Landeskinder wölben, daß sie der Landesvater im Schlafe nicht erdrücken kann, er mag sich darin werfen wie er will, auf die Seiten, auf den Rücken oder auf den Bauch. (L I, Xlf.)
Aus den selben Voraussetzungen wie Wieland und Danischmend kommt der Erzähler Jean Paul, auf eine Weise, die sogar einen intertextuellen Bezug der Unsichtbaren Loge auf den Goldnen Spiegel nahe legt, zur gegenteiligen Konklusion. Bei Wieland firmiert noch die pädagogisch-aufklärerische Ambition der Fürstenerziehung, die allerdings kaum als realisierbar erscheint, denn dem Sultan Schach-Gebal sowie dem fürstlichen Modelleser dienen die Lehren der Chronik nur als Schlafmittel. Bei Jean Paul dagegen wird diese Möglichkeit, einem Fürsten etwas beizubringen, nicht erst in Erwägung gezogen, sondern stattdessen in ein kühnes, geradezu an Rabelais erinnerndes Bild verwandelt: Ein Fürst, der beim Einschlafen seine Untertanen unter sich zerquetscht, wenn sie — und damit knüpft Jean Paul in eigenwilliger Weise an ein Lieblingsthema des politischen
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Wieland: »Selbstanzeige des >Goldnen Spiegel· durch den Autor«, in Erfurtische gelehrte Zeitung. Fünf und vierzigstes Stück. Donnerstags den 4ten Junius 1772, nachgedruckt in GS, S. 734f.
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Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion des Staatsromans
Denkens der Aufklärung an - nicht vorher von Gesetzen beschützt sind. Zum Wort »Arcuecio« findet sich dabei im Roman die folgende Fußnote: Das ist ein Gehäuse in Florenz — in Krünitz ökon. Encycl. 2. B. ists abgebildet worin die Mutter bei Strafe das Kind unter dem Säugen legen muß, um es nicht im Schlummer zu erquetschen. (ebd.)
In diesem Bild der Vorrede zur Unsichtbaren Loge ist eine endgültige Absage an die Gattungsintention und die Wirkungsabsicht des Fürstenspiegels zu erkennen. Dagegen besteht im Goldnen Spiegel zwischen dem in der Rolle des Herausgebers auftretenden Autor und dem Leser noch eine stillschweigende Abmachung, dass der Fürstenspiegel doch seine pädagogische Absicht erfüllen könnte, dem Sultan oder einem anderen Fürsten »mit guter Art Wahrheiten beizubringen, die man auch ohne Sultan zu sein, sich nicht geradezu sagen lässt« (GS 23). Die Mittel dazu wären dabei nicht zuletzt die vom Roman geschaffenen Spiegelungseffekte: Schach-Gebal spiegelt sich - wie wir gesehen haben - in der Chronik der Könige von Scheschian, während die fürstlichen Leser sich zugleich in der Chronik und in der Rezeption der Chronik durch den Sultan spiegeln sollen. Durch diese doppelte Bespiegelung soll es ihnen ermöglicht werden, aus der Krise der Kommunikation herauszukommen, ohne dass sie dem Utopismus Danischmends oder der Machtvollkommenheit des Sultans zum Opfer fallen. Um die im Goldnen Spiegel stattfindenden Gattungsverhandlungen in den Blick zu bekommen, muss zunächst, wie aus diesen Erörterungen hervorgegangen ist, das Kommunikationsproblem einer sich im Strukturwandel befindenden politischen Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen werden. Als Kommunikationsmittel, als Techniken der sprachlichen Äußerung, nehmen die literarischen Gattungen keineswegs an einem »herrschaftsfreien Dialog« teil, 34 sondern stellen fiir die Aufklärer eine Möglichkeit dar, gerade vor den Augen der Macht zu räsonieren und zu argumentieren. Zu einer Zuspitzung dieses Konfliktes zwischen Intellekt und Herrschaft, zwischen Wahrheit und Macht kommt es, indem das den ganzen Rahmendialog strukturierende Kommunikationsproblem die konkrete Form eines Erzählproblems annimmt und dadurch an politischer Brisanz gewinnt.
Zum Ideal des »herrschaftsfreien Dialogs« vgl. Jürgen Habermas: »Erkenntnis und Interesse«, in ders.: Technik und Wissenschaft als »Ideologies Frankfurt am Main 1969 [1968], S. 164. In Anknüpfung an seine Arbeit zur »bürgerlichen Öffentlichkeit« schreibt Habermas: »Freilich würde sich erst in einer emanzipierten Gesellschaft, die die Mündigkeit ihrer Glieder realisiert hätte, die Kommunikation zu dem herrschaftsfreien Dialog aller mit allen entfaltet haben, dem wir das Muster einer wechselseitig gebildeten Identität des Ich ebenso wie die Idee der wahren Übereinstimmung immer schon entlehnen.«
»Eine so vollkommene Polizei«: Krise als Erzählproblem
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4.2 »Eine so vollkommene Polizei«: Krise als Erzählproblem Im Schlafzimmer des Sultans erzählt die Tschirkasserin Nurmahal zunächst, wie Scheschian in unzählige kleine Provinzen aufgesplittert und nach jahrelangem Krieg und hemmungsloser Ausbeutung des Landes durch die Herrscher außer Stande war, sich gegen Ogul-Kan zu verteidigen (vgl. GS 27ff.). Der tartarische Fürst eroberte eine Provinz nach der anderen und wurde in kurzer Zeit Herrscher des ganzen scheschianischen Reiches. Daraufhin regierte er zwar als absoluter Monarch, aber mit so viel gesundem Menschenverstand, dass die Scheschianer während seiner Regierung endlich wieder in Ruhe und Wohlstand leben konnten. Ihm folgten eine Reihe namenloser Könige, von denen nur einer Erwähnung verdient, und zwar nicht wegen seiner eigenen Vortrefflichkeit, sondern wegen seiner Favoritin, der schönen Lili (vgl. GS 41 ff.). Sie war eine große Gönnerin der Künste und machte die Scheschianer mit allen Bequemlichkeiten einer fortschrittlichen Kultur bekannt, ohne sich um die Warnungen zu kümmern, dass dieser Hang zur Sinnlichkeit, Wollust und Müßiggang allerlei Laster und Ausschweifungen mit sich führt. An dieser Stelle unterbricht der Sultan die Erzählung. Am Tag davor, gleich vor dem Einschlafen, hatte ihm Nurmahal die Ratschläge einiger alter Scheschianer an die schöne Lili vorgetragen, die darauf bedacht waren, den Verfall ihrer Regierung zu verhindern: Jede höhere Stufe, welche der Mensch betritt, erfordert eine andere Lebensordnung; und eben darum, weil der große Haufen der Sterblichen als unmündig anzusehen ist, und sich selbst nicht zu regieren weiß, muß er dieses A m t einer gesetzgebenden Macht überlassen, welche immer das Ganze übersehen, und ihren Untergebenen, mit jeder merklichen Veränderung ihrer Umstände, auch die darnach abgemessenen Verhaltungsregeln vorschreiben soll. Es lebe die schöne Lili! Sie hat sich ein Recht an unsere Dankbarkeit erworben, denn sie hat uns Gutes getan. Aber wenn sie sich nun auch gefallen lassen wollte, uns eine so vollkommene Polizei zu geben, als wir bedürfen, wenn uns ihre Geschenke nicht verderblich werden sollen: dann verdiente sie, wenigstens so gut als der große Affe, daß wir ihr Pagoden erbauten! (GS 43)
Am nächsten Abend, als sich die übliche Gesellschaft um ihn versammelt hat, will der Sultan wissen, was mit dieser Rede gemeint war: Unstreitig war Vernunft in der Schutzrede, welche die alten Knaben dem Vergnügen und der schönen Lili hielten, [...]. Aber ich gestehe, daß ich nicht recht begreife, was sie mit ihrer Lebensordnung sagen wollen, oder was für eine Polizei das sein soll, wodurch allen den Übeln vorbeuget werden könnte, womit uns die schwarzgelben Sittenlehrer so fürchterlich bedräut haben. Die Sache liegt mir am Herzen. (GS 43f.)
Und er fährt, an seinen Hofphilosophen gewandt, fort: Herr Danischmend [...] man ist kein Philosoph um nichts! Wie wäre es, wenn deine Weisheit uns diese Sache ins Klare zu setzen belieben wollte?« (GS 44)
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Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion des Staatsromans
Danischmend antwortet allerhöflichst, um seinen Sultan nicht unnötig zu ärgern: Sire, [...] meine Weisheit ist zu Ihrer Majestät Befehlen. Aber zuvörderst bitte ich demütig um Erlaubnis, eine kleine Geschichte erzählen zu dürfen. (GS 44)
Auf Befehl des Sultans ergreift Danischmend jetzt das Wort und bringt die Chronik der scheschianischen Könige zu einem vorläufigen Halt. Stattdessen trägt er dem Sultan eine moralphilosophische Fabel vom Besuch eines reichen Emirs im Tal der »Kinder der Natur« (G 58) vor, die aber bei seinen Zuhörern zunächst nicht besonders gut ankommt. Der Sultan verdächtigt seinen Hofphilosophen zunächst, er wolle ihm ein Märchen erzählen, und droht ihm dann dreihundert Prügel auf die Fußsohlen an, wenn er ihn gähnen macht (vgl. GS 44f.). Zum Schluss lässt er allerdings Danischmend seine Geschichte zum Besten geben: Ein reicher Emir irrt nach einem Raubüberfall in den wilden Gebirgen herum, bis er in ein Tal kommt, das von einem Völkchen von Hirten und Ackerbauern bewohnt wird. Sie leben unter der Regierung des weisen Psammis in Abgeschlossenheit von der Umwelt und in völliger Harmonie mit der Natur. Der Emir wird hier aufgeklärt über die Geheimnisse eines glücklichen Lebens: »Arbeit, Vergnügen und Ruhe, jedes in kleinem Maße, zu gleichen Teilen vermischt, und nach dem Winke der Natur abgewechselt« (GS 54). Zurück in seiner Heimat schwört der Emir seinem bisherigen Leben ab und versucht, den »Kindern der Natur« folgend, ihre Lebensregeln unter seinem Volk zu verbreiten. Die Einordnung dieser Episode in die literarische Tradition der Aufklärung scheint zunächst wenige Probleme zu bereiten. Die Utopie des ländlichen Lebens gehört zu den am häufigsten vertretenen Motiven im Aufklärungsroman und spiegelt so sowohl die Abenteuerlust und Entdeckungsfreude des 18. Jahrhunderts als auch die Bemühungen der Aufklärung um die bestmögliche Form menschlichen Zusammenlebens. Burghard Dedner fuhrt die Hirtenwelt Ioniens in Gessners Daphnis (1754) und das Leben des Wöllings auf der Burgruine in Sophie La Roches Roman Rosaliens Briefe (1779/81) als zeitgenössische Beispiele der abgeschlossenen Idylle als literarisches Motiv an. 35 Als Beispiele aus der Gattung des Staatsromans können sowohl die Reise ins Land Betique aus Fenelons Telemaquei(> als auch die Insel Felsenburg im Roman Schnabels herangezogen werden, in denen idyllische Gesellschaften glücklicher Menschen in paradiesischen Landschaften dargestellt werden. In seinem Versuch einer critischen Dichtkunst erkennt auch Gottsched den »Idyllen oder Schäfergedichten« eine wichtige Stellung im literarischen Gattungssystem der Aufklärung zu, nicht zuletzt, weil »die ersten Einwohner der Welt [...] sich bloß von der Viehzucht« ernährten
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Burghard Dedner: Topos, Ideal und Realitätspostulat, Tübingen 1969, S. 11 Of. Fenelon: Les aventures de Telemaque, in ders: Oeuvres. II. Edition presentee, etablie et annotee par Jacques Le Brun, Paris 1997, S. 106-112.
»Eine so vollkommene Polizei«: Krise als Erzählproblem
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und »ihre Gedichte« deshalb mit Notwendigkeit »Schäfergedichte« gewesen sein müssen. 37 Bei Gottsched wird allerdings auch der völlig unpolitische Charakter dieser Dichtungen zur Kenntnis genommen. Die Schäfer, so seine Darstellung, wollen »nichts von Königen und Fürsten wissen«; im Gegenteil kann man »sich einbilden, daß noch ein Ueberrest der alten Unschuld, in einer gewissen glückseligen Landschaft geblieben« ist. Daraus folgt wiederum, dass »die Schäfer von einem [...] republikanischen, oder monarchischen Zustande eines Landes, allezeit mit einiger Verabscheuung reden, und ihre güldene Freiheit allem Prachte der Städte weit vorziehen«.38 Bei Wieland steht dagegen viel mehr als die ruhige Harmonie des Schäferlebens oder die fröhliche Unterhaltung der phantastischen Reiseliteratur auf dem Spiel. In Anknüpfung an die utopische Tradition geht es dem Autor des Goldnen Spiegels um die Darstellung einer idealen Gesellschaft. In gewissem Sinne kann die politische Funktion der Schäferidylle schon aus der Gattungsdefinition Gottscheds herausgelesen werden. Dass die Schäfer von »Königen und Fürsten« sowie von »einem republikanischen, oder monarchischen Zustande« nichts wissen wollen, kann als ein Freiheitsanspruch dieser Dichtung verstanden werden. Von unpolitischer Unschuld und Glückseligkeit zu politischem, aber antistaatlichem Freiheitsstreben ist kein weiter Weg. Ebenfalls hat Dedner gezeigt, wie Wieland in der Schäferidylle von den »Kindern der Natur« das »pragmatische[] Prinzip, dem der Goldne Spiegel als politische Schrift unterliegt«, nicht ohne weiteres preisgeben will. 39 Weil er aber in seiner Diskussion dieses Erzählproblems ganz im Rahmen der Fabel der »Kinder der Natur« bleibt und nicht mehr zur Rahmenerzählung, zur Erzählsituation zurückkehrt, kommt Dedner zur Konklusion, dass die »märchenhaften und konstruktiven Elemente« vor der empirischen und politischen Aussage des Romaninhalts den Vorrang erhalten. 40 Ausgehend nicht von der Fabel selbst, sondern vom Kontext ihrer Uberlieferung durch den Hofphilosophen, bietet sich gerade die umgekehrte Schlussfolgerung an. Das Erzählproblem im Goldnen Spiegel ist nicht nur ein theoretisches Problem des Autors, in welcher Weise Utopie und Roman eine Verbindung eingehen können, sondern ein praktisch-politisches Problem des Erzählers, wie er den Sultan über die gute Art zu regieren belehren kann, ohne ihn zu »beleidigen« (GS 82) oder zum Einschlafen zu bringen. Nach bestem Vermögen und unter Androhung von verschiedenen Strafen versucht Danischmend, wie oben schon angesprochen, den ganzen Roman hindurch die Fragen seines Gebieters zu beantworten. Doch bei dieser Gelegenheit weigert er sich. Auf die Frage, was fur eine »Polizei« oder »Lebensordnung« die schöne Lili ihrem Volk hätte
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Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst, S. 581. Ebd., S. 596. Dedner: Topos, Ideal und Realitätspostulat, S. 118. Ebd.
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Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion des Staatsromans
geben sollen, kann er oder will er keine Antwort geben. Dagegen bittet er den Sultan um Erlaubnis, eine Geschichte erzählen zu dürfen. Dieser Dialog zwischen Danischmend und dem Sultan stellt ein anschauliches Beispiel eines dem grundlegenden Kommunikationsproblem aufklärerischer Literatur entsprungenen Erzählproblems dar, vor dem Hintergrund der sich anbahnenden moralischen und politischen Krise. Die Dialektik zwischen Politik und Moral wird den Lesern in der Form eines Kammerspiels vorgeführt. Die Frage des Schach-Gebal entstammt der Sphäre der Politik, die seit den Anfängen des Absolutismus dem Herrscher vorbehalten und den Bürgern versperrt ist. Emblematisch ftir diese dezidiert politische Frage des Sultans ist der Begriff der »Polizei«, der sich bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht nur auf einen Zweig der Exekutive, sondern auf die gesamte staatliche Verwaltung bezog. Als »Endzweck der Polizei« bestimmt ζ. B. Johann H. G. von Justi in seinen 1756 erschienenen Grundsätzen der Policey-Wissenschaft, »die innere Macht und Stärke des Staates zu vergrößern«,41 während von Loen in seinem Entwurf einer Staatskunst von 1750 unter »Polizei« alle »diejenigen Anstalten und Ordnungen« verstand, »welche sich sowohl auf die gemeine Wohlfahrt des Staates überhaupt als auf das Betragen eines jeden insbesondere beziehen«.42 In der oben zitierten Lobrede an die schöne Lili wird auf eine ähnliche Konzeption der »Polizei« Bezug genommen, im Sinne einer »gesetzgebenden Macht [...], welche immer das Ganze übersehen, und ihren Untergebenen [...] auch die darnach abgemessenen Verhaltungsregeln vorschreiben soll«. Als sich Schach-Gebal bei seinem Hofphilosophen eine nähere Erklärung für diese Vorstellung einer »vollkommenen Polizei« erbittet, lenkt er selbst das Gespräch auf die Politik und auf die Frage nach Regierungs- und Herrschaftsformen hin. Da dies allerdings außerhalb des Gültigkeitsbereichs der aufklärerischen Moral liegt, kann ihm Danischmend keine befriedigende Antwort geben, sondern sieht sich gezwungen, seine kritischen Absichten in eine märchenhaf-
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Johann Heinrich Gottlob von Justi: Grundsätze der Polizey-Wissenschaft in einen vernünftigen, auf den Endzweck der Polizey gegründeten, Zusammenhange und zum Gebrauch Academischer Vorlesungen abgefasset, Göttingen 1756, S. 337. Johann Michael von Loen: Entwurf einer Staatskunst, worinnen die natürlichsten Mittel entdecket werden, ein Land mächtig reich und glücklich zu machen, Leipzig/ Frankfurt 1768, S. 95. Schon der Titel dieses Werkes weist auf die umfassenden Ambitionen des »Polizei«-Begriffes sowie der Polizeiwissenschaft: hin. In seinem Aufsatz zu »Literatur und >Policey< im Aufklärungszeitalter« gibt Wolgang Martens auf der Basis zeitgenössischer Quellen eine noch breitere Definition des Begriffes: »Der Begriff »Policey« bezeichnet im 18. Jahrhundert wesentlich mehr, als wir heute mit Polizei zu verbinden gewohnt sind. »Bequemlichkeit«, »Zierde«, heilsame Einrichtung des gemeinen Wesens, das Ersprießliche und Nützliche, die Wohlfahrt der Familien, das gemeine Beste, - mit solchen Zielsetzungen meint der Begriff der Policey ganz allgemein eine gute innere Wohlfahrts- und Wirtschaftsverwaltung von Staats wegen.« Siehe Martens: »Literatur und >Policey< im Aufklärungszeitalter. Aufgaben sozialgeschichtlicher Literaturforschung«, in Germanisch-romanische Monatsschrift. Neue Folge. 31/1981, S. 407.
»Eine so vollkommene Polizei«: Krise als Erzählproblem
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te Erzählung einzukleiden. Der Hofphilosoph weigert sich die Grenze zum Eigenbereich der Fürsten zu überschreiten und das Feld der Politik zu betreten, weil er sich dann der Willkür des Sultans preisgegeben sieht. Stattdessen zieht er sich in den Innenraum der Moral zurück, wo er seine Argumente frei entfalten kann, ohne die Launen der Macht fürchten zu müssen. Aus diesem Grund gibt Danischmend der utopischen Erzählung von den »Kindern der Natur« die Form eines moralphilosophischen, politisch neutralen Arguments: Wer nur den Gesetzen der Natur gehorcht, führt ein gutes Leben. Auf diese Weise bleiben die Grenzen der politischen Sphäre unverletzt, und der Philosoph kann sich aus der Sache ziehen, ohne dass er die Wut des Sultans herbeigerufen hat. 43 In Anknüpfung an Koselleck kann die Fabel von den »Kindern der Natur« als ein Politikum verstanden werden, 44 in dem eine Reihe von politischen Bedeutungsinhalten enthalten sind, die allerdings nicht immer offen zu Tage liegen. Laut der Darstellung Dedners wird die politische Aussage des Goldnen Spiegels durch die Rahmenerzählung »immer wieder fragwürdig«. 4 ' Dagegen könnte die Einbettung der Fabel von den »Kindern der Natur« ins Gespräch zwischen Schach-Gebal und Danischmend als ein Beispiel dafür betrachtet werden, wie in Wielands Roman die Rahmenerzählung eine Politisierung der in der Binnenerzählung beschriebenen Ereignisse und Vorgänge herbeiführt, durch welche die politische Aussage verdeutlicht und verstärkt wird, oder sogar erst in Erscheinung tritt. Diese Dynamik der Politisierung ist allerdings dialektisch mit einer Dynamik der Entpolitisierung oder der Verheimlichung verknüpft. Das politische Element der Fabel besteht nicht zuletzt in der Verdeckung desselben durch einen Rückgriff auf die Moral. Politisch wird die Fabel erst, indem sie ihre politischen Implikationen verheimlicht und verdeckt. Durch diese rhetorische Strategie der Verdeckung gerät Danischmend ins Umfeld der von Koselleck begründeten Vorstellung der »Hypokrisie der Aufklärer«: Er ist sich völlig im Klaren darüber, dass der Sultan ihm eine politische Frage gestellt hat, er kann sie aber nur in
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Anhand der frühen Inselutopistik in Deutschland zeigt Jörg Jochen Berns, wie Utopie und Polizei im frühen 16. Jahrhundert, zum Beispiel in der deutschen Rezeption von Morus' Utopia, eng miteinander verbunden waren, aber »bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auseinandertraten«. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kann neben einer »narrative[n] Erweiterung und romanhafte[n] Aufblähung der Inselutopistik«, auch ein »Machtzuwachs der Polizeiliteratur« beobachtet werden, die zusammen den »politischen [...] Funktionsverlust des inselutopischen Genres« - zu dem auch die Fabel der »Kinder der Natur« gehört — signalisieren. Siehe Jörg Jochen Berns: »Utopie und Polizei. Zur Funktionsgeschichte der frühen Utopistik in Deutschland«, in Hiltrud Gnüg (Hg.): Literarische Utopie-Entwürfe, Frankfurt am Main 1982, S. 115. Der Begriff »Politicum« kommt mehrmals bei Koselleck zur Anwendung, indem er auf die spezifisch praktisch-politischen Aspekte eines Phänomens hinweisen will; der »Bürgerkrieg« wird in diesem Sinne als »Politicum« der aufklärerischen Kritik am Despotismus beschrieben. Siehe Koselleck: Kritik und Krise, S. 134. Dedner: Topos, Ideal und Realitätspostulat, S. 120.
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Der Goldne Spiegel:
Die Rekonstruktion des Staatsromans
der Form einer moralischen Fabel beantworten, deren politische Implikationen er zu verdecken bemüht ist. Im Goldnen Spiegel ist damit der Dialog zwischen dem Herrscher und dem Philosophen in eine Krise geraten, wenn der Fürst zu eigener Machtvollkommenheit, der Aufklärer zu Strategien der Hypokrisie und der Doppelkommunikation Zuflucht nimmt. Zu einem Erzählproblem zugespitzt folgt aus dieser der Krise der Kommunikation, dass Danischmend seine politischen, auf den Fürsten gemünzten Lehrstücke in die Gattung der Utopie transportiert und damit ihren politisch-konkreten Inhalt in eine moralisch-abstrakte Idylle umdeutet. Im Gespräch zwischen dem Sultan und Danischmend wird dabei vor allem das Problem, nicht die Lösung formuliert. Auf dem Spiel steht die Politik als Handlungsraum in der bürgerlich-aufgeklärten Welt, der sowohl von der Willkür absolutistischer Herrschaft als auch von der moralischen Hypokrisie aufklärerischen Denkens bedroht ist. In der Wieland-Forschung hat allerdings gerade diese dialektische Reflexivität und scheinbare Unverbindlichkeit des Gesprächs oft zu einer negativen Beurteilung des Goldnen Spiegels geführt. In der Dialektik des Kommunikations- und Erzählproblems wurden dabei lediglich ein »Opportunismus« und eine »Kompromißhaftigkeit« des Autors erkannt. Unten wird gezeigt, wie eine andere literaturgeschichtliche Perspektive, die weniger auf die politische Position des Autors und mehr auf die rhetorische Situation des Romans sowie auf seine Rezeption und auf das Verhältnis zwischen konventionellen und innovativen Elementen bedacht ist, zu einem anderen Blick auf den Roman verhelfen könnte.
4.3
Intention, Konvention und Innovation - die »groteske
Kompromißhaftigkeit« des Goldnen Spiegels Am deutlichsten kommen die mit der Einordnung des Goldnen Spiegels verbundenen Probleme in der Monographie Friedrich Sengles zum Vorschein. Ihre Veröffentlichung 1949 leitete eine »Wieland-Renaissance« 46 der Nachkriegzeit ein und wurde als Gesamtdarstellung erst durch die Arbeit von Erhart übertroffen. Zu Beginn seiner Interpretation des Goldnen Spiegels stellt Sengle fest, wer Wie-
Hansjörg Schelle: »Einleitung des Herausgebers«, in ders. (Hg.): Christoph Martin Wieland (= Wege der Forschung Bd. CDXXI), Darmstadt 1 9 8 1 , S. 1. Jaumann stellt allerdings diese »Renaissance« in Frage, weil nur ein gewisser Anstieg und eine Spezialisierung der Forschungsinteressen, aber keine Vermittlung zu einem breiteren Publikum von Schelle dokumentiert wird. Vgl. Jaumann: »Vom >klassischen Nationalautor< zum megativen Classiken. Wandel literaturgesellschaftlicher Institutionen und Wirkungsgeschichte, am Beispiel Wieland«, in Karl Richter/Jörg Schönert (Hg): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß, Stuttgart 1983. S. 3 - 2 6 .
Intention, Konvention und Innovation
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land gerecht werden will, dürfe »dieses Werk nicht allzu ernst nehmen«. 47 Lobenswert, so Sengle, ist zwar sein »virtuoser Stil«, 48 aber unter dieser anmutigen Oberfläche versteckt sich »ein vollkommen unverbindliches Salongespräch über religiöse und politische Fragen [...] von grotesker Kompromißhaftigkeit«. 49 Die Vorwürfe wegen Nachahmung, von denen er sonst Wieland freisprechen will, 5 0 kommen in der Besprechung des Goldnen Spiegels wieder voll zur Geltung und führen zu der Behauptung, die politischen Ideen des Romans seien »ein oberflächlicher Kompromiß, ein bloßes Konglomerat«, 51 das ohne weiteres dem Opportunismus des Autors zuzuschreiben wäre. Diese negative Beurteilung des Goldnen Spiegels wird bei Sengle, ebenso wie bei anderen Interpreten, nicht zuletzt auf die Umstände seiner Entstehung zurückgeführt, die mehrere Forscher zur Abwertung des als opportunistisch und unernst empfundenen Werkes veranlasst52 und Wieland den »Ruf eines Fürstenschmeichlers« 53 eingebracht haben. Wieland wurde als Autor dieses politischen Lehrstücks 1772 von der Herzogin Anna Amalia nach Weimar als Prinzenerzieher berufen, nachdem seine Bemühungen, sich mit dem Goldnen Spiegel bei dem habsburgischen Kaiser Joseph II. zu empfehlen, an den höfischen Intrigen am Wiener H o f gescheitert waren. 54 Diese historischen Bezüge haben Anlass zur Konsolidierung eines Urteilschemas gegeben, demzufolge der Roman — wie in Jean Pauls Parodie festgehalten wird - ausschließlich als verschlüsselte Darstellung der zeitgeschichtlichen Lage interpretiert wurde. Darüber hinaus erkannte man im guten Fürsten Tifan ein einschmeichelndes Bild des Kaisers und im Hofphilosophen Danischmend ein ebenso panegyrisches Selbstbildnis des Autors. 55 Die fur ihre Zeit als fürstlich zu betrachtende Summe von 633 Talern,
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Sengle: W i e k n d , S. 2 6 0 . Ebd., S. 2 5 9 . Ebd., S. 2 6 0 . Vgl. ζ. B. ebd., S. 509ff. Ebd., S. 2 6 3 . Sengle sieht das Werk als ein Mittel, »dessen sich Wieland zur Gewinnung der Mächtigen bediente«. Siehe ebd. Wilson: »Intellekt und Herrschaft«, S. 4 7 9 . Vgl. dazu vor allem Bernhard Seuffert: »Wielands Berufung nach Weimar«, in Vierteljahresschrift fiir Literaturgeschichte 1/1888, S. 3 6 0 , wo er feststellt: »Der Goldene Spiegel ist der Anlaß zu Wielands Berufung, ist die Grundlage zu Erziehung Carl Augusts.« Etwas differenziert wird dieses Bild bei Vogt, der die Gleichsetzung des Philosophen Danischmend mit dem Autor zurückweist, in Tifan aber ein Bild Josephs II. erkennt. Vgl. Vogt: »Der Goldne Spiegel« und Wielands politische Ansichten, S. 2. Sengle beschreibt dagegen das Werk als ein »diplomatisches Schrift- und Kunststück« und als »ein genaues Abbild von Josephs II. Regierung«, das mit dem Bild »eines modischen, im schlechten Sinne gesellschaftlichen Dichters« übereinstimmt. Vgl. Sengle: Wieland, S. 2 6 0 .
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Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion
des
Staatsromans
die Wieland für den Roman erhalten hat, wurde ebenfalls als Hinweis auf seine opportunistischen Motive gedeutet.56 Diese in der Forschung an Wieland gerichteten Anklagen der Kompromissbereitschaft und des Opportunismus sind eng mit dem Gattungsmuster des Staatsromans verbunden. Dabei nimmt Friedrich Beißner in der Frage über den ästhetischen und politischen Wert des Goldnen Spiegels die Gegenposition zur Ablehnung Sengles ein: Der Goldne Spiegel, behauptet er, sei ein »großartige[r] Roman«, in dem die schon in den Dialogen des Diogenes von Sinope von 1770 eingeführten »Stilmittel der Quellenfiktion und der dialogischen Facettierung« zu voller Wirkung gelangen, den aber, fügt er hinzu, »jeder missverstehen muß, der ihn zu ernsthaft als >Staatsroman< lesen wollte«. 57 Wielands Roman solle im Gegenteil als ein Stück »humoristische[r] Dichtung« gelesen werden, die im geistreichen Zusammenspiel von Erzählungen, Erzählebenen und Gesprächen ihren »hohen Wert« habe, und »doch gar nicht, umständlich und ernsthaft, über StaatsaufFassungen des 18. Jahrhunderts unterrichten will«. 58 Dementsprechend wird auch die rhetorische Entstehungssituation des Werkes von allen opportunistischen oder politisch-didaktischen Gattungsintentionen gereinigt: Wieland hat weder das Buch »mit hoffendem Blick auf eine Verwendung am kaiserlichen Hof zu Wien geschrieben« noch hat er gemeint, »sein fürstlicher Zögling, der Weimarer Erbprinz Carl August, könne durch die Lektüre des Goldnen Spiegels unmittelbar und materiell für seinen hohen Beruf gebildet werden«.59 Als dringende Frage der Forschung stellt sich also noch einmal der Zusammenhang zwischen Gattung und Politik, diesmal in biographischem und pragmatischem Sinne, indem die Gattungsintention des Goldnen Spiegels auf die rein strategischen Absichten des Autors reduziert wird, sich eine Stelle am absolutistischen Hofe zu sichern.60 Zur Abwehr eines solchen eindeutig reduktiven Interpretationsvorganges kann auf die von Quentin Skinner vollzogene Trennung zwischen »Motiv« und »Intention« eines Autors hingewiesen werden: während
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Sengle fasst sein Urteil vom Goldnen Spiegel folgendermaßen zusammen: »Derselbe Dichter [...] rudert mit wichtiger Miene [...] im allgemeinen Strom der literarischen Mode zum Hafen eines höfischen Glücks.« Siehe Sengle: Wieland, S. 263. Friedrich Beißner: »Nachwort des Herausgebers«, in Wieland: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Band 2. Herausgegeben von Friedrich Beißner, München 1964, S. 918. Ebd., S. 920. Ebd. Die Nachwirkungen dieser Debatte sind auch in der heutigen Forschung zu spüren. In diesem Sinne behauptet Budde, ein jeder, der darüber nur ein Wort verliere, »kolportiert [...] Gerüchte« und mache sich »biographische[] Kurzschlüsse[]« schuldig. Siehe Budde: Aufklärung als Dialog, S. 173, 174. In einer kritischen Rezension der Darstellung Buddes vertritt dagegen Jacobs die Auffassung, dass Wieland »durchaus die Hoffnung hatte, sein Roman werde in Wien Eindruck machen«. Siehe Jacobs: »Aufklärung als Dialog. Zu einer neuen Wieland-Deutung«, in Wirkendes Wort 1/2003, S. 143.
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und
Innovation
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das »Motiv [motive for writing« — der Roman als »Instrument der eigenen Karriere« Wielands 61 - nicht zum Werk selbst gehört, sondern sich außerhalb des Werkes und in einem zufälligen Verhältnis zum diesem befindet, kann die »Intention [intention in writing« nur im Werk selbst gesucht werden. 62 Sinnvoll wird diese Distinktion indessen erst, wenn Skinner den Begriff der »Intention« weder rein subjektiv noch rein textintern versteht, sondern als »konventionelle Intention« theoretisch entwickelt. 63 Angenommen, dass sich ein Autor immer in einem Akt der Kommunikation befindet, muss sich die Interpretation des Werkes auch auf die »geltenden Konventionen« beziehen, die diesen Akt der Kommunikation bedingen und regulieren.64 Zu diesen Konventionen, die immer sprachlicher Natur sind, gehören auch die Gattungskonventionen. In diesem Sinne wird der hier verwendete Begriff der »Gattungsintention« weiterhin auch als eine »konventionelle Intention« verstanden. Als Annäherung an die »konventionelle Intention« oder die »Gattungsintention« des Goldnen Spiegels wird zunächst auf die zeitgenössische Rezeption des Werkes eingegangen. 65 Wieland stand zur Zeit der Veröffentlichung des Romans auf dem Gipfel seines schriftstellerischen Ruhms, und die Rezensionen zeugen von einer breiten und intensiven Aufnahme beim Publikum. 66 Zunächst traten die historischen Bezüge und die spielerische und scherzhafte Form in den Vordergrund, aber darüber hinaus erschienen auch die politischen Inhalte des Romans den meisten Rezensenten als durchaus interessant und angemessen. Der Rezensent der Allgemeinen deutschen Bibliothek, Isaak Iselin, dessen Geschichte der Menscheit von 1768 die physiokratischen Elemente des Romans entnom-
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N a u m a n n : Politik und Moral, S. 189. Skinner: »Motives, Intentions and the Interpretation o f Texts«, in N e w Literary History. A Journal of T h e o r y and Interpretation 3 / 1 9 7 2 , S. 4 0 2 . Ebd., S. 4 0 8 . Ebd. Bei dem dynamischen Prozess der Gattungsbildung und Gattungsgeschichte handelt es sich, laut Voßkamp, u m eine »wechselseitige Komplementarität von Gattungserwartungen u n d Werkantworten«. Gattungserwartungen gibt es zunächst seitens der Leser. Zweitens sind aber Gattungserwartungen auch ein T h e m a der Werksgeschichte, allerdings als »erwartete[] Erwartung«. D i e Konventionalität eines Werkes könnte daher als Ubereinstimmung zwischen den Gattungserwartungen der Leser u n d den Werkantworten des Autors verstanden werden, wobei die »Gattungsintention« als »erwartete Erwartung« eine große Rolle spielen würde. Vgl. V o ß k a m p : » G a t t u n g e n als literarisch-soziale Institutionen«, S. 30ff. In seiner Rezension bezieht sich der Rezensent des Magazin der deutschen Kritik auf die »vielen kleineren Rezensionen, die bisher [...] in denen öffentlichen Blättern erschienen sind«, und erlaubt sich daher, in seiner sehr positiven Besprechung des Romans auf ein Inhaltsreferat zu verzichten. Siehe [Anonymus]: »Schreiben an den Herrn Herausgebers des Magazins der teutschen Kritik, über Herrn Wielands goldnen Spiegel; oder, den Königen von Scheschian«, in Magazin der deutschen Critik. Herausgegeben von Herrn Schirach. Ersten Bandes zweiter Teil, Halle 1772, nachgedruckt in G S , S. 7 3 7 .
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men waren, rühmt das Werk und drückt den Wunsch aus, den Goldnen Spiegel bald als »das Handbuch der Großen und Edlen vieler gesitteten Nationen« zu sehen, und stellt fest: »Nützlicheres und zugleich Angenehmeres werden sie in unserer Sprache nichts, und in anderen Sprachen nicht viel lesen können«. 67 Uber die »Grundsätze« der Regierung Tifans schreibt der Rezensent der Frankfurter gelehrten Anzeigen, den Jaumann mit großer Wahrscheinlichkeit als Johann Heinrich Merck identifiziert,68 sie seien »so allgemein gut und so anerkannt, als sie jemals auf dem Papier gestanden haben«. 69 Der Rezensent des Magazin der deutschen Critik kann dem nur zustimmen und lobt weiterhin, wie diese Grundsätze in ein »Romangewand« und in »die angenehmste Erzählung« eingekleidet werden, was aus »dem Nützlichen« »Reiz« und »entzückende Schönheit« macht. Er prophezeit, dass »diejenigen, welche mit Wielands freierer Muse nicht zufrieden sein wollten, [...] nach Lesung dieses Buches« sich mit ihr »ohnstreitig versöhnen« werden.70 Der zeitgenössischen Rezeption ist daher zu entnehmen, dass Wieland in seinem Roman Themen ins Gespräch bringt, die seinen Zeitgenossen durchaus vertraut sind. Diese Themen hat er in eine Form gebracht, die die Leser, unabhängig davon, ob sie sie ftir angemessen halten oder nicht, sehr wohl einzuschätzen wissen. Interessant ist dabei vor allem, dass der Roman als ein »Handbuch« identifiziert wird und dass seine politischen Inhalte als »Grundsätze« beschrieben werden, die eindeutig das vorhin besprochene Thema der »Anwendung« anvisieren. Es ist vor allem der Rezensent des Magazin der deutschen Critik, der explizit diese logische Konsequenz zieht, indem er die Hoffnung ausspricht, dass »recht viel der lehrreichen Regeln in Wirklichkeit gesetzt werden«, zugleich aber auf die »Unmöglichkeit« der »Erfüllung dieses Wunsches« hinweist, zumindest »in unsrer Welt«.71 »Welch ein Gedanke!«, ruft er aus, »die Großen der Welt sollen ein Buch lesen, und die Geschichte der Menschheit lernen, um - regieren zu können«.72 Es kann also kein Zweifel bestehen, dass Wieland im Goldnen Spiegel auf einem den Lesern durchaus bekannten moralisch-politischen Feld interveniert, das zwischen moralischen »Grundsätzen« und politischer »Anwendung« angesiedelt ist. Die zeitgenössischen Rezensenten erkennen auch sehr wohl, auf welche literarischen Vorbilder sich Wieland bezieht und daher in welche Gattungen der
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[Isaak Iselin]: Rezension zum Goldnen Spiegel, in Allgemeine deutsche Bibliothek. Des achtzehnten Bandes zweites Stück, Berlin und Stettin 1773, nachgedruckt in GS, S. 749. Vgl. Jaumanns Erläuterungen, GS, S. 745. [Anonymus]: Rezension zum Goldnen Spiegel, in Frankfurter gelehrten Anzeigen. Nro. LXXXVI. Den 27. October 1772, nachgedruckt in GS, S. 748. Magazin der deutschen Critik, S. 738ff., 740f. Ebd., S . 7 3 7 f . Ebd.
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Roman einzuordnen sei. Zu den literarischen Vorbildern des Goldnen Spiegels rechnen fast alle Rezensenten Ρέηείοηβ Tittmaque, Xenophons Kyropädie und die französischen Staatsromane, wie Marmontels BelisaireJ^ Iselin gibt sogar einen versteckten Hinweis auf Merciers L'an 2440, indem er auf Danischmends prophetische Aussage, Tifan sei kein »Geschöpfe der Phantasie«, sondern werde »künftig einmal sein«, lakonisch fragt: »Wenn aber? Kaum vor 2440«. 74 Teils ordnen die Rezensenten den Roman Wielands einer bestehenden Gattungstradition zu, teils legen sie das von Wieland selbst, durch direkte oder indirekte Anspielungen, in Fußnoten und Herausgeberkommentaren einbezogene literarische Universum aus. Am deutlichsten wird die Verbindung zwischen Gattung und Politik im Magazin der deutschen Kritik wahrgenommen. Der Rezensent schließt von der Perspektive der politischen Anwendung auf eine besondere Gattung politischer Literatur - den Fürstenspiegel: Wir haben einen Sachsen-Spiegel, und einen Schwaben-Spiegel. Beides sind die urältesten Gesetzbücher der teutschen Nation [...]. Dieses neue Gesetzbuch der Regenten, welche der Publizist des Bons Sens, Wieland, verfertigt hat, verdient eine allgemeine Norm zu werden, und die Edlen der Welt — wenigstens die Minister [...] - werden aus diesem neuen Sachsen- und Schwaben-Spiegel viel edlere Vergnügungen schöpfen, und viel wohltätigere Dinge lernen, als wenn sie Concerten, und Comödien, Maskaraden, Bällen, und Spielen ihre Stunden opfern. 75
Dann fugt er hinzu, dass die Idee, »diese Politik in einen Roman und die angenehmste Erzehlung einzukleiden«, die »Achtung der Großen, und ihre Lektüre« verdiene.76 Auf diese Weise reproduzieren so gut wie alle Rezensionen des Goldnen Spiegels das Ideal eines aufgeklärten Absolutismus, im Sinne einer »auf Moral und Menschenkenntnis gegründeten Staatsklugheit«,77 das die drohende Entzweiung des politischen Feldes in moralische Normativität einerseits und pragmatisch-politischer Praxis anderseits durch Berufung auf Aufklärung und Vernunft zu überbrücken sucht: »Es ist kein anderes wirksames Mittel,« schreibt Iselin, »unter den Menschen wahres Gutes zu bewirken, als die Fürsten, die Minister, das Volk zu erleuchten und zu belehren, dass sie nur durch Gerechtigkeit, durch Ordnung und durch Sitten glücklich werden können.« 78 Dass dieses Ideal jedoch nicht der Wirklichkeit entspricht, dass im Gegenteil der aufgeklärte Fürst mit der Aufklärung in Konflikt geraten ist, und dass sich
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Vgl. GS, S. 738 (Finelon), S. 740 (Xenophon), S. 746 (Crebillon), S. 749 (alle). Allgemeine deutsche Bibliothek, S. 754. Magazin der deutschen Critik, S. 738. Ebd. [Anonymus]: Rezension zum Goldnen Spiegel, in Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen, unter der Aufsicht der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften. 88. Stück, 1772, nachgedruckt in GS, S. 742. Allgemeine deutsche Bibliothek, S. 754.
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Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion des Staatsromans
der Absolutismus in Deutschland seit 1770 in einer Krise befindet, wird in den Rezensionen meistens nicht zur Kenntnis genommen. N u r an einer Stelle in der Rezension des Magazin der deutschen Kritik wird eine manifeste Anspielung auf diese Krise des Absolutismus auf deutschem Boden gemacht, wenn der Rezensent auf das Problem der Zensur zu sprechen k o m m t . Dabei liest er den Goldnen Spiegelt einen Schlüsselroman, in dem »Herr Wieland [...] Gemälde von Regenten gibt«, die er, der Rezensent, sich nicht traut, »mit denen Originalen« zu vergleichen«, denn, schreibt er an den Herausgeber, ich befürchte, daß Sie meinen Brief ihrem Magazine, so sehr es euch eine demokratische Freistätte, nach ihrem eigenen Ausdrucke, sein soll, nicht einverleiben würden, wenn ich alles Ihnen so öffentlich schreibe, was mir bei Durchlesung des goldnen Spiegels, in dem ich sehr historisch las, eingefallen ist.79 Diese Furcht des Rezensenten könnte auf den in der deutschen Öffentlichkeit zunehmend fühlbaren D r u c k der Zensur u n d den Kampf der Schriftsteller, Verleger u n d Gelehrten gegen allerlei Zensurmaßnahmen zurückgeführt werden und ließe sich als ein frühes Symptom des sich anbahnenden Zusammenbruchs der Allianz zwischen Aufklärung u n d Absolutismus deuten. Ursprünglich gedacht als eine P r ü f u n g religiöser Schriften auf Glaubensreinheit durch kirchliche Behörden wurde die Zensur von den absolutistischen Fürsten auf die weltliche Literatur ausgedehnt - seit 1715 dezidiert auf die politische Literatur. Wenn ein Buch ohne Erlaubnis der Zensurbehörde in D r u c k ging, konnten, je nach Sachlage, Autor, Drucker u n d Verleger in Schwierigkeiten k o m m e n . Politische Äußerungen wurden demzufolge a n o n y m oder pseudonym oder mit einem fingierten Druckort veröffentlicht, oder man benutzte - wie Wieland im Goldnen Spiegel— weit entfernte oder entlegene Schauplätze, u m die Politik des eigenen Landesherrn zu kritisieren. Bereits mit dem Agathon ist Wieland mit der Zensur in Konflikt geraten, der Roman wurde in W i e n verboten, aber auch für den Goldnen Spiegel befurchtet er die Unterdrückung des Buches durch die katholischen Habsburger. In einem Brief an seinen Verleger Reich schreibt er über den halbfertigen Roman, er enthalte »eine höchst freymüthige Satire [...], wobei die Herren Könige, die Herren Ministers, u n d die Priesterschaft (sonderl. Catholischen Antheils) die Nase gewaltig rümpfen werden«. M a n habe allerdings »höchstens ein Verbot in den Österreich. Staaten« (WB 4, 271) zu besorgen. Als der Zensurstreit ausbricht, schließt sich Wieland den Verfechtern der Pressefreiheit an und wird schnell zu einem ihrer bedeutendsten Vertreter. U m 1770 stellt der Staatsroman also nicht nur eine konventionelle Gattung dar, in der die Erzählparadigmen Xenophons u n d Fenelons weitergeführt werden, sondern er ist auch und vor allem eine »Antwort« auf die sich anbahnende Krise
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Magazin der deutschen Critik, S. 740.
Intention, Konvention und Innovation
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und zugleich ein Versuch, das mit dieser Krise verbundene »Erfordernis« durch Vermittlung eines literarischen Diskurses zu verringern oder zu zerstreuen. Die Beschreibung der rhetorischen Situation des Romans stellt zugleich eine Möglichkeit dar, hinter die in den Rezensionen veranschaulichten Konventionen der Gattung auf den dem Werk innewohnenden Element der Innovation zu kommen. Um gelesen und verstanden zu werden, musste sich Wieland zwar immer noch auf die traditionellen Konventionen des Staatsromans und des Fürstenspiegels beziehen, wusste sie aber, angesichts des aktuellen Erfordernisses, umzuwandeln. Als innovativ am Goldnen Spiegel erscheint dabei vor allem die schon im letzten Teil des Agathon antizipierte Umstellung der Gattungsintention von einer Realisierung der in der Tradition überlieferten Gattungskonventionen - des Staatsromans, der Utopie, des Fürstenspiegels - hin zu einer Reflexion über die Bedingungen einer solchen Realisierung.80 Erst als Gegenstand eines Gespräches, konnte der dem Gattungssystem des Barocks entstammenden Staatsroman auf den Stand des modernen pragmatischen Romans gebracht werden. Anspruch auf Wahrheit und Wahrscheinlichkeit erheben daher nicht die erzählten Inhalte, sondern lediglich, wie oben schon gezeigt, das um diese Erzählinhalte geführte Gespräch, in dem die Krise des Absolutismus und der damit verbundene Zusammenbruch des Dialogs zwischen Fürst und Philosoph widerspiegelt werden. Auslöser dieser zwischen Schach-Gebal und Danischmend ausgetragenen Gattungsverhandlungen, welche die Rahmenerzählung des Goldnen Spiegels ausmachen, ist aber immer wieder das durch die vorgetragene Geschichte, die Chronik der Könige von Scheschian, vermittelte Gattungsmaterial, das im letzten Teil der vorliegenden Interpretation dargelegt wird. In den folgenden Kapiteln wird dieses Gattungsmaterial unter drei Aspekten betrachtet, die mit den drei, in der Gattung des aufgeklärten Staatsromans konvergierenden Gattungsmustern des Fürstenspiegels, der Utopie und des Bildungsromans zusammenfallen. Zu zeigen ist nicht nur, wie diese Gattungsmuster in der Chronik zur Geltung kommen, sondern auch, wie sie dynamisch aufeinander übergreifen. Nicht zuletzt geht es darum, anhand einer Konvergenz zwischen Poetologischem und Politischem aufzuweisen, wie Wieland durch seine Umdeutungen der Gattungskonventionen des Fürstenspiegels und der Utopie eine Politisierung beider Gattungen herbeifuhrt, indem er sie zur Erschließung des politischen Handlungsraums der Gegenwart verwendet. Eben diese Politisierung wird aber durch die Konventionen des Entwicklungs- oder Bildungsromans, auf die Wieland ebenfalls im Goldnen Spiegel Bezug nimmt, wieder fraglich.
80
Vgl. Fohrmann: »Utopie, Reflexion, Erzählung«, S. 26. Den »Brennpunkt des Romans« erkennt ebenfalls Hohendahl nicht in der Utopie selbst, in ihrer statischen und geschlossenen Idealität, sondern in der Diskussion über ihre politischen und poetologischen Bedingungen. Siehe Hohendahl: »Zum Erzählproblem des utopischen Romans«, S. 107.
172
4.4
Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion des Staatsromans
Fürstenspiegel als Gattungsmaterial: Der gute Mensch und der böse Fürst
Zu den Gemeinplätzen der Forschung gehört, dass Der Goldne Spiegel der Gattungstradition der »Fürstenerziehungsromane« 81 oder »Fürstenspiegel-Romane« 8 2 zuzuordnen ist, die als die wichtigste Realisierungsform des Staatsromans im Zeitalter der Aufklärung gilt. 83 »Die deutschen Staatsromane«, schreibt in diesem Sinne Schings, »sind Romane des >vollkommnen Regenten«. 8 4 Zu einer aufschlussreichen und für die vorliegende Arbeit richtungweisenden Einsicht gelangt vielmehr Fohrmann, wenn er im Hinblick auf den Goldnen Spiegel die Gattung des Fürstenspiegels als »ein Ausgangsmaterial« bezeichnet, dessen »Dynamik« Wieland in seinem Roman geschickt erweitert. 85 Gerade diese Erweiterung und Umdeutung des Fürstenspiegels lässt sich weiterhin als eine Antwort auf die Krise des Absolutismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts interpretieren. 86 In diesem Kapitel wird untersucht, wie Wieland diese um 1770 scheinbar überholte Gattung, die in den Jahren vor der Französischen Revolution immer mehr »an Aktualität verliert«, 87 kritisch umfunktioniert im Hinblick auf die sich anbahnenden neuen Auffassungen der Politik und des Politischen sowie auf die politischen Realitäten seiner Gegenwart. Der Konvergenzpunkt der vielfältigen politischen Theorien im Deutschland des 18. Jahrhunderts ist die Vorstellung vom guten Fürsten. 88 Aufgeklärt, weise und selbst seine Gewalt einschränkend, scheint er die erstrebte Einheit von Politik und Moral zu verkörpern und damit den potentiellen Konflikt zwischen Absolutismus und Aufklärung überwinden zu können. Als vorbildlich gelten unter anderem Friedrich II., Katharina die Große und Joseph II. Die Abschaffung der Monarchie wird in Deutschland mit wenigen Ausnahmen von den Gebildeten weder gewünscht noch gefordert; der gute Fürst tritt vielmehr, neben der guten Verfassung, als Garant für Freiheit und Bürgerrechte auf. Ihre Geltung verdankt
81 82 83
84 85 86 87 88
Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«, S. 154. Biesterfeld: »Von der Prinzenerziehung zur Emanzipation des Bürgers«, S. 51. Zum Goldnen Spiegel als Fürstenspiegel vgl. auch Sven-Aage Jorgensen: »Vom Fürstenspiegel zum Goldenen Spiegel«, in Klaus Garber (Hg.): Europäische Barock-Rezeption. Teil I, Wiesbaden 1991, S. 365-375; und Jürgen Jacobs: Der Fürstenspiegel im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Zu Wielands »Goldenem Spiegel«. Herausgegeben von der Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 376, Wiesbaden 2001. Schings: »Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung«, S. 154. Fohrmann: »Utopie, Reflexion, Erzählung«, S. 25. Vgl. dazu Jacobs: Der Fürstenspiegel im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, S. 27. Biesterfeld: »Von der Prinzenerziehung zur Emanzipation des Bürgers«, S. 53. Vgl. Rudolf Vierhaus: »Politisches Bewußtsein in Deutschland vor 1789«, in Der Staat 6/1967, S. 189ff.
Fürstempiegel als Gattungsmaterial: Der gute Mensch und der böse Fürst
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die Aufklärungsutopie des guten Fürsten nicht zuletzt ihrer Verankerung in den machtvollsten Diskursen der Aufklärung. Die Staatsräson und das Naturrecht legen eine Position, eine Stelle, in ihrer jeweiligen diskursiven Ordnung frei, die vom guten Fürsten eingenommen werden kann, und durch die seine Legitimität abgesichert wird. Infolge der Politisierung der Aufklärung ist gerade diese diskursiv begründete Legitimität des Fürsten jedoch in die Krise geraten und im Goldnen Spiegel zieht Wieland sozusagen die Konsequenzen dieser Krise, indem er die Versöhnung von Politik und Moral in der utopischen Herrschergestalt des guten Fürsten als ein kontingentes labiles Konstrukt entlarvt. Als Bearbeitung vom Gattungsmaterial des Fürstenspiegels, das in der Chronik der scheschianischen Könige zum Vehikel einer zum Teil sehr scharfen Satire auf die Fürsten wird, kommen zwei narrative Strategien zur Anwendung: zum einen — in der Geschichte von Azor - die empathische Darstellung des Fürsten als eines moralisch integeren, durch die Befassung mit der Macht aber völlig korrumpierten Menschen; zum zweiten - in der Geschichte von Isfandiar und seinem Lehrer Eblis - die distanzierte Entlarvung des Fürsten als eines illegitimen, eine nihilistische und menschenfeindliche Ideologie praktizierenden Tyrannen. Erst in der Form einer Uberwindung dieser beiden dystopischen Exempla kann schließlich Wieland seinen Idealfürsten, Tifan, konzipieren. Zunächst wird auf die Geschichte von Azor eingegangen, dem guten Menschen, der aber ein durchaus schlechter Fürst wird, um zu zeigen, wie in dieser Geschichte der Anspruch des Naturrechts, der Fürst müsse an den selben moralischen Maßstäben wie andere Menschen gemessen werden, zur Diskussion gestellt wird. Am Anfang seiner Erzählung von Azor stellt Danischmend seinen Zuhörern den jungen Thronerben vor: Der junge Azor war wie die meisten Menschen (Prinzen oder nicht) mit einer Anlage geboren, aus welcher unter den bildenden Händen eines Weisen, ein vortrefflicher Privatmann, und vielleicht sogar ein guter König hätte hervorkommen mögen. (GS 81) 8 9
Die Erziehung und Regierung Azors stellt eine Bildungsgeschichte mit negativem Ausgang dar. In der Azor-Geschichte wird die Tendenz zur Moralisierung und Individualisierung der Frage nach der guten Regierung, die seit dem Zeitalter des Humanismus in der Gattung des Fürstenspiegels wirksam ist, 90 an ihr
89
50
Darin unterscheidet sich Azor von Dionysius im Agathon-Vjaman, den der Erzähler folgendermaßen charakterisiert: »Dionys, welcher unter gewissen Umständen fähig sei, ein guter Fürst zu werden, würde, wenn er sich auch in einem Anstoß von eingebildeter Großmut hätte bereden lassen, die Tyrannie aufzugeben, allezeit ein schlimmer Bürger gewesen sein« (A 445). Vgl. dazu Müller: »Die deutschen Fürstenspiegel«, S. 575f; und Bruno Singer: Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, München 1 9 8 1 , S. 26f.
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Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion des Staatsromans
logisches Ende geführt: »Prinzen«, stellt Danischmend in seinem Kommentar zur Chronik fest, »sind [...] im Grunde doch, wie man sagen möchte, nur eine Art von - Menschen« (GS 82). Hatte man in den Fürstenspiegeln des 16. und 17. Jahrhunderts, beispielsweise in Machiavellis II principe, noch versucht, zwischen diesen beiden ethischen Idealen — dem guten Menschen und dem guten Fürsten - zu unterscheiden, war das Ziel der politischen Kritik der Aufklärung, dieses von Machiavelli polemisch eingeführte Prinzip einer sich jeder allgemeinmenschlichen Moral entziehenden Staatsräson zu überwinden, um die Frage nach der Legitimität politischer Herrschaft im Kontext der bürgerlichen Moral stellen und beantworten zu können. Dieselbe Schlussfolgerung zieht später Justus Moser in seinen 1796 erschienenen Politischen Wahrheiten·. »Der Mensch steckt nicht im König, der König steckt im Menschen, und wie der Mensch ist, so ist der König.«91 Die Aufgabe der Fürstenerziehung besteht also darin, dem Thronerben eine Reihe teils königlicher, teils allgemeinmenschlicher Tugenden beizubringen, um ihn auf diese Weise sowohl zu einem guten Fürsten als auch zu einem guten Menschen auszubilden. Dieses neue Fürstenbild wird im Goldnen Spiegel für narrative Zwecke ausgewertet. Programmatisch zieht Wieland zunächst die Bildungsthematik, dann die Liebesmotivik zur Schilderung des Fürsten heran. In der Chronik werden die Liebesbeziehungen Azors zu seinen Favoritinnen Xerika und Alabanda auf die folgende Formel gebracht: »Die zärtliche Xerika hatte in dem Könige nur Azorn geliebt; Alabanda liebt in Azorn nur den König«. (GS 93) 92 - wobei es nicht überraschen sollte, dass Azor gerade an der Verführung und den verschwenderischen Launen Alabandas zugrunde geht. Als Mensch und Teil der Gesellschaft sieht der absolutistische Fürst seine souveräne Macht durch die Maximen der naturrechtlichen Philosophie eingeschränkt. Das Herrschertum wird nicht durch die Vorzüge der Geburt oder des Amtes begründet, sondern durch seine Pflichterfüllung; die Macht fließt aus einer »ebenso verbindlichen Schuldigkeit ab, als diejenige sei, vermöge welcher die Untertanen ihm Ehrfurcht und Gehorsam zu leisten, [...] schuldig seien« (GS 91). Obwohl Wieland sich weigert, diese letzte Konsequenz zu ziehen, antizipiert er, wie schon d'Holbach in seinem Systeme de la nature, die mögliche Absetzung des König wegen schlechter Amtsführung. Als Mensch, der an seine Pflichten gebunden ist, ist damit der Fürst zu einem durchaus legitimen Gegenstand aufklärerischer Kritik geworden. Der Maßstab, an dem die Leistungen und
91
92
Justus Moser: Politische Wahrheiten, Zürich 1796, I, S. 31. Zit. nach Koselleck: »Sprachwandel und sozialer Wandel im ausgehenden Ancien Regime«, in Bernhard Fabian/Wilhelm Schmidt-Biggemann/Rudolf Vierhaus (Hg.): Die Neubestimmung des Menschen (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Band 2/3), München 1980, S. 17. In Jean Pauls Hesperus wird diese formelhafte Aussage fast wortwörtlich wiederholt: Viktor, schreibt Jean Paul, »liebte [...] am Fürsten nur den Menschen; der Minister nur den Fürsten« (SW I, 3, 334).
Fürstenspiegel als Gattungsmaterial: Der gute Mensch und der böse Fürst
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Eigenschaften Azors und anderer Fürsten zu messen wären, gibt Danischmend in seiner Panegyrik auf die Fürsten, »welche durch ihr Beispiel diese Pflichten um ein Namhaftes erschwert haben.« (GS 85) Das Fürstenbild ist hier unter den Individualisierungszwang des neuen, emphatisch aufgeladenen MenschenbegrifFes geraten und befindet sich im Horizont des Geniekultes der Stürmer und Dränger. Danischmend schwärmt von dieser Dynastie der tugendhaften, fast überirdischen Herrscher, die »so viele und mühsame Arbeiten unter dem, was sie ihre
Pflicht nannten [begriffen], daß nur eine heroische Tugend vermögend sein kann, einen Sterblichen zu Annehmung einer Krone, unter solchen Bedingungen, zu bewegen« (GS 86). In dieser Passage ist ebenfalls eine kaum versteckte Kritik am Sultan Schach-Gebal zu erkennen, die er aber selbst wegen seiner zunehmenden Müdigkeit nicht gewahr wird. Bei Thomas Hobbes, als wichtigstem Vertreter der absolutistischen Staaträson des 16. und 17. Jahrhunderts, bleibt der Fürst jeder Kritik enthoben, weil es keine Instanz gibt, die über ihn zu Gericht sitzen kann. Fühlt sich jemand berechtigt, über den Souverän zu urteilen, verlagert sich sofort der Sitz der Souveränität, oder die Gesellschaft kehrt in ihre anarchischen Ursprünge zurück. 9 3 Bei Wieland hat die Vernunft und die auf der Vernunft gegründete Moral diese Funktion der letzten Instanz übernommen: Das kritische Richten erfasst auch den Staat und reduziert den Fürsten auf Menschen und Bürger. »Die Kritik«, behauptet in diesem Sinne Koselleck, »ist der Tod des Königs«. 94 Die Azor-Geschichte des Goldnen Spiegels steht im Zeichen einer Dialektik, die mit unwiderstehlicher Logik sowohl Azor als auch Ludwig XVI. schließlich zugrunde richtet. Danischmend klingt daher kaum sehr glaubhaft, wenn er Azor als »der leutseligste, der mitleidigste und wohltätigste Fürst seiner Zeit« (GS 154) charakterisiert und seinen unverdient schlechten Ruf bedauert. Dieses an die Öffentlichkeit getragene Mitleid mit dem Menschen im Fürsten fuhrt im Gegenteil seinen Umsturz und endlich seinen Tod herbei. Azor wird als Mensch entlarvt, aber als ein guter Mensch. Aus didaktischen Gründen, können wir annehmen, will Wieland zunächst seinen Lesern die Augen für den Menschen im Fürsten öffnen, ehe er zu einer Satire auf die bösen Fürsten übergeht. Danischmend macht dabei den Sultan, als Erwiderung auf seine Frage, wer von den beiden Fürsten der schlimmere sei, auf den Unterschied zwischen Azor und Isfandiar aufmerksam: »Um Vergebung, Sire! Azor war in der Tat kein böser Fürst; er war nur schwach, Isfandiar hingegen « (GS 157). Isfandiar ist der böse Fürst, die Herrschaft ist ihm nur ein Mittel, seine eigenen Begierden zu realisieren. Sowohl der schwache als auch der böse Fürst gehören
"
94
Thomas Hobbes: Leviathan with selected variants from the Latin edition of 1668. Edited, with Introduction and Notes by Edwin Curley, Indianapolis/Cambridge 1994, S. 11 Off. Koselleck: Kritik und Krise, S. 97.
176
Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion
des
Staatsromans
zu den traditionellen Topoi der Gattung des Fürstenspiegels, zwar als negative Exempla. Indem Isfandiar Azor auf dem scheschianischen Thron ersetzt, verlagert sich allerdings auch die Aufmerksamkeit des Erzählers, von der Person des Fürsten zur Ideologie der Herrschaft, die als ein Zerrbild der politischen Anthropologie der frühen Neuzeit verstanden werden kann. Der politischen Anthropologie, die auf das politische Denken Piatons und Aristoteles' zurückgeht und im 16. und 17. Jahrhundert zum wichtigsten politischen Paradigma der Neuzeit aufsteigt, liegt ein Verständnis der Macht zugrunde, das vor allem darin von dem unseren abweicht, dass die Macht nicht als gesellschaftliches Phänomen, sondern als anthropologische Bestimmung definiert wird. Philosophisch begründet wird dieser anthropologische Begriff der Macht u. a. in den Schriften von Hobbes, Locke, Rousseau, Burke und Kant, und weitet sich dann auf die aufklärerische Menschenkunde aus. Als Schlüsselbegriff" der politischen Anthropologie erscheint die Macht als eine anthropologische Konstante, die das Tun und Lassen der Menschen bedingt, und erhebt sich schließlich zum Kennzeichen der menschlichen Subjektivität selbst. Der Mensch ist von einer potentiell unendlichen Begierde nach Selbsterhaltung charakterisiert; die Macht stellt das Mittel ihrer Realisierung dar. 95 Aus der unendlichen Natur der Triebe leitet Hobbes die Unendlichkeit des menschlichen Machtstrebens ab, die er wiederum als den Ursprung eines permanenten Kriegszustandes, eines bellum omnium contra omnes, versteht. 96 Hobbes' Begründung dieses Kriegszustandes klingt bei Wieland nach: Vergebens würde es sein für die Glückseligkeit dieser Unersättlichen zu arbeiten: man müßte einen jeden von ihnen zu einem Sultan machen können, um ihn zufriedenzustellen; sie bleiben mißvergnügt, so lange noch etwas zu wünschen übrig ist. (GS 176)
Fast in wörtlicher Übereinstimmung mit Hobbes schreibt Wieland weiter: Der »Hang zum Müßiggang und Hang zum Vergnügen«, die beiden konträren Grundneigungen der Menschen, bewirken einen unauslöschlichen »Hang zum Despotismus, der dem armseligsten Erdensohn eben so angeborn ist als dem Erben der größten Monarchen« (GS 174).
95
Vgl. dazu Hobbes: Leviathan, S. 50: »The power of a man (to take it universally) is his present means to obtain some future apparent good, and is either original or in-
96
Vgl. ebd., S. 75-78: »[T]here is no way for any man to secure himself so reasonable as by anticipation, that is by force or wiles to master the persons of all men he can, so long till he see no other power great enough to endanger him. [...] Also, because there be some that taking pleasure in contemplating their own power in the acts of conquest, which they pursue farther than their security requires, if others [...] should not by invasion increase their power, they would not be able [...] to subsist. [...] Hereby is manifest that during the time men live without a common power to keep them all in awe, they are in that condition which is called war, and such a war is of every man against every man« (S. 75f.).
strumental.«
Fürstenspiegel als Gattungsmaterial: Der gute Mensch und der böse Fürst
177
Der Urheber dieser ausgeprägt pessimistischen politischen Anthropologie ist in der Chronik der Könige von Scheschian der Philosoph und Fürstenerzieher Eblis. In Ubereinstimmung mit der Tradition des Fürstenspiegels will Eblis seinem Schüler das »große Geheimnis der Regierungskunst« (ebd.) beibringen. Bereits in dieser Bestimmung seiner Aufgabe klingt ein zentrales Dogma der Lehre der Staatsräson nach, die Lehre der arcana imperii. Der Arkanpolitik des ancien regime, die auch in den Hofschilderungen Jean Pauls, vor allem im Hesperus, eine große Rolle spielt, lag eine Vorstellung zugrunde, dass die Mittel der absolutistischen Herrschaft wegen ihres un- oder amoralischen Charakters geheim gehalten werden mussten. 97 Als Ideologe der souveränen Herrschaft bringt Eblis allerdings auch eine Radikalisierung der Lehre der Staatsräson herbei, wenn er im Gegensatz zu seinen Vorgängern in der Philosophiegeschichte, Machiavelli und Hobbes, nicht davon ausgeht, »daß der Vorteil des Gebieters und des Staats einerlei sei« (ebd.); im Gegenteil könne das Problem des gesellschaftlichen Zusammenlebens, jenseits aller normativen oder gar gesellschaftlichen Bindungen, ganz auf die Realisierung des Glücks des »Einzigen« (GS 175) reduziert werden. Diesen Konflikt zwischen kratos und ethos wollte die Lehre der Staatsräson überbrücken; bei Eblis dagegen klafft er wieder auseinander. Diese nihilistische Anthropologie stellt die wichtigste Bildungskraft der Fürstenerziehung Isfandiars dar. Genau wie Azor ist auch Isfandiar der negative Held einer negativen Bildungsgeschichte. Die Akzente werden indessen anders gesetzt. Als Themen der politischen Reflexion können sich vor allem die Affekte der Menschen und die dazugehörende Affektkontrolle behaupten, wobei der Staatsroman fortan in die Nähe des »anthropologischen Romans« rückt. In diesem Sinne könnte der Einzug der politischen Anthropologie in den Staatsroman - der schon im Agathon zu beobachten ist und der in Jean Pauls heroischen Romanen zur vollen Entfaltung kommt — auf eine in der Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stattfindende »Neuorientierung« zurückgeführt werden, 98 durch die das Feld der philosophia anthropologica und damit der Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen ins Zentrum des Interesses gerückt wird. Diese Neuorientierung kann bei Wieland nicht erst im Goldnen Spiegel, sondern schon in den beiden vorangehenden Romanen
Don Sylvio von Rosalva und Agathon nachvollzogen werden. An der Gestalt des Hippias lässt sich ablesen, so Schings, wie die »anthropologische Methode [ . . . ]
97
Zur Vorstellung von den arcana imperii vgl. Peter S. Donaldson: Machiavelli and Mystery of State, New York/New Rochelle/Melbourne/Sydney 1988, bes. S. vii-xiv; und Michael Stolleis: »Arcana Imperii und Ratio Status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts«, in ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main 1990, S. 37-72. Eine nähere Diskussion dieses »Geheimnis«-Begriffes folgt im Kapitel zum
98
Schings: »Der anthropologische Roman«, S. 251.
Hesperus.
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Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion des Staatsromans
nicht nur erzähltechnisch voll instrumentalisiert«, sondern darüber hinaus »radikal thematisiert« w i r d . " I m Agathon zeigte sich diese anthropologische Neuorientierung u. a. in den »politischen Träume[n]« (A 255) des Helden, die auf ihre Ursachen befragt wurden u n d einen »geheimen« oder gar einen »subtile [n]« »Stolz« (A 256) aufdeckten, der als unbewusste Triebfeder seiner politischen Handlungen ins Spiel kam. 1 0 0 W ä h r e n d aber Agathons Eigenliebe in der Tugend einen ebenbürtigen Gegenspieler fand, hat sie bei Isfandiar völlig freies Spiel. Sein Wunsch, den Vater auf dem T h r o n zu ersetzen, entspringt daher allein der Begierde, alles zu tun, was er will: Die Ungeduld, so viele Jahre als der König sein Vater noch zu leben hätte, zwischen sich und dem Ziel seiner feurigsten Wünsche zu sehen, nahm mit jedem Jahre so stark zu, daß sie bei einem Prinzen, der so wenig gewohnt war seinen Leidenschaften zu gebieten, sich endlich zu deutlich verraten mußte, um dem alten Azorn verborgen zu bleiben. (GS 170f.) In der Nachfolge von Hobbes schildert Wieland Isfandiars Machtstreben als die wahre Signatur von dessen Subjektivität, die sich wechselweise als Bosheit, Eitelkeit oder U b e r m u t äußert. W ä h r e n d Azors Bildung lediglich ein Negativum darstellt, das der Regierungsunfähigkeit des Fürsten nicht abhelfen kann, tragen die Maximen des Prinzenerziehers Eblis aktiv zur Befestigung des Despotismus bei. Isfandiars Erziehung zeichnet daher ein Zerrbild des absolutistischen Fürsten, der in Verleugnung aller Gesetze u n d Pflichten bloß aus Gründen eigener Willkür u n d zur Erfüllung eigener Begierden regiert. Allerdings zielt Wielands Intervention in der politischen Anthropologie der Aufklärung nicht allein auf eine Stilisierung des tyrannischen Herrschers, sondern stellt auch eine U m d e u t u n g eines besonderen Bedeutungsfundus des aufklärerischen Diskurses dar. A n h a n d der Figur Hippias' hat T h o m e zeigen können, wie Wieland im Agathon den anthropologischen Diskurs der radikalen französischen Aufklärung als »demagogisches Herrschaftswissen« entlarvt. In A n k n ü p f u n g an T h o m e s Analyse wird hier behauptet, dass sowohl Eblis als auch Isfandiar als Erben der Hippias-Figur anzusehen sind, in denen Wieland die politischen Implikationen dieser philosophischen Position verdeutlicht u n d zuspitzt. In der Darstellung vom Prinzen u n d dessen Erzieher hat die materialistisch-nihilistische Anthropologie den Weg aus der Philosophie in die Politik gefunden u n d ist zur Herrschaftsideologie geworden. In diesem Sinne weist das moralphilosophische System Eblis' Verbindungen zum sensualistischen Materialismus französischer Philosophen wie Sade u n d La Mettrie auf: Eblis [...], dessen Herz keine Vermutung hatte, daß es eine höhere Art von Wollust gebe als die Befriedigung der Sinne und das eigennützige Vergnügen des gegenwärtigen
99 100
Ebd. S. 254. Vgl. dazu Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 128ff.
Fürstenspiegel als Gattungsmaterial: Der gute Mensch und der böse Fürst
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Augenblicks — Eblis hatte sich ein System gemacht, aus welchem Wahrheit, Tugend, Zärtlichkeit, Freundschaft, kurz, jedes schönere Gefühl und jede edlere Neigung verbannt waren. >Alles ist wahn, sagte er, >je nachdem wir es ansehen; [...]GeistWas nützen schielende Wahrheiten?< Rousseau, Wieland und die Hermeneutik des Fremden«, in Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland, S. 47-78. Mit der Sigle W W wird zitiert nach: Wieland: Sämmtliche Werke. Herausgegeben von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur in Zusammenarbeit mit dem Wieland-Archiv Biberach und Dr. Hans Radspieler, Neu-Ulm. 39 Bde. und 6 Supplementbände, Hamburg 1984 (Faksimiledruck der >Sämmtlichen Werkes Leipzig 1794-1811). Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l'origine et les fondement de l'inegalite parmi les hommes. Preface et commentaire par J.-L. Lecercle, Paris 1971, ζ. B. S. 95.
Utopie als Gattungsmaterial: Rezeption und Politisierung
185
kennen und von gesellschaftlichen Institutionen wie Ehe, Familie und Kultur profitieren. Diese Sozialität hat allerdings zunächst keine politischen, sondern lediglich ästhetischen und moralischen Implikationen. Die Fabel von den »Kindern der Natur« im Goldnen Spiegel wird diesen dichterisch-philosophischen Übungen als eine zusätzliche Veranschaulichung desselben Gedankenguts zugeordnet. Die hier propagierte Einheit von Natur, Kultur und Moral kann als eine Intervention in der Debatte über Rousseaus Diskurse und zugleich als einen Schritt auf dem Weg zu ihrer politischen Umdeutung gelesen werden. Die unter den Naturkindern existierenden Triebe und Fähigkeiten werden moralisch und ästhetisch uminterpretiert. Ihre Charakteristika sind »die Liebe zur Musik, und ein gewisser angeborner Hang zum Schönen und zu geselligen Vergnügungen« (GS 55). Die vollständige Harmonie dieser Gesellschaft transponiert Wieland ins »lebendige Gemälden vom alten gastfreundlichen Greis mit seinen Enkeln und deren Kindern, »dessen Anblick die Güte der Moral des weisen Psammis besser bewies als die scharfitnnigsten Vernunftsgründe hatten tun können« (GS 67). Dieser rokokohafte Idealzustand kann bei Wieland jedoch nicht die Beständigkeit der Utopie beanspruchen, sondern dient ihm lediglich als Folie für Reflexionen über die Gültigkeit naturidyllischer Vorstellungen. Die Ästhetisierung der spezifischen Sozialität des Naturzustandes wird strategisch eingesetzt, um Rousseaus dialektische Weltsicht zu widerlegen, aber enthüllt sich in der Konfrontation mit der Politik als purer Schein, als Motive aus dem Instrumentarium des Rokoko, die dem Einbruch der Politik nicht standhalten können. Wenn Wieland die Antithese von Natur und Kultur überbrückt, ist es also nicht um eines harmonischen Fortschritts willen, sondern um die Aufmerksamkeit der Leser auf einen anderen und weit brisanteren Dualismus zu lenken. Wenn Tifan von seiner Bildunsgreise zurückkehrt, stellt er die folgende pessimistische Diagnose: »Von welcher Seite ich die Menschen ansehe, finde ich sie in Widerspruch mit sich selbst« (GS 222). Hat aber Rousseau in seinen beiden Discours diese »grundsätzliche[] Asymmetrie« 117 auf den Widerspruch von harmonischer Natur und korrumpierter Kultur zurückgeführt, wendet sich Wieland der innergesellschaftlichen Dialektik von Moral und Politik zu. Dabei wird Rousseaus Dualismus auf die Sphäre der Politik übertragen und angesichts der Unterdrükkung und der Willkürherrschaft im absolutistischen Staat reaktualisiert. Als Ursache für die von Rousseau prognostizierte Dekadenz erweisen sich für Wieland die Herrschermechanismen des Absolutismus. Es ist daher ungereimt, schreibt er in den »Betrachtungen«, einigen dauerhaften Nutzen von den Maßnehmungen zu erwarten, welche man ge-
gen diesen oder jenen einzelnen Zweig der sittlichen Verderbnis besonders schimpft, so
17
Bernhard Lypp: »Rousseaus Utopien«, in Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Band 3, Frankfurt am Main 1985 [1982], S. 114.
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Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion des Staatsromans
lange man das Übel nicht in der Würzel angreift, oder angreifen darf; das ist, so lange die menschliche Natur unter den Fesseln seufct, in welche die Tyranney des Aberglaubens und willkürlich ausgeübter Staatsgewalt in gewissen Jahrhunderten und in gewissen Strichen des Erdbodens sie geschmiedet hat. ( W W 14, 171)
Wieland kann Rousseaus Kritik am sittlichen Verfall als letzter Ursache allen Übels nicht folgen; diese fatale Tendenz ist für ihn lediglich als ein bedingt kausales Phänomen und als die Konsequenz einer anderen und größeren Dekadenz - die der Politik - zu verstehen: Die moralische Verderbnis erfolgt nicht aus der Kultur und Kunst, sondern ist eine Folge der Unterdrückung durch die Staatsgewalt. Im Goldnen Spiegel ist es Danischmend, der als Teil einer Polemik gegen den anthropologischen Pessimismus Eblis' die Frage stellt: »Aber sollte wohl jemand die Verwegenheit haben können, zu behaupten, die Menschen seien von Natur so bösartige Geschöpfe? Wer macht sie dazu?« (GS 179). Auf diese Frage gibt er selbst die Antwort und ersieht dabei die Fürsten und ihre Höflinge zu Sündenböcken aus. Die sittliche Beschaffenheit der Menschen spiegelt die ihnen aufgezwungene Herrschaftsform wider: »Das glückliche Volk«, das unter einem guten Fürsten lebt, »in welchem es seinen allgeimenen Vater erblickt«, sei, so Danischmend, auch im moralisch-anthropologischen Sinne gut; »das unterdrückte Volk« sehe im Gegenteil »dem Bilde sehr ähnlich, welches Eblis unbilliger Weise von dem Volke überhaupt mache«: »launisch in seinen Leidenschaften, undankbar für das Gute, das man ihm erweist, ungestüm und unersättlich in seinen Forderungen« (GS 179). Diese Zuordnung des guten Menschen zur guten Herrschaft, des schlechten zur schlechten, macht den Kern von Wielands Umdeutung des Kulturpessimismus Rousseaus aus und vollzieht die Perspektivenverschiebung in Richtung auf die Politik. Danischmend fragt endlich: »Ist es nicht der Gipfel der Ungerechtigkeit, die Menschen dafür zu bestrafen, wozu man sie selbst gemacht hat?« (GS 179) Statt die Mängel und die Leiden der Gegenwart auf einen vorhistorischen Sündenfall zurückzuführen, findet bei Wieland eine Rehistorisierung und Repolitisierung der gesellschaftlichen Asymmetrie statt, die diese Konflikte und Unterschiede als kontingent und historisch und daher als veränderbar erscheinen lässt. Die Talgemeinschaft der »Kinder der Natur«, als »die einzige Freistätte, welche die schöne Natur vielleicht auf dem ganzen Erdboden hat« (GS 64), stellt eine prototypische Raumutopie dar. In seinen Umdeutungen von den Gattungskonventionen der Utopie und des utopischen Romans setzt sich Wielands allerdings nicht nur mit raumutopischen, sondern auch mit zeitutopischen Vorstellungen auseinander, in Übereinstimmung mit dem sowohl von Koselleck als auch von Voßkamp beschriebenen »Paradigmawechsel von der Raum- zur Zeitutopie« 118
18
Voßkamp: »Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte der Literatur«, S. 46.
Utopie als Gattungsmaterial:
Rezeption und
Politisierung
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am Ende des 18. Jahrhunderts. Für diesen Übergang liefert ebenfalls Rousseau die Stichworte. 1 1 9 Die dem Menschen eigene Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung, für die Rousseau den Begriff perfectibilite prägt, 1 2 0 stellt als Triebkraft der kulturellen Entwicklung die Ursache allen menschlichen Leidens dar, zeigt aber paradoxerweise zugleich den Weg aus dem sozialen, politischen, moralischen oder auch literarischen Elend der Gegenwart. Durch die Projektion aller W ü n s c h e in eine offene Zukunft verleiht die Vorstellung der perfectibilite dem utopischen Wunschdenken neue Kraft. Die Gegenbildfunktion der Utopie erweitert sich zur Antizipation und Konstruktion des Hypothetisch-Möglichen. Nicht das räumliche Gegenbild, sondern das Mögliche, das auf seine Realisierung drängt, wird fortan Inhalt der Utopie. Zukunftsutopie ist immer zugleich Fortschrittsphilosophie. Um seinen von der Menschheit enttäuschten Schüler zu trösten, versichert Dschengis Tifan, dass der Mensch zwar »unvollendet«, »aber mit einer Anlage zu bewundernswürdigen Vollkommenheiten« (GS 223) zur Welt kommt. Als erstes Beispiel eines zeitutopischen Romans gilt, wie oben schon erwähnt, Merciers L'an 2440.m Die Handlung ist in der Gegenwart des Paris von 1768/69 angesiedelt, wird aber durch das M e d i u m des Traumes in die Zukunft, ins Jahr 2440 transponiert, wo in Paris der universelle Friede herrscht, die wirtschaftliche Lage jedem ein angenehmes Leben sichert, und eine konstitutionelle Monarchie den Bürgern Freiheit und Sicherheit gewährt. Dieses als erster Zukunftsroman der Weltliteratur kanonisierte Werk enthält zudem die schärfste und blutigste Revolutionsprognose, die jemals vor 1789 formuliert wurde. 1 2 2 Als der Roman 1772 auf Deutsch vorlag, in der Übersetzung Christian Felix Weises, war allerdings das französische Original in Deutschland schon wohl bekannt und wurde in Briefen zahlreicher Schriftsteller besprochen. 1 2 3 Im Goldnen Spiegel, in einer Anmerkung, die nicht zur Herausgeber- und Übersetzerfiktion des Romans gehört, sondern in der Tat auf einen durchaus realen und gegenwärtigen Autor schließen
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Vgl. dazu ebd., S. 5. Rousseau: Discours sur l'origine et les fondements de l'inegalite, S. 80. Koselleck: »Die Verzeitlichung der Utopie«, S. 2. Vgl. auch Raymond Trousson: »Utopie, Geschichte, Fortschritt: Das Jahr 2440«, in: Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Band 3, Frankfurt am Main 1 9 8 5 [1982], S. 1 5 - 2 3 . Louis-Sebastian Mercier: L'An deux mille quatre cent quarante. Reve s'il en fut jamais. Edition, introduction et notes par R. Trousson, Bourdeaux 1 9 7 1 , S. 3 3 0 Anm. 3: »A certains Etats il est une epoque qui devient necessaire: epoque terrible, sanglant, mais signal de la liberte. C'est de la guerre civile dont je parle. [...] C'est une remede affreux, mais apr£s la stupeur de l'Etat, apres l'engourdissement des ämes, il devient necessaire.« Ebenfalls bei Mercier endet die Revolution im guerre civile, im »Bürgerkrieg«, wobei er sich den anderen von Koselleck ausgewiesenen Prognostikern dieser Entwicklung zuordnet. Herbert Jaumann: »Die deutsche Rezeption von Merciers >L'an 2440verborgnen Prinzen< zur Entfaltung kommt. Parallel zur »politischen Zeitutopie« Merciers entsteht in Deutschland, so Voßkamp, mit der Gattung des Bildungsromans »eine individualpsychologisch fundierte Zeitutopie des vervollkomnungsfähigen und sich permanent vervollkommnenden Individuums«. 1 3 2 Utopisch sei der Bildungsroman - der ja im deutschen literaturgeschichtlichen Kanon ebenfalls unter Bezeichnungen wie »Entwicklungsroman« und »Erziehungsroman« firmiert133 - in dem Sinne, dass er eine »Realisierung individueller Totalität« als normativen Telos hat, die erst durch die »[a]llseitige Vervollkommnungsfähigkeit des Individuums in der Zeit« zu Stande kommen kann. 1 3 4 Eben diese Kanalisierung utopischer Intentionen in die Bildungsgeschichte eines einzelnen hervorragenden Individuums kann auch in Wielands Goldnem Spiegel und anhand der Figur Tifans beobachtet werden. Tifan ist ein verborgener Prinz, der in Unwissenheit seines Standes und weit vom Hofe entfernt erzogen wird, »zum Menschen« ( G S 204). Eben diese Umdeutung des Topos der >Fürstenerziehung< bei Mercier und Wieland ist, mit den Worten Müllers, »vorzüglich geeignet, den Übergang vom Staatsroman zum Erziehungsroman zu ermöglichen«, 1 3 5 denn fortan gehört zur Voraussetzung der gelungenen Erziehung eines guten Fürsten, dass ihm selbst das Ziel seines Pädagogiums verdeckt bleibt, und, demzufolge, dass er nicht zum absolutistischen Souverän, sondern zum bürgerlichen Menschen erzogen wird. N u r am Ziel selbst, welches aber im größten Teil des Romans im Dunklen bleibt, erkennt man den Unterschied: einerseits der gute Fürst, andererseits der ganze Mensch, als normative Ideale, die sich nicht ohne weiteres vereinen lassen. In einer gattungsgeschichtlichen Perspektive geraten damit die Konventionen und Intentionen des Staatsromans mit denen des Erziehungs- oder Bildungsromans in Widerspruch. Obwohl die daraus erfolgenden Gattungsverhandlungen vor
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Voßkamp: »Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution«, S. 339. In ihrem kanonischen, zum ersten Mal 1926 erschienenen Werk zur Gattungsgeschichte des Bildungsroman unterscheidet Melitta Gerhard zwischen dem »psychologischen Entwicklungsroman« im Sinne von Wielands Agathon und einem »modernen Bildungsroman« im Sinne von Goethes Wilhelm Meister, ohne dass es ganz klar wird, worin dieser Unterschied eigentlich besteht. Siehe Melitta Gerhard: Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes »Wilhelm Meister«. 2., unveränderte Auflage, Bern/München 1968 [1929], bes. S. 87ff. und S. 121ff. Ebenfalls will Jacobs in seinem Artikel zum »Bildungsroman« im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft von 1997 den »Bildungsroman« vom »Entwicklungsroman« und »Erziehungsroman« unterscheiden, indem er im »Entwicklungsroman« einen »Oberbegriff«, der auf die »epische Darstellung des Entwicklungsganges einer zentralen Figur« zielt, und im »Erziehungsroman« eine »[a]uf pädagogische Probleme orientierte Darstellung eines von Erziehungsinstanzen gesteuerten Entwicklungsprozesses« erkennt. Die Grenzen bleiben aber auch hier mit Notwendigkeit fließend. Siehe Jürgen Jacobs: Art. »Bildungsroman«, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band I, S. 230. Voßkamp: »Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution«, S. 339. Müller: »Der verborgene Prinz«, S. 34.
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Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion
des
Staatsromans
allem im Agathon und in den heroischen Romanen Jean Pauls geführt werden, nicht im Goldnen Spiegel, findet diese Gattungsaporie gerade in diesem Roman eine paradigmatische Darstellung. Sowohl Agathon als auch der Goldne Spiegel sind politische Romane, in dem Sinne, dass sie der Politik als Handlungsraum, als Feld der politischen »Anwendung« oder des politischen Diskurses, verpflichtet sind. Zugleich ist aber nicht zu übersehen, dass sich Wieland im Agathon mehr für die Psychologie seines Helden als für dessen politische Projekte interessiert. Die Stationen seiner Bildungsreise stellen daher keine eigenständigen politischen Handlungsräume dar, sondern vielmehr Stadien einer individuellen Entwicklung, die aber nur bedingt als eine »Vervollkommnung« beschrieben werden kann. Anhand der Figur Tifans kann im Goldnen Spiegel eine ähnliche Dynamik beobachtet werden, die aber nur auf Kosten der Glaubwürdigkeit der politischen Handlung stattfinden kann und dadurch die Frage von einer Entpolitisierung des Staatsromans durch die Gattungselemente des in Entstehung begriffenen Entwicklungs- oder Bildungsromans verschärft und zuspitzt. 136 Nach Danischmends langatmiger Schilderung der moralischen und religiösen Prinzipien, die der Erziehung Tifans durch den weisen Dschengis zugrunde lagen, erhebt der Sultan den Einspruch, er könne nicht verstehen, wie Tifan durch diese Art Erziehung »der große König werden konnte, den du uns erwarten gemacht hast« und nicht nur »eine ganz gute Art von Jungen« (GS 216). Danischmend kann ihm keine Antwort geben, sondern bittet um etwas Geduld, denn, so sagt er, »ich bin überzeugt, es wird Ihnen in wenig Tagen kein Zweifel über diesen Punkt übrig bleiben« (ebd.). In der Tat stellt die Ernennung Tifans zum scheschianischen König den vorläufigen Höhepunkt seiner moralischen und politischen Bildung dar, der aber keineswegs logisch aus dem Werdegang des künftigen Fürsten folgt, sondern vielmehr als dessen Gegensatz und Aufhebung wahrgenommen werden kann. Gleich am Anfang der Bildungsgeschichte wird
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Die Vorstellung einer Diskrepanz zwischen dem Innerlichkeitspostulat des Bildungsromans und der Darstellung einer historisch und politisch informierten Handlung ist in ein geistesgeschichtliches Deutungsmuster eingebettet, das ebenfalls Konzeptionen vom »deutschen Sonderweg« und vom »unpolitischen Deutschen« kolportiert und vor allem in der angelsächsischen Forschung zum Bildungsroman Nachklang gefunden hat. Vgl. dazu vor allem W.H. Bruford: The German Tradition of Self-Cultivation. »Bildung« from Humboldt to Thomas Mann, London 1975; aber auch Swales: The German Bildungsroman, S. 15Iff. Als eminenten Vertreter dieses Deutungsmusters wird oft auf Thomas Mann Bezug genommen, dem zufolge »die geistige und hochmenschliche Kunstgattung des Bildungs- und Entwicklungsromans« die »schönste Eigenschaft des deutschen Menschen« zur Sprache bringe, »seine Innerlichkeit«. In dieser Gattung werde vielmehr »eine Sphäre« dargestellt, »in der die Welt des Objektiven, die politische Welt als profan empfunden und gleichgültig abgelehnt wird«. Siehe Mann: »Geist und Wesen der deutschen Republik«, in ders.: Gesammelte Werke. Bd. XI, Frankfurt 1960, S. 854.
Bildungsroman als Gattungsmaterial: Entpolitisierung des Staatsromans?
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die Trennung von natürlicher Erziehung und politischer Praxis betont. Tifan wird »unter einem Strohdache« in einem abgelegenen Tal an der Grenze Scheschians »zum Menschen gebildet« (GS 204). Für die Bildung Tifans reproduziert Wieland damit noch einmal die Trennung von Kleinutopie und Reformutopie, wobei die erste fiir die von der Natur abgeleitete Moral, die zweite fur ihre tentative Umsetzung in die Praxis bürgen soll. Die notwendigen Tugenden für seine späteren königlichen Pflichten erwirbt Tifan »[v]on der Natur selbst [...], fern von dem ansteckenden Dunstkreise der großen Welt, in einer Art von Wildnis, zu einer kleinen Gesellschaft von unverdorbenen, arbeitsamen und mäßigen Menschen verbannt, ohne einen Schatten von Vermutung, daß er mehr sei als der geringste unter ihnen« (GS 205). Noch einmal idealisiert Wieland - in dem er sich auf den Topos des verborgenen Prinzen beruft - die abgesonderte »Freistätte« (ebd.), in der die Moral in ihrer reinen, von der Welt der Politik noch nicht korrumpierten Form herrscht. Sogar offenbare politische Implikate werden dabei moralisch uminterpretiert: Von einer fast wörtlichen Rousseau-Paraphrase über die vollständige natürliche Gleichheit in der Kolonie des Dschengis wird keineswegs, wie bei Rousseau, die rechtliche oder gar politische Gleichheit der Bürger, sondern lediglich die Erziehung des kommenden Monarchen zu Fleiß u n d Tätigkeit abgeleitet (vgl. GS 206f.). Ebenfalls werden die durchnummerierten Grundsätze des Dshengis, die an die Vertragstheorien von Locke u n d Rousseau anknüpfen und die unveräußerlichen Rechte des Menschen betonen, sofort von der Welt der Politik abgesetzt und mit ihr kontrastiert (vgl. 209ff.). Anhand einer Anspielung auf die »erhabnen Ideen der bürgerlichen Gesellschaft« (GS 208) schließt Danischmend lediglich auf ihren moral-theologischen Ursprung, ihren »geheimnisvollen aber anbetenswürdigen Urheber« (ebd.). An die Stelle der Politik tritt, wie schon in der Tarent-Idylle des Agathon, die entpolitisierte Privatsphäre. Bausteine der Nation sind vor allem »die Familiengesellschaften [...], von deren Beschaffenheit das Wohl eines Staates [...] abhängt« (GS 212). Tifans Bildung zum Menschen verläuft über die Liebe zur »Tochter eines gemeinen Landmannes« (GS 212). Liebe und Familie haben indessen keine eigentlich politische Funktion, sondern nehmen die Moralisierung und schließlich die Besetzung des Feldes der Politik durch moralische Kategorien vorweg. Als Endpunkt dieser systematischen Entpolitisierung wird jeder Bezug auf Staat oder Nation aufgehoben, zugunsten »der ganzen Gattung« der Menschen und der für sie »allgemein verbindliche[n] Gesetze« (G 214), die es zu verwirklichen gilt. Als Gegenbild zu Dschengis' pädagogischer Idylle erscheint in der Tifan-Geschichte die große Welt der Bildungsreise, die schon bei Fenelon den Gegensatz zwischen Fürstenspiegel und Bildungsroman aufscheinen ließ. Tifan soll sich durch »eine kleine Reise durch die Welt« (GS 217) die nötigen Kenntnisse »von dem gesellschaftlichen Leben, von dem was man einen Staat nennt, u n d von der Einrichtung, Polizei und Verwaltung desselben« (ebd.) erwerben. Ähnlich wie im
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Der G o l d n e Spiegel: Die Rekonstruktion
des
Staatsromans
Agathon sind allerdings alle eigentlich politischen Schilderungen negativ konnotiert. Das Primat der Moral fuhrt zur Entfremdung der Politik im Sinne einer Abwertung aller ihrer Erscheinungsformen als Masken des Machtmissbrauchs. In diesem Sinne spiegeln Tifans Erfahrungen Wielands Rousseau-Rezeption wieder: Er entdeckt, dass je mehr Kunst und Natur sich vereinen, die Völker glücklich zu machen, je unbarmherziger wird ihre Unterdrückung durch die Herrscher (vgl. G S 218). Die dreijährige Reise in Gesellschaft seines Lehrmeisters, wie sie schon von Telemachos und Mentor unternommen wurde, kann ihn lediglich von der Verderbtheit aller gesellschaftlichen Zustände überzeugen. Die Möglichkeit einer Synthese von moralischer Erziehung und politischer Erfahrung wird nicht einmal in Erwägung gezogen. Wenn die Synthese jedoch später erfolgt, kann sie nur als ad hoc erfundenes Provisorium erscheinen. Die Funktion der Bildungsreise ist daher nicht, im Charakter Tifans politische Reflexion oder heroischen Tatendrang zu erzeugen; die Erfahrungen bewirken im Gegenteil eine Wendung zu introspektiver, moralischer Kritik und bürgerlicher Selbstgewissheit: Sein Herz machte ihm Vorwürfe, so oft er sich der Freude überließ; es war ihm, als ob er einen Genius in seine Seele flüstern höre: > 0 Tifan! kannst du dich freuen, da Millionen Geschöpfe deiner G a t t u n g so Elend sind?< ( G S 2 2 8 )
Tifan schließt von der politischen Unterlegenheit angesichts der Verderbtheit der Welt auf eine desto größere moralische Überlegenheit. Letztendlich ist es diese moralische Überlegenheit und keineswegs politische Erziehung und Erfahrung, die Tifan auf den scheschianischen Thron bringen. Als Dschengis, der Fürstenerzieher, an sein Ziel gelangt ist, aus dem verborgenen Prinzen einen guten König zu schaffen, malt er uns das folgende schwärmerische Portrait von seinem Schüler aus: Er hatte den Sohn eines Fürsten, der sein Freund gewesen war, nicht nur gerettet, er hatte ihn zu einem der besten Menschen gebildet. Jede Tugend, jede Fähigkeit, deren edler Gebrauch den großen M a n n macht, entwickelt sich bei der kleinsten Veranlassung in seiner schönen Seele. D i e Natur schien etwas Großes mit ihm vorzuhaben, [...]. ( G S 230)
Die Bilanz seiner Fürstenerziehung, die aber letztendlich mehr eine Erziehung zu einem ganzen Menschen als zu einem guten Fürsten war, zieht allerdings Tifan selbst, als ihm Dschengis das Geheimnis über seine Herkunft und damit über sein Erbrecht auf den scheschianischen Thron aufdeckt: Laß mich deinen Sohn bleiben! Dir habe ich es zu danken, daß ich mich fähig fiihle eine Krone zu verachten! D u bist mein wahrer Vater; und ich will die Ehre verdienen, dein Sohn zu sein. Mein höchster Stolz geht nicht weiter. ( G S 2 3 3 )
In moralischem Sinne kann die Bereitschaft, die Königswürde abzulehnen, nur Gutes bedeuten - dabei besteht keine Gefahr, dass Tifan, wie früher Isfandiar,
Bildungsroman als Gattungsmaterial: Entpolitisierung des Staatsromans?
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nur auf den Thron steigt, um seine eigenen Machtbegierden zu befriedigen. Im politischen Sinne dagegen, muss diese erste Reaktion Tifans als problematisch erscheinen: Die Erziehung, die er von Dschengis, weit vom H o f entfernt, bekommen hat, hat ihm die moralische Fähigkeit gegeben, die »Krone zu verachten« und — in Ubereinstimmung mit dem Ideal der bürgerlichen Familie — ein guter Sohn zu sein. O b ihm aber auch die Fähigkeit verliehen wurde, einen Staat zu regieren, bleibt an dieser entscheidenden Stelle im Roman in der Schwebe. Mit der Thronbesteigung Tifans - die also mehr als Resultat einer Entpolitisierung als einer Politisierung des Romanverlaufes und der Romanwirklichkeit eintrifft — sind allerdings die Gattungsverhandlungen des Goldnen Spiegels am Ende. Auf den nächsten ungefähr sechzig Seiten des Romans, der in der ersten Fassung unvollendet blieb, folgt eine Darstellung, die sich vorwiegend mit der Einrichtung des Staates nach kameralistischen und physiokratischen Prinzipien befasst und die Einordnung des Goldnen Spiegels in die Tradition der Staatsromane veranlasst hat. 1 3 7 Dabei war auch Tifans Regierung nicht ohne Fehler, die allerdings erst in dem 1794 verfassten Schlussteil der Zweitfassung an den Tag treten und zum Fall des Königtums Scheschian führen. 1 3 8 Scheschian geht, im Laufe einer nach dem Tod Tifans einsetzenden Verfallsgeschichte, zu Grunde, verschwindet sogar »gänzlich von der Erde« (GS 329); Danischmend landet, nachdem er sich die Ungnade der Priester und Höflinge zugezogen hat und als Ausschlag sultanischer Laune, im Gefängnis (vgl. G S 323f.). Die Geschichte der Könige von Scheschian endet damit in der Ausweglosigkeit. Ein glückliches Ende dieser Erzählung konnte keine der oben ausgewiesenen Gattungskonventionen oder -intentionen herbeiführen: Der vollkommene Regent war nicht vollkommen genug, der Idealstaat nicht ideal genug - und der Bildungsheld stirbt. Letztendlich bleibt nur, was am Anfang schon da war: das Gespräch. Im Rahmen der Gattungsgeschichte des Staatsromans in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts könnte die wichtigste Leistung von Wielands Goldnem Spiegel darin erkannt werden, die in dieser Geschichte angelegten poetologischen und politischen Widersprüche auf eine andere Ebene, auf die Ebene des Gespräches zu versetzen und auf diese Weise zum expliziten T h e m a der Reflexion zu machen. Dadurch wird jedoch keine Überbrückung der Gegensätze, keine Lösung der Konflikte — sei es zwischen Politik und Moral oder zwischen Fürstenspie-
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Zur Rolle des Physiokratismus im Goldnen Spiegel, vor allem im Hinblick auf die Luxuskritik, vgl. Jaumann: »Nachwort«, S. 869ff. Gegen die Annahme, dass Wieland im Lichte der Erfahrungen der Französischen Revolution bewusst den Schluss des Romans änderte und Scheschian in den Untergang führte, hat James A. MacNeely sehr überzeugend zeigen können, dass der Untergang des scheschianischen Reiches in der zweiten Fassung vor allem die Ausformulierung der trüben Aussichten aus der ersten darstellt. Vgl. MacNeely: »Historical Relativism in Wielands Concept of the Ideal State«, in Modern Language Quarterly 22/1961, bes. S. 280f. und Anm. 15.
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Der Goldne Spiegel: Die Rekonstruktion des Staatsromans
gel, Utopie und Bildungsroman - herbeigeführt. Die Funktion dieses Gesprächs besteht vielmehr darin, die von diesen Gegensätzen ausgelösten politischen und poetologischen Verhandlungen aus dem Schatten der Hypokrisie oder der Schwärmerei an das Licht einer bürgerlichen, in einem Prozess der Politisierung begriffenen Öffentlichkeit zu bringen — wo sie dann Jean Paul, zwar unter ganz anderen Bedingungen und auf ganz andere Weise, wieder aufgreift.
5. Agathonscher Zweck und Sternescher Humor — zur gattungsgeschichtlichen Kontinuität und Diskontinuität der Werke Wielands und Jean Pauls
Es fehlt nicht an Belegen, dass Jean Paul die Werke Wielands, sowohl den Agathon als auch den Goldnen Spiegel, gelesen und sich zum Teil intensiv mit ihnen beschäftigt hat. An dieser Stelle wird nur an den Briefwechsel mit Wernlein vom April 1790 erinnert, in dem die Lektüre des Agathon zum Anlass einer Auseinandersetzung über die Vorstellung der »Autogonie« (SW III, 1, 290), der Selbstbildung des Menschen, zu »Sonnabends-, Festtagsmenschen« (SW III, 1, 287) genommen wird,1 so wie an den dritten Band der Exzerptenhefte, in dem Jean Paul 1779 eine Reihe von Passagen aus der Erstfassung des Goldnen Spiegels, darunter die »Gesetze des Psammis an die Kinder der Natur« und die »Rede des Dschengis an Tifan, da der letztere König wurde«, abgeschrieben hat. 2 Ebenfalls ist bereits gezeigt worden, wie Jean Paul in der Unsichtbaren Loge, vor allem in der Figur des Hofromanciers Oefel, Gattungselemente des Fürstenspiegels und des aufgeklärten Staatsromans auf eine Weise parodiert, die durchaus im Sinne einer Anspielung auf Wielands Goldnen Spiegel verstanden werden könnte. Entsprechend gibt es in der Forschung nicht wenige Studien, die den Zusammenhang zwischen Wielands Werken, vor allem dem Agathon, und Jean Pauls heroischen Romanen betonen. Einen gattungsgeschichtlichen Ansatz bietet die Darstellung Joachim Campes, die sowohl Wielands Agathon als auch Jean Pauls Hesperus als Beispiele eines »programmatischen Romans« interpretiert, in dem versucht wird, »die Struktur bürgerlichen Bewusstseins, wie es ist, darzustellen und es in fiktiven Lernprozessen so zu verändern, wie es sein soll«.3 Ein ähnliches Argument liegt der Studie Joseph Kiermeiers zugrunde, in der behauptet wird, dass Wielands Agathon sowohl für die Unsichtbare Loge als auch für den
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Auf Jean Pauls Vorstellung einer »Selbstbildung des bessern Menschen« hatte Wernlein mit einem Hinweis auf Wieland geantwortet: »Der bessere Mensch, der sich der Selbstbildung fähig seyn soll, muß... Agathon oder Verfaßer desselben seyn!«. Vgl. S W III, 1, S. 510. Dazu auch Berend: »Einleitung«, S W I, 2, S. XXXIII und Bach: »Einleitung«, S W I, 3, XIII. Schon im April 1782 hatte Jean Paul den Pfarrer Vogel, der ihn mit Büchern versah, gebeten, ihm den Agathon zu leihen, vgl. S W III, 1, 40. Vgl. Götz Müller: Jean Pauls Exzerpte, Würzburg 1988, S. 39. Die Wahl der Passagen ist insofern interessant, als es um Schlüsselpassagen der beiden Utopien, sowohl der »Kleinutopie« als auch der »Reformutopie«, geht. Joachim Campe: Der programmatische Roman, S. 11.
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Agatbonscher Zweck und Sternescher Humor
Hesperus und den Titan, das »Romanvorbild« abgebe. Im Agathon, so Kiermeiers These, »ist, nicht anders als bei Jean Paul, [...] die Staatsidee zum Inhalt erhoben.« Und er fugt hinzu: »Staatsroman und Entwicklungs- und Bildungsroman gehen eine schöne Einheit ein.«4 Sicherlich kommen in den Romanen Jean Pauls beide Gattungsmuster des Staatsromans und des Entwicklungs- und Bildungsromans in ihren bei Wieland neu semantisierten Formen zur Geltung. Zu dieser Erbschaft gehört jedoch nicht primär die »schöne Einheit«, sondern im Gegenteil die unversöhnte und unversöhnliche Gattungsaporie, die als Auslöser der im Roman geführten Verhandlungen über Gattungskonventionen wie über Politikauffassungen dient. Indessen sollte daran festgehalten werden, dass der Bezug von Jean Pauls Romanen zu Wielands Agathon, weniger zum Goldnen Spiegel, vor allem dann Erwähnung findet, wenn in der Forschung nach der Gattungszuordnung der heroischen Romane gefragt wird. Um die Frage, »ob und in welchem Sinne Die Unsichtbare Loge ein Erziehungs- oder Bildungsroman zu nennen wäre«, zu beantworten, sollten wir laut Köpke »den später veröffentlichten Wilhelm Meister aus dem Spiel lassen und an Wielands Agathon als eines der Muster der Unsichtbaren Loge denken«.5 Wenn die Funktion des Gattungsmaterials des Staatsromans in den Gattungsverhandlungen dieser Romane untersucht werden soll, empfiehlt sich ein ähnlicher Weg. Im folgenden Kapitel wird die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität der Romane Wielands und Jean Pauls unter dem Aspekt der Gattungsgeschichte des aufgeklärten Staatsromans im Zentrum stehen. Zunächst wird, anhand der Darstellung Harichs, auf die grundsätzliche Frage eingegangen, unter welchen Bedingungen eine solche Kontinuität überhaupt vorstellbar wäre, indem seine Vorstellung der »Adaption« mit dem in der vorliegenden Arbeit entwickelten Begriff der »Gattungsverhandlungen« in Verbindung gebracht wird (5.1). Dann wird die wahrscheinlich meisterforschte Schnittstelle dieser beiden Romanwerke untersucht, den »Agathonschen Zwek«, den Jean Paul in einem Entwurfheft für seinen Hesperus vorsieht und der in der Forschung eine Reihe von Reflexionen zur Frage der gemeinsamen Intentionen, zumal der Gattungsintentionen, der aktuellen Romane ausgelöst hat (5.2). Letztendlich wird die Frage nach der humoristisch-satirischen Schreibweise beider Autoren gestellt, die uns zunächst einlädt, in der Tradition von Sterne eine kontinuierliche Entwicklung von Wielandscher »Laune« zu Jean Paulschem »Witz« zu erkennen, die aber beim zweiten Blick besser geeignet zu sein scheint, die Diskontinuitäten beider Werke aufzuweisen. Zur Funktion dieses humoristischen Stils gehört in beiden Fällen jedoch eine Politisierung der Welt, die im folgenden anhand des Topos des »Todes des Fürs-
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Joseph Kiermeier: Der Weise auf den Thron! Studien zum Piatonismus Jean Pauls, Stuttgart 1980, S. 89. Köpke: Erfolglosigkeit, S. 344.
Adaption und Gattungsverhandlungen
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ten< erforscht wird (5.3) — wobei wir es allerdings mit einer Politisierung ganz anderer Art zu tun haben, als derjenigen, die Harich im Ubergang von Wielands Agathon zu Jean Pauls heroischen Romanen erkennen will.
5.1 Adaption und Gattungsverhandlungen Die anspruchsvollste These zur gattungsgeschichtlichen Kontinuität zwischen Wieland und Jean Paul findet sich bei Harich, der zwar eine breite Palette von Einflüssen auf Jean Pauls »Revolutionsdichtung« nachweist, und vor allem »das Erbe Fieldings« betont, aber letztendlich eben Wielands Agathon »als den Ausgangspunkt der Reihe Loge — Hesperus — Titan« sehen will. 6 Für Harich stellen die heroischen Romane Jean Pauls, vor allem der Hesperus, eine »demokratische Adaption« des Agathon dar, in der Wielands »an die Herrenkaste adressierte vorwurfsvolle Mahnung« in die Forderung umschlägt, »den Sturz dieser Kaste herbeizuführen«.7 Als Gegenbild dazu weist Harich auf die »entpolitisierende« Wieland-Adaption in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren hin, in dem das zentrale Bildungsthema eine »Elimination des Staates aus dem Gesellschaftsbild« sowie eine Elimination »alle[r] Momente politischer Ideologie« aus dem Charakter Wilhelms herbeifuhrt.8 Die mit dem ideologischen Programm einer marxistischen Literaturinterpretation verbundenen Probleme und Mängel in Harichs Darstellung sind schon besprochen worden. Interessant ist allerdings diese These insofern, da der Begriff der »Adaption« den für diese Arbeit maßgeblichen Begriffen des »Gattungsmaterials« und der »Gattungsverhandlungen« verwandt zu sein scheint. In beiden Fällen werden die in den Werken Jean Pauls vorhandenen, architextuellen Bezüge auf Wielands Romane im Sinne einer den Werken selbst innewohnenden Dynamik konzipiert, die sich wiederum ausdrücklich auf zeitgenössische politische Denkmuster bezieht. Ob sich dieser Prozess im Sinne einer »Umformung des mit dem >Tom Jones< inaugurierten Fabeltyps in einem spezifischen demokratischen Geist«9 oder gar im Sinne einer »Radikalisierung« 10 verstehen lässt, scheint allerdings höchst zweifelhaft. Die in einem Werk vollzogene »Adaption« eines anderen Werkes stellt offensichtlich eine Möglichkeit dar, Gattungstradition oder Gattungswandel auf eine Weise zu erfassen, die das Gattungselement eines Textes nicht als ein vorgegebenes Muster, sondern als ein im Text zu bearbeitendes Material versteht. Für Voßkamp handelt es sich im dynamischen Prozess der Gattungsgeschichte
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Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung, S. 309. Ebd., S. 313. Ebd., S. 323. Ebd., S. 311. Ebd., S. 313.
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Agathonscher Zweck und Sternescher Humor
um »komplizierte, zur Zukunft hin offene Prozesse permanent möglicher Reduktionen und Stabilisierungen«.11 Bestimmt werden diese Prozesse teils »durch normbildende Werke (Prototypen)« und teils »durch die wechselseitige Komplementarität von Gattungserwartungen und Werkantworten«,12 Es herrscht in der Forschung große Einstimmigkeit, dass Wielands Agathon für Jean Pauls Romane ein solches normbildendes Werk darstellt, dessen gattungskonstitutive Elemente in diesen Romanen selbst als Material bearbeitet werden. Die Gattungen als »literarische-soziale Institutionen« weisen weiterhin, so Voßkamp, ein »eigenes Beharrungsvermögen«13 auf, das aber an sich wiederum auf die Gattungsverhandlungen des einzelnen Werkes angewiesen ist und keineswegs im Sinne einer innerliterarischen Evolution, wie in der Tradition des Formalismus,14 oder einer geschichtsphilosophischen Teleologie, wie in der an Lukacs orientierten Literaturgeschichte Harichs, verstanden werden kann. Zu behaupten, dass Wielands Agathon und Goldner Spiegel einerseits und Jean Pauls heroische Romane andererseits zur selben Gattung gehören oder ein in der Tradition überliefertes Gattungsmuster gemeinsam haben würden, wäre daher eine zu simple Darstellung eines komplexen gattungsgeschichtlichen Prozesses. Ebenso verfehlt wäre es allerdings, von einer Gattungsentwicklung zu sprechen, in der die Romane Wielands ein früheres Stadium darstellen, das durch die Werke Jean Pauls überholt wird. Die Gattungsgeschichte des Staatsromans wird nicht im Sinne einer innerliterarischen Evolution verstanden. Ebenso wenig werden wir von der Vorstellung einer der Gattungstradition inhärenten Finalität ausgehen, die zu größerer Komplexität oder größerer ästhetischer oder politischer Vollkommenheit führt. Zwischen den aktuellen Werken kann nur insofern eine Kontinuität bestehen, als sowohl in den Romanen Wielands als auch in den Romanen Jean Pauls generische Prozesse, Gattungsverhandlungen, stattfinden, die zum Teil dasselbe Material behandeln. Dabei geht es um das Material, das hier unter dem Gattungsbegriff des Staatsromans erfasst wird und in dem Konventionen und Intentionen der Gattungen des Fürstenspiegels, der Utopie und des Bildungsromans enthalten sind.
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Voßkamp: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«, S. 30. Ebd. Voßkamp: »Gattungsgeschichte«, S. 655. In ihrem 1 9 2 8 veröffentlichten programmatischen Aufsatz über die Probleme der Literatur- und Sprachforschung sprechen Roman Jakobson und Jurij Tynjanov von den »immanenten Gesetzmäßigkeiten« der Literaturgeschichte. Vgl. Roman Jakobson/Jurij Tynjanov: »Probleme der Literatur- und Sprachforschung«, in Hans Magnus Enzensberger (Hg): Kursbuch 5/1966, S. 76. Vgl. auch Tynjanov: »Uber die literarische Evolution«, in Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. 5. unveränd. Aufl., München 1994, bes. S. 4 3 7 u. S. 4 4 3 .
Der »Agathonsche Zwek« als Gattungsintention
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Interessant an der Zusammenstellung dieser Texte sind also nicht in erster Linie die ihnen gemeinsamem Motive oder Topoi, sondern die Weise, wie in den Texten mit diesen Topoi umgegangen wird, welche Gattungsverhandlungen durch sie veranlasst und wie sie ausgetragen werden. Letztendlich haben die sich im Agathon so wie im Goldnen Spiegel ausspielenden Gattungsverhandlungen kaum den Charakter eines »Insdtutionalisierungsprozesses«, 15 sondern führen im Gegenteil die Gattungsbestimmungen des Staatsromans auf eine Aporie hin, durch die über die Entinstitutionalisierung der Gattung die Brisanz der in ihr gestellten politischen Fragen zurückgewonnen wird. Der Vorstellung einer Umsetzung moralischer Prinzipien in politische Praxis ist ihre Verankerung im moralischpolitischen Diskurs des aufgeklärten Absolutismus und damit ihre gattungsgeschichtliche Konventionalität abhanden gekommen und sie kann fortan lediglich durch gattungsgeschichtliche Innovation in den spätaufklärerischen Roman integriert werden. Eben diese Dialektik von Konvention und Innovation, von Kontinuität und Diskontinuität hat im Hinweis Jean Pauls auf den »Agathonschen Zwek« seines Hesperus ihre emblematische Form gefunden.
5.2
Der »Agathonsche Zwek« als Gattungsintention
Als er noch mit der Unsichtbaren Loge beschäftigt war, machte Jean Paul im Mai 1792 die ersten Entwürfe für seinen zweiten Roman, der drei Jahre später unter dem Titel Hesperus oder 45 Hundposttage erscheinen sollte. Ungefähr in der Mitte des ersten Entwurfheftes, unter der Überschrift »Jungenda«, gibt er die folgenden Stichworte zum Werk: »Satirische Karakter - Freundschaft - Liebe Republik — Ein Zwek - Agathonscher Zwek«. 16 Für die vier ersten Stichworte schlägt Wölfel die folgende Zusammenfassung vor: »als Freund, als Liebender, als Republikaner soll sich der satirische Karakter< mit den anderen Menschen verknüpfen«. 17 Der »Zwek«, der in Anknüpfung an Wielands Agathon als »Agathonscher Zwek« bestimmt wird, lässt sich aber nicht ohne weiteres in dieses Schema einpassen. Gerade der »Agathonsche Zwek«, als Hinweis auf die Wieland-Rezeption Jean Pauls so wie auf die Weise, wie er diese Rezeption fur seine eigenen Romane, besonders den Hesperus produktiv machte, stellt allerdings ein Fluchtpunkt der Forschung sowohl zu den heroischen Romanen als auch zur literaturgeschichtlichen Beziehung zwischen Wieland und Jean Paul dar. Im Kontext dieser Studie liegt es nahe, den »Zwek«, den Jean Paul für den Hesperus vorsieht, im Sinne einer Gattungsintention zu verstehen. Daraus ergibt sich die These, dass Jean Paul für die Gattungsintention seines Werkes den
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Voßkamp: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«, S. 30. Zit. nach Bach: Jean Pauls Hesperus, Leipzig 1929, S. 23. Wölfel: »Jean Pauls poetischer Republikanismus«, S. 179.
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R o m a n Wielands zum Vorbild g e n o m m e n hat. Ehe wir auf diese These näher eingehen, muss jedoch daran erinnert werden, dass eine Diskussion über den »Agathonschen Zwek«, wie sie in der Forschung stattgefunden hat u n d die hier aufgriffen wird, im Hinblick auf die Werke selbst lediglich eine heuristische Funktion haben kann. Letztendlich stellt auch die Gattungsintention vor allem ein Element des in den Werken bearbeiteten Gattungsmaterials dar u n d muss als solches ermittelt werden. Eine erste B e s t i m m u n g des »Agathonschen Zweks« findet sich in Bachs Werkmonographie zum Hesperus, wenn er feststellt, dass mit dieser Formulier u n g »die Erziehung des Helden z u m politischen Führer, z u m Fürsten« gemeint ist. 1 8 Obwohl weder der Fürstenspiegel noch der Staatsroman als Gattungsvorbild erwähnt wird, scheint Bach eine Gattungsintention definiert zu haben, als w ü r d e Jean Paul an diese auf X e n o p h o n u n d Fenelon zurückgehende Tradition a n k n ü p f e n — das heißt, wenn er im Hesperus auch faktisch einen solchen Fürstenerziehungsprozess geschildert hätte. Doch da zeigt sich bereits der Gegensatz zwischen Gattungsintention u n d faktischem Werk: der Held des Hesperus, namens Viktor, ist kein Prinz, auch kein verborgener, u n d kann daher auch nicht z u m Fürsten erzogen werden. An der Gattungsintention an sich ändert dies allerdings nichts, denn »diese Aufgabe«, so Bach weiter, »hat sich Jean Paul für den späteren >Titan< vorbehalten«. 1 9 Für die Einleitung zu dem im selben Jahr wie die Monographie erschienenen ersten Hesperus-TiznA der Akademie-Ausgabe hat Bach allerdings seine Interpretation wesentlich revidiert, indem er ein anderes Element der Agathon-Rezeptio n Jean Pauls heranzieht: »Unter dem >Agathonschen Zweck< ist wohl nach Jean Pauls Brief an Wernlein [...] in erster Linie die >Selbstbildung des besseren Mens c h e n zu verstehen« (I, 3, XII). Hatte er in seiner ersten Auslegung dieser N o tizen implizit auf die G a t t u n g des Staatsromans hingewiesen, n i m m t er jetzt auf die G a t t u n g des Entwicklungs- oder Bildungsromans Bezug: Subjekt des Erziehungsprozesses ist nicht mehr der Fürst, sondern der Mensch; aus Fürstenerzieh u n g ist Selbstbildung geworden. Auch diese Gattungsbestimmung wird jedoch sofort zurückgenommen: »doch wollte Jean Paul sicherlich keinen eigentlichen Entwicklungsroman schreiben« (ebd.). Als Indiz dafiir bezieht sich Bach auf eine andere Stelle im Brief an Wernlein, wo sich Jean Paul von der Bildungskonzeption des in seinen Anfängen begriffenen Entwicklungsromans absetzt: »Bildung ist wie das frühere Erziehen nicht Vergrößern irgendeiner Seelenkraft, sondern Lenken derselben. Ich mag es nicht Entwicklung nennen« (III, I, 291). Interessanterweise greift Jean Paul dabei auch einen wesentlichen Unterschied zwischen Fürstenspiegel u n d Erziehungs- oder Bildungsroman auf: Der Fürst soll Iedig-
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Bach: Jean Pauls Hesperus, S. 23. Ebd.
Der »Agathonsche Zwek« als Gattungsintention
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lieh seine angeborenen Fähigkeiten optimieren und unter Kontrolle bringen, gemäß des Ideals des »Lenkens«, während der sich frei bildende und entwickelnde Mensch eine »Vergrößerung« seiner Seelenkräfte anstrebt. Damit wird allerdings nicht angedeutet, dass Jean Paul in seinen pädagogischen Absichten der Vorstellung der Fürstenerziehung verpflichtet ist, sondern lediglich auf das Motiv des »Lenkens« aufmerksam gemacht, das, wie wir schon anhand von Oefels Manipulationen gesehen haben, in den heroischen Romanen sowohl eine pädagogische als auch eine politische und poetologische Bedeutung beansprucht. In der Nachfolge Bachs gibt diese Notiz aus dem ersten Entwurfheft zum Hesperus immer wieder Anlass zu neuen Gattungszuordnungen, als Hinweis entweder auf die Gattungstradition des Staatsromans oder auf die Tradition des Bildungs- oder Entwicklungsromans. Dabei gerät allerdings auch der Gegensatz zwischen Planung und Ausführung, zwischen Gattungsintention und faktischem Werk ins Blickfeld. Obwohl die Entwürfe von einem »Agathonschen Zwek« sprechen, »den das Buch verfolgen soll«, so Jacobs, »wird der Schritt zum Bildungsroman auch hier nicht getan«. Bestimmend für den Hesperus ist nicht die Weltaneignung des Bildungsromans, sondern die »empfindsame Weltflucht«, die »in der Gestalt des Inders Emanuels die wohl einprägsamste Darstellung im Werk Jean Pauls findet«.20 Während Jacobs auf diese Weise die zweite revidierte Auslegung Bachs übernimmt, befinden sich sowohl Walter Höllerer als auch neuerdings Berhorst in der Tradition der ersten Auslegung. Sowohl die Unsichtbare Loge als auch der Hesperus stehen laut Höllerer »in der Tradition der Staatsromane«: »sie spielen an Fürstenhöfen, das Liebes- und Intrigantenleben am Hof, Auseinandersetzungen zwischen politischen Richtungen und die Frage der Erziehung von Staatsmännern sind Motive in beiden Romanen«.21 Paradigmatisch daflir sei eben der »Agathonsche Zwek«, »d.h. die Erziehung des Helden zum Fürsten war zunächst das leitende Thema«. 22 Auch Höllerer muss indessen, wie zuvor Bach, zugeben, dass davon nicht viel übrig geblieben ist, und dass sich Jean Paul erst im späteren Titan dazu gezwungen hat, »dieses Schema einzuhalten«.23 Ebenso wie Höllerer geht auch Berhorst von der These aus, der »Agathonsche Zwek« stelle »den Hesperus wie schon die Unsichtbare Loge in die Tradition des aufklärerischen Staatsromans«, zu der nicht nur Wielands Agathon, sondern ebenfalls sein Goldner Spiegel gehört.24 Zur Definition der Gattung weist er sowohl auf den »Gedanke[n] der Fürstenerziehung« als auch auf den literaturgeschichtlichen
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Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 108. Walter Höllerer: »Nachwort«, in Jean Paul: Werke. Erster Band. Herausgegeben von Norbert Miller, München I 9 6 0 , S. 1323. Ebd., S. 1324. Ebd. Berhorst: Anamorphosen der Zeit, S. 2 5 2 .
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Kanon der Staatsromane, von Xenophon über Fenelon zu Merrier, Haller und Wieland hin, 25 stellt aber zugleich fest, dass die Gattung des Staatsromans zur Abfassungszeit des Hesperus »längst zu einer obsoleten Romanform geworden« ist, nicht zuletzt weil der »Zwek«, den Berhorst jetzt als »utopisch« qualifiziert, gegen den Wahrscheinlichkeitsanspruch des Romans verstößt.26 Gerade anhand des »Agathonschen Zweks« werden damit alle im Gattungsmaterial des Staatsromans enthaltenen Gattungsintentionen zur Sprache gebracht: Fürstenspiegel, Utopie und Bildungsroman. Uber Jean Pauls Wieland-Rezeption hinaus wird dadurch eine Reihe von Fragen zur Gattungsintentionalität der heroischen Romane aufgeworfen, die in den folgenden Werkinterpretationen näher verfolgt werden. Als Schnittstelle im gattungsgeschichtlichen Prozess, der Jean Pauls heroische Romane mit Wielands Agathon verbindet, weist der »Agathonsche Zwek« - selbst also lediglich eine Notiz aus einem Entwurfheft - auf die ganze Komplexität und Vieldeutigkeit dieses Prozesses hin. Einbegriffen in den »Agathonschen Zwek« als Gattungsintention sind in Wirklichkeit eine Reihe von Intentionen oder intentionalen Elementen: einerseits die ursprüngliche Autorintention und die faktische Werkintention des Agathon, andererseits die ursprünglichen Autorintentionen und die faktischen Werkintentionen des Hesperus und des Titan - von denen keine, wie wir gesehen haben, für sich gattungsgeschichtliche Eindeutigkeit beanspruchen kann. Aus den oben aufgezeigten Unstimmigkeiten der Forschung könnte weiterhin gefolgert werden, dass in der Tat alle diese oft paradoxen Intentionen erforscht werden müssten, um zu einer sinnvollen Auslegung der Beziehungen dieser Romane zu gelangen. Unter den Jean Paul-Kommentatoren ist Wölfel wohl der einzige, der auf die Komplexität und Widersprüchlichkeit des »Agathonschen Zweks« eingegangen ist und versucht hat, diese Intentionalitätsfrage in den Werken selbst zu verankern. Unter dem »Zwek« kann Jean Paul laut Wölfel »nicht an etwas gedacht haben, das der Gesamtheit aller handlungskonstituierenden Inhalte als erzählerisches Telos innewohnt«, sondern es »muß vielmehr ein Zweck sein, der in die Handlung selbst gehört, d.h. nicht vom Autor gesetzt und verfolgt wird, sondern von den Figuren seines Romans«.27 Durch diese Auslegung ist eine wichtige Unterscheidung getroffen worden. Die Frage nach der gattungsgeschichtlichen Kontinuität zwischen Wielands Agathon und Jean Pauls heroischen Romanen wird in der Tat zu einer Frage über die für jedes der Werke kennzeichnenden Gattungsverhandlungen gemacht. Zunächst, so Wölfel, besteht unsere Ausgabe darin, »in Wielands Agathon nach einem Zweck zu suchen, den dort der Held sich setzt und verfolgt«;28 dann erst können wir zur ursprünglichen Frage zurückkehren,
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Ebd. Ebd., S. 253. Wölfel: »Jean Pauls poetischer Republikanismus«, S. 181. Ebd.
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wie sich Jean Paul diesen vom Helden vertretenen Zweck »als einheitsstiftenden Inhalt seiner Romanhandlung« vorstellt. 2 9 Der weiteren Argumentation Wölfeis ist zu entnehmen, dass sich Agathon im zehnten Buch des Romans zum »Endzweck [s]einer Bemühungen« (A 4 8 0 ) bekennt, nicht als »Werkzeug der Tyrannei« (A 4 7 9 ) , sondern fiir die »Wohlfahrt« (A 4 8 0 ) des Volkes zu arbeiten, auch wenn es den Sturz des Tyrannen Dionysius bedeuten würde. 3 0 D e r Republikanismus sei allerdings »fiir die Handlung von Wielands Roman nicht konstitutives Element«; 3 1 dieses und andere politische Elemente haben, wie schon im Kapitel zum Agathon besprochen, »nur den Charakter von Vehikeln«, 3 2 die am Ende des Romans dem Eintritt in den Bereich der »utopischen Republiken« (A 5 1 2 ) weichen müssen. Diese Aporie des Agathon-Romans
verhindert allerdings
nicht, dass Jean Paul den »Agathonschen Zwek« im Sinne der »Herstellung und Beförderung des >VolksglücksFallTod des Fürstenhumour< gebraucht.« 46 Für Wieland und fiir Jean Paul gilt, dass sie von Sterne und seinem humoristischen Stil beeinflusst waren. Daher könnte gerade in der komischen oder humoristischen Schreibweise beider Autoren ein Fluchtpunkt der Werke erkannt werden, 47 der aber auch mit aller Deutlichkeit die Kontraste veranschaulicht. Für »Laune« und für »Witz« gilt weiterhin, dass sie nicht primär, dem heutigen Sprachgebrauch gemäß, durch ihre lachenerregende Funktion bestimmt sind, sondern eine Weise darstellen, mit den Antinomien der subjektiven und der empirischen Welt umzugehen. Als Kennzeichen fiir Sterne und Swift und allgemein für den Humor des 18. Jahrhunderts betont der Philosoph Simon Critchley neuerdings vor allem seine politische Funktion: Die komische Geschichte oder Wendung führt uns zu »einer gemeinsamen, bekannten Welt der kollektiven Praktiken« zurück, führt uns aber zugleich vor, »wie diese Praktiken transformiert werden könnten, wie alles anders hätte sein können.« Humor, setzt er fort, »deckt ein Situation auf, aber zeigt zugleich, wie diese Situation geändert werden könnte.« 48 Mit anderen Worten stellt Humor eine Weise dar, zugleich die Faktizität und die Kontingenz der Welt zum Vorschein zu bringen und dadurch Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbedingungen zu entdecken, die dem politisch handelnden Individuum offen liegen. Ohne dass die Funktion des Humors, von »Laune« wie »Witz«, in den Werken Wielands und Jean Pauls damit erschöpft wäre, stellt diese Definition eine Möglichkeit dar, Humor in Hinblick auf dessen politische Funktion, auf die durch ihn zustande kommende Politisierung der Welt zu verstehen, die für beide Autoren von entschiedener Bedeutung ist. Zwischen »Laune« und »Witz« als Spielarten humoristischer Dichtung besteht im gewissen Sinne ein Ablöseverhältnis, das zum Teil mit der Ablösung aufklärerischer durch frühromantische ästhetische Paradigmen zusammenfällt und das in den Werken Wielands und Jean Pauls wirksam ist. Als Ausgangspunkt könnten die im Gattungsmaterial des Staatromans angelegten Aporien und Paradoxa des aufklärerischen Denkens dienen, die zwischen Moral und Politik, zwischen Utopie und Staatsräson, zwischen Trieb und Tugend angesiedelt sind. Der Humor, dem eine Spaltung zwischen Ich und Welt zugrunde liegt, ermöglicht es dem Erzähler und gegebenenfalls auch dem Helden, frei - oder zumindest freier — mit diesen Aporien und Paradoxa umzugehen. Gerade diese Freiheit nutzt Wieland, um sowohl im Agathon als auch und vor allem im Goldnen Spiegel —
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Sterne und der deutsche Roman, S. 182f.). Letztendlich ist die »Laune« laut Erhart ein Kennzeichen von Wielands Prosa aus den siebziger Jahren, das vor allem in den Beyträgen, aber auch im Goldnen Spiegel zur Geltung kommt (vgl. S. 219ff.). Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman, S. 130. Zum Ursprung des Humorbegriffes Jean Pauls in den Theorien der »Laune«, vgl. Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 94ff. Simon Critchley: On Humor, London 2002, S. 16.
Von »Laune« zu » Witz«: Sternescher
Humor als Politisierung
der Welt
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wie wir eben gesehen haben - einer ganzen Reihe von Stimmen Zugang zum Werk und zur Handlung zu verschaffen. Neben dem Erzähler kommen auch Herausgeber, Ubersetzer und Zuhörer zu Wort, die zusammen, in Ubereinstimmung mit der assoziativen Gedankenbewegung der »Laune«, ein facettenreiches, komplexes und oft sehr komisches Gespräch über die Inhalte und Ideen des Romans fuhren. Durch seinen »launigen« Stil macht Wieland im Goldnen Spiegel die Evidenz des geschichtsphilosophischen Utopismus rückgängig, »um«, so Erhart, »den Leser mit der Widersprüchlichkeit der Perspektiven zugleich dessen ungesicherte Existenz vor Augen zu führen«.49 Mit dem Verweis auf die vorangehenden Kapitel wird an dieser Stelle nur ein letztes Beispiel aus dem Goldnen Spiegel herangezogen, in dem die »launige« Schreibweise als spielerischer Umgang mit der Stimmenvielfalt des Romans exemplarisch vorgeführt wird. Interessant an dieser Passage im Roman ist weiterhin, dass in ihr, wie in der oben zitierten Passage aus der Unsichtbaren Loge, der >Tod des Königs« motivisch aufgegriffen wird. Trotz - oder vielleicht sogar aufgrund - der sehr unterschiedlichen Bearbeitungen dieses Motivs bei Wieland und Jean Paul sind beide Passagen wohl geeignet, einige Unterschiede zwischen Wielandscher »Laune« und Jean Paulschem »Witz« zu veranschaulichen. An der Bettkante des Sultans Schach-Gebal hat Danischmend gerade von den wirklich großen Fürsten geschwärmt, deren Ziel es wäre »alles Gute, das sie tun konnten, wirklich zu tun-, alles Böse was sie verhindern konnten, wirklich zu verhindern«. Auf den Befehl des Sultans, ihm demnächst »ein Verzeichnis der sämtlichen morgen- und abendländischen Könige vorzulegen«, von denen in dieser Panegyrik die Rede war, versetzt Danischmend, das Gedächtnis des Sultans werde »durch die Zahl nicht überlastet werden« (GS 86). An dieser Stelle bricht aber der lateinische Ubersetzer mit der folgenden Fußnote in die Darstellung ein: Wofern Danischmend sich hier nicht überzählt hat, so ist wenigstens zu vermuten, daß die meisten Fürsten alsdann, wenn der Tod im Begriff ist, die Gleichheit zwischen ihnen und dem geringsten ihrer Untertanen wieder herzustellen, so denken wie Ludwig VI. von Frankreich, da er sterbend zu seinem jungen Thronfolger sagte: Vergiß niemals, mein Sohn, daß die königliche Autorität nur ein öffentliches Amt ist, wovon du nach deinem Tode (Gott und Nachwelt) eine genaue Rechnung abzulegen hast, (ebd.)
Die assoziativ-dialogische Gedankenbewegung des Rahmengesprächs zwischen Danischmend und dem Sultan wird auf diese Weise in den Fußnoten weitergeführt. Erst kurz vor ihrem Tod, in diesem Sinne müsste man wohl die Intervention des lateinischen Übersetzers verstehen, werden Fürsten zu guten Fürsten, indem sie, wie hier Ludwig VI. von Frankreich, die Pflichten und Begrenzungen ihres Amtes erkennen. Der Tod, behauptet der lateinische Ubersetzer, stellt die
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Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 224.
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Agathonscher Zweck und Sternescher Humor
Gleichheit zwischen dem Fürsten, der sich im Absolutismus durch königliche Herkunft, Erbrecht, Gottesgnadentum und Machtfiille weit über sein Volk erhebt, und den Untertanen, die bloße Menschen sind, wieder her. Die humoristische und ironische Brechung entsteht jedoch vor allem durch die Reaktion des Sultans, der mit Selbstverständlichkeit davon ausgeht, er gehöre selbst in diese »ausgesuchte!] Gesellschaft« (ebd.) der lobwürdigen Fürsten. Bloßgestellt wird dabei vor allem der Widerspruch zwischen dem Selbstbild des Fürsten, das ihn als eitlen Menschen entlarvt, und den an ihn durch das Herrschaftsdenken des aufgeklärten Absolutismus gestellten Forderungen der Pflichterfüllung. Zu einer Überbrückung dieses dem aufgeklärten Absolutismus innewohnenden Widerspruchs kommt es im Goldnen Spiegel nie. Durch das Gespräch, als Spielart der »Laune«, kann jedoch diese Aporie in den Bereich der öffentlichen oder zumindest halböffentlichen Diskussion geholt werden, als eine faktische, aber kontingente, veränderbare und veränderungsbedürftige Situation der Gegenwart. Zwar führt der Humor bei Wieland eine Spaltung der Welt zwischen Ideal und Wirklichkeit herbei, aber ihr drohender Zerfall kann noch durch die Vermittlung des Gesprächs abgewehrt werden. Sowohl bei Wieland als auch bei Jean Paul wird also der Fürst durch seinen Tod allen Insignien der Macht entkleidet. Der Stellvertreter Gottes wird auf sein bloßes Menschsein reduziert. Die Mittel der Herabsetzung des Fürsten durch die Sprache sind allerdings sehr unterschiedlich. Bei Wieland ist es das Naturrecht, das angesichts des Todes zwischen Fürsten und Menschen wieder einen Zustand der Gleichheit errichtet; bei Jean Paul dagegen ist es die pathologische Anatomie. Der Fürst wird nicht auf seine moralischen, sondern vielmehr auf seine körperlichen, oder präziser, seine peristaltischen Eigenschaften reduziert. In der vollendeten und 1801 gedruckten Version der Satire kann in diesem Sinne eine feierliche Lobrede auf die Pflichtreue und Pflichterfüllung des Fürstenmagens nachgelesen werden: Muntern euch keine Staatsglieder auf, die in ihren Pflichten starben? - Hier liegt ein betrübtes, aber großes Beispiel vor uns; der hier unten seinem Erwachen entgegenschlafende Magen kam durch Arbeitsamkeit an den Ort, wo wir ihn betrauern. Er wollte zuviel auf sich nehmen und in Saft und Blut verwandeln - er wollte, gleich dem Wasser der Neptunisten, ganze ausgeleerte Austerbänke fiir die Nachwelt absetzen - er wollte eine europäische Niederlassung wichtiger Konsumptibilien werden und alles einfuhren in sich: - jetzt schläft er. (SW I, 13, 144)
Die Themen aus dem politischen Denken der Aufklärung sind weitgehend dieselben wie bei Wieland: der Fürst als Inhaber eines öffentlichen, durch eine Reihe von Pflichten definierten Amtes. Formal aber unterscheiden sich die beiden Passagen in einer Weise, die zur Veranschaulichung des Unterschiedes zwischen »Laune« und »Witz« als humoristischen Schreibweisen beitragen kann. Bei Wieland werden die assoziativen Bewegungen der »Laune« durch den kommunikativen Horizont eines zwar nicht herrschaftsfreien oder idealen, aber doch auf
Von »Laune« zu »Witz«: Sternescher Humor als Politisierung der Welt
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Verständigung eingestellten Gespräches in Schach gehalten; bei Jean Paul dagegen werden die humoristischen Assoziationen durch den »Witz« weit über diesen Horizont der gemeinsamen kommunikativen Ziele hinauskatapultiert. Lässt sich bei Wieland in der »Laune« ein diskurskritisches Verfahren erkennen, werden durch den »Witz« die Rahmen des moralisch-politischen, naturrechtlich begründeten Diskurses völlig durchbrochen. Aus der Diskussion über die Pflichterfüllung des absolutistischen Souveräns entsteht das komisch-satirische Sinnbild eines »Fürstenmagens«, der darin seine Pflicht erfüllt, dass er alle Ressourcen seines Landes zu sich nimmt und konsumiert. 50 Die traditionelle Metaphorik des Fürsten, der sich vom Volk ernährt, wird dabei, wie Jean Paul selbst feststellt, »ganz wörtlich« genommen - zum Beispiel im Hinweis auf den »König von Makoko«, der sich »täglich (nach Dapper) 200 gesottene und gekochte Landeskinder servieren« lässt (SW I, 13, 142). Aus dem enzyklopädischen Anspielungsreichtum ist damit radikale politische Satire geworden, die der Berliner Zensor nicht zulassen konnte. 51 Vor dem Schluss, der »Witz« wäre bei Jean Paul in erster Reihe ein Mittel der politischen Satire, muss allerdings ausdrücklich gewarnt werden. Als ästhetische Schlüsselkategorie im Werk hat der »Witz« Januscharakter: Auf der einen Seite bezweckt er, so Lindner, »Autoritäten zu attackieren, das Denken in Gang zu setzen, verborgene Probleme zu entdecken, falsche Positivität zu destruieren«; auf der anderen Seite wird der »Witz« als »Hilfskraft des Glaubens« oder zumindest als Zuflucht einer freien, erhabenen Subjektivität aufgefasst. 52 In der Tat gehört der »Witz«, seine ästhetisch-theoretische Begründung und Funktion, zu den meisterforschten Themen im Werke Jean Pauls, woraus eine Reihe kanonischer und richtungweisender Werke von außerordentlichen Jean Paul-Forschern hervorgegangen ist. In unterschiedlichem Grade greifen diese Studien die oben zitierte Definition aus der Vorschule der Ästhetik auf und projizieren sie auf die vorangehende schriftstellerische Praxis.53 Unter der Konzeption des »Witzes« werden an Jean Pauls Werk so unterschiedliche Aspekte wie — um nur einige Beispiele zu
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Zur Metaphorik des »Magens« sowie zur »Jean-Paulschen Reduktion des Geistes auf den Magen« (S. 159) hat vor allem Peter Sprengel geschrieben, der jedoch nicht auf die Satire über den »Fürstenmagen« eingeht. Vgl. Sprengel: Innerlichkeit. Jean Paul und das Leiden an der Gesellschaft, München 1977, S. 153ff. Zur Verbindung zwischen dem Roman als »poetischer Enzyklopädie« und der Funktion des Humors, vgl. Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 93ff. Lindner: Jean Paul, S. 128. Gegen diese Tendenz, in der Vorschule eine Norm für seine eigenen Werke zu erkennen, wehrt sich Jean Paul ausdrücklich in der Vorrede zur ersten Ausgabe, indem er seinen Lesern »befiehlt [...], nicht etwa in dieser philosophischen Baute ein heimliches ästhetisches Ehr- und Lehrgebäude, an meine biographischen Bauten angestoßen« (SW I, 11, 17) zu erkennen. Ebenfalls warnt Proß davor, eine »zyklische Anwendung von Jean Pauls Kategorien auf seine eigenen Werke« vorzunehmen. Siehe Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 10.
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nennen - seine Nähe zu und kritische Abgrenzung von der romantischen Transzendentalpoesie,5^ seine naturphilosophischen und anthropologischen Grundlagen 55 und die »Narrenfreiheit« als Spielraum des Humors 56 erforscht. Nicht zuletzt stellen Theorie und Praxis des »Witzes« eine Schnittstelle zwischen aufklärerischen und romantischen Elementen im Werke Jean Pauls dar. In Friedrich Schlegels berühmter Bestimmung der romantischen Dichtung als »progressiver Universalpoesie« im 116. Athenäum-Fragment kommt er mehrmals auf den »Witz« und dessen Poetisierung als Merkmal dieser Dichtung zu sprechen. 57 Auch darüber hinaus stellt der »Witz«, wie Waltraud Wiethölter nachgewiesen hat, einen wichtigen Fokus der romantischen ästhetischen Theorie dar, der als gemeinsamer Nenner aller literarischen Formen und Gattungen angesehen wird. 58 Der gemeinsame Fluchtpunkt des ästhetischen Denkens Jean Pauls und der Romantiker ist dabei die absolute, sich selbst und die Welt transzendierende Subjektivität und Innerlichkeit. Zugleich aber stellen »Enzyklopädie« und »Witz« dezidiert auch literarische Formen der Aufklärung dar. »Enzyklopädie« versteht Proß daher »im Sinne Diderots und d'Alemberts, als ein Netzwerk von wissenschaftlichen Aussagen (teils in literarisierter Form)«, 59 während vor allem Lindner in der Witztheorie eine Fortsetzung der Aufklärung erkennt und diesem literarischen Vorgehen sowohl eine Erkenntnisfunktion als auch eine »subversivfe]« gesellschaftlich-politische Funktion zuschreibt. 60 Anhand dieser literargeschichtlichen Ambivalenz des »Witzes« zieht Lindner die folgende Bilanz: »Ebenso wie der Witz die Denkfreiheit der Aufklärung und die Lust am unreglementierten Assoziieren in Anspruch nimmt, tradiert auch Jean Pauls Humortheorie die Aufklärungsposition unter den Bedingungen romantischer Innerlichkeit.« 61 Als Einleitung zu den folgenden Werkinterpretationen wird hier vor allem die Funktion des »Witzes«, wie vorhin im Falle Wielands der »Laune«, als stilistischer Bearbeitung eines Gattungsmaterials betont. Das Gattungsmaterial des
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Vgl. Waltraud Wiethölter: Witzige Illuminationen. Studien zur Ästhetik Jean Pauls, Tübingen 1979; und Kurt Wölfel: »>Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhalltTodes des Fürsten< und dessen Entfaltung in der Unsichtbaren Loge und in der »Leichenrede« bringt. Zum Kennzeichen des »Witz[es] im engeren Sinne«, schreibt Jean Paul in der Vorschule, gehöre sein Vermögen nicht nur »entfernte Aehnlichkeiten«, sondern die »ähnlichen Verhältnisse inkommensurabler (unanmeßbaren) Größen, d.h. die Aehnlichkeiten zwischen Körper- und Geisterwelt« (SW I, 11, 158) zu finden. Selbst schlägt er als Beispiel den metaphorischen Vergleich zwischen »Sonne und Wahrheit« (ebd.) vor. Dagegen hat Götz Müller gezeigt, wie diese Kombinatorik von geistigen und körperlichen Elementen auch im Kontext von Lavaters Physiognomik oder der Anthropologie Peter Browns und Joseph Butlers verstanden werden könnte. 62 Im selben Sinne hat Kosenina darauf hingewiesen, dass Jean Paul die Denkform des Witzes von Ernst Platner übernommen haben kann, dessen Anthropologie auf die engen Beziehungen zwischen Leib und Seele bedacht war. 63 Hier wird ein anderer Aspekt dieser Zusammenhänge zwischen Geist und Körper, dieses commercium mentis et corporis, im Zentrum stehen, der uns der aufklärerischen und politisierenden Funktion von Jean Pauls Satire auf den »Fürstenmagen« etwas näher bringen kann. In der »Leichenrede« werden, in Übereinstimmung mit der »Witz«-Definition der Vorschule, die geistige Existenz staatlicher Souveränität - the body politic - mit der körperlichen Existenz des Souveräns - the body natural - in eins gesetzt. 64
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Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 9 3 - 1 2 2 . Kosenina: Emst Platner, S. 48f. Vgl. das klassische Werk von Ernst H. Kantorowicz The King's Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, New Jersey 1997[1957]. In der Einleitung zitiert Kantorowicz aus Edmunds Plowdens Reports, einer Sammlung Prozessdokumente
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Agathonscher
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Die Funktionen des Staatskörpers werden auf die Funktionen des physischen Körpers reduziert. Diese Verschränkung findet nicht zuletzt in Dr. Fenks erstem, während der Bestattung des Fürstenmagens im Abtei Hof, auf einer »Schreibtafel« niedergeschriebenem Entwurf zur späteren Satire statt: »Da Fürsten sich an mehreren Orten auf einmal beerdigen lassen, wie sie auch so leben, so möcht' ich's auch - allein nicht anders als so: mein Magen müßte in die Episkopalkirche beigesetzt werden - meine Leber mit ihrer bittern Blase in eine Hofkapelle das dicke Gedärm in ein jüdisches Bethaus - die Lunge in die Universitätskirche - das Herz in die triumphierende, und die Milz in ein Filial. Wenn ich aber erster Leichenprediger eines gekrönten Unterleibes wäre: so hätte ich einen anderen Gang; ich nähm' den Schlund zum Eingange des - Sermons und den Blinddarm zum Beschluß! Könnt ich nicht in den edlern Theilen der Predigt die edlern Theile durchgehen und die Galle hineinbringen? - So scherzt man hienieden.« (L I, 114) Die wichtigste Aufgabe einer Leichenrede ist zugleich den Nachruhm des eben verstorbenen Fürsten und die Sukzession durch den Nachfolger rhetorisch und dichterisch zu sichern. 65 Offensichtlich gehört auch die Leichenrede, neben den vorhin genannten Gattungen des Festspiels, der Lobrede und des Fürstenspiegels, zu den literarischen und rhetorischen Gattungen, durch die der Hofautor seine »semantische Pflege« (Koschorke) des Selbstbildes sowie des öffentlichen Bildes des Fürsten betreibt. Ziel dieser Gattungen sowie der nach den Regeln dieser Gattungen produzierten Reden oder Texte ist, dafür Sorge zu tragen, dass die Macht des Fürsten unter den Untertanen anerkannt und als legitim empfunden wird, indem sie, mit Koschorke, »regulative Fiktionen« schaffen, »die das Spiel der kollektiven Einräumung von Macht sowohl ermöglichen als begrenzen«. 66 Diese Fiktionen dienen weiterhin zur Verdeckung der realen Machtverhältnisse, der gewaltsamen Usurpation der Staatsgewalt durch den absolutistischen Souverän, sowie zur Repräsentation des Fürsten als body politic, als Verkörperung der gesamten Interessen und Ambitionen des Staates und des Volkes. Aus einer politischen Realität, in der Unterdrückung und Machtmissbrauch herrschen, wird das fiktionale Bild eines absolut guten Fürsten und ei-
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von englischen Gerichtshöfen im 17. Jahrhundert: »The King has in him two Bodies, viz., a Body natural, and a Body politic. His Body natural (if it be considered in itself) is a Body mortal, subject to all Infirmities that come by Nature or Accident, to the Imbecility of Infancy or old Age, and to the like Defects that happen to the natural Bodies of other People. But his Body politic is a Body that cannot be seen or handled, consisting of Policy and Government, and constituted for the Direction of the People, and the Management of the public wealth, and this Body is utterly void of Infancy, and old Age, and other natural Defects and Imbecilities, which the Body natural is subject to, and for this Cause, what the king does in his Body politic, cannot be invalidated or frustrated by any Disability in his natural Body.« (S. 7). Kantorowicz: The King's Two Bodies, S. 409ff. Korschorke: »Macht und Fiktion«, S. 77.
Von »Laune« zu » Witz«: Sternescher Humor als Politisierung der Welt
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ner absolut legitimen Herrschaft. Daher ließe sich behaupten, dass Jean Paul durch das Prinzip des »Witzes« eine Politisierung der Welt herbeifuhrt, indem er durch seine Parodierung der Gattung der Leichenrede und die Herabsetzung des Fürsten durch die physiologisch-pathologische Sprechweise die Macht dieser Fiktionen durchbricht, um dem Leser so einen freien Blick auf die Realitäten der politischen Welt zu eröffnen. Allerdings wäre es möglich, wie ich an anderer Stelle ausführlich diskutiert habe, 67 den politischen Aufklärungseffekt dieser Satire noch pointierter zu erfassen. Dass sich Jean Paul ein Fürstenbegräbnis als Thema aussucht, könnte auch darin begründet sein, dass die absolutistische Macht gerade in diesem Moment, wenn der alte Fürst gestorben und der neue noch nicht auf den Thron gestiegen ist, als besonders verwundbar erscheint. Diese Intention der Satire könnte vor allem an einer Reihe von Formulierungen nachgewiesen werden, in denen Jean Paul einen zentralen Topos der Herrschaftsideologie des Absolutismus aufgreift, der uns seit dem klassischen Werk von Ernst H. Kantorowicz als die »zwei Körper des Königs« bekannt ist. Die Aufgabe dieser »Fiktion« — ein Wort, das Korschorke, Kantorowicz und Jean Paul teilen68 — war ein ins Mittelalter zurückgehendes und bis hin zur Französischen Revolution nachwirkendes Dilemma souveräner Herrschaft zu lösen: Wenn der Souverän in der Tat die Verkörperung der Souveränität des Staates ist, was geschieht mit dem Staat, wenn der Fürst krank wird und letztendlich stirbt? Stirbt der Staat mit ihm? Dieses Dilemma konnte, wie Kantorowicz gezeigt hat, nur durch die Verdoppelung des königlichen Körpers gelöst werden, indem der König in der theologischen und juridischen Staatslehre mit einem zweiten, transzendenten und unsterblichen Körper ausgestattet wurde, seinem corpus mysticum. Beide Körper können aber nur vereint in der realen Gestalt des Königs existieren. Daraus folgt, dass gerade der Tod und das Begräbnis des Königs ein besonders heikles Moment in der Geschichte einer absolutistischen Regierung darstellen, wenn der eine, der physische Körper, stirbt und der andere, der geistige Körper, an den Nachfolger weitergereicht werden soll. Die ganzen Rituale und Zeremonialstrukturen des Fürstenbegräbnisses haben, wie Alain Boureau und Ralph Giesey gezeigt haben, nicht zuletzt die Aufgabe, die Fiktion des königlichen corpus mysticum, seines body politic, auch während
67
68
Vgl. Jordheim: »Jean Paul and the Body of the Prince«, in ders./Trond Haugen/Solveig Schult Ulrichsen (Hg.): Kunnskap og kunnskapsformidling pa 1700-tallet, Oslo 2004, S. 57-69. Zu den wichtigsten Belegen dafür, dass Jean Paul gerade diese »Fiktion« der absolutistischen Machtsemantik bewusst aufgegriffen hat, gehört seine Anspielung auf die französische Tradition der Fürstenbegräbnisse und ihre rhetorische Tradierung in der Formel »le roi ne meurt jamais«: »[I]η Frankreich ließen sie für ihn [den König] nach dem Tode - denn der König stirbt ja da nie, nach der Fiktion - gerade so viel Tage lang kochen, als Christus hungerte, nämlich 40« (SW I, 13, 142). Zur Funktion und Rezeption dieser Formel vgl. Giesey: Le roi ne meurt jamais, S. 267ff.
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Agatbonscher Zweck und Sternescher Humor
dieser Zeit des Überganges aufrechtzuerhalten.69 An Jean Pauls Satire lässt sich erkennen, dass gerade diese durch Rituale und Zeremonien geschaffene Fiktion einer systematischen Dekonstruktion ausgesetzt wird, indem das corpus mysticum, das unter anderem aus Amt, Machtvollkommenheit und Legitimität besteht, zunächst mit dem physischen Körper, mit Eingeweiden, Unterleib und Blinddarm gleichgesetzt und am Ende von diesem ganz verdrängt wird. Die Macht wird auf diese Weise jeder Fiktion entkleidet und auf ihre grundlegenden Funktionen, Essen und Verdauen, reduziert, in denen unschwer die Ausnützung des Volkes durch einen machtbesessenen Souverän zu erkennen ist. Unschwer zu erkennen ist auch die politische und politisierende Funktion dieser Passagen aus dem ersten Roman des jungen, früheren Satirenmachers Jean Paul, der auf Empfehlung seiner Freunde die Gattung wechselt, um mehr Leser zu gewinnen und um mehr Geld zu verdienen. Mit Critchley kann behaupten werden, dass hier eine gemeinsame Welt der kollektiven Praktiken dargestellt wird, nur um vorzufuhren, dass diese Praktiken an sich völlig kontingent sind und jederzeit verändert werden können. Gerade diese Veränderbarkeit hat aber durch die Französische Revolution einen harten Wirklichkeitskern bekommen. Nach 1789 kann das Gattungsmuster des Staatsromans nur als Revolutionsroman realisiert werden. Revolutionsromane heißen aber nicht »Revolutionsdichtung« im Sinne Harichs, die mit poetischen Mitteln den Umsturz des absolutistischen Systems auch auf deutschem Boden herbeiführen will, sondern Romane, die sich der Erfahrung der Revolution als eines politischen Ereignisses nicht mehr entziehen können. In allen drei heroischen Romanen Jean Pauls, in der Unsichtbaren Loge, im Hesperus und im Titan, werden die Möglichkeiten und Bedingungen politischen Handelns thematisiert, zugleich aber auf die ihnen innewohnenden Aporien hingeführt. Bei Wieland konnten diese Aporien noch in das Medium des Gesprächs, in die Sphäre der Öffentlichkeit hinübergerettet und zum Gegenstand aufgeklärter, zukunftsgewandter Diskussion gemacht werden; bei Jean Paul aber ist das Gespräch verstummt, die Öffentlichkeit auseinandergefallen und die Zukunft der Aufklärung ist blutige Vergangenheit geworden.70 Zurück auf dem Schlachtfeld steht das Subjekt, ein rehabilitierter Schwärmer, der seinen Blick fest auf eine andere, eine »zweite Welt« (SW I, 3, 18) gerichtet hat, aber sich gezwungen sieht, in dieser Welt tätig zu sein, zu handeln, seine Ideale in politische Praxis umzusetzen: ein Gustav, ein Viktor, ein Albano. Obwohl er unfähig war, in ihr zu handeln, nahm Agathon noch die politische Welt wahr; für die Helden Jean Pauls gilt dagegen, dass sich die politischen Handlungen der Romane zumeist hinter ihren Rücken abspielen, vorangetrieben durch Machiavellisten, Nihilisten und Geheimbündler, die kein Mittel scheuen, um an
69 70
Vgl. Giesey, ebd., S. 3 9 - 1 9 3 ; und Boureau: Le simple corps du roi, S. 24ff. Zu Jean Paul als Symptom und Diagnostiker einer »scheiternden Aufklärung« vgl. Lindner: Jean Paul, bes. S. 145ff.
Von »Laune« zu »Witz«: Sterneseber Humor als Politisierung der Welt
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ihr Ziel zu gelangen. Nicht einmal Albano, der rehabilitierte Held eines aufgeklärten Staatsromans, kommt jemals in die Lage, sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Um diese Helden herum herrscht wiederum die totale Ungleichzeitigkeit zwischen absolutistischen Herrschaftspraktiken und repräsentativen Öffentlichkeitsformen einerseits und individuellen und kollektiven Freiheits- und Gleichheitsansprüchen andererseits, die immer wieder neue und zerbrechliche Verbindungen eingehen. Daraus folgt, dass in Jean Pauls heroischen Romanen das Gattungsmaterial des Staatsromans auf das ganze enzyklopädische Universum der Romane verteilt wird. Nur selten kann durch den ganzen Roman oder Teile davon eine Staatsromanhandlung verfolgt werden, in der die Konventionen und Topoi dieser Gattung systematisch entfaltet werden. Andererseits gibt es wahrscheinlich kein anderes Werk der deutschen Literatur, das so konsequent alle Topoi des aufgeklärten Staatsromans durchspielt wie Jean Pauls Hesperus. Gleich nachdem der Erzähler der Unsichtbaren Loge Dr. Fenks Entwurf zu einer Leichenrede auf den Fürstenmagen wiedergegeben hat, scheint es, als ob er plötzlich die ganze poetologische und politische Brisanz seines Vorhabens erkennt und sich verteidigen will: Es giebt einen poetischen Wahnsinn, aber auch einen humoristischen, den Sterne hatte; aber nur Leser von vollendetem Geschmack halten höchste Anspannung nicht für Ueberspannung. (L I, 115)
Jean Paul schreibt Romane »höchster Anspannung«, in denen in der Tat ein »humoristischer Wahnsinn« alle Teile durchzieht. Dieser Wahnsinn, der nicht zuletzt von den Erfahrungen der Denk- und Handlungsaporien der Französischen Revolution ausgelöst wurde, treibt auch die in den Romanen stattfindenden Gattungsverhandlungen voran, die in den folgenden drei Kapiteln nachvollzogen werden.
6. Die Unsichtbare Loge: Das Romanfragment und das Geheimbundmodell der Aufklärung
»Er lebt aber noch« (L II, 368). Mit diesen Worten klingt Jean Pauls erster Roman Die Unsichtbare Loge aus. Dann die Unterschrift: »Fenk«. »Er« bezieht sich hier auf Ottomar, den unechten Sohn des Fürsten von Scheerau und Freund Gustavs. Gustav, nicht Ottomar ist der Held des Romans. Der Satz beendet einen Brief an den Erzähler, Gustavs früheren Lehrer und jetzigen Biographen, der genau wie der Autor den Namen Jean Paul trägt. Der Absender ist Doktor Fenk, ein Freund sowohl Ottomars als auch Gustavs. Fenks Brief, der den letzten »Sektor« des Romans ausmacht, erzählt in dramatischen Wendungen, wie Gustav wegen Verschwörungsverdachts ins Gefängnis gekommen ist. Er wurde entdeckt in einer unterirdischen Waldhöhle, zusammen mit anderen Mitgliedern einer, wie im Titel vorweggenommen, »unsichtbaren Loge«. Als Ottomar dies erfuhr, erzählt Fenk weiter, wollte er sich das Leben nehmen, nachdem er Fenk die ganzen Geheimnisse dieser geheimen Gesellschaft offenbart hat. Dazu ist es aber noch nicht gekommen, wenn der Doktor seinen Brief beendet. Nach Erhalt des Briefes ist der Erzähler nur noch in der Lage, die Überschrift des »Letzten Sektors« zu Papier zu bringen, ehe er nach Maussenbach fährt, wo Gustav eingekerkert ist. Dass wir, die Leser, diesen Brief überhaupt zu lesen bekommen, verdanken wir seiner Schwester, die uns diese »Hiobspost« (L II, 362) vorlegt. Nach Fenks Brief folgen im Roman seit dem Erstdruck zunächst die Idylle »Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal«, dann das »Ausläuten oder Sieben letzte Worte an die Leser der Biographie und die Idylle«, doch über das weitere Schicksal der Helden geben sie keine Aufklärung. An dieser Stelle bricht der Roman ab, mit einem Schlussbild, das Verbindungen zu den Gattungskonventionen des Staatsromans und im besonderen zu Wielands Agathon aufzeigt. Zum ersten findet sich unter den zentralen Charakteren des Romans ein unechter Fürstensohn, Ottomar; zum zweiten ist von einer geheimen Verbindung die Rede, die sich in Opposition zur bestehenden Ordnung befindet; zum dritten wird auf eine mögliche politische Intrige, eine Verschwörung im Namen dieser geheimen Verbindung hingewiesen. Am Schlussbild erkennen wir indessen auch, dass die Staatsromanhandlung bei Jean Paul, wie zuvor bei Wieland, in die Aporie geraten ist: Der Fürstensohn, der im Staatsroman der einzig mögliche Träger eines legitimen Machtanspruchs ist, will sich das Leben nehmen; die geheime Gesellschaft und ihr unterirdischer Aufenthaltsort sind von
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Die Unsichtbare Loge: Romanfragment und
Geheimbundmodell
den Schergen des Fürsten aufgedeckt worden; und die gegen den Fürstenstaat gerichtete Verschwörung ist gescheitert. Als einziger möglicher Handlungs- und Hoffnungsträger fur weitere, sich im Rahmen des Staatsromans abspielende politische Reformen oder Umwälzungen bliebe der eingekerkerte Gustav, der aber - so viel ist an diesem Punkt der Unsichtbaren Loge klar - die ihm in der Tradition des Staatsromans zugeschnittene Rolle kaum ausfüllen kann. Er ist weder Fürstensohn noch tatkräftiger Adeliger, sondern ein denkender, fühlender und liebender Mensch, in einen Prozess der Selbstfindung verstrickt, der mehr auf sein eigenes Inneres als auf die soziale und politische Umwelt achtet. Er ist von daher im weit größerem Grade als Wielands Agathon der Held eines Erziehungsoder Bildungsromans, keines Staatsromans. Die Ähnlichkeiten der Schlussszene der Unsichtbaren Loge mit dem Ende der Syrakus-Episode in Wielands Agathon leuchten ein. 1 Agathon, der redliche Mann am korrumpierten Hofe des Tyrannen Dionysius, macht mit dem republikanisch gestimmten, schwärmerischen Fürstensohn Dion gemeine Sache und plant, den Fürsten zu stürzen. Die Planung muss selbstverständlich verdeckt stattfinden. Die Verschwörung wird aber aufgedeckt und Agathon landet, wie Gustav, und übrigens auch im Goldnen Spiegel der Hofphilosoph Danischmend, im Gefängnis. Wieland sieht sich aber noch im Stande, seinen Helden durch das Eingreifen eines deus ex machina, des Archytas, der in Tarent wie ein liebevoller Vater herrscht, zu retten. Jean Paul bricht dagegen seine Darstellung ab. »Er lebt aber noch« klingt zwar, in der Hollywood-Terminologie, wie ein richtiger cliffhanger, durch den sich der Autor versichern will, dass auch der nächste Band des Romans Leser und Käufer finden wird. Die Fortsetzung blieb aber aus. Ob Ottomar wirklich überlebt oder nach Abschicken des Briefes Selbstmord begeht, erfahren wir nicht, und ebenso wenig ob Gustav aus dem Gefängnis befreit wird und wie sein Leben weitergeht. Jean Pauls erster Roman bleibt also ein Fragment. Eben der Fragmentcharakter der Unsichtbaren Loge soll Ausgangspunkt der vorliegenden Interpretation sein. Zunächst wird versucht, diesen Fragmentcharakter als Instanz der dem Roman innewohnenden Gattungsverhandlungen und als Ausdruck einer gattungsgeschichtlichen Situation, an der Wasserscheide zwischen Aufklärung und Romantik zu verstehen (6.1). Dann wird die Lebensgeschichte des Haupthelden Gustav von Falkenberg erörtert, um zu zeigen, wie der aporetische Ausgang des Romans schon in Gustavs nach Muster von Rousseaus Emile konzipierter Erziehung angelegt ist (6.2). Gerade der Fragmentcharakter des Romans löst weiterhin eine rege paratextuelle Aktivität aus, der im Hinblick auf die fehlende Vollendung des Romans eine kompensatorische Funktion zugeschrieben werden kann. Sowohl die Vorreden zur zweiten und dritten Fassung der Unsichtbaren Loge als auch der
Vgl. Köpke »Agathons und Gustavs >FallGeheimbund< allerdings alles andere als eindeutig. Zumindest zwei verschiedene Gattungen werden in diesem Topos herbeizitiert, der Geheimbundroman und der Staatsroman. Anhand der Werke Wielands und Jean Pauls, aber auch anhand Terrassons Sethos und Schnabels Insel Felsenburg wird gezeigt, wie das Geheimbundmodell in der Gattungstradition des Staatsromans vor allem einen funktionalen Charakter beansprucht, der über die inhaltlichen Bezüge auf Ordenszeremonien und -zeichen hinausweist (6.5). Letztendlich werden im Gattungsmaterial der Unsichtbaren Loge die utopischen Elemente herausgearbeitet, deren wichtigstes Symbol - die utopische Insel — jedoch in einer Dialektik von utopisch-empfindsamen und politisch-geheimbündlerischen Intentionen eingebunden ist. In dieser Dialektik ist der Abbruch des Romans schon vorweggenommen (6.6). Als Jean Pauls erster heroischer Roman und sein erster Roman überhaupt nimmt die Unsichtbare Loge im Gesamtwerk eine Sonderstellung ein. Durch die Unvollendetheit, den fragmentarischen Charakter des Werkes k o m m t diese Sonderstellung nur noch deutlicher zum Vorschein. In mancher Hinsicht ist es gerade diese Erfahrung der Ausweglosigkeit und des Abbruches, die in seinen späteren Romanen nachklingt. Diese Beobachtung findet sich schon bei Jean Pauls erstem Biographen, seinem Neffen Richard Otto Spazier. In seinem »biographischen Kommentar« zu den Werken, der 1833, acht Jahre nach dem Tod Jean Pauls, vollendet wurde, gibt Spazier die folgende Beschreibung der Bedeutung der Unsichtbaren Loge. Die »unsichtbare Loge« ist in mehr als einem Sinne die Genesis von Jean Paul s poetischer Welt und deren Bewohnern, die Geburtstagsgeschichte seiner ersten Romane. Aber auf der anderen Seite durchlief er nach und nach in diesem Romane alle die eben abgegebenen Stufenreihen der poetischen Entwicklung von Neuem, immer höher steigend, bis er so weit von seinem ursprünglichen Ausgangspuncte abgeführt worden war, daß er mit dem ersten Anlage nicht mehr weiter konnte, daß er es darum abbrach, um es auf einem neuem Terrain zu versuchen, mit dem auf den ersten gewonnenen Charakteren und Plänen, und in der Anlage gleich von der angegebenen höchsten Idee ausgehend: eine größere, umfassendere, vom Anfang herein höher hinaufgehobene Welt vollendet und harmonisch hinzustellen.2
Richard Otto Spazier: Jean Paul Friedrich Richter. Ein biographischer Commentar zu dessen Werken. Band 3. Zweite Auflage, Leipzig 1840, S. 78.
226
6.1
Die Unsichtbare Loge: Romanfragment und
Geheimbundmodell
Fragment und Gattungsverhandlungen
Die Unsichtbare Loge gehört also - neben den Flegeljahren von 1804/5 u n d dem Komet von 1820/22 - zu den drei großen Romanen Jean Pauls, die nie vollendet wurden, sondern Fragmente blieben. Der Fragmentcharakter dieser Werke ist z u m wiederkehrenden Topos der Forschung geworden, ohne dass dabei die Frage nach d e m Inhalt und der Verwendung der Kategorie des »Fragments« immer geklärt worden wäre. 3 Als Beispiel wird an dieser Stelle zunächst nur das Urteil Wölfeis angeführt, demzufolge das »Bedauern« über die unvollendeten Werke auf ein »ästhetische[s] Vor- u n d Fehlurteil« zurückzuführen ist. Gegen diese Tendenz der Forschung behauptet er, dass »der kompositorische Stimmigkeit dieser Werke [...] ihre Endlosigkeit eher zugute« k o m m t . 4 Er beseitigt dadurch eine normative Fragmentkonzeption, das negativ verstandene »Bedauern«, nur um sie mit einer anderen, der positiv verstandenen »Endlosigkeit«, zu ersetzen. Durch sein Verständnis der Endlosigkeit der Werke als Teil der Werksstruktur selbst nähert er sich d e m frühromantischen Verständnis des Fragments als eigenständiger Kunstform. Bei Wölfel k o m m e n damit zwei Probleme z u m Vorschein, die sowohl der ästhetisch-literarischen Kategorie des »Fragments« an sich als auch ihrer A n w e n d u n g auf die Werke Jean Pauls anhaften: Z u m einen geht es um die Einbindung des Fragmentbegriffes in normative Deutungsmuster, die darin ein positives oder negatives Werturteil erkennen wollen; z u m zweiten - und darin d e m ersten verwandt - geht es um die Z u o r d n u n g des Begriffes zum ästhetischen D e n k e n der Frühromantik, um auf diese Weise ein werksgeschichtliches Faktum, den Abbruch eines Textes, zu einer ästhetischen N o r m zu erheben. In beiden Fällen besteht die Gefahr, dass bei A n w e n d u n g des »Fragment«-Begriffes in der Interpretation der Unsichtbaren Loge nur das in Erscheinung tritt, was schon im Begriff selbst angelegt ist, wobei der deskriptive Inhalt des Begriffs dass ein Werk unvollendet bleibt - in Vergessenheit gerät. Für die folgende Interpretation der Unsichtbaren Loge scheint es dagegen geboten, an einem deskriptivwerksgeschichtlichen Fragmentbegriff festzuhalten, der zwar die Kanonisierung des Fragments als ästhetischer Form in der Frühromantik im Blick behält, aber keineswegs Jean Pauls Roman als die Praxis dieser Theorie verstehen will. Als Ausgangspunkt dieser Untersuchung dient eine Fragmentdefinition Peter Strohschneiders, die den Abbruch des Textes, in diesem Fall der Unsichtbaren Loge, darin begründet sieht, dass sich »dessen Konzeption während des Produk-
3
4
Vgl. dazu ζ. B. Peter Horst Neumann: Jean Pauls Flegeljahre, Göttingen 1966, S. 5 9 63; Franziska Frei Gerlach: »Schriftgeschwister. Die Rückversicherung des Fragments in Jean Pauls Unsichtbarer Loge«, in JbJPG 39/2004, S. 81-111; und Berhorst: Anamorphosen der Zeit, S. 4 - 5 1 . Wölfel: »Leben, Werk, Wirkung«, S. 32.
Fragment und Gattungsverhandlungen
227
tionsprozesses als aporetisch, überkomplex oder uneinlösbar erweist«.5 Am Ende vom Wielands Agathon, dessen erste Fassung die Forschung ja ebenfalls als ein »Fragment« bezeichnet hat und den Wieland in den Fassungen von 1773 und 1794 um wesentliche Kapitel und Passagen erweiterte, haben wir erkannt, dass der Roman in eine Aporie geraten war, die zwar nicht, wie in der Unsichtbaren Loge, zu einem plötzlichen, die ganze Handlung in der Schwebe lassenden Abbruch des Textes, sondern zu einem Auseinanderfallen der pragmatischen und utopischen Gattungsintentionen des Romans führte. Agathon kommt durch den »Sprung aus dem Fenster« in die utopische Republik Tarents, Gustav bleibt im Fürstentum Scheerau im Gefängnis. Dass der Abbruch der Unsichtbaren Loge aus einer bestimmten gattungsgeschichtlichen Lage heraus verstanden werden könnte, lässt sich nicht zuletzt durch diesen Vergleich mit Wielands Agathon veranschaulichen. Obwohl — wie wir oben gesehen haben - in Vergleichen zwischen Wielands Agathon und Jean Pauls heroischen Romanen zumeist der Hesperus im Zentrum steht, weist gerade die Unsichtbare Loge, um mit Köpke zu sprechen, »eine eingehendere Berührung mit Wielands Roman« auf.6 Für Köpke bildet die Verführung des Helden, Agathons durch Danae, Gustavs durch die Residentin von Bouse, den wichtigsten Fluchtpunkt beider Romane. 7 Eine ebenso auffällige Berührungsstelle stellt allerdings das Mißlingen oder die Desillusionierung der beiden Helden dar: Sowohl Agathon als auch Gustav sind Idealisten und Platoniker, die von einer besseren Welt träumen, aber an den Realitäten der empirischen und politischen Wirklichkeit letztendlich scheitern. Anhand des Agathon konnte gezeigt werden, wie die Konventionen und Intentionen des Entwicklungs- oder Bildungsromans mit den Konventionen und Intentionen des Staatsromans in Konflikt geraten sind. In der Unsichtbaren Loge spitzt sich — wie im nächsten Kapitel gezeigt wird - dieser Konflikt zwischen individualpsychologischen und politisch-historischen Romanelementen weiter zu. Mit dem orphischen Mysterium der Erziehung Agathons korrespondiert das herrnhutische Mysterium von Gustavs »unterirdische[m] Pädagogium« (L I, 39). Während aber Agathon seine schwärmerisch-empfindsame Erziehung hinter sich lassen und einen durch diesseitige Erfahrungen vorangetriebenen Bildungsgang antreten konnte, der allerdings blind endet, bleibt Gustav den ganzen Roman hindurch der mystisch-metaphysischen, um die Vorstellungen der »Auferstehung« (L I, 57) und der Wiedergeburt kreisenden Bilderwelt seiner Kindheit verbunden. Parallel zur Steigerung der Subjektivität des Helden ins Transzendente löst
5
6 7
Peter Strohschneider: Art. »Fragment«, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller herausgegeben von Klaus Weimar, Berlin/New York 1997, S. 6 2 4 . Köpke: »Agathons und Gustavs >Fallgefrorenen Augenblick< im dynamischen Prozess des Werkes sowie in der Gattungsgeschichte des aufgeklärten Staatsromans. Zunächst liegt es selbstverständlich nahe, im Fragment, im fragmentarischen Werk, eine entstehungs- und werksgeschichtliche Aporie zu erkennen, über die der Autor nicht mehr hinauskommt. Zugleich aber kann — wie oben schon erörtert - in der Aporie ein Auslöser oder ein Anreger erkannt werden, der die Gattungsverhandlungen in Bewegung bringt und vorantreibt. Der Abbruch des Werkes, könnte man behaupten, stellt im Prozess der Gattungsverhandlungen einen Einschnitt dar, wo die dem Roman innewohnende Aporie — wie an der oben wiedergegebenen Schlussszene der Unsichtbaren Loge zu erkennen war - sozusagen >aufblitztFallAgathonKindheitshöhleErwartung< ergibt«. Vgl. Viering: Schwärmerische Erwartung, S. 14. Im »Geheimbundroman« dagegen steht nicht primär das Geheimnis im Mittelpunkt, sondern der Bund, das Kollektiv von Menschen, das dieses Geheimnis verwaltet, und das im Logenwesen der Zeit seine Vorbilder fand. Vgl. ζ. B. Haas: Die Turmgesellschaft, S. 9ff. Dass diese Unterscheidung allerdings keine absolute Geltung beanspruchen kann, zeigt sich u. a. darin, dass mehrere Romane, zumal Wielands Peregrinus Proteus und Jean Pauls Unsichtbarer Loge, beiden Gattungen zugeordnet werden. Der gattungsgeschichtlich ergiebigste Ansatz findet sich daher bei Voges, der jenseits solcher Etikettierungen und in Übereinstimmung mit den theoretischen Voraussetzungen der vorliegenden Arbeit von einer »Aneignung des Geheimbundmaterials« spricht, die durchaus verschiedene Formen annehmen kann. Vgl. Voges: Aufklärung und Geheimnis, ζ. B. S. 272ff. Marion Beaujean: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Ursprünge des modernen Unterhaltungsromans. 2. ergänzte Auflage, Bonn 1969, S. 70ff. und S. 122ff. Voges: Aufklärung und Geheimnis, S. 293. Haas: Die Turmgesellschaft, S. 16.
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Die Unsichtbare Loge: Romanfragment
und
Geheimbundmodell
hers (1790-93), Grosses Der Genius (1791-94) und Vulpius' Aurora (1793-94) umfassen. 114 Allen diesen Romanen ist gemeinsam - in diesem Punkt stimmen die Darstellungen Beaujeans, Vierings und Voges' völlig überein —, dass in ihnen, in den Worten Vierings, ein Geheimbund (für den in der Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts das Bundeswesen der Freimaurer und ähnlicher Vereinigungen das Muster abgegeben hat) sein Wesen treibt, der es versteht, den Helden in seine Netze zu ziehen und ihn mit Hilfe oft dunkler Machenschaften wie der Inszenierung von Geistererscheinungen nach einem ganz bestimmten Plan zu einem ganz bestimmten Ziel zu lenken. Dieser Plan ist zwar oft, aber nicht notwendig verbrecherisch, wie auch das Ziel für den Helden nicht unbedingt verderblich zu sein braucht. Immer jedoch ist es ihm unbekannt, hat der Held selbst keine Einsicht in das, was mit ihm vorgenommen wird, und ist er überhaupt dem Bund - mag dieser nun Gutes oder Böses mit ihm vorhaben - als einer unbekannten, für ihn auf keine Weise durchschaubaren Macht ausgeliefert.115
Die Parallele zur Unsichtbaren Loge zeigt sich zunächst im Charakter Gustavs, der in der Tat, wie später Goethes Wilhelm in den Lehrjahren, mehr als eine Marionette einer geheimen Gesellschaft auftritt, als ein selbst- und weltbewusster Held. Uber die unsichtbare Loge selbst erfahren wir wenig, aber doch genug, um festzustellen, dass ihre Absichten mehr aufklärerischer als verbrecherischer Natur sind. In der Forschung hat sich weiterhin die Einsicht durchsetzen können, dass sowohl die Unsichtbare Loge als auch der Hesperus und der Titan das »Schema des Geheimnisromans« aufweisen, 116 dass sie die »Publikumswirksamkeit« dieses Gattungsmusters zur Schau stellen, 117 oder dass sie »durch die künstlerische Bearbeitung des Geheimbundmaterials« bestimmt sind. 118 Zu einem ähnlichen Schluss ist man interessanterweise auch im Falle Wielands gekommen, dessen späte Romane Peregrinus Proteus von 1789/91 und Agathodämon von 1795/99 ebenfalls als Spielarten des Geheimbundsromans aufgefasst werden. 119 Auf den Agathon oder den Goldnen Spiegel wird in diesem Zusammenhang nicht eingegangen. Durch diese Auslassung wird eine wichtige Grenzziehung zwischen verschiedenen Formen der Aneignung des Geheimbundmaterials so wie zwischen den Gattungskonventionen des Staatsromans und des Geheimbundromans vorweggenommen, auf die zurückzukommen ist. Durchgehend ist in der Unsichtbaren Loge das Spiel des Autors mit der Geheimbundmystik, das - wie schon anhand der ironischen Funktion des Titels zu
114 115 116 117 118 115
Vgl. Viering: Schwärmerische Erwartung, S. 12f.; und Beaujean: Der Trivialroman, S. 122AF. Viering, ebd., S. 13. Ebd., S. 31. Haas: Die Turmgesellschaft:, S. 16. Voges: Aufklärung und Geheimnis, S. 311. Vgl. Voges, ebd. S. 414—471; Beaujean: Der Trivialroman, S. 125; und Haas: Die Turmgesellschaft, S. 14.
Der Geheimbund zwischen Politisierung und Poetisierung
263
sehen war - ebenfalls ein Spiel mit der trivialen Lesererwartung darstellt. 1 2 0 O f t haben die Anleihen Jean Pauls in der Romanwelt des Geheimbundsromans den Charakter von Requisiten und Episoden, die kaum etwas mit dem Gattungsmaterial des Werkes zu tun haben. So erscheint auf der Gästeliste bei einem Souper der Residentin von Bouse Cagliostro (vgl. L II, 67), der gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine geheime Sekte der wiederhergestellten ägyptischen Maurerei stiftete und als Wundertäter und Magier Europa durchwanderte, bevor er in Rom 1791 zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt wurde. Zweimal taucht im Roman weiterhin ein aus dem Schauerkabinett des Geheimbundromans übernommener, sechsfingriger »tonsurierter« Mensch auf, der zunächst den scheintoten Ottomar bewacht (L II, 116), dann bei der Verhaftung der Mitglieder der unterirdischen Gesellschaft durch die Agenten des Fürsten, Regierungsrat Kolb und Jäger Robisch, entkommen zu sein scheint (L II, 365) — und der übrigens in einem früheren Entwurf zur Unsichtbare Loge als »Jesuit« bezeichnet wird. 1 2 1 Das Spiel mit den Lesererwartungen setzt sich allerdings auch und vor allem in den Anspielungen auf eine sich im Roman austragenden Geheimbundhandlung fort. Auf eine versteckte Intrige weisen schon die geheimnisvolle Entführung Gustavs (L I, 66f.) so wie die auffallende Ähnlichkeit des jungen Helden mit dem Portrait des unbekannten Guidos (L I, 69f.) hin. An poetologischer und politischer Brisanz gewinnen allerdings diese Anspielungen erst, wenn der Erzähler im 23. Sektor den Lesern mitteilt, »wie Gustav fünf Tage später in Scheerau eintraf als er konnte« und daraufhin die »Erkundigungen« des Erzählers »ängstlicher als listig« (L I, 317) auswich. Dem Erzähler und damit den Lesern bleiben die Erlebnisse Gustavs allerdings verdeckt, aber der Hofromancier Oefel erfährt etwas darüber, woraus er »ein Paar Sektores in seinem Roman« (ebd.) macht. Einzige Möglichkeit des Erzählers, über diese Vorfälle Aufklärung zu bekommen, bleibt daher, den Roman Oefels zu lesen. Gerade die Unwissenheit des Erzählers ist damit zu einem wichtigen Mittel der Gattungsverhandlungen des Romans geworden. Als Gustav ein weiteres Mal für fünf Tage verschwindet, richtet der Erzähler die folgende ironische Bemerkung an die trivialliterarischen Erwartungen der Leser: Ich werde die Angst des Publikums sicher nicht vermindern, wenn ich noch erzähle, dass Gustav regelmäßig alle sieben Wochen auf fünf Tage verreiset, woraus seine Freunde und der Biograph selber gerade so klug werden als die ältesten Leser [...] - dass Gustav vom letzten Verreisen an den D. Fenk ein Brief von Ottomar heimbrachte den man zwar dem Leser nicht vorenthalten wird, von dessen Ueberkommung man ihm aber nichts entdecken kann, weil man selber nichts davon weiß. (L I, 354f.)
120 121
Köpke: Erfolglosigkeit, S. 354. Berend: »Einleitung«, SW I, 2, XXV.
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Die Unsichtbare Loge: Romanfragment und
Geheimbundmodell
In diesem Brief Ottomars an Fenk, den der Erzähler im folgenden Sektor den Lesern vorlegt, heißt es u.a.: Nenne, ewiger Freund, meinen Namen dem Ueberbringer nicht: ich muss es thun. Auf meinem letzten Lebensjahre liegt ein großes schwarzes Siegel; zerbrich' es nicht, halte die Vergangenheit für die Zukunft - ich mache sie zur Gegenwart fur dich, aber noch nicht - und wenn ich stürbe träte ich vor dir und sagte dir mein letztes Geheimnis der Erde. (L I, 362)
In den konspiratorischen Andeutungen Ottomars, der der unechte Sohn des Fürsten von Scheerau ist und um den die politische Handlung des Romans kreist, kommen wieder Themen wie Geheimnis, schwärmerische Erwartung und antizipierte Erfüllung zur Geltung. In der Aneignung des Geheimbundmaterials ist allerdings noch ein Element hinzugekommen, indem auf eine Zukunft vorgegriffen wird, die eines Tages zur Gegenwart werden soll. In diesem zeitutopischen Fortschrittsdenken meldet sich in der Unsichtbaren Loge das Geheimbundmodell als zentraler Träger der politischen Handlung des Romans zu Wort. Dass sich die Aneignung des Geheimbundmaterials in der Unsichtbaren Loge weder im Spiel mit den trivialen Lesererwartungen noch in der schwärmerischen Erwartung erschöpft, wird bei Voges hervorgehoben. Gegen Köpke und Viering betont er, wie dieser Aneignungsprozess der politischen Intrige des Romans »ein zeitgenössisches Modell der Revolte zur Verfügung stellt«. 122 Durch das Geheimbundmodell wird jener »subjektiv-partikularen Gesinnung zur Tat«, welche die Helden aller hier besprochenen Romane, vor allem aber Agathon und Albano, auszeichnet, vorübergehend ein »substantielle [r] Zweck« verliehen. 123 Aus dem ironischen Gattungszitat ist damit ein »heroisches« geworden. 124 Dass gerade Ottomars Brief das Signal fur den Funktionswechsel des Geheimbundmaterials bildet, sollte nicht überraschen. Sowohl durch seine Herkunft als auch durch seine Gesinnung scheint der »Kapitain von Ottomar«, »uneheliche[r] Bruder« des Erbprinzen, der nach dem Tod des Vaters an die Macht gekommen ist (L I, 132), vorherbestimmt zu sein, die Rolle als Träger der in den Roman eingeflochtenen Staatsromanhandlung zu übernehmen. Aus Ottomars Feindschaft mit seinem Halbbruder, dem Fürsten, der »weit weniger (oder gar) keine Gründe brauchte um jemand zu hassen als um zu lieben« (L I, 133), macht der Erzähler keinen Hehl. Aus diesem brüderlichen Antagonismus entfaltet sich weiterhin das ganze Panorama eines pre-revolutionären, der Willkür eines despotischen Herrschers unterstellten Fürstentums - teils diskursiv, durch witzig-satirische Digressionen, wie durch die oben besprochene »Leichenrede«
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Voges: Aufklärung und Geheimnis, S. 549. Ebd. Ebd.
Der Geheimbund zwischen Politisierung und Poetisierung
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oder die »Extragedanken über Regentendaumen« (L I, 135), teils narrativ, durch die Romanhandlung selbst. Für Ottomars politische Gesinnung, seine Gesinnung zur Tat, gilt allerdings, dass sie im Roman eher ein diskursives als ein narratives Phänomen darstellt. Beide Briefe an Fenk sind aus Versatzstücken eines republikanischen revolutionären Diskurses zusammengesetzt, der die zeitgenössischen Leser von 1793 auf das Vorbild der Französischen Revolution verwies. Angesichts der »Unmöglichkeit [...], in allen unsern monarchischen Aemtern ein ganzer, ein edel thätiger, ein allgemein-nützlicher Mensch zu sein«, schreibt Ottomar im ersten Brief, »so wünscht' ich, ich würde gehenkt mit meinen Räubern, war' aber vorher ihr Hauptmann und rennte mit ihnen die alte Konstitution nieder!« (L I, 367). Zur Verschärfung dieser zumindest rhetorischen Tatgesinnung kommt es, nachdem Ottomar »lebendig begraben worden« ist (L II, 136). Aus der Todeserfahrung, aus der »Gewissheit [...], dass ich sterben muss« (L II, 144), entspringt seine Bereitschaft, »das Leben [...] für ein Vaterland« hinzugeben (L II, 145). Der Brief ist allerdings nicht das einzige Medium, in dem sich Ottomars revolutionärer Diskurs entfaltet. Angeblich — sicher ist sich der Erzähler allerdings nicht - ist er auch der anonyme Autor einer Reihe von Satiren, in denen er gegen die »Gefühllosigkeit« der Höfe, gegen »seinen Bruder« und gegen den »Volksdruck, dessen Anblick ihn mit unüberwindlichen Schmerzen erfüllte« (L II, 163) das Wort ergreift und seinen »großen philosophischen, republikanischen Ideen oder Idealen« (L II, 164) Ausdruck verleiht. Diese Schlagworte aus dem politischen Diskurs der Aufklärung tragen zur Charakterisierung Ottomars, aber auch zur Funktionsbestimmung der geheimen Gesellschaft bei, in der er die zentrale Figur, ja, möglicherweise sogar der Führer ist. Das Geheimbundmodell, könnte gefolgert werden, soll im Konflikt zwischen bürgerlicher Moral und Despotismus des absolutistischen Fürsten zum Schutz der bürgerlich-revolutionären Interessen dienen, damit hinter dem Schleier des Geheimnisses den Umsturz des Tyrannen vorbereitet werden kann. Nicht nur die politische, sondern auch die poetologische Funktion des Geheimbundmodells hängt allerdings in mancher Hinsicht an der Figur Ottomars. Unmittelbar nachdem der Erzähler den zweiten Brief Ottomars wiedergegeben hat, erkennt er, dass aus der »Biographie« Gustav von Falkenbergs eine »PolyBiographie« (L II, 149) geworden ist. Bei Köpke findet sich die Behauptung, dass im gesamten Personal der Unsichtbaren Loge Gustav der einzige ist, der keinen Doppelgänger hat, sondern den archimedischen Punkt dieser Personenkonstellation darstellt. 125 Gegen Köpke könnte allerdings eingewandt werden, dass durch den poetologischen Ubergang von »Biographie« zu »Poly-Biographie«
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Köpke: Erfolglosigkeit, S. 367f. In seiner Darstellung zeigt Köpke, wie sich das um Gustav strukturierende Romanpersonal in Gegensatzpaaren organisiert: darunter zwei Erzieher und Biographen (Jean Paul und Oefel), zwei Objekte der geistigen oder sinn-
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Geheimbundmodell
auch Gustav aus seiner Stellung im Mittelpunkt der Darstellung gerückt wird. Dabei stellt sich die Frage, ob nicht auch das Verhältnis zwischen Gustav und Ottomar im Sinne einer »Spaltung« oder »kontrastierenden Doppelung« verstanden werden könnte, die spätere Gegensatzpaare der heroischen Romane wie Viktor/Flamin und Albano/Roquairol vorwegnimmt. 126 Diese Doppelung der Heldenfigur könnte wiederum als Symptom der dem Werk zugrunde liegenden Gattungsaporie interpretiert werden. Gustav ist kein verborgener Prinz, hat weder die politische Klugheit noch die persönliche Stärke, um am Scheerauer Hofe den redlichen Mann zu spielen, hegt keine republikanischen oder vaterländischen Ambitionen und ist überhaupt kein Revolutionär. So lange der »Chorton seiner überirdischen, d.h. unterirdischen Erziehung« in ihm nachklingt, bleibt er für die Gattungsintention des Staatsromans unbrauchbar. Durch kontrastierende Doppelung werden viele der Eigenschaften, die Gustav fehlen, auf seinen Freund und sein Gegenbild Ottomar verlegt, der dadurch zum wichtigsten Träger der Staatsromanhandlung des Romans wird. Um zu vermeiden, dass der Roman ganz auseinander fällt, in einen Erziehungsroman und einen Staatsroman, deren Intrigen sozusagen parallel verlaufen, aber nicht integriert werden, muss allerdings die narrative und psychologische Verbindung zwischen dem pädagogischen Helden Gustav und dem politischen Helden Ottomar gesichert werden. Diese Funktion übernimmt im Roman der Geheimbund, die unsichtbare Loge, an der auch Fenk teilnimmt und durch welche diese Personenkonstellation, so Voges, zu einem »heroische[n] Kollektiv« wird. 127 Obwohl der schwärmerisch-empfindsame Gustav selbst nie zum Helden einer politischen Handlung werden kann, kann er als Mitglied einer geheimen Gesellschaft mit reformerischen oder revolutionären Absichten doch eine genuin politische Rolle übernehmen. Auch diese politische Intrige und die mit ihr einhergehende politische Erfahrungswelt werden jedoch durch literarische Muster und Gattungskonventionen vermittelt. Um die Funktion des Geheimbundmaterials in der Unsichtbaren Loge zu verstehen, muss daher zwischen einem »ironischen« und einem »heroischen« Gattungszitat, aber auch zwischen verschiedenen Gattungskonventionen und -intentionen unterschieden werden, die durch diese beiden Formen des Zitierens zur Geltung kommen. Zitiert wird also nicht nur die in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts den Büchermarkt überflutende trivialliterarische Gattung des Geheimbundromans, sondern auch die Gattung des Staatsromans, in der ebenfalls eine intensive Aneignung des Geheimbundmaterials, aber aus anderen Gattungsintentionen heraus, stattgefunden hat. Diese Aneignung und Funktio-
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lichen Liebe (Beata und die Residentin), zwei Prinzen (Ottomar und der Fürst), die alle bzw. positive und negative Wirkungen auf den Helden haben. Ebd., S. 364ff. Voges: Aufklärung und Geheimnis, S. 549.
Zum Geheimbundmodell
im aufgeklärten Staatsroman: Inhalt und Funktion
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nalisierung des Geheimbundmodells in der Gattungstradition des aufgeklärten Staatsromans, von Terrasson und Schnabel zu Wieland und Jean Paul, wird das Thema des folgenden Kapitels sein.
6.5
Zum Geheimbundmodell im aufgeklärten Staatsroman: Inhalt und Funktion
Im Staatsroman wird - wie schon mehrmals festgestellt — über die Möglichkeiten einer Umsetzung bürgerlicher Moral in politische Praxis verhandelt. Den Kristallisationspunkt dieser Verhandlungen bildet der zumindest potentiell tatkräftige Held, der die normativen Grundlagen seiner praktischen bürgerlichen Vernunft zum Ausgangspunkt politischer Planung und Tat macht und so als Austauschstelle der sich in einem Prozess der Polarisierung befindenden Sphären der Moral und der Politik dient. Gustav von Falkenberg, der in sich den homme mit dem citoyen nicht mehr vereinen kann, ist allerdings kein solcher Held. Durch seine empfindsame Lebenshaltung bleibt er auf sich selbst verwiesen und kommt über das schwärmerische Mitgefühl mit seinen Mitmenschen nicht hinaus. Der zum Gattungskonzept des Staatsromans gehörende Bezug auf die Wirklichkeit als politischen Handlungsraum kann im Rahmen der Unsichtbaren Loge nicht durch die Heldenfigur Gustavs zu Stande kommen. Um Gustav überhaupt in eine politische Handlung implizieren zu können, muss ihn Jean Paul daher zum Mitglied einer geheimen Gesellschaft mit politischen Absichten machen, welche die Rolle als tatkräftigen Helden stellvertretend und kollektiv übernimmt. Für dieses Planungs- und Handlungskollektiv hat es in der Gegenwart nicht an Vorbildern gefehlt. Seit dem frühen 18. Jahrhundert waren die zahlreichen Vereinigungen, Zirkel und Gesellschaften, die eine immer größere Zahl von Gelehrten, aufklärerischen Beamten und gebildeten Bürgern erfassten, zu einem wichtigen Forum aufklärerisch-reformerischer Diskurse und Aktivitäten bürgerlicher Selbstfindung und Klassenbildung geworden. 1 2 8 Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts haben diese Organisationsformen, im Rahmen einer zunehmenden Politisierung der Aufklärung, auch eine dezidiert politische Komponente bekommen. Beispielhaft für diese Entwicklung ist vor allem der 1776 in Ingolstadt, von dem 28jährigen Professor für Kirchenrecht und praktische Philosophie Adam Weishaupt gegründete Geheimbund der Illuminaten. Die Ziele dieses Ordens waren, neben der Bekämpfung des 1773 verbotenen, aber trotzdem noch nachwirkenden Jesuitenordens, »die Moral zum Sieg zu fuhren«. 1 2 9 Dieser Sieg sollte indessen nicht durch einen revolutionären Umsturz herbeige-
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Vgl. Van Dülmen: Die Gesellschaft der Aufklärer, S. 7. Ebd., S. 107.
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Geheimbundmoilell
führt werden, sondern durch die Einführung einer moralischen Herrschaftsordnung: Man versuchte, hohe Staatsmänner und sogar Fürsten für den Orden zu gewinnen, und durch die sittliche Erziehung dieser Männer hoffte man, »den Staat von innen her zu absorbieren«. 130 Seinen größten Aufschwung erlebte der Illuminatenorden, als der norddeutsche Aufklärer, Schriftsteller und - wie wir an seiner Rezension von Jean Pauls Unsichtbarer Loge gesehen haben - Publizist Adolf Freiherr von Knigge als Mitglied gewonnen wurde und er das Wirkungsfeld auf Nord- und Westdeutschland ausweitete. 131 Der Orden blieb aber in seinem Umfang klein. Koselleck bemerkt sogar, dass zwischen seinen Ambitionen und seinen Wirkungen eine Unstimmigkeit besteht, »die einer gewissen Lächerlichkeit nicht entbehrt«. 132 Dass der Illuminatenorden doch in der deutschen Öffentlichkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts eine ausgeprägte und häufig anzutreffende Erscheinung darstellt, erklärt sich teils durch die um ihre Existenz gesponnene »Verschwörungslegende«, 133 wobei hinter den Revolutionsereignissen in Frankreich die Machtentfaltung der Illuminaten erkannt wurde und man ein ähnliches Schicksal für Deutschland befürchtete. Bekräftigt wurde dies durch die Tatsache, dass zu den insgesamt zwischen 1100 und 2500 Mitgliedern 134 eine Reihe von Männern der literarischen Elite wie Goethe, Herder, F. Jacobi, Nicolai und Knigge gehörten. Unter den kanonisierten Werken der Klassik finden sich demzufolge viele, die mehr oder weniger offen die Ideen der Illuminaten aufgreifen. Zu erwähnen wären, neben Lessings und Herders Freimaurergesprächen, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, Schillers Don Carlos sowie Wielands einmalige Analyse der Ordensdialektik in seinem 1788 im Teutschen Merkur veröffentlichten Aufsatz »Das Geheimnis des Kosmopolitenordens«. 135 Durch ihre Verarbeitung in der zeitgenössischen Literatur war, so Voges, »die den Arkangesellschaften potentiell innewohnende Dialektik von Geheimnis und Öffentlichkeit, von Moral und Politik bewusstseinsgeschichtlich eingeholt«; 136 der Geheimbund - obwohl die meisten realhistorisch wirkungslos waren - wurde »zu einem zentralen Denkmodell der Spätaufklärung«. 137 In dieser Form spielt das Geheimbundmodell auch in den Romanen Wielands und Jean Pauls eine überaus zentrale Rolle.
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Koselleck: Kritik und Krise, S. 77. Van D ü l m e n : Der G e h e i m b u n d der Illuminaten. 2., unveränderte Auflage, Stuttgart 1977, S. 43ff. Koselleck: Kritik und Krise, S. 75. W. Daniel Wilson: G e h e i m b ü n d e gegen Geheimräte. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1991, S. 4 l f f . Diese Schätzung stammt von Wilson. Vgl. ebd., S. 18. Für eine Analyse der komplexen, sowohl von Koselleck als auch von Wilson nur mangelhaft erörterten Semantik dieses Textes vgl. Jordheim: »Die Hypokrisie der Aufklärer«, S. 4 I f f . Voges: Auklärung und Geheimnis S. 59. Ebd., S. 6 0 .
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Um das Geheimbundmodell als eine angemessene Antwort auf die Polarisierung von Moral und Politik und zugleich als Lösungskonzept fur die der Unsichtbaren Loge innewohnende Gattungsaporie zu erfassen, sollten wir allerdings die Perspektive wechseln: vom »Inhalt« des Logengeheimnisses auf dessen »Funktionen [...] innerhalb des absolutistischen Staates«. 138 Diese von Koselleck gemachte Distinktion nimmt ebenfalls eine mögliche Gattungsunterscheidung vorweg: Im trivialen Geheimbundroman wäre die Aneignung des Geheimbundmaterials mehr auf den Inhalt, auf die Mysterien, die Symbole und Rituale, im Staatsroman mehr auf die Funktion, auf das Geheimnis als Grenzscheide zwischen Moral und Politik gerichtet. Diese Funktionsbestimmung der geheimen Gesellschaften im 18. Jahrhundert entspringt der Einsicht, dass die Funktion den »eigentlichen Gehalt des arcanum« bildet. 139 In diesem Sinne schreibt Koselleck dem Logengeheimnis vor allem eine »schützende Funktion« zu. 140 Durch das Geheimnis wird der geistige Innenraum der Moral vor staatlicher Kontrolle und staatlichem Eingreifen geschützt.141 »Die Freiheit im geheimen wird«, so Koselleck, »zum Geheimnis der Freiheit«.142 In den Geheimbünden, vor allem im Orden der IIluminaten, findet weiterhin eine Wendung vom moralischen Innenraum zum politischen Außenraum, von innerer moralischer Freiheit zu äußerer politischer Freiheit statt, die dem Staat durch das Eintreten des Geheimnisses verborgen bleibt. 143 Aus der Schutzfunktion des Geheimnisses wird eine Angriffsfunktion, aus der »Stätte der Zuflucht« eine »Zentrale des Angriffs«. 144 In den Logen, vor allem im Illuminatenorden, bildete sich ein moralisches Herrschaftssystem, das nicht nur von der Staatsordnung unabhängig war, sondern seine Bestimmung darin fand, diese Ordnung eines Tages ganz zu ersetzen. Trotz der oben erwähnten Anspielungen auf inhaltliche Elemente des trivialliterarischen Geheimbundmaterials, wie das Leben Cagliostros und den sechsfingrigen, tonsurierten Menschen, könnte die Frage gestellt werden, ob nicht auch Jean Paul vor allem diesen funktionalen Aspekt des Geheimbundmodells für seinen Roman auswertet, und damit, ob Kosellecks Identifikation des Logengeheimnissen mit dessen politischer Funktion - als einer verborgenen Wendung gegen den Staat - einen möglichen Kontext für das Verständnis der Unsichtbaren Loge bietet. 145 Über die eigentlichen Tätigkeiten und Pläne des Geheimbundes
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Koselleck: Kritik und Krise, S. 57. Ebd. Ebd., S. 58. Ebd., S. 60. Ebd. Ebd., S. 98. Ebd., S. 76. Als Vorbild für Jean Pauls Aneignung des Geheimbundmaterials wird in der Forschung traditionell auf Meyerns Dya-Na-Sore hingewiesen. Vgl. Berend: »Einleitung«, S W I, 2, S. XXXIV. Dass Jean Paul diesen Roman »als Muster ernst nahm«, weist in der
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Geheimbundmodell
erfahren wir in der Unsichtbaren Loge so gut wie nichts. Dem Erzähler kommt sie »weit humoristischer und unschädlicher [ . . . ] als jede andere« vor (L II, 279); da er jedoch selbst kein Eingeweihter ist, kann er lediglich die in der Öffentlichkeit zirkulierenden Anekdoten von den Aktionen dieses Ordens wiedergeben: So sollten die Mitglieder ein »Grafen-Diplom«, »gewisse wichtige Akten« und Kostüme aus einer Theatergarderobe gestohlen haben (ebd.) — augenscheinlich mehr im karnevalistischen als im revolutionären Geiste. In diesem Sinne weist auch Köpke darauf hin, dass die »Einzelheiten, die sonst im Geheimbundroman so wichtig sind, Zeremonien, Aufnahmeriten, Zwecksetzung, Verbreitung usw.« in der Unsichtbaren Loge nie zur Sprache kommen. 1 4 6 In dem am Ende des Romans angedeuteten Konflikt zwischen der fürstenstaatlichen Ordnung und der geheimen Gesellschaft, der zur Verhaftung der Mitglieder der »unsichtbaren Loge«, darunter Gustav, führt, wird nicht auf den konkreten Inhalt des Geheimnisses, auf irgendein verborgenes Wissen, sondern auf seine Funktion als Umgrenzung eines moralischen Innenraums angespielt. Die Funktion der »unsichtbaren« und »unterirdischen« Gesellschaft und damit deren Gegenposition zur bestehenden Ordnung zeigen sich daher vor allem in der Unsichtbarkeit derselben. Um sich über die Aporie des autonom-empfindsamen Individuums als politischen Handlungsträger hinwegsetzen zu können, greift Jean Paul in der Unsichtbaren Loge auf ein konventionelles und funktionales Element der Gattung des Staatsromans zurück. In diesem Sinne wäre das Geheimbundmodell einer Reihe anderer, hier schon besprochener literarischer Topoi zuzuordnen, darunter dem >redlichen Mann am Hofe« und dem verborgenen Prinzen«, die alle mehr oder weniger dieselbe Funktion haben: die Ermöglichung einer fur die Gattung des Staatsromans paradigmatischen Vermittlung zwischen bürgerlicher Moral und absolutistischer Politik. Die literarische Funktionalisierung des Geheimbundmodells als Topos einer Vermittlung zwischen Moral und Politik ist allerdings keine Erscheinung der Spätaufklärung, sondern reicht in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück. Durch einen kurzen gattungsgeschichtlichen Rückblick werden im folgenden einige Aspekte des funktionalen Geheimbundmodells als Topos des Staatsromans dargelegt, die sowohl bei Wieland als auch bei Jean Paul zur Geltung kommen. Unter den Vorbildern fur Wielands Agathon und seinen Goldnen Spiegel findet sich, wie oben schon angesprochen, Jean Terrassons 1731 erschienener Roman Sethos,147 der schon zwischen 1732 und 1737 in deutscher Sprache veröffentlicht
146 147
Darstellung Köpkes über das Spiel mit den trivialen Lesererwartungen hinaus, aber ohne dass dieser Ansatz zu einer funktionsbezogenen, nicht inhaltsbezogenen Interpretation des Geheimbundmodells der Unsichtbaren Loge weiter verfolgt wird. Siehe Köpke: Erfolglosigkeit, S. 359. Köpke, ebd., S. 347. Zum Einfluss des Sethos auf Wielands Agathon, vgl. Wildstake: Wielands Agathon und der französische Reise- und Bildungsroman, S. 48ff.; Jaumann: »Nachwort«, S. 865.
Zum Geheimbundmodell
im aufgeklärten Staatsroman: Inhalt und Funktion
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und 1777/78 ein zweites Mal von Matthias Claudius übersetzt wurde. 1 4 8 Die Handlung dieses in der Tradition von Fenelons Telemaque verfassten Staatsromans kreist um die Erziehung des ägyptischen Prinzen Sethos, der mit 16 Jahren in die Geheimnisse der ägyptischen Priester eingeweiht wird und in ihren unterirdischen Wohnungen und Heiligtümern seine Ausbildung erhält. Durch diese Kombination von ägyptischer Szenerie und Geheimbundmystik nimmt Sethos in mancher Hinsicht den trivialen Geheimbundroman des späten 18. Jahrhunderts vorweg. 149 Parallel zu dieser Darstellung eines durch inhaltliche Elemente wie Einweihungsprüfungen, Symbole und theatralische Zeremonien charakterisierten Geheimbundmodells entwickelt Terrasson auch einige funktionale Aspekte dieses Topos. Die Priesterschaft, die unter den Pyramiden ihre Loge hält, lenkt und überwacht das Schicksal ganz Ägyptens. Ziel ihrer geheimen Pläne ist die Durchsetzung eines neuen tugendhaften Systems, das ganz im Geiste des aufgeklärten Staatsromans bürgerliche Moralität mit absolutistischer Politik vereinen will. Dieses aufgeklärt-absolutistische Ideal wird vor allem am Ende des siebten und Anfang des achten Buches des Romans dargestellt, wenn Sethos ins Idealreich der Atlanten kommt, in dem ein gewählter König mit absoluten Machtbefugnissen herrscht. Eben diese Kleinutopie stellt das Vorbild für die weiteren Staatsreformen des Helden dar. Diese Dialektik von inhaltlichen und funktionalen Zügen des Geheimbundmodells findet sich auch in dem zwischen 1731 und 1743 erschienenen Roman
Johann Gottfried Schnabels, der zunächst als Wunderliche Fata einiger
See-Fah-
rer, absonderlich Alberti Juli eines gebohrnes Sachsens [...] erschien, aber nach der Ausgabe Ludwig Tiecks unter dem Titel Die Insel Felsenburg seinen Ruhm gewann. 1 5 0 Diese bekannteste Robinsonade der deutschen Literatur war zugleich einer der erfolgreichsten Romane des 18. Jahrhunderts. 151 Die Insel selbst stellt, laut Brunner, das paradigmatische Beispiel einer »Fluchtutopie« dar, die sich allerdings durch ihre zivilisatorischen Züge von den massenhaft produzierten Robinsonaden unterscheidet. 152 Gerade im Leben auf dieser fluchtutopischen Insel erkennt Michael Winter allerdings »das literarisch gestaltete Bild jenes morali-
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Jean Terrasson: Sethos, Histoire ou vie tiree des monuments anecdotes de l'ancienne Egypte. Traduit d'un Manuscrit Grec, Amsterdam 1732 [Paris, 1731]. Die erste Ausgabe der Ubersetzung Matthias Claudius' hat unter anderem Schikaneder als literarische Vorlage fiir sein Textbuch zu Mozarts Zauberßöte gedient. Haas nennt daher Terrassons Sethos einen »Geheimbundroman im eigentlichen Sinn« und erkennt in diesem so wie in den anderen französischen Romanen in der Nachfolge Fenelons die »Ursprünge der Gattung«. Siehe Haas: Der Turmgesellschaft, S. 9. Johann Gottfried Schnabel: Die Insel Felsenburg oder wunderliche Fata einiger Seefahrer. Eine Geschichte aus dem Anfange des 18. Jahrhunderts. Eingeleitet von L. Tieck. 6 Bde., Breslau 1828. Vgl. dazu Brunner: Die poetische Insel, S. 102. Ebd., S. 11 Off.
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Die Unsichtbare Loge: Romanfragment und
Geheimbundmodell
sehen Freiraumes vom Staat«, den Koselleck im Logenwesen nachweist. 153 Ähnlich wie in den Logen fällt weiterhin der Inhalt des Geheimnisses, »nämlich die Existenz dieser außerstaatlichen, allein aus bürgerlicher Redlichkeit funktionierender Gesellschaft«, mit ihrer Funktion, »Abgrenzung und [...] Schutz vor der politischen Welt«, zusammen. 154 In den drei ersten Bänden des Romans entwikkelt Schnabel daher ein rein funktionales Modell des Geheimbundes, das erst im vierten, 1743 erschienenen Band mit bestimmten inhaltlichen Logenpraktiken in Verbindung gebracht wird. Dass die Funktion des Geheimnisses den Inhalt völlig in den Hintergrund drängt, kann an der Einweihungszeremonie abgelesen werden, die bei Terrasson und später im trivialen Geheimbundroman reich mit Symbolen und Ritualen freimaurerischer Provenienz ausgestattet ist, bei Schnabel aber in der Form einer abenteuerlichen Seereise, durch Nebel und Sturm, geschildert wird. 1 5 5 Dieser Zusammenfall von utopischer Insel und funktionalem Geheimbundmodell weist vielmehr auf die letzten Sektoren von Jean Pauls Unsichtbarer Loge hin, wenn sich das Kollektiv der Helden auf die Insel Teidor zurückzieht und dort einen moralischen Freiraum von der absolutistischen Herrschaft im Fürstentum Scheerau findet. Für Wieland hingegen gilt, dass ihn das Geheimbundmodell der Aufklärung sein ganzes Leben beschäftigt hat. Überwiegen in der ersten Hälfte seines Gesamtwerkes, im Agathon, Goldnen Spiegeiso wie im oben genannten »Kosmopoliten«-Aufsatz, die funktionalen Elemente, setzt sich der Autor in Spätwerken wie
Peregrinus Proteus und Agathodämon auch inhaltlich mit dem Geheimbundmodell auseinander. Im Agathon stellt die explizit konspiratorische, politisch subversive Verbindung Agathons mit dem Fürstensohn Dion den letzten, in den Abgrund führenden Schritt auf der politischen Laufbahn des Helden dar. Auch im Goldnen SpiegelvictAen allerdings mehrere Elemente eines funktionalen, in der Tradition des Staatsromans entwickelten Geheimbundmodells durchgespielt. Zusammen planen Tifan und sein Lehrer Dschengis, wie Tifan mittels eines Geheimnisses an die Macht kommen soll. Dschengis will die Wahrheit über die Herkunft seines Pflegesohnes vor den Scheschianern geheim halten, bis ihm die Zeit gekommen zu sein scheint, »sich seines Geheimnisses zu entledigen« (GS 229). Unter dem Deckmantel des Geheimnisses, das den Raum der Moral schützt und umgrenzt,
Michael Winter: Compedium Utopiarum. Typologie und Bibliographie literarischer Utopien. Erster Teilband. Von der Antike bis zur deutschen Frühaufklärung, Stuttgart 1978, S. 192. 1 5 4 Ebd. Zur »Inselfunktion der Geheimhaltung« vgl. Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, München 1984, S. I4lff. 155 Yg] J a z u Agethen: Geheimbund und Utopie, S. 141 f.: »Wie in der utopischen Literatur die »glückliche Insel· immer erst durch eine lange Reise weg von der alten Welt erreicht werden kann, so tritt auch der Illuminat die >lange Reise< durch das Gradsystem des Ordens an, die ihn schließlich ins Innere des Geheimnisses fuhrt.« 153
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setzt sich die rationale und moralische Planung fort, um die utopische Gesellschaftsordnung ins Leben zu rufen. Die selbsternannten Retter des Vaterlandes — »die neue Elite« 156 - können in aller Ruhe ihre Pläne für den Umsturz Isfandiars und die Machtübernahme Tifans schmieden, mit der Gewissheit, dass ihre Absichten verdeckt bleiben. Erst als Tifan den Thron bestiegen hat, ist Dschengis bereit, »sein Geheimnis öffentlich bekannt zu machen« (GS 238). Sowohl bei Terrasson als auch bei Schnabel und Wieland tritt das Geheimbundmotiv als ein mehr oder weniger konventionalisierter Topos des Staatsromans auf, dessen Funktion in der anvisierten Vermittlung zwischen bürgerlicher Moral und absolutistischer Politik zu suchen ist und die in Verbindung mit anderen typischen Topoi der Gattung auftritt. An den oben anhand von Terrassons Sethos, Schnabels Insel Felsenburg sowie Wielands Goldnem Spiegel nachvollzogenen Transformationen dieses Topos fällt vor allem die Einbindung der Funktionen des Geheimnisses und des Geheimbundes in ausgeprägt utopische Schreibund Denkmuster auf. In allen drei Werken stellt das Geheimnis ein Mittel zur Verwirklichung utopischer Hoffnungen und Pläne dar, im Sinne eines »Praktischwerdens der Utopie«, wie dies bei Rudolf Schlögl thematisiert wird. 1 5 7 Dass das Geheimbundmodell der Aufklärung mit geschichtsphilosophischen utopischen Denkmustern verknüpft ist, ist inzwischen zu einem Gemeinplatz der Forschung geworden. Seitdem Koselleck auf diese geschichtsphilosophische Begründung und Funktion geheimbündlerischer Aktivitäten hingewiesen hat, haben sich auch mehrere andere sozialgeschichtliche Arbeiten mit diesem Thema beschäftigt. 158 In einer breit angelegten Studie des Illuminatenordens hat etwa Agethen zeigen wollen, wie die »Strukturmerkmale utopisch-chiliastischer und sektiererischer Bewegungen und Denkweisen« in den Geheimbünden der deutschen Spätaufklärung wiederzufinden sind. 159 Dementsprechend verstanden sich die Illuminaten laut Agethen als »>Werkzeuge< eines göttlichen Heilplans«. 160 Auch bei Wieland sind die Funktionen des Geheimbundmodells mit utopischen Absichten verknüpft, aber von einem sich durch diese geheimen Verbindungen und ihre Mitglieder realisierenden Heilplan kann nicht die Rede sein. Sowohl im Agathon als auch im Goldnen Spiegel klafft im Gegenteil ein Widerspruch zwischen Planung und Verwirklichung, der an sich mit der Vorstellung
Koselleck: Kritik und Krise, S. 62. Rudolf Schlögl: »Alchemie und Avantgarde. Das Praktischwerden der Utopie bei Rosenkreuzern und Freimaurern«, in Monika Neugebauer-Wölk/Richard Saage (Hg.): Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1996, S. 1 1 7 f f . 158 Yg| z g Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie, bes. S. 87ff.; und Monika Neugebauer-Wölk: »Die utopische Struktur gesellschaftlicher Zielprojektionen im Illuminatenbund«, in ders./Richard Saage (Hg.): Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1996, S. 1 6 9 - 1 9 7 . 1 5 9 Agethen: Geheimbund und Utopie, S. 52. 1 6 0 Ebd., S. 300. 156
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eines solchen göttlich verordneten Weltverlaufs unvereinbar zu sein scheint. Der Briefwechsel Agathons mit Dion wie auch die Gespräche zwischen Dschengis und Tifan sind Beispiele einer Plaung, die im Kontext neuzeitlicher Geschichtsphilosophie zugleich »den Ablauf der nunmehr selbst geplanten Ereignisse garantiert«. 161 Die Legitimierungskrise des Absolutismus in Deutschland, so Koselleck, bahnt sich an, einerseits weil sich in den Geheimbünden eine utopische Identifizierung ihrer Pläne mit der Geschichte vollzieht, anderseits weil die Vertreter der bestehenden Ordnung zunehmend der drohenden politischen Kehrseite der utopischen Planung gewahr werden. 1 6 2 Dieser Prozess der Usurpation politischer Macht und Autorität durch die utopisch-moralische Planung der Geheimbünde wird in Wielands Goldnem Spiegel systematisch nachgezeichnet. Nach der Aufhebung des scheschianischen Priesterordens will Tifan seinen Untertanen »eine vernünftige und dem wahren Besten der Menschheit angemessene Religion« (GS 283) geben. Für diese Aufgabe wählt er einige Priester aus, »die besser dachten als die übrigen, und nicht ohne innerliche Beschämung sich als die niedrigen Werkzeuge betrachteten, wodurch Dummheit und Aberglauben in ihrem Vaterlande verewiget würden« (GS 285). Diese guten und redlichen Männer setzt er so als Werkzeuge der Aufklärung seines Volkes ein, mit der Aufgabe, »dem Volke stufenweise Begriffe beizubringen, von welchen man mit der Zeit eine heilsame Umstimmung der Gemüter hoffen könnte« (ebd.), um dadurch »einen höhern Grad von Licht und Wärme in die Seelen der Scheschianer zu bringen« (ebd.). Wieland lässt es aber nicht bei diesen eher vagen Andeutungen auf das Gedankegut der freimaurerischen Tradition bewenden. Mit der folgenden Passage identifiziert er die von Tifan gegründete neue Priesterschaft eindeutig als eine Art Freimaurerei: Die Geschichtschreiber von Scheschian erwähnen bei dieser Gelegenheit eines geheimen Gottesdienstes, welchen Tifan, mit Hülfe der Priester seiner Partei, fur alle diejenigen, welche sich geneigt erklärten den Dienst der beiden Affen zu verlassen, angeordnet habe. Sie drücken sich aber so dunkel über diese Sache aus, daß es unmöglich ist, etwas Genaues davon zu sagen. Alles, was sich davon vermuten läßt, ist, daß dieser geheime Gottesdienst mit den Mysterien bei den Ägyptern und Griechen viele Ähnlichkeit, und zum hauptsächlichen Gegenstand gehabt habe, diejenigen, welche in dieselben eingeführt wurden, teils durch symbolische Vorstellungen, teils durch deutlichen Unterricht, von der Eitelkeit des Götzendienstes zu überzeugen, und, vermittelst einer Art von feierlicher Verpflichtung auf die Grundwahrheiten der natürlichen Religion, zu besserer Erfüllung ihrer menschlichen und bürgerlichen Pflichten verbindlich zu machen. (GS 286)
Schon Wielands eher abstrakte Anwendung von Wörtern wie »geheim«, »vermuten« und »dunkel« weist auf die Herkunft dieser idealen Priesterschaft hin.
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Koselleck: Kritik und Krise, S. 111. Vgl. ebd., S. 115.
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Auch die folgenden Anspielungen auf einen »geheimen Gottesdienst« sowie auf die »Mysterien bei den Ägyptern und den Griechen« lassen keinen Zweifel mehr zu, dass hier die Freimaurerei in irgendeiner Form gemeint ist. Die inhaltliche Beschreibung des Ordens — zwar mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass seine Arkanpraxis es geradezu unmöglich macht, »etwas Genaues davon zu sagen« - geht dann in eine Analyse seiner Funktionsweise über. In diesem Sinne wird betont, dass die η Eingeweihten [...] ein unverletzliches Stillschweigen angeloben« (ebd.) müssen, »so lange bis die Abgötterei aus Scheschian verschwunden« ist. Die Ordensmitglieder führen ihre Arbeit an der allgemeinen Aufklärung unter dem Deckmantel des Geheimnisses aus: Diese Veranstaltung (sagen die Geschichtschreiber) wirkte mehr als alles übrige, die große Absicht des weisen Tifan zu befördern. Die Begierde, zu diesen Mysterien zugelassen zu werden, wurde nach und nach eine Leidenschaft bei den Scheschianern; und je mehr Schwierigkeiten ihnen dabei gemacht wurden, desto heftiger war das Verlangen, Anteil an einer Sache zu nehmen, die ihnen, durch die geheimnisvolle und feierliche Art womit sie behandelt wurde, von unendlicher Wichtigkeit zu sein schien, (ebd.)
Die Umsetzung der aufgeklärten Vernunft soll durch die Errichtung eines Sittenregiments herbeigeführt werden, das zunächst seine Absichten hinter dem Schleier des Geheimnisses verbirgt, dann aber an die Öffentlichkeit tritt, um politische Funktionen zu übernehmen. Dazu bemerkt Danischmend, Tifan hätte kaum auf »ein zweckmäßigeres und zugleich unschuldigeres Mittel verfallen können« (GS 287). Als schließlich »der Dienst des höchsten Wesens in Scheschian der herrschende war«, hebt Tifan, und dies wäre der Augenblick der Gewaltübernahme, »die Pflicht des Stillschweigens« (ebd.) auf. Die Utopie ist eingetreten. Dieses Plädoyer für die Vortrefflichkeit freimaurerischer Planung scheint zunächst Kosellecks anhand einer Interpretation einiger Passagen aus dem »Kosmopoliten«-Aufsatz gefassten Urteil zu bestätigen, Wieland sei in der Tat ein Vertreter der aufklärerischen Ideologie der Geheimbünde gewesen. 163 Dies ist eventuell nur die halbe Wahrheit. Denn kennzeichnend fiir Wielands »launichte Manier« ist, dass jeder Standpunkt, infolge einer alle Bereiche der aufklärerischen Öffentlichkeit durchziehenden Dialektik, durch sein Gegenteil kontrastiert wird. Die Darstellung des Geheimbundmodells der Aufklärung bildet dabei keine Ausnahme. Indem Danischmend zugeben muss, dass auch Tifan, der Idealfiirst, nicht ohne Fehler war, und er auf den kommenden Untergang des Königreiches Scheschian anspielt, deckt er die fatale Dialektik des Geheimbundmodells der Aufklärung auf:
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Kosellecks These klingt in der Forschung vor allem bei Voges nach. Vgl. Voges: Aufklärung und Geheimnis, S. 40Iff.
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Die Unsichtbare Loge: Romanfragment und
Geheimbundmodell
Und glücklich war es fiir dieses Reich gewesen, wofern er [Tifan] eben so viele Behutsamkeit in Bestimmung des Amtes der Priester gezeigt, und nicht durch eben dasjenige, wodurch er sie zu nützlichen Bürgern des Staates zu machen dachte, ihnen die gefährliche Gelegenheit gegeben hätte, in der Folge sich unvermerkt zu Herren desselben zu machen. (GS 287) Wenn Tifan seine Priester der Vernunft »zu öffentlichen Lehrern des Buchs der Pflichten und Rechte« (GS 2 8 6 ) bestellt, hat ihn, so Danischmend, »seine gewöhnliche Klugheit [ . . . ] ein wenig verlassen« (ebd.). Die Priester finden allmählich Mittel, »aus Lehrern des Gesetzes unvermerkt Ausleger zu machen, aus Auslegern Richter, und aus Richtern, zu großem Nachteile der Scheschianer, zuletzt selbst Gesetzgeber zu werden« (GS 2 8 8 ) . Wieland bringt hier die langsame, aber fatale Usurpation der Staatsmacht durch die Geheimbünde genau auf den Punkt. Als Vertreter der Aufklärung, zugleich aber des Geheimnisses, weiten die Ordensbrüder mit priesterlicher Miene ihren moralischen Anspruch auf den Staat, auf die Politik aus. Sie werden, folgert Schach-Gebal, »dem Staate durch ihre Tugenden gefährlich« (GS 2 8 9 ) . An dieser Verschwörung geht der Staat letztendlich zu Grunde. Der an dieser Stelle von Wieland selbst als »Orden« (GS 2 8 8 ) denunzierte Geheimbund baut »eine Art von Ersatzstaat«164
auf, der den aufge-
klärten Absolutismus, vertreten durch Tifan, zu Fall bringt. Bei Jean Paul, in der Unsichtbaren
Loge, kommt der Geheimbund nie dazu,
einen »Ersatzstaat« aufzubauen oder überhaupt einen Einfluss auf das absolutistische Regime im Fürstentum Scheerau auszuüben. Sehen wir von einigen Anspielungen auf die republikanischen Ideen Ottomars ab, kommt die politische Funktion dieser »unsichtbaren Loge« nur indirekt und negativ zur Sprache, durch das Bestreben des Regimes, diese »unterirdische Menschenwelt« (L II, 3 6 4 ) zu unterdrücken und zu bezwingen. Uber die mögliche Rolle dieses Geheimbundes im dritten ungeschriebenen Band des Romans wollen wir hier keine Spekulationen anstellen. Im Romanfragment sollte der Topos des Geheimbundes vor allem als ein Zitat verstanden werden, zumal als ein Gattungszitat, das seine Bedeutung und Funktion vor allem durch die im Roman stattfindenden Gattungsverhandlungen erhält und das daher einen privilegierten Zugang zum Gattungsmaterial des Werkes bietet - in drei wichtigen Hinsichten: zum einen, indem dieser Topos eine Möglichkeit darstellt, zwischen »Biographie«, im Sinne von Erziehungsoder Bildungsroman, und Staatsroman zu vermitteln; zum zweiten, indem durch diesen Topos zwei Gattungen zugleich herbeizitiert werden, die Gattung des trivialen Geheimbundromans und die Gattung des aufgeklärten Staatsroman, die wiederum mit zwei Arten des Zitierens, einer heroischen und einer ironischen, korrespondieren; und zum dritten - und wie im letzten Teil dieser Interpretation zu zeigen ist — indem dieser Topos zu einem, zwar paradoxen Vehikel der diesem
164 \jcq[son: Geheimräte gegen Geheimbünde, S. 23.
Die utopische Insel: Flucht aus dem Roman?
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Roman innewohnenden utopischen Intentionen wird. Diese utopischen Intentionen sind es, die schließlich den Abbruch des Romans, der allerdings schon in dessen aporetischer Gattungstruktur angelegt war, herbeifuhren.
6.6 Die utopische Insel: Flucht aus dem Roman? Kennzeichnend für das politische Denken der Aufklärung ist, laut Koselleck, ein »Hiatus zwischen der moralischen Position und der erstrebten Herrschaft«. 165 Als Beispiel dieser Aporie zwischen Handlungsansprüchen und Handlungsmöglichkeiten könnte in der Unsichtbaren Loge zunächst die Position Ottomars herangezogen werden. In seinem ersten Brief an Fenk fragt er: »Was thut der Mensch?« Und er antwortet selbst: »Noch weniger als er weiß und wird.« (L I, 366f.). Zur Veranschaulichung dieser Unmöglichkeit, in die gesellschaftlich-politische Welt tätig einzugreifen, zieht Ottomar den Topos des >redlichen Mannes am Hofe< als Kernvorstellung aufgeklärter politischer Ideologie heran, um ihre Wirkungslosigkeit zu entlarven. In Fenk erkennt er diesen redlichen Mann, fragt aber: »Sage mir, was verrichten denn vor dem fürstlichen Portrait über dem Präsidentenstuhl oder gar vor einem verschnittenen regierenden Gesicht selbst, dein Scharfsinn, dein Herz, deine Energie?« (L I, 367) Gegenüber der Selbstdarstellungen der absolutistischen Macht kann auch der redliche Mann, so klug und tugendhaftig er auch sei, nichts unternehmen. Ebenso unmöglich ist es, setzt Ottomar fort, als Inhaber eines der »monarchischen Aemtern« (ebd.) zur moralischen Tat zu greifen, die Moral in die Praxis umzusetzen. Am Ende dieser pessimistischen Lagebeschreibung zeigt sich die totale politische Wirkungslosigkeit der politischen Aufklärung darin, dass auch der Fürst, insofern er aufgeklärt und tugendhaft ist, nicht in die Lage kommt, seine guten Vorsätze in praktische Politik umzusetzen, worin ihn vor allem die Mechanismen der absolutistischen Herrschaft hindern: »[S]elbst der Monarch kann nicht mit denen unendlich vielen schwarzen subalternen Klauen und Händen, die er erst als Finger und Griffe an seine Hände anschienen muss, etwas vollendet Gutes tun« (ebd.). Letztendlich ist auch er selbst, Ottomar, von dieser Zeitdiagnose einer totalen Abwesenheit politischer Handlungsmöglichkeiten nicht ausgenommen: »Aber seitdem ists auch mit meinen Planen ein Ende«, stellt er nach seiner lebendigen Begrabung fest, »man kann hienieden nichts vollenden« (L II, 145). Dabei fällt es allerdings auf, dass Ottomar in beiden Briefen auf seine Feststellung der absoluten Unmöglichkeit allen politischen Handelns eine Erklärung seiner Bereitschaft, sein Leben für ein besseres Vaterland hinzugeben, folgen lässt - indem er, wie oben schon zitiert, »mit seinen Räubern die alte Konstitution niederzurennen« und dafür »gehenkt« zu
165
Koselleck: Kritik und Krise, S. 108.
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Die Unsichtbare Loge: Romanfragment und
Geheimbundmodell
werden wünscht. Durch diese Dialektik von Handlungsabstinenz und Revolutionsprognose gibt Jean Paul ein sehr präzises Bild eines schwärmerischen politischen Bewusstseins, das auch im Titan, in der Gestalt Albanos, nachwirkt und zur Debatte gestellt wird. In der Position Ottomars wird das Geheimbundmodell damit auch zu einem Vehikel utopischer Hoffnungen und Wunschvorstellungen, die dem Widerspruch zwischen politischen Ambitionen und fehlenden Verwirklichungsmöglichkeiten entsprungen sind und deren verdeckte Kehrseite die Revolution darstellt. Dass in Jean Pauls Roman eine utopische Intention zu erkennen ist, ließe sich vor allem am Idealbild der »hohen Menschen« und deren »Erhebung über die Erde« (L I, 371) ablesen. Schon die » p e r p e n d i k u l a r e « , im Gegensatz zur » h o r i z o n t a l e [ n ] [ . . . ] Ausdehnung« (ebd.) dieser Metapher, sollte uns jedoch als Hinweis dienen, dass bei Jean Paul etwas anderes gemeint ist, als die »horizontal« ausgerichtete, geschichtsphilosophische Zielprojektion der Zukunftsutopie. Zugleich sollte aber nicht übersehen werden, dass die vier - männlichen - »hohen oder Festtagsmenschen« des Romans gerade dieselben sind, die an der »unsichtbaren Loge« teilnehmen, in die Geheimnisse dieses Bundes eingeweiht sind und sich darüber in verdeckten Wendungen äußern: »Ottomar, Gustav, der Genius, der Doktor [...], weiter niemand« (L I, 370). Im Roman findet also doch ein Zusammenfall von geheimbündlerischen und utopischen Motiven statt, von dem Kollektiv der »hohen Menschen« und dem Kollektiv der Verschwörer. Das Motiv des Sich-Erkennens, dass »hohe Menschen einander in der ersten Stunde kenntlich« (L I, 373) sind, war schon für Wielands paradigmatische Umdeutung des Geheimbundtopos im »Kosmopoliten«-Aufsatz kennzeichnend. Auch die »wahren Kosmopoliten« (TM 105) 1 6 6 können »ohne Schiboleth oder abgeredete Zeichen einander bey der ersten Zusammenkunft erkennen« und sind »sogleich die besten und vetrautesten Freunde« (TM 115f.). In diesem Sinne wird der Geheimbund zu einem Freundschaftsbund entpolitisiert, der als Organisationsform bürgerlicher Männer im ausgehenden 18. Jahrhundert immer mehr um sich griff und dem, laut Helga Brandes, eine »kompensatorische Funktion nicht ganz abgesprochen werden« kann: »Angesichts ihrer gesellschaftspolitischen Ohnmacht finden die bürgerlichen Intellektuellen in ihrem Freundschaftsbund die Möglichkeit zu geistig-emotionalem Austausch.« 167 Andererseits könnte im Freundschafts- und Geheimbund der »hohen Menschen« auch eine »Politik der Freundschaft« 168 erkannt werden, insofern als eben diese Freundschaftsbeziehungen Gustav in eine Verschwörung gegen den absolutistischen Staat verwickeln.
166
der Sigle TM wird zitiert nach: Wieland: Ausgewählte Prosa aus dem Teutschen Merkur. Herausgegeben von Hans Werner Seiffert, Marbach 1963. 1 6 7 Helga Brandes: Art. »Freundschaft«, in Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Herausgegeben von Werner Schneiders, München 2001, S. 140. 168 Yg| J aC q Ues Derrida: Politiques de l'amitie, Paris 1994, bes. S. 253ff.
Die utopische Insel: Flucht aus dem Roman?
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Der Ort des Zusammenfalls dieser beiden Bünde, des Bundes der Freunde und des Bundes der Verschwörer, ist die am Ende der Unsichtbaren Loge eingeführte utopische Insel, die zugleich die erste in einer Reihe von Inseldarstellungen ist, die in den heroischen Romanen Jean Pauls vorkommen und verschiedene Funktionen übernehmen. A u f einen längeren, sich über zehn Sektoren des Romans hinziehenden, durch eine halb »eingebildete«, halb »wahre« (L II, 261) Krankheit des Erzählers verursachten Abbruch der Erzählung folgen sechs »Freuden-Sektoren«. Diese spielen nicht in der höfischen Welt des Fürstentumes Scheerau, sondern in Lilienbad, in einer idyllischen Parklandschaft mit einem heilenden Brunnen, und auf der »Insel Teidor« (L II, 325), einer der schon im 18. Sektor beschrieben, künstlich aufgebauten »Gewürzinsel[] oder Molukken in Scheerau« (L I, 223). In Lilienbad begegnen sich die gesamten Heldenfiguren des Romans, Gustav, Beata, Ottomar, Doktor Fenk, Jean Paul und seine Schwester, die zusammen ein Kollektiv, doch kein heroisches, sondern eher ein utopisch-empfindsames, bilden. Die Heilung des Erzählers ist vielmehr dadurch zu Stande gekommen, dass er der Empfehlung des Doktors Fenk, er solle beim Biografieren einfach einen Sprung aus der Vergangenheit der Personen in deren Gegenwart tun, befolgt hat: »[S]o Reise nach Lilienbad und brauche den Brunnen und den Brunnen-Doktor welcher ich bin. [...] Freue dich, wir gehen einem Paradies entgegen und du bist der erste Autor im Paradiese, nicht Adam« (L II, 280). Die utopische Funktion dieses Inselmotivs lässt sich vor allem an der damit verbundenen Auflösung aller bisher gültigen geographischen und chronologischen Koordinaten des Romans erkennen. Evoziert wird sowohl eine absolute Gegenwart, in der Erzählzeit und erzählte Zeit zusammenfallen, als auch eine absolute Absonderung von der übrigen Welt, die für Freude, Freundschaft und Liebe einstehen soll. Laut Brunner entspricht die utopische Insel Teidor, wie schon Schnabels Felsenburg, dem Typus der »Fluchtutopie«. Dargestellt wird eine »doppelte Innerlichkeit«: zum einen der »Rückzug des Menschen aus der Gesellschaft auf das Ich [...] und in die Gemeinschaft gleichgestimmter Seelen«, zum zweiten der »Rückzug aus der >Welt< in die Isolation der Insel«. 1 6 9 Anhand der Gattungsverhandlungen des Romans und der Konvergenz von Poetologischem und Politischem könnte allerdings eine dritte Flucht, einen dritten Rückzug erkannt werden: die Flucht oder der Rückzug des Erzählers aus dem Roman als pragmatischem Handlungszusammenhang. Dass die Darstellung durch die Reise nach Lilienbad und später nach Teidor die Gattung gewechselt hat, wird vom Erzähler selbst wahrgenommen: Das schönste Beet - sagt ich - ist in diesem Eden das, dass mein Werk kein Roman ist: die Kunstrichter ließen sonst fünf solche Personen auf einmal nimmermehr ins
169
Brunner: Die poetische Insel, S. 163.
280
Die Unsichtbare Loge: Romanfragment und Geheimbundmodell
Bad, sie würden vorschützen, es wäre nicht wahrscheinlich, dass wir kämen und uns in einem solchen Himmel zusammen fänden. Aber so habe ich das wahre Glück, dass ich bloß eine Biographie setze und dass ich und die andern sämmtlich wirklich existieren, auch außer meinem Kopfe. (L II, 280) Die Ähnlichkeit mit dem Ende von Wielands Agathon, im idyllischen Patriarchenrepublik Tarents fällt auf: Beide Episoden werden ad hoc in die Romanhandlung eingeführt, mit der Folge, dass weder die Geographie noch die Chronologie der Romanhandlung erhalten bleibt. Die zitierte Apologie des Erzählers weist ebenfalls offenbare Parallelen zur »Apologie des griechischen Autors« auf, obwohl die Argumentation im gewissen Sinne auf den Kopf gestellt wird: Das Wahrscheinlichkeitsproblem wird nicht mit Hinweis auf den Fiktionscharakter der utopischen Schilderungen gelöst, sondern dadurch, dass der Erzähler auf den biographischen Realitätscharakter des zu Erzählenden besteht. Beide Darstellungen machen weiterhin kenntlich, dass die Konstruktion dieses utopischen ZeitOrt-Gefiiges nur unter Ausschluss der politischen Handlungsebene des Romans stattfinden kann. Bei Wieland behält zwar die Familienidylle in Tarent den äußeren Schein einer politischen Ordnung; bei Jean Paul hingegen haben Schönheit, Freundschaft und Liebe alle politischen Elemente und Funktionen verdrängt. Während Agathon in Tarent bleiben darf, kehren Gustav, Ottomar und Fenk zur politischen Wirklichkeit, zu den Aporien der aufgeklärten Politik und der politischen Aufklärung zurück. Ihnen folgen der Erzähler und damit der Roman, der für die Schlussszene wieder von der Poetologie der utopischen Vollendung zur Poetologie der pragmatischen Unvollendbarkeit überwechselt. Aus dem Bund der Freunde ist wieder ein Bund der Verschwörer, aus dem utopischempfindsamen Raum der Insel ein »Geheimraum« geworden. 1 7 0 Das Eintreffen auf der Insel kommt, wie wir schon bei Schnabel gesehen haben, einer Einweihung in die Mysterien des Ordens gleich; die Absonderung an sich ermöglicht die Selbstvervollkommnung und das Selbstverständnis der Angekommenen als einer neuen Elite. 1 7 1 Dieselbe Dialektik zwischen Absonderung von und Rückkehr zu der Gesellschaft, die wir in der Unsichtbaren Loge erkennen, zeichnet laut Agethen dem Geheimnis als »utopische[r] Insel« der geheimen Gesellschaften aus: 1 7 2 einerseits ist die Reise auf die Insel »die bewusste und freudig auf sich genommene Flucht in einen Freiraum«, 1 7 3 andererseits soll auf der Insel eine alternative politische und pädagogische Ordnung aufgebaut werden, als Antwort auf die Frage, wie »die Mitglieder einer Organisation, die den Keim einer neuen Gesellschaftsordnung in sich trägt [...], zugleich in dieser Gesellschaft,
170 171 172 173
Neugebauer-Wölk: »Die utopische Struktur«, S. 171. Agethen: Geheimbund und Utopie, S. 141 ff. Ebd., S. 141. Ebd.
Die utopische Insel: Flucht aus dem Roman.?
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aber nicht von ihr sein« können. 174 »Nur im Wege der Inselbildung«, schreibt weiterhin Agethen, war es den Geheimbünden möglich, »seine Mitglieder auf die ihnen zukommende historische Rolle der Vorbereitung sozio-politischen Wandels einzustimmen«. 175 Nicht überraschend ist es, dass gerade Ottomar noch auf der Insel Teidor, als das empfindsam-utopische Theater mit »Beatens und des Paradieses Geburtstag« (L II, 336) seinen Höhepunkt erreicht, die Erinnerung an die politische Wirklichkeit und die bevorstehenden Aufgaben, an die »historische Rolle«, wach hält. In der Figur Ottomars zeigen sich sowohl die Gegenüberstellung von dem empfindsam-utopischen Kollektiv der Freunde und dem heroisch-politischen Kollektiv des Geheimbundes als auch die Aufspaltung utopischer und geheimbündlerischer Gattungselemente. Schon im Winter vor der Reise nach Lilienbad hat Ottomars Satirenschreiben eine explizit politische Wendung genommen. Der Erzähler hält ihn »fast für den Verfasser einer Satire über den Fürsten«, in welcher der Staat mit einer »Menschenpyramide« verglichen wird, »wie sie oft die Seiltänzer formieren.« »Die Spitze derselben«, heißt es weiter, »schließe sich mit einem Knaben« (L II, 278). Hinter dieser Metapher lässt sich unschwer die Feudalpyramide erkennen, auf deren Spitze in diesem Fall aber kein Fürst, sondern ein Knabe thront, der - so könnte man das Bild verstehen - nur wegen seines kleinen Körpers für diese Position ausgewählt worden ist. Die Kräftigsten, auf denen die ganze Pyramide ruht, stehen ganz unten. Kaum versteckt ist ebenfalls in dieser Satire die Revolutionsprognostik: Das Volk, schreibt der Verfasser der Satire, »ist zähe und biegsam wie das Graß, werde vom Fußtritt nicht zerknickt, wachse wieder nach«, obwohl »die schönste Höhe desselben für ein monarchisches Auge [...] die glattgeschorne des Park-Grases« sei (ebd.). Durch die Figur Ottomars bricht die politische Wirklichkeit in die Zeitlosigkeit und Ortlosigkeit der Inselutopie Teidor wieder ein, als versteckte Anspielungen auf die bevorstehenden Aufgaben: Gegen Abend flog Ottomar über das Wasser. Er sieht immer aus wie ein Mann, der an etwas Weites denkt, der jezt nur ausruhet, der die hereinhängende Blume der Freude abbricht, weil ihn seine fliegende Gondel vor ihr vorüberreiset, nicht weil er daran denkt. [...] er behauptete die meisten Laster kämen von der Flucht vor Lastern aus Furcht schlimm zu handeln, thäten wir nichts und hätten zu nichts großem mehr Muth - wir hätten alle so viel Menschenliebe, dass wir keine Ehre mehr hätten - aus Menschen-Schonung und Liebe hätten wir keine Aufrichtigkeit, keine Gerechtigkeit, wir stürzten keine Betrüger, keine Tyrannen etc. (L II, 336f.)
Durch Ottomars Diagnose wird das Auseinanderfallen der beiden Bünde, des Bundes der Liebe und der Freundschaft und des Bundes der Verschwörung her-
174
Ebd., S. 142. 5 Ebd.
17
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beigebracht: »Ich«, fügt Ottomar hinzu, »werfe mich lieber in die schaukelnden Arme des Sturms« (L II, 339). Aus dieser klischeehaften Wettermetaphorik wird eine kaum versteckte Revolutionsprognose: »wie Blumen ist der Mensch: je heftiger das Gewitter werden wird, desto mehr Wohlgerüche verhauchen sie vorher« (L II, 339f.). Angesichts dieses absoluten Handlungsanspruchs bleibt den Helden, den »hohen Menschen«, des Romans, einschließlich Gustav, keine andere Alternative als zur politischen Wirklichkeit, und wie wir wissen, zu ihrem eigenen Scheitern zurückzukehren. Daraus folgt, dass auch die im Roman stattfindenden Gattungsverhandlungen auf Teidor nicht zu Ende gekommen, in der Inselutopie steckengeblieben sind, sondern durch die Schlussszene wieder in Bewegung gebracht und - wie oben schon gezeigt — in den Paratexten weitergeführt werden. Zwar ist es dem Autor durch die Introduktion einer geheimen Gesellschaft gewissermaßen gelungen, den Helden des Erziehungsromans, Gustav, in die politische Handlung des Romans zu verwickeln. Aber am Ende ist dafür die Romanhandlung selbst in die Aporie geraten: Zwar kehrt das Kollektiv der Freunde von der utopisch-empfindsamen Insel zurück, doch ehe das Kollektiv des Geheimbunds in Funktion treten kann, werden seine Pläne durch ihre vorzeitige Aufdeckung vereitelt. Als Symptom der Gattungsaporie, in die der Roman geraten ist, hat sogar der Erzähler seinen Posten verlassen müssen — sowie später der Autor seinen Roman verlassen wird — und seiner Schwester bleibt daher die Aufgabe, den Widerspruch zwischen Utopie und Politik sowie zwischen utopischem Roman und Staatsroman auf den Punkt zu bringen: Wir unglücklichen Brunnengäste! es ist vorbei mit den Freuden in Lilienbad. - Die obige Ueberschrift [Letzter Sektor] konnte noch mein Bruder machen, eh' er nach Maußenbach forteilte! denn Gustav liegt da im Gefiingnis. Es ist alles unbegreiflich (L II, 362). Oder anders formuliert: Den letzten »Sektor« konnte noch der Autor schreiben, ehe er sich ganz dem nächsten Roman, dem Hesperus, widmete. Am 26. Februar 1792, in einem Brief an Otto, der das Manuskript der Unsichtbaren Loge begleitete, erklärt Jean Paul, ebenso selbstkritisch wie selbstbewusst: »Übrigens ist dieses Pak ein corpus vile, an dem ich das Romanenmachen lernte: ich habe jetzt etwas Besseres im Kopfe!« (SW III, 1, 346).
7. Hesperus·. Über politischen und poetologischen Machiavellismus
Auf der Suche nach einem Lösungskonzept für die Gattungsaporien der Unsichtbaren Loge gelangt der Erzähler und Hofmeister Jean Paul gegen Ende des Romans — zu spät, wie sich herausstellt — zur Einsicht, dieses Werk sei keine »Biographie«, sondern eine »Poly-Biographie« (L II, 149) und müsste in diesem Sinne vollendet werden. Mehr als ein Jahr früher war ebenfalls der Autor Jean Paul auf die Idee gekommen, den Roman noch einmal zu schreiben, diesmal mit »poly-biographischem« Ausgangspunkt. 1 Dem Gattungskonzept des Erziehungsromans zufolge war zu Beginn der Unsichtbaren Loge das gesamte Interesse auf den Haupthelden Gustav gerichtet. In dem 1 7 9 5 erschienenen Hesperus oder 45 Hundposttage, setzt der Erzähler, der ebenfalls Jean Paul heißt, aber »Berg-Hauptmann« ( S W I, 3, 34) ist und sich auf der in den »ostindischen Gewässern« gelegenen und »ganz vom Fürstentum Scheeram ( S W I, 3, 3 3 ) 2 umgebenen Insel St. Johannis befindet, mit seiner Geschichte ganz anders an. Als »Lebensbeschreiber einer ungenannten Familiengeschichte« ( S W I, 3, 35) ist er bestrebt, schon in den beiden ersten Kapiteln, »Hundposttage« genannt, das ganze Personal des
In einem Brief an J. Chr. K. Moritz vom 12. August 1795 gibt Jean Paul an, der Plan zum Hesperus sei über einem Jahr vor dem Tod Karl Phillips Moritz' (26. Juni 1793) entstanden. Vgl. S W III, 2, 105. Auf Grundlage der Entwurfhefte datiert ebenfalls Bach den Plan auf August oder Anfang September 1792. Vgl. Bach: Jean Pauls Hesperus, S. 2. In Eduards Berends Edition von Jean Pauls Sämtlichen Werken ist die 1819 veröffentlichte, erheblich überarbeitete Ausgabe letzter Hand aufgenommen, in Übereinstimmung mit einem Editionsverfahren, das den »klassischen« Jean Paul zum Ziel hatte und daher heutigen Ansprüchen an einer historisch-kritischen Werkausgabe nicht gerecht wird. Leider habe ich fur diese Arbeit den geplanten, aber noch nicht erschienenen Pilotband zu einer neuen Jean Paul-Edition nicht heranziehen können, in dem der Text zum Hesperus auf der Grundlage aller drei Druckauflagen von 1795, 1798 und 1819 vorgelegt wird. Da Jean Paul für die zweite Fassung, wie er selbst in der Vorrede von 1797 feststellt, vor allem die Geschichte des Romans durch »historische Zusätze« (SW I, 3, 12) verbessert hat, wird dieser genetische Blick auf die Romanentstehung zweifellos auch für die hier ermittelte Frage nach der Bearbeitung vom Gattungsmaterial des Staatsromans im Hesperus von Belang sein. Zur neuen Hesperus-Edition vgl. u. a. Thomas Wirtz: »Der Hesperus als Pilotband einer Edition der Erstausgaben«, in JbJPG 34/1999, S. 20-27; und Barbara Hunfeld: »Glanz der Unebenheit. Aus Jean Pauls »Arbeitsloge« des Hesperus«, in JbJPG 35-36/2001, S. 150-164. Zu den theoretischen und methodischen Grundlagen des Editionsprojektes vgl. auch http://www. uni-wuerzburg.de/germanistik/neu/jp-arbeitsstelle/jpa_hesO 1 .htm.
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Hesperus: Über politischen undpoetologischen
Machiavellismus
Romans vorzustellen. Im zweiten Hundposttag wird der Anfang der sich im Roman ausspielenden Intrige sogar in eine Zeit vor der Geburt des Helden Viktor verlegt, im Sinne einer in der Überschrift benannten, »[v]orsündflutlichen Geschichte« ( S W I , 3, 39). Die Gattungsangabe auf dem Titelblatt ist zwar dieselbe wie in der zweiten, 1822 veröffentlichten und systematisch verdeutschten Ausgabe der Unsichtbaren Loge·. »Eine Lebensbeschreibung«. Unter »Leben« sollte aber nicht nur das Leben Viktors, sondern auch das Leben einer Reihe weiterer Romancharaktere verstanden werden. Als Präzisierung könnte also die Formel, mit der Jean Paul das lateinische Wort »Poly-Biographie« ins Deutsche übertragen will, nämlich »Viel-Lebensbeschreibung« (SW I, 2, 298) herangezogen werden. »Leben« im Singular oder »Leben« im Plural in der Gattungsangabe stellt aber nur eines der vielen Paradoxa dieses Romans dar. Für den zweiten Versuch, einen »heroischen Roman« zu schreiben, greift Jean Paul wieder auf das Gattungsmuster des Staatsromans zurück. Unter den Romanen Wielands und Jean Pauls findet sich wohl kein anderes Werk, in dem eine solche Fülle von Motiven oder Topoi zu finden sind, die dieser Gattungstradition entstammen. Dennoch fehlt es dem Hesperus an jeder gattungsgeschichtlichen Eindeutigkeit. Stattdessen scheint dieses Werk Jean Pauls die Gattungsaporien der Vorgänger zu wiederholen und sogar zu verstärken. Wenden wir uns der Forschung zu, könnte der paradoxe Gattungscharakter des Hesperus am Gegensatz zwischen dem Urteil Harichs, dieser Roman sei »das radikalste Literaturwerk seiner Zeit«, 3 und der Feststellung Harry Verschurens, das wichtigste zeitgenössische Rezeptionsmuster für den Hesperus sei das »Erbauungsbuch« gewesen, 4 abgelesen werden. Diese gattungsgeschichtliche Offenheit verdankt der Roman vor allem den in ihm ausgetragenen Gattungsverhandlungen: Immer wieder werden Motive und Topoi aus der Tradition des Staatsromans herbeizitiert, um dann umgedeutet, parodiert und entpolitisiert zu werden. Sie tauchen als Zitate oder »Attrappen« 5 in einem Roman auf, der offensichtlich seinen »Agathonschen Zwek« jenseits der Gattungskonventionen des aufklärerischen Staatsromans sucht. In diesem Sinne, behauptet Berhorst, ist der Hesperus »mit einer auffallenden Reihe von Kontrafakturen zersetzt«, die das Gattungsmuster des Staatsromans »sehr formbewusst« in Frage stellen. 6 In diesen »Kontrafakturen« scheint Jean Paul geradezu systematisch vorzugehen, als ob er vorhätte, den ganzen Toposkatalog des aufgeklärten Staatsromans durchzuspielen und parodistisch umzuwerten: Das Motiv des verborgenen Prin-
Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung, S. 335. Harry Verschuren: Jean Pauls »Hesperus« und das zeitgenössische Lesepublikum, Assen, Niederlande 1980, S. lOff. Bernhard Böschenstein: »Jean Pauls Romankonzeption«, in ders.: Studien zur Dichtung des Absoluten, Zürich 1968, S. 25. Berhorst: Anamorphosen der Zeit, S. 218.
Hesperus: Über politischen und poetologischen Machiavellismus
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zern, in dem Müller das von Merciers L'an 2440 übernommene »Handlungsgerüst« des Hesperus erkennt, 7 wird durch die Reisen eines überdurchschnittlich erzeugungsbereiten Fürsten verfünffacht und umfasst am Ende sogar den Erzähler selbst. Die >Fürstenerziehungredlichen Mann am Hofe< ist damit ein Hofarzt geworden, der den hypochondrischen Fürsten in Sachen Krankheit berät und auf diese Weise zu einem gewissen Einfluss gelangt. Das >GeheimbundmodellStaatsaktion< kommt, als einer der Fürstensöhne, mit dem römisch-republikanischen Pseudonym »Kato der Ältere«, von Flamins »FreiheitsDithyrambus« so beeindruckt ist, dass er »den Pulvethurm bei Maienthal [...] ins Gewitter sprengt[...]« (SW I, 4, 265), sollte darin eher eine Steigerung des rhetorischen Ausdruckes als ein reales Handlungselement des Romans erkannt werden. Der ebenso topologische >Sieg der Moral· ist allerdings nicht weit entfernt: Es folgt die »große schöne Erkennung« (SW 1,4, 324), indem der Lord dem Fürsten dessen Söhne vorstellt und der Fürst diese bürgerlich erzogenen, republikanisch gesinnten Aufklärer zu Ministern des Fürstentums macht. Eins nach dem anderen werden auf diese Weise die Topoi des Staatsromans in parodistische Zitate umgedeutet, welche die »erbaulichen« Elemente des Romans, die zwischen Diesseits und Jenseits ausgespannten »Liebes-, Freundschafts- und Naturerlebnisse«, um so deutlicher hervortreten lassen. 8 Als ob er jedoch nicht überzeugt wäre, dass seine Leser die parodistischen und entpolitisierenden Absichten seines Romans erkennen würden, bringt Jean Paul im 32. Hundposttag gleich nacheinander zwei Passagen, in denen er diesen gattungsgeschichtlichen Vorgang emblematisch zur Schau stellt. Das erste Beispiel stellt die Rede Viktors im republikanischen Klub dar, durch die er »seine republikanische Orthodoxie außer Zweifel [...] setzen« soll (SW I, 4, 119), aber in der er in Wahrheit ein Paradestück der Entpolitisierung der Politik durch eine aufklärerisch-empfindsame Moral vorträgt:
Müller: »Der verborgene Prinz«, S. 34. Verschuren: »Hesperus« und das zeitgenössische Lesepublikum, S. 14.
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Hesperus: Über politischen
undpoetobgischen
Machiavellismus
Kein Staat ist frei, als der sich liebt; das Maß der Vaterlandsliebe ist das Maß der Freiheit. [...] der Bürger liebt schon mehr den Menschen im Bürger als der Bruder ihn im Bruder, der Vater im Sohn. Vaterlandsliebe ist nichts als eine eingeschränkte Weltbürgerliebe; und die höhere Menschenliebe ist des Weisen große Vaterlandsliebe für die ganze Erde. (SW I, 4, 119f.)
Angeregt durch Viktors Dekonstruktion des politischen Freiheitsbegriffs in ein zugleich subjektives und globales Liebesgefiihl bricht der Erzähler in die Handlung ein, um dazu das gattungsgeschichtliche Gegenstück zu liefern: die Dekonstruktion der Gattung des Staatsromans. Stellt politische Freiheit letztendlich nur eine, zwar sehr gesteigerte Form der Liebe dar, hat logischerweise das Gattungsmuster des Staatsromans seine Rolle ganz ausgespielt. Zum Thema der Liebe kann sich der Dichter viel besser in anderen literarischen Gattungen, zumal in anderen Romangattungen äußern. Das Gattungsmaterial des Staatsromans kann daher höchstens als Anlass zum ironischen Spiel des Erzählers dienen: Ich gesteh' es, ich habe unter dem ganzen Klub wieder den närrischen Gedanken gehabt, [...] es sei möglich daß ich etwan - da in der orientalischen Geschichte die Beispiele davon tausendweise da sind - gar ein unbekannter Knäsensohn oder Schachsohn oder etwas Ahnliches wäre, das für den Thron gebildet werde und dem man nur seine edle Geburt verstecke, um es besser zu erziehen. So etwas zu überlegen ist Tollheit; aber so viel ist doch richtig, daß aus der Universalhistorie die Beispiele nicht auszukratzen sind, wo mancher bis in sein 28stes Lebensjahr - ich bin um zwei Jahr älter - nicht ein Wort davon wusste, daß ein asiatischer oder anderer Thron auf ihn warte, wovon er nachher, wenn er daraufkam, prächtig herunterregierte. (SW I, 4, 123)
Indem er mit dem »närrischen Gedanken« spielt, dass er selbst ein verborgener Prinz sein könnte, gibt der Erzähler eine Synopsis einer archetypischen Fürstenspiegel- oder Staatsromaninintrige, die in einem orientalischen Land spielt und in der ein junger Mann in Unkenntnis seines hohen Standes erzogen wird, ehe er in seinem achtundzwanzigsten Lebensjahr erfährt, dass ein Thron auf ihn wartet. Sogar der Schritt in die aufgeklärt-absolutistische Utopie wird vom Erzähler nachvollzogen, wenn er feststellt, dass der bürgerlich erzogene Prinz nach seiner Machtübernahme vom Thron »prächtig herunterregierte« und damit den Beweis einer guten Erziehung in der Form einer guten Regierung brachte. Unter der »Tollheit« dieser Vorstellung ließe sich weiterhin eine Anspielung auf Cervantes' Don Quichotte oder Wielands Don Sylvio erkennen, auf klassische »Anti-Romane«, in denen sich die schwärmerischen oder, mit Genette, »delirischen« Hauptpersonen für Helden einer Rittererzählung oder eines Feenmärchens halten. Bei Jean Paul ist es allerdings nicht der Held, sondern der Erzähler, der delirisch geworden ist und sich vorgaukelt, er wäre selbst der Held eines Fürstenspiegelromans oder eines Staatsromans. Die Tatsache, dass sich diese »Tollheit« letztendlich als die Wahrheit, sich der Erzähler als der fünfte verlorene Fürstensohn herausstellt, setzt lediglich das ironische Spiel mit dem Gattungsmaterial auf einer neuen Ebene fort. In diesem Sinne scheint der »närrische
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Machiavellismus
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Gedanke« des Hesperus-Εrzäh 1 ers auch der Absicht des Hofautors Oefel in der Unsichtbaren Loge verwandt zu sein, Gustav ohne sein Wissen zum »Großsultan« auszubilden. In den Gattungsverhandlungen beider Werke übernimmt das Gattungsmuster des Staatsromans die Funktion eines negativen, parodistisch formulierten Zerrbildes, von dem sich Autor und Erzähler mit eigenen literarischen Absichten absetzen wollen. Zu bemerken ist dabei aber nicht zuletzt das explizite und explizierbare Gattungsbewusstsein, das der Autor Jean Paul an den Tag legt, indem er die Konventionen und Topoi des Staatsromans auf zehn Zeilen narrativ zusammenfasst, als Wunschdenken seines Erzählers. Zu behaupten, das Gattungsmaterial des Staatsromans und die damit verbundenen Verhandlungen über poetologische und politische Konventionen und Intentionen hätten damit ihre gattungsgeschichtliche Relevanz für den Hesperus eingebüßt, wäre allerdings übereilt. Stattdessen sollte in diesen Kontrafakturen und ironischen Distanzierungen ein Versuch des Autors erkannt werden, seine eigenen gattungsgeschichtlichen Innovationen umso deutlicher hervortreten zu lassen. Nach der Französischen Revolution hat sich der Konflikt zwischen absolutistischer Politik und aufklärerischer Moral derart zugespitzt, dass die Vermittlungsversuche früherer Werke, zumal des Agathon und des Goldnen Spiegels, fortan als obsolet erscheinen müssen. Die Topoi, die eine solche Vermittlung zu Stande bringen sollten, können nunmehr lediglich als Versatzstücke, als Zitate einer früheren gattungsgeschichtlichen Tradition und Situation wahrgenommen werden. In seinem zweiten heroischen Roman versucht Jean Paul, über diese Funktionslosigkeit der Konventionen des aufgeklärten Staatsromans hinauszukommen, um die Aporien und Paradoxe der neuen politischen und poetologischen Situation narrativ und diskursiv durchforschen zu können. Für diese Zwecke braucht er allerdings eine neue Romanfigur, die nicht der verborgene Prinz, auch nicht ein redlicher Mann am Hofe oder ein Mitglied einer geheimen Gesellschaft ist, sondern ein planender und handelnder, genuin politischer Mensch, der auch ein neues politisches Denk- und Handlungsmuster vertritt, in dem der immer mehr zugespitzte Konflikt zwischen Absolutismus und Aufklärung, zwischen dem ancien regime und der neuen bürgerlichen Welt zum Vorschein kommt. Diese neue Romanfigur, so die These der vorliegenden Interpretation, ist in Jean Pauls Hesperus der englische Lord Horion, Pflegevater Viktors und Ratgeber des Fürsten von Flachsenfingen; das neue Denk- und Handlungsmuster ist der durch den Lord vertretene Machiavellismus, das Prinzip der Staatsräson, das im 18. Jahrhundert zu einer der größten Herausforderungen aufklärerischen politischen Denkens überhaupt aufsteigt. Zu einem Gegenstand der im Hesperus geführten Gattungsverhandlungen wird der Machiavellismus des Lords dadurch, dass dieses Prinzip im Roman sowohl eine politische als auch eine poetologische Funktion erfüllt, die beide hier untersucht werden. Im folgenden Kapitel wird zunächst die Machiavelli-Rezeption u n d der Antimachiavellismus deutscher Dichter und Denker des 18. Jahrhunderts als Vor-
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Hesperus: Über politischen und poetologischen Machiavellismus
läge sowohl für die Figurenkonzeption als auch für die von der Figur des Lords untrennbare Intrigenkonzeption in Jean Pauls Hesperus aufgegriffen (7.1). Infolge dieses politischen und poetologischen Machiavellismus des Hesperus gerät jedoch der Roman in eine Aporie von narrativer Notwendigkeit und moralischer Unverantwortbarkeit, die vor allem in den Diskussionen über den Charakter des Lords zum Vorschein kommt (7.2). Diese um die Figur des Lords kreisenden, poetologischen und politischen Verhandlungen werden in der satirischen Abhandlung über Vertrag und Vertragsbruch im »Ersten Schalttag« weitergeführt, die ebenfalls als ein Kommentar des Erzählers zur Figur des Lords zu lesen ist (7.3). Objektive Form gewinnt die Denk- und Handlungsweise des Lords wiederum vor allem im Motiv der »Insel der Vereinigung«, das auch einen Brennpunkt der politischen Metaphorologie des Romans darstellt. In den politischen Metaphern der »Maschine« und des »Geheimnisses« kann dabei eine Schnittstelle zwischen Absolutismus und Aufklärung erkannt werden (7.4). Dieser Bruch zwischen Altem und Neuem, zwischen Vergangenheit und Zukunft sowie zwischen Staatsräson und Utopie gibt letztendlich Anlass zu einer geschichtsphilosophischen Reflexion, in der die Gegenwart als Instanz einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wahrgenommen wird (7.5). Zunächst wenden wir uns aber der Figur des Lords zu, als Konvergenzpunkt der im Roman wirksamen Prinzipien des Staatsromans und der Staatsräson.
7.1
Machiavellismus und Gattungsgeschichte: Der Lord, Staatsräson und Staatsroman
Zu den Schlüsselfiguren von Jean Pauls zweitem heroischem Roman Hesperus oder die 45 Hundposttage gehört nicht zuletzt der englische Lord, Horion, der am Anfang des Romans als Vater des Romanhelden Viktor und als Ratgeber des Fürsten Januar von Flachsenfingen vorgestellt wird. Wenn die Handlung des Romans beginnt, kehrt Viktor in den kleinen Badeort St. Lüne zurück, um seinen Vater — der, wie sich später herausstellt, eigentlich nur sein Pflegevater ist — am Star zu operieren. Nach gelungener Operation führt der Lord seinen Sohn am Hofe des kleinen deutschen Fürstentums ein und verschafft ihm eine Stelle als fürstlicher Leibarzt. Kurz danach reist der Lord nach England zurück, um den fünften verschollenen Sohn des Fürsten von Flachsenfingen zu suchen, während Viktor in Flachsenfingen und in St. Lüne bleibt. Am Ende des Romans kehrt der Lord ins deutsche Fürstentum zurück, um Klarheit über einige bisher sehr unüberschaubare Vorgänge am fürstlichen Hof zu bringen, ehe er sich auf die »Insel der Vereinigung« zurückzieht, und sich umbringt. Die letzten Worte des Romans sind das mit weißen Buchstaben auf schwarzen Marmor eingeschriebene Epitaph des Lords: »Es ruht« (SW 1, 4, 332). Auffällig ist dabei der Kontrast zu den Schlussworten der Unsichtbaren Loge, »Er lebt noch«, wodurch der
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Unterschied zwischen Abbruch und Vollendung eines Romans formelhaft zur Sprache gebracht wird. Das Epitaph des Lords amalgamiert mit dem darauffolgenden Paratext »Ende des Buches« zu einer bündigen Schlussformel, die den zweiten heroischen Roman den Lesern emphatisch als ein vollendetes Werk vorstellen will. Mehr als eine Schlüsselfigur des Hesperus könnte man den Lord daher eine >Rahmenfigur< nennen, denn sein Leben scheint in der Tat die Handlung des Romans zu >umrahmenRepubIikHesperusFreudenbechern Über die einzige Glückverheißung der Hundposttage«, in ders./Stefan Niehaus: Critica poeticae. Lesarten zur deutschen Literatur, Würzburg 1992, S. 151. Werner Neil: Poetische und historische Synthesis. Jean Pauls Kritik der höfischen Gesellschaft im poetologischen Kontext seiner Romane, Frankfurt am Main 1987, S. 185f. Gert Ueding: Jean Paul, München 1993, S. 93. Vgl. dazu ζ. B. Böschenstein: »Jean Pauls Romankonzeption«, S. 33f.
Machiavellismus
und Gattungsgeschichte: Der Lord, Staatsräson und
Staatsroman
291
So stellt sich Jean Pauls >Fabulieren< dar: seine Unlust dazu, seine Mißachtung des »Erzählstoffes« bekunden sich drastisch in der Mühe, mit welcher er die Romanhandlung eher sammelt als erfindet, in der Unsicherheit, mit der er nach Motiven greift, in der gelegentlichen Krudheit der Stoffe, mit denen er sich begnügt. Er verarbeitet nicht nur das typische Material der Romanarten, die das 18. Jahrhundert bevorzugt hat, des komischen, empfindsamen, Erziehungs- und Entwicklungsromans; ihm sind auch die trivialliterarischen Requisitenkammern des Schauerromans ergiebige Fundstätten, und die Staats- und Liebesromane höfisch-heroischer Herkunft versorgen ihn mit Intrigen aus dem Leben und Treiben duodezftirstlicher Hofhaltung und Politik. 1 6
Handlung, Fabel oder Geschichte sei bei Jean Paul lediglich »Material«, »Requisitenkammer« und Intrigenversorgung, also etwas, was nicht zum eigentlichen Roman gehört, sondern etwas Äußerliches, was zwar dem übrigen Romandiskurs als Vehikel dienen kann, ohne ihn aber auf sinnfällige Weise zu beeinflussen. 17 Zu den wenigen Kommentatoren, die auch die Funktion der Romanhandlung im Hesperus betont haben, gehören Harich und Rüdiger Scholz, die wiederum zwei ganz unterschiedliche Ansätze zur Interpretation des Werkes bieten und von denen keiner wesentlich auf die Figur des Lords eingeht. Für Harich läuft der Aufbau des Romans auf eine »tiefgreifenden Umwälzung der deutschen Zustände« hinaus. 18 Zwar muss dieses Zusammentreffen verschiedener Ereignisketten als ein »extremer Glücksfall« beschrieben werden, aber die Kohärenz des Romans wird doch als ein »Happy end nicht allein für die Romanfiguren, sondern für Staat und Volk im ganzen« wahrgenommen. 1 9 Für Scholz ist die Romanhandlung ebenfalls alles andere als »unsinnig« und »bedeutungslos«; 20 er sucht aber ihre Kohärenz nicht im ideologischen Inhalt: »Jean Pauls Fabeln dienen der Darstellung der geistigen Figurenkonstellationen. Daher kann die Fabel vordergründige Unstimmigkeiten enthalten, aber in der geistigen Dimension ist sie immer schlüssig«. 21 Diese beiden auf die Stimmigkeit des Werkes bedachten Interpretationen wiederholen auf diese Weise die beinahe klassische Distinktion von Geist und Tat, die ein wiederkehrendes Motiv der Jean Paul-Forschung darstellt. In seiner Erforschung der Fabel kommt Scholz auch auf das Gattungsmuster des Staatsromans zu sprechen. Zunächst will er im Hesperus »einen Entwick-
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Wülfel: »Leben, Werk, Wirkung«, S. 31. Vgl. auch ders.: »Die Unlust zu fabulieren. Uber Jean Pauls Romanfabel, besonders im Titan«, in ders.: Jean Paul-Studien, Frankfurt am Main 1989, S. 5 1 - 7 1 . In diesem Sinne spricht de Bryun von einer »Hintertreppenfabel«. Siehe Bruyn: D a s Leben des Jean Paul Friedrich Richters, S. 135. Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung, S. 169. Ebd. Rüdiger Scholz: Welt und Form des Romans bei Jean Paul, Bern/München 1973, S. 91. Ebd., S. 98.
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Hesperus: Über politischen und poetobgischen Machiavellismus
lungsroman mit breit ausgeführter Liebesgeschichte«22 erkennen, in den sich die mit der Figur des Lords verbundenen, dynastisch-politischen Verwicklungen nur schwierig integrieren lassen. Um die Paradoxa und Widersprüche des Romans zu erklären, geht er dann auf die These ein, »der Hesperus sei als Staatsroman geplant, aber nicht voll durchgeführt«. 23 Die Indizien dafür seien vor allem die Darstellung Januars als eines typischen schwachen Herrschers und das Auftreten des revolutionären Klubs. Gegen diese These spreche aber, so Scholz in indirekter Polemik mit Harich, vor allem die ganz ausbleibende Neuordnung des Staatswesens: Am Ende des Romans haben weder Revolution und noch Reformen stattgefunden. Januar ist immer noch der herrschende Fürst, Flamin sein designierter Nachfolger. Im Gegensatz zur Unsichtbaren Loge sei der Hesperus auch kein Fragment, »von dem man annehmen kann, dass eine Fortsetzung die Neugestaltung des Staatswesen in den Vordergrund gestellt hätte«.24 »Der Plan eines Staatsromans«, folgert Scholz, »ist auszuscheiden«. Sicherlich ist Hesperus kein Handlungsroman im strengen Sinne, auch kein unvollendeter Staatsroman. Trotzdem ist gerade der »Plan eines Staatsromans« nicht ohne weiteres aus der Interpretation auszuscheiden. Allerdings wird unter »Staatsroman« nicht, wie bei Scholz, ein klassifikatorisches Paradigma, sondern ein in den Roman selbst eingeschriebenes gattungsgeschichtliches Material verstanden, ein System von Strukturen, Bedeutungen und Sprechakten, über die im Roman selbst verhandelt wird. Anhand des Agathon, des Goldnen Spiegels und der Unsichtbaren Loge ist gezeigt worden, wie das Gattungsmuster des Staatsromans mit zentralen politischen Fragen des aufgeklärten Absolutismus verknüpft ist, oder anders formuliert, wie poetologische und politische Fragestellungen in diesen Romanen, zumal in den ihm innewohnenden Widersprüchen und Aporien, konvergieren und zur Deckung kommen. Durch die Frage nach der Funktion dieses Gattungsmusters im Hesperus wird ein weiterer Gegenstand politischer Reflexion in den Vordergrund gerückt, in dem ein Konvergenzpunkt von Poetologie und Politik, von Gattungsverhandlungen und Politikverhandlungen zu erkennen ist. Dabei geht es um das Problem, um den »Dämon« 25 des Machiavellismus oder der Staatsräson, der in der Rahmenfigur und dem Handlungsträger des Lords Horion eine seiner komplexesten und interessantesten Repräsentationen in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts findet. Der Antagonismus von Aufklärung und Machiavellismus wird bei Friedrich Meinecke in seiner klassischen Monographie zur Ideengeschichte der Staatsrä-
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Ebd., S. 93. Ebd. Ebd. Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. Herausgegeben von Walther Hofer [=Werke. Band I], München 1963 [1924], S. 321.
Machiavellismus und Gattungsgeschichte:
Der Lord, Staatsräson und Staatsroman
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son paradigmatisch dargestellt, die daher - trotz ihrer vielen Blindflecken 26 - als Ausgangspunkt für die folgende Diskussion dienen wird. Galt im 17. Jahrhundert, so Meinecke, noch »die böse Staatsräson [...] als leidliche Selbstverständlichkeit«, gegen die der Realismus der Zeit »keine neuen, stärker und tiefer bewegenden Lebensideale« zu setzen hatten, wurde im 18. Jahrhundert durch den Vernunftglauben der Aufklärung »das Ideal eines von Aberglauben und rohem Despotismus befreiten, zu irdischen Glück und Wohlstand bestimmten Daseins« geschaffen, der unter dem neuen Schlagwort der »Humanität« gegen die Staatsräson, gegen das ganze »Wesen der Machtpolitik« zu Felde zog: 2 7 Hier war doch eine Sphäre, die noch ganz getrennt von den übrigen Lebensgebieten in Dunkel gehüllt dalag während jene schon von der Sonne der Aufklärung beschienen waren. Sollte es nicht möglich sein, auch diese Sphären zu erobern, zu reinigen, zu entbarbarisieren und mit Vernunft zu durchdringen? [... ] Dann entwickelte sich das interessanteste Schauspiel der Zeit in dieser Auseinandersetzung zwischen Ideal und Wirklichkeitssinn. Dann wurden die Aufklärungsgedanken in ihrem Kampfe gegen den Dämon der Staatsräson auf die Kraftprobe gestellt. 28
Nicht zuletzt ist in der Gegenüberstellung von »Ideal« und »Wirklichkeitssinn« eine Fragestellung zu erkennen, die diese Arbeit von Anfang an begleitet hat und die bei Meinecke zum »interessantesten Schauspiel der Zeit« hochstilisiert wird. Das Aufkommen dieses zur Dämonisierung tendierenden Antimachiavellimus der Aufklärung wird bei Koselleck ebenfalls nachgezeichnet. In seiner Studie zur Entstehung der bürgerlichen Welt zeigt er, wie der Fürstenstaat im 15. und 16. Jahrhundert einen überreligiösen, rationalen Handlungsbereich herausbildete, der »staatlich-politisch« bestimmt war und in der »Lehre von der Staatsraison seinen theoretischen Ausdruck« fand. 29 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war allerdings der religiöse Bürgerkrieg als historische Begründung dieses Staatsdenkens in Vergessenheit geraten. In den Augen der Aufklärer, die um eine Politisierung der Moral und damit eine Moralisierung der Politik bemüht waren, erschien daher die Staatsräson als »das Unmoralische schlechthin«. 30 Ohne an dieser Stelle weiter auf die Geschichte der Idee der Staatsräson einzugehen, wird festgestellt, dass sie einen durchaus komplexen staatsrechtlichen und philosophischen Gegenstand darstellt, dessen Rezeption in Traktaten dieser Art uns aber hier nicht weiter beschäftigen wird. Hier interessiert lediglich dieser
26
Für kritische Besprechungen der Darstellung Meineckes vgl. vor allem Michael Stolleis: »Friedrich Meineckes >Die Idee der Staatsräson« und die neuere Forschung«, in ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main 1990, S. 1 3 4 - 1 6 4 ; und Peter Nitzschke: Staatsräson kont-
27
Meinecke: Die Idee der Staatsräson, S. 322. Ebd., S. 324. Koselleck: Kritik und Krise, S. 12. Ebd., S. 3 1 .
ra Utopie?, S. 5 5 f f .
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Hesperus: Über politischen und poetobgischen
Machiavellismus
»Dämon der Staatsräson« oder dieses »Unmoralische schlechthin« als wirkungsvolles Zerrbild und Lieblingsprovokation der breiteren deutschen aufklärerischen Öffentlichkeit, zumal der literarischen. In den Vordergrund rücken dabei weniger staatsrechtliche Aspekte - mit der Ausnahme der Vorstellung des Vertrages und des Vertragsbruches, wie wir gegen Ende dieses Kapitels sehen werden - sondern vor allem die anthropologischen und moralphilosophischen Bestimmungen. Zum Zerrbild des Machiavellismus gehört zunächst ein Menschenbild, das dem Trieb zur Selbsterhaltung in den Menschen den Vorrang vor Wahrheit und Vernunft gewährt und als das tiefere Motiv allen menschlichen Handelns allein das Streben nach Macht erkennt. 3 1 Diese Anthropologie hat bereits Wieland für seine Darstellung des bösen Fürsten Isfandiar im Goldnen Spiegel funktional gemacht. Aus diesem Menschenbild ergibt sich wiederum ein Bild der menschlichen Gesellschaft als einer Welt der kämpfenden Machtwillen, in der es nicht nur erlaubt, sondern geboten ist, nach einer »technisch-rationalen wie menschlich-funktionalen Zweck-Mittel-Setzung« zu handeln, also nach einer reinen »Nützlichkeitsdoktrin«, die alle Normen und Werte ausblendet. 3 2 Ebenso wie der Begriff oder die Vorstellung der »Staatsräson« eine Chiffre für diese »Dämonie der Macht« 3 3 darstellt, wird Niccolo Machiavelli, der italienische Philosoph und Politiker des 16. Jahrhunderts, zu deren Galionsfigur. Den Gedanken, den es zu widerlegen galt, fanden die Aufklärer vor allem in seinem klassischen, 1 5 1 3 erschienenen Werk zur Regierungskunst II principe,
in dem
Machiavelli eine Art Realpolitik und Machtpolitik propagierte, die das christlich-humanistische Tugendideal der Zeit außer Kraft setzte und das in der Rezeption des 18. Jahrhunderts zum Inbegriff einer amoralischen Politik stilisiert wurde. Als nahezu emblematisch gilt daher in der Rezeption die Aussage, mit der Machiavelli die Originalität und zugleich die Amoralität seiner Gedanken auf den Punkt bringt und die in der Aufklärung immer wieder für Entrüstung sorgt: »Daher m u ß ein Fürst, wenn er sich halten will, lernen schlecht zu sein und davon je nach Bedarf gebrauch machen.« 3 4 Inwiefern dieser Rat tatsächlich als Handlungsmaxime des Lords in Jean Pauls Hesperus gelten kann, wird später erörtert. Zunächst werden allerdings zwei andere Texte herangezogen, die fur die Spanne und den Ton der Machiavelli-Rezeption der deutschen Aufklärung paradigmatisch sind. Zum einen geht es um die Charakterisierung der »Machiavellisten« in Zedlers Universallexikon
von 1739:
Als »Machiavellisten«, wird hier festgestellt,
31 32 33
34
Vgl. dazu Kondylis: Die Aufklärung, S. 131f. Nitzschke: Staatsräson oder Utopie, S. 43. Vgl. den Titel des klassischen Werks Gerhard Ritters: Die Dämonie der Macht. Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit. 6. Auflage, München 1948. Niccolo Machiavelli: Der Fürst. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Dr. Friedrich Blaschke, Leipzig 1924, S. 59.
Machiavellismus und Gattungsgeschichte: Der Lord, Staatsräson und Staatsroman
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werden diejenigen falschen Staatisten genennet, welche politischen Principien haben, daß ein Fürst alles sein Thun einzurichten, daß er nur fur seine Person mächtig, reich und souverain werde. Er habe sich an kein Recht und Gewissen zu binden; sondern was ihm nach seinen Affecten beliebte, das sey Recht, daß also nach diesen Principien Untreu, List, Gewalt als Staats-maximen angegeben werden. 35
Nur ein Jahr nach diesem Lexikoneintrag, allerdings unter ganz anderen Bedingungen, erscheint zunächst in Amsterdam, dann in Kopenhagen eine Schrift, welche die Lehre Machiavellis systematisch in allen Punkten zu widerlegen gedenkt. Dies wäre an sich nichts Aufsehenderregendes, wenn nicht hinter dem zunächst anonymen Autor dieser 1740 erschienenen Schrift, die den viel sagenden Titel Anti-Machiavel, ou essai de critique sur leprince de Machiavel trug, der preußische Kronprinz auszumachen wäre, der schon im selben Jahr seinem Vater auf dem Thron nachfolgen sollte. In der Vorrede seiner auf Französisch verfassten Abhandlung stellt der junge Friedrich, der spätere Friedrich II., mit großem rhetorischem und moralischem Pathos, den Lesern seinen Wunsch vor, prendre la defense de l'humanite contre ce Monstre qui veut la ditruire, [...] opposer la raison et la justice au sophisme et au crime [...]. 3 6
Dass in der Tat das Leben und Schreiben Friedrichs II., im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen Machiavellismus und Antimachiavellismus, eine wichtige Quelle für literarische Motive und politische Reflexionen in Jean Pauls Hesperus darstellt, wird später erörtert. Sowohl bei Wieland als auch bei Jean Paul können mehrere Romanfiguren identifiziert werden, die auf der Basis dieser Machiavelli- und Machivellismus-Kritik im 18. Jahrhundert konzipiert sind und die in der Tat zu »Untreu, List, Gewalt« oder zu »Betrug und Verbrechen« greifen, um ihre Ziele zu erreichen. Im Agathon ist es, wie wir oben gesehen haben, vor allem der Philosoph Hippias, im Goldnen Spiegel vor allem der böse Fürst Isfandiar, die in den Kontext der Machiavellisten gehören. In beiden Figuren findet weiterhin eine Verschränkung von politischem Machiavellismus und philosophischem Materialismus statt, die auch für den Lord im Hesperus kennzeichnend ist und die in einem späteren Kapitel aufgegriffen wird. Der Lord unterscheidet sich jedoch von diesen Romanfiguren Wielands in zwei Hinsichten: zum einen ist er kein Bösewicht, kein »Dämon« oder »Ungeheuer«, sondern neben Viktor, Klothilde und Emmanuel/Dahore einer der Helden des Hesperus-Romans; zum zweiten ist er der Träger der Handlung des Romans, dessen Leben die erzählte Geschichte umrahmt und dessen Pläne und Handlungen die Intrige vorantreiben.
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Johann Heinrich Zedier: Art. »Machiavellismus«, in ders.: Großes vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 19, Halle/Leipzig 1739, Sp. 103. Friedrich II: Anti-Machiavel, S. 3.
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Hesperus: Über politischen und poetologischen
Machiavellismus
Eben diese narrative Funktion der Figur des Lords könnte durch einen Vergleich mit der Figur Oefels in der Unsichtbaren Loge veranschaulicht werden, der ebenfalls in seinen manipulatorischen Plänen, Gustavs Leben nach seinen Zwecken zu lenken, machiavellistische Züge aufweist. Beide Figuren, der Lord und Oefel, haben gemeinsam, dass sie die anderen Personen in den Romanen dazu bewegen wollen, Bestimmtes zu tun oder nicht zu tun und eine Reihe von Mitteln, Verstellung, List, Manipulation und, im Falle des Lords, sogar eine »Entführung« anwenden, die im krassen Widerspruch zu den aufklärerischen Idealen von Tugendhaftigkeit, Offenheit und Vernunft stehen. Sowohl in ihrer Planung als auch in der Verwirklichung ihrer Pläne gehen beide Charaktere manipulatorisch, konspiratorisch und instrumentalistisch vor, indem sie sich verstellen, hinter dem Rücken der anderen Personen agieren oder, im Sinne eines Widerrufs des Kantschen Imperativs, andere Menschen als Mittel gebrauchen, um ihre Ziele zu erreichen. Diese Parallele zwischen dem Lord und Oefel wird aber nicht weiter verfolgt, denn beide Figuren sind gerade in ihrem »geistigen« Inhalt, um mit Scholz zu reden, diametrale Gegensätze. Der Lord ist in gewissem Sinne eine Heldengestalt, die aus guten Absichten handelt und die die Regierung Flachsenfingens nach aufgeklärten politischen Idealen reformieren will. Oefel ist dagegen ein idealtypischer Höfling, dessen einzige Motivation der reine Opportunismus ist und der keinen Wunsch hat, am Bestehenden irgendetwas zu ändern. Ebenfalls unterscheiden sich die Endzwecke ihrer Pläne und Handlungen: bei Oefel geht es um das Schreiben eines Romans, beim Lord um die Neuformung eines Staatsgebildes. Eben diese Konvergenz von literarischem Schreiben und politischem Handeln, oder in der Sprache des Kapiteltitels, von politischem und poetologischem Machiavellismus deutet allerdings auf die zentrale Fragestellung der vorliegenden Darstellung hin: Wie, auf welche Art und Weise geht das politische Problem des Machiavellismus im Denken der Aufklärung mit dem poetologischen Problem des Staatsromans in der Gattungsgeschichte des späten 18. Jahrhunderts einher? Gattungsgeschichtlich, könnte man behaupten, haust der »Dämon der Staatsräson« im Gattungsmuster des Staatsromans, der sich, wie oben anhand der Wissenschaftsgeschichte dieses Gattungsbegriffes gezeigt wurde, durch seinen »Wirklichkeitssinn«, um mit Meinecke zu sprechen, vom »Ideal« des Utopischen absetzt. Staatsräson und Utopie haben sich, so Nitzschke, im 16. Jahrhundert als »zwei Diskursprinzipien« herausgebildet, die jeweils in Machiavellis Ii principe von 1513 und in Thomas Morus' Utopia von 1516 ihre archetypischen Ausprägungen fanden. 37 Nicht zuletzt durch ihre Konkretisation in diesen beiden kanonischen Werken ist die »antagonistische Rivalität zwischen machiavellisti-
37
Nitzschke: »Der doppelte Sieg der Nützlichkeit«, in Monika Neugebauer-Wölk/Richard Saage (Hg.): Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution, Tübingen 1996, S. 27.
Machiavellismus
und Gattungsgeschichte: Der Lord, Staatsräson und Staatsroman
297
sehen und utopischen Denken«, 3 8 die Nitzschke vom 16. bis ins 18. Jahrhundert verfolgt, zu einem Faktor der Gattungsgeschichte geworden - wobei die beiden »Diskursprinzipien« ebenso wohl »Gattungen« genannt werden könnten. Als Gegenbild zur Gattung der Utopie meldet sich daher die Gattung des Fürstenspiegels zu Wort, die Machiavelli in II principe aus der theologischen Tradition des Mittelalters in die kontingente und zunehmend säkularisierte Welt der Neuzeit verpflanzt, und die im Fürstenspiegelroman und im Staatsroman des 18. Jahrhunderts weiterlebt. Auffällig ist dabei, wie dieses Gattungsbewusstsein schon bei Machiavelli selbst zur Sprache kommt, in einer Weise, die nicht nur zentrale Züge des Staatsromanbegriffes vorwegnimmt, sondern auch und vor allem die Angewiesenheit seines politischen Denkens auf eine Pragmatik der Gattungen aufweist. Um seine Absage an der Moral im Bereich der Politik und den Bruch mit der Tradition — dass er »gerade bei der Behandlung dieses Stoffes häufig von den Ratschlägen der anderen abweich [t]« - zu rechtfertigen, fuhrt Machiavelli in der Tat ein gattungsgeschichtliches Argument ins Feld: Aber da es meine Absicht ist, etwas Nützliches ftir den zu schreiben, der es versteht, scheint es mir angemessener, der wirklichen Wahrheit der Tatsachen nachzugehen als den Wahngebilden jener Leute. Viele haben sich Republiken und Herrschaften erdichtet, die sie in der Wahrheit niemals gesehen und kennen gelernt haben. Denn es ist ein so großer Unterschied zwischen dem, wie man lebt und wie man leben sollte, dass derjenige, der das Wirkliche nicht beachtet gegenüber dem, was geschehen sollte, viel eher seinen Untergang als seine Erhaltung bereitet; denn ein Mensch, der in jeder Beziehung ftir das Gute einstehen möchte, müßte inmitten so vieler schlechter Menschen zugrunde gehen. 39
Durch die Bezeichnung »Wahngebilde« so wie durch den Hinweis auf erdichtete Republiken und Herrschaften, die die Autoren »niemals gesehen und kennen gelernt haben«, grenzt sich Machiavelli von der Tradition der Utopien und der utopischen Romane ab, in der die pragmatischen und realpolitischen Ratschläge an den Fürsten keinen Platz hatten. Die Vermittlung des Nützlichen hängt von der Beobachtung des Wirklichen ab. Zur Veranschaulichung des gattungsgeschichtlichen Kontextes seines Werkes weist Machiavelli auf das »Leben des Cyrus von Xenophon« 40 hin, der, wie wir oben gesehen haben, noch für Wieland als Paradigma des Staatsromans gilt. In Machiavellis eigenem Werk kann also bereits jene Konvergenz von Poetologie und Politik beobachtet werden, die in der literarischen Machiavelli-Rezeption des 18. Jahrhunderts, zumal bei Wieland und Jean Paul, nachwirkt. So lange wir davon ausgehen, dass Machiavelli und seine Gedanken zur Fürstenerziehung und zur Regierung eines Staates lediglich ein Negativum darstellen
38 39 40
Ders.: Staatsräson kontra Utopie?, S. 3. Machiavelli: Der Fürst, S. 59. Ebd., S. 58.
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Hesperus:
Über politischen undpoetologischen
Machiavellismus
würden, ein Zerrbild des Politischen, von dem sich die Aufklärer um jeden Preis distanzieren wollen, wird allerdings der politische und poetologische Einfluss dieses Denkens auf den Roman der Spätaufklärung unverständlich bleiben. Wenn hingegen die Rolle des Machiavellismus in der Gattungsgeschichte des aufgeklärten Staatsromans deutlich werden soll, muss eine andere Perspektive eingenommen werden. Die Absage an jede Teleologie, an jede göttliche oder transzendente Vorbestimmtheit, die dem pragmatisch-kritischen Romankonzept Wielands zugrunde liegt und die es ihm ermöglicht, mit Agathon ein glaubwürdiges Bild eines modernen Menschen zu schaffen, ist in vieler Hinsicht eine Erbschaft Machiavellis. Erst durch einen machiavellistischen Wirklichkeitssinn können zwei der wichtigsten Themen des aufgeklärten Staatsromans vom christlichen Transzendenzanspruch befreit werden: zum einen die Geschichte, zum anderen die Politik. Die pragmatische Geschichtsschreibung, die sowohl fiir die »Geschichte« Agathons als auch für die »Chronik« der Könige von Scheschian ein Vorbild abgibt, ist nicht zuletzt bei Machiavelli begründet worden, als er, so Nitzschke, »an die Stelle des mittelalterlichen Verständnisses von der göttlichen Vorbestimmtheit menschlichen Handelns die Notwendigkeit einer kausal-historischen Gesetzmäßigkeit gesetzt hat«.41 Sowohl das Kausalitätsprinzip im Agathon als auch das ständige Auf und Ab der Herrscherdynastien im Königreich Scheschian im Goldnen Spiegel könnten daher auf einen Machiavellismus der Geschichtsschreibung zurückgeführt werden. Aus dieser Pragmatik der Geschichte folgt wiederum die Kontingenz der situativ-historischen Welt und damit die Aufgabe des Politikers, diese Kontingenz zu behandeln und unter Kontrolle zu bringen. Erst aus dieser Bestimmung des Politischen, die den teleologischen Zirkel der aristotelischen polis oder des thomistischen Kosmos durchbricht, lassen sich die Versuche des aufgeklärten Staatsromans verstehen, sich über politische Handlungsmöglichkeiten und Handlungsräume der Neuzeit bewusst zu werden. Mit Machiavellis II principe hat der aufgeklärte Staatsroman, zumal Wielands Goldner Spiegel und Jean Pauls Unsichtbare Loge, auch das Krisenbewusstsein gemeinsam. Sowohl am Vorabend als auch in der Nachfolge der Französischen Revolution wurde von den deutschen Aufklärern eine Krise anvisiert und sogar heraufbeschworen, auf die sich die Politik einzurichten hatte. Während Machiavelli zur Bekämpfung der Krise in Italien der Renaissance eindeutig die Macht des Fürsten favorisiert hat, 42 sahen sich die Aufklärer vor die Wahl gestellt, sich zwischen Aufklärung oder Absolutismus, zwischen Utopie oder Staatsräson, zwischen Revolution oder Reform zu entscheiden, die in den politischen und poetologischen Aporien ihrer Schriften Niederschlag findet.
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Nitzschke: Staatsräson kontra Utopie?, S. 39. Vgl. ebd., S. 36.
Narrative Notwendigkeit, moralische
Unverantwortbarkeit
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Im pragmatisch-kritischen Romankonzept Wielands, das ebenfalls die Gattung des Staatsromans auf den Stand des modernen Romans bringen will, kann also ein wesentlicher wirkungsgeschichtlicher Bezug auf die Gedanken Machiavellis erkannt werden. Jean Paul schreibt dagegen keine pragmatisch-kritischen Romane, sondern empfindsame und poetische Enzyklopädien, die ein ganz anderes und komplexeres Verhältnis zur politisch-historischen Welt sowie zu den Themen der Geschichte und Politik aufweisen - wie in der durchaus ironischen Anspielung auf Machiavelli im Titan, im »Antrittsprogramm« der ersten Jobelperiode, zu erkennen ist. Wenn der Erzähler über das »Komponieren einer Geschichte« (SW I, 8, 58) reflektiert, das in diesem Zusammenhang so viel wie das »Komponieren« einer Staatsromanhandlung bedeutet, mit einem »schlimmen Fürsten« so wie mit »den Kabalen, dem Egoismus und der Libertinage biographischer Höfe« (SW I, 8, 58f.), überlegt er, »den Machiavell vor sich hinzulegen«, aber entscheidet, es wäre »für einen solchen Idioten wie mich [ . . . ] ein schlechter Behelf« (SW I, 8, 59). Indem wir zum Hesperus zurückkehren, kann allerdings behauptet werden, dass Jean Paul, wenn nicht unbedingt den »Machivell«, dann zumindest die Machiavelli-Rezeption des 18. Jahrhunderts vor Augen gehabt haben kann, als er die Figur des Lords und die sich durch diese Figur entfaltende Intrige konzipierte. Im Roman wäre damit - so die hier zu erörternde These - die paradoxe Situation entstanden, dass der einzige Romancharakter, der die vom Autor geplante höfisch-politische Intrige schultern kann, in mancher Hinsicht auch ein vollblütiger Machiavellist ist. Poetologisch, um die Staatsromanhandlung vollenden zu können, hat Jean Paul daher den Lord nötig, moralisch kann er aber für seine Grundsätze und Handlungen keineswegs einstehen. In diesem Sinne wird jetzt die Frage gestellt, wie er mit diesem politisch-poetologischen Paradox umgeht und welche Gattungsverhandlungen und Politikverhandlungen dadurch ausgelöst werden.
7.2
Narrative Notwendigkeit, moralische Unverantwortbarkeit: Uber den Charakter des Lords
Die narrative Notwendigkeit des machiavellistischen Plans des Staatsromans könnte anhand eines Vergleichs mit der Unsichtbaren Loge veranschaulicht werden. Für die »Biographie« Gustav von Falkenbergs gab es keinen solchen Plan, oder richtiger, der Plan wurde durch die Figur Oefels als konkurrierendes Gattungsmuster für die Lebensbeschreibung des Haupthelden eingeführt, ohne sich aber gegen den durch den Erzähler verwirklichten Plan eines Erziehungs- oder Bildungsroman durchsetzen zu können. Auf die Frage, warum Jean Paul nicht die Unsichtbare Loge, jedoch den Hesperus, vollenden konnte, gibt es verschiedene mögliche Antworten: Er ist älter und erfahrener geworden, der Satiriker
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Hesperus: Über politischen undpoetologischen Machiavellismus
hat, wie er selber sagt, das »Romanenmachen« (SW III, 1, 346) gelernt. Für diese »Korrektur« (Ortheil) der Romankonzeption seines Erstlings werden allerdings auch strukturelle Änderungen vorgenommen, die nicht zuletzt auf eine neue und andere Bearbeitung des Gattungsmaterial des aufgeklärten Staatsromans hindeuten. Den Hesperus nennt Berhorst insofern einen »fortgesetzten Roman«, 43 als er genau an der Stelle die Handlung wieder aufgreift, wo die Unsichtbare Loge aufgehört hat. Jean Pauls zweiter Roman stellt daher einen Versuch dar, »die Unsichtbare Loge mit einem stringenteren Konzept noch einmal zu schreiben«.44 Die pädagogische, sich durch die Erziehung Gustavs entfaltende Intrige, die sich in der Unsichtbaren Loge immer mehr ausbreitete, ist zu Beginn der Romanhandlung des Hesperus bereits abgeschlossen. Als schon ausgebildeter Mensch tritt Viktor in den Roman. Er erscheint, so Bach, als ein »feststehendes Ganzes, an dem letzten Endes keine bedeutsame innere Veränderung möglich ist«. 45 Dass wir uns im Hesperus in einem anderen Stadium in der Entwicklungsgeschichte des Helden befinden, kann aber an sich nicht erklären, worin das stringentere, seine eigene Vollendung herbeiführende Konzept besteht. Gehen wir zum Text selbst, ist er alles andere als stringent, sondern, wie bereits der Text der Unsichtbare Loge, und sogar in höherem Maße als dieser, ausschweifend, digressiv und assoziativ. Für den Versuch, das Grundkonzept des Hesperus zu finden, hat man sich in der Forschung, wie oben schon besprochen, sehr oft an dem für den Roman vorgesehenen »Agathonschen Zwek« orientiert. Als alternative Interpretationsstrategie wird hier vorgeschlagen, die im Hesperus praktizierte Lösung des durch die Unsichtbare Loge gestellten Problems der gattungsgeschichtlichen Unvollendbarkeit nicht in den Entwürfen, sondern im Roman selbst zu suchen. Eine Möglichkeit zur Vollendung dieses an sich sehr heterogenen Erzählwerks fände sich daher, so die These der vorliegenden Darstellung, im poetologischen Machiavellismus des Romans, der in der Figur des Lords und in dessen politischer und gattungsspezifischer Planung zur Geltung kommt. Anhand dieser »Korrektur« des Romankonzeptes des heroischen Romans kommt aber sofort ein moralisches Problem zum Vorschein: Wie kann eine Figur und eine Handlungsstruktur, die aus der Sicht des politischen Denkens der Aufklärer als Embleme des »Dämons des Staatsräson« und des »Unmoralischen schlechthin« auftreten, für die Einheit und glückliche Vollendung eines der Aufklärung verpflichteten Werks einstehen? Eben in dieser Frage wäre der Auslöser und Anreger der im Hesperus geführten poetologischen und politischen Verhandlungen zu erkennen, in deren Brennpunkt sich die Figur des Lords befindet. Der Lord tritt in der Erzählung zunächst als Fürstenerzieher auf, der sich in
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Berhorst: Anamorphosen der Zeit, S. 240. Ebd. Bach: Jean Pauls Hesperus, S. 141.
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der Residenzstadt Flachsenfingen aufhält, »wo er dem Fürsten moralische Augenleder und Augengläser zugleich anlegte und den Blick desselben sowohl lenkte als schärfte« (SW 1, 4, 21). Schon an dieser Stelle wird durch die Metaphorik des Sehens und Nicht-Sehens die Dialektik der Persönlichkeit des Lord angedeutet: Der Blick des Fürsten, der ohne weiteres als eine Metapher für sein Erkenntnisvermögen überhaupt verstanden werden könnte, durch pädagogische Maßnahmen, oder hier, »Augengläser«, zu schärfen, war bereits immer die Aufgabe des Fürstenerziehers; aber sein Sehvermögen durch »moralische Augenleder«, wie bei einem Pferd, zu lenken, deutet schon auf die Problematik der Verstellung und des Betruges hin. Der Fürst, könnte man folgern, wird von seinem eigenen Ratgeber betrogen, indem er ihm nicht die volle Wahrheit, sondern nur einen von »Augenledern« umrahmten Ausschnitt davon vor die Augen kommen lässt. »Der Lord regierte den Fürsten leicht«, wird später festgestellt, »er trug ihn wie einen Habicht auf der beschützten Faust, aber der Falkenierer that's nicht, um den Fürsten auf Tauben und Hasen zu werfen, sondern um ihn immer wach und zahm zugleich zu halten.« (SW 1, 4, 44). Anscheinend nehmen die Begriffe »wach« und »zahm« die Dialektik der »Augengläser« und »Augenleder« wieder auf. Gegen das positive aufgeklärte Bild des mündigen Menschen, der, um Kant zu paraphrasieren, Mut hat, sich eines eigenen Verstandes zu bedienen, steht der auf seine bloßen tierischen Qualitäten reduzierte Mensch, fiir den Jean Paul in der geschichtsphilosophischen Traumdichtung des »Sechsten Schalttages« den Begriff des »Thiermenschen« (SW 1, 3, 380) prägt, der gezähmt und domestiziert werden kann. In dieser Tiermetaphorik wäre nicht zuletzt eine Anspielung auf die materialistische und nihilistische Seite der Aufklärung zu erkennen, die durch den Lord, wie vorhin durch Hippias oder Isfandiar, vertreten wird. Gerade diese »sozial- und geistesgeschichtliche Konstellation, dass Machiavellis Staatslehre mit einer naturalistischen Anthropologie einhergeht«, 46 stellt ein wichtiges Element des poetologischen und politischen Machiavellismus im Hesperus dar, das uns in diesem Kapitel immer wieder beschäftigen wird. Schon der Aufstieg des Lords zum Ratgeber des Fürsten steht indessen im Zeichen des Machiavellismus. Um die Gefahr zu vermeiden, dass der Kammerherr Le Baut durch dynastische Machtpolitik die vom Lord gewünschte Position am Hofe einnimmt, sieht der Lord sich gezwungen, »etwas wider die Ehre zu tun«. Die darauf folgende Passage liest sich fast wie eine Paraphrase von Ma-
chiavellis II principe. Es ist überhaupt für einen Hof- und Weltmann, dessen Ehre der hohe Posten oft der schlimmsten Witterung bloßstellt, ein ungemeines Glück, dass diese Ehre, sei sie auch noch so empfindlich bei kleinen Stößen, doch große leicht verwindet, und wenn nicht mit Worten, doch mit Taten ohne Nachteil anzutasten ist [...]. (SW 1, 4, 43)
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Kondylis: Die Aufklärung, S. 132.
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Zur Charakterisierung der Figur des Lords greift Jean Paul auf machiavellistische Topoi zurück, die allerdings wirkungsgeschichtlich durch die Machiavelli-Rezeption des 18. Jahrhunderts vermittelt sind. Um diese Parallelität der Topoi zu veranschaulichen, könnte die entsprechende Stelle aus dem 21. Kapitel des II principe herangezogen werden, die überschrieben ist mit: »Was ein Fürst tun muß, um Ansehen zu bekommen«: »Nichts,« schreibt hier Machiavelli, »verschafft einem Fürsten so hohe Ehre wie große Unternehmungen und seltene Beweise hohen Muts.« 4 7 Das Beispiel dafür findet er in Ferdinand von Aragonien, dessen »Taten«, die Angriffe auf Granada, Afrika, Italien und Frankreich, »alle Zeichen von Größe« tragen und sogar »eine gewisse fromme Grausamkeit« aufweisen. 48 Grosse Taten, observiert in diesem Sinne sowohl Machiavelli als auch der Erzähler des Hesperus, schaden nicht der Ehre, sondern bestärken sie. Beispiele dafür hat Jean Paul allerdings nicht an den spanischen Höfen des 15. Jahrhunderts suchen müssen, er brauchte nur einen Blick auf die Regenten der deutschen Duodezfurstentümer des 18. Jahrhunderts zu werfen. Dabei bot sich vor allem der Regent, der von 1740 bis 1786 in Preußen herrschte, als Beispiel an. Nie konnte sich Friedrich II. entscheiden, ob er ein Machiavellist mit Gewissensproblemen oder ein Antimachiavellist mit einer Neigung zu absolutistischer Macht sei. Im Hesperus dauert es aber bis zum 12. Hundposttag, ehe uns der Erzähler mit der intriganten Machtpolitik des Lords bekannt macht und wir die Details über seinen Plan zur Reform der Regierung Flachsenfingens sowie über die von ihm verwendeten Mittel der Verstellung, des Betruges und der Entführung erfahren. Um seine konspiratorischen Geheimnisse zu schützen, fordert er sogar seinem Sohn einen »Eid des Schweigens« (SW 1 , 4 , 1 8 4 ) ab. Er darf vor allem Flamin, seinem besten Freund, nicht verraten, dass er der Sohn des Fürsten und der Bruder Klothildes ist. Gerade dieses Geheimnis wird im "Werk fortan zum Motor der Handlung. Gattungsgeschichtlich kommen auch hier die schon anhand der Unsichtbaren Loge besprochenen Konventionen des Geheimbundromans zur Geltung, aber in einer Weise, die das absolutistische Arkanum der Hofpolitik mit dem aufklärerischen Arkanum der antiabsolutistischen Gesellschaften bewusst verschränkt. Z u m moralischen Problem dieser Intrigen gehört mit anderen Worten auch die von Koselleck aufgegriffene Frage, inwiefern die verdeckte, geheim gehaltene Planung der Aufklärer auf eine Art »Hypokrisie« hinausläuft, die den Bereich des Politischen moralisch untergräbt und usurpiert. Auf diese Frage, als Diagnose der historischen Stellung des Lords zwischen Absolutismus u n d Aufklärung, wird unten näher eingegangen. Anhand der Figur des Lords kann aber vor allem nachvollzogen werden, wie Jean Pauls Hesperus in eine politische und poetologische Aporie gerät, wobei die machiavellistisch begründete,
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Machiavelli: Der Fürst, S. 86. Ebd., 86f.
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narrativ unentbehrliche Gattungsstruktur des Staatsromans den moralisch-naturrechtlichen, die Freiheit und Mündigkeit der Individuen betonenden Inhalt des Werkes zu usurpieren droht. Die Verhandlungen über diese poetologische und politische Aporie werden vor allem im darauffolgenden 13. Hundposttag geführt, wenn sich der Erzähler nach den Enthüllungen des 12. Hundposttags veranlasst sieht, einige Bemerkungen »[ü]ber des Lords Charakter« anzuführen. Für die Romankonzeption Jean Pauls hat Böschenstein den Begriff »Charakter-Roman« geprägt. 49 Ebenfalls behauptet Scholz, ein Hauptmerkmal von Jean Pauls Romanen sei »der Aufbau der Welt in einer überschaubaren Anzahl von Personen, die individuell charakterisiert sind und deren Erlebnisse, Handlungen und moralische Haltungen weitgehend psychologisch motiviert werden«. 50 Diese Personen fallen in drei Gruppen, die »hohen« empfindsamen, die »niederen« komischen und die »Humoristen«. 5 1 Der Lord gehört aber zu keiner dieser Gruppen, sondern ist mit den poetologischen und politischen Elementen des Romans auf eine ganz andere und engere Weise verbunden. Die Charakterskizze des 13. Hundposttags macht insofern einen Sonderfall des Romans und des Gesamtwerkes aus, als zur Charakterisierung des Lord nicht die »epische Szene« 52 verwendet wird, sondern im Gegenteil die Hauptmerkmale seiner Persönlichkeit diskursiv entfaltet werden, im Sinne einer Debatte zwischen »drei Meinungen« (SW 1, 4, 190): Die erste ist ganz unwahrscheinlich: er hält nach ihr wie alle Welt- und Geschäftsmänner das Menschengeschlecht fur einen Apparat zu Versuchen, ftir Jagdzeug, für Kriegsgeräte, fiir Strickzeug - diese Menschen sehen den Himmel nur für die Klaviatur der Erde und die Seele für die Ordonnanz des Körpers an - sie fuhren Kriege, nicht um die Kränze der Eichen, sondern um ihre Boden und ihre Eicheln zu erbeuten - sie ziehen den Glücklichen dem Verdienstvollen vor und den Erfolg der Absicht - sie brechen Eide und Herzen, um dem Staate zu dienen - sie achten Dichtkunst, Philosophie und Religion, aber als Mittel; sie achten Reichtum, statistischen Landesflor und Gesundheit, aber als Zwecke — sie ehren in der reinen Mathesis und in reiner Weibertugend nur beider Verwandlung in unreine für Fabriken und Armeen, in der erhabnen Astronomie nur die Verwandlung der Sonnen in Schrittzähler und Wegweiser für Pfefferflotten, und im erhabensten magister legens nur den anködernden Bierkranz fur arme Universitäten. ( S W I, 4, 190f.)
Obwohl der Erzähler diese Charakteristik des Lords für »ganz unwahrscheinlich« hält, ist sie fur unsere Zwecke weithin die interessanteste, denn in dieser ersten »Meinung« zieht Jean Paul die theoretische Konsequenzen des narrativ dargestellten Handlungsmusters des Lords. Es ist, als ob der Erzähler im Voraus die Reaktion einiger Leser, diese Handlungen, diese Planung können nur von einem
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Böschenstein: »Jean Pauls Romankonzeptionen«, S. 32. Scholz: Welt und Form des Romans, S. 3 1 . Ebd., S. 34. Ebd., S. 31ff.
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vollblütigen Machiavellisten stammen, vorwegnehmen und zurückweisen wolle. Die »erste Meinung« stellt ein Zerrbild des Charakters des Lords dar, das ihn zum idealtypischen Vertreter einer völlig materialistischen und instrumentalistischen Staatsräson stilisiert und dadurch die politisch-poetologische Aporie dieser Figur deutlich macht. Die Passage liest sich daher als eine Zusammenfassung der Hauptgedanken eines machiavellistischen Fürstenbildes und Machtbegriffes, in drei Hauptpunkten: zum einen, der programmmäßige diesseitige Materialismus, nach dem geistige oder jenseitige Elemente wie »Seele« und »Himmel« der materiellen Welt zugeordnet werden, als »Ordonnanz des Körpers« und »Klaviatur der Erde«; zum zweiten der ebenso programmmäßige Instrumentalismus, der sowohl die »Menschen« selbst als auch die ganzen höheren menschlichen Tätigkeiten, »Dichtkunst, Philosophie und Religion« als Mittel zu politischen Zwecken betrachtet und der keine Mittel scheut, auch nicht den Eidbruch, »um dem Staate zu dienen«, gemäß einer konsequent zweckrationellen Haltung, die den Kern der Lehre von der Staatsräson ausmacht; zum dritten, in diesem Kontext etwas unerwartet, doch logisch mit den Vorstellungen des Materialismus und des Instrumentalismus verbunden, die Vorstellung vom praktisch-technologischen Zweck aller Wissenschaft, in der unschwer die Maxime Francis Bacons »Wissen ist Macht« erkannt werden kann, als die imaginierte Umsetzung der reinen platonischen Wissenschaften der »Mathesis« und »Astronomie« in technologische, zweckrationale Beherrschung der menschlichen Umwelt. Gemeinsam fiir diese Umdeutungen zentraler Kategorien des aufklärerischen Denkens ist die Konzeption von Politik als einer un- oder amoralischen Herrschaftstechnik, die einseitig auf den Erfolg politischer Handlungen ausgerichtet ist und die Frage nach der Absicht bewusst und polemisch aus dem Feld des Politischen ausgrenzt. Dementsprechend wird der Charakter des Lords im Hesperus durch seine Funktion mehr als durch seine Persönlichkeitszüge definiert, als Vehikel der politischen Handlung des Romans - was aber aus einer moralischen Perspektive, wie diese fiktive Diskussion zeigt, letztendlich als unverantwortbar erscheint. Zwar könnte man diesen ersten Versuch, den Charakter des Lords zu verstehen, darin Steck folgend, als »glatte Spiegelfechterei« seitens des Erzählers abfertigen, weil nichts dem Lord ferner liege, als seinen eigenen Vorteil zu suchen, 53 aber erstens geht es in der oben zitierten Passage nicht um Egoismus, sondern um Staatsräson, und zweitens muss man die Frage stellen, warum sich Jean Paul die Mühe macht, ein solches Zerrbild dieses Charakters zu geben. In der zweiten und dritten »Meinung« tritt der Erzähler dagegen als Apologet des Charakters des Lords auf, indem er ihn zunächst zum stoischen Rationalisten, dann zum tragisch-nihilistischen Helden erklärt, der aus demselben Holz wie Ottomar in der Unsichtbaren Loge geschnitten ist:
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Steck: Jean Pauls »Hesperus«, S. 9.
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Die zweite Meinung ist wenigstens der ersten entgegen und besser: dem Lord ist, wie andern großen Menschen, die Laufbahn das Ziel, und die Schritte sind ihm die Kränze - Glück unterscheidet sich bei ihm von Unglück nicht im Werte, sondern in der Art, ihm sind beide zwei zusammenlaufende Rennbahnen zum Ewigkeit-Ringe der innern Erhebung — alle Zufälle dieses Leben sind ihm bloße Rechenexempel in unbenannten Zahlen, die er durchmacht, aber nicht als Kaufmann, sondern als Indifferensialist und Algebraist, welchem die Produkte und die Multiplikanden gleich lieb sind, und dem es einerlei ist, mit Buchstaben oder mit Zentnern zu rechnen. ( S W I, 4, 191)
Jean Pauls Bezug auf die Gedanken der Stoa, vor allem auf Epiktet, Antonin und Mark Aurel, ist bei Köpke entwickelt worden, der aber auch feststellt, dass die Nachfolge der Stoa »ein Stadium war, das er dann hinter sich zu lassen vermochte«. 54 Ebenfalls ist die dem Stoizismus und Neustoizismus entstammenden Charakterskizze des Lords im Hesperus nur ein diskursives Stadium, das überwunden werden muss. Aus dem Machtpolitiker der ersten »Meinung« ist jetzt einer der »großen Menschen« geworden, der aber nicht mit den »hohen Menschen« verwechselt werden darf, zu denen der Lord nicht gehört. Der stoische Charakter des Lords zeigt sich vor allem in seinem Gleichmut, in seinem inneren Gleichgewicht, das ihm ermöglicht, »Glück« und »Unglück« nur als unterschiedliche »Arten« der Erfahrung zu betrachten, zwischen denen kein Wertunterschied bestehe. Ebenso wenig stört es ihn, wenn seine Wünsche nicht in Erfüllung gehen, denn die »Laufbahn« selbst ist das »Ziel«. Dem Stoiker geht es letztendlich nicht um äußeren Erfolg, sondern um »innere Erhebung«. Indem man sich von äußeren Einflüssen befreit, kann man auch eine innere Freiheit erlangen. Dass die »Zufälle«, die Kontingenzen des Lebens, auf den Stoiker keinen Effekt haben oder haben sollen, ist aus dem antiken Stoizismus wohl bekannt. Jean Paul macht allerdings aus der Gestalt des Stoikers einen modernen Rationalisten, oder präziser, einen Vertreter der neuen wissenschaftlichen Methode der Statistik, die im 18. Jahrhundert für die Bevölkerungslehre produktiv gemacht wurde. 55 Erst der statistisch geschulte Stoiker wäre daher im Stande, die Zufälle in »bloße Rechenexempel in unbenannten Zahlen« zu verwandeln. Genau wie die technologisch eingerichteten Naturwissenschaften, auf die sich der Erzähler in der ersten »Meinung« bezog, stellt auch die Wissenschaft der Statistik eine Verquickung von Wissen und Macht dar, wofür eben die Bevölkerungslehre ein anschauliches Beispiel liefert. 56 Der Stoiker unterscheidet sich vom Machtpolitiker auch insofern, als seine Freude an die Zahlen selbst geknüpft ist, nicht an deren mögliche gesellschaftspolitische Anwendung.
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Köpke: Erfolglosigkeit, S. 2 1 1 . Möller: Vernunft und Kritik, S. I l 4 f . Zum Übergang von Staatsräson zu Bevölkerungslehre oder Bevölkerungspolitik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Michel Foucault: »La >gouvernmentalite< (1978)«, in ders.: Dits et Ecrits. Band 2. 1 9 7 6 - 1 9 8 8 , Paris 2 0 0 1 , S. 652ff.
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Der Weg vom Stoiker zum Schwärmer ist, wie Köpke betont, nicht weit, 5 7 und läuft über die im Stoizismus vorherrschenden Tendenzen zur Vergeistigung und Weltverneinung, die im Tode die endliche Befreiung vom irdischen Leben erkennt. Die dritte »Meinung« über den Lord erkennt in dieser Figur einen tragischen Schwärmer - oder auch, mit einem Begriff aus der medizinischen Literatur der Zeit, einen zum Pathologischen neigenden Melancholiker: Gleichwohl ist die dritte Meinung die wahre und zugleich die meinige: der Lord [...] ist einer der unglücklichen Großen, die zu viel Genie, zu viel Reichtum und zu wenig Ruhe und Kenntnisse haben, um glücklich zu bleiben [...] - ihr Ehrgeiz, der sonst durch Plane die Leerheit des vornehmen Lebens bedeckt, ist nicht stark genug gegen ihr Herz, das in dieser Leerheit verwelkt - sie tun Gutes aus Stolz, aber ohne Liebe dazu, sie spielen mit dem ausgekernten Leben wie mit einer Locke und halten es nicht mal der Mühe wert, es abzukürzen [...] Ach armer Lord! kann denn deines nicht eher als unter der Decke des schwarzen Marmors ruhen? (SW, I, 4, 191f.)
Der Erzähler bringt in dieser Passage eine klassische Melancholiediagnose des 18. Jahrhunderts vor, der zufolge der Melancholiker zwischen Ubermaß (»zu viel Genie, zu viel Reichtum«) und Mangel (»zu wenig Ruhe und Kenntnisse«) hin und her geworfen wird. 5 8 Indem er immer neue Pläne schmiedet, hofft er, die von ihm empfundene, soziaJhistorisch mit dem höfischen Leben verbundene »Leerheit« des eigenen Daseins durch Handeln, in diesem Fall durch politisches Handeln, zu kompensieren - was ihm aber auf die Dauer nicht gelingen kann und ihn daher an den Rand des Selbstmordes bringt. Genau wie Ottomar, der sich in seinem Brief an Fenk erst dann zur politischen Handlung bekennt, nachdem er die Leerheit des irdischen Lebens erkannt hat, als ihm der Tod versichert hat, »es gebe weiters nichts als ihn« (L II, 136), ist auch der Lord, laut dieser »dritten Meinung«, ein republikanisch gesinnter politischer Melancholiker, dessen ganze Pläne und Handlungen keiner politischen Uberzeugung, sondern einem vergeistigten Nihilismus entstammen, der keinen Glauben an moralische Werte, aber Handeln um des Handelns willen zulässt. Im Titan dagegen, wie später zu zeigen ist, gibt Jean Paul in der Figur Albanos ein kritisches Bild eines politischen Romantikers, der nicht der Melancholie zum Opfer fällt und wie Ottomar und der Lord Selbstmord begehen will, sondern — zwar mehr durch Zufall als durch Tugend oder Bildung — den Weg auf den Thron findet. Wenn der Lord auf einem Blatt »eine kalte Schutzrede seines
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Köpke: Erfolglosigkeit, S. 210. Vgl. dazu Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 45: »Der Melancholiker ist also - wie sein Blutumlauf - beständig, fleißig, hartnäckig. Doch plagen ihn Misstrauen und Sorge, denn nie kann er an einen guten Fort- und Ausgang seiner Unternehmungen glauben. Da er überall ein Hindernis vermuten muß, wird er argwöhnisch sein. Da er stets mit Gefahren zu rechnen hat, ist er vorsichtig, wachsam, ja tiefsinnig und grüblerisch. [...] Er pflegt seine Sache bis zum Ende auszuführen, damit nichts zurückbleibt, was ihm neue Beschwernis bereiten könnte.«
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künftigen Betragens« bietet, in der er das Zergehen alles Großen nachzeichnet, die »Zeit [...] in Augenblicke, die Völker in Einzelwesen, das Genie in Gedanken, die Unermesslichkeit in Punkte« (SW I, 4, 277f.), warnt der Erzähler gegen den Glauben, »daß der Lord irgendwo recht habe«, schließt aber mit den folgenden Worten: »Ich verschiebe die Wiederlegung des Lords auf ein anderes Buch, obwohl dieses auch eine ist« (SW I, 4, 279). Im Rahmen des Hesperus will Jean Paul die Aporie des poetologischen und politischen Machiavellismus - die in der Figur des Lords den Konflikt zwischen narrativer Notwendigkeit und moralischer Unverantwortbarkeit auslöst — dadurch überwinden, dass er die Begründung des praktischen, narrativen Machiavellismus des Lords nicht im amoralischen Instrumentalismus der Staatsräson, sondern im tragischen Nihilismus der politischen Melancholie sucht. Die »hohen Menschen« Jean Pauls, zu denen Ottomar, aber nicht der Lord gerechnet wird, sind ja nicht in erster Linie durch ihre Ehrlichkeit oder durch ihre tugendhaften Handlungen gekennzeichnet, sondern, wie er in der Unsichtbaren Loge feststellt, durch »eine Erhebung über die Erde, das Gefühl der Geringfügigkeit alles irdischen Thuns [...], den Wunsch des Todes und den Blick über die Wolken« (L I, 371). Die Diskussion der »drei Meinungen« kommt in der Tat einem Versuch gleich, den Charakter des Lords mit dem der »hohen Menschen« des Romans, Viktors, Klothildes und Emmanuels, zu verschränken, der aber nicht gelingen kann, so lange der Lord auch die Romanhandlung, die höchst »irdisch« ist, tragen muss. Anhand der Unsichtbaren Loge könnte dagegen behauptet werden, dass die Unvollendbarkeit des Romans in dem Moment ein Faktum wird, wenn Jean Paul aus Ottomar, dem illegitimen Fürstensohn und zentralem Mitglied des Geheimbunds, einen »hohen Menschen« macht, dessen Verwicklungen im irdischen Leben daher notwendigerweise sehr begrenzt bleiben müssen. Der Lord unterscheidet sich von Ottomar vor allem darin, dass er im Roman eine poetologische Funktion, eine Gattungsfunktion beansprucht, die die Auflösung der Intrige und die Vollendung des Romans herbeiführt. Daraus folgt, dass seine Handlungen letztendlich eher im literarischen Gattungsmuster des Staatsromans als im politischen Handlungsmuster der Staatsräson vorgebildet sind. In den zweiten und dritten »Meinungen« wird diese Gattungsfunktion allerdings in einen psychologisch motivierten Romancharakter umgedeutet, der zunächst mit stoischen, dann mit schwärmerisch-melancholischen Zügen ausgestattet wird. Aus der kausalen und zweckrationalen Oberflächlichkeit des Machiavellisten wird die beinahe unendliche Tiefe des Melancholikers - wobei jedoch die Gattungsaporie der Unsichtbare Loge im Hesperus erneut zur Geltung kommt, indem die psychologische Motivierung der Subjektivität des Lords mit der empirisch-pragmatischen Objektivität der von ihm vorangetriebenen Handlung in Konflikt gerät. In der Diskussion des 13. Hundposttages über »des Lords Charakter« tritt der Erzähler einen Schritt zurück, um einen seiner Charaktere, den Lord, einen Augenblick lang aus der Distanz zu betrachten. Der Anlass dieses erzählerischen
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Machiavellismus
Zurücktretens ist, so die hier dargelegte These, die Aporie von narrativer Notwendigkeit und moralischer Unverantwortbarkeit, in die der Roman infolge der in ihm stattfindenden Auswertung des Machiavellismus als poetologischen und politischen Prinzips zur Konstruktion einer politischen Handlung hineingeraten ist. Erst durch den Machiavellismus des Lords bekommt der Roman eine Intrige, welche die erwünschte Vollendung herbeifuhren kann, zugleich aber ist er durch eben diese Intrige in Gefahr geraten, sich einem politischen Denk- und Handlungsmuster zu verschreiben, das sich mit den aufklärerischen Zielsetzungen des Autors im radikalen historischen und moralischen Widerstreit befindet und das weiterhin droht, diese Wertvorstellungen völlig zu negieren. Als implizites Thema der Diskussion über den wahren Charakter des Lords könnte damit eine Konvergenz von Poetologie und Politik erkannt werden, die fiir die Gattungsgeschichte des Staatsromans im 18. Jahrhundert, zumal für die gesamten hier besprochenen Romane, paradigmatisch ist und den Transformationen und Innovationen dieser Gattung zugrunde liegt. Die Verhandlungen zwischen den »drei Meinungen« kommen insofern Gattungsverhandlungen gleich, als sich die Konventionen und Intentionen des Staatsromans allein durch die Pläne und Handlungen des Lords behaupten können und die poetologischen Bestimmungen des Staatsromans damit Gefahr laufen, von den politischen Bestimmungen der Staatsräson überlagert zu werden. Für die Diskussion der poetologischen und politischen Aporien seines Hesperus bleibt also Jean Paul zunächst im Kontext der Romanhandlung, indem er die narrativ dargestellte Persönlichkeit des Lords diskursiv zur Debatte stellt. Wenden wir uns aber dem »Ersten Schalttag« zu, finden wir unter der Uberschrift »Müssen Traktate gehalten werden, oder ist es genug, daß man sie macht?« eine in den Roman eingegliederte Satire, in Form einer kleiner Abhandlung, die in paradigmatischer, selbstbewusster und expliziter Ausführung die Verschränkung von Politischem und Poetologischem erneut und unter anderen Bedingungen aufgreift.
7.3
Politik und Poetologie: »Müssen Traktate gehalten werden, oder ist es genug, daß man sie macht?«
Die Frage, die Jean Paul im Titel des Ersten Schalttages aufgreift und auf den folgenden Seiten, wesentlich im satirischen Modus, zu beantworten sucht, stellt eine - wenn nicht die - Schlüsselfrage des Machiavellismus dar. In der »Lehre, daß Verträge nur so lange zu halten seien, als der Nutzen des Staates es fordere« erkennt Meinecke »das Zentralproblem der machiavellistischen Politik«.59 An den
59
Meinecke: Die Idee der Staatsräson, S. 350.
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Poetologie
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Antworten können weiterhin die »Pendelschwingungen zwischen dem Machiavellismus und dem Antimachiavellismus [...], zwischen dem Ideal der Aufklärung und der Realität des Machtstaates« abgelesen werden. 6 0 In Jean Pauls Hesperus könnte diese kleine Abhandlung zur Frage des Vertragsbruches wiederum als Höhepunkt der in der Figur des Lords narrativ ausgetragenen, in der Diskussion über seinen Charakter diskursiv inszenierten Reflexion über den Machiavellimus als politische Herausforderung der Aufklärung verstanden werden. Der Anlass ist bei Jean Paul allerdings kein politischer, sondern ein poetologischer: - Heute übt der Berghauptmann zum erstenmal auf des Lesers Grund und Boden das Recht (Servitus oneris ferendi, oder auch Servitus projicendi^1) aus, das er nach dem Vertrag vom 4ten Mai wirklich besitzt. (SW I, 3, 135)
Gehen wir in der narrativen Chronologie des Romans auf den 4. M a i zurück, der aber nicht, wie erwartet, im 4., sondern im 6. Hundposttag enthalten ist, finden wir den mit dem Leser abgeschlossenen »Gränz- und Hausvertrag«, auf den sich der Erzähler im Ersten Schalttag bezieht: I. Daß von Seiten des Lesers dem Berghauptmann auf St. Johannis fur ihn und seine Erben zugestanden und bewilligt werde, von nun an nach jedem vierten Hundsposttage einen witzigen und gelehrten Schalttag, in dem keine Historie ist, zu verfertigen und drucken zu lassen. II. Daß von Seiten des Berghauptmanns dem Leser bewilligt werde, jeden Schalttag zu überschlagen und nur die Geschichtstage zu lesen — wofür beide Mächte entsagen allen beneficiis juris - restitutioni in integrum - exceptioni laesionis enormis et enormissimae — dispentationi — absolutioni etc.62 Auf dem Kongress zu St. Johannis den 4ten Mai 1793. (SW I, 3, 91)
Zwei Hundposttage später sieht sich der Erzähler jedoch veranlasst, sich die Frage zu stellen, »ob ein Hundvertrag zwischen zwei so große Mächten - indem der Leser alle Weltteile hat, und ich wieder dem Leser - nach dem Schließen noch zu halten ist« (SW I, 3, 135). Diese explizit poetologische Frage zum Verhältnis zwischen Erzähler und Leser leitet in der folgenden Abhandlung zur juridischpolitischen Schlüsselfrage der prinzipiellen Haltbarkeit aller Verträge über, die in Machiavellis II Principe zum ersten Mal völlig pragmatisch und instrumenteil
60 61
62
Ebd., S. 351. »Servitus oneris ferendi« ist das Recht, sein Haus auf ein Nachbargebäude zu stützen, »servitus projicendi« das Recht, sein Haus auf ein benachbartes Grundstück hinüberragen zu lassen. Vgl. Berends Erläuterungen zum Hesperus-Text, SW I, 3, 414. Vgl. die Übersetzung in den Texterläuterungen Millers, in Jean Paul: Werke. Herausgegeben von Norbert Miller. Band 1, München I960, S. 1276: »Rechtswohltaten - der unversehrten Wiederherstellung - der Ausnahme höchster und allerhöchster Verletzung - der Entschuldigung - Lossprechung usw.«
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Hesperus: Über politischen undpoetologischen
Machiavellismus
gestellt wurde und seitdem in der zwischen Machiavellismus und Antimachiavellismus oszillierenden Rezeptionsgeschichte dieses Werkes eine zentrale Stellung einnimmt. Der »Hundvertrag« im Hesperus ist keineswegs der erste Vertrag, den der »Generalautor« Jean Paul - der Autor und seine Erzähler - mit seinen Lesern schließt. Neuerdings hat Christian Helmreich darauf hingewiesen, »wie oft uns im Gesamtwerk Jean Pauls veritable juridische Vertragsschließungen zwischen dem Erzähler und dem Leser begegnen.« 63 In der Unsichtbaren Loge legt der Hofmeister und Biograph Jean Paul im 21. Sektor ein »neues Paktum zwischen dem Leser und Biographen« (L I, 287) vor. Der Vertrag gilt in diesem Fall dem narrativ-temporalen Zusammenfall von Erzählzeit und erzählter Zeit: der Erzähler verspricht, den einjährigen Rückstand der Biographie hinter dem Leben Gustavs »in acht Wochen [...] erschrieben zu haben« (L I, 288). In den Kontext dieser poetologischen Verträge gehört ebenfalls der in den Paratexten zwischen Autor und Leser geschlossene Gattungsvertrag, durch den der Autor, wie oben schon erörtert, den Lesern verspricht, sein Werk in Übereinstimmung mit besonderen Gattungskonventionen zu vollenden. Zwischen Jean Pauls poetologischen »Verträgen« und der in der vorliegenden Arbeit entwickelten Vorstellung der poetologischen »Verhandlungen« besteht eine logisch-semantische Verbindung: Ein Vertrag ist meistens das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses, der wieder aufgenommen werden muss, sobald der Vertrag nicht eingehalten wird. Aufschlussreich an der Metaphorik des »Vertrages« - über ihren humoristischironischen Effekt hinaus - ist aber zunächst, dass Jean Paul darin ein Bewusstsein von der kommunikativen und pragmatischen Funktion sowie von der historischen und kontextuellen Relativität aller poetologischen Muster und Konventionen an den Tag legt, das im gewissen Sinne die in der vorliegenden Arbeit theoretisch entwickelte Vorstellung der Gattungsverhandlungen zu antizipieren scheint. In allen diesen Verträgen, die der »Generalautor« Jean Paul - sei es der Biograph der Unsichtbaren Loge, der Berghauptmann des Hesperus oder der historisch-biographische Autor beider Romane - in satirisch verfremdeter politischer oder juridischer Sprache mit seinen Lesern schließt, wird also über literarische Konventionen, einschließlich Gattungskonventionen, verhandelt. Ohne Ausnahme stellen die Verträge Versuche Jean Pauls dar, seine Art, Romane zu schreiben, seine Romankonzeption, bei den Lesern zu ratifizieren. Anhand der Hauptthese der vorliegenden Studie, dass die Gattungskonventionen gerade an den Stellen in den Romanen problematisch werden, wo sich dringende politische Fragen ihren Weg ins Werk bahnen, ist es angebracht, nach den politischen Grundlagen dieses poetologischen Vertragsdenkens zu fragen. Aus dieser Voraussetzung
63
Christian Helmreich: Jean Paul & le mutier litteraire, S. 199.
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scheint weiterhin zu folgen, dass gerade diese poetologischen, auf das Gattungsmaterial des Werkes bezogenen Vertragsverhandlungen auch — zumindest implizit - als Verhandlungen über politische Fragestellungen und Probleme gelesen werden können. Eben diese Verschränkung von poetologischen und politischen Verhandlungen wird im Ersten Schalttag des Hesperus in der Diskussion über das Einhalten und das Brechen von Verträgen vom Erzähler explizit zum Thema gemacht. Als Beispiel dieser Verschränkung wird im folgenden gezeigt, wie in der Metaphorik des Vertrags, des Vertragschließens und -brechens Bezüge sowohl zur zeitgenössischen politischen Wirklichkeit als auch zum naturrechtlich begründeten Vertragsdenken der Aufklärung aufgedeckt werden können, die im Rahmen des Werkes zur Politiserung dieser Metaphorik beitragen. Das Vorbild für die poetologischen Verträge im Hesperus liefern — wie schon an der Angabe »Auf dem Kongress zu St. Johannis« zu erkennen war — verschiedene politische, aus der Ereignisgeschichte der Kriegserklärungen und Friedensschlüsse übernommene Verträge, auf die der Erzähler immer wieder und mehr oder weniger versteckt anspielt. Um den Wortlaut »des so bekannten HundVertrags zwischen dem Berghauptmann und dem Leser« zu beschreiben, verweist der Erzähler auf einige »Renunziationsakte« (SW I, 3, 91), die allgemein die Verzichtleistung eines Monarchen oder Kronprätendenten auf die Krone bezeichnen, aber im 18. Jahrhundert vor allem auf die Akte verwiesen, durch die Phillip V. von Spanien im Friedenstraktat von Utrecht 1713/14 seine Rechte auf den französischen Thron abtrat. 64 Die Vorstellung vom Vertrag als politischem Ereignis entstammt hier den im 18. Jahrhundert zwischen den europäischen Großmächten ausgefochtenen Erbfolgekriegen, in denen Verträge als Mittel politischen Handelns eingesetzt und von den Herrschern in verschiedenem Maße eingehalten und gebrochen wurden. Eine weitere Anspielung findet sich in der Abhandlung selbst, wenn der Erzähler auf einen am 9. Mai 1715 zwischen den schweizerischen Kantonen und dem französischen König eingegangenen Vertrag hinweist, den so genannten »Trücklibund«, durch den sich die katholischen Orte und Frankreich gegenseitige Unterstützung versprachen. 65 »Die Schweizer«, kommentiert aber der Erzähler, »hätten ebenso gut in allen Kantons die Finger aufheben und beeidigen können, daß sie alle Tage ordentlich - ihr Wasser lassen wollten« (SW I, 3, 135). Aus beiden Beispielen kann damit gefolgert werden, dass Jean Paul in seiner Entwicklung der Vorstellung vom poetologischen Vertrag in der Tat auf politische und historische Erfahrungen Bezug nahm. Zur Politisierung des Vertragsmotivs kommt es auch und vor allem im politischen Denken der Aufklärung, dessen Vertreter im Vertrag ein »Medium« erkannten, »in dem der Konsens ursprünglich freier und gleicher Individuen
M 65
Vgl. die Texterläuterungen Millers, in Jean Paul: Werke. Band 1, S. 1276. Ebd., S. 1279.
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Hesperus: Über politischen undpoetologischen
Machiavellismus
politische Herrschaft erst hervorbringt«. 6 6 Für die zentralen Theoretiker des Gesellschafts- oder Herrschaftsvertrages, Hobbes, Locke und Rousseau, gilt, dass sie die Funktion dieses Vertrages in der Vorstellung eines »Naturzustandes« begründet sehen, der bei Hobbes durch einen K a m p f aller gegen alle, bei Locke durch einen Zustand vollkommener Freiheit, über seinen Besitz und seine Person zu verfugen, und bei Rousseau durch den Kollaps der Idylle des bon sauvage gekennzeichnet ist. 6 7 Politische Herrschaft, als »Veranstaltungen der Menschen selber«, 6 8 kann erst dann zu Stande kommen, wenn zwischen Herrscher und Beherrschten, zwischen Fürst und Untertan ein Vertrag geschlossen wird, der die Rechte und Pflichten beider Vertragspartner festlegt. Dass sich Jean Paul in seiner Vorstellung vom poetologischen Vertrag auf diese Tradition eines naturrechtlichen Kontraktualismus im politischen Denken der Aufklärung bezieht, k o m m t vor allem im Titan zur Sprache, wenn der Erzähler im sogenannten »Antrittsprogramm« seinen Vertrag mit dem Leser als ein »contract social« ( S W I, 8, 52) verstehen will. Rousseaus Gesellschaftsvertrag ist jedoch nur einer von den vielen naturrechtlich begründeten Vertragstypen und Vertragsformeln, die im kontraktualistischen Denken der Aufklärung debattiert werden, 6 9 und die bei Jean Paul am Anfang des Hesperus den folgenden satirischen Permutationen ausgesetzt werden: der »Kommerzientraktat des Eigennutzes«, »der gesellschaftliche[...]
Vertrag der Höflichkeit«, der » Gränz- und Tauschvertrag der Liebe« und
zum Schluss die »Brüderunitätbefreundeter
Menschen« (SW I, 3, 26). Gemeinsam
für alle diese Vertragstypen ist die logische Bedingung, dass ein Vertrag entweder gehalten oder gebrochen werden kann. Der Ubergang von älterem zu jüngerem Naturrecht, oder von absolutistischen zu aufklärerischen Vertragstheorien kann an der Frage vom Recht der Untertanen zur Vertragsauflösung, wenn der Herrscher seinen Pflichten nicht nachkommt, vom »Widerstandsrecht«, 7 0 abgelesen werden. Bei Hobbes wird diese Möglichkeit nicht erst in Erwägung gezogen, denn durch den Herrschaftsvertrag hat das Volk ein für allemal dem Staat absolute Souveränität zuerkannt, die nicht mehr an vorangehende Normierungen gebunden ist. In den naturrechtlichen Vertragstheorien Lockes und Wolffs wird im Gegenteil eine prinzipielle »Gegenseitigkeit der Verpflichtungen zwischen Obrigkeit und Untertanen« vorausgesetzt, 7 1 deren logische Konsequenz - das Recht der Untertanen auf Widerstand, auf Revolution gegen einen tyrannischen Fürsten - allerdings erst bei d'Holbach zur Sprache kam.
66
67 68 69 70 71
Richard Saage: »Vertragsdenken als frühbürgerliche Gesellschaftstheorie (Hobbes, Lokke, Rousseau)«, in ders.: Vertragsdenken und Utopie. Studien zur politischen Theorie und zur Sozialphilosophie der frühen Neuzeit, Frankfurt a m Main 1989, S. 48. Vgl. ebd., S. 5 0 f f ; und Möller: Vernunft und Kritik, S. 1 9 I f f . Saage, ebd., S. 4 8 . Ebd. Möller: Vernunft und Kritik, S. 198. Ebd., S. 2 0 0 .
Politik und Poetologie
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Obwohl Jean Paul in der Abhandlung des Ersten Schalttages keine staatstheoretische Argumentation bringt, sondern höchstens eine satirische »Scheinargumentation«/ 2 können wir davon ausgehen, dass in der Frage selbst - »Müssen Traktate gehalten werden, oder ist es genug, daß man sie macht?« - um 1795 alle diese Paradoxe der zeitgenössischen Vertragstheorien mitspielten. Der einzige Ansatz zu einer politischen Interpretation der Abhandlung findet sich bei Hans Esselborn, der in seiner Darstellung des Naturrechtsdenkens in Jean Pauls Romanen die These vertritt, dass Jean Paul zwar mit dem »älteren Naturrecht« vertraut war, das bei Pufendorff, Wolff und Thomasius entwickelt wurde und das die Interessen des aufgeklärten Absolutismus vertrat, aber dass seine Sympathie offensichtlich »dem jüngeren« galt, das in den Revolutionsidealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit seine zugespitzte Form fand. 7 3 Auf den faktischen Inhalt der Abhandlung so wie ihre Beziehung auf die Romanhandlung des Hesperus geht Esselborn nicht ein. Dagegen geht es in der vorliegenden Darstellung weniger um die Einkreisung der politischen Uberzeugungen Jean Pauls, als Anhänger des älteren oder des jüngeren Naturrechts, als um das Aufweisen einer im Werk, zumal in der Abhandlung des Ersten Schalttages, stattfindenden Konvergenz von Poetologischem und Politischem, die sich vor allem im Umgang des Autors mit den Motiven und Topoi des Machiavellismus, wie hier mit dem Vertragsbruch, zeigt. Der machiavellistische Topos, der im Ersten Schalttag aufgegriffen und durch die im Titel der Abhandlung gestellte Frage paraphrasiert wird, entstammt dem 18. Kapitel des IL principe, dem wohl verrufensten Kapitel dieses Fürstenspiegels, in dem Machiavelli den Vertragsbruch als mögliche Tugend bei einem Fürsten darstellt: Jedem leuchtet ein, wie sehr es zu loben ist, wenn ein Fürst sein Wort hält, ehrlich und nicht hinterlistig dahinlebt. Trotzdem erfährt man in jüngster Zeit, daß die Fürsten große Dinge vollbracht haben, die von ihrer Treue nur wenig Aufhebens gemacht und mit List und Tücke der Menschen umnebelt haben: ja schließlich sind sie Sieger geblieben über die, die sich auf ihre Rechtlichkeit verließen.7'*
Der Fürst, setzt Machiavelli fort, muss »im Heucheln und Verstellen Meister sein«, 75 denn das einzige, was letztendlich zählt, ist der »Enderfolg«. 76 Den Aufklärern kam diese Absage an Treue und Ehrlichkeit als Grundprinzip politischen Handelns zugunsten eines reinen politischen Instrumentalismus, dem alle Mittel gleich gut und erlaubt sind, so lange sie zum Ziele führen, als Höhepunkt der
72
73 74 75 76
Hans Esselborn: »Naturrechtsdenken in Jean Pauls Romanen«, in Otto Dann/Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht - Spätaufklärung - Revolution, Hamburg 1980, S. 2 3 5 . Ebd., S. 235f. Machiavelli: Der Fürst, S. 67. Ebd., S, 68. Ebd., S. 69.
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Blasphemie gegen die Tugend und die Moral vor. An die Spitze der Bekämpfung der Gedanken des Italieners stellt sich also 1740 der junge Kronprinz von Preußen, der ein großer Anhänger der Ideen der Aufklärung war und eine rege Korrespondenz mit Voltaire führte, mit seiner berühmten Gegenschrift Anti-Machiavel, erschienen kurz nach seiner Thronbesteigung, anonym, in französischer Sprache und mit einem Vorwort von Voltaire versehen. Mit dieser Abhandlung hat sich Friedrich, wie im Titel verkündet wird, vorgenommen, die amoralischen Grundsätze von Machiavelli Punkt für Punkt zurückzuweisen. Besonders blasphemisch kamen ihm dabei die Gedanken im 18. Kapitel des Principe \or, in dem es um den Nutzen des Vertragsbruches und der Verstellung ging. Ebenfalls im Kapitel 18 seiner Gegenschrift greift Friedrich deswegen besonders vehement zur Feder: »Le Precepteur des Tyrans Öse assurer que les Princes peuvent abuser le monde par leur dissimulation; c'est par oü je dois commencer ä le confondre.« 77 Nach dieser Ankündigung greift er Machiavellis Behauptung, ein Fürst brauche sein Wort nicht zu halten, von allen Seiten an, moralisch, anthropologisch und sogar realpolitisch, um zu zeigen, dass »[i]l faut avoir bien envie de dogmatiser le crime, lorsqu'on emploie des argumens aussi foibles et tires de si loin«. 78 Laut Friedrich II. hat sich der Lehrer der Verbrechenswissenschaft darin gewaltig geirrt: Verträge sowie Ehrenworte müssen - fast - um jeden Preis gehalten werden. Wenn Jean Paul im Titel seiner Abhandlung die Frage nach dem Halten und Brechen von Verträgen aufgreift, ist es nicht zuletzt diese Debatte zwischen dem italienischen Philosophen und dem preußischen König, zwischen Machiavellismus und Antimachiavellismus, die ihren Weg ins Werk findet: Friedrich, der Antimachiavellist, antwortet uns und stützt sich auf den Machiavell: allerdings m u ß jeder von uns nur so lange sein Wort halten, als er Nutzen davon hat. (SW I, 3, 135)
Das Paradox dieser Aussage leuchtet insofern ein, als der Erzähler im preußischen König einen »Antimachiavellisten« erkennt, der sich trotz seiner erklärten Feindschaft gegen Machiavelli auf machiavellistische Grundsätze stützt und das Prinzip des »Nutzens« zur Maxime seiner Handlungen macht - was ihn mit der Tugend, in diesem Fall dem moralischen Ideal der Treue, in Konflikt bringt: »Sobald aber der Nutzen von Verträgen aufhört«, stellt der Erzähler in seiner Darstellung der Position Friedrichs II. fest, »so ist der Regent befugt, deren zweierlei zu brechen - die mit anderen Regenten, die mit seinen eigenen Landes-Stiefkindern« (ebd.). Als intertextuelle Vorlage für den paradoxen und im gewissen Sinne heuchlerischen Standpunkt, den Jean Paul dem einige Jahre früher ge-
77 78
Friedrich II: Anti-Machiavel, S. 121. Ebd., S. 124.
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storbenen Philosophenkönig ankreidet, weisen Berend und später Helmreich auf einen Satz aus dem Anti-Machiavel hin, in dem der Autor die Möglichkeit anvisiert, »qu'il y a des necessites fächeuses, oü un Prince ne sauroit s'empecher de rompre ses Traites et ses Alliances«. 79 Sowohl im Werk selbst als auch im geschichtlichen Kontext gibt es aber vieles, was gegen diese einfache Parallellfiihrung von Zitaten und die darin begründete Interpretation der Passage als »ironischer Anspielung« 80 spricht. Zunächst ist bei Jean Paul von keinen »necessites fächeuses«, keinen fatalen Notfällen die Rede, die bei Friedrich den akzeptablen Vertragsbruch qualifizieren. Außerdem ist dieses Paradox - Antimachiavellismus der Theorie und Machiavellismus der Praxis - seit der Publikation des Anti-Machiavel zu einem Leitmotiv des Lebens des preußischen Königs geworden, das weit über dieses jugendliche Zugeständnis zu dem ihm verhassten Italiener hinausweist. Gegen die Vorstellung, diese paradoxe Anspielung ließe sich als verstecktes Zitat erklären, könnte daher behauptet werden, dass die gewollt paradoxe Form der Aussage im Gegenteil einen Versuch des Autors darstellt, zum Kern des politischen Denkens der Aufklärung vorzudringen und die ihm innewohnenden Aporien bloßzulegen. Dabei liest sich die Darstellung Friedrichs als machiavellistischen Antimachiavellisten oder, umgekehrt, als antimachiavellistischen Machiavellisten zugleich als eine Satire in eigenem Recht und als Kommentar zur politischen Handlung des Hesperus, vor allem zur Figur des Lords und dessen machiavellistischer Handlungsweise. Ein Hinweis auf diese Verbindung zwischen narrativer Romanhandlung und diskursiv-satirischer Digression findet sich in den Entwürfen zum Hesperus vom Herbst 1792. Bach gibt aus diesem Entwurfheft eine frühe Charakteristik des Lords Horion wieder, der allerdings »die Mäuse besonders übel mitgespielt« haben, und die deswegen nur fragmentarisch überliefert ist: Hasset unnüze Worte, Klagen - lobt sich gerade zu [ ] - L[ord] indeklinabler Mensch, geht nach nichts - kühner D[ichter? - ...] [neue Zeile\ H. [ = Herold??] - lügt oft - Liebt zu sehr gute Intriguen - [ that?] alles der eignen Vervolkomnung wegen - ist Frideriz [ - sucht???] Genies ohne es zu sein - 8 1
Die fragmentarische Form dieser Aufzeichnungen lässt keine definitiven Schlussfolgerungen zu. Laut Bach könnte daher unter »Frideriz« sowohl »Friderizianer« als auch »Friderizi« verstanden werden, insofern als in den Entwürfen zum Hesperus auch einen Prinzenhofmeister Friderizi vorkommt, der jedoch später aus der Handlung ausgeschieden wird. Allerdings scheint Bach selbst die zweite
79
80 81
Ebd., S. 129. Vgl. Berend: Texterläuterungen zu Titan, S W I, 3, S. 414; und Helmreich: Jean Paul & le metier litteraire, S. 200. Helmreich, ebd. Bach: Jean Pauls Hesperus, S. 44.
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Hesperus: Über politischen undpoetohgischen
Machiavellismus
Möglichkeit, »daß der Lord an seine Stelle treten sollte«, auszuschließen, »denn die Charakteristik des Prinzenhofmeisters steht erst hinter der des Lords«. 82 Betrachten wir die späteren Aufzeichnungen zu dieser Figur, scheint der Prinzenhofmeister Friderizi außerdem sehr wenig mit der Figur des Lords gemeinsam zu haben. Als potentielle Figur des Romans ist er vor allem durch seine Vorliebe für »Feinheit« und »Eleganz« gekennzeichnet und scheint an der politischen Handlung des Romans keinen Teil zu haben. 83 Plausibler ist dabei die andere, von Bach erwogene Möglichkeit. Am Ende der Aufzeichnungen scheint Jean Paul in der Tat eine Zusammenfassung des machiavellistischen Charakters des Lords zu geben: er »lügt oft«, er tut »alles der eignen Vervolkomnung wegen« kurz: er ist im politischen Sinne ein »Friderizianer«, ein Schüler Friedrichs II. 84 Nichts desto weniger ist in diesem frühen Entwurf ein etwas anderer Realpolitiker zu erkennen als im fertigen Roman, denn der Lord tut letztendlich nichts »der eignen Vervolkomnung«, des persönlichen Machttriebes wegen, sondern hat immer das Wohl des Staates, des Fürstentums Flachsenfingen im Auge. In der Wahl zwischen zwei konträren Formen der Staatsräson, zwischen Kratos und Ethos, 85 hat sich damit Jean Paul für die zweite entschieden. Sowohl für den »Friderizianer« als auch für Friedrich selbst gilt weiterhin, dass ihr politischer Instrumentalismus mit aufklärerischen Zwecken des Konsitutionalismus und der Staatsreform verknüpft ist. Aus diesen frühen Notizen könnte also gefolgert werden, dass die historische Gestalt des preußischen Königs oder, wichtiger noch, die durch ihn vertretene Denk- und Handlungsweise in der Arbeit an der Figur des Lords mitgespielt hat — wobei es ebenfalls nahe liegen würde, in der Beschreibung von Friedrich II. als einem »Antimachiavellisten«, der sich »auf den Machiavell« stützt, auch eine Beschreibung des Lords zu erkennen, der sich dem Gedankengut der Aufklärung verpflichtet sieht, der sich aber bei der Umsetzung dieser Prinzipien in politische Praxis auf machiavellistische Maximen verlässt. In zweierlei Hinsicht kann daher die Abhandlung über den Vertrag und den Vertragsbruch, der den Ersten Schalttag des Hesperus ausmacht, als Kommentar zu oder Weiterfiihrung der poetologischen und politischen Verhandlungen der Romanhandlung ange-
82 83 M
85
Ebd. Ebd., S. 56f. Vgl. Horst Möller: »Friderizianismus, Theresianismus, Josephinismus«, in Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 4. Zwischen Absolutismus und Aufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. 1 7 4 0 - 1 7 8 6 . Herausgegeben von Ralph-Rainer Wuthenow, Reinbek bei Hamburg, 1980, S. 2 7 - 4 1 . Vgl. dazu Meinecke: Die Idee der Staatsräson, S. 5: »Zwischen Kratos und Ethos, zwischen dem Handeln nach Machttrieb und dem Handeln nach sittlicher Verantwortung, gibt es auf den Höhen des staatlichen Lebens eine Brücke, eben die Staatsräson, die Erwägung dessen, was nützlich und heilvoll ist, was der Staat tun muß, um das Optimum seiner Existenz jeweils zu erreichen.«
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sehen werden: erstens, indem sie diese Verhandlungen auf die zugleich anschauliche und durch den historischen Kontext mehrfach kodierte Formel des »Vertrages« bringt und darin die Konvergenz des Poetologischen und des Politischen aufweist; zweitens, indem sie zur Kontextualisierung und Politisierung des Charakters und der Handlungen des Lords beiträgt und ihn der Machiavelli-Rezeption des 18. Jahrhunderts zuordnet, die im Leben und Werk Friedrichs II. einen Höhepunkt erreicht. Aus dieser Kommentarfunktion der Abhandlung des Ersten Schalttages heraus entstehen allerdings auch »satirische Textstrukturen«, in denen das oben besprochene Motiv des Vertragsbruches radikalisiert und verfremdet wird und dabei eine satirische Funktion übernimmt, die laut Stockinger darin besteht, »die Wirklichkeitsvorstellung des Lesers dahingehend zu ändern, daß er die gesamte Wirklichkeit oder einzelne ihrer Teile negativ beurteilt«. 86 Oben haben wir gesehen, wie sich in der »Leichenrede auf den Fürstenmagen«, die »satirischen Textstrukturen« verselbstständigt haben und in eine Satire mit eigener >Werkshöhe< übergegangen sind. Sowohl in der Unsichtbaren Loge als auch im Hesperus werden satirisch-witzige, aber auch empfindsame und enzyklopädische Texte und Textbrocken als »Extrablätter« oder »Schalttage« in die Romane eingefügt. Zwischen Satire und Roman entsteht daher im Gesamtwerk Jean Pauls ein komplexes Verhältnis, das in der Abhandlung des Ersten Schalttages des Hesperus selbst zum Ausgangspunkt und Objekt einer satirischen Digression wird. Am Anfang der Abhandlung erfahren wir, wie am 4. Mai 1792 ein Vertrag zwischen Leser und Erzähler abgeschlossen worden ist, durch den der Erzähler das Recht bekam, »witzige und gelehrte Schalttage« (I, 3, 91) zu schreiben und in seinem Werk drucken zu lassen. Wenn sich der Erzähler im Ersten Schalttag zum ersten Mal auf dieses ihm im Vertrag zuerkannte Recht beruft und die Romanhandlung abbricht, tut er es, um die Frage nach der allgemeinen Gültigkeit von eben solchen Verträgen aufzugreifen: Müssen sie gehalten werden, oder ist es genug, dass man sie macht? Aus der Satire ist damit eine Metasatire geworden, die ihre eigene Existenzberechtigung in Frage stellt. Paradoxerweise ist es aber gerade diese absolute poetologische Selbstbezüglichkeit von Jean Pauls Text, die seine durchaus politische Weltbezüglichkeit zum Vorschein kommen lässt - im Sinne einer glänzenden Satire auf die Treulosigkeit der Fürsten. Als Beispiel der satirischen Textstrukturen dieser Abhandlung könnte zunächst eine Passage herangezogen werden, in welcher der Erzähler den Inhalt eines von ihm verfassten »Manuskript[s]« wiedergibt, aus der Zeit, als er noch »im Kabinett arbeitete (schon um 6 Uhr mit dem Flederwisch, die Sessionstische abstäuben, nicht mit der Feder)« (SW I, 3, 135):
86
Ludwig Stockinger: Ficta Respublica, S. 77.
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Hesperus: Über politischen undpoetologiscben
Machiavellismus
In diesem war ich einfältig genug und wollte den Fürsten erst raten, von Nof-Lügen und Not-Wahrheiten der Traktaten müssten sie in jeder Breite und Stunde deklinieren und inklinieren-, ich wollte die Staatskanzleien in einen Winkel zu mir heranpfeifen und ihnen in die Ohren sagen: ich würd' es, und hätte ich nur neun Regimenter in Sold und Hunger, nie leiden, daß man mir mit dem Wachs und Siegellack der Verträge Hände und Füße zusammenpichte und mit der Dinte die Flügel verklebte; das wollte ich in die Staatspraxis erst einfuhren - (SW I, 3, 136)
Der Erzähler, der in den Kabinettsräumen Staub wischt, will sich in seinem Manuskript zum Ratgeber der Fürsten aufwerfen, um ihnen zu raten, sich unter keinen Umständen durch irgendwelche Verträge verpflichten zu lassen. Auch diesen Rat könnte der Erzähler von Friedrich II. abgeschrieben haben, denn in den späteren Werken des preußischen Königs wird an mehreren Stellen der Vertragsbruch als durchaus legitimes Mittel politischen Handelns zur Kenntnis genommen. Obwohl Friedrich II. in der Abhandlung über den Vertragsbruch an keiner weiteren Stelle namentlich genannt wird, scheint Jean Paul durch den einleitenden Hinweis auf den antimachiavellistischen Machiavellisten einen Schlüssel zur Interpretation der Satire gegeben zu haben. Hat Friedrich im Anti-Machiavel noch versucht, die Machtpolitik den Aufklärungsidealen zu unterwerfen, konstatiert er im Vorwort zur Histoire de mon temps von 1775 den Zusammenbruch dieser im aufgeklärten Absolutismus erstrebten Synthese von Moral und Politik: »Die Streitfrage lässt sich so formulieren: ist es besser wenn das Volk zugrunde geht oder wenn der Fürst seinen Vertrag bricht?« Die Antwort Friedrichs folgt durch eine neue, diesmal rein rhetorische Frage, in der er seinen Positionswechsel formuliert: »Wer wäre so schwachsinnig, bei Entscheidung dieser Frage zu schwanken?« Nur der »Privatmann« muss »sein Wort gewissenhaft halten«; der Fürst ist dagegen verpflichtet, seine Handlungen ganz nach den »Verhältnissen« zu richten, auch wenn dies bedeutet, dass er sein Wort brechen muss. 8 7 Schon in seinen Jugendsatiren hat Jean Paul ein durchaus ambivalentes Verhältnis zum preußischen Souverän an den Tag gelegt. Ähnlich wie andere Schriftsteller und Intellektuelle der Zeit, darunter Wieland, 88 hat auch Jean Paul für die aufgeklärt-absolutistische Ideologie des Philosophenkönigs Sympathie gehabt, 89 war aber von dessen machtpolitischer Usurpation der individuellen Freiheitsrechte sowie dessen Kriegspolitik abgestoßen. 90 Zur Zeit der Entstehung des Hesperus war Friedrich II. allerdings längst tot. Daher empfiehlt sich, nicht nur einzelne Aussagen aus den Werken des preußischen Königs heranzuziehen, son-
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88
89 90
Friedrich II.: »Geschichte meiner Zeit (1775)«, in Die Werke Friedrich des Großen in deutscher Ubersetzung. Herausgegeben von Gustav Berthold Volz. Band 2, Berlin 1912, S. 14. W. Daniel Wilson: »Wielands Bild von Friedrich II. und die >Selbtszensur< des Teutschen Merkurs«, in Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29/1885, S. 23ff. Vgl. Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung, S. 106. Vgl. ebd., S. 106, S. I l l , S. 114.
Politik und Poetologie
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dem sein ganzes Leben und Werk als einen großen >Text< zu betrachten, in dem die Inkonsistenzen seines Schreibens und Handelns synchron und diachron zum Vorschein kommen können. Nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung des AntiMachiavel und seiner Thronbesteigung hat Friedrich II. den Vertrag seines Vaters mit Osterreich gebrochen. Zuvor hatte Friedrich Wilhelm I. die sogenannte »pragmatische Sanktion«, die der Erbtochter Maria Theresia die Nachfolge nach Karl VI. versichern sollte, förmlich angenommen, aber sein Sohn behauptete, Osterreich hätte selbst die Verbindlichkeiten dieses Vertrags gebrochen, und nutzte den Tod des habsburgischen Kaiser als Gelegenheit, in Schlesien einzumarschieren und die schlesischen Fürstentümer für Preußen zu beanspruchen. Das war das erste Mal, dass Friedrich, ganz im Geiste Machiavellis, den Vertragsbruch als politisches Werkzeug einsetzte. Die Legitimierung dieser Handlungsweise wird bei Jean Paul in den Mund eines »Herrn Herkommen — des besten deutschen Publizisten« - gelegt, der beweisen kann, »daß ein Landesfiirst die Verträge, Privilegien und Bewilligungen zwischen seinem Vorfahrer und den Untertanen gar nicht zu beachten brauche« (SW I, 3, 136). Daraus folgt aber auch, so weiter der Staatsrechtler Herr Herkommen, »daß er noch weit weniger seine eignen Verträge mit ihnen zu halten vonnöten habe, da ihm die Nutznießung dieser Verträge, die in nichts als im Halten oder Brechen besteht, offenklar als Eigentümer gebührt« (ebd.). Bei Jean Paul geht es an dieser Stelle jedoch nicht um die Verträge zwischen Regenten verschiedener Staaten, sondern um die Verträge zwischen Fürst und Untertan. Der Gesellschaftsvertrag, an den so viele Hoffnungen der aufklärerischen Staatstheorie geknüpft waren, ist damit zum Eigentum des Fürsten, die gegenseitigen Verpflichtungen sind zu einseitigem Beherrschen geworden. Auf diese Weise kann Jean Paul seinen Lesern den endgültigen Zerfall des Ideals des aufgeklärten Absolutismus vorführen, der in der prinzipiellen Unmöglichkeit, das Pflichtgefühl eines Herrschers fur die Zukunft zu verbürgen, sowie in der Lebensgeschichte Friedrichs II. schon angelegt war. Zur Steigerung des satirischen Effekts greift Jean Paul am Ende der Abhandlung des Ersten Schalttages noch einmal, wie schon in der »Leichenrede«, das Motiv des Fürstenkörpers als commercium mentis et corporis auf, indem er die Vorgänge der geistigen Welt, in diesem Fall den Vertragsbruch, auf physiologische Prozesse zurückführt. »Nach der Physiologie«, stellt in diesem Sinne der Erzähler fest, »rückt der alte Körper eines Königs (eines Lesers, eines Berghauptmanns) in drei Jahren einem neuen zu« (SW I, 3, 136f). Diese Beobachtung der res extensa habe weiterhin den englischen Empiristen Hume zur Schlussfolgerung gebracht, dass auch die menschliche Seele, die res cogitans, nichts anderes als »einen dahinrinnenden (nicht gefrornen) Fluß von Erscheinungen« darstellt. Einen Vertrag zu halten oder zu brechen, ist daher keine Frage der Tugend, der Treue oder der Zuverlässigkeit, sondern hängt von der körperlichen und geistigen Beschaffenheit des Menschen ab. Letztendlich ist kein Mensch verpflichtet,
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Hesperus: Über politischen undpoetologischen Machiavellismus
sein Wort zu halten, weil ja derjenige, der den Vertrag halten soll, nicht derselbe ist, der ihn abgeschlossen hat: So sehr also der König (Leser, Autor) im Augenblick des Versprechens an dessen Haltung gefesselt ist: so unmöglich kann er noch daran gebunden sein im nächsten Augenblick darauf, wo er schon sein eigner Nachfahrer und Erbe geworden, so daß in der Tat von uns beiden am 4ten Mai hier kontrahierenden Wesen am heutigen Mai nichts mehr da ist als unsre bloßen Posthumi und Nachfahrer, nämlich wir. Da nun glücklicherweise niemals in einen und denselben Augenblick zugleich Versprechen und Halten hineingehen: so kann die angenehme Folge fur uns alle daraus fließen, daß überhaupt gar keiner sein Wort zu halten verbunden sei, er mag Kuppel und Sägespan eines Thrones sein. Auch die Hofleute (die Thron-Eckenbeschläge) setzen diesem Satze nicht darwider. (SW I, 3, 136)
In dieser Passage kommt die »satirische Textstruktur« ins Blickfeld, als eine »Methode der Verfremdung der Erfahrungswelt durch Einfuhrung einer neuen Perspektive«. 91 Diese Verfremdung kann Jean Paul vor allem durch den Bezug auf eine sensualistisch-materialistische Anthropologie erzielen, für die hier Hume, in Wirklichkeit aber auch Vertreter der radikalen französischen Aufklärung wie Helvetius, La Mettrie und d'Holbach Pate standen. Auf die Rolle dieser materialistischen Anthropologie im Werk Jean Pauls wird im folgenden Kapitel, vor allem anhand der »Maschine« als politischer Metapher näher eingegangen. Am Ende seiner Abhandlung über den Vertragsbruch kann Jean Paul ein Zerrbild der absolutistischen Ideologie darstellen, das insofern an die Sophismen des Hippias im Agathon und die Lehre des Eblis im Goldnen Spiegel erinnert, da auch hier die Erbschaft der materialistischen Aufklärung als »demagogisches Herrschaftswissen« (Thome) entlarvt wird. Ihr demagogisches und ideologisches Potential kann Jean Paul vor allem dadurch bloßlegen, indem er zeigt, wie diese philosophischen Gedanken zur Legitimierung der Treulosigkeit und des fehlenden Pflichtgefühls der absolutistischen Fürsten herangezogen werden können. Bloßgelegt wird dabei auch die sozial- und geistesgeschichtliche Allianz von politischem Machiavellismus und sensualistisch-materialistischer Anthropologie. Indem der Machiavellismus Ideen der Aufklärung aufgreift, bekommt er einen Januscharakter, angesiedelt zwischen Absolutismus und Aufklärung, zwischen der alten und der neuen Welt. Dieses Janusgesicht ist im Hesperus zugleich das Gesicht des Lords. Die wichtigste Objektivation seines Charakters ist und bleibt die Intrige des Romans. Zu einer näheren Charakterisierung sowohl der Figur als auch der sich durch sie entfaltenden Handlung kommt es wiederum in der Diskussion der »drei Meinungen« sowie in der oben besprochenen Abhandlung des Ersten Schalttages. Zentrale Themen dieser beiden diskursiven Darstellungen sowie der Intrige selbst laufen dann in einer weiteren Objektivation des Charakters des Lords zusam-
91
Stockinger: Ficta Respublica, S. 84.
Politische Metaphorologie zwischen Absolutismus und Aufklärung
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men, im Motiv der »Insel der Vereinigung«, das auch in anderer Hinsicht eines der merkwürdigsten Motive des ganzen Romans darstellt und das im folgenden Kapitel auf seine gattungsgeschichtlichen und vor allem metaphorologischen Inhalte hin interpretiert wird.
7.4
Die »Insel der Vereinigung«: Politische Metaphorologie zwischen Absolutismus und Aufklärung
In allen heroischen Romanen Jean Pauls kommen abgesonderte und abgelegene Inseln vor, auf denen sich Teile der Handlung abspielen, und die einen mehr oder weniger utopischen Charakter haben. Für die Insel Teidor in der Unsichtbaren Loge, die »Insel der Vereinigung« im Hesperus und die Isola Bella im Titan gilt, dass sie eine zweifache Funktion erfüllen: einerseits als Schauplätze zentraler Episoden der Romanhandlung, wie im Hesperus die Aufdeckung der Intrige im 12. Hundposttag und deren Auflösung am Ende des Romans, andererseits als Verdeutlichungen und Steigerungen individueller Subjektivität, »wobei jede der Hauptgestalten«, so Böschenstein, »ihrerseits von einer sie spiegelnden und fortsetzenden Sphäre »objektiveren Welt umgeben ist«. 92 Dabei umgibt sich im Hesperus »der Dichter Emmanuel mit einer Einsiedelei, die arkadisch-seraphische Züge trägt, Lord Horion mit einer monumentalen Geisterinsel«.93 Aus dieser Doppelfunktion des Inselmotivs heraus stellt Brunner im Hinblick auf den Hesperus fest, dass »die vorwiegende Bedeutung der Insel innerhalb des Strukturganzen des Romans« nicht ihre Funktion als Schauplatz der Romanhandlung sei, sondern darin liege, »das Wesen des Lords zu charakterisieren«.94 Der primäre Sinn dieses Motivs sei daher »nicht der politische«, sondern der psychologische.95 Dagegen könnte aber - nicht zuletzt anhand der oben besprochenen Diskussion der »drei Meinungen« - eingewandt werden, dass im Charakter des Lords politische und psychologische Elemente, Machiavellismus, Stoizismus und Melancholie, ineinander übergehen. In dieser Perspektive erscheint die »Insel der Vereinigung« als eine Verdeutlichung nicht nur der Subjektivität des Lords, sondern auch des dieser Subjektivität zugrunde liegenden, politischen und poetologischen Machiavellismus. Als narrative Objektivation oder gar als dramatische Kulisse eines machiavellistischen Weltbildes stellt die »Insel der Vereinigung« ebenfalls einen Brennpunkt der Historizität des Romans dar. Fast im emblematischen Sinne zeigt sich darin der Konflikt zwischen absolutistisch-barocken und aufklärerisch-rationalisti-
92 93 94 95
Böschenstein: »Jean Pauls Romankonzeption«, S. 32. Ebd. Brunner: Die utopische Insel, S. 172. Ebd.
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Hesperus: Über politischen undpoetologischen
Machiavellismus
sehen Auffassungen von Politik, zumal in der paradoxen Metaphorik vom Staat als Maschine sowie von Macht als Geheimnis. Ebenso wie das oben besprochene Bild des Fürstenkörpers stellen auch »Maschine« und »Geheimnis« konventionelle Metaphern aus dem Inventarium des politischen Denkens des Absolutismus dar. In seinem Aufsatz zur »politischen Metaphorologie« Jean Pauls hat Lindner gezeigt, wie Jean Paul eingespielte Metapher, zum Beispiel die Metapher vom Krieg als einem Sturm, zu Gleichnissen erweitert und dadurch verfremdet. 96 Ein ähnlicher Vorgang, obwohl weniger explizit, könnte im Inselmotiv des Hesperus nachvollzogen werden. Für »Maschine« und »Geheimnis« sowie für »Körper« gilt allerdings, dass sich diese Metaphern politischer Souveränität in der Staatslehre des 16. bis 18. Jahrhunderts derart verselbständigt haben, dass ihr metaphorischer Charakter, ihr Gleichnischarakter oft nicht mehr bewusst ist. Mit Hans Blumenberg könnte daher behauptet werden, dass sie »absolute Metaphern« geworden sind, »die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen«, deren Aussagefunktionen »begrifflich nicht auflösbar« sind. 97 Indem wir uns aus dem Bereich der Philosophie, dem Blumenberg seine Studie widmete, in den Bereich der Politik bewegen, liegt dabei die Behauptung nahe, dass diese Metaphern nicht zuletzt durch ihre Absolutheit und Unauflösbarkeit ihre politische Funktion ausüben, als Legitimierungsstrategien souveräner Macht und Machtausübung, die jeder diskursiven oder begrifflichen Kritik entzogen sind. Anhand von Jean Pauls Arbeit an den absoluten Metaphern der absolutistischen Staatslehre wird die These formuliert, dass in den gleichnishaften, oft ironischen und »witzigen« Erweiterungen dieser Metaphern eine Historisierung und Verfremdung absolutistischer Denkmuster herbeigeführt und deren versteckter Herrschaftsanspruch zur Schau gestellt wird. Zugleich können diese Metaphern als Prismen historischen Wandels gesehen werden, denn gerade die Metaphern bringen laut Blumenberg in einem »radikaleren Sinne« als andere Sprachformen, die »Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen zum Vorschein«, 98 die in der vorliegenden Arbeit anhand der Gattungsgeschichte des Staatsromans im 18. Jahrhundert untersucht wird.
7.4.1 Staat als Maschine Immer wieder betont im Hesperus der Erzähler, wie die »Insel der Vereinigung« vom Lord selbst geplant, konstruiert und zum Teil gebaut worden ist. Zumeist
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Vgl. Lindner: »Politische Metaphorologie«, S. 107. Dabei zieht er das folgende Beispiel aus Jean Pauls »Politischen Schriften« heran: »Jeder Kriegs-Sturm gleicht dem SirockoWind: die Gestirne scheinen zu schwanken, so fest sie auch auf der alten Stelle oder Bahn beharren« (SW I, 14, 31). Hans Blumenberg: »Paradigmen zu einer Metaphorologie«, in Archiv für Begriffsgeschichte 6/1960, S. 9. Ebd., S . l l .
Politische Metaphorologie
zwischen Absolutismus und Aufltlärung
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war die Insel «vor der Blindheit des Lords gebauet worden«, aber auch danach »hatt er ihr Inneres durch unbekannte nächtliche Arbeiter vollenden und verstecken lassen« ( S W I, 3, 177f.)· Den Eingang zum Inneren der Insel, zu einer Ruinen- und Todeslandschaft, in der sich in einem »Laub-Mausoleum« ( S W I, 3, 181) das Grab und der schwarze Marmorgrabstein seiner früh gestorbenen Gemahlin befinden, bildet »ein hohes schwarzes, an die Tannenspitzen reichendes Tor«. Es »schien zum Menschen zu sagen: gehe durch mich, hier hat nicht nur der Schöpfer, auch dein Bruder gearbeitet!« ( S W I, 3, 178). Aus der Naturidyllik und dem Rousseauismus der Robinsonaden, die in der idyllischen Parklandschaft des Teidors noch nachwirkten, ist im Inselmotiv des Hesperus so gut wie nichts übrig geblieben. An die Stelle der natürlichen Idylle ist eine technologisch-industrielle Maschinenwelt getreten, in der alle Naturphänomene, Töne, Lüfte, Lichteffekte künstlich hervorgebracht sind. Der Gang zur Insel von dem gegenüberliegenden Ufer wird durch eine Brückenmaschinerie ermöglicht: Diesem Tore gegenüber lag der 27ste Stein. Viktors Vater verrückte ihn, nahm einen Magnet heraus, bog sich nieder und hielt dessen südlichen Pol in die Lücke. Plötzlich fingen Maschinen an zu knarren und die Wellen an zu wirbeln - und aus dem Wasser stieg eine Brücke von Eisen auf. Viktors Seele war von Träumen und Erwartungen überfüllt. Er setzte schaudernd hinter seinem Vater den Fuß in die magische Insel. Hier berührte sein Vater einen dünnen Stein mit dem nördlichen Ende des Magnets, und die Eisenbrücke fiel wieder hinunter. Ehe sie an das erhöhte Tor hintraten, drehte sich von innen ein Schlüssel um und sperrte auf, und die Türe klaffte. Der Lord schwieg. Auf seinem Gesicht war eine höhere Sonne aufgegangen - man kannte ihn nicht mehr - er schien in den Genius dieses zauberischen Eilandes verwandelt zu sein. (SW I, 3, 178)
In den Händen des Lords wird die Welt in eine Maschine verwandelt, er selbst in ihren »Genius«. Die Maschinenmetapher ist in Jean Pauls Werken allerdings keine Errungenschaft des Hesperus, sondern stellt ein Erbe seiner Jugendsatiren dar, in denen er sich eingehend mit dem aus dem französischen Rationalismus und Materialismus übernommenen »Modell« der Maschine auseinandersetzt." Die Grundlage dieses Maschinenmodells bildet die cartesianische Trennung zwischen res cogitans und res extenso., die in der seelenlosen physischen und materiellen Wirklichkeit eine »Weltmaschine« und einen »Weltautomaten« erkennt. 1 0 0 Ihre radikalste Ausprägung findet diese Denkweise wiederum in d'Holbachs Syst-
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Vgl. dazu vor allem die sehr überzeugende Darstellung Wilhelm Schmidt-Biggemanns Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte, München 1975- Zu »Maschine« und »Mechanismus« bei Jean Paul finden sich interessante Darstellungen bei Köpke: Erfolglosigkeit, S. I44ff. und bei Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, S. 122ff. Vgl. auch der Registerartikel »Maschine« aus den Exzerptheften in Müller: Jean Pauls Exzerpte, S. 302-310. Schmidt-Biggemann, ebd., S. 35ff.
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Hesperus: Über politischen und poetologischen
Machiavellismus
ime de la Nature so wie in La Mettries Vorstellung von »Maschinenmenschen«, l'homme machine, in denen einen Austausch zwischen Descartes' beiden Substanzen nicht mehr in Erwägung gezogen wird. Ausgehend vom instrumentellen Materialismus der radikalen französischen Aufklärung wird das Maschinenmodell bei d'Holbach auch auf den Staat übertragen, als Polemik gegen jede normative Begründung des Staatsgebildes. Diese Argumentation d'HoIbachs mündet in einen radikalen Atheismus, den sowohl Voltaire als auch Jean Paul scharf abgelehnt haben. 1 0 1 Eben im radikalen, antiteleologischen Atheismus wäre jedoch ein Konvergenzpunkt von anthropologischem Materialismus und politischem Machiavellismus zu suchen, die ihre gemeinsamen Grundlagen teils im »Gegensatz zwischen Sein und Sollen, den schon Machiavelli offen ausspricht«, teils in der »These, der Mensch sei Natur« haben. 1 0 2 Kennzeichnend ftir den Machiavellismus ist die Auswertung dieser nihilistischen Anthropologie fiir einen konsequenten politischen Instrumentalismus und Funktionalismus, der im Maschinenmodell enthalten ist und entschieden zu dessen Politisierung beiträgt. Dass dieser Instrumentalismus in der Semantik des Begriffes selbst schon angelegt war, kann in Zedlers UniversalLexion nachgelesen werden, in dem die »Maschine« als »ein künstliches Werk, welches man zu einem Vortheil gebrauchen kann«, definiert wird. 1 0 3 Dass dieser von Zedier anvisiert »Vortheil« politisch und machiavellistisch interpretiert werden kann, im Hinblick auf die Erhaltung und Vergrößerung eines Staates, folgt daraus logisch und wird außerdem bei Hobbes vorweggenommen, der den Staat, so Carl Schmitt, zu einer »durch Menschenwitz zustandegekommene[n] großen [n] Maschine« gemacht hat. 1 0 4 In der Einleitung zum Leviathan fuhrt Hobbes den Ubergang vom Maschinenmenschen zum Maschinenstaat exemplarisch vor: Der Mensch kann als eine Maschine betrachtet werden, mit dem Herzen als »Feder«, mit den Nerven als »Strängen« und mit den Gelenken als »Rädern« - der Staat wiederum als »nichts anderes als ein künstlicher Mensch [but an artificial
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Ebd., S. 83f. Kondylis: Die Aufklärung, S. 131. Johann Heinrich Zedier: Art. »Maschine oder Rüst-Zeug«, in ders.: Großes vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 19, Halle/Leipzig 1739, Sp. 1907. Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre von T h o m a s Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, H a m b u r g 1938, S. 30. Vgl. dazu auch Schmitt: »Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes«, in Archiv ftir Rechts- und Sozialphilosophie 3 0 / 1 9 3 6 - 3 7 , 6 2 2 - 6 3 2 . Hobbes: Leviathan, S. 3: »For seeing life is but a motion of limbs, the beginning whereof is in some principal part within, why may we not say, that all automata (engines that move themselves by springs and wheels as doth a watch) have an artificial life? For what is the heart, but a spring, and the nerves, but so many strings·, and the joints, but so many wheels, giving motion to the whole body, such as was intended by the artificier? Art goes yet further, imitating that rational and most excellent work of nature,
Politische Metaphorologie zwischen Absolutismus und Aufklärung
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Gerade diese Doppeltheit der Maschinenmetapher — als Bild des Menschen und als Bild des Staates — wird in den Werken Jean Pauls zur Kenntnis genommen, einerseits indem er seine Romane mit Puppen, Wachsfiguren und andere künstlichen Menschen bevölkert, 106 andererseits in dem er, zum Beispiel in einer 1788 geschriebenen Satire mit dem Titel »Meine Beantwortung der Berliner Preisaufgabe: >ob man den Pöbel aufklären dürfeFürstenerziehungverborgene Prinzredliche Mann am HofeGeheimbundHofkritik< und die >StaatsaktionErfahrungsraum< und >Erwartungshorizont< - zwei historische Katego-
Titan: Der Staatsroman und die Gegenwart als politischer Handlungsraums
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in diesem Jetzt vorhanden, als Zeitschichten der Gegenwart. Mit dieser temporalen Mehrschichtigkeit hat Albano im ganzen Titan-Roman, vor allem aber im vierten Band, zu kämpfen, In der vorangehenden Interpretation des Hesperus haben wir beobachten können, wie sich der Lord in seinem politischen Handeln einerseits von seinem Erfahrungswissen über die Ereignisse der Vergangenheit (die Geburt und den Aufenthaltsort der Fürstensöhne), andererseits von seinen Plänen für die erwartete Zukunft (die Reform des Fürstentums Flachsenfingen) leiten lässt. Durch diese Strategie der Planung wird das Jetzt des politischen Handelns übersprungen und aus der Handlung ausgeblendet. Trotz ihres machiavellistischen Charakters scheint die Planung des Lords im Roman die Evidenz des immer schon Verwirklichten zu besitzen. Zur politischen Wirklichkeit dieser Figur gehört daher kaum der Handlungsraum der Jetztzeit, sondern lediglich der Erfahrungsraum der Vergangenheit und der Erwartungshorizont der Zukunft. Statt eines politischen Handlungsraumes stellt im Hesperus die Gegenwart vor allem einen Lebens- und Erlebnisraum der »hohen Menschen« des Romans dar. Sowohl Viktor als auch Klotilde und Emmanuel/Dahore sind laut Wölfel dadurch charakterisiert, dass »sie im jeweils Gegenwärtigen aufgehen und vom - erfüllten - Augenblick zum anderen leben«. 12 Zwischen der »Gegenwarts-Fixierung des Erzählers« und seinem »Desinteresse am Geschichtszusammenhang der Romanhandlung« bestehe weiterhin ein komplementäres Verhältnis. 13 Kommt jedoch die Planung des Lords im Hesperus ohne einen direkten Bezug auf die Gegenwart als politischen Handlungsraum aus, sucht Albano in seiner Utopie der politischen Tat einen solchen Bezug herzustellen. Das wichtigste Beispiel findet sich in seiner Entscheidung, nach Frankreich zu gehen, um in den Revolutionskriegen fur Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu kämpfen. Aus der Gegenwart als Zeitdimension oder Zeithorizont politischen Handelns ist damit eine konkrete historische Gegenwart geworden, nicht nur für den Romanhelden Albano, sondern auch für den Roman selbst. Aus dem Staatsroman soll ein Zeitroman werden. Obwohl Bergk in seiner Kritik am politisch-historischen Roman der Spätaufklärung keineswegs die Romane Jean Pauls im Auge hatte, hat sein Urteil auch für den Titan, für den Staatsroman als Zeitroman, eine gewisse Relevanz. Laut Bergk lässt der Autor eines politischen Romans einen Helden auftreten, »der irgendeine Rolle bei einer großen Weltbegebenheit gespielt hat, und legt ihm seine eigenen politischen Meinungen in den Mund«. 1 4 Für Albano dagegen gilt, dass er nie dazu kommt, seinen Auftritt bei der Weltbegebenheit
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rien«, in ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1992 [1979], S. 349ff. Wölfel: »Die Unlust zu fabulieren«, S. 60. Ebd. Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen, S. 257.
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Titan: Der Staatsroman und die Gegenwart als politischer
Handlungsraum
der französischen Revolutionskriege zu machen und kaum als Vertreter irgendwelcher politischen Meinungen betrachtet werden kann. Daraus sollte allerdings nicht gefolgert werden, dass im Titan keine politisch-historischen Themen zur Sprache kommen, sondern nur, dass sie andere Ausdrucksformen gefunden haben als welthistorische Erfahrungen oder politische Überzeugungen. Im folgenden Kapitel wird zunächst darauf eingegangen, auf welche Weise Jean Paul in seinem Titan das Gattungsmaterial des Staatsromans aufgreift und bearbeitet, und wie in dieser Bearbeitung, in diesen Gattungsverhandlungen eine neue Erfahrung der Geschichte vermittelt wird, nicht im Sinne eines kontinuierlichen Raums, sondern einer endlosen, auf die Zukunft hin offenen Bewegung (8.1). Obwohl dieser Prozess der »Verzeitlichung der Geschichte« (Koselleck) auch in den früheren Romanen Jean Pauls wirksam war, ist er aber erst im Titan zum zentralen Thema des Romans geworden. Thematisiert wird dabei vor allem, wie sich der Zeit- und Handlungsraum der Gegenwart in eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auflöst und wie sich der Held gezwungen sieht, mit dieser temporalen Mehrschichtigkeit umzugehen (8.2). Zur Erforschung der Zeitproblematik im Titan stellt die Romreise, die Albano mit seinem Pflegevater unternimmt, das zentrale Motiv dar - vor allem, weil gerade diese Reise in die Vergangenheit paradoxerweise auch zum Anlass der Entscheidung des Helden wird, in den Krieg zu gehen und fiir die Revolution zu kämpfen (8.3). Indessen stellt die Französische Revolution nicht nur ein Motiv der Romanhandlung, sondern ebenfalls den unmittelbaren historischen und politischen Kontext des Titan dar. Durch den Bezug auf die Französische Revolution scheint damit der Roman zu einem »Zeitroman« zu werden, wobei neue Fragestellungen zur Funktion des Gattungsmaterials in den Vordergrund rücken (8.4). Anhand der im Titan stattfindenden Gattungsverhandlungen kann weiterhin gefragt werden, ob die Utopie der politischen Tat im Staatsroman oder im Bildungsroman überhaupt einen Platz hat, oder ob sie im Gegenteil über beide Gattungsmuster hinausweist (8.5). Zur heroischen Tat kommt es aber nicht. An deren Stelle tritt stattdessen Albanos Entscheidung zur Tat, die im Roman, vor allem im vierten Buch, eingehend geschildert wird und somit - stellvertretend für die heroischen Taten auf dem Schlachtfeld - den narrativen Höhepunkt der politischen Handlung des Titan bildet. Aber sobald die Entscheidung in den Mittelpunkt der Handlung rückt, stellt sich auch die Frage nach ihrer normativen Begründung, die Jean Paul zum Prüfstein des Charakters seines Helden sowie zum Zentrum der poetologischen und politischen Verhandlungen des Romans macht (8.6). Das Material dieser Verhandlungen bleibt jedoch das Gattungsmaterial des Staatsromans, das in Jean Pauls Titan — möglicherweise zum letzten Mal - bearbeitet wird.
Titan und das Gattungsmaterial des Staatsromans
8.1
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Titan und das Gattungsmaterial des Staatsromans
Als Staatsroman hat der Titan etwas Entschiedenes und Überlegtes an sich, was seinen Vorgängern gefehlt hat — nicht nur weil Jean Paul seine Digressionen und Ausschweifungen in den Komischen Anhang verbannt, sondern auch, weil er im Titan die Konventionen des Staatsromans mit einer erstaunlichen narrativen Konsequenz umsetzt. Die Vorlage fur die narrative Handlung des Titan bietet dabei der Staatsromantopos des verborgenen Prinzenc.15 Am Anfang des Romans lernen wir den Helden Albano als einen Kleinadeligen kennen, als »Graf von Cesara« (vgl. S W I, 8, 7) und angeblichen Sohn des Spanischen Vliesritters Don Gaspard. Um ihn von den Intrigen des Hofes und den Verschwörungen des Nachbarfürstentums Haarhaar fern zu halten, wird er in Italien erzogen, »diesen giftigen Einflüssen entzogen« (SW I, 9, 437), wie seine Mutter später in einem Brief bemerkt. Am Ende des vierten und letzten Bandes entpuppt sich dann Albano als rechtmäßiger Thronerbe des kleinen deutschen Fürstentums Hohenfließ und steigt zum absolutistischen Fürsten auf. Ehe es zu diesem glücklichen Ende kommt, haben jedoch Albanos bürgerliche Sensibilität und Erziehung ihn fur die demokratischen Ideale der Französischen Revolution empfänglich gemacht und ihn zum Entschluss gebracht, fur die Freiheit in den Krieg zu ziehen. Wenn er aber durch den Brief der Mutter die Wahrheit über seine königliche Herkunft sowie über sein Erbrecht auf den hohenfließschen Thron erfährt, nimmt sein Leben einen anderen Weg: Albano stand lange sprachlos, schaute gen Himmel, ließ das Blatt fallen und faltete die Hände und sagte: »Du schickst den Frieden - ich soll nicht dem Krieg - wohlan, ich habe mein Loos!« (SW I, 9, 439)
In Ubereinstimmung mit den Konventionen des aufgeklärten Staatsromans und besonders mit dem Topos des verborgenen Prinzen< besteht das »Loos« Albanos darin, die Regierung des kleinen Fürstentums zu übernehmen und das absolutistische Regime nach aufgeklärten Vorsätzen zu reformieren. Doch am Ende des Romans haben wir über die faktischen Pläne des neuen Fürsten oder deren Ausführung so gut wie nichts erfahren. An sich scheint aber sein tugendhafter und freiheitsliebender Charakter ein Wechsel auf die Zukunft und eine Garantie fiir eine gerechte und tugendhafte Herrschaft darzustellen — die Utopie ist eingetroffen. Auch über die Adaption des Topos des verborgenen Prinzen< hinaus ist der Titan mit einer Reihe mehr oder weniger versteckter Hinweise auf die Gattungskonventionen des Staatsromans versetzt. Schon auf der ersten Seite des Romans lässt Jean Paul einen der beiden Erzieher des jungen Albano, einen Ironiker und
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Vgl. Müller: »Der verborgene Prinz«, S. 39.
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Titan: Der Staatsroman und die Gegenwart als politischer
Handlungsraum
Humoristen namens Schoppe, sich auf die überragenden Vorbilder der Gattung beziehen. Über Albano, der noch den Namen »Cesara« trägt, 16 bemerkt er: »mein Telemach ists, und ich mache den Mentor dabei« ( S W I, 8, 7). Zur Bestimmung dieses pädagogischen Projekts dient indessen nicht nur der Hinweis auf Fenelon und dessen Staatsroman Telemaque, sondern einige Seiten weiter auch, wie schon bei Wieland, der ebenso gattungseigene Hinweis auf Xenophon und dessen Kyropädie. Dabei fragen sich die beiden Lehrer Albanos, der Humorist Schoppe und der eher schwärmerisch angelegte Dian, die in ihrem Schüler einen Heros der griechischen Antike, eine »Jupiters Statue« und einen »Herkules« erkennen wollen, was »zwei Pädagogiarchen und Xenophone wie wir [ . . . ] bei ihrem Cyrus [ . . . ] in ihrer Cyropädie« ( S W I, 8, 26) machen können, um seine widerstrebenden Kräfte in Harmonie zu bringen. Am Anfang des Titan legt weiterhin Albanos angeblicher Vater Don Gaspard — in dem eine überarbeitete Version der Figur des Lords aus dem Hesperus zu erkennen ist - seinem Sohn und den Lesern einen Plan für den Roman vor, der im großen und ganzen der Plan des aufgeklärten Staatsromans ist: Albano soll lernen, »am Ende Handlungen den Vorzug vor Genüssen zu geben«; er wird sich, so Don Gaspard, »nicht geboren fühlen, die Menschen blos zu belehren oder zu belustigen, sondern zu behandeln und zu beherrschen« (SW I, 8, 34). Obwohl Don Gaspard seinem Pflegesohn dessen wahre Herkunft nicht enthüllen kann, spiegelt er Albano eine Art Fürsten- oder Prinzenerziehung vor: Der junge Held soll den Minister von Froulay für sich gewinnen, um sich dadurch die notwendigen »Kenntnisse des Regierungs- und Kammerwesens« anzueignen, er soll dem Fürsten und dem Hofe »lieb« werden, »weniger weil [er] Konnexionen als weil [er] Erfahrungen braucht«. Vor den »ädeln« Menschen, die, so müssen wir Don Gaspars spöttischen Ton verstehen, sich nicht in die Welt der Politik hineinwagen, soll er aber »fliehen« ( S W I, 8, 35). Uber die Anspielungen auf die Vorbilder der Gattung und den Erziehungsplan des Don Gaspards hinaus spielt sich die Staatsromanhandlung des Titan auch in den Vorausdeutungen und Vorahnungen aus, die - wie bereits in der Unsichtbaren Loge und im Hesperus erkannt - nach dem Vorbild des Schaueroder Geheimbundromans auf eine versteckte verschwörerische Intrige hinweisen. Durch eine Reihe geheimer, gespenstischer Mitteilungen erhält Albano noch lange vor der endlichen Enthüllung im Brief der Mutter über sein wahres Schicksal Auskunft: »[N]imm die Krone«, sagt ihm schon während seines ersten Aufenthaltes auf der Isola Bella eine geheimnisvolle Stimme ( S W I, 8, 41). Diese Aufforderung lebt in seiner Erinnerung und kommt ihm zu Bewusstsein, wenn er das Paradebegräbnis des alten Fürsten betrachtet und sich vorstellt, »wie er, wär' er ein Fürst [ . . . ] die Freiheit, statt sie nur zu vertheidigen, erschaffen und
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Zur Bedeutung der Namen vgl. Schlaffer: Der Bürger als Held, S. 15.
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erziehen und ein Regent sein wollte, um Selbstregenten zu bilden«. Doch fragt er dann traurig: »aber warum bin ich keiner?« (SW I, 8, 224). Anhand dieser Beispiele kann festgestellt werden, dass das Gattungsmaterial des Staatsromans im Titan eine ganz andere Funktion hat als im Hesperus. Dass die Fürstenerziehung Albanos und die Pläne Don Gaspards keineswegs von der Ironie des Erzählers verschont bleiben, sondern immer wieder ins Zwielicht der humoristischen Ambivalenz geraten, verhindert nicht, dass diese Motive eine Finalitätskonstruktion bilden, die den Anfang der Romanhandlung auf der Isola Bella mit dem Ende am Hofe in Hohenfließ verknüpft. Diese Art Finalität fand sich dagegen im Hesperus nur in der Planung des Lords. Um die Beziehung zwischen diesen beiden heroischen Romanen auf eine Formel zu bringen, könnte daher behauptet werden, dass im Titan die Kontrafakturen des Hesperus rückgängig gemacht und die Konventionen und Topoi des Staatsromans wieder zu funktionalen Elementen der Handlung erhoben werden — nicht als Selbstzweck, sondern als Hintergrund der Entfaltung einer Utopie der politischen Tat, die den eigentlichen Brennpunkt des Romans darstellt. Dass im Titan eine Bearbeitung des Gattungsmaterials des Staatsromans stattfindet, geht aus den oben herangezogenen Beispielen hervor. Ob das auch bedeutet, dass der Titan als Staatsroman in den literarischen Kanon eingestuft werden sollte, ist fiir meine Fragestellung weniger wichtig. Sicherlich ist der Titan auch ein paradigmatischer Bildungsroman, der eine über lange Zeit erworbene und scheinbar unbestrittene Position im Kanon der Bildungsromane einnimmt, 1 7 und von dem Dilthey behauptet, er fasse »die ganze Summe des damaligen Bildungsromans« zusammen. 18 Darüber hinaus ist auch der Titan, wie die anderen hier besprochenen Romane Jean Pauls, von einer empfindsam-sentimentalischen, an Sterne geschulten Schreibart geprägt, durch die diese unterschiedlichen Handlungsstränge als nebensächlich erscheinen. Aber gerade diese Fülle des im Roman bearbeiteten Gattungsmaterials und die daraus resultierenden Paradoxa und Aporien lösen eine gattungsgeschichtliche Dynamik aus, die das Ganze des Werkes entschieden mitbestimmt und die hier anhand der von Albano vorgetragenen Utopie der politischen Tat ermittelt wird. Ehe wir uns den Gattungsaporien und Gattungsverhandlungen zuwenden, wird jedoch noch ein Element aus dem Gattungsmaterial des Romans aufgegriffen, das den Bezug des Titan zu seinem Vorgänger, dem Hesperus, aber auch zur Tradition des aufgeklärten Staatsromans noch deutlicher hervortreten lässt und das zugleich die Umdeutung dieser Tradition im Kontext der neuzeitlich bewegten Geschichte vorwegnimmt. Gegen Ende des vierten Kapitels des Titan, »vierte
17
18
Vgl. ζ. B. Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 109; Jacobs/Krause: Der deutsche Bildungsroman, S. 117ff.; und Köpke: »Bildung and the Transformation of Society«, S. 235flf. Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung, S. 394.
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Titan: Der Staatsroman und die Gegenwart als politischer
Handlungsraum
Jobelperiode« (SW I, 8, 103) überschrieben, erfahren wir, dass die Fürstin von Hohenfließ gestorben ist und dass der Kronprinz Luigi »aus Welschland zum Fürstenstuhle« (SW I, 8, 123) zurückgeholt werden muss, um seinem alten herrschaftsunfähigen Vater beizustehen. Auf Befehl Don Gaspards soll desweiteren Albano seinem idyllischen Leben auf der Isola Bella entrückt werden, zufolge eines Plans des Pflegevaters, »seinen Sohn mit dem jungen Fürsten und ihre ersten Pestitzer Verhältnisse zu verknüpfen und zu mischen« (SW I, 8, 124). Albano ist vorläufig ans Ende seiner dem Hofe entzogenen, in abgelegenen idyllischen Umgebungen stattfindenden Erziehung gelangt und soll, wie vor ihm Agathon, in die Welt der Politik zurückkehren. Ehe er vom Boten Don Gaspards abgeholt wird, bereitet sich der Held auf sein neues Leben vor: Der bedeckte, aber mit Enkaustik in sein Gehirn eingeschriebene Plan des Lebens war (wie bei allen solchen Jünglingen) der, nichts Größeres zu werden und zu thun als - alles, nämlich zugleich sich und ein Land zu beglücken, zu verherrlichen, zu erleuchten - ein Friedrich II. auf dem Throne, nämlich eine Gewitterwolke zu sein, [...]. (SWI, 8, 125)
Anhand dieses Zitats, das einen »Plan des Lebens« Albanos, aber auch einen Plan des Romans enthält, könnten zunächst zwei Feststellungen gemacht werden: zum einen, dass der zu diesem Zeitpunkt längst verstorbene Friedrich II. dem jungen schwärmerischen Albano als ein vorbildlicher Herrscher erscheint, der durch seine Herrschaft im Stande war, ein Land »zu beglücken, zu verherrlichen, zu erleuchten«; zum zweiten, dass durch diesen hoffnungsvollen und im gewissen Sinne utopischen »Plan« Albanos die Staatsromanhandlung des Titan mit der Zielprojektion des aufgeklärten Souveräns verknüpft wird. Jean Paul wäre allerdings nicht Jean Paul gewesen, wenn er nicht die Metapher der »Gewitterwolke« - an sich sicherlich ein höchst ambivalentes Bild - sofort zu einem Gleichnis ausgebaut hätte. Als »Gewitterwolke« hat der preußische König Bannstralen für den Sünder, elektrisches Licht für Taube und Blinde und Lahme, Güsse für die Insekten und warme Tropfen für durstige Blumen, Hagel ftir Feinde, eine Anziehung für alles, für Blätter und Staube, und ein Regenbogen fur das Ende, (ebd.)
Die »Gewitterwolke« als Bild Friedrichs II. reiht sich den anderen Natur- und Wettervorgängen an, die Jean Paul als Metaphern für politische Ereignisse verwendet. 19 Innovativ an Jean Pauls politischer Metaphorologie ist vor allem die Weise, wie die zum Teil stark konventionalisierte Wettermetapher, als »Darstellungsform der Evidenz von Einsichten«, 20 zu einem Gleichnis ausgebaut und zugleich umgeschrieben und umgedeutet wird. Ohne auf die einzelnen Elemente des oben zitierten Wettergleichnisses einzugehen, kann festgestellt werden, dass
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Vgl. Lindner: »Politische Metaphorologie«, S. 106ff. Ebd., S. I13f.
Titan und das Gattungsmaterial des Staatsromans
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sich Albano darin einer utopischen Allmachtsphantasie hingibt, in der er zunächst Friedrich II., dann aber sich selbst gespiegelt sieht. Auch im Titan stellt also Jean Paul die emblematische Gestalt Friedrichs II. ins Zentrum seiner poetologischen und politischen Verhandlungen. Als Verkörperung einer Allianz von absolutistischer Politik und aufklärerischer Moral, von Staatsräson und Utopie kann es nicht verwundern, dass gerade der frühere preußische König zu einem mehr oder weniger festen Bestandteil des Gattungsmaterials des aufgeklärten Staatsromans geworden ist. Oben haben wir gesehen, wie der friderizianische Machiavellismus des Lords den Hesperus-Kom&n in eine Aporie der narrativen Notwendigkeit und moralischen Unverantwortbarkeit führte. In den schwärmerischen Träumen Albanos ist aus dem antimachiavellistischen Machiavellisten ein aufgeklärter und allmächtiger Fürst geworden. Auch diese friderizianische Utopie wird zum Auslöser poetologischer Verhandlungen, indem sie im Romans als Fiktion entlarvt wird — zunächst auf einer narrativen Ebene, indem Albano einsieht, dass er, als Sohn Don Gaspards, »Friedrich II. nicht sukzedieren durfte« (ebd.) und sein Blick auf den Ministerposten richtet, dann auf einer diskursiven Ebene, wenn der Erzähler, an Albano gewandt, seine erzählerischen Ambitionen an den Tag legt: Es soll mir lieb sein, Graf, wenn du der zweite Friedrich der zweite und einzige wirst; — mein Buch hier wird davon profitieren, und ich selber poussiere dadurch mein Glück als ein seltener, aus Xenophon, Curtius und Voltaire zusammengewachsener Historiograph! - (ebd.)
In dieser Ambition des Erzählers klingt die Figur Oefels aus der Unsichtbaren Loge nach, der ein ausdrücklich literarisches Interesse daran hatte, dass sich Gustav in höfisch-dynastische Intrigen verwickelte, die er dann für seinen Roman auswerten könnte. In der Umkehrung des Verhältnisses zwischen Erzähler und Held ist im Titan ein neues Element hinzugekommen, im Sinne eines expliziten Bezugs auf verschiedene Dimensionen historischer Zeit. Oben haben wir gesehen, wie Albano in der Gestalt Friedrichs eine in die Zukunft hineinprojizierte Utopie eines aufgeklärten und souveränen Herrschers erkennt, die er selbst eines Tages zu realisieren hofft. In der Bemerkung des Erzählers ist dagegen der »zweite Friedrich« keine utopische Erscheinung, sondern eine wirkliche, aber historisch überholte Gestalt. Seinetwegen könne Albano allerdings gern dieses Idealbild verwirklichen, damit er wiederum die Möglichkeit bekomme, sich als Autor einer Fürstenbiographie zu behaupten, für die erwartungsgemäß Xenophons Kyropädie, aber auch die Historiae Alexandri Magni des römischen Historikers Quintus Curtius Rufus und — so müssen wir annehmen - Voltaires Epos über Henri IV., die 1723 erschienene Henriade, die Vorbilder und Gattungsmuster abgeben. Durch diese Intervention des Erzählers wird die Utopie des aufgeklärten Fürsten, die Albano noch realisieren will, ausdrücklich in die Vergangenheit, in die Welt der »Historiographen« zurückverwiesen. O b
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Titan: Der Staatsroman und die Gegenwart ab politischer
Handlungsraum
das Leben Friedrichs II. dem Romanhelden Albano als Vorbild und als Lehrstück dienen kann, ob wir uns mit anderen Worten noch in der Welt des historia magistra vitae befinden, bleibt jedoch zweifelhaft. In der Formel »wenn du der zweite Friedrich der zweite und einzige wirst« könnte vielmehr ein ironischer Hinweis des Erzählers auf die Unmöglichkeit erkannt werden, dieses heroische Leben noch einmal zu leben. Daraus folgt, dass das Idealbild des Herrschers Friedrich II. zwischen Vergangenheit und Zukunft angesiedelt ist - zwischen einer absolut vergangenen Vergangenheit, der keine Lehren mehr für die Gegenwart abgewonnen werden können, sondern die lediglich den Gegenstand eines »Historiographen« darstellt, und einer absolut zukünftigen Zukunft, in der Form einer Utopie, einer utopischen Projektion, deren Verwirklichung nur durch Fortschreiten der Geschichte ermöglicht wird. Für diese Änderung der Zeit- und der Geschichtsauffassung, die in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts stattfindet und an der auch Jean Pauls heroische Romane, vor allem der Titan, teilhaben, hat Koselleck die Formel der »Verzeitlichung der Geschichte« geprägt. 21 In der antiken Lehre des historia magistra vitae stellte die Geschichte noch »einen kontinuierlichen Raum möglicher Erfahrbarkeit« dar; 22 nach 1750 bahnt sich aber eine neue Geschichtsauffassung an, angetrieben vom immer schnelleren gesellschaftlichen Wandel, die in der Geschichte nicht mehr einen Raum, sondern eine Bewegung erkennt, die von der Vergangenheit in die Zukunft abläuft, im Sinne eines endlosen, auf das Ende hin offenen Prozesses. An die Stelle der Geschichte als Schule der Lebenden ist damit die Vorstellung eines ewigen Fortschritts getreten. Aus den Lehrstücken der Vergangenheit - wie hier das Leben Friedrichs II. — sind längst verlassene Stadien eines geschichtlichen Prozesses geworden. Finden sich diese Stadien doch in der Gegenwart wieder, als nostalgische Schwärmereien, als Träume von einem goldnen Zeitalter oder als heroische Vorbilder, dann nur unter dem Anschein von Ungleichzeitigkeiten, von Resten, von Ruinen oder Erinnerungen, die den Weg zur Gegenwart, zum gegenwärtigen und gegenwartsbezogenen Denken und Handeln eher versperren als erleichtern. In der Gegenwart, als Passierstelle der bewegten, vorwärts strebenden Geschichte, lagern sich allerlei nostalgische und utopische Ungleichzeitigkeiten ab, in Schichten, Zeitschichten vergleichbar, die - wie in der geschichtsphilosophischen Traumdichtung des Hesperus veranschaulicht wurde - in einen komplexen temporalen Zusammenhang eingehen. Auch anhand von Wielands Goldnem Spiegel haben wir sehen können, wie dieser Roman eine Umbruchstelle verschiedener Geschichtsauffassungen darstellt. Immer wieder gerät hier die Vorstellung von der Geschichte als Lehrbuch des Herrschers, die der ganzen Erzählsituation und der Pragmatik des Erzählens
21 22
Vgl. ζ. B. Koselleck: »Historia Magistra Vitae«, S. 58. Ebd., S. 40.
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Aporien der Gegenwart
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zugrunde liegt, mit den utopisch-schwärmerischen Ausbrüchen Danischmends in Konflikt. Dass diese Aporie der Geschichtsauffassungen auch eine Aporie der Gattungskonventionen ist, zeigte sich vor allem im Gegensatz zwischen Fürstenspiegel und utopischem Roman als Thema der in der Rahmenerzählung geführten Gattungsverhandlungen. Auch im Titan erweist es sich als höchst zweifelhaft, ob sich aus der heroischen Vergangenheit der römischen Antike, mit der Albano auf seiner Romreise konfrontiert wird, politische Lehren ziehen lassen. Nicht zuletzt durch den Schock der Französischen Revolution ist die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft unterbrochen, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont sind auseinander getreten. Dadurch ist eine neue temporale Situation entstanden, sowohl im poetologischen als auch im politischen Sinne, mit dem sich Jean Paul im Titan auseinandersetzt.
8.2 Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Aporien der Gegenwart Kennzeichnend für die Gattung des Staatsromans ist, wie schon erwähnt, sein Bezug auf unterschiedliche Konzeptionen historischer Zeit. Als Beispiele könnten erneut die Arbeiten Kosellecks und Voßkamps herangezogen werden, in denen der Ubergang von Raumutopie zu Zeitutopie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Sinne einer »Verzeitlichung der Utopie« erfasst wird. Im selben Sinne hat Bauer den Unterschied zwischen Staatsroman und Utopie wesentlich vom Bezug dieser Gattungen entweder auf die Vergangenheit (Staatsroman, ζ. B. Xenophons Kyropädie) oder auf die Zukunft (Utopie, ζ. B. Piatons Politeia) verstanden. Allgemein und in Anknüpfung an Kosellecks Arbeiten zur historischen Semantik 23 könnte daher behauptet werden, dass in den literarischen Gattungen, zumal in der Gattung des Staatsromans, eine »sprachliche Konstitution von Zeiterfahrungen« stattfindet, 24 die wiederum vor allem in einer »Differenzbestim-
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Als Gattungsmaterial eines literarischen Werkes kommen nicht nur strukturelle oder pragmatisch-funktionale, sondern auch semantische Elemente in Betracht. Gerade die Dauer oder das Beharren bestimmter Muster oder Konventionen, wie in diesem Fall der Konventionen des Staatsromans, scheint mit einer Semantik der Gattungen, mit literarischen Gattungen als Trägern oder Aggregaten geschichtlicher Erfahrungen, zu tun haben. Dabei beziehe ich mich vor allem auf die von Koselleck im Rahmen der Begriffsgeschichte entwickelte Konzeption einer historischen Semantik. Gemeinsam für »geschichtliche Grundbegriffe« und literarische Gattungen ist die Möglichkeit beider Sprachkonstruktionen, »die Vielfalt geschichtlicher Erfahrung und eine Summe von theoretischen und praktischen Sachbezügen in einem Zusammenhang« zu bündeln, der als solcher durch den Begriff oder durch die Gattung gegeben ist und wirklich erfahrbar wird. Vgl. Koselleck: »Einleitung«, S. XXIII. Koselleck: »Vorwort«, in ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1992 [1979] S. 13.
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Titan: Der Staatsroman
und die Gegenwart
als politischer
Handlungsraum
mung zwischen Vergangenheit und Zukunft, oder anthropologisch gewendet, zwischen Erfahrung und Erwartung« besteht. 25 Als Teil des Materials einer Gattung bildet sich daher eine »eigene temporale Binnenstruktur« heraus, 2 6 die alle drei zeitlichen Dimensionen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst. Diese Binnenstruktur könnte weiterhin - gattungsgeschichtlich gewendet - als ein eigenes temporales Bezugssystem der Gattung verstanden werden. Mit den drei Dimensionen der Zeit würden daher, so meine Weiterführung von Kosellecks Theorien, drei temporale Bezüge korrespondieren: 27 ein nostalgischer, ein prognostischer und ein polemischer. Nostalgisch wäre im Gattungsmaterial des Staatsromans der Bezug auf ein goldenes Zeitalter, das endgültig verloren ist, aber doch normative Ansprüche an die Gegenwart stellt; prognostisch dagegen wäre die Zielprojektion einer mehr oder weniger utopisch konzipierten Zukunft, die durch das Fortschreiten der Geschichte ihrer Verwirklichung entgegenstrebt; polemisch letztendlich wäre der Bezug des Staatsromans auf tagesaktuelle Themen, auf die Revolutionsereignisse in Frankreich, aber auch auf verschiedene Krisensymptome des aufgeklärten Absolutismus wie die Illuminaten-Debatte und die Reaffirmation der absoluten Herrschaft gegen Ende des Jahrhunderts. Obwohl erst die Gesamtheit dieser temporalen Bezüge, auf die Vergangenheit, auf die Gegenwart und auf die Zukunft, das sprachliche Zeitgefuge des einzelnen Werkes darstellt, besteht immer die Möglichkeit, dass sie sich als unvereinbar erweisen und miteinander in Konflikt geraten. Diese potentielle Aporie wird hier unter dem schon erwähnten Motiv der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« erfasst. 28 Dadurch wird - mit den Worten Kosellecks - auf die »Mehrschichtigkeit von chronologisch aus verschiedenen Zeiten herrührenden Bedeutungen« hingewiesen, 2 9 die nicht mehr »als ein Nacheinander, sondern als ein Nebeneinander« - also nicht diachron, sondern synchron — in Erscheinung
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Ebd., S. 12. Koselleck: »Vorwort«, in Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Herausgegeben von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck. Band 7, Stuttgart 1992, S. VI. Vgl. Koselleck: »Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte«, in ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1992 [1979], S. 111. Das Motiv selbst geht auf den deutschen Kunsthistoriker Wilhelm Pinder zurück, der mit der These der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« das Nebeneinander verschiedener Generationen in der Kunstgeschichte aufzuweisen suchte. Vgl. Wilhelm Pinder: Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, München 1926, S. 33. Später ist sie von Bloch sowie von Koselleck aufgegriffen worden. Vgl. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main 1962, S. 45ff.; und Koselleck: »Einleitung«, in ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main 2000, S. 9; sowie ders.: »Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen«, in ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989 [1979], S. 132. Koselleck: »Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte«, S. 125.
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treten. 30 Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gehört vielmehr zur inhärenten Logik der politischen Krisen- oder Umbruchszeit, in die Europa in der Nachfolge der Französischen Revolution hineingeraten ist und die in Jean Pauls Titan verarbeitet wird. Als Symptom dieser Krise weist der aufgeklärte Staatsroman einerseits eine Reihe ungleichzeitiger Elemente auf, deren temporaler Bezug nach vorne oder nach hinten, nicht direkt in die Gegenwart hineinzielt; andererseits findet in dieser Gattung eine literarische Reflexion über und ein imaginiertes Eingreifen in die Gegenwart statt, die erst im Modus der Gleichzeitigkeit greifbar wird. In allen hier besprochenen Romanen gibt es daher Motive, die — in Übereinstimmung mit der oben genannten temporalen Binnenstruktur - zwischen Vergangenheit und Zukunft ausgespannt sind. Aufschlussreich in diesem Sinne ist nicht zuletzt der politische und poetologische Machiavellismus des Hesperus, der einerseits ein längst vergangenes und geradezu abfälliges Ideal der Politik, andererseits eine durch gerade diese Politik zu verwirklichendes utopisches aufklärerisches Ziel zur Geltung bringt. Auf eine ganz andere und radikalere Weise als in den anderen, hier besprochenen Romanen wird dieses Problem der temporalen Mehrschichtigkeit, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in Jean Pauls Titan, vor allem im vierten Band des Romans, zur Sprache gebracht. Die in diesem Roman geführten Gattungsverhandlungen kreisen dabei wesentlich um die Frage nach der möglichen oder unmöglichen Gegenwartsbezogenheit des aufgeklärten Staatsromans: Gibt es im Gattungsmaterial des Staatsromans überhaupt eine Vorstellung von Gegenwart oder löst sie sich in ungleichzeitige Bezüge auf eine ideale Zukunft oder auf eine ebenso ideale Vergangenheit auf? Und wenn es diese Vorstellung nicht gibt, wenn Gegenwart als temporale Konzeption dem Gattungsmuster des Staatsromans grundsätzlich fremd ist, wie können diese Romane überhaupt die Bedingungen und Möglichkeiten politischen Handelns, die notwendigerweise unter dem eisernen Gesetz der Gegenwart stattfinden, narrativ und diskursiv zur Debatte stellen? Wie kann es in den Romanen zur politischen Entscheidung, zur politischen Tat kommen, so lange die Romanfiguren nicht wirklich in der Gegenwart, sondern in einer idyllisierten Vergangenheit oder Zukunft leben? Die Romanhandlung des Titan ist mit einer Reihe von utopischen Motiven und Elementen versetzt, durch die der Blick von der Handlungssituation der Gegenwart auf die sich durch den Gang der Geschichte realisierenden Ideale der Zukunft verlegt wird: der schon zitierte Traum Albanos, eine Gesellschaft zu gründen, in der Freiheit sowohl »erzogen« als auch »erschaffen« werden könnte, ist nur ein Beispiel. Für den Roman im Ganzen gilt aber, dass der Blick vor allem nach hinten, auf die heroischen Taten der antiken Helden, gerichtet ist.
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Ebd.
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Titan: Der Staatsroman und die Gegenwart akpolitischer
Handlungsraum
Die Funktion dieser utopischen und nostalgischen Elemente ist aber weitgehend dieselbe: Die Gegenwart als Ort politischen Handelns wird aus dem Rahmen des Romans ausgeblendet, nicht nur als Motiv der Handlung, sondern auch als geschichtlicher Bezugsrahmen des Werkes. Durch die Antike-Rezeption im Titan tritt zunächst der polemisch-politische Bezug des Romans zugunsten der nostalgischen und utopischen Bezüge zurück. Parallel dazu findet aber, wie unten zu zeigen ist, eine Umdeutung der römischen Antike als Motiv des Romans statt, die wiederum den nostalgischen Bezug durch einen polemisch-politischen zu überlagern scheint. Als Auslöser für diese poetologischen und politischen Verhandlungen, die über die Zeitschichten des Titan angestellt werden, dient aber vor allem die im Roman entwickelte Konzeption der Gegenwart. Für das Problem der Gegenwart werden in Jean Pauls Titan und in Wilhelm Friedrich Meyerns zwischen 1789 und 1791 erschienenen Roman Dya-Na-Sore oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sam-skritt übersetzt, der Jean Paul in der Arbeit an seinen heroischen Romanen, vor allem in der Arbeit am Hesperus, als Vorbild gedient hat, zwei verschiedene Lösungen angeboten. Nach einem Spaziergang Albanos mit der geliebten Liane durch das »Flötenthal«, den der Erzähler als den »reichste[n] Tag seines jungen Lebens« beschreibt (SW I, 8, 205), kommt er auf Erinnerung und Hoffnung sowie auf Vergangenheit und Zukunft zu sprechen, auf die »beiden Pole[] des elliptischen Gewölbes der Zeit« (SW I, 8, 206), zwischen denen die Gegenwart als Jetztzeit ihren Ort hat. Für diejenigen, die weder Vergangenheit noch Zukunft »anhören und heranlassen«, sondern »in der Mitte verharren und aufhorchen«, »in einer thierischen Gegenwart [...] nisten« wollen, hat der Erzähler kein Verständnis. Er will dagegen seinen »Augenblick nicht versnarche[n], sondern veträume[n] und daran versterbe[n]« (ebd.). Bereits im Hesperus hatte Jean Paul im Rahmen seiner geschichtsphilosophischen Zeitphantasie die Gegenwart als die Zeit der »Thiermenschen« geschildert, die in der Zukunft von den »Gottmenschen« abgelöst werden sollen. Dieselbe Metaphorik wird im Titan weniger zur Beschreibung eines geschichtsphilosophischen Zeitalters als einer anthropologisch begründeten Zeiterfahrung erneut aufgegriffen. In beiden Fällen wird die Gegenwartserfahrung nostalgisch oder prognostisch von anderen Zeiterfahrungen überlagert und, wie in der berühmten Passage aus dem 11. Buch von Augustinus' Confessiones, zu einer beinahe nicht existierenden Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft reduziert. 31 Zwar gibt es im Denken Jean Pauls auch ein potentes tragfähiges Jetzt, aber nur im Sinne des empfindsamen Jetzt der Liebe, in dem sich das religiös begründete »Dann des Jenseits« widerspiegelt (ebd.). 32 Zum Ausgangspunkt politischen Handelns kann dieses Jetzt nie werden, wenn man damit nicht »die
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Vgl. Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt von Joseph Bernhart, Frankfurt am Main 1987, S. 629. Zum Unsterblichkeitstopos im Titan vgl. Schlaffer: Der Bürger als Held, S. 36.
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Aporien der Gegenwart
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poetischen Träume ins Wachen« tragen wollte, gleich dem »Nordamerikaner, der [...] den Regenbogen der Phantasie zum haltbaren, über Regenwasser geführten Schwippbogen verbrauchen« will (ebd.). Für die Möglichkeit politischen Handelns kann also lediglich die »thierische Gegenwart« diesseits des Erinnerns und des Träumens einstehen. Das Gegenbeispiel findet sich bei Meyern, in seinem Roman Dya-Na-Sore, der sich als Staatsroman vor allem dadurch auszeichnet, dass in ihm ein revolutionärer Vorgang beschrieben wird. Bleiben die anderen hier besprochenen Romane, wie auch die Staatsromane Loens, Schnabels, Hallers und Justis, dem Ideal des aufgeklärten Absolutismus verpflichtet, schildert Meyern eine breite Volksbewegung, die unter Leitung eines Geheimbundes im orientalischen Fürstentum eine Revolution herbeiführt. Dass Meyern auf diese Weise eine tatsächlich verwirklichte, politische Aktion in den Mittelpunkt seines Romans stellt, der in Jean Pauls Titan hingegen durch eine nie verwirklichte Utopie der politischen Tat besetzt ist, hängt nicht zuletzt mit den geradezu diametral entgegengesetzten Konzeptionen der Gegenwart zusammen. Am Anfang vom Dya-Na-Sore berichtet der Held von seinem idyllischen Leben in der Heimat, die er aber verlassen muss, um seinen Brüdern zu folgen, auf deren Schultern »das Schicksal eines Volkes« liegt: 33 »Staatsmann und Feldherr, ich strebte keines zu werden, und mußte beides sein.«34 Bevor sie aus dem Elternhaus gehen, verbringen die Brüder, im Bewusstsein, dass sie in den Krieg ziehen, einen letzten Abend mit dem Vater und lassen ihre Ängste und Ungewissheiten zu Wort kommen. Es ist der Vater Athor, der seinen Söhnen Mut macht. Zunächst sieht er sich allerdings veranlasst, sie vor den Versuchungen der Nostalgie zu warnen: Wie oft sucht und erreicht dann die unzufriedene Seele bei dem Vergangenen den Trost, den sie im Gegenwärtigen nicht findet. Ο so sanft schlingt sich dann die H a n d der Erinnerung um das leidende Herz. 3 '
Dann spiegelt er ihnen die Gegenwart als Zeitraum politischen Handelns vor: Selbst die besten unter ihnen, denen stille Beruhigung bei dem Gegenwärtigen - stille Erwartung — genügsame Ruhe, das Glück unseres Lebens scheint, möchte ich doch fragen, worin dann diese stille Beruhigung, diese Stille der Erwartung bestehe. - Vergangenheit und Z u k u n f t ruhen auf unserer Seele. Ihren Erschütterungen nur danken wir die Empfindung des Gegenwärtigen. Der Wechsel der Szenen macht uns zu Menschen. Genus ohne Wunsch, Wunsch ohne Unruhe, Unruhe ohne Gram — keins ohne das andere. Und sie sollten also sie genießen? Sie, die kein Streben, keinen Mangel, keinen Abstand der mehr oder mindern Zufriedenheit erkennen wollen? - Nur
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Wilhelm Friedrich von Meyern: Dya-Na-Sore, oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sam-skritt übersetzt. Zweite verbesserte Auflage. Erster Theil, Wien/Leipzig 1791, S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 49.
Titan: Der Staatsroman und die Gegenwart als politischer
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Handlungsraum
am Vergleich der Aenderung und des Abnehmens erkennt der Mensch die Gegenwart des Glücks. 36
Auch Athor erkennt in der Gegenwart eine Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft, im Rahmen einer bewegten, vorwärtsstrebenden Geschichte, eines »Wechsels der Szenen«. Allerdings ist diese Gegenwart nicht durch den Stillstand der Ruhe und der Erwartung gekennzeichnet, sondern im Gegenteil von »Erschütterung« und »Änderung«. Sowohl Vergangenheit als auch Zukunft sind in dieser Gegenwart als Handlungsbedingungen präsent, als Möglichkeiten des Eingreifens. In dieser Konzeption der Gegenwart könnte daher ein Grund erkannt werden, warum die Revolutionäre beider Romane, Albano und die Söhne Athors, letztendlich ganz verschiedene Wege einschlagen. An die Stelle des Gegenwartbezuges treten bei Jean Paul verschiedene Erfahrungen der Ungleichzeitigkeit, in der Form von Vergangenheitsträumen oder Zukunftsprojektionen, die die Gegenwart als Erfahrungs- und Handlungsraum ganz aufzulösen droht. Das politische Jetzt wird in eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen verwandelt, mit der Albano kämpfen muss, um sich als politisch handelnder Mensch durchsetzen zu können. Im Titan kommt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als eine temporale Aporie zur Geltung, die von innen her die Staatsromanhandlung insofern aufzulösen droht, als der Held Albano, in Ungleichzeitigkeiten verstrickt, außer Stande ist, sich auf seine eigene Gegenwart zu beziehen. An keiner anderen Stelle im Roman kommt diese Aporie deutlicher zur Sprache als im vierten Band, wenn Albano während eines Besuches im Colosseum seiner Begleiterin diese Erfahrung des Gegenwartsverlustes feierlich-schwärmerisch verkündet: »Welch ein Volk! (sagte Albano) Hier ringelte sich die Riesenschlange fünfmal um das Christentum - Wie ein Hohn liegt drunten das Mondlicht auf der grünen Arena, wo sonst der Kolossus des Sonnegottes stand - Der Stern des Nordens schimmert gesenkt durch die Fenster, und die Drachen und die Bären bücken sich. Welch eine Welt ist vorüber!« Die Fürstin antwortete, »daß zwölftausend Gefangene dieses Theater baueten und daß noch weit mehrere darauf bluteten«. »O die Bau-Gefangnen haben wir auch (sagt' er), aber für Festungen; und das Blut fließet auch noch, aber mit dem Schweiß! Nein, wir haben keine Gegenwart, die Vergangenheit muß ohne sie die Zukunft gebären.« (SW I, 9, 2 1 9 )
Angesichts der Ruinen der römischen Antike, in diesem Fall des Colosseums, die ihn zu einer Lobrede auf Größe, Macht und sogar Gewalt veranlassen, schwört Albano der Gegenwart ab, um die nostalgische Idylle der Vergangenheit mit der Utopie der Zukunft zu verknüpfen. Für die Zeiterfahrung, die hier vermittelt wird, hat Berhorst in seiner sehr aufschlussreichen Analyse die Formulierung der
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Ebd., S. 53f.
Zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Albanos Romreise
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»Leerstelle der Gegenwart« geprägt. 3 7 Die Frage stellt sich aber, ob Berhorst tatsächlich recht hat, ob die Gegenwart in Jean Pauls Titan wirklich vor allem eine »Leerstelle« ist, eingeklemmt zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, genau wie die Jetztzeit in Augustins Analyse der menschlichen Zeiten. In diesem Fall würde ebenfalls die politische Handlung des Romans ihre temporale Verankerung verloren haben. Poetologisch gewendet würde das bedeuten, dass das Gattungsmuster des Staatsromans noch einmal in die Aporie, diesmal eine Aporie der Zeiten, oder richtiger, der Ungleichzeitigkeiten geraten wäre. Als Beispiel dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wenden wir uns zunächst der im vierten Band des Titan stattfindenden Romreise Albanos zu.
8.3
Zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Albanos Romreise
Nach dem Tod seiner geliebten Liane tritt Albano mit Don Gaspard eine Reise nach Rom an, die von dem Ritter teils als Flucht von den traurigen Begebenheiten und verwickelten Intrigen des deutschen Kleinfurstentums Hohenfließ, teils als Bildungsreise geplant ist, deren Absicht vor allem im »Kunst-Gewinn, den er [Albano] da erbeuten werde« (SW I, 9, 201), liegt. Diese Italienreise Albanos ist aber zugleich eine Reise in die Vergangenheit, in die glorreiche, heroische Vergangenheit des antiken Roms: Es war ihm, »als sei die Vergangenheit von den Todten auferstanden und er schiffe im zurücklaufenden Strome der Zeit« (SW I, 9, 209). Auch der Besuch auf dem Forum Romanum wird zu einer Erfahrung der verflossenen Zeit: Welch' ein öde, weite Ebene, hoch von Ruinen, Gärten, Tempeln umgeben, mit gestürzten Säulen-Häuptern und mit aufrechten einsamen Säulen und mit Bäumen und einer stummen Wüste bedeckt! Der aufgewühlte Schutt aus dem ausgegossenen Aschenkrug der Zeit - und die Scherben einer großen Welt umhergeworfen! (SW I, 9, 212)
Seit Anfang der Neuzeit ist Roma aeterna - die »ewige[] Roma« (SW I, 9, 209) - ein Symbol des Ungleichzeitigen, eine Stadt der Ruinen, der Ausgrabungen und des Schutts, die an eine vergangene Epoche erinnert, die der eigenen Zeit in vielem weit überlegen war. Umso interessanter ist es dann, dass die Romreise für Albano letztendlich keine nostalgische Bildungsreise darstellt, so wie sie von Don Gaspard geplant war, sondern zum Ausgangspunkt eines Eingreifens in die Gegenwart wird. Darüber hinaus kann beobachtet werden, wie die gegenwärtigen Ereignisse erst vor dem Hintergrund der römischen Erinnerungslandschaft ins Blickfeld treten.
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Berhorst: Anamorphosen der Zeit, S. 316.
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Titan: Der Staatsroman und die Gegenwart als politischer
Handlungsraum
Ausgelöst wird dieser Wechsel im Bewusstsein Albanos von nostalgischen Träumereien zu politischem Handlungswillen durch den Besuch beim »Fürsten di Lauria, Gaspards Schwiegervater und altem Freund« ( S W I, 9, 210). Obwohl sich der Fürst, ebenso wie Don Gaspard, durch eine »satirische [] Kälte« auszeichnet, spricht er, im Gegensatz zum Vliesritter, »warm für Gallien«, und, fügt der Erzähler lakonisch hinzu, »seine Meinung gefiel dem Jüngling« (SW I, 9, 211). Noch einprägsamer an der Figur des Fürsten ist allerdings, dass er als Vertreter einer absoluten Gegenwärtigkeit dargestellt wird, der sein Leben nicht mit Ruinen, sondern mit Zeitungen verbringt. Als Bewohner des ewigen Roms hat der Fürst sein Leben ganz der Gegenwart, dem »politischen Weltlauf« gewidmet: »Zeitungen waren ihm Ewigkeiten, Nouvellen Antiken« (ebd.). Zu Besuch beim Fürsten, als sie die Vergangenheit verlassen haben und in die Gegenwart eingetreten sind, erfahren Albano und seine Freunde zugleich »das Neueste von der französischen Revolution« (ebd.). Durch die Nachrichten aus Frankreich bricht die Kontingenz des Politischen in die gegenwartslose Ewigkeit Roms ein, eine Kairos-Situation, eine außerordentliche Gelegenheit entsteht, die nach einer Entscheidung verlangt. Und nachdem Albano »so mehrere Wochen zwischen Roma's Ruinen und Schöpfungen gelagert war [ . . . ] - nachdem er sich vor den letzten größten Nachkommen Griechenlands gebeugt und geheiligt hatte [ . . . ] - nachdem er lange so vor dem Vollmond der Vergangenheit im Glänze gestanden« ( S W I, 9, 220) hatte, fasst er den Entschluss, den er in einem Brief an seinen Freund und Lehrer Schoppe mitteilt, »daß ich mir, sobald Galliens wahrscheinlicher Freiheitskrieg anhebt, meine Rolle nehme in ihm, für ihn« ( S W I, 9, 220). In dieser Entscheidung Albanos scheinen in der Tat die nostalgischen und polemischen, vergangenheitsbezogenen und gegenwartsbezogenen Elemente des Romans zur Konvergenz zu kommen. Gerade die Konfrontation mit der Vergangenheit, mit den Ruinen der römischen Kunst und Kultur, ist zum Auslöser des höchst gegenwärtigen Entschlusses Albanos geworden, an den französischen Freiheitskämpfen teilzunehmen. »Sobald Galliens wahrscheinlicher Freiheitskrieg anhebt«, schreibt Albano an Schoppe und verleiht damit einer Prognose Ausdruck, die seine Entscheidung noch einmal der Ungleichzeitigkeit, diesmal der Ungleichzeitigkeit des Utopischen, preiszugeben scheint. Aber der vierte Band des Titan spielt im Jahre 1792. Zu dieser Zeit ist die Französische Revolution schon ein Thema der Zeitungen, eine »Nouvelle«, die keiner Prognose mehr bedarf. Ebenso wie Rom ein wirksames Symbol des Vergangenen ist, sind die Zeitungen - »alle Blätter Europas«, die beim Fürsten di Lauria vorzufinden sind (SW I, 9, 211) - ein noch wirksameres Symbol des Gegenwärtigen: Die Revolution findet jetzt statt; Albano will nach Frankreich reisen und am gegenwärtigen Kampfe teilnehmen. Die Zeit der Prognosen, aber auch die Zeit der Nostalgie, ist endgültig vorbei. Nur das Jetzt und die im Jetzt verankerte Tat sind gefragt. Auch nach der Entscheidung Albanos bleibt aber die Frage, ob es dieses Jetzt wirklich gibt, oder anders formuliert, ob Albano wirklich im Stande ist, diese Gleichzei-
Zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Albanos Romreise
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tigkeit des Ungleichzeitigen, diese Mehrschichtigkeit verschiedener temporaler Bedeutungen, die sich zum Teil auch durch unterschiedliche materielle Existenz — der Marmor der Tempelruinen und das Papier der Zeitungen — auszeichnen, wirklich in eine gegenwärtige Entscheidung für die Gegenwart umzusetzen. Um diese Frage zu beantworten, wenden wir uns zunächst seinem Brief an Schoppe zu, in dem er seine Entscheidung zur Sprache bringt. Der Brief Albanos an Schoppe aktiviert alle diese Zeiten oder Zeitschichten im Sprechakt, in der performativen Aussage des Entschlusses. Zunächst lenkt Albano aber die Aufmerksamkeit des Brieflesers auf sich selbst und seine eigene Persönlichkeit als Konvergenzpunkt aller temporalen Schichten und des gesamten Zeitgefüges des Briefes: »Ich bin verändert bis ins Innerste hinab und von einer hineingreifenden Riesenhand« ( S W I, 9, 221). Ziel des Briefes ist, die von Albano angesichts der römischen Ruinen und Kunstwerke erlebte totale Umwälzung seiner Persönlichkeit in einen politischen Entschluss umzusetzen. In diesem Sinne soll die heroische Vergangenheit mit der utopischen Zukunft sowie mit dem revolutionären Jetzt zur Konvergenz gebracht werden. Rhetorisch liegt dem Brief eine Dreiteilung zugrunde. Im ersten Teil des Briefes erfolgt eine Umdeutung der römischen Vergangenheit, aus der Perspektive der Jetztzeit gesehen: Nur »im gemalten, gedichteten Rom«, so Albano, »mag die Muße schwelgen«; im »wahren« Rom dagegen, jagt »die Geschichte der alten Taten [...] wie ein unsichtbarer Sturmwind durch die Stadt« (ebd.). Die »Obelisken, das Coliseo, das Kapitolium, der Triumphbogen« sind nicht in erster Reihe Kunstwerke, die nach einer rein ästhetischen Betrachtung verlangen, sondern Zeugnisse der heroischen Taten der alten römischen Republikaner, die den Zuschauer zugleich ansehen und tadeln, dass er nicht nach »Kräften und Taten« ringt (ebd.). Dazu bemerkt Golz zu Recht, dass sich »nicht die ästhetisch-geschichtsphilosophische, sondern die politisch-aktivistische Dimension der Antike-Rezeption« für Jean Paul als prägend erwiesen hat. 3 8 Als Fluchtpunkt könnte der Antike-Kult der französischen Girondisten und Jakobiner dienen, der auf Jean Pauls Vorstellungen der Antike in den neunziger Jahren erheblichen Einfluss gehabt hat. 3 9 Im selben Sinne weist Wölfel auf »die Parallelle von Rom und Paris« 40 hin und stellt fest, dass der Bezug auf die römische Vergangenheit dem Autor eine Möglichkeit biete, »republikanische Gesinnung« mit dem »Verlangen nach einem Handlungsraum« zu verbinden. 41 Für Albano stellt die Umdeutung der Antike in aktivistischer Richtung in seinem Brief an Schoppe jedoch nur den ersten Schritt zu einer Begründung
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Golz: Welt und Gegen-Welt, S. 158. Ebd. Kurt Wölfel: »Zum Bild der Französischen Revolution im Werk Jean Pauls«, in ders.: Jean Paul-Studien, Frankfurt am Main 1992, S. 162. Ebd., S. 163.
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Titan: Der Staatsroman und die Gegenwart als politischer
Handlungsraum
seines Entschlusses dar. Im zweiten Teil des Briefes vergleicht er die Ansicht des Vatikans oder des Kapitols mit dem Besuch »in einer deutschen Bildergallerie und einem Antikenkabinett« (SW I, 9, 222). In ihrer »bloßen Gestalt« haben die Deutschen mit den römischen Helden nichts gemeinsam, sondern bestenfalls mit den »häßlichen Masken der Alten«, mit ihren »Faunen und andere [n] Thiergöttern«; die Römer dagegen sind »mit Gestalt und Stolz noch ihrer Stadt verwandt, der Trasteveriner ist der Sparter« (ebd.). Die durch die neuzeitlich bewegte Geschichte entstandene Asymmetrie oder sogar der Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird von Albano auf diese Weise ästhetisch aufgehoben. In Rom erlebt Albano nicht nur eine heroische Vergangenheit, sondern ebenfalls die kontinuierliche Präsenz dieser Vergangenheit in der Gegenwart, zwar nur im ästhetischen, nicht im politischen Sinne, aber gerade diese ästhetische Konvergenz will er für politisches Handeln ummünzen. Das letzte Argument für seine neu gewonnene Handlungsbereitschaft, bevor es zur Entscheidung kommt, findet sich im dritten Teil des Briefes. Es ist nicht genug, schreibt er hier, Künstler oder Dichter zu sein und »durch schöne Spiele die großen Todten« zu feiern; »es gibt etwas Höheres, Thun ist Leben, darin regt sich der ganze Mensch und blühet mit allen Zweigen« (ebd.). »Thun« heißt für Albano an dieser Stelle in den Krieg ziehen: Noch stehet an der Krönungstadt des Geistes ein Thor offen, das Opferthor, das Janusthor. Wo ist denn weiter auf der Erde die Stelle als auf dem Schlachtfeld, wo alle Opfer und Tugenden eines ganzen Lebens, in Eine Stunde gedrängt, in göttlicher Freiheit zusammenspielen mit tausend Schwester-Kräften und Opfern? (ebd.)
Der Krieg, oder besser die Schlacht, stellt sowohl die absolute Tat als auch die absolute Gegenwart dar. Alle menschlichen Fähigkeiten, »von dem schnellen Scharfblick an bis zu allen körperlichen Fertigkeiten und Abhärtungen« (ebd.), aber auch alle Zeitschichten vereinen sich hier »in Eine Stunde«. Auf dem Schlachtfeld, dieser »tragische[n] Bühne eines höhern Geistes«, wo »[z]wei Völker [...] ohne persönlichen Haß die Todesrollen gegeneinander [...] spielen« (SW I, 9, 223), konvergieren Vergangenheit und Zukunft in einer absolut gegenwärtigen Entscheidung. Gerade diese Entscheidung wird von Albano durch den Entschluss, als Soldat für die Revolution zu kämpfen, vorweggenommen. Dieser Interpretation zufolge könnte gegen Berhorst eingewandt werden, dass die »Leerstelle der Gegenwart« nicht leer bleibt, sondern im Brief Albanos durch die »Eine Stunde« der blutigen Schlacht aufgefüllt wird. Nur gehe es in diesem Zusammenhang um ein romantisiertes und ästhetisiertes Jetzt, in dem sich, wie im Jetzt der Liebe, das »Dann des Jenseits« widerspiegeln soll. Für dieses im Brief inszenierte Jetzt wäre es daher am Ende zweifelhaft, ob wir von einer Konvergenz von Vergangenheit und Zukunft sprechen können, denn weder die heroische Vergangenheit der römischen Antike noch die utopische Zukunft des revolutionären Freiheitsdenkens wird zur Grundlage des gegenwärtigen poli-
Der Staatsroman
als Roman der Gegenwart — zum Revolutionsmotiv
im Titan
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tischen Handelns gemacht. Stattdessen findet eine ästhetische Verabsolutierung der Gegenwart statt, die sich rhetorisch vor allem darin zeigt, dass Albano zunächst über fast eine Seite fur den Heroismus des Krieges schwärmt, ehe er auf den tatsächlichen »Freiheitskrieg« (ebd.) der Französischen Revolution zu sprechen kommt. Paradoxerweise stellt gerade der Krieg für Albano offensichtlich keine »thierische Gegenwart«, sondern vielmehr einen »verträumten Augenblick« dar, an dem man sehr wohl »versterben« konnte, um seine eigene Formulierung zu übernehmen. Trotz der höchst gegenwärtigen und politischen Entscheidung für die Revolution ist es schwierig, in Albanos Brief an Schoppe eine glaubwürdige Repräsentation der Gegenwart als politischen Handlungsraum zu erkennen. Beschworen wird stattdessen ein romantisiertes Jetzt, das fur den Gegenwartsbezug Albanos und des Romans kaum einstehen kann. Die verschiedenen, im Brief enthaltenen Zeitschichten werden nicht zur Konvergenz gebracht, sondern fallen wieder auseinander, im Sinne einer Aporie der Zeit. Die Frage stellt sich aber, wie sich diese aporetische Zeitstruktur, diese Gleichzeitigkeit des absolut und endgültig Ungleichzeitigen, auf den Roman als solchen und auf die ihm innewohnenden Gattungsverhandlungen auswirkt. Letztendlich stellt ja die Französische Revolution nicht nur die narrative Gegenwart Albanos, sondern auch die historische Gegenwart Jean Pauls dar - wobei gefragt werden könnte, ob der Bezug des Autors zu seinem politischen Kontext von denselben Paradoxa und Aporien heimgesucht wird wie der Bezug des Helden auf seine politische Umwelt.
8.4
Der Staatsroman als Roman der Gegenwart zum Revolutionsmotiv im Titan
Zur historischen Bestimmung der Gattung des Staatsromans gehört die Feststellung Rehms, dass der Staatsroman im 18. Jahrhundert zum »Zeitroman« wird, in dem »Geschichte und Probleme der Gegenwart behandelt werden«. 42 Kennzeichnend für den Staatsroman als Zeitroman sei weiterhin, dass er auf gesichertem historischem und geographischem Boden fußt. Auf Jean Pauls Titan scheint diese Definition zunächst sehr gut zuzutreffen: Die Handlung des Romans spielt in Deutschland, in dem kleinen Duodezfiirstentum Hohenfließ, zwischen 1788 und 1792, und setzt sich ausfuhrlich mit der Situation des deutschen Absolutismus wie mit dem Verlauf der Französischen Revolution auseinander. 43 Diesen histo-
42 43
Rehm: Art. »Staatsroman«, S. 2 9 4 . Vgl. dazu Wölfel: » D a der Titan ein >Zeitroman< wie es denn zu einer Vermittlung solcher Welt mit Geschehen in Frankreich k o m m e , in welchem sich politisches Leben im eigentlichen Sinn des Wortes
ist, liegt die Frage nahe, ob u n d d e m gleichzeitigen revolutionären den Zeitgenossen in D e u t s c h l a n d darstellen mußte, gegenüber d e m
370
Titan: Der Staatsroman und die Gegenwart als politischer
Handlungsraum
rischen und geographischen Realismus hat der Titan weitgehend mit den anderen heroischen Romanen Jean Pauls gemeinsam, die ebenfalls in einem fiktiven, aber doch leicht erkennbaren Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spielen — und sich darin von den im orientalischen oder antiken Gewände verpackten Romanhandlungen Wielands unterscheiden. Ganz ohne Hinweis auf die römische Antike kommt indessen Jean Paul im Titan, wie wir gesehen haben, nicht aus - wobei es allerdings nicht um einen funktionalen erzählerischen Rahmen, sondern um ein bewusst konzipiertes temporales Paradox geht. Das wichtigste Motiv, durch das sich der Roman den Lesern als Zeitroman präsentiert, ist ohne Zweifel das Revolutionsmotiv, das zwar als >Staatsaktion< zu den konventionellen Topoi des Staatsromans gehört, das aber zugleich die Handlung aus dem fiktiven Rahmen des Romans herauszuheben und in ein konkretes Verhältnis zum historischen Kontext zu bringen scheint. Bei Wieland haben wir schon gesehen, wie die zweite Fassung des Goldnen Spiegels von den Revolutionserfahrungen des Autors beeinflusst war, ohne dass konservativer Geschichtspessimismus oder radikaler Fortschrittsglaube in der Darstellung je die Überhand gewinnen durften. Auf ähnliche Weise entbehrt das Revolutionsmotiv auch im Titan jeder Eindeutigkeit: erstens weil die Revolutionsereignisse vor allem als Gegenstände privater und öffentlicher Diskussionen zum Vorschein kommen, in denen auch ganz andere, weitaus persönlichere Absichten mitspielen (vgl. ζ. Β. I, 9, 224ff.); zweitens weil Albano, der entschlossene Freiheitskämpfer, nie wirklich nach Frankreich reist, um gegen den Absolutismus zu kämpfen, sondern selbst den Thron des absolutistischen Fürstentums Hohenfließ besteigt. In der vorliegenden Arbeit geht es jedoch nicht darum, die Haltung Jean Pauls zur Französischen Revolution zu klären, sondern das Revolutionsmotiv im Kontext des Werkes und der Gattungskonventionen des Staatsromans als Zeitroman zu interpretieren. Mehr als ein Zeitroman ist der Titan ein Roman über die Zeit, oder mit Berhorst, »ein Roman der in einem allgemeineren Sinn von der Zeit und dem für Jean Pauls Poetologie so bedeutsamen Verhältnis der Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft handelt«. 4 4 Der Titan kann als eine Fortsetzung des Hesperus gelesen werden. Der Erzähler Jean Paul, der am Ende des Hesperus als der letzte verlorene Sohn des Fürsten Januars hervortrat, ist am Anfang des Titan zum Außenminister Flachsenfingens avanciert. Als Erzähler aber ist er, in Ubereinstimmung mit dem pragmatischen Romanideal Wielands, ein »Geschichtsforscher«, der »wahre Geschichten« erzählen will, aber sich dazu gezwungen sieht, sie zu »vermummen« und »unkenntlich« zu machen ( S W I, 8, 57). Das Resultat ist eine »romantische Historie«, anhand derer die Leser selbst zu entscheiden haben, »in wiefern ich
politischen Stagnations-, ja Verwesungszustand zuhause.« Siehe Wülfel: »Zum Bild der Französischen Revolution«, S. 145f. Berhorst: Anamorphosen der Zeit, S. 307.
Der Staatsroman ak Roman der Gegenwart - zum Revolutionsmotiv im Titan
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eine wahre Geschichte illusorisch behandelt habe« (SW I, 8, 58). Indem er sein »Komponieren« (SW I, 8, 58) des Romans beschreiben will, greift der Erzähler auf die Konventionen und Topoi des Staatsromans zurück. Daher plant er, in seinem »historischen Romane« (ebd.) sowohl einen »schlimmen Fürsten« als auch die »Kabalen«, den »Egoismus« und die »Libertinage« am Hofe zu schildern (SW I, 8, 58f.). Die Arbeit am Titan geht, wie Berend nachgewiesen hat, auf das Jahr 1792 zurück, in dem Jean Paul das so genannte »Genieheft« angelegt hat. Die Entstehung umfasst zunächst eine lange, bis ins Jahr 1799 reichende »Entwurfs- und Konzeptionsphase«.45 Am Ende dieser Periode hat Jean Paul den ersten Band vollendet. Zwischen 1799 und 1803 entstehen dann die nächsten drei Bände, nur durch die Arbeit an den Flegeljahren unterbrochen. Zu Weinachten 1802 hat er die beiden letzten Bände an seinen Verleger Matzdorff abgeschickt und Anfang April war der Druck fertig. Hatte Jean Paul ungefähr zehn Jahre früher die Unsichtbare Loge als ein »corpus vile« bezeichnet, erkannte er jetzt im Titan, das auch seine letzte Bearbeitung des Staatsromanmaterials enthält, »ohne Frage das Beste meiner Poesie« (SW III, 4, 234). Die Einordnung des Revolutionsmotivs in diese Werk- und Entstehungsgeschichte hat der Forschung eine Reihe von Problemen bereitet, von denen hier nur einige aufgegriffen werden können. Immer wieder wird die Frage gestellt, inwiefern das Revolutionsmotiv, der im vierten Band des Titan aufgenommene Hinweis auf die realhistorischen Ereignissen der Französischen Revolution, in das Gesamtkonzept des Romans wirklich hineinpasst oder hineingehört, oder ob es in Wahrheit um eine »überraschende Wendung«, ein »blindes Motiv« oder einen »unverzeihlichen Konstruktionsfehler« geht, um nur einige der in der Forschung gängigen, unten näher zu besprechenden Formeln aufzulisten. Dieser Verdacht findet sich allerdings schon im Roman selbst, als Julienne, Prinzessin und Schwester Albanos, sein »Emigrier-Projekt nach Frankreich« ein »Faux-brillant« nennt, denn, fragt sie, wie kann er glauben, dass »eine Prinzessin-Schwester von Hohenfließ dem Bruder Pässe zu einem demokratischen Feldzug unterschreibt« (SW I, 9, 289). Zwar hält Albano an seiner Entscheidung fest und fordert Julienne auf, ihm »auf der Landkarte eine bessere Laufbahn« (ebd.) zu zeigen, aber damit hat sich die Aporie des Revolutionsmotivs, die zugleich eine politische und eine poetologische ist, ein fur allemal zu Wort gemeldet. Selbst weist Julienne auf das politische Paradox hin, dass ein Graf in den Krieg geht, um gegen den Adel, gegen seine eigene Klasse und seine eigene Lebensart zu kämpfen - eine Möglichkeit, die ihm außerdem durch seine adelige Freiheit und Muße gewährt ist. Und sie folgert: »lieber ein müßiger Graf als das« (ebd.). In dieser Gesprächsszene, die der Erzähler einen »Krieg der liebenden Menschen«
45
Golz: Welt und Gegen-Welt, S. 23.
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(SW I, 9, 290) nennt, wird auch über den weiteren Verlauf des Romans sowie über den wahren Charakter und die Aufgabe des Helden verhandelt. Wenn das Revolutionsmotiv im politischen Sinne einen »Faux-brillant« darstellt, dann auch im poetologischen, wie wir im folgenden anhand einiger einschlägiger Forschungsbeiträge sehen werden. Für Berend tritt das Revolutionsmotiv als Ersatz für den »gefährlichen Künstleregoismus« ein, dem der Held im ursprünglichen Plan des Romans verfallen sollte, der aber durch andere Personen, Roquairol, Gaspard, Bouverot usw. zur Genüge vertreten ist, und stellt daher eine »überraschende Wendung« der Romanhandlung dar.46 Durch Albanos geplante Teilnahme am französischen Kriege sei ebenfalls »ein Konfliktsstoff zwischen ihm und Linda gegeben, der einen Wesenspunkt in seinem Charakter und Schicksal bilden sollte.«47 Auf diese Weise wird das Revolutionsmotiv ganz der Logik des Bildungsromans untergeordnet, indem die imaginierte Konfrontation mit der realen Welt der Politik und des Krieges, ähnlich wie Künstleregoismus und Liebesintrigen, zur Entwicklung des Helden beiträgt. Uber den genuin politischen und zeitkritischen Charakter dieses Motivs verliert Berend kein Wort. Die Gegenposition findet sich bei Harich, der feststellt, dass der Bezug auf die Französische Revolution zwar »manifest erst auf losen Notizblättern und in Schmierheften [...], die von März bis August 1802 datiert sind«, 48 auftaucht, dass es aber doch um eine »tendenziell seit jeher vorgesehene[] Lösung« gehe, der Jean Paul »bis zur Vollendung des Werkes die Treue gewahrt hat«. 49 Durch dieses Urteil wird die Staatsromanhandlung ins Zentrum der Interpretation gestellt. Beide 77/a«-Bilder Berends und Harichs zeichnen sich vielmehr durch eine besondere, gattungsgeschichtlich hervorgebrachte Zeitkonzeption oder Zeitstruktur aus, die den Handlungsverlauf des Romans und die einzelnen, darin stattfindenden Episoden, zumal das Revolutionsmotiv, einer Logik des Fortschrittes, einer individualpsychologischen oder gesellschaftlich-historischen Teleologie und einer narrativen Finalität unterwirft. Bei Berend ist der Entschluss Albanos, an den Freiheitskämpfen der Französischen Revolution teilzunehmen, lediglich als ein Stadium im Bildungsprozess des Helden zu verstehen, das funktional ebenso durch ein anderes Motiv hätte ersetzt werden können, so lange die Entwicklung und der Fortschritt der Persönlichkeit dadurch vorangetrieben würden. Bei Harich wird lediglich das Subjekt dieses Selbstverwirklichungsprozesses ausgewechselt: nicht das Einzelindividuum, sondern die durch ihn vertretene Klasse tritt als Agens des historischen und literarischen Prozesses ein. Die Zeitstruktur bleibt aber dieselbe. Der Hinweis auf die Französische Revolution wird als Prognose oder gar Vorwegnahme
46 47 48 49
Berend: »Einleitung«, SW I, 8, S. LXXV. Ebd., S. LXXVI. Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung, S. 352. Ebd., S. 353.
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der zu realisierenden Revolution von oben verstanden, die durch Albano, durch seine Machtübernahme im Fürstentum Hohenfließ, zu Stande kommen soll. In den heroischen Romanen Jean Pauls erkennt Harich daher keine Depolitisierung und Individualisierung, sondern umgekehrt eine Politisierung des Utopischen, so dass diese Romane als Zeitutopien marxistisch-geschichtsphilosophischer Prägung erscheinen. Gehen wir aber auf das Revolutionsmotiv des Titan näher ein, kann die Illusion einer eindeutigen Fortschrittlichkeit, individueller oder kollektiver Art, die den ansonsten geradezu konträren Darstellungen Berends und Harichs gemeinsam ist, kaum aufrechterhalten werden, sondern sie löst sich in eine Aporie unterschiedlicher Zeiten und Zeitschichten auf. Berends höchst verdienstvoller und von Golz vervollständigter Arbeit zur Entstehungsgeschichte des Titan kann entnommen werden, dass Jean Paul die Arbeit am vierten Band des Romans im März 1802 angefangen, und die beiden letzten Bände zwischen Juli und Dezember desselben Jahres vollendet hat, die später zu einem Schlussband zusammengefügt wurden. Die Jobelperioden 1 6 30, in denen Jean Paul über Albanos Reise nach Italien schreibt, sind zwischen dem 2. Juli und dem 11. August 1802 entstanden. 50 Zu dieser Zeit ist die Französische Revolution nicht Zukunft und nicht einmal Gegenwart, sondern eindeutig Vergangenheit, deren Nachwirkungen indessen unschwer in der Gegenwart zu spüren sind. Sowohl die Unsichtbare Loge als auch Hesperus waren unter Einfluss der Revolutionsbegebenheiten in Frankreich entstanden, ohne dass Jean Paul direkt auf sie hinwies. Wenn er aber im Titan die Französische Revolution explizit in seinen Roman einbezieht, ist der geschichtliche Verlauf, vom Sturm der Bastille zum jakobinischen Terror und weiter hin zur Machtübernahme Napoleons, zu Ende gekommen. Wollen wir Jean Pauls Roman als »Zeitroman«, im Sinne Rehms, verstehen, laufen wir dabei Gefahr, die Achronie, die Ungleichzeitigkeit des realhistorischen und des literarischen Verlaufs zu übersehen: Zwar spielt die Romanhandlung im Titan während der ersten Phase der Revolution im Nachbarland, in der Zeit zwischen dem Bastillensturm und dem Anfang der konterrevolutionären Koalitionskriegen, als deutsche Intellektuelle noch große Hoffnungen für die Revolution und ihre Ideale hegten, aber geschrieben wurde dieser letzte Teil des Romans erst nach der Jahrhundertwende, als die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schon längst in Terror, Hinrichtungen, Schreckensherrschaft und letztendlich Restauration umgeschlagen hatten. Anhand des im Juni 1799 verfassten und im Braunschweiger Verleger Viewegs Taschenbuch ftir 1801 publizierten Textes »Der 17. Juni oder Charlotte Corday« kann gezeigt werden, wie Jean Pauls anfänglicher Enthusiasmus fur die Ziele der Französischen Revolution in Skepsis und Enttäuschung umgeschlagen
50
Golz: Welt und Gegen-Welt, S. 42.
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ist. 51 Jean Paul maß sich an, die verschiedenen, in Revolutionsgeschehen wirkenden Kräfte zu analysieren, aber er tat es immer in poetischer Sprache und immer im Zeichen eines historischen Fatalismus. Genau wie Wieland, der in zwei 1793 veröffentlichten Texten den Fall Charlotte Cordays ausführlich aus moralischen, politischen und juristischen Perspektiven diskutiert hat, verteidigt Jean Paul die Ermordung Marats als eine Heldentat, ohne aber weiter auf deren politische Voraussetzungen und Folgen einzugehen. Ihn interessiert, wie Wülfel gezeigt hat, am Falle Cordays nicht die politische Analyse der Auseinandersetzung zwischen Jakobinern und Girondisten, sondern die poetisch-religiöse Potenzierung der heroischen Tat. 5 2 Das Modell für diese Beschreibung liefern sowohl die »Plutarchischen >Heldenleben«< als auch die christlichen »MärtyrerVita«; Charlotte Corday wird als »republikanische Heroine« oder als »Heilige« stilisiert. 53 Entscheidend in diesem Zusammenhang ist aber, dass schon der Aufsatz über Charlotte Corday kein Text der polemischen Kritik oder der gleichzeitigen Analyse, sondern an sich ein Erinnerungstext ist, in dem Jean Paul »den Lesern über sie erinnern, nicht belehren« will; »aber eben die Erinnerung,« setzt er fort, »die unbewegliche Jubelfest ihres heiligen Todes, sind wir ihrem Geiste schuldig und uns«. 5 4 Die Ermordung des Jakobiners Jean-Paul Marats durch die Girondistin Charlotte Corday hat am 17. Juni 1793 stattgefunden und gehört daher zur Zeitgeschichte, die aber in Jean Pauls Text zu einem Stück religiöser und poetischer Erinnerung verfremdet wird - laut einer Schreibstrategie, die er auch in der Konstruktion des Revolutionsmotivs im Titan verwendet. Auch Albanos heroische, aber nie verwirklichte Tat, sein Entschluss, an den Revolutionskriegen teilzunehmen, bezieht sich eher auf die Vergangenheit als auf die Gegenwart, stellt eher ein Element der Erinnerung als ein Element des Gegenwartsbewusstseins dar. Das Revolutionsmotiv des Titan wird im Aufsatz zu Charlotte Corday vor allem darin vorweggenommen, dass der Hinweis auf die Zeitgeschichte schon mit anderen Zeitbezügen, mit anderen Zeitschichten versetzt ist. Jean Paul will die Erinnerung an Charlotte Corday wach halten, als ob sie ein »Sokrates, Leonidas, Morus« wäre. 5 5 Wölfel spricht dabei von einer »Kongruenz von christlicher Spiritualität, antik-republikanischer Tugendheroik
51 52 53 54
55
Vgl. dazu vor allem Golz, ebd., S. 170ff. Wölfel: »Jean Pauls poetischer Republikanismus«, S. 217ff. Ebd. S. 218f. Jean Paul: »Der 17. Juli oder Charlotte Corday«, in Taschenbuch für 1801. Herausgegeben von Friedrich Gentz, Jean Paul und Johann Heinrich Voß, Braunschweig 1800, S. 139. Der Aufsatz wird in Dr. Katzenbergers Badereise nachgedruckt, aber dann in stark revidierter Form, als ein fiktionaler Dialog zwischen dem Erzähler und einem Grafen vor dem Portrait Charlotte Cordays - was den historischen Abstand sowie die heroisierende Absicht noch weiter in den Vordergrund rücken lässt. Vgl. SW I, 13, 314-338. Ebd, S. 138. Ebenfalls wird Charlotte Corday in der späteren Fassung des Aufsatzes eine »zweite Jeanne d'Arc« (SW I, 13, 324) genannt.
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und historischem Zeitgeschehen«, 56 geht aber nicht auf die Ungleichzeitigkeit dieser aus dem Mittelalter, aus der Antike und aus der Gegenwart des Autors übernommenen Topoi ein, die zwar poetisch kongruent, aber historisch völlig inkongruent, achron und ungleichzeitig sind. Sowohl Albanos Enthusiasmus für das Revolutionsgeschehen als auch sein Entschluss, an den Freiheitskämpfen teilzunehmen, muten 1802 und vor dem Hintergrund der Enttäuschung des Autors mit den Ereignissen im Nachbarland anachronistisch an. Aus diesem Anlass stellt Golz in seiner Darstellung die Frage, inwiefern Albanos »Wunsch nach Teilnahme am Befreiungskampf der Franzosen einen notwendigen Anachronismus darfstellt]«. 57 Was denn, könnte man in Anknüpfung an Golz fragen, wäre in diesem Zusammenhang ein »notwendiger« Anachronismus? Notwendig, so scheint Golz zu behaupten, ist der Anachronismus des Revolutionsmotivs, weil die Gegenwart, die geschichtliche Situation in Deutschland um die Jahrhundertwende, keinen möglichen Rahmen für ein großes tätiges Leben bietet, wie es sich Jean Paul in diesem Roman vorstellt. Notwendig, könnten wir im Kontext der Gattungsgeschichte des Staatsromans hinzufugen, ist dieser Anachronismus auch, weil die Zukunft für jene heroischen Handlungsmöglichkeiten nicht einstehen kann, ohne dass sich die utopische Zukunftsprognose als reine Schwärmerei entlarven würde. Angenommen, dass sich weder die Gegenwart noch die Zukunft als mögliche Imaginations- und Projektionsfelder großer Taten anbietet, bleibt nur noch die Vergangenheit. Dabei geht es aber nicht um die Vergangenheit als solche, sondern um zwei separate Vergangenheiten, zwischen denen fast 2000 Jahre liegen, die aber in der poetischen Welt des Titan mehr oder weniger zur Deckung kommen: Es handelt sich dabei um die erste Phase der Französischen Revolution, als sie noch die Fahne der aufklärischen Ideale hoch hielt und die große Hoffnung der deutschen Intellektuellen war; und um die republikanische Vergangenheit des antiken Roms. Thematisch und ideologisch hat Wölfel versucht, diese beiden Vergangenheiten unter dem Begriff des »Republikanismus« zu vereinen, indem er auf die Ubereinstimmung zwischen den republikanischen Idealen des antiken Roms und den Parolen der frühen französischen Revolutionäre hinweist. 58 Uns werden in diesem Zusammenhang nicht so sehr die möglichen thematischen und ideologischen Parallelen interessieren, sondern vor allem die temporalen Paradoxe, die ins Spiel kommen, wenn sich Albano teils auf die antike, teils auf die nahe Vergangenheit als Vorbilder seiner eigenen Tatphantasien bezieht. Laut Golz ist der Anachronismus notwendig, weil sich der Autor für seinen Helden in der Gegenwart keine Handlungsmöglichkeiten vorstellen kann. Aus demselben Grund kann es jedoch nie zur Realisierung seines Handlungsentschlus-
56 57 58
Wölfel: »Jean Pauls poetischer Republikanismus«, S. 2 1 9 . Golz: Welt und Gegen-Welt, S. 179. Wölfel: »Jean Pauls poetischer Republikanismus«, S. 176f.
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ses k o m m e n , denn Albanos Teilhabe am Revolutionsgeschehen k o m m t nie über den Rahmen des brieflichen Bekenntnisses hinaus. Die Gegenwart bleibt eine »Leerstelle« — u n d das Revolutionsmotiv, so Golz, erweise sich f ü r den Gang des R o m a n s als ein »>blindes< Motiv«. 5 9 Parallel zu Golz fragt auch Kiermeier, ob es nicht ein »unverzeihlicher Konstruktionsfehler« seitens des Autors ist, »seinen Helden einen Weg einschlagen zu lassen, der d e m Autor eine Sackgasse scheint«. 60 Auch Kiermeier will Jean Paul vor den Paradoxen retten u n d übernimmt dabei implizit das Urteil Harichs, dass Jean Paul in seinem Titan »von Anfang an zu diesen Abschlüssen« läuft, nicht aber aus seinen republikanischen Uberzeugungen heraus, sondern als Verwirklichung des platonischen und, wie wir gesehen haben, auch in der Aufklärung wirksamen Traums vom Philosophenkönig: »der Weise auf den Thron«. 6 1 Sowohl Golz als auch Kiermeier übersehen dabei aber, dass der Titan als »Zeitroman« vor allem ein Roman über die Zeitfrage als solche ist, in d e m die paradoxen Relationen zwischen Vergangenheit, Z u k u n f t und Gegenwart erforscht werden. Diese Verschiebung des literarischen Interesses kann vor allem anhand des Revolutionsmotivs gezeigt werden, indem Albanos Bekenntnis zur revolutionären Tat das ganze Zeitgefüge des Romans, die Überlagerung von Vergangenheit, Gegenwart u n d Z u k u n f t , zu zersprengen scheint.
8.5 »Thaten - diese entfernten Sterne der Nacht«: Staatsroman, Bildungsroman und politische Tat Albano tritt seine Reise nach Italien an, u m seine bisherigen Erfahrungen im Fürstentum Flachsenfingen zu vergessen — ohne Erfolg, denn er zieht »wie an einer Jupiter-Kette die ganze Bühne u n d Welt seiner Vergangenheit« nach sich ( S W I, 9, 200). Der von ihm e m p f u n d e n e Schmerz wird »entwickelt, nicht entkräftet« (SW I, 9, 201). Aus diesem Leiden heraus trifft er dann die Entscheidung, die fiir sein kommendes Leben eine ganz andere Lebenshaltung vorsieht: »Keine Freuden, nur T h a t e n - diese entfernten Sterne der Nacht - waren jetzt sein Ziel« (ebd.). Als erstes Indiz dieser Veränderung in der Persönlichkeit des Helden kann schon seine Haltung dem angeblichen Vater gegenüber gelten, indem Albano seine »Thränen, die oft mitten im fremden Gespräche aus ihm drangen« vor D o n Gaspard zurückhält und sich lieber »durch die Kraft seiner Gespräche u n d Entschlüsse« (ebd.) auszeichnen will. Die Frage ist aber, wie sich dieses Bekenntnis zur Maxime der Tat in Bezug auf die Gattungskonventionen u n d -Intentionen
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Golz: Welt und Gegen-Welt, S. 180. Kiermeier: Der Weise auf den Thron!, S. 154. Ebd., S. 150.
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des aufgeklärten Staatsromans verstehen lässt. Zwei mögliche Interpretationen bieten sich sofort an: Zum einen könnte behauptet werden, dass sowohl der Charakter Albanos als auch die Intrige des Romans insofern eine Politisierung durchlaufen, als sich das fühlende Subjekt in ein handelndes Individuum verwandelt. Albano will in die Gegenwart eingreifen, um das Bestehende zu ändern - einer Minimaldefinition der politischen Tat zufolge, der sich keine Analyse des Romans entziehen kann. Zum anderen stellt sich die Frage, ob diese von Albano gehegte Utopie der heroischen Tat, als eines »entfernten Sterns der Nacht« tatsächlich einen Bezug zur politischen Wirklichkeit der Jahrhundertwende herstellen kann, oder ob diese Utopie im Gegenteil, wie es im Aufsatz über Charlotte Corday bereits der Fall war, vielmehr eine Poetisierung bewirkt und damit diese Wirklichkeit zu einem Objekt der ästhetischen, aber nicht der politischen Betrachtung macht. Im folgenden wird die Frage erörtert, wie diese möglichen Interpretationen mit unterschiedlichen Elementen des im Roman enthaltenen Gattungsmaterials verwoben sind. Anhand von Wielands Agathon haben wir gesehen, wie die Dekonstruktion des Staatsromans eng mit der schwärmerischen Ambition des Helden verknüpft ist, seine platonisch-idealischen »Lehr-Sätze« auf »die Einrichtung und Verwaltung eines gemeinen Wesens« (A 254) anzuwenden. In allen hier besprochenen Romanen kann weiterhin erkannnt werden, wie die Ambition einer Umsetzung der moralischen Ideale der Aufklärung in politische Praxis zu Strategien der Geheimhaltung, der Verstellung und der Hypokrisie greift. Die in Jean Pauls Titan entwickelte Konzeption der politischen Tat hat mit den Verschwörungen am Hofe des Dionysius in Syrakus oder mit der geheimen, unterirdischen Gesellschaft der Unsichtbaren Loge wenig gemein, sondern entspringt einem ausgesprochenen Heroismus, dessen kommunikative und symbolische Kraft jede Hypokrisie außer Kraft zu setzen scheint. Die Frage ist allerdings, ob das Gattungsmuster des Staatsromans diese Art politischer Handlungen überhaupt verkraften kann, oder ob es durch den transgressiven Charakter der Tat von innen her aufgelöst wird. Kann in der Gattung des Staatsromans überhaupt politisch gehandelt, also nicht nur gedacht, gesprochen und geplant werden? Im Titan rückt die - zwar ausbleibende - heroische Tat in den Mittelpunkt der Handlung. Die Erfahrungen, die Jean Paul bei der Arbeit an den beiden früheren Romanen, der Unsichtbaren Loge und dem Hesperus, gemacht hat, spielen offenbar bei der Arbeit an diesem letzten heroischen Roman mit. Als besonders wirksam scheint dabei das Ende des Hesperus zu sein, das Berhorst einen »Staatsromanschluß« nennt, 62 und in dem die machiavellistische Planung des Lords ihre Verwirklichung erreicht, wohlgemerkt ohne dass die Personen des Romans, Viktor am wenigsten, aber auch nicht der verborgene Prinz Flamin, zur politischen Tat
62
Berhorst: Anamorphosen der Zeit, S. 3 0 3 .
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haben greifen müssen oder können. Die Lebens- und Bildungsgeschichte Viktors und die höfisch-politische Intrige spielen sich kaum ineinander, sondern lediglich nebeneinander ab. Das Problem ist laut Harich ein strukturelles. Er sieht es als einen » M a n g e l des Hesperus, dass in ihm der zur Herrscherwürde auserkorene rebellische Held, nämlich Flamin, [ . . . ] seine dominierende Stellung im Romangeschehen eingebüßt und an den milder denkenden, von kleinbürgerlichen Eltern abstammenden, für die Ausübung politischer Macht daher nicht in Frage kommenden Freund, den Arzt Viktor, abgetreten hat.« 6 3 Der eindeutig normative und ideologische Ausgangspunkt Harichs kommt darin zum Ausdruck, dass er die fehlenden politischen Handlungsmöglichkeiten des Helden im Hesperus lediglich als »Mangel« und nicht als funktionalen Teil des Romans betrachtet. Interessant ist jedoch die in seiner Darstellung implizierte Beziehung zwischen Gattungskonventionen und politischem Inhalt. Obwohl, so Harich, im Hesperus das Gattungsmuster des Staatsromans das Muster des Bildungs- oder Erziehungsromans zurückdrängt, bedeutet diese »konzeptionelle Abweichung« keine Explizierung, sondern eine Beeinträchtigung der »politischen Intention«, denn im Hesperus, folgert er weiter, hat der tatkräftige, oder zumindest potentiell tatkräftige Held, »Rebell und zentraler Liebhaber zugleich«, den er in Gustav der Unsichtbaren Loge erkennt, abtreten müssen. 6 4 Für den Titan gelte allerdings, dass er sich nicht dem Hesperus, sondern der Unsichtbaren Logen anschließe. 65 Albano sei ein neuer Gustav, aber während Gustav, »den Eindruck eines >guten Jungen«< mache, sei Albano ein »Genie«, den »überragende Intelligenz, Kühnheit der Phantasie, Sehnsucht nach Größe, Drang zur Höhe, zur Vollkommenheit aus den Bahnen des Alltags emporreißen.« 6 6 Dagegen ist Viktor, wie wir oben schon gesehen haben, nur eine Marionette der Machenschaften des Lords, ohne den Willen wie auch die Möglichkeit, politisch einzugreifen. Interessant ist an Harichs Zusammenstellung der drei heroischen Romane Jean Pauls vor allem, wie das Verhältnis zwischen Staatsroman und Bildungsroman im Hinblick auf die politischen Möglichkeiten der Helden gewissermaßen auf den Kopf gestellt wird: Erst als Held eines Bildungsromans gewinnt Albano die subjektive Autonomie, die es ihm ermöglicht zur politischen Tat zu greifen oder sich zumindest diese Tat vorzustellen. Dagegen bleibt der Held des Staatsromans, in diesem Fall Viktor im Hesperus, lediglich Zuschauer und Marionette der politischen Handlung. Damit hätten wir jedoch nur die eine Seite dieser gattungsgeschichtlichen Dynamik beschrieben. Gegen die von Harich anvisierte Synthese von Bildung und Politik kann vielmehr gezeigt werden, wie die politische Handlung des 7z-
63
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Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung, S. 355. Ebd. Ebd., S. 354. Ebd., S. 355f.
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tan zugleich in den Bannkreis des poetisch-geistigen Bildungstopos gerät. Aus der politischen Tat wird damit eine ästhetisierte, vergeistigte, sowohl ziellose als auch wirkungslose Utopie, die fur die bereits im Hinblick auf den Goldnen Spiegel besprochenen Entpolitisierungstendenzen im deutschen Bildungsroman symptomatisch ist. Auch mit dieser alternativen Lesart wären wir nicht am Ziel unserer Interpretation, sondern haben lediglich zwei konträre Interpretationsmöglichkeiten aufgewiesen. Zwischen diesen beiden Polen spielen sich d a n n die Gattungsverhandlungen des Romans ab. U m die Unterschiede der politischen Sinnkonstruktionen des Hesperus u n d des Titan gewahr zu werden, empfiehlt sich letztendlich, die Figur Albanos nicht mit Viktor oder Flamin, sondern mit der oben ausführlich besprochenen Figur des Lords zu vergleichen. Sowohl Albano als auch der Lord treten im jeweiligen R o m a n als zentraler Träger der politischen H a n d l u n g auf. Betrachten wir, wie schon Berend, die H a n d l u n g des Titan lediglich als eine »Wiederholung der Hes/»m/i-Handlung, eine auf Kindesvertauschung beruhende geheimnisvolle genealogisch-dynastische Verwicklung«, 6 7 ist es jedoch der Vliesritter D o n Gaspard, der die Rolle des Lords aus d e m Hesperus ü b e r n o m m e n hat u n d sich über große Strecken der Romanhandlung, das Ende ausgenommen, als zentraler politischer Akteur behaupten kann: Auch D o n Gaspard gibt sich als Vater des Helden aus u n d wird weiterhin als Zyniker u n d Machiavellist dargestellt, der hinter den Kulissen an den Fäden der H a n d l u n g zieht. W ä h r e n d aber der Lord selbst der Urheber der von ihm verwirklichten Pläne ist u n d selbst allein den Z u s a m m e n hang von Mittel u n d Zweck kennt, ist die Rolle als M e n t o r Albanos d e m Ritter im fürstlichen Testament vorgeschrieben worden. D o n Gaspard f u h r t einen Befehl aus u n d hofft sogar, für seine guten Dienste am Fürstentum Flachsenfingen belohnt zu werden u n d in der Hierarchie des Hofes schneller aufzusteigen. Ebenfalls k o m m e n die von ihm verwendeten Mittel, Trug, T ä u s c h u n g u n d Gaukelwerk, nie richtig über die trivialliterarischen Klischees des Schauer- oder Geheimbundromans hinaus. 6 8 Dabei fehlt ihnen ganz die Verbindung zur politischen Utopie der Aufklärung, durch die der Lord erst zu einer Schlüsselfigur nicht nur des Hesperus, sondern überhaupt in der Gattungsgeschichte des Staatsromans in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgestiegen ist. Gehen wir jedoch davon aus, dass sich Albano durch sein Erbrecht auf den T h r o n wie durch seinen Wunsch, tatkräftig in die politische Wirklichkeit einzugreifen, als politischer Protagonist des Titan behauptet, fällt auf das Verhältnis der beiden letzten heroischen Romane Jean Pauls ein etwas anderes Licht. In der Figur des Lords u n d in der Figur Albanos k o m m e n dabei zwei durchaus verschiedene Maximen politischer Praxis zur Geltung, Planung (der Lord) u n d Tat (Al-
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Berend: »Einleitung«, SW I, 8, XLVIII. Näheres zur Figur Don Gaspards vgl. Golz: Welt und Gegen-Welt, S. 188ff.
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Titan: Der Staatsroman und die Gegenwart als politischer
Handlungsraum
bano), die wiederum verschiedene Zeithorizonte oder Zeitschichten aktivieren. Während sich die Planung zwischen Vergangenheit und Zukunft erstreckt, will die Tat direkt in die Gegenwart eingreifen, in der Hoffnung, diese Gegenwart politisch zu transformieren. Der Maxime der Planung kommen, wie wir gesehen haben, ihre eigenen politischen und sozialgeschichtlichen Probleme zu, im Sinne eines Konfliktes zwischen Machiavellismus der Mittel und Utopismus der Zwecke. Die Maxime der Tat setzt hingegen vor allem die Existenz eines politischen Handlungsraums voraus, der dem tatbereiten Individuum gegenwärtige Handlungsmöglichkeiten bietet und zu dem dieses Individuum, in diesem Fall der Romanheld Albano, Zugang finden kann. So lange aber dieser politische Handlungsraum im Roman nicht vorzufinden ist, oder so lange Albano außer Stande ist, einen Bezug zu dieser Gegenwart, zu diesem Handlungsraum zu finden, kann es auch nicht zu der erträumten und erwünschten Tat kommen. Diese dem Roman innewohnenden Widersprüche, die zwischen Bildung und Heroismus, Untätigkeit und Tatendrang sowie zwischen Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit angelegt sind, objektiviert sich laut Schlaffer »in den Gattungsformen, die der Titan mischt, aber nicht vereint«. 69 Im Titan, folgert er weiter, wird einerseits auf die moderne bürgerliche Prosagattung, andererseits auf den traditionellen, vom antiken Epos herstammenden heroischen Roman Bezug genommen. Dabei kann Albanos Handlungsbedürfnis als unzeitgemäßes und ungleichzeitiges Zitat einer heroischen, aber im modernen Zeitalter untergegangenen Gattung verstanden werden, die weder in der introspektiven selbstbezogenen Persönlichkeit des Helden noch im modernen politischen Zweckmäßigkeitsdenken Halt findet. Allein die poetisierte Welt der römischen Antike bietet ein Universum, in dem diese Art politisch-heroische Taten noch möglich sind. Zu den auffälligsten Aporien in der Gattungsgeschichte des Staatsromans gehört also, dass weder der prototypische Held des Bildungsromans noch der prototypische Held des Staatsromans in emphatischem und politischem Sinne handlungsfähig ist. Für Gustav und Albano, und zum Teil auch für Agathon gilt, dass sie außer Stande sind, zwischen Selbstbezug und Weltbezug, Selbstverständnis und Weltverständnis zu vermitteln und daher letztendlich keinen Zugang zur Welt der Politik finden. Demgegenüber kann Viktor, und vor ihm in gewissem Sinne auch Tifan, in den Plänen ihrer Mentoren, Dschengis' und des Lords, nur die Rolle von Marionetten spielen, von denen keine individuellen Handlungen, sondern — als Sinnbild des Rationalismus des modernen Staates - nur maschinenhaftes Funktionieren verlangt wird. Im ersten Fall, könnte man behaupten, fehlt der heroische Charakter, im zweiten Fall die heroische Welt. Diese Aporien und Ausweglosigkeiten des politischen Romans der Spätaufklärung leiten dann
69
Schlaffer: Der Bürger als Held, S. 20.
Entscheidung aus dem Nichts? — Staatsroman undpolitische Romantik
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zum Problem einer »politischen Romantik« 7 0 über, das im Titan in den Vorstellungen der politischen Tat sowie der politischen Entscheidung auf die Spitze getrieben wird und daher als letzter Punkt in der vorliegenden Interpretation ins Blickfeld kommt.
8.6
Entscheidung aus dem Nichts? Staatsroman und politische Romantik
Am Anfang des vierten Bandes des Titan hat Albano das ganze Leben am Hofe des Duodezfiirstentums Hohenfließ bereits hinter sich. Hinter ihm liegen dabei vor allem die gesamten politischen und erotischen Machenschaften und Verschwörungen am Hofe, durch die das regierende Fürstenhaus unterzugehen und das benachbarte Fürstentum Haarhaar die Thronfolge fur sich zu sichern scheint. In der Nachfolge von Wielands Agathon und Goldnem Spiegel sowie ausgehend von der Unsichtbaren Loge und dem Hesperus könnte die Hofkritik der ersten Bände des Titan als eine systematische Desavouierung der ganzen Sphäre der Politik gelesen werden. 71 Durch die Darstellungen der Verschwörungen Don Gaspards, des Ministers Froulay so wie des haarhaarschen Agents Bouverot wird der ganze Bereich der höfisch-dynastischen Politik als ein Feld der geheimen und verdeckten, teils aus Staatsräson, aber meistens aus reiner Machtbegierde vorangetriebenen Intrigen gezeigt, das kein integres politisches Handeln zulässt. Im Titan greift Jean Paul Elemente seiner beiden früheren heroischen Romane wieder auf, um dem Bereich der Politik, der Intrige und der Gegenintrige jede Legitimität abzusprechen. Die höfische Irrationalität der Unsichtbaren Loge und der Machiavellismus des Hesperus wird mit Elementen des trivialen Schauer- und Geheimbundromans gepaart. Alle Politik - so ließe sich den Roman verstehen - werde mit Mitteln betrieben, die an sich völlig amoralisch und im gewissen Sinne irrational seien. Das Ziel sei nichts Nobleres als die Zufriedenstellung individueller Machtbegierden.
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Der Begriff der »politischen Romantik« wurde zuerst von Carl Schmitt in seinem 1919 erschienenen Werk geprägt. Vgl. Schmitt: Politische Romantik, Berlin 1968 [1919]. In der Nachfolge Schmitts ist »politische Romantik« in die deutsche Literatur- und Geistesgeschichte als Sammelbezeichnung für Texte von Friedrich Schlegel, Novalis, Adam Müller etc. sowie als Diagnose einer besonderen politischen Denkweise eingegangen. Vgl. Die politische Romantik in Deutschland. Eine Textsammlung. Herausgegeben von Klaus Peters, Stuttgart 1985; und Martin Meyer: Idealismus und politische Romantik. Studien zum geschichtsphilosophischen Denken der Neuzeit, Bonn 1978.
Zur Funktion der Hofkritik in der Unsichtbaren Loge und im Hesperus vgl. Werner Neil: Poetische und historische Synthesis, S. 156ff.
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Bei Jean Paul, in seiner Darstellung des Lebensganges des Helden, geht es aber nicht primär um eine Desavouierung des Politischen, sondern um die Uberwindung einer falschen, niedrigen Politik, zugunsten einer wahren, höheren Form politischen Handelns. Albano ist ein »hoher Mensch«, der nach einem höheren Leben strebt, auch und vor allem im politischen Sinne. Durch seine Reise nach Rom kann Albano, zumindest geographisch, der allein aus individuellen und zufälligen Machtbegierden betriebenen Arkanpolitik des hohenfließischen Fürstenhofes den Rücken kehren und sich auf die Suche nach anderen Möglichkeiten politischen Handelns begeben - was in seinem schon zitierten Bekenntnis zu den »Thaten« als »entfernten Sternen der Nacht« abzulesen war. Die Frage ist, ob es überhaupt möglich wäre, etwas Näheres über diese »höhere« Form der Politik zu sagen, was im Roman selbst verankert wäre und nicht auf bloße Projektionen ausweichen würde. Im Mittelpunkt steht, wie schon erwähnt, der »Entschluss«, Albanos Entschluss, an den Revolutionskriegen teilzunehmen, der im Brief an Schoppe mitgeteilt wird: Nimm aber hier mein letztes Wort und leg' es in deine Brust zurück, dass ich mir, sobald Galliens wahrscheinlicher Freiheitskrieg anhebt, meine Rolle durchaus nehme in ihm, für ihn. Abhalten kann mich nichts, auch nicht mein Vater. Dieser Entschluß gehört zu meiner Ruhe und Existenz. Aus Ehrgeiz ergreif ich ihn nicht; obwol aus Ehrliebe gegen mich selber. Schon in den frühen Jahren könnt' ich nie das platte Lob einer ewigen häuslichen Glückseligkeit genießen, was gewiß eher Weibern als Männer geziemt. (SW I, 9, 223)
Dieses Zitat ist insofern interessant, als es ganz und gar auf den Entschluss, weniger auf die Gründe und überhaupt nicht auf die Folgen gerichtet ist. Zwar lobt Albano am selben Abend, während der »Converzazione« im Palazzo Colonna, die » H i m m e l s - k ö n i g i n , der Freiheit« ( S W I, 9, 224) und verteidigt gegen die Einwände seines Pflegevaters den »gallische[n] Rausch«, den er als einen »Enthusiasmus, in der Menschheit und Zeit zugleich gegründet« werden (SW I, 9, 225), versteht. Auf die politischen Ideale und Realitäten der Französischen Revolution, für die er sich kämpferisch einsetzen will, kommt Albano jedoch nicht zu sprechen. 72 Auch seinem »geliebtesten Lehrer«, dem Dian, gegenüber wiederholt er lediglich seine Entscheidung, »sobald der unheilige Krieg gegen die gallische Freiheit, der jetzt seine Pechkränze in allen Straßen der Stadt Gottes aushing, in Flammen schlage, an die Seite der Freiheit zu treten und früher zu fallen als sie« (SW I, 9 227). Zur Tat kommt es, wie mehrmals bemerkt, nie. Die Teilnahme Albanos als Soldat an den französischen Freiheitskriegen wird durch die Enthüllung seiner
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In diesem Sinne nennt Golz den Begriff der »Freiheit« im revolutionären Diskurs Albanos ein »Fahnenwort«. Siehe Golz: Welt und Gegen-Welt, S. 355.
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fürstlichen Herkunft abgewehrt. Umso wichtiger ist es indessen, den Charakter seiner Entscheidung, seines Entschlusses, zu verstehen, weil sich der Held des Titan darin am deutlichsten als politisches Individuum zu realisieren scheint. Durch die Entscheidung tritt der Held in die Gegenwart ein. Zur Entscheidung kann es, zumindest prinzipiell, nur kommen, wenn sich der Held die Gegenwart als Kairos-Situation bewusst macht, als außerordentliche Gelegenheit, in den Verlauf der Geschichte einzugreifen und ihre weitere Bahn zu ändern. 7 3 Eben ein solches Situationsbewusstsein stellt sich bei Albano ein, nachdem er beim Besuch beim Fürsten di Lauria die letzten Nachrichten von der Französischen Revolution erfahren hat. Er erkennt die Gelegenheit, die Intrigen des Hofes in Hohenfließ endgültig hinter sich zu lassen und in den Revolutionskriegen nach einer höheren Form der Politik zu suchen. In keinem anderen Roman, der in der vorliegenden Arbeit besprochen wird, nimmt die politische Entscheidung eine ähnlich hervorgehobene Stelle ein wie im Titan·. Zwischen Agathons »Lehr-Sätzen« und deren politischer Umsetzung gibt es keinen Platz für eine Entscheidung, sondern der Held tritt in ein durch die Ideologie der politischen Aufklärung vorgeschriebenes Schema ein, das Schema der »Anwendung«. Wenn sich Tifan wiederum, nach der Entdeckung seiner Herkunft, in einer Kairos-Situation befindet, weicht er der Entscheidung aus und überlässt sie seinem Lehrer, Dschengis. Gustav wird - soweit wir das ausgehend von den beiden ersten Bänden der Unsichtbaren Loge beurteilen können — fast ohne eigenes Mitwirken in eine verdeckte, verschwörerische politische Handlung verwickelt, über die er selbst keine Entscheidungsmacht hat. Dasselbe gilt für Viktor. Und endlich zeichnet sich der Machiavellismus des Lords nicht in erster Reihe durch Entscheidungen aus, sondern durch Planung, in der der Zweck gegeben ist und die Mittel in einer Weise festgelegt werden, die alle Kontingenz des Politischen und damit alle Entscheidungen zu bannen sucht. Daher wäre es möglich zu behaupten, dass die Darstellung einer politischen Kairos-Situation und einer in dieser Situation getroffenen Entscheidung des Helden zu den wichtigsten gattungsgeschichtlichen Neuerungen des Titan gehört. Nicht zuletzt kann in dieser Innovation des Titan ein Versuch erkannt werden, die Gattungskonventionen und -intentionen des Staatsromans und des Bildungsromans zur Konvergenz zu bringen. In diesem Sinne stellt die politische Entscheidung eine Schnittstelle zwischen den individualpsychologischen und gesellschaftlich-politischen Handlungssträngen des Romans dar: Erst durch seine persönliche Bildung ist der Held im Stande, über die politische Intrige sowie über seine eigene Rolle in ihr eine Entscheidung zu treffen. Anhand dieser poetologischen Funktion der Entscheidung kommt auch ihre politische Brisanz
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Zur politischen Bedeutung der kairos-Situation vgl. Palonen: Das >Webersche Moment«, S. 218ff.
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zum Vorschein, denn in die Entscheidung einbegriffen sind einerseits die vorausgehende individuell-moralische Begründung und andererseits die nachfolgende gesellschaftlich-politische Ausführung. Zur Ausführung kommt es im Titan nicht. Dafür gilt Jean Pauls Aufmerksamkeit im vierten Band seines Romans umso mehr dem Verhältnis zwischen Entscheidung und Begründung. Aus diesem Vorhaben des Autors könnte die Frage resultieren, wie Albano - wenn überhaupt - in seiner Entscheidung für die Französische Revolution die Ideale der Aufklärung zur Geltung bringt. Warum, wäre dann die Frage, wird Albano zum Revolutionär? Um dieser Frage sowie den Paradoxa der politischen Entscheidung Albanos nachzugehen, werden im folgenden einige Einsichten Carl Schmitts herangezogen, der wohl den umstrittensten Denker in der Frage nach der Entscheidung als Kennzeichen des Politischen darstellt. In einer Reihe von Werken hat Schmitt, als Antwort auf politische Herausforderungen der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhundertes, ein ausgeprägt dezisionistisches politisches Denken entwickelt, dem allerdings auch die vehemente Kritik dessen entsprungen ist, was er im Titel seines 1919 erschienen Werkes als »politische Romantik« verstanden wissen wollte. Schmitt geht in diesem Werk auf Denker und Werke ein, die unmittelbar zum historischen Kontext von Jean Pauls Titan gehören und seine Einsichten haben daher nicht nur theoretisch-analytische, sondern auch historisch-kontextuelle Relevanz. Ehe wir auf Schmitts Romantik-Kritik als Folie für Jean Pauls durchaus ambivalente Darstellung der politischen Entscheidung seines Helden eingehen, wird eine Passage aus einem anderen Werk des deutschen Rechtsphilosophen herangezogen. In diesem Zitat aus Politischer Theologie, das gemeinhin als das dezisionistischste aller Werke Schmitts gilt, kann eine besonders ausgeprägte Version seiner Konzeption der Entscheidung als Grundlage aller Politik erkannt werden, die im folgenden als theoretischer Kontext für die Interpretation der politischen Entscheidung Albanos dienen wird: Die Entscheidung wird im Augenblick unabhängig von der argumentierenden Begründung und erhält einen selbstständigen Wert. [...] Von dem Inhalt der zugrunde liegenden Norm aus betrachtet ist jenes konstitutive, spezifische Entscheidungsmoment etwas Neues und Fremdes. Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus dem Nichts geboren.74
In der Entscheidung überhaupt und vor allem in der Entscheidung über Krieg und Feindschaft zeigt sich laut Schmitt das Wesen des Politischen. 75 In dieser Passage wird die Extremversion eines post-nihilistischen politischen Denkens an
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Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1934 [1922], S. 42. Vgl. vor allem Schmitt: Der Begriff des Politischen, Berlin 1996 [1932], S. 45ff.
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den Tag gelegt, die keinwegs auf Jean Paul zurückprojiziert werden kann, sondern die lediglich analytischen Wert hat - wobei nicht übersehen werden sollte, dass Jean Paul in den Figuren Ottomars und des Lords gerade die politischen Folgen eines auf Machiavelli und die Staatsräson zurückgehenden, aber ins Melancholische gewendeten Nihilismus erforscht hat. Zu den wichtigsten Kritikern der nihilistischen Grundlagen dieser von Schmitt anvisierten »durch nichts mehr gebundenen Entscheidung« gehört Karl Löwith, der in Schmitts » E n t s c h e i d u n g fur die Entscheidung.< lediglich eine »Bereitschaft zum Nichts, welches der Tod ist, verstanden als Opfer des Lebens« sieht. 76 Aus dieser analytischen Beschreibung heraus könnte im Hinblick auf Jean Pauls Titan gefragt werden, ob Albanos Entschluss, an den Revolutionskriegen teilzunehmen, eine Entscheidung »aus dem Nichts« darstellt, einen von den normativen Grundlagen seines Denkens losgelösten Vorsatz, sein Leben auf dem Schlachtfeld zu opfern? Ist seine Entscheidung für das Politische lediglich eine »Entscheidung für die Entscheidung«? Gegen eine solche Behauptung spricht vor allem Albanos gegen den Zynismus Don Gaspards emphatisch formulierte Apologie der normativen Grundlagen der Revolution, der Freiheit und der Gleichheit (SW I, 9, 224). Die Revolution verdiene die Achtung des Sohnes nicht, so Don Gaspard, weil sie nicht, wie die meisten großen Leistungen der Kunst und der Wissenschaft, einem großen Willen entsprungen sei, sondern lediglich, wie in der »Physik«, der »Vielheit kleiner Kräfte« und dem »Rausch der Menge durch die Menge« (SW I, 9, 225). Damit scheint der spanische Ritter auf subtile Weise die Ideale der Freiheit und der Gleichheit außer Spiel zu setzen. Gegen diese Romantisierung des starken Mannes, des Führers stellt Albano die Revolution als geschichtsphilosophisches Ereignis der ganzen Menschheit dar: »Durch ein rothes Meer des Blutes und Kriegs watet die Menschheit dem gelobten Lande entgegen und ihre Wüste ist lang; mit zerschnittenen, nur blutig-klebenden Händen klimmt sie wie Gemsenjäger empor« (ebd.). 77 Von den naturrechtlichen oder moralischen Grundlagen für die Massenerhebung in Frankreich ist jedoch nichts mehr zu hören. Letztendlich steht Albanos Entscheidung für die Revolution ohne normative Begründung da. An deren Stelle ist eine Romantik des Krieges getreten. Als geistigen Inhalt der Revolution versteht Albano vor allem den Enthusiasmus des Volkes: »Welches Beste«, fragt er den von ihm tief gehassten Bouverot, »ist nicht im En-
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Hugo Fiala [alias Karl Löwith]: »Politischer Dezisionismus«, in: Internationale Zeitschrift fur Theorie des Rechts 1935, S. 110. Dieses von Albano in seiner Antwort an Gaspard geprägte, dem alttestamentlichen Exodus entnommene Bild von einer »Wüste«, welche die »Menschheit« durchkreuzen muss, um ins »gelobte Land« zu kommen, greift wieder auf die geschichtsphilosophische Metaphorik der Abhandlung des Sechsten Schalttages des Hesperus zurück, baut aber dieses Gleichnis noch weiter in politisch-kämpferischer Richtung aus. Vgl. S W I, 3, 380.
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thusiasmus geschehen, und welches Schlechteste nicht in der Kälte?« ( S W I, 9, 226). Dadurch ordnet Albano seiner eigenen Entscheidung »aus dem Nichts«, seinem eigenen Dezisionismus, den Enthusiasmus der revolutionären Massen, als geschichtsphilosophisches Gegenbild zu. Dass Albano in diesem Sinne als Vertreter einer absoluten Entscheidung gesehen werden kann, lässt sich teilweise aus der dem Werk innewohnenden Gattungsaporie erklären. Als Held eines Bildungsromans, der zwar ein verborgener Prinz ist, dessen Bildungsweg aber im Zeichen bürgerlich-empfindsamer Werte steht, bleibt Albano bis zum Ende des Romans dem Bereich der politischen Praxis fremd. Die Prinzenerziehung wird durch eine moralische Bildung zum ganzen Menschen ersetzt. An einer Stelle wird zwar der Bildungsroman an die Gattungsintentionen des Staatsromans zurückgekoppelt, wenn Dian, der Freund und Lehrer Albanos, auf das Amt des Fürsten als höchstes Ziel der bürgerlich-empfindsamen Bildung hinweist: Albano, behauptet Dian, nachdem er gerade von dessen Entschluss, Soldat zu werden, erfahren hat, gehört zu denjenigen, die im Stande wären, sich »zu ganzen Menschen« zu bilden; »wie etwan ein Fürst sein muß,« fugt er hinzu, »weil dieser fiir seine allseitige Bestimmung allseitige Richtungen und Kenntnisse haben muß« ( S W I, 9, 227). Letztendlich hat aber dieser für den Roman paradigmatische Versuch, die Gattungsintentionen des Bildungsromans mit denen des Staatsromans oder des Fürstenspiegels in Einklang zu bringen, keine andere Funktion als auf das Ende des Romans anzuspielen. Das Gattungsmuster des Staatsromans, könnte man behaupten, wird herbeizitiert, ohne dass sich daraus irgendwelche Konsequenzen für den weiteren Verlauf des Romans ergeben. Obwohl Jean Paul fiir seinen Titan, wie oben schon besprochen, das narrative Schema des Staatsromans übernimmt, bleibt Albano der Held eines Bildungsromans. Für diesen Bildungsheld, der Agathon, Gustav und Viktor verwandt ist, gilt, dass er zwar im Stande ist, von großen Taten, die über die politischen Intrigen des Fürstenhofes weit hinausweisen, zu sprechen oder zu träumen, aber zugleich dass er in einen bürgerlich-empfindsamen Bildungsprozess verwickelt ist, durch den er sich den Weg zur Ausführung dieser erträumten Taten immer wieder bewusst oder unbewusst versperrt. Zur Tat kommt es nie und die Entscheidung zur Tat stellt daher, genau wie die Konzeption der Gegenwart, eine »Leerstelle« dar, einen aus der übrigen Handlung herausgehobenen, durch sie nur unklar motivierten Augenblick. Mit der Leerstelle der Entscheidung korrespondiert weiter eine Ästhetisierung des historisch-politischen Kontextes oder der gegenwärtigen Situation, in der die Entscheidung getroffen wird. Im Gespräch zwischen Albano, Don Gaspard und Bouverot finden sich daher mehrere Beispiele einer Ästhetisierung des Politischen. Zunächst vergleicht Gaspard die französische Revolution mit den »großen Werken« der Kunst, mit einem »Coliseo« und einem »Obeliskus« ( S W I, 9 225), ein Vergleich, der auch von Albano aufgegriffen wird. Gegen den Einwand Don Gaspards, die Revolution sei nur ein Resultat einer »Vielheit kleiner Kräfte«,
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baut Albano den Vergleich zwischen der politischen Größe der Revolution und der ästhetischen Größe des Colosseums weiter aus: »lieber Vater, die 1 2 0 0 0 Juden entwarfen nicht das Coliseo, das sie baueten, aber die Idee war doch irgendeinmal ganz in Einem Menschen, im Vespasian« (ebd.)· Nachdem diese Verbindung zwischen Politik und Ästhetik schon etabliert ist, folgt Albanos schon zitiertes Bild der »durch ein rothes Meer des Bluts und Kriegs« watenden Menschheit. Auch der Enthusiasmus des französischen Volkes wird auf diese Weise von Albano zu einem ästhetischen Gegenstand stilisiert, der erst in der Tapferkeit auf dem Schlachtfeld seine rechtmäßige Form findet und der mit seinem eigenen Enthusiasmus zur Deckung kommt. Nicht zuletzt deutet dieser Hang zur Ästhetisierung auf Albanos weitgehend im subjektiven Enthusiasmus begründeten Dezisionismus und die damit verbundenen Orientierungsprobleme hin. War jene Schwärmerei noch bei Wieland, wie schon oben besprochen, ein sicheres Zeichen fehlender politischer und persönlicher Klugheit, erscheint sie bei Jean Paul — im Rahmen seiner früher genannten Rehabilitierung des Schwärmers — als ein unentbehrliches, aber deswegen keineswegs unproblematisches Element einer bürgerlich-empfindsamen Lebenshaltung. Diese Dialektik von romantisch-schwärmerischen Elementen und der Kritik derselben zeigt sich vor allem darin, dass Jean Pauls Titan, wie der Autor selbst in einem Brief an Jacobi feststellt, ebenso wohl »Antititan« ( S W III, 4, 2 3 6 ) 7 8 hätte genannt werden können, weil der Roman vor allem als eine Kritik an dem von Jean Paul in Goethe, Schiller und anderen Zeitgenossen erkannten »Titanismus« zu lesen ist. Als Beispiel dieser Zeitkritik gilt vor allem das Schicksal der titanischen Charaktere des Romans, Roquairols, Schoppes, Lianes und Lindas, in denen die Züge Goethes, Schillers, August Schlegels und Charlotte von Kalbs erkannt werden können, 7 9 die an der Grenzenlosigkeit ihrer Eigenschaften und Gefühle zugrunde gehen. In ihnen zeigt sich die »Zuchtlosigkeit des Säkulums« ( S W III, 3, 129), gegen die Jean Paul im Titan das Wort ergreift. Das vielleicht dominanteste Symptom dieser »Zuchtlosigkeit« ist der Asthetizismus, der von Jean Paul in mehreren Versionen durchgespielt wird: der arrogante zynische Asthetizismus Don Gaspards und der diabolische Asthetizismus Roquairols, in dem Köpke eine Spielart von Nietzsches »Ressentiment« erkennen will, 8 0 Auch Albano gehört zu den »hohen Menschen«, den Titanen und Titaniden, geht aber selber nicht zugrunde, sondern ist durch seine Herkunft vorausbestimmt, die Gesamtheit seiner titanischen Kräfte und Energien fur die Regierung des Fürstentums einzusetzen. Er rettet sich, könnte man vielleicht sagen, rechtzeitig aus dem Bil-
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Im Brief schreibt Jean Paul: »Titan sollte heißen Anti-Titan; jeder Himmelstürmer findet sein Hölle; wie jeder Berg zuletzt seine Ebene aus seinem Thale macht. Das Buch ist der Streit der Kraft mit der Harmonie« ( S W III, 4, 236f.) Vgl. ζ. B. Ueding: Jean Paul, S. 133. Köpke: »Jean Paul and the Bildungsroman«, S. 2 4 2 .
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dungsroman in den Staatsroman hinüber, aus dem Bereich der politischen Romantik auf das Feld aufklärerischer Staatsklugheit — durch einen »Salto«, um einen Begriff Heinrich Bosses zu verwenden. 8 1 Um diese Dynamik des Romans, dieses Oszillieren zwischen romantischem Asthetizismus und aufklärerischem Wirklichkeitssinn sowie zwischen Bildungsroman und Staatsroman zu ermitteln, wird hier Schmitts stark polemisch konzipierter Begriff der »politischen Romantik« herangezogen. Im politischen Denken der Romantiker behandelt »das romantische Subjekt«, so Schmitt, »die Welt als Anlaß und Gelegenheit seiner romantischen Produktivität«. 8 2 Als wichtige literarische und philosophische Vertreter dieser geistesgeschichtlichen Strömung werden traditionell Novalis, Fichte, Friedrich Schlegel und Adam Müller angesehen. 8 3 Die politische Romantik ist laut Schmitt von einem »subjektivierten Occasionalismus« 8 4 gekennzeichnet, durch den »einem bedeutenden, ernst zu nehmenden politischen Willen ein nur occasionelles Objekt« 8 5 untergeschoben wird. Durch diesen Bezug auf die Romantik-Kritik Schmitts können zentrale Aspekte von Jean Pauls kritischer Auseinandersetzung mit seinem Helden Albano und seinen politischen Enthusiasmus zum Vorschein gebracht werden. In beiden Fällen entbehrt aber die Kritik jeder Eindeutigkeit: Ähnlich wie Schmitt den Inhalten der politischen Romantik »durchaus nicht so fern steht«, 86 sondern seine vernichtende Kritik vor allem gegen den »spezifischen Denkhabitus« der Romantiker richtet, 87 will Jean Paul die »höhere[n] Kräfte und Zwecke« ( S W I, 9, 4 4 7 ) seines Helden retten, aber erst nachdem er sie kritisch aus dem Kontext seiner schwärmerisch-romantischen Entscheidung fur Krieg und Opfer herausgelöst hat. 8 8 In diesem Sinne könnte sich die an sich höchst problematische Selbstreferenz in Schmitts Theorie der politischen Romantik für eine Interpre-
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Heinrich Bosse: Theorie und Praxis bei Jean Paul. § 74 der >Vorschule der Ästhetik« und Jean Pauls erzählerische Technik, besonders im >Titanoccasionalistischen< Weltbezug gerichtet ist, der einer standfesten und folgerichtigen Entscheidung in seinen Augen völlig unfähig war« (S. 178). Ebd., S. 178. Auch Berhorst weist in diesem Sinne daraufhin, wie angesichts von Albanos Plädoyer fiir den Krieg der Erzähler »deutlich auf Distanz zu Albanos jugendlichen Enthusiasmus [rückt]«. Siehe Berhorst: Anamorphosen der Zeit, S. 355.
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Romantik
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cation der im Titan narrativ und diskursiv zu Stande kommenden Diskrepanzen zwischen dem Autor und seinem Helden als produktiv erweisen. Im Zentrum von Schmitts Romantik-Kritik steht der Begriff der occasio, der mit »Anlaß, Gelegenheit, vielleicht auch Zufall« umschrieben werden kann. 8 9 Das politische Denken der Romantiker zeichne sich dadurch aus, dass alle Objekte oder Phänomene der wirklichen Welt nur als Anlass oder Gelegenheit der Produktivität des romantischen Subjektes dienen. Jede Beziehung zu moralischen oder rechtlichen Normen oder Maßstäben wird aufgehoben; der Romantiker, so Schmitt, »ist nicht in der Lage, aus bewusstem Entschluß Partei zu ergreifen und sich zu entscheiden«, 90 weil ein jedes Objekt politischer Romantik ein occasionelles, also ein zufälliges sei. An die Stelle des bewussten politischen Entschlusses trete eine politisch unbestimmbare Asthetisierung und Poetisierung, infolge derer es nicht mehr möglich ist, »zwischen dem König, dem Staat oder dem Geliebten zu unterscheiden«. 91 Revolution oder Restauration sind in diesem Kontext, in der Nachfolge der Französischen Revolution, keine Fragen der politischen Stellungnahme, sondern des ästhetischen Gefühls. Für die Gegner war es doch möglich, die Revolution als ungeheures Ereignis zu rühmen, während die Anhänger bald den ihr zugrunde liegenden Rationalismus scharf ablehnten. Wenngleich Schmitt zu Jean Pauls Werken nichts Spezifisches sagt, gilt aber für den Titan, dass die Entstehungszeit des Romans mit dem in der Politischen Romantik am intensivsten geschilderten Zeitabschnitt zusammenfällt. Es handelt sich um die Zeit nach 1797, nachdem deutsche Intellektuelle, wie Fichte, Novalis und Friedrich Schlegel, mit dem Individualismus und dem Kontraktualismus der Aufklärung gebrochen haben, 92 bis zu den Vorlesungen Adam Müllers um 1810. Eine direkte Verbindung Jean Pauls zu den von Schmitt denunzierten »politischen Romantikern« kann weiterhin über die Werke Fichtes hergestellt werden, mit denen sich Jean Paul vor allem im Herbst 1799 intensiv beschäftigte. Nach
der Lektüre sowohl der Grundlage der gesamten Wissenschafislehre von 1794 als auch des Grundrisses des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre von 1795 war Jean Paul von Fichtes tranzendentalphilosophischem Idealismus zugleich angezogen und abgestoßen. Die Abrechnung damit folgt in dem als Anhang zum Komi-
schen Anhang zum ersten Band des Titan herausgegebenen Clavis Fichtiane seu Leibgeberiana, der allerdings als eigenes Werk bei Hennings in Erfurt gedruckt wurde. 93 Schon in der Vorrede bringt Jean Paul seine Skepsis gegen Fichtes Denken auf den Punkt:
89 90 91 92 93
Schmitt: Politische Romantik, S. 22. Ebd., S. 172. Ebd., S. 173. Ebd., S. 156. Vgl. Berend: »Einleitung«, S W I, 8, XCVIIIf.
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der so zu sagen idealische Idealismus Fichte's lebt und webt dergestalt im Absoluten, daß - da sich im Zentrum seines existierenden Universums die Existenz, wie im Schwerpunkt einer Welt die Schwere, durch die Bestimmungslosigkeit aufhebt — daß nur gar kein Weg mehr herein in die Endlichkeit und Existenz geht [...]. ( S W I, 9, 460)
Eben diese Aporien der bestimmungslosen Existenz spielt Jean Paul in seiner Darstellung der Entscheidung Albanos durch, in der die philosophische Bestimmungslosigkeit in politische Orientierungslosigkeit umschlägt. Die in Clavis Fichtiane geübte Kritik an Fichtes Vorstellung des absoluten Ichs wird im Titan, vor allem in den Figuren Schoppes und Roquairols, weitergeführt. Auch der Held Albano gerät indessen ins Kraftfeld dieser Kritik am romantisch-idealistischen Titanismus, was wiederum den Erzähler dazu veranlasst, zu seiner Hauptperson auf eine gewisse ironische Distanz zu treten. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Behauptung Uedings, dass Clavis Fichtiane im Sinne einer Selbstkritik zu verstehen sei, in der Jean Paul der in den eigenen Schreiben erkannten freien »Tathandlung« eines absoluten Ichs kritisch erörtert.94 Aus dieser Behauptung folgt weiterhin, dass die im Titan vorzufindende kritische Inszenierung von Albanos subjektivem Occasionalismus sozusagen als die politische Kehrseite dieser Selbstkritik zu verstehen wäre. An mehreren Stellen im Roman gibt der Erzähler den bloß subjektiven, occasionalistischen und ästhetischen Charakter von Albanos Entscheidung der Kritik preis, vor allem dadurch, dass er den Helden in Situationen versetzt, in denen er seinen Entschluss fur die Teilnahme an den Revolutionskriegen verteidigen muss. Gerade diese Auseinandersetzungen Albanos, mit Don Gaspard, mit Linda, mit Dian und mit Schoppe, machen eine Art Leitmotiv des vierten Bandes des Titan aus. Etwas unerwartet kommt es zunächst dem zynischen Ästheten Don Gaspard zu, Albanos romantische Asthetisierung des Krieges, besonders der Kriegstapferkeit, zu entlarven, indem er dieses bloß ästhetische Ideal mit den historischen und politischen Realitäten konfrontiert: Man lernt die Kriegstapferkeit gemäßigt schätzen, wenn man sieht, dass die römischen Legionen, gerade als sie feil, schlecht, sklavisch und zur Hälfte Freigelassene waren, nämlich unter dem Triumvirat, muthiger stritten als vorher. Für den unbedeutenden Mordbrenner Katilina stritten und starben die Bürger bis auf den letzten Mann, und nur Sklaven wurde gefangen. (SW I, 9, 226)
Tapferkeit auf dem Schlachtfeld ist also kein sicheres Zeichen moralischer Würde oder Tugend, sondern kann ebenso wohl Folge von Todesangst und Überlebungswillen sein. Diese Elemente gehören indessen nicht in Albanos romantisiertes Bild des Krieges. Auf diese Widerrede seines Pflegevaters hat Albano keine Antwort, sondern zieht sich als »beleidigte[r], sich selber ausbrennende[r] Geist« (ebd.) aus der Diskussion zurück. Zwar gehören der Zynismus und die persönliche
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Ueding: Jean Paul, S. 118.
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Kälte D o n Gaspards zu den wichtigsten Bildungskräften des Romans, aber selten darf er seine Funktion als homo politicus u n d als pragmatischen Machiavellisten so frei ausspielen wie in dieser kleinen Szene — was sowohl an den Reaktionen des »erratenen« Albanos als auch an der Stimmung des über die H a l t u n g seines Pflegesohnes erkennbar betrübten Vaters abzulesen ist ( S W I, 9, 227). Noch ambivalenter fällt jedoch die folgende Szene mit dem schwärmerischen Humanisten u n d Rousseau-Adepten Dian aus, der Albanos Entschluss verteidigt u n d behauptet, unter anderen Umständen »zöge [er] selber mit« in den Krieg (SW I, 9, 227). D e m Typus des politischen Romantikers gemäß k ü m m e r t sich Dian kaum u m die normativen oder politischen, sondern lediglich u m die rhetorischen Inhalte seiner Rede: »>Habe ich gut gesprochen, Albano? Aber wahrlich so ist die Sache